Kritische Gesamtausgabe. Band 7 Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit: (1906/1909/1922) 9783110900675, 9783110163414

From 1906 onwards the Teubner Verlag in Leipzig published the first volumes of an ambitious encyclopedia "Die Kultu

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German Pages 664 [668] Year 2004

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Table of contents :
Vorwort
Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troeltsch • Kritische Gesamtausgabe
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
Einleitung
1. Troeltschs Protestantismus-Deutung
2. Werkgeschichtliche Einordnung der Abhandlung „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“
3. Zum literarischen Charakter der Abhandlung
Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922)
Editorischer Bericht
1. Entstehung
2. Textgenese und Drucklegung
3. Editorische Entscheidungen
Edierter Text
Einleitung
A. Der Protestantismus in seinem allgemeinen Verhältnis zu Mittelalter und moderner Welt
B. Reformatoren und Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts
C. Der Alt-Protestantismus (16. und 17. Jahrhundert)
D. Der moderne Protestantismus (18. und 19. Jahrhundert)
Schlußbetrachtung
Literatur
Biogramme
Literaturverzeichnis
1. Verzeichnis der von Ernst Troeltsch genannten Literatur
2. Sonstige von den Herausgebern genannte Literatur
Personenregister
Sachregister
Seitenkonkordanz
Gliederung der Ernst Troeltsch • Kritische Gesamtausgabe
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Kritische Gesamtausgabe. Band 7 Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit: (1906/1909/1922)
 9783110900675, 9783110163414

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Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe

Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe

im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegeben von

Friedrich W ilhelm Graf Volker Drehsen . Gangolf Hübinger . Trutz Rendtorff

Band 7

Walter de Gruyter' Berlin . New York

Ernst Troeltsch Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

(1906/1909/1922)

herausgegeben von

Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit

Christian Albrecht

Walter de Gruyter· Berlin . New York

@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-016341-1

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar

©

Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheber rechtlich geschützt. Jede Verwertung außer­ halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Ü bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Gerike GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort

Die hier als Band 7 der Ernst Troe/tseh . Kritische Gesamtausgabe edierte Ab­ handlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" bildete den markanten Auftakt einer Reihe von Veröffentlichungen, in denen sich Troeltsch zwischen 1 906 und 1 9 1 3 mit der Frage nach der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt befaßte (� KGA 8) . In dieser umfänglichen Gesamtdarstellung tritt das Interesse, das Troeltsch bei der Beschäftigung mit der Bedeutung des Protestantismus verfolgte, be­ sonders deutlich hervor. Troeltsch setzt vierhundert Jahre protestantischer Kirchen- und Theologiegeschichte in ein kulturgeschichtliches Licht, das die Wechselwirkungen zwischen der Geschichte des Protestantismus und der Ausbildung der modernen Kultur deutlich hervortreten läßt. Für das Verständnis der Entstehung der Neuzeit hat dabei die von ihm entwickelte, viel diskutierte Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus große Be­ deutung erlangt. Troeltsch hatte seine Abhandlung ursprünglich als Beitrag für das enzy­ klopädische Sammelwerk "Die Kultur der Gegenwart" verfaßt, das ab 1 905 unter der Herausgeberschaft von Paul Hinneberg im Teubner-Verlag ver­ legt wurde. Troeltschs Abhandlung erschien in diesem Rahmen erstmals 1 906 und erlebte 1 909 eine stark erweiterte und überarbeitete zweite Auf­ lage, die schließlich 1 922 noch einmal unverändert, nur durch einige Nach­ träge ergänzt, wieder abgedruckt wurde. Der ursprüngliche Veröffent­ lichungskontext der Abhandlung in diesem Handbuch für gebildete Laien bestimmte denn auch den argumentativen Zuschnitt der Abhandlung: Troeltsch nutzte den Auftrag Hinnebergs, um seine These von der prote­ stantisch-christlichen Legitimität der Neuzeit und die innovative materiale Durchführung dieser These über die Grenzen der Debatten unter Spezia­ listen hinaus in die Form einer allen Gebildeten zugänglichen Kulturrefle­ xion zu bringen. Zu danken ist der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die mit ihrem Gutachten die Publikation unterstützt hat, sowie dem Verlag Walter de Gruyter für die wiederum kompetente Unterstützung bei der Druck­ legung dieses Bandes. Wertvolle Unterstützung bei archivalischen Recher­ chen haben Dr. Christopher Voigt, Wuppertal und Dr. Hans Cymorek, Mün-

VI

Vorwort

ehen, beigetragen. Ein besonderer Dank gilt den Tübinger Mitarbeitern Miehael Bauer, Joaehim Bayer, Ulrieh Dreesman, Cornelia Lehner, Nina Rank und den Erfurter Mitarbeitern Dr. Björn Biester, Susanne Brüeker und Gudrun Liehotka. Viele wichtige Hilfen bei der Vorbereitung der Druck­ legung hat außerdem Dr. Stefan Pautler geleistet. Tübingen, im April 2004

Volker Drehsen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe

XI

Siglen, Zeichen, Abkürzungen Einleitung

. . . . . . . . . .

1 . Troeltschs Protestantismus-Deutung 1 . 1 . Zur Herkunftsgeschichte . . . . 1 .2. Grundlinien von Troeltschs ProtestantismusDeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 1 .3. Zur Auseinandersetzung um Troeltschs Protestantismus-Deutung . . . . . . .

. XVI I 1 4 6 11 16

2. Werkgeschichtliche Einordnung der Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 . Der werkgeschichtliche Ort . . . . . . . . 2.2. Das Verhältnis zwischen den drei Auflagen

27 27 32

3. Zum literarischen Charakter der Abhandlung . .

34

Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1 906/1 909/1 922) .

39

Editorischer Bericht 1 . Entstehung . 1 .1 . Die "Kultur der Gegenwart" und ihr Herausgeber Paul Hinneberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 .1 . 1 . Paul Hinneberg . . . . . . . . . . . . . . . 1 .1 .2. Programm und Entstehungsgeschichte der "Kultur der Gegenwart" . . . . . . . 1 .2. Zur Entstehung von Troeltschs Abhandlung . . .

39 39 39 41 44 62

VIII

Inhaltsverzeichnis

2. Textgenese und Drucklegung

67

3. Editorische Entscheidungen

75

Edierter Text

81

Einleitung . .

81

A. Der Protestantismus in seinem allgemeinen Verhältnis zu Mittelalter und moderner Welt . . . . . . . . . . . . . . . I. Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus II. Die Aufhebung der mittelalterlichen Idee im Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Gruppierung des geschichtlichen Stoffes B.

Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts I. Die humanistische Theologie . II. Luther (1 483-1 546) . . . . . . III. Zwingli (1 484-1 531 ) . . . . . Die Täufer und Spiritualisten . IV. V. Calvin (1 509-1 564) . . . . . .

83 83 111 1 33 1 34 1 34 1 45 1 63 1 75 1 94

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7. Jahrhundert) I. Das Luthertum . . . . . . . . . . . . . . . Der Calvinismus . . . . . . . . . . . . . . II. III. Der Anglikanismus und Independentismus

206 208 241 288

D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 1 9. Jahrhundert) I. Die moderne Welt und die moderne Wissenschaft . II. Die moderne Ethik in ihrer Wirkung auf den Protestantismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die moderne Religionswissenschaft und ihre Wirkung auf den Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . IV. Der moderne Staats- und Kirchenbegriff . . . . . . V. Soziale Tatsachen und Theorien der modernen Welt Die Auflösung der protestantischen Askese . . . . . VI. VII. Neue religiöse Bewegungen innerhalb des Protestantismus VIII. Umsetzung des Protestantismus in eine philosophische Bildungsreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Die Fortentwicklung des alten Landeskirchentums X. Die Theologie des Neuprotestantismus

308 308

425 451 474

Schlußbetrachtung

502

Literatur

505

.

. . . . .

322 330 340 355 372 389

IX

Inhaltsverzeichnis

Biogramme . .

.

.

541

.

555

Literaturverzeichnis 1. Verzeichnis der von Ernst Troeltsch genannten Literatur 2. Sonstige von den Herausgebern genannte Literatur .

.

555 586

Personenregister

597

Sachregister .

607

.

.

Seitenkonkordanz

633

Gliederung der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe .

647

Aufbau und Editorische Grundsätze der

Ernst Troeftsch . Kritische Gesamtausgabe

I. Aufbau

1 . Aufbau der einzelnen Bände Jeder Band enthält: (1) Vorwort (2) Inhaltsverzeichnis (3) Aufbau und Editorische Grundsätze der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe (4) Siglen, Zeichen und Abkürzungen (5) Einleitung des Bandherausgebers. Die Einleitung informiert über den Text bzw. die Texte des Bandes und deren Anordnung, über wissen­ schaftsgeschichtliche Bezüge und zeitgeschichtliche Hintergründe. (6) Editorische Berichte. Die Editorischen Berichte informieren über Ent­ stehung, Entwicklung und Ü berlieferungslage sowie über editorische Entscheidungen. (7) Troeltsch-Text mit textkritischem Apparat und Kommentaren der Her­ ausgeber; innerhalb eines Bandes sind die Edierten Texte chronolo­ gisch geordnet. (8) Biogramme. Berücksichtigt werden nur Personen, die von Troeltsch genannt sind, mit Ausnahme allgemein bekannter Persönlichkeiten. Die Biogramme informieren über die wichtigsten Lebensdaten, geben die berufliche bzw. gesellschaftliche Stellung an und nennen gegebe­ nenfalls die verwandtschaftlichen, persönlichen, beruflichen oder werk­ geschichtlichen Beziehungen zu Troeltsch. (9) Literaturverzeichnis. Die Rezensionenbände enthalten ein dreigeteiltes Literaturverzeichnis. Im ersten Teil werden die von Troeltsch rezensierten Schriften aufgeführt. Der zweite Teil verzeichnet die von Troeltsch selbst zitierte Literatur. Im dritten Teil ist die von den Herausgebern in Einlei­ tung, Editorischen Berichten und Kommentaren genannte Literatur auf­ genommen. Das Literaturverzeichnis wird auf autoptischem Wege erstellt.

XII

Aufbau und Editorische Grundsätze

(1 0) Personenregister. Aufgenommen sind sämtliche Personen, die von Troeltsch selbst in den Edierten Texten oder von den Herausgebern in der Einleitung, den Editorischen Berichten und Kommentaren erwähnt sind. Dazu gehören auch die Autoren der angeführten Literatur. Recte gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Troeltschs Texte, kursiv gesetzte Seitenzahlen auf die Herausgeberrede. (1 1 ) Sachregister. Es enthält alle wichtigen Begriffe und Sachbezeichnungen einschließlich geographischer Namen mit Ausnahme der bibliogra­ phischen Erscheinungsorte. Das Sachregister erfaßt Troeltschs Text und die Herausgeberrede. Recte gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Troeltschs Texte, kursiv gesetzte Seitenzahlen auf die Herausgeberrede. (1 2) Den Bänden können weitere Verzeichnisse, wie z. B. Konkordanzen, beigefügt werden. (1 3) Gliederung der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe.

2. Aufbau der einzelnen Seiten und Darstellung des Edierten Textes 2. 1 . Satzspiegel Es werden untereinander angeordnet: Text der Ausgabe letzter Hand, gege­ benenfalls mit Fußnoten Troeltschs, textkritischer Apparat und Kommen­ tare. Die Fußnoten werden ohne einen Trennstrich unter den Haupttext angeordnet, der textkritische Apparat wird durch einen kleinen, die Kom­ mentare durch einen durchgezogenen Trennstrich abgesetzt. 2.2. Hervorhebungen Hervorhebungen Troeltschs werden einheitlich durch Kursivsetzung kennt­ lich gemacht. 2.3. Seitenzahlen des Originaldrucks Die Seitenzahlen der Druckfassungen der jeweiligen Textstufen des Edierten Textes werden am Seitenrand unter Angabe der entsprechenden Textsigle angezeigt; im laufenden Edierten Text (auch in den Fußnoten und gegebe­ nenfalls im textkritischen Apparat) wird die Stelle des ursprünglichen Seiten­ umbruchs durch einen senkrechten Strich zwischen zwei Wörtern bzw. Sil­ ben angegeben.

Aufbau und Editorische Grundsätze

H.

XIII

Editorische Grundsätze

1 . Präsentation der Texte und ihrer Entwicklung Die Texte werden nach historisch-kritischen Prinzipien bearbeitet. Das heißt, es werden alle Entwicklungsstufen eines Textes einschließlich handschrift­ licher Zusätze dokumentiert und alle editorischen Eingriffe einzeln ausge­ WIesen. 1 . 1 . Textvarianten Liegt ein Text in mehreren von Troeltsch autorisierten Fassungen vor, so wird in der Regel die Fassung letzter Hand zum Edierten Text bestimmt. Die übrigen Fassungen werden einschließlich der handschriftlichen Zusätze Troeltschs im textkritischen Apparat mitgeteilt. Ausgespart bleiben dabei allerdings die zahlreichen Veränderungen bei Umlauten, "ss-ß", "t-th" und ähnliche, da sie auf S etzerkonventionen beruhen und nicht von Troeltsch beeinflußt wurden. 1 .2. Handschriftliche Zusätze Die handschriftlichen Marginalien der Handexemplare werden nach den Editionsregeln zur Variantenindizierung in den textkritischen Apparat inte­ griert. Der Nachweis beschränkt sich hierbei auf TextsteIlen. Markierungen von Troeltschs Hand wie Unterstreichungen und Anstreichungen werden nicht dargestellt. Ü ber die genaue Darstellungsweise informieren die jewei­ ligen Editorischen Berichte. 1 .3. Texteingriffe Die Texte werden getreu der ursprünglichen Orthographie und Interpunk­ tion ediert. Offensichtliche Setzerfehler werden stillschweigend berichtigt. Textverderbnisse werden im Apparat mitgeteilt.

2. Kommentierung der Texte Die Kommentierung dient der Präzisierung der von Troeltsch genannten Literatur, dem Nachweis von Zitaten, der Berichtigung irrtümlicher Anga­ ben, dem textlichen Beleg von Literaturangaben sowie der Erläuterung von

XIV

Aufbau und Editorische Grundsätze

Ereignissen, Begriffen und Bezügen, deren Kenntnis für das Verständnis des Textes unerläßlich erscheint. Es gilt das Prinzip der knapp dokumentieren­ den, nicht interpretierenden Edition. 2. 1 . Bibliographische Präzisierung Die Literaturangaben werden autoptisch überprüft. Fehlerhafte Literatur­ angaben Troeltschs werden im Literaturverzeichnis stillschweigend berich­ tigt. Eine Berichtigung im Kommentar wird nur dann gegeben, wenn das Auffinden im Literaturverzeichnis nicht oder nur schwer möglich ist. Die korrigierte Literaturangabe wird mit dem ersten vollständigen Haupttitel so­ wie in Klammern gesetztem Erscheinungsjahr angezeigt. 2.2. Zitatprüfungen Troeltschs Zitate werden autoptisch überprüft. Falsche Seitenangaben wer­ den berichtigt. Hat Troeltsch ein Zitat nicht nachgewiesen, wird der Nach­ weis im Apparat aufgeführt. Ist der Nachweis nicht möglich, so steht im Kommentar: "Als Zitat nicht nachgewiesen." Fehlerhafte und unvollständige Zitate werden korrigiert und ergänzt. Der Nachweis indirekter Zitate und Rekurse wird in der Regel nicht geführt. 2.3. Belege von Literaturverweisen Allgemeine, inhaltlich nicht näher bestimmte Literaturverweise im Edierten Text werden in der Regel nicht belegt. Inhaltlich oder durch Seitenangaben eingegrenzte Literaturverweise werden, so weit möglich, durch Zitate belegt. 2.4. Irrtümliche Angaben Irrtümliche Angaben Troeltschs (z. B. Namen, Daten, Zahlen) werden im Apparat berichtigt. 2.5. Erläuterung von Fachtermini, Anspielungen und Ereignissen Kommentiert wird, wenn die Erläuterung zum Verständnis des Textes not­ wendig ist oder wenn für das Textverständnis unerläßliche Zusatzinformatio­ nen geboten werden. Der kommentierte Sachverhalt muß eindeutig zu kenn­ zeichnen sein. 2.6. Querverweise Explizite Verweise Troeltschs auf andere seiner Werke werden nachgewiesen. Querverweise innerhalb des Edierten Textes können nachgewiesen werden. Sachverhalte, die sich durch andere Texte Troeltschs erschließen lassen, kön­ nen durch Angabe dieser Texte nachgewiesen werden.

Aufbau und Editorische Grundsätze

xv

2.7. Forschungsgeschichtliche Kommentare Erläuterungen zur nachfolgenden Wirkungs- und Forschungsgeschichte werden nicht gegeben.

III. Erläuterung der Indices und Zeichen

1 . Sigleneinteilung A, A l' B, B

I

Die früheste Fassung eines Textes trägt die Sigle A. Weitere Fassungen werden in chronologischer Folge alphabetisch be­ zeichnet. Die Handexemplare mit handschriftlichen Zusätzen Troeltschs sind als Textschicht der betreffenden Fassung an­ zusehen. Sie werden mit der Sigle der betreffenden Fassung und einer tiefgestellten arabischen Eins bezeichnet (Beispiel: Al) . Bei Identität zweier Ausgaben wird im Editorischen Be­ richt darauf verwiesen. Eine doppelte Nennung (etwa BC) entfällt damit.

2. Indices 1) 1 a

,

, ,

2) 2 b

,

a-4

a

,

,

,

ß

,

3)

, 3 c

b-b

, c-c

y

Hochgestelle arabische Ziffern mit runder Schlußklammer bezeichnen Fußnoten Troeltschs. Hochgestellte arabische Ziffern ohne Klammern werden für die Herausgeberkommentare verwendet. Kleine hochgestellte lateinische Buchstaben werden für die Indizierung von Varianten oder Texteingriffen verwendet. Die Buchstaben stehen im Edierten Text hinter dem varian­ ten oder emendierten Wort. Kleine hochgestellte lateinische Buchstaben, die eine Wort­ passage umschließen ('xxx xxx xxxQ), werden für Varianten oder Texteingriffe eingesetzt, die mehr als ein Wort umfassen. Die betreffende Passage im Edierten Text wird hierbei von einem recte gesetzten Index und einem kursiv gesetzten Index eingeschlossen. Kleine hochgestellte griechische Buchstaben werden für die Indizierung von Varianten oder Texteingriffen zu Textstellen

XVI

Aufbau und Editorische Grundsätze

innerhalb des textkritischen Apparats verwendet. Die Buch­ staben stehen hinter dem varianten oder emendierten Wort. Bei mehr als einem Wort wird die betreffende Passage von einem gerade gesetzten Index und einem kursiv gesetzten In­ dex eingeschlossen (Oxxx xxx XXXo ) .

3. Zeichen:

[] {} II

I: :1

«xxx » «

Das Zeichen 1 im Edierten Text mit der jeweiligen Sigle und der darauf bezogenen Seitenangabe im Außensteg gibt die Stelle des Seitenwechsels nach der ursprünglichen Paginierung einer Textfassung wieder. Eckige Klammern sind reserviert für Hinzufügungen durch den Editor. Geschweifte Klammern kennzeichnen Durchstreichungen Troeltschs in seinen handschriftlichen Marginalien. Unvollständige eckige Klammern bezeichnen unsichere Les­ arten bei den Handschriften Troeltschs. Nicht entzifferte Wärter werden jeweils durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet. Das Zeichen I: :1 wird für Einschübe Troeltschs in seinen handschriftlichen Texten verwendet. Hochgestellte Spitzklammern im Text umschließen Hinzu­ fügungen des Edierten Textes gegenüber vorangegangenen Fassungen. Dadurch entfällt für diese Passagen der Nachweis im textkritischen Apparat: Fehlt in A. Bei �ei Textstufen in mehreren Schichten (A: 1 . Textstufe, A I: Handexemplar der 1 . Ausgabe, B: 2. Textstufe, B I: Hand­ exemplar der 2. Ausgabe) gilt folgende Benutzungsregel für die Spitzklammern: Fehlt in A, AI Fehlt in A Bei drei Textstufen (A: 1 . Textstufe, A I: Handexemplar der 1 . Ausgabe, B: 2. Textstufe, B I: Handexemplar der 2. Aus­ gabe, C: 3. Textstufe) gilt folgende Legende: Fehlt in A, A I Fehlt in A, A I' B, B I Fehlt in B, B I

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

Aufstellung der in diesem Band verwendeten Siglen, Zeichen und Abkür­ zungen gemäß den Editorischen Grundsätzen der Ernst Troettsch . Kritische Gesamtausgabe

I

]

[

1) 2) 3) 1

a

, 2, 3 ,

,

b

, c,

KGA GStA Berlin GS NL

Seitenwechsel Hinzufügung des Editors Siehe Indices bei Fußnoten Ernst Troeltschs Indices bei Kommentaranmerkungen des Herausgebers Siglen für die Textfassungen in chronologischer Reihen­ folge Indices für Varianten oder textkritische Anmerkungen Ernst Troettsch . Kritische Gesamtausgabe Geheimes Staats archiv Preußischer Kulturbesitz Berlin Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften Nachlaß

Alle sonstigen Abkürzungen folgen: Siegfried Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 2. Auflage, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1 992.

Einleitung

Ernst Troeltsch verfaßte seine Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" als Beitrag für ein mehrbändiges enzyklopädi­ sches Sammelwerk, die von dem Historiker Paul Hinneberg seit 1 905 heraus­ gegebene "Kultur der Gegenwart". Troeltschs Abhandlung, die hier erstmals in einer separaten, historisch-kritischen Edition präsentiert wird, erlebte im Rahmen der "Kultur der Gegenwart" insgesamt drei Auflagen. Sie erschien 1 906 in erster Auflage, 1 909 in einer stark erweiterten und überarbeiteten zweiten Auflage und 1 922 in einem unveränderten Nachdruck der zweiten Auflage, der Troeltsch einen kurzen Anhang mit Hinweisen auf inzwischen erschienene neuere Literatur beigab. Die vorliegende Edition dokumentiert die 1 922 erschienene dritte Fassung und weist die Veränderungen gegenüber den beiden vorangegangenen Auflagen im Variantenapparat nach. Inhaltlich geht es Troeltsch in dieser Abhandlung darum, den Beitrag pro­ testantisch-christlicher Kräfte zur Entstehung der modernen Kultur transpa­ rent zu machen, also: die genetischen Zusammenhänge zwischen Protestan­ tismus und Entwicklung der modernen Kultur zu erhellen. Die Frage nach dem Anteil des Protestantismus an der Kultur der Gegenwart gilt Troeltsch mithin als eine historisch zu beantwortende Frage. Er bewältigt die Auf­ gabe, vierhundert Jahre protestantischer Kirchen- und Theologiegeschichte darzustellen, im Rahmen einer kulturgeschichtlich orientierten Gesamtdar­ stellung. In ihr überwindet die Protestantismusgeschichte die engen Gren­ zen partikularer Kirchen- und Theologiegeschichte und wird zur Kultur­ geschichte des protestantischen Christentums ausgeweitet. Insofern stellt Troeltschs Abhandlung zugleich ein begründetes und detailliertes Pro­ gramm für kirchen-, religions- und kulturgeschichtliche Forschungen über die Neuzeit dar. Den Ausgangspunkt von Troeltschs Überlegungen bildet die Erfahrung der Ambivalenz der neuzeitlich-modernen Kultur, ihre Bestimmtheit durch Konflikte und Krisen. Diese krisenhafte Signatur der modernen Kultur ver­ dankt sich nach Troeltschs Auffassung primär dem Verlust von Zuverlässig­ keiten, die für die alteuropäischen Gemeinwesen verbindlich gewesen waren. So galt für die Gemeinwesen bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein das Ideal einer kirchlich geprägten Einheit in der Gestalt oder als Folgewirkung der

2

Einleitung

mittelalterlich-katholischen Einheitskultur. Die Kirche integrierte kraft ihres religiösen und ethischen Monopols die Sinnstiftung und Wertesetzung. Die­ ses Monopol verlor die Kirche im Zusammenhang rapider Trans formations­ prozesse seit dem beginnenden 1 6. Jahrhundert. Kennzeichnend für diese Transformationsprozesse ist etwa die mit der sogenannten Kirchenspaltung verbundene religiöse Pluralisierung, ist die mit der Herausbildung der Terri­ torialstaaten verbundene Entstehung plural er staatlicher Identitäten und ist schließlich die mit der Differenzierung von Wissenschaft und Technik ver­ bundene Autonomisierung dieser Wissensbereiche. Nach Troeltschs Auffas­ sung wird spätestens im Pietismus und in der Aufklärung - die bei aller Ge­ gensätzlichkeit in engem motivischen Zusammenhang gesehen werden deutlich, daß die kirchlich geprägte Einheitskultur des Mittelalters in die individuell bestimmte, plural verfaßte Kultur der neuzeitlichen Moderne übergegangen ist. Diese moderne Kultur basiert auf der Entflechtung des einstmals engen Zusammenhanges von kirchlicher Religion und staatlich­ nationaler Politik sowie auf der Verrechtlichung des religiösen Ideals der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese Auflösung der mittelalterlich-ka­ tholischen Einheitskultur deutet Troeltsch nicht lediglich als Verlust traditio­ neller kirchlicher und religiöser Verbindlichkeiten, sondern er versteht sie als Bestandteil einer Entwicklung, die dem inneren Sinn eines auf Weltwirksam­ keit tendierenden Christentums entspricht. Die Bedeutung von Troeltschs Abhandlung liegt weniger in der These von der protestantisch-christlichen Abkünftigkeit der Moderne. Diese These war Troeltschs kulturdiagnostischen Zeitgenossen ebenso wie vielen seiner theo­ logie- und kulturhistorischen Gewährsleute geläufig. Die Bedeutung liegt vielmehr in der umfänglichen materialen Durchführung dieser These und in dem Reichtum, den das dabei entstehende innovative und differenzierte Ge­ schichtsbild gewinnt. Charakteristisch für dieses Geschichtsbild ist die Kon­ statierung von geschichtsprägenden Brüchen, die Troeltsch jedoch nicht ein­ seitig als Kennzeichen eines Kulturverfalls deutet. Vielmehr macht er stets zugleich die modernekonstituierenden Dimensionen dieser geschichtsprä­ genden krisenhaften Umbrüche namhaft. So wird insbesondere die Aufklä­ rung als das zentrale neuzeitkonstituierende Epochenereignis herausgearbei­ tet. Deren gleichermaßen kritisches wie konstruktives geschichtsbildendes Potential wird von Troeltsch in Beziehung gesetzt zu den historischen Entwicklungen des nachmittelalterlichen protestantischen Christentums. Troeltsch interpretiert die vielfältigen Umformungsphänomene, denen der Protestantismus im Laufe seiner Geschichte ausgesetzt ist, nicht ausschließ­ lich unter dem Gesichtspunkt des Verlustes traditionaler Gestaltungen, son­ dern er versteht sie als Ausdruck genuin protestantischer Selbsttransforma­ tionspotenzen. Das neue Bild des Protestantismus, das entsteht, zeigt den

Einleitung

3

Protestantismus so als eine religiös-theologische Bewegung, die beständig in mehr oder weniger bewußter Wechselwirkung mit den kulturhistorischen Entwicklungen steht. Neu ist das Gewicht, das Troeltsch den täuferischen Gruppen und den Independentisten zumißt, neu ist auch die moderneaffine Deutung des Pietismus und der Renaissance. Innovativ ist schließlich auch Troeltschs Zugriff auf die Quellen- und Sekundärliteratur. Troeltsch rezi­ piert die englischsprachige Literatur in einem den deutschen theologiehisto­ rischen Diskursen bis dato unbekannten Maße. Ausschlaggebend für die Bedeutung von Troeltschs Abhandlung dürfte jedoch dieses sein: Troeltsch nutzt seinen Beitrag in der "Kultur der Gegenwart" dazu, die These von der protestantisch-christlichen Legitimität der neuzeitlichen Moderne und ihre innovative materiale Durchführung aus den Grenzen der Debatten unter Spezialisten zu befreien und in die Form einer allen Gebildeten zugänglichen Kulturreflexion zu bringen. Aus der Fachmenschen-Diskussion wird so ein kulturpolitischer Vorstoß. Wie aber deutet Troeltsch selbst den Grundgedanken seiner Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit", und welchen Stellenwert gibt er ihr im Rahmen seiner eigenen Werkgeschichte? 1 92 1 pu­ bliziert Ernst Troeltsch unter dem Titel "Meine Bücher" eine Selbstinterpre­ tation seines wissenschaftlich-literarischen Entwicklungsganges. Troeltsch schildert diesen Entwicklungsgang als die fortwährende Präzisierung einer beständig leitenden Fragestellung. Sie galt ursprünglich den die Moderne prägenden Auseinandersetzungen der religiösen Mächte mit den neuen, vor allem in der Philosophie sich ausdrückenden Geistesmächten. "Von da aus setzte die Frage ein, von wann denn überhaupt die moderne geistige Ge­ samtlage datiere, die Durchsetzung einer autonomen weltlichen Bildung und Kultur gegen die theologisch gebundene. Die Antwort meiner Studien war: seit der Aufklärung. Sie erst hat die Anregungen und Konsequenzen der po­ litisch-sozial-ökonomischen Verweltlichung, der Renaissance und vor allem der großen Philosophie des 1 8. Jahrhunderts zu einer Macht des öffentlichen Lebens, zu einem Bildungs-, Lebens- und Unterrichtssystem umgebildet und die supranaturalen Mächte von Kirche und Theologie in den Hintergrund gedrängt, auf ihre engere praktische Sphäre beschränkt. Diese Dinge behan­ delten eine Reihe von höchst peniblen und schwerfälligen Artikeln, die in dem großen Massengrabe der ,Realencyclopädie für prot. Theologie und Kirche' beigesetzt sind. [ . . . ] Schließlich erlebten all diese Arbeiten, vertieft durch ein neu aufgenommenes Studium der Reformatoren und der folgen­ den Orthodoxie, eine Art Verjüngung und Auferstehung aus dem Massen­ grabe in dem großen Buche, das als ,Geschichte des Protestantismus' ein Bestandteil der Hinnebergschen ,Kultur der Gegenwart' geworden ist. Sie sind dabei, wie ich hoffe, auch etwas leichter und eleganter geworden, wie ich

4

Einleitung

denn überhaupt die Angst vor den deutschen Kollegen, man könne sich durch zu starke Betonung der literarischen Form kompromittieren und als unwissenschaftlich für viele Ehren ungeeignet machen, immer mehr zu überwinden gesucht habe." l In dieser Selbstdeutung nennt Troeltsch drei Aspekte, die für eine histo­ risch-kritische Einschätzung des Gewichtes der Abhandlung von zentraler Bedeutung sind. Erstens spielt Troeltsch darauf an, daß in "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" eine (im 1 9. Jahrhundert mehrfach artikulierte) Geschichtssicht bestätigt und vertieft wird, der zufolge nicht die Reformation, sondern die Aufklärung die entscheidende, modernekonstituie­ rende Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit darstellt - und zwar, darin liegt die Brisanz, nicht nur in kulturgeschichtlicher Sicht, son­ dern auch und gerade in den Perspektiven der protestantischen Theologie­ geschichte. Zweitens will Troeltsch die von ihm in der Protestantismusdeu­ tung verfolgte Fragestellung in den Zusammenhang eines größeren, werkge­ schichtlichen Entwicklungsbogens eingeordnet sehen. Drittens läßt Troeltsch auch schon den besonderen literarischen Charakter der Abhandlung "Prote­ stantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" anklingen: Sie ist im Stil eines Wissenschafts-Essays gehalten. Das erleichtert die Lektüre des Textes, stellt jedoch zusätzliche Anforderungen an seine Interpretation. Die Leitthese, die werkgeschichtliche Einordnung und der literarische Charakter der Abhandlung schienen Troeltsch selbst also im Rückblick her­ vorhebenswert an der Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kir­ che in der Neuzeit". Es sind zugleich Aspekte, denen im Rahmen dieser Ein­ leitung nachgegangen werden soll.

1 . Troeltschs Protestantismus-Deutung Die Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" kann als ein Schlüsseltext für Troeltschs Interpretation der Unterscheidung von Altprotestantismus und Neuprotestantismus gelten. In dieser Unter­ scheidung zeigt sich Troeltschs positive Deutung von modernekonstituie­ renden Umformungsphänomenen, diese Unterscheidung bildet auch den zentralen Fokus dieser Abhandlung. Zwar hat Troeltsch die Unterscheidung von Altprotestantismus und Neuprotestantismus nicht erfunden. Er hat aber die ihm überlieferte Unterscheidung in einer weder vor ihm noch nach ihm erreichten Weise so detailliert und materialreich entfaltet, daß sie seither

1

Ernst Troeltsch: Meine Bücher (1921), S. 1 65 f

.......

KGA 1 1 .

Troeltschs Protestantismus-Deutung

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als eine zwar nicht unstrittige, aber dennoch eingespielte Selbstdeutungsfi­ gur protestantischer Selbstreflexion gelten muß. Was ist gemeint mit der schon vor Troeltschs Zeiten bekannten Unter­ scheidung zweier Epochen des Protestantismus? Diese Unterscheidung verdankt sich ursprünglich einem differenzierenden Blick auf den Protestan­ tismus, demzufolge dieser weniger als eine in sich geschlossene Gesamter­ scheinung allein aus der konfessionellen Opposition gegen den römischen Katholizismus verstanden wird, sondern vielmehr als ein heterogenes Ge­ bilde, das in vielfältiger Weise mit der Entstehungsgeschichte der modernen Welt verflochten ist. Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, daß der Protestantismus insbesondere am Ende des 17. Jahrhunderts tiefgehende Wandlungsprozesse erlebte. Aus der reformatorischen Gestalt des Prote­ stantismus schälte sich eine neuzeitlich-moderne Gestalt des Protestantis­ mus heraus. Damit ergibt sich die Differenzierung zwischen einer ersten, noch ganz weitgehend an das Mittelalter gebundenen Epoche des "alten" Protestantismus und einer zweiten, mit dem neuzeitlich-modernen Geist verbundenen Epoche des "neuen" Protestantismus. Dabei wird in der Regel nicht geleugnet, daß auch schon in der Reformation und in der Epoche des alten Protestantismus Elemente angelegt waren, die in die Neuzeit weisen. Hierzu zählen etwa alle Tendenzen auf ein innerliches, freies, geistiges, von allen äußeren Autoritäten unabhängiges Christentum. Es wird allerdings konstatiert, daß diese Elemente erst im Zusammenhang der neuzeitlichen Welt- und Lebensauffassung des 1 8. und 1 9. Jahrhunderts zur vollen Blüte gelangen konnten, während gleichzeitig die katholisch-mittelalterlichen Ele­ mente, die dem alten Protestantismus noch anhingen, allmählich in den Hin­ tergrund traten. So wird die zweite Epoche des (neuen) Protestantismus in der Regel nicht als Bruch mit der ersten Epoche des (alten) Protestantismus gedeutet, sondern als konsequente Durchbildung der Grundrichtung der Reformation und als Befreiung von den mittelalterlichen Resten, die ihr not­ gedrungen noch anhafteten. Troeltsch läßt keinen Zweifel daran, daß er diese Unterscheidung von Alt­ und Neuprotestantismus als eine überlieferte ansieht, die er lediglich auf­ nimmt. Die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus wird schon auf den ersten Seiten der Erstauflage von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" 1 906 als "Voraussetzung für jedes historische Verständnis des Protestantismus"2 eingeführt, nicht etwa als das Resultat der Untersuchung. Dem entspricht, daß Troeltsch sich der terminologischen

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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1 906), siehe unten, S. 87, entsprechend auch die Zweitauflage (1 909) , ebd.

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Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus bereits in seiner Disser­ tation 1 89 1 wie selbstverständlich bediente.3 Troeltsch sieht sich selbst nicht als Urheber der Unterscheidung, und noch viel weniger erhebt er Origina­ litätsansprüche für seine eigene Entfaltung einer neuprotestantischen Theo­ logie. Vielmehr gilt ihm Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher als der klassische Denker des Neuprotestantismus, als der "große Meister der Theo­ logie des Neuprotestantismus"4. Dies legt eine Reihe von Fragen nahe. Zunächst: in welcher Weise kannte die protestantisch-theologische Selbstreflexion des 1 9. Jahrhunderts die Un­ terscheidung zweier Epochen des Protestantismus, an die Troeltschs Deutung des Protestantismus anknüpfen konnte? Sodann: worin bestehen demge­ genüber die Grundlinien von Troeltschs Protestantismus-Deutung? Schließ­ lich: welche zeitgenössischen Auseinandersetzungen sind um sie geführt worden? 1 . 1 . Zur Herkunftsgeschichte Die mit der Unterscheidung von Altprotestantismus und Neuprotestantis­ mus gemeinte Sache hat "eine weiter zurückreichende sachliche Vorge­ schichte"S im 1 9. Jahrhundert. Vorbereitet wird die Unterscheidung schon bei Schleiermacher und Hegel. So deutet Schleiermacher an prominenter Stelle, in der Einleitung in die Glaubenslehre 1 821 , die Notwendigkeit an, hinsichtlich einer Einschätzung der konfessionellen Differenz zwischen Protestantismus und Katholizismus auch zwischen der reformatorischen Entstehungsepoche des Protestantismus und der eigenen, zeitgenössischen Epoche zu unterscheiden.6 Hegel sekundiert ihm, wenn er in den Vorlesun­ gen zur Philosophie der Weltgeschichte (zuerst 1 822) im Zusammenhang der Diskussion von Luthers Abendmahlslehre die lutherische Pneumatolo-

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Vgl. Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melan­ chthon (1 891), S. 204-206 KGA 1 . Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit 1 909/22, siehe unten, S. 483. Volker Drehsen: Art: Neuprotestantismus (1 994) , S. 363. - Zahlreiche Belege für diese Einschätzung bietet Kurt Leese (Hg.) : Der Protestantismus im Wandel der neueren Zeit (1 941 ) . Die von Leese gegebenen Belege sind in die Darstellungen die­ ser Einleitung stark eingeflossen. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1 821 /22) , Band 1, § 27. 1 und § 28. 1 . Vgl. auch die Zweitauflage: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1 830/3 1), § 24. 1 . --+

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gie als noch "ganz katholisch"7 bezeichnet und resümiert: "Mit der Refor­ mation [ . . . ] beginnt das Reich des Geistes, wo Gott als Geist wirklich er­ kannt wird. Hiermit ist das neue, das letzte Panier aufgetan, um das die Völker sich sammeln, die Fahne des freien Geistes, der bei sich selbst ist. [ . ] Die Zeit von da bis zu uns hat kein anderes Werk zu tun gehabt, und zu tun, als dieses Prinzip in die Welt hineinzubilden, aber so, daß dies noch die Form der Freiheit, der Allgemeinheit gewinnen mußte. "8 Hegel und Schleier­ macher argumentieren formal vergleichbar darin, daß sie den reformatori­ schen Ursprung des Protestantismus am Maßstab eines Wesens des Prote­ stantismus beurteilen. Verschiedene historische Erscheinungsformen des Protestantismus stehen zu diesem Wesen des Protestantismus in einem mehr oder weniger starken Entsprechungsverhältnis. Für Hegel wie für Schleier­ macher gilt dabei, daß das Wesen des Protestantismus in der zeitgenös­ sischen Erscheinungsform des Protestantismus stärker realisiert ist als in der reformatorischen Ursprungsepoche des Protestantismus, in dem die­ ses Wesen wohl keimartig angelegt, aber noch nicht zu seiner vollen Realisie­ rung gekommen war. Hegel wie Schleiermacher können darum auch als Pro­ tagonisten jener Selbstdifferenzierung des Protestantismus in zwei Epochen gelten. Minuziöser wird diese Differenz dann bei Ferdinand Christian Baur arti­ kuliert. Er kann 1 852 diese Differenzierung als zeitgenössische communis opinio darstellen: "Man ist allgemein darüber einverstanden, daß die Periode von der Reformation bis zur Gegenwart selbst wieder in sich getheilt werden muß. Was aber soll hier fixirt werden? Der westphälische Friede, von wel­ chem Hase die neueste Periode datirt, hat zu sehr eine blos politische Bedeu­ tung, da er weder im Innern des Protestantismus, noch in der Stellung des­ selben zum Katholicismus eine wesentliche Aenderung zur Folge hatte. Unstreitig kann das Epochemachende nur in dem allgemeinen Umschwung des dogmatischen Bewußtseins, wie er im Laufe des achtzehnten Jahrhun­ derts erfolgte, gesetzt werden. Hier erst vollzog der Protestantismus an dem noch aus der alten Kirche stehen gebliebenen Dogma dieselbe analysirende Kritik, welche er am Papstthum schon in der Zeit der Reformation vollzogen hatte."9 Den damit erstmals deutlich ausgesprochenen Grundgedanken be­ zieht später Richard Rothe direkt auf die Person Luthers, und zwar ebenfalls in der Auseinandersetzung mit Luthers Abendmahlslehre: "Hier kam es am allerdeutlichsten zum Vorschein, daß Luther von dem einseitigen Suprana. .

Georg Wilhe1m Friedrich HegeI: Philosophie der Weltgeschichte, S. 880. Ebd., S. 881 . 9 Ferdinand Christian Baur: Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung (1 852), S. 273.

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turalismus der bisherigen christlichen Frömmigkeit und somit von dem kirchlich geformten Christentum im Prinzip nicht lassen wollte, daß er ein altkatholischer Mann war, kein modern-protestantischer, ungeachtet der größte Reformator."l o Darum kann Rothe andernorts auch die kirchenpoli­ tisch-praktische Parole ausgeben: "Das ist gewiß: ein Protestantismus, der sei­ nen Charakter darein set'{f, den Protestantismus des Reformationszeitaltersfortbehaup­ ten zu wollen, der hat nach der jetzigen Lage der Dinge dem Katholizismus gegenüber sehr schlechte Aussichten. Aber auch nur ein solcher. "lI Bei Otto Pfleiderer gewinnt die Periodisierung des Protestantismus ihre Bedeutung dann weniger im Blick auf Wandlungen im Verhältnis zum Ka­ tholizismus, sondern im Blick auf die innere Dynamik des Protestantismus. pfleiderers 1 880 formulierter Auffassung zufolge unterscheidet sich der "neuere Protestantismus" von seinen reformatorischen Ursprüngen durch den zunehmenden Primat des Prinzips "von der Rechtfertigung allein durch Gottes Gnade und durch den Glauben des Menschen". Dieses Prinzip sei, mit unterschiedlicher Akzentuierung, zunächst vom Pietismus geltend ge­ macht worden "als Reaktion der praktischen evangelischen Frömmigkeit und Sittlichkeit gegen die Erstarrung des kirchlichen Orthodoxismus". Es sei dann auch von der Aufklärung in Anschlag gebracht worden "als Re­ aktion des theoretischen protestantischen Prinzips der autonomen Kritik gegenüber der dogmatischen Tradition" in Kirche und Theologie. Aus der Verbindung beider erwuchs schließlich im 1 8. Jahrhundert der "neuere Pro­ testantismus" in der Ausprägung einer nachpietistischen und nachrationa­ listischen Theologie, als deren Repräsentanten insbesondere Kant, Herder und Schleiermacher genannt werden. t 2 In der Generation unmittelbar vor Troeltsch verbindet Karl Sell die Un­ terscheidung zweier Epochen des Protestantismus mit der Umbildung der vergangenen Gestalt des Protestantismus in die gegenwärtige. Sell formu­ liert 1 899, also acht Jahre nach Erscheinen von Troeltschs Dissertation und sieben Jahre vor der Publikation von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit": "Der religiöse Protestantismus, so wie er im 1 7. Jahr­ hundert um sein Leben focht, existiert nicht mehr; auch im Dogma, auch in der Kirchenreform hat er die eingreifendsten Wandlungen erlebt. Dennoch lebt der Protestantismus fort als Gesinnung, als Bibelglaube, als National-

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Richard Rothes Vorlesungen über Kirchengeschichte und Geschichte des christlich­ kirchlichen Lebens (1 875) , Band 2, S. 334. Stille Stunden. Aphorismen aus Richard Rothe's handschriftlichem Nachlaß (1 888) , S. 244. Otto Pfleiderer: Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre (1 880), S. 42.

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religion, als politische Religion, als wissenschaftliche und technische Trieb­ kraft. Er ist das Ethos und Pathos der germanischen Völker geworden, der Deutschen und Angelsachsen. Aber deren eigentlich religiöses Leben hat längst noch andre Elemente in sich entwickelt. Was man heute Protestantis­ mus nennt, ist nicht mehr ein geschlossenes religiöses System, sondern ein kompliziertes geschichtliches Gebilde, nur zum Teil ,protestantischen' Ur­ sprunges. "13 Wie also die Geschichte der Unterscheidung zweier Epochen des Prote­ stantismus als eine zu Troeltschs Zeiten bereits eingespielte gelten muß, so reicht auch die Geschichte ihrer begrifflichen Chiffrierung im Ausdruck "Neuprotestantismus" weit über Troeltsch zurück. So hatte etwa schon 1 846 Johann August Carl Markscheffel eine konfessionspolemische Schrift unter dem Haupttitel "Kritik zur richtigen Würdigung der neuprotestantischen und neukatholischen Reaktion" verfaßt. 14 Der älteste bislang bekanntgewor­ dene Beleg für den (im modernen Sinne gemeinten) Einsatz des Adjektivs "neuprotestantisch" stammt freilich nicht aus protestantischer, sondern aus konfessionspolemischer, katholischer Feder. Im Jahre 1 834 verteidigt der Tübinger Kirchenhistoriker und Symboliker Johann Adam Möhler seine 1 832 erschienene Symbolik1 5 gegen die Kritik Ferdinand Christian Baurs16. Dazu verfaßte er konfessionspolemische "Neue Untersuchungen der Lehr­ gegensätze zwischen den Katholiken und Protestanten"17. In ihnen setzt er gelegentlich Derivate des Begriffs "neuprotestantisch" als abschätzige Bezeichnung der Baurschen Theologie insgesamt ein.18 So heißt es etwa über Baurs Theologie bzw. über den von Möhler als "neueren oder [ . . ] aller­ neuesten Protestantismus" bezeichneten "Baurismus":19 "Ist aber diese neue Theologie neu-protestantisch? Sie bringe ihre Sätze treu in ein Symbol, und sende es den deutschen protestantischen Facultäten zur Unterschrift zu, auf wie viele Stimmen dürfte es zählen? Ich möchte beinahe sagen, daß ich es .

13 Karl Sell: Die wissenschaftlichen Aufgaben einer Geschichte der christlichen Religion (1 899) , S. 45. 1 4 Vgl. Johann August Carl Markscheffel: Kritik zur richtigen Würdigung der neuprote­ stantischen und neukatholischen Reaktion (1 846) . 1 5 Johann Adam Möhler: Symbolik oder die Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften (1 832) . 6 1 Ferdinand Christian Baur: Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismus nach den Principien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriffe (1 832) . 1 7 Johann Adam Möhler: Neue Untersuchungen der Lehrgegensätze zwischen Katho­ liken und Protestanten (1 834) . 18 Ebd. , S . 1 70 f. und S . 505. 1 9 Ebd., S. 504 f.

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selbst unterschreibe, wenn es in Tübingen nur Eine Unterschrift erhält!"2o Baur beantwortet diese rhetorische Frage am Schlusse seiner Antwort auf Möhler21 kaum weniger geistreich mit der Ablehnung des Begriffes: "Auch ich stimme bei und zähle auf keine einzige Unterschrift, nicht einmal meine eigene, sobald die Sätze dieser Theologie mit Herrn Möhlers Treue und in Herrn Möhlers Geist in ein Symbol gebracht werden. Nur unter dieser Vor­ aussetzung kann ich das eigene Rätsel mir lösen, den hier so wenig verbor­ genen Widerspruch, daß es eine neuprotestantische Theologie geben soll, von welcher doch bei allen protestantischen Facultäten Deutschlands nie­ mand etwas wissen, zu welcher niemand sich bekennen soll. "22 Man könnte damit eine entfernte Verwandtschaft der Entstehungsum­ stände des Neuprotestantismusbegriffes mit denjenigen des Protestantis­ musbegriffes sehen. Sie läge darin, daß dieser wie jener ursprünglich einmal als Fremdbezeichnung aus katholischem Munde und in polemischer Absicht gebraucht worden ist. Eine weitere auffällige begriffsgeschichtliche Parallele bestünde überdies auch darin, daß noch vor der Entstehung des Abstrak­ tums die Personenbezeichnung nachweisbar ist. So, wie zunächst nur von den "Protestanten" und erst später dann vom "Protestantischen" gespro­ chen worden ist, ist auch der Ausdruck "Neuprotestanten" noch einmal frü­ her nachweisbar als der der "neuprotestantischen Theologie". Er findet sich im Jahre 1 8 1 8 bei August Twesten. Twesten hatte aus Schleiermachers Feder eine briefliche Zusammenfassung von dessen 1 8 1 8 erschienenem Aufsatz "Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbo­ lischer Bücher"23 empfangen. In seiner brieflichen Antwort artikuliert Twe­ sten nun seinen kritischen Einwand mit folgenden Worten: "Wollen Sie nämlich die symbolischen Bücher als bloße Grenze gegen den Katholicis­ mus betrachtet wissen, nach der anderen Seite aber keine Grenze ziehen, so kann ich Ihnen nicht beistimmen; denn ich könnte wahrlich viel eher mit den Katholiken in einer Kirche gemeinschaftlich leben, als mit solchen, bei de-

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Ebd., S. 1 70 f. Ferdinand Christian Baur: Erwiederung auf Herrn Dr. Möhler's neueste Polemik ge­ gen die protestantische Lehre und Kirche (1 834) . Ebd., S. 1 1 1 f. Zuerst in: Reformations Almanach auf das Jahr 1 8 1 9, hg. von Friedrich Keyser, in Georg Adam Keysers Buchhandlung in Erfurt [1 8 1 8] , S. 335-38 1 , jetzt in: Fried­ rich Daniel Ernst Schleiermacher: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. von Hans-Friedrich Traulsen, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1 990, S. 1 1 7-1 44 (= Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Ge­ samtausgabe, 1 . Abteilung, Band 1 0) .

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nen die Ansichten mancher Neuprotestanten, z. B. Tieftrunks, herrschend würden. "24 Soviel zu den Hintergründen des Neuprotestantismus-Begriffes. Zwar gibt es keine Hinweise darauf, welche der genannten Quellen Troeltsch klar vor Augen hatte, als er den Neuprotestantismusbegriff aufnahm. Nahelie­ gender dürfte die Vermutung sein, daß er sich des Neuprotestantismusbe­ griffes als eines schon eingespielten Begriffes zur Selbstunterscheidung einer durch historische Selbstreflexion ausgezeichneten Epoche der neueren pro­ testantischen Theologiegeschichte von den vorangegangenen Epochen der orthodoxen, pietistischen und rationalistischen Theologie bedient habe. Aber Troeltsch rezipierte den in diesem Sinne eingespielten Begriff in prä­ gnanter Zuspitzung. Er diente ihm dazu, in historischer wie in systemati­ scher Perspektive das durch Umformungsphänomene charakterisierte Ver­ hältnis des zeitgenössischen Protestantismus zu seinen reformatorischen Ursprüngen, zur voraufklärerischen Gestalt des Protestantismus und zur modernen Geisteskultur zu bestimmen. Troeltsch bot damit eine program­ matische Rekonstruktion des Neuprotestantismusbegriffes. Deren Pointe besteht darin, daß der Neuprotestantismus über die Darlegung seiner Kul­ turbeziehungen bestimmt und in den Horizont der gesamt-protestantischen Entwicklungsgeschichte eingezeichnet wird. 1 .2. Grundlinien von Troeltschs Protestantismus-Deutung Troeltsch wendet die überlieferte Unterscheidung als Matrix der materialen Geschichtsdarstellung selbst an. Die überkommene und eher summarische Unterscheidung von altem und neuem Protestantismus wird von ihm als strukturierende Leitidee seiner materialen Geschichtsschreibung der gesam­ ten Entwicklungsgeschichte des Protestantismus in Anspruch genommen, und das führt, im Ergebnis, zu einer Bestätigung, Verfeinerung und Zuspit­ zung der überlieferten Unterscheidung. 24 Der Brief Twestens ist auszugsweise mitgeteilt bei earl Friedrich Georg Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen (1 889), S. 332 f. - Der rationalisti­ sche Philosoph und Theologe Johann Heinrich Tieftrunk (1 759-1 837) war zunächst Stadtschulrektor und Nachmittagsprediger in Joachimsthal (Uckermark) , ab 1 792 Philosophieprofessor in Halle, wobei sein Lehrauftrag auch theologische und reli­ gionsphilosophische Gegenstände umfaßte. Seine rationalistisch-kantianisierende Religionsphilosophie und sein Plädoyer für eine auf den Grundsätzen der Kantschen praktischen Philosophie gründende Religion vernünftiger Mündigkeit brachte Tief­ trunk in den letzten Jahren der 90er Jahre in massive und aufsehenerregende Ausein­ andersetzungen mit dem orthodoxen Supranaturalismus der älteren Tübinger Schule.

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Wo liegen die inhaltlichen Akzente, die Troeltsch setzt? Zusammen­ gefaßt besagt die Unterscheidung von Altprotestantismus und Neuprote­ stantismus bei ihm die Unterscheidung zweier nur noch verhältnismäßig locker miteinander verbundener Hauptepochen im Protestantismus. Als er­ ste Epoche gilt das altprotestantische oder konfessionelle Zeitalter des Pro­ testantismus. Diese Epoche datiert ins 1 6. und 1 7. Jahrhundert und muß als eine der Substanz nach weitgehend ungebrochene Fortsetzung der mittel­ alterlichen, supranatural konstituierten Einheitskultur unter der Signatur reformatorischer Umprägungen verstanden werden. Dieser altprotestanti­ schen Epoche gegenüber steht die Epoche des neuen oder modernen Pro­ testantismus im 1 8. und 1 9. Jahrhundert. Diese Gestalt des Protestantismus hat sich in enger Wechselbeziehung mit der aufklärerischen Destruktion einer kirchlich-supranaturalen Kulturvorstellung herausgebildet als die prinzipielle Anerkennung der unübersehbaren Emanzipation weltlicher Kultur - und der Protestantismus hat es sich damit selbst ermöglicht, in ein komplexes Wechselwirkungsverhältnis mit einzelnen dieser Kulturbestände zu treten. Troeltschs Fassung der Unterscheidung von Altprotestantismus und Neu­ protestantismus beruht auf einer historisch-analytischen Doppelbeobach­ tung. In ihrer ersten Hälfte besagt sie, daß "der alte echte Protestantismus des Luthertums und des Calvinismus" als "Gesamterscheinung trotz seiner antikatholischen Heilslehre durchaus im Sinne des Mittelalters kirchliche Kultur" darstellt, denn er will "Staat und Gesellschaft, Bildung und Wissen­ schaft, Wirtschaft und Recht nach den supranaturalen Maßstäben der Offen­ barung ordnen und gliedert wie das Mittelalter überall die Lex naturae als ursprünglich mit dem Gottesgesetz identisch sich ein."25 Dabei stellten die "mittelalterlichen Reste" sich dem Protestantismus "in Gestalt des von ihm beibehaltenen Selbstverständlichen" dar. Darin lag solange kein Selbstwider­ spruch, wie "diese Selbstverständlichkeiten mit gutem Gewissen und in Ü bereinstimmung mit dem Gesamtleben festgehalten werden konnten."26 In ihrer zweiten Hälfte besagt die Beobachtung Troeltschs, daß in Abkehr von dieser ersten Gestalt des Protestantismus seit dem Ende des 1 7. Jahr­ hunderts der moderne Protestantismus "überall auf den Boden des paritäti­ schen oder gar religiös indifferenten Staates übergetreten"27 ist. Dafür nennt 25 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der moder­ nen Welt (1 9 1 1), in: KGA 8, S. 225. 2 6 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit 1 909/22, siehe unten, S. 1 32. 27 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der moder­ nen Welt (1 9 1 1 ) , in: KGA 8, S. 225.

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Troeltsch zwei Hauptindizien. Erstens, der Protestantismus hat "die reli­ giöse Organisation und Gemeinschaftsbildung im Prinzip auf Freiwilligkeit und persönliche Ü berzeugung übertragen unter grundsätzlicher Anerken­ nung der Mehrheit und Möglichkeit verschiedener religiöser Ü berzeugungen und Gemeinschaften nebeneinander"28. Zweitens, der Protestantismus hat "grundsätzlich neben sich ein völlig emanzipiertes weltliches Leben aner­ kannt, das er weder direkt noch indirekt durch Vermittelung des Staates mehr beherrschen will"29. Diese Anerkennung des emanzipierten weltlichen Lebens durch den modernen Protestantismus hat weitreichende Konsequenzen für sein Selbst­ verständnis. Denn sie bedeutet einerseits den Verlust der dogmatischen Kon­ stitutionsebene für den Protestantismus, nachdem die alte Lehre von der diese Beherrschung des weltlichen Lebens "ermöglichenden und fördern­ den Identität der Lex Dei und Lex naturae bis zum völligen Unverständnis vergessen" wurde.30 Andererseits bedeutet diese Anerkennung den Gewinn einer kuiturpraktischen Ebene der Selbstkonstitution. Denn nachdem der dogmatischen Begründung im Gefolge der Destruktion j eglicher einheits­ kultureller Konzeptionen die gesellschaftskulturelle Substanz entzogen ist, der Protestantismus aber - im Gegensatz zum Katholizismus - schon aus Gründen seiner allerfrühesten Geschichte auf derartige Substantiierungen nicht verzichten kann,31 kommt es im Protestantismus zur Bemühung um die Integration dieser emanzipierten moderngesellschaftlichen Tendenzen in die protestantische Selbstbegründung. "Nicht bloß die geringere kirch­ liche und organisatorische Widerstandskraft, sondern eine innere Wahlver­ wandtschaft mit dem Geiste wissenschaftlicher Kritik und Wahrhaftigkeit, autonomer Ü berzeugung und persönlich-freier Lebensführung läßt ihn die neuen Verhältnisse und Gedanken in sich aufnehmen. Der an sich keiner rationell-wissenschaftlichen Kritik bedürftige Geist seines religiösen Indivi­ dualismus und seiner Glaubensreligion kann der ersteren, so wie sie erst sich durchgesetzt hat, nicht widerstehen, und muß das religiöse Erkenntnisstre­ ben mit dem allgemeinen, den religiösen Individualismus mit der prinzipiel­ len Autonomie, den religiösen Wahrheitsbegriff mit dem wissenschaftlichen verschmelzen. "32 Was schließlich die Funktion der Dogmatik dabei be-

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Ebd., S. 225. Ebd., S. 225. Ebd., S. 225 f. Vgl. unten, S. 347-350. Unten, S. 1 32 f.

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trifft,33 so bedeutet in Troeltschs Augen der Wechsel der Konstitutions­ instanz gerade keine Preisgabe der Dogmatik, sondern eine Umbestimmung ihrer Aufgabe. Denn der Dogmatik wird im modernen Protestantismus eine neue Funktion zugewiesen: Sie liefert selbst nicht mehr Begründungen des Protestantismus, sondern sie bildet die innertheologische Reflexionsinstanz dieser Begründungen und ihrer Konsequenzen. Die eigentliche konstitu­ tionstheoretische Pointe dieser modernprotestantischen Anerkennung des emanzipierten weltlichen Lebens ist nach Troeltschs Auffassung darin zu se­ hen, daß der Protestantismus in ihr genuin reformatorische Motive realisiert: Er sucht "die Einsatzpunkte und Begründungen seiner selbst in neu herausge­ hobenen und erst jetzt akzentuierten Seiten der Reformation"34. Im Zusammenhang der Entfaltung der Unterscheidung von Altprotestan­ tismus und Neuprotestantismus muß ein exakter historischer Umschlag­ punkt von Altprotestantismus auf Neuprotestantismus bestimmt werden können. So sehr Troeltsch in mannigfaltigen Näherbestimmungen des Neu­ protestantismus auf dem protestantischen Erbteil der Aufklärung besteht, so unmißverständlich beharrt er im Zusammenhang der Darlegung der Un­ terscheidungsgründe doch auch darauf, daß dem Protestantismus die Not­ wendigkeit einer Selbstmodernisierung von außen aufgezwungen wurde.35 Darüber hinaus und unbeschadet dieser äußeren Grundveranlassung ver­ mag Troeltsch aber auch einen präzisen Zeitpunkt der Umstellung von alt33

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"Es ist das Wesen des Neuprotestantismus, daß er die alten dogmatischen Begrün­ dungen und Orientierungen verläßt und sich an dem Kopernicanisch-Newtonschen Weltbilde sowie an dem Bedürfnis nach allgemeingültiger, wissenschafts artiger Be­ gründung orientiert. Er ist wissenschaftlich geworden, und seine autonome Gewiß­ heit strebt nach Vergleichbarkeit oder nach Identität mit der wissenschaftlichen Au­ tonomie und Gewißheit": Ernst Troeltsch: (Rez.) Otto Lempp: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 1 8. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller, Leipzig 1 9 1 0. - Ders.: (Rez.) Richard Wegener: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 1 8. Jahrhunderts mit besonderer Rucksicht auf Kant und Schiller (1 91 3), Sp. 2 1 4 .... KGA 4. Ernst Troeltsch: Renaissance und Reformation (1 9 1 3) , S. 554 .... KGA 8. Die Selbstverständlichkeiten des alten Protestantismus "sind zerbrochen worden, aber sie sind von außen her zerbrochen worden, durch eine historische Kritik, die die protestantische Bibellehre und das Christusdogma erschütterte, durch eine Me­ taphysik, die den dualistischen Supranaturalismus fraglich machte, durch eine Gestaltung des praktischen Gesamtlebens, die die Ethik des Dekalogs, des natür­ lichen Sittengesetzes und der Fügung in die gegebene Berufsgliederung unmöglich machte, durch einen religiösen Individualismus, der den kirchlichen Universalismus zersetzte und keinerlei Gewaltherrschaft der Religion zu ertragen vermochte". Un­ ten, S. 1 32.

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protestantischer auf neuprotestantische Selbstkonstitution zu benennen. Zwar ist er nur als Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung anzu­ sehen und entließ seinerseits komplexe Umbildungsvorgänge aus sich, an ihm wird aber doch die Selbstumbildung des Altprotestantismus auf den Neuprotestantismus gleichsam unter mikroskopischen Bedingungen sicht­ bar. Als das entscheidende Datum j enes Umschwunges fixiert Troeltsch den Rückzug der gescheiterten Kongregationalisten und deren Selbstumfor­ mung in präpietistische und täuferische Gemeinschaften im England des 1 7. Jahrhunderts. Denn das Scheitern des letzten Versuches, die Kultur unter religiöse Herrschaft zu zwingen, habe die Verselbständigung der Kultur ge­ fördert, die Abkapselung kleinerer religiöser Gemeinschaften vorangetrie­ ben und insofern die voneinander getrennte, innere Diversifizierung der Kultur wie auch des Protestantismus forciert. Damit aber war für den Pro­ testantismus die Notwendigkeit einer Selbstbestimmung unter neuen Bedin­ gungen gegeben. Die Folgen dieser Selbstumbildung für die innere Gestalt des Protestan­ tismus liegen auf der Hand. Die Ö ffnung selbst bewirkt zum einen, so führt Troeltsch aus, das Zerbrechen seiner Einheitlichkeit, seine Differenzierung und Pluralisierung: Der Protestantismus "hat einen Fremdkörper in seinen Blutumlauf aufgenommen und die Assimilation vollzieht sich nur unter schweren Krisen, in denen Ermattungen und Fieberzustände wechseln. Er bleibt er selbst, und wird doch etwas Anderes und Neues. Er teilt sich in un­ zählige Gruppen, schafft neue kirchliche Organisationen und zerteilt die al­ ten Kirchen in Parteien und Richtungen. Er belebt bald die alte Rechtgläu­ bigkeit und bald gibt er sich an fremde Ideen hin bis zur Selbstaufgabe, und zwischen beiden Polen stehen alle erdenklichen Formen des Kompromisses. Das ist seine Lage bis zum heutigen Tage."36 Zum anderen bewirkte die not­ wendige Ö ffnung und Selbstumbildung des Protestantismus die Verknüp­ fung seines eigenen Schicksals mit demjenigen der modernen Kultur: "Der Fall der mittelalterlichen Schranken und Hüllen stellt nicht einen j etzt erst ganz konsequenten und reinen Protestantismus auf eigene Füße, sondern, wie jener Fall selbst erst durch moderne Einwirkungen zustande kommt, schafft er einen mit dem neuen Geistesleben unlösbar und spannungs reich verbundenen neuen Protestantismus."3?

36 Unten, S. 1 33. 37 Ebd.

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1 .3. Zur Auseinandersetzung um Troeltschs Protestantismus-Deutung

Der sachliche und methodische Gehalt von Troeltschs Neuprotestantismus­ These ist unter den Z eitgenossen und auch später lebhaft diskutiert worden, so daß sich im Rückblick urteilen ließ, Troeltschs Beitrag in der "Kultur der Gegenwart" habe ".damals eine starke Wirkung erzielt und lange Zeit die Problemstellung der weiteren Forschung beeinflußt."38 Inzwischen kann, aus wachsendem historischen Abstand, die Bedeutung dieser Debatte auch in dem theologiegeschichtlich wie kulturwissenschaftlich bedeutsamen Um­ stand gesehen werden, daß unter der Oberfläche der zeitgenössischen Aus­ einandersetzung um Troeltschs Aus führungen zugleich de facta ein Diskurs geführt wurde um die sachliche und methodische Berechtigung, mit der der Theologe Troeltsch als Historiker den Neuprotestantismusbegriff nicht mehr lediglich als Epochenbegriff in Anspruch nimmt, sondern in einen Deu­ tungsbegriff mit normativem Gehalt wandelt. Die Abhandlung :. , Protestantisches Christentum und Kirche in der Neu­ zeit" erschien in zeitlich weit auseinanderliegenden Auflagen. Dies gab Troeltsch Gelegenheit, in der zweiten und dritten Auflage aus führlich auf die zahlreichen Einwände einzugehen, die ihm entgegengehalten worden waren. Nachdem Troeltsch sich also innerhalb des Edierten Textes selbst zur Rezeptionsgeschicht,� dieses Textes verhält, wird im folgenden auch die Ge­ schichte der Diskussion um Troeltschs Abhandlung in den Blick genommen. Zwar ist diese Diskussion kaum zu überschauen. Sie kann im Rahmen die­ ser Einleitung auch kaum angemessen beurteilt werden. Doch läßt sie sich hier exemplarisch do::mmentieren. Denn es sind bestimmte Muster der Aus­ einandersetzung, die sich regelmäßig einstellen und stets wiederkehren. Das Repertoire der zustimmenden oder ablehnenden, abwägenden oder fortent­ wickelnden Argumente ist nicht unendlich, so daß sich Argumentationsziele, Argumentationsstratt:gien und Argumentationsinhalte in der Debatte häufig in vergleichbarer Weise wiederholen - zwar nicht voneinander ab � ängig, aber doch strukturparallel. So wird etwa der Vorwurf mangelnder Quellen­ kenntnis Troeltschs so häufig wiederholt wie der Vorwurf der Luther­ Destruktion, es kehren methodische Einwände gegen die ideengeleitete Geschichtsrekonstruktion stets wieder - andererseits wird aber auch etwa der Erschließungswert der Darstellung immer wieder hervorgehoben, es ar­ tikuliert sich die Zustimmung in stets erneuter, hingebungsvoller Paraphrase der Troeltschschen Ausführungen, oder es wird der von Troeltsch erneuerte Begriff des Neuprotestantismus als Programmbegriff eines zeitgemäßen protestantischen Selbstverständnisses aufgenommen. 38

Hans Lietzmann: ReLgionswissenschaft und Religionsunterricht (1 928) , S. 63 f.

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Im folgenden soll lediglich das Spektrum der Debatte dokumentiert wer­ den. Dieses weite Spektrum um faßt die eher pauschale Abweisung ebenso wie die differenzierende Ablehnung der These; es findet sich eine Abschwä­ chung von Troeltschs Aus führungen ebenso wie eine Fokussierung der Aus­ führungen auf die ihr zugrundeliegende Fragestellung; es gibt Beiträge zur konstruktiven Diskussion von Troeltschs Begründungen ebenso wie deren zustimmungsvolle Weiterschreibung; und schließlich läßt sich auch die prak­ tisch einschränkungslose Zustimmung zu Troeltschs Ausführungen ver­ zeichnen. Die Ausführlichkeit, mit der zeitgenössische Rezipienten nun zu Wort kommen sollen, ist darin begründet, daß in ihren Voten exemplarische Lesehinsichten plastisch werden. Eine weitgehend pauschale Ablehnung erfuhr Troeltschs Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus und die sich aus dieser Unterschei­ dung ergebende These vom Charakter des Neuprotestantismus insbeson­ dere bei Allgemeinhistorikern, die zur Ranke-Schule gezählt werden können, so etwa bei Georg von Below39 oder bei Max Lenz. Seine Reaktion, die in das Jahr des Reformationsjubiläums 1 9 1 7 fiel und auf die geplanten Feiern Bezug nahm, läßt erkennen, in welcher Weise Troeltschs Neuprotestantis­ mus-These offensichtlich massive Irritationen und Verlustängste auszulösen vermochte: "Erstaunliche Behauptungen! Forschungsergebnisse, welche, müßte man sie annehmen, mit der Ü berlieferung von Jahrhunderten aufräu­ men würden. Auch für unser Fest ergäben sich daraus trübe Aussichten. Man könnte fast meinen, die Feier lieber unterlassen und die Gegenseite einladen zu müssen, sie zu begehen - müßte man nicht fürchten, daß auch sie darauf verzichten würde, den Mann, den ihre Kirche seit Jahrhunderten verdammt hat, bei sich aufzunehmen. Wenn einst David Friedrich Strauß die bange Frage an uns alle richtete, ob wir noch Christen seien, so dürften wir uns nun fragen: Sind wir noch Protestanten? Und wirklich, Troeltsch bestreitet dies. Wenigstens will er nicht zugeben, daß das, was wir Heutigen Protestantismus nennen, sich mit dem, was Luther und Calvin gewollt und unternommen ha­ ben, ich sage nicht, sich decke, sondern auch nur in einer organischen, im Prinzip, das immer Keim und Ziel zugleich ist, vorhandenen Verbindung stehe. [ . ] Würden wir diese Sätze annehmen müssen - ich brauche nicht zu sagen, welche Wirkung sie haben würden: wir alle, Historiker wie Theologen aller Bekenntnisse und Parteien, müßten umlernen; das Weltbild von vier Jahrhunderten müßte umgestaltet werden [ . . . ] ."40 . .

39 Vgl. Georg von Below: Die Ursachen der Reformation (1 9 1 7) . 4 0 Max Lenz: Luthers weltgeschichtliche Stellung (1 9 1 7), S . 1 76-1 78.

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Einleitung

In vergleichbarer Weise generell ablehnend hatte sich schon 1 906 der Kirchenhistoriker Theodor Brieger, ein Repräsentant der Ritschl-Schule, ge­ äußert. Er bezieht sich in seiner Kritik auch aufTroeltschs Vortrag über "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" auf dem Stuttgarter Historikertag 1 906: "Was Troeltsch hier durchweg als ,Alt­ Protestantismus' hinstellt und allein würdigt [ . . ] , hat so, wie er ihn zeichnet, nie bestanden, sondern verdankt seine Entstehung starken Ü bertreibungen, wenn nicht gar dem freien Walten schöpferischer Phantasie, wie dieses in der willkürlichen, mit den markantesten Tatsachen der Geschichte in Streit lie­ genden Behauptung zutage tritt, der Protestantismus sei nur eine Umbildung des Katholizismus, ein Stück des mittelalterlichen Systems. Soweit aber die­ ser Protestantismus wirklich bestanden hat, deckt er sich - was für den Ken­ ner Luthers keine Frage ist - doch nicht entfernt mit den ursprünglichen Tendenzen der Reformation, sondern ist eine durch die Verhältnisse gege­ bene Verengung derselben, eine Verkümmerung des reformatorischen Prin­ zips. [ . . ] Daher ist jede geschichtliche Betrachtung verfehlt, die nicht für die Entwickelung des Protestantismus vom 1 6. bis zum 1 8., 1 9. Jahrhundert hin dasjenige, was im reformatorischen Prinzip beschlossen lag, in Luther selber bereits gegeben war, als wesentlichsten Faktor in Rechnung stellt. [ . . . ] Fragt man, wie es möglich war, daß Troeltsch von der Entwickelung der modernen Zeit ein so schiefes Bild gegeben hat, so liegt für den Historiker eine der Ur­ sachen klar zutage: es ist der Mangel an ausreichender Kenntnis des Mittel­ alters, das in seiner ungeheuren Kraft verkannt wird. Am grünen Tisch läßt der Systematiker ein paar Ideen aufmarschieren, auf die er bei einem Blick in das Mittelalter gestoßen ist [ . . ] , unbekümmert um die Frage, ob sie über­ haupt zu j ener Zeit eine Rolle gespielt haben. - Wer aber das Mittelalter unterschätzt, kann auch der bahnbrechenden Tat Luthers nicht gerecht wer­ den. Für den Kenner jedes Zeitalters wird es immer über jeden Zweifel er­ haben sein, daß in der Reformation Luthers und nirgends anders der große Akt der Befreiung sich abgespielt hat und die Erfüllung der Welt mit einer neuen (wenn schon durch das Mittelalter selbst vorbereiteten) religiösen Idee von unendlicher Spannkraft ist."41 Verbreiteter freilich als diese pauschalisierende Ablehnung der Neuprote­ stantismus-These ist deren abwägende Ablehnung, die vielfach das Ergebnis differenzierterer Diskussion und Kontextualisierung der von Troeltsch vor­ getragenen Gründe und Argumente ist. So kommt etwa der Historiker Johannes Haller 1 9 1 7 zu folgendem Ergebnis: "Der alte Schulsatz, daß die .

.

.

41

Theodor Brieger: Randbemerkungen zu Troeltsch's Vortrag über "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" (1 906) , S. 350-355.

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Reformation den Uebergang aus dem Mittelalter i n die Neuzeit bilde, ist heute nicht mehr unbestritten. Schon 1 883 sprach Treitschke [ . . . ] von der ,Selbstverliebtheit unserer Tage', die die Neuzeit erst mit der französischen Revolution beginnen lassen wolle. Seitdem hat Troeltsch eine verwandte An­ sicht mit viel Beredtsamkeit und dialektischer Gewandtheit vorgetragen, nicht ohne Beifall zu finden. Er sieht die Reformation als eine mittelalter­ liche Erscheinung, sogar als einen Rückfall ins Mittelalter an. Glücklicher­ weise scheint schon heute der Widerspruch gegen diese Ansicht zu überwie­ gen, von der ich überzeugt bin, daß sie als glänzendes Paradoxon höchstens einen gewissen heuristischen Wert haben mag. Wer wird denn leugnen, daß an Luther und seiner Zeit vieles ist, was uns fremd erscheint, und daß wir vom Zeitalter der Reformation durch tiefe Wandlungen sowohl der Lebens­ formen wie des Bewußtseins geschieden sind? Aber unendlich viel tiefer ist doch der Einschnitt, den die Reformation in beidem gemacht hat, indem sie die Einheit und Alleinherrschaft der Priesterkirche zerstörte und für einen großen Teil der Welt das Priestertum überhaupt beseitigte. Dies ist das ent­ scheidende Ereignis [ . . . ] . "42 Eine differenziert ablehnende Kritik an Troeltsch übte 1 9 1 4 auch der Kir­ chenhistoriker Heinrich Boehmer, der insbesondere die in der Person Lu­ thers selbst liegenden Ambivalenzen hervorhebt: "Die wesentlichen Grund­ züge und die Probleme sind bei Luther neu, die Formen sind in mancher Beziehung die alten geblieben. Aber freilich so neu gerade die Probleme und die wesentlichen Grundzüge seiner Verkündigung sind, so recht hat doch der Dichter, wenn er von ihm singt: Sein Geist ist zweier Zeiten Schlacht­ gebiet. Mittelalter und Neuzeit rangen in der Tat in seinem Innern ständig miteinander, und wie allen, auch den hervorragendsten Denkern, glückte es auch ihm selbstverständlich nicht immer, sich ganz dem Banne älterer Denk­ gewohnheiten und im Prinzip längst überwundener Vorurteile zu entzie­ hen. [ . . . ] So verschlingen und durchdringen sich in der Seele des Reforma­ tors alte, überkommene mit ganz neuen und neuartigen, echt mittelalterliche mit unleugbar modernen Gedanken und Stimmungen. Er ist daher als Den­ ker nicht ganz leicht zu charakterisieren. Wer ihn vom Standpunkt der heu­ tigen Kultur aus betrachtet, dem wird naturgemäß immer das Altfränkische und Mittelalterliche in seiner Erscheinung besonders auffallen, so daß er Ge­ fahr läuft, das unleugbar Moderne zu übersehen. Wer ihm vom Mittelalter her sich nähert, auf den wird dagegen umgekehrt das unleugbar Moderne den stärksten Eindruck machen, so daß er in Versuchung kommt, das Mittel­ alterliche zu übersehen und ihn als modernen Menschen zu schildern. In

42 Johannes Haller: Die Ursachen der Reformation (1 9 1 7) , S. 33.

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Wahrheit ist er weder das eine noch das andere, weder ein mittelalterlicher Mensch - denn er hat den ehernen Ring der mittelalterlichen Weltanschau­ ung gerade da gesprengt, wo er am stärksten auch die stärksten Geister bis dahin gebunden hatte - noch ein moderner Mensch - denn er hat viele echt mittelalterliche Vorstellungen beibehalten. Aber auch als ein sogenann­ ter Ü bergangs typus kann er nicht wohl aufgefaßt werden. Erstlich, weil der Ü bergang, der sich an seinen Namen knüpft, kein bloßer Ü bergang ist, son­ dern eine gerade das Fundament des bisherigen Kultursystems ergreifende Umwälzung, durch welche das geschichtliche Leben in ganz neue Bahnen gelenkt wurde, zweitens weil diese Umwälzung nicht automatisch sich an ihm vollzogen hat oder wie ein äußeres Ereignis von ihm bloß miterlebt wor­ den ist, sondern durch ihn selbst erst vollzogen und zum Ereignis für die Menschheit geworden ist. Er ist sonach auch als Denker kein Typus, sondern ein ,Mensch für sich', der keinem Zeitalter ganz angehört, und eben darum zugleich ein ,Genie' in dem klassischen Sinn des Wortes, d.i. ein Mensch, der aufs gewaltigste als produktive Kraft auf Mit- und Nachwelt gewirkt hat. Wer ihm ganz gerecht werden will, der darf ihn daher nicht nur als eine Wirkung schon vorhandener Kräfte darstellen wollen, der muß ihn auch als produk­ tive Kraft schildern, indem er all die mannigfaltigen Wirkungen feststellt, die von ihm ausgegangen sind. Denn in diesen Wirkungen erst wird seine unge­ heure Produktivität recht sichtbar."43 Eher relativierender Argumente bedient sich eine Form der Zurückwei­ sung, in der der Akzent weniger auf eine differenzierte Diskussion einzelner von Troeltsch genannter Aspekte gelegt wird. Vielmehr besteht diese Zu­ rückweisung eher in der Abschwächung der Troeltschschen Argumente, seiner These und seiner Position, die als übertrieben und überzeichnet auf­ ge faßt werden. Charakteristisch sind hier die Ausführungen des Kirchen­ historikers Friedrich Loofs aus seiner Rektoratsrede 1 907, zumal auch er sich darum bemüht, wenn schon notgedrungen den Altprotestantismus, so doch keinesfalls die Figur Luthers an das Mittelalter preisgeben zu müssen ebenso wenig übrigens wie die Neuzeit an einen angeblichen Säkularismus: "Luther und der orthodoxe Altprotestantismus sind auseinanderzuhalten. Andrerseits ist zwischen Luther und der Neuzeit nicht die Kluft befestigt, mit der Tröltsch hier rechnet. [ . ] Nur das konstatiere ich, daß selbst unsere Zeit noch nicht in dem Gegensatz zu Luthers Gedanken steht, den Tröltsch konstruiert. Materiell wird der Begriff der Gotteslästerung jetzt freilich sehr viel anders gefaßt, als Luther es tat. Aber in formaler Hinsicht ist die Ver. .

43

Heinrich Boehmer: Luther im Lichte der neueren Forschung (1 9 1 4) , S. 1 57, S. 1 65 f. Siehe dazu auch Troeltschs Gegeneinwand unten, S. 5 1 0 f.

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schiedenheit der Zeiten gar nicht so groß, wie der aufgeklärte Leser der Tröltschschen Ausführungen meinen wird, wenn ihn bei der Erinnerung an die ,kirchliche Zwangs kultur' das Gruseln überkommt [ . . . ] . Luther soll nicht mittelalterlicher gemacht werden, als er war. Und die Gegenwart nicht unlu­ therischer als sie ist. "44 Daneben finden sich nun auch Stellungnahmen, die nicht ohne weiteres eingezeichnet werden können in das Schema der Unterscheidung zwischen Ablehnung und Zustimmung. Vielmehr nehmen sie in dieser Hinsicht eine eigentümliche Mittelstellung ein: Zwar kann Troeltschs Ausführungen im einzelnen und inhaltlich nicht ohne weiteres zugestimmt werden, es wird jedoch die Fragestellung und die von Troeltsch eingenommene Perspektive der Geschichtsrekonstruktion grundsätzlich gutgeheißen. Damit wird die Historiker-Debatte um Troeltschs Neuprotestantismus-These selbst in den Horizont historischer Relativität eingezeichnet und unter deren wissenschafts­ geschichtlichen Bedingungen rezipiert. Der Historiker Justus Hashagen45 etwa kann ebenso als Repräsentant dieses Rezeptionstyps gelten wie der Theologiehistoriker Ferdinand Kattenbusch, der seine ausführliche inhalt­ liche Kritik an Troeltschs Zurechnung der Reformation ans Mittelalter resü­ miert: "Wenn ich sehe, wie Tr[oeltsch] zwar überall geistvoll, aber auch her­ risch-willkürlich das Material, das die Quellen bieten, behandelt, so erwarte ich von seiner Darstellung den Anstoss zu einer Reaktion wider seine küh­ nen Urteile, so doch, daß eine Bereicherung der Fragestellungen übrig bleibt."46 Genannt werden muß sodann eine Gestalt der Affirmation zu Troeltschs Thesen, die sich in der Form der konstruktiven Kritik artikuliert. Prüfend und erwägend werden Troeltschs Ausführungen der Intention und der Rich­ tung nach beipflichtend zur Kenntnis genommen, wenngleich in Einzelhei­ ten korrigiert, modifiziert oder in neue Kontexte gestellt. Als exemplarischer Vertreter dieser affirmativen, konstruktiven Kritik soll hier der Kirchen­ historiker und Troeltsch-Schüler Heinrich Hoffmann zu Wort kommen. Im Jahre 1 9 1 9 nimmt er Troeltschs Ausführungen so auf, daß er zunächst auf Probleme von Troeltschs weitem Begriff des Protestantismus hinweist: "Es gibt allerdings Stellungnahmen, bei denen man sich doch fragen muß, wie weit sie noch unter den geschichtlichen Begriff ,Protestantismus' fallen. Gehört da noch alles hinein, was Troeltsch philosophische Bildungsreligion 44 45 46

Friedrich Loofs: Luthers Stellung zum Mittelalter und zur Neuzeit (1 907), S. 1 9 und S. 23. Justus Hashagen: Die apologetische Tendenz der Lutherforschung und die soge­ nannte Lutherrenaissance (1 937) . Ferdinand Kattenbusch: [Rez.] Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1 907) , S. 53.

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nennt? Ich leugne nicht, ja ich möchte energisch betonen, daß in der moder­ nen Philosophie und Dichtung ein starkes christliches Erbe und christliche Seelenstimmung steckt - mehr noch, als man gemeinhin annimmt. Aber den­ noch: darf man bei vielen dieser Geister noch von Protestantismus reden? Soll man nicht lieber, wie Sell es einmal getan hat, ausdrücklich zwischen Ka­ tholizismus, Protestantismus und interkonfessioneller Humanitätsreligion unterscheiden, als deren Hauptvertreter er Goethe hingestellt hat? [ . ] Ist das nicht klarer und den Tatsachen entsprechender? Das Humanitätsgefühl trug ja über die Schranken der Religionen und erst recht über die der Kon­ fessionen hinweg. Und dennoch, wer wollte einen Goethe aus dem Prote­ stantismus ausschließen? Scheidelinien lassen sich nicht ziehen, weil auch bei den meisten Vertretern einer solchen Humanitätsreligion ein ausgesprochen protestantisches Bewußtsein und ein innerer Zusammenhang der Religion in protestantischer Auffassung vorhanden war. Hat sich doch der Dichter des Nathan in seinen theologischen Kämpfen auf Luther berufen, und zwar nicht nur aus äußeren Gründen. Die Ü bergänge sind fließend. Aber neuerer Protestantismus im eigentlichsten Sinne des Wortes ist doch nur dort, wo man bei aller Aufnahme moderner Elemente am Kern des Evangeliums und des reformatorischen Verständnisses desselben festzuhalten gewillt ist."47 Ungeachtet dieser Probleme unterstreicht Hoffmann jedoch Troeltschs Ausführungen über die kulturpraktische Konstitutionsebene des modernen Protestantismus: "Der neuprotestantische Individualismus hat einen starken letzten Grund in der Reformation selbst, so sehr der gesamte Altprotestan­ tismus einen strengen Autoritätsglauben aufrecht erhielt, während die welt­ offene Lebensstimmung und die neue Weltanschauung im wesentlichen von außen hereingebrochen sind und in der Reformation nur gewisse Anknüp­ fungspunkte haben. Troeltsch sieht den Einbruch von der Kultur her als den Hauptgrund der Umwandlung an, ohne die in der Reformation liegenden Ansatzpunkte zu leugnen. Die Mehrzahl der Theologen hat das abgelehnt. Ich schätze die in der Reformation liegenden Triebkräfte zur Sprengung des Alten noch höher ein als Troeltsch; sehe aber mit ihm in dem Einbruch der modernen Kultur in den Protestantismus die entscheidende Ursache der Umwandlung und halte die energische Betonung dieser Tatsache für eine grundlegende Erkenntnis für die Geschichte des Protestantismus. "48 Diese Einsicht führt Hoffmann dann zu einem Ausbau der Neuprotestantismus­ These: "So bietet der neuere Protestantismus das Bild einer synkretistischen Erscheinung mit verschiedenen Mischungsverhältnissen des evangelisch. .

47 48

Heinrich Hoffmann: Der neuere Protestantismus und die Reformation (1 9 1 9) , S. 1 6 f. Ebd., S. 1 7.

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reformatorischen und des modernen Elementes. Damit soll er natürlich nicht als haltloser Synkretismus bezeichnet werden; sondern es sind auf sei­ nem Boden verschiedenartige wertvolle Synthesen der beiden Elemente vollzogen worden. Aber eine sieghafte volle Synthese hat er noch nicht ge­ funden. "49 Der vielleicht prominenteste, entschiedenste und am stärksten kampfrich­ terlich pointierende Repräsentant dieses affirmativen, konstruktiv-kritischen Rezeptionstyps ist freilich Adolf Harnack. Er faßt seine Stellung zu Troeltschs Neuprotestantismus-These 1 9 1 0 in der vierten Auflage des Lehrbuchs der Dogmengeschichte zusammen: "Es konnte der Geschichtsschreibung der letzten vier Jahrhunderte nichts Besseres widerfahren, als dass Renaissance und Reformation in der Totalität ihrer Entfaltung und in ihrem Verhältniss zum Mittelalter einerseits, zur modernen Kultur andererseits von einem Theo­ logen von dem Standort aus beleuchtet wurden, den Troeltsch eingenommen hat. Denn denjenigen Gelehrten, die sonst diesen Standort einnehmen, fehlt bei ihrer Kulturseligkeit in der Regel jedes Verständniss für Christenthum und Kirche. [ . . . ] Und was ist nun das Ergebniss? Zunächst scheint es, dass die hergebrachte, speciell die theologisch-protestantische Betrachtung der Reformation durchaus Unrecht erhält, was denn auch ihre Vertreter, z. B. Brieger und Böhmer, mit Schmerz und Entrüstung erfüllt hat. Sieht man aber näher zu, so hat Troeltsch selbst die deutsche Reformation trotz der Grundauffassung (sie sei Ergebnis des Mittelalters und gehöre zu ihm) doch so ausgezeichnet in ihrer Besonderheit charakterisirt, dass er sich dem Zu­ geständnisse nicht wird entziehen können, in der Reformation sei auch ein Neues oder vielmehr das Neue selbst grundlegend gegeben. Nun aber ist auch sachlich zwischen der Slcizze, wie ich sie auf den folgenden Blättern in bezug auf das concrete Wesen des ursprünglichen Protestantismus mit allen seinen Widersprüchen gezeichnet habe und der Darstellung von Troeltsch kein durchgreifender Unterschied. Erklärt trotzdem der Eine, dieser ur­ sprüngliche Protestantismus sei Mitfelalter und biblicistischer Dogmatis­ mus, der Andre, er sei Neuzeit und das Ende des Dogmas, so muss augen­ scheinlich auf solche allgemeine Ueberschriften nicht allzuviel ankommen. Und so ist es in der That; denn wie ich den theologischen Fachgenossen ge­ zeigt habe, dass die Reformation und Luther in vieler Hinsicht mittelalter­ liche Erscheinungen sind, so zeigt Troeltsch seinen modernen Lesern, dass der Neuprotestantismus oder der protestantische Modernismus trotz der Aufhebung des Wunderglaubens, der Askese und des ganzen Dogmatismus

49

Ebd., S. 17 f.

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geschichtlich und sachlich vom Wurzelboden des reformatorischen Chri­ stenthums nicht getrennt werden kann."so Harnack fordert gleichzeitig jedoch auch Modifikationen und Differen­ zierungen in Troeltschs Neuprotestantismus-These ein und deutet deren Richtung thetisch an: "Für mich stehen zwei Thatsachen im Vordergrund: Der Glaubensgedanke Luthers und sodann seine That, dass er nämlich Millionen von Menschen der Papstkirche entrissen und diese damit auf die Stufe einer Partikular­ kirche herabgedrnckt hat. Diesen beiden Thatsachen kommt nichts in der Ge­ schichte gleich. Hiernach ist zu periodisiren. Dass es fortan keine ,Kirche' mehr gibt, sondern etwas ganz anderes, nämlich ,Kirchen', entwurzelt die ganze Ekklesiastik, selbst wenn Luther nicht auch dem Kirchendogma durch seine Kritik an den Concilien usw. die Lebenswurzel durchschnitten hätte. In der tapferen individuellen Glaubensforderung und Glaubensgewißheit liegt das positive Complement zu dieser Zerstörung. Für Troeltsch steht die Ide­ engeschichte im Vordergrund, und von hier aus scheinen die rückständigen Elemente in der Reformation bez. die, welche sie mit dem Mittelalter verbin­ den, die entscheidenden. Dass es nach der Reformation neuer Anstösse und Erkenntnisse bedurfte, um aus dem Mittelalter herauszukommen, leugne ich nicht; aber ich urteile über Herkunft, Werth und Bedeutung dieses Neuen und über den Werth, der andrerseits im Augustinismus, Asketismus etc. auch heute noch steckt, etwas anders als Troeltsch."Sl Darüber hinaus findet sich nun auch die zustimmungsvolle Fortschrei­ bung von Troeltschs Neuprotestantismus-These. Die Rezeption geht hier vielleicht am stärksten in die Form schöpferischer Produktion über. Einer solchen Fortschreibung von Troeltschs Neuprotestantismus-These fühlt sich der Kirchenhistoriker und Troeltsch-Schüler Walther Köhlers2 ver­ pflichtet, sie findet sich aber auch beispielsweise bei dem Kirchen- und Theologiehistoriker Horst Stephan. Stephan gibt 1 9 1 1 folgende, unverkenn­ bar an Troeltsch anknüpfende Bestimmung der Unterscheidung von Alt­ und Neuprotestantismus: "lch sehe im Protestantismus, ohne damit eine er­ schöpfende Definition geben zu wollen, das bewußte und volle Persönlich­ werden des Christentums; d. h. es wird im Verhältnis des Menschen zu Gott alles abgestreift oder doch in die zweite Linie gedrängt, was nicht in die individuell-persönliche Gesinnung des Menschen eingehen kann, und was nicht dazu dient, den Menschen in einen unmittelbaren persönlichen Le­ benszusammenhang mit Gott, d.h. aber zur freien Selbständigkeit gegen50 51 52

Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 4. Auflage, Band 3 (1 9 1 0) , S. 690. Ebd., S. 69 1 . Walther Köhler: Luther und das Luthertum in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung (1 933) .

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über allem, was Welt ist, zu erheben. Die Individualisierung des Christen­ tums, die sich unbewußt und unvollständig auch auf katholischem Boden bei allen Frommen irgendwie vollzieht, wird also auf evangelischem Boden zum Prinzip. Der Altprotestantismus versteht sie so, daß er die Fülle christlicher Motive und Gedanken als ein geschlossenes Ganze behandelt und allen Ein­ zelnen zumutet, dieses Ganze völlig gleich in sich lebendig werden zu lassen; eine so unmögliche Zumutung liegt ihm nahe, weil er bei Religion überwie­ gend an die reine Lehre denkt, und weil die Anerkennung von Dogma und Kirchenturn ihm, obschon in stark vermindertem Grade, selbstverständlich ist. Der Neuprotestantismus dagegen, der diese Voraussetzungen dank der Erstarkung der religiösen Selbständigkeit wie der veränderten allgemeinen Lage innerlich überwindet, erkennt die Unmöglichkeit einer so gleichartigen Individualisierung des Christentums; er ringt sich zur Duldung, ja zur For­ derung verschiedener Formen der christlichen Frömmigkeit empor. Er wird sich von innen her dessen bewußt, daß die Freiheit die Lebensluft des Glau­ bens und zugleich sein notwendiges Erzeugnis ist."53 Auf diesem Hintergrund visiert Stephan die Richtung an, in die die Wei­ terschreibung der Neuprotestantismus-These laufen müßte: "Was wir for­ dern müssen, das ist also eine Auffassung des Neuprotestantismus, die noch deutlicher als jede bisherige den inneren religiösen Zusammenhang, die im­ manente Dialektik seiner Entwicklungen aufweist. Erst sie würde auch zu der Tatsache stimmen, daß die neuere Theologie - und mit ihr ganz beson­ ders Troeltsch - die Selbständigkeit der Religion gegenüber der Kultur und Wissenschaft so energisch herausgearbeitet hat. Ist die Religion wirklich et­ was innerlich Selbständiges, dann gilt es in erster Linie, ihre innere Struktur und ihre Sonderentwicklung in der Geschichte zu zeigen. Auch die Entwick­ lung der organisatorischen Formen und der theologischen Wissenschaft muß von da aus ihr Hauptlicht empfangen. "54 Aus führlich widmet sich der Kirchenhistoriker und Neutestamentler Paul Wernle im Jahre 1 92 1 der Fortschreibung von Troeltschs Deutung des Neu­ protestantismus. Er diskutiert das Problem der Bruchlinie zwischen Altpro­ testantismus und Neuprotestantismus (es habe "auch Ernst Troeltsch die Differenzen dieses Neuprotestantismus von der Reformation so stark unter­ strichen, daß beinahe der Schein erweckt wurde, es gehören Altprotestantis­ mus und Mittelalter auf eine Seite und ihnen trete der Neuprotestantismus gegenüber wie eine neue Religion [ . . ]"55) und unterbreitet dann folgenden .

53

Horst Stephan: Die heutigen Auffassungen vom Neuprotestantismus (1 9 1 1), S. 38 f. Ebd., S. 37. 55 Paul Wernle: Einführung in das theologische Studium (1921), S. 330.

54

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überbrückenden Deutungsvorschlag: "Vielleicht wird man dem modernen Christentum am besten gerecht, wenn man erkennt, daß es an Problemen arbeitet, welche das ältere Christentum entweder gar nicht kannte oder ganz ungenügend in Angriff nahm, so daß selbst mißlungene Lösungsversuche den Modernen noch mehr Ehre machen würden als die bequeme müßige Zuschauerrolle der von den tiefen Bewegungen der Gegenwart nicht erfaß­ ten Positiven. Es ist einmal das ganz personliehe Problem, wie der einzelne seines Gottes froh und gewiß wird, nachdem ihm die schützende Tradition des Bibel­ und Dogmenglaubens zerbrochen und er zunächst ganz auf sich selbst, sein Erleben und Denken, gestellt ist. Wie von da aus dem extremen Subjektivis­ mus gewehrt werden und ein neuer innerlicher Weg zu Jesus und dem Evan­ gelium gefunden werden kann, ist so wenig selbstverständlich und doch für das Christentum der Zukunft so entscheidend, daß hier jede ernste Arbeit willkommen sein muß, sollte auch ihr schließliches Ergebnis die Erkenntnis des unentbehrlichen Wertes freier gesunder Traditionen sein."S6 Schließlich hat es in der Rezeptionsgeschichte auch nicht an Stimmen ge­ fehlt, die sich einschränkungslos zustimmend zu Troeltschs Neuprotestan­ tismus-These und der Gestalt, die sie in der Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" gewonnen hat, verhielten. Otto Scheel, Kirchenhistoriker und Lutherforscher, sah 1 9 1 2 von Troeltschs Ab­ handlung gar eine neue wissenschaftsgeschichtliche Epoche ausgehen, in der die Dogmengeschichte eine gegenwartsanalytische Dimension in sich ein­ holt: "Die bisher vermißte Ideengeschichte des Protestantismus steht hier unerwartet vor uns. Die frühere sogenannte Geschichte der protestantischen Theologie, die aus der Enge rein dogmatischer Fragestellungen sich nicht hatte befreien können und darum auf schmaler Basis sich bewegt hatte, die nur wenige Quellen sprudeln sah, ist endgültig beseitigt. Der Abstand dieser ideenreichen und lebensvollen ,Dogmengeschichte' des Protestantismus von der älteren Geschichte der Theologie ist so groß, daß man die ältere Disziplin schon am Horizont untertauchen sieht. Diesen Erfolg verdankt Troeltschs Arbeit zum großen Teil ihrem methodischen Vorzug. [ . ] Die seelischen und kirchenpolitischen Dissonanzen werden nicht durch einige kräftige, für den Augenblick geschaffene Harmonien verdeckt. Alle Unru­ hen und Leidenschaften der Gegenwart, alle inneren und äußeren Unstim­ migkeiten und Gegensätze werden in ihren unabgeschwächten Disharmo­ nien wiedergegeben. Sie zu empfinden ist Troeltsch besonders befähigt. "57 . .

56 57

Ebd., S. 331 . Otto Scheel: Die christliche Religion in Hinnebergs Kultur der Gegenwart (1 9 1 2) , Sp. 2762-2766.

Werkgesehieh diehe Einordnung

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2. Werkgeschichtliche Einordnung der Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" Troeltschs Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" ist im Abstand von sechzehn Jahren in drei unterschiedlichen Auf­ lagen erschienen. Sie steht im Zusammenhang einer zeitgenössischen theo­ logie- und allgemeingeschichtlichen Debatte um die Bedeutung des Prote­ stantismus für die Entstehung der modernen Welt, deren Grundzüge in der Einleitung in KGA 8 ausführlich dokumentiert und beleuchtet sind. 58 Troeltschs Abhandlung steht jedoch auch im Kontext weiterer protestantis­ mustheoretischer Forschungen und Texte aus seiner Feder. Das wirft Fragen nach den werkgeschichtlichen Zusammenhängen auf, in denen "Protestan­ tisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" steht. Wie ist diese Abhand­ lung im Kontext der Protestantismus-Forschungen Troeltschs zu lokalisie­ ren? Und wie verhalten sich, auf diesem Hintergrund, die drei im Abstand von sechzehn Jahren erschienenen Auflagen zueinander? 2. 1 . Der werkgeschichtliche Ort Schon der Blick auf die Erscheinungsjahre der Veröffentlichungen Troeltschs, die die Bedeutung des Protestantismus zum selbständigen Gegenstand ha­ ben, macht deutlich, daß sie sich nicht über das Gesamtwerk erstrecken, son­ dern in einen relativ klar umgrenzten Zeitraum fallen, nämlich in die Jahre zwischen 1 906 und 1 9 1 7. Innerhalb dieses Zeitraumes können drei (un­ gleichgewichtige) Komplexe unterschieden werden. Der erste Komplex um faßt in der Hauptsache die großen, monographi­ schen Arbeiten: "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" in erster Auflage 1 90659 sowie in stark überarbeiteter und auf den eineinhalb­ fachen Umfang erweiterter zweiter Auflage 1 9096°. Sodann zählt zu diesem 58 59

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Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (200 1), S. 1-52. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Die christliche Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion, Berlin, Leipzig: B. G. Teubner, 1 906, S. 253-458 (= Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1 , Abteilung 4, 1 . Hälfte: Geschichte der christlichen Religion) . Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Die christliche Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion, 2., stark ver­ mehrte und verbesserte Auflage, Berlin, Leipzig: B. G. Teubner, 1 909, S. 43 1-755 (= Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinne­ berg, Teil 1 , Abteilung 4, 1 . Hälfte: Geschichte der christlichen Religion) .

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Einleitung

ersten Komplex der Vortrag "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt", den Troeltsch 1 906 auf dem Stuttgarter Historikertag hielt und der im selben Jahr sowohl in der Historischen Zeit­ schrift als auch separat erschien, außerdem 1 9 1 1 in wiederum erheblich ver­ änderter und fast auf den doppelten Umfang erweiterter zweiter Auflage61 . Des weiteren um faßt dieser erste Komplex den im November 1 907 gehal­ tenen und im Juni 1 908 im Druck erschienenen Vortrag "Luther und die mo­ derne Welt"62; schließlich Troeltschs Auseinandersetzung mit der 1 909 durch Felix Rachfahl artikulierten Kritik63 an seiner (und Max Webers) Pro­ testantismusdeutung in dem 1 9 1 0 erschienenen Aufsatz "Die Kulturbedeu­ tung des Calvinismus"64. Dieser erste Komplex erstreckt sich, zeitlich gese­ hen, also über die Jahre 1 906 bis 1 91 1 , wobei das Schwergewicht auf den Jahren 1 906 bis 1 909 liegt. Der zweite Komplex betrifft im wesentlichen drei kleinere Veröffent­ lichungen, die sämtlich in das Jahr 1 9 1 3 fallen, nämlich "Religion und Wirt­ schaft"6S, "Renaissance und Reformation"66 und den Artikel "Protestantis­ mus II: P. im Verhältnis zur Kultur" in der ersten Auflage der RGG67. Während in den ersten beiden die Thematik der Protestantismusdeutung schon nicht mehr im Vordergrund steht, bildet der RGG-Artikel allerdings die bündige Zusammenfassung des Forschungsertrages aus dem ersten Komplex. Der dritte Komplex umfaßt vor allem fünf äußerst schmale, alles in allem 49 Seiten umfassende Veröffentlichungen, die in rascher Folge im Herbst 1 9 1 7 erschienen sind.68 Das Veröffentlichungsdatum liefert nicht nur den Anlaß der Veröffentlichungen, sondern ihm verdanken die kleinen Aufsätze auch ihr hauptsächliches Thema. Denn es handelt sich um überwiegend zeit­ geschichtliche Essays, die die politische Lage im Kriegsherbst 1 9 1 7 mit dem

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Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der moder­ nen Welt (1 906) . - Ders.: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1 9 1 1) -+- KGA 8. Ernst Troeltsch: Luther und die moderne Welt (1 908) -+- KGA 8. Felix Rachfahl: Kalvinismus und Kapitalismus (1 909) . Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus (1 9 1 0) -+ KGA 8. Ernst Troeltsch: Religion und Wirtschaft (1 9 1 3) -+- KGA 1 1 . Ernst Troeltsch: Renaissance und Reformation (1 9 1 3) -+- KGA 8. Ernst Troeltsch: Art. Protestantismus II (1 9 1 3) -+- KGA 3. Ernst Troeltsch: Luther und das soziale Problem (1 9 1 7) -+ KGA 1 1 . - Ernst Troeltsch: Luther und der Protestantismus (1 9 1 7) -+ KGA 1 1 . - Ernst Troeltsch: [Rez.] Otto Scheel: Martin Luther (1 9 1 7) -+ KGA 1 1 . - Ernst Troeltsch: Protestantis­ mus und Sittlichkeit (1 9 1 7) -+ KGA 1 2. - Ernst Troeltsch: Ernste Gedanken zum Re­ formations-Jubiläum (1 9 1 7) -+ KGA 1 2.

29

Werkgeschichtliche Einordnung

Reformationsjubiläum und der mit beidem verbundenen stürmischen Lu­ ther-Renaissance in Beziehung zu setzen versuchen - das gilt in abgeschwäch­ tem Maße sogar noch von der Rezension. Gleichsam als Nachzügler ist dann 1 922 der bis auf einen Literaturnachtrag unveränderte Neudruck der Zweitauflage des "Protestantischen Christen­ tums in Kirche und Neuzeit" erschienen.69 Damit muß also das Herzstück der Protestantismusdeutung in den großen Veröffentlichungen der Jahre 1 906 bis 1 9 1 1 gesehen werden, wobei das Schwergewicht hier auf den Jahren 1 906 bis 1 909 liegt. Wie ist dieser relativ einheitliche Bereich werkgeschichtlich umschlossen? Blickt man auf die Zeit vor Troeltschs intensiverer Beschäftigung mit dem Protestantismusthema, so fällt die Häufung der stark methodologisch orien­ tierten Schriften ins Auge.7o In ihnen geht es Troeltsch um die Ausarbeitung einer Methodik der religionsgeschichtlichen Fragestellung, die die histori­ sche Einsicht in die Relativität der Geltungsansprüche der Religion produk­ tiv umzubilden sucht in die Konstruktion von solchen Maßstäben zur Beur­ teilung der Geschichtswirksamkeit der Religion, die aus dem historischen Begriff der Religion selbst entwickelt werden - und die nun die Religions­ geschichte zu rekonstruieren erlauben als Verflechtungsgeschichte der Reli­ gion mit ihren soziokulturellen Bedingungen und Wirkungen. Die religions­ geschichtliche Fragestellung wird von Troeltsch in die Richtung einer geschichtsphilosophischen Theorie der Entwicklung der Religion und der Menschheit überhaupt gelenkt, deren prominenteste materiale Entfaltung unter den Frühschriften die 1 902 erschienene Absolutheitsschrift71 darstellt. Die Höchstgeltung des Christentums wird hier, nach dem Zerfall innerdog­ matisch-supranaturaler Setzungen, anhand von Maßstäben begründet, die aus dem Verlauf der Religionsgeschichte selbst gewonnen sind und die es er­ lauben, das Christentum als Konvergenzgestalt personalistischer Religiosität überhaupt zu begreifen. 69 70

Siehe oben, Anmerkung 60. Ernst Troeltsch: Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1 898 [richtig: 1 900]) KGA 1 0. - Ernst Troeltsch: Was heißt "Wesen des Christentums"? (1 903) KGA 1 0. - Das Interesse, die historische Methode genetisch zu erklären und zugleich exemplarisch anzuwenden, steht auch im Hintergrund der Abhandlung: Die Selbständigkeit der Religion (1 895 und 1 896) KGA 1 . Erkennbar im Hinter­ grund steht dieses Interesse auch in den frühen enzyklopädischen Beiträgen wie etwa: Art. "Aufklärung" (1 897) KGA 3; Art. "Deismus" (1 898) KGA 3 und Art. "Idealismus, deutscher" (1 900) KGA 3. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1 902/1 9 1 2) KGA 5. --+

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30

Einleitung

So läßt sich Troeltschs Bearbeitung der Frage nach dem Absolutheits­ anspruch des Christentums unter den Bedingungen historischer Relativität in werkgeschichtlicher Perspektive - als der erste materiale Anwendungsfall der geschichtsphilosophisch-religionsgeschichtlichen Fragestellung nach den Entfaltungsmöglichkeiten der überlieferten Religion in der modernen Welt verstehen. Es läßt sich, in Fortsetzung dieser Perspektive, Troeltschs Be­ arbeitung der Frage nach der Bedeutung des Protestantismus in jener mo­ dernen Welt als konsequente Spezifizierung dieser Fragestellung auffassen. Denn erstens entschärft Troeltsch die geschichtsphilosophischen Prämissen der Konstruktion hinsichtlich ihrer impliziten normativ-teleologischen Re­ ste, was zugleich eine Verfeinerung ihres sich auf die faktischen Geschichts­ verläufe richtenden, analytischen Instrumentariums fordert. Zweitens konzentriert er den Blick nun auf einen Ausschnitt der innerchristlichen Religionsgeschichte, was aber zugleich einen differenzierenden Blick auf die multikausale Verflechtungsgeschichte von Konstitutionselementen der (pro­ testantischen) Religion und der modernen Gesellschaft nach sich zieht. Das Methodenproblem geschichtsphilosophisch-religionsgeschichtlicher Kon­ struktion ist also für Troeltsch offensichtlich noch nicht abschließend ge­ löst, sondern es bildet unverändert den Hintergrund der Beschäftigung mit dem Protestantismusthema und greift hinein in die Phase von dessen Aus­ arbeitung. Richtet man von hier aus den Blick in die auf Troeltschs intensivere Auseinandersetzung mit dem Protestantismus folgende Phase und nimmt die unter dem Einfluß der soziologischen Wende im Umfeld der Soziallehren72 entstandenen Texte in den Blick, so ist festzuhalten, daß der an der Beschäf­ tigung mit dem Protestantismus schon einmal ablesbare Zug zur doppelten Spezifizierung sich der Form nach wiederholt. Denn zum einen wird, in methodischer Hinsicht, die geschichtsphilosophische Fragestellung zuneh­ mend auf die soziologische Fragestellung konzentriert, darin aber gerade der analytische Zug der Geschichtsphilosophie optimiert. Zum anderen wird die Analyse der Verflechtungsgeschichte von Protestantismus und moderner Welt auf das Feld der Ethik zugespitzt, darin aber hinsichtlich der in den Blick zu nehmenden historischen Phänomenbestände konsequent ausgewei­ tet auf die außerkirchlichen Erscheinungsformen Sekte und Mystik. So muß also der werkgeschichtliche Ort von Troeltschs Beschäftigung mit dem Protestantismus eingeordnet werden in den Kontext einer Entwicklung des Frühwerks, in dem die dogmatisch-normativen und teleologischen Züge

72

Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1 9 1 2) KGA 9.

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Werkgeschichtliche Einordnung

31

der Geschichtskonstruktion peu a peu umgeformt werden in analytisch­ deskriptive, die Ausdrucksgestalten gelebter und ungebundener Religiosität adäquater erfassende Konstruktionselemente. Troeltschs Protestantismus­ deutung hat ihren werkgeschichtlichen Ort in der Mitte eines Entwicklungs­ bogens, der von der religionsgeschichtlichen Geschichtsphilosophie zur reli­ gionssoziologischen Geschichtsphilosophie führt und sich der Intention einer Verfeinerung der geschichtsphilosophischen Methodik sowie einer Diffe­ renzierung des geschichtsphilosophischen Phänomenbestandes und damit einer Schärfung der konstruktiven Potenz der Geschichtsphilosophie ver­ dankt. Damit aber hat Troeltschs Frage nach der Bedeutung des Protestan­ tismus ihren Sinn nicht nur in sich selbst, sondern sie hat auch einen funktionalen Charakter für die Verfeinerung der geschichtsphilosophischen Methodik. Nun können darüber hinaus aber auch inhaltliche Schwerpunktsetzungen unterschieden werden, die ebenfalls genannt werden sollen, um die von der Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" aus­ gehende inhaltliche Entwicklung in werkgeschichtlicher Hinsicht zu profi­ lieren. Thematisiert dieses früheste der größeren Werke zur Entwicklungs­ geschichte des Protestantismus überwiegend die Entwicklungsgeschichte der Kulturbeziehungen in den beiden protestantischen Hauptepochen des Altprotestantismus und des Neuprotestantismus, so fragt "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" demgegenüber erstens stärker nach den Beziehungen zwischen modernem Protestantismus und moderner Welt und hier zweitens stärker nach den Einflüssen des Prote­ stantismus auf die Gestalt der modernen Welt. Auch für die Zweitauflage der Bedeutungsschrift 1 9 1 1 wird man im einzelnen eine stärkere Sensibilität Troeltschs für die soziologische Fragestellung, mit ihr für die Bedeutung der außerhalb der offiziellen Kirche stehenden Gruppen und schließlich für die in die Moderne weisenden Aspekte des Altprotestantismus nachweisen können. In dem Aufsatz "Luther und die moderne Welt" von 1 908 wird von Troeltsch nun, im Vergleich zum Vorangegangenen, vor allem die erste, re­ formatorische Epoche des Protestantismus in ihr Recht gesetzt. Gegenüber der Bearbeitung der entsprechenden Epoche in "Protestantisches Christen­ tum und Kirche in der Neuzeit" hat sich die Perspektive, in der auf die Reformation geblickt wird, verändert. Denn dort war, um einer klaren Her­ ausstellung der Differenzen von vorneuzeitlichem und neuzeitlichem Prote­ stantismus willen, vor allem der ins Mittelalter weisende Charakter des Alt­ protestantismus und mit ihm der mittelalteraffine Zug der Reformation betont worden. Demgegenüber werden in "Luther und die moderne Welt" nun insbesondere die keimartig verborgenen, in die Moderne weisenden

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Einleitung

Elemente der Reformation unterstrichen. Darin drückt sich eine Erwei­ terung und Differenzierung von Troeltschs Epochenabgrenzungen aus. Einerseits wertet er nun die als moderneaffin erkannte reformatorische Epoche auf, andererseits wertet er die altprotestantische Epoche ab, die nun stärker denn je als gleichsam gegenreformatorisch-reaktionäre "zweihun­ dertjährige gewaltige Nachblüte des Mittelalters"73 erscheinen muß. Der 1 9 1 0 als Antikritik der Rachfahlschen Einwände gegen Troeltschs und Webers Protestantismus deutung erschienene Aufsatz "Die Kultur­ bedeutung des Calvinismus" schließlich legt das Gewicht auf allgemeine Züge der Kulturbedeutung des Protestantismus, und zwar jenseits der epochen­ spezifischen Differenzen, dafür stärker an den innerprotestantischen kon­ fessionellen Differenzen orientiert. Deren je eigentümliche Ausgestaltungen waren seit "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" 1 906 sorgfältig getrennt voneinander behandelt worden. 2.2. Das Verhältnis zwischen den drei Auflagen Troeltsch behandelt die Frage nach den Kulturbeziehungen des Protestan­ tismus insbesondere in den Schriften der Jahre 1 906-1 9 1 1 . Hier wird der Bogen eröffnet mit der Erstauflage von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" 1 906. Darin ist insbesondere die Entwicklungsge­ schichte des Protestantismus untersucht: Die Unterscheidung von Altprote­ stantismus und Neuprotestantismus wird ausführlich begründet, und die Frage nach den Kulturbeziehungen des Protestantismus wird auf die Frage nach den Differenzen zwischen der Kulturbedeutung des Protestantismus in seiner altprotestantischen und seiner neuprotestantischen Gestalt fokussiert. In der 1 909 erschienenen Zweitauflage hat sich hinsichtlich des themati­ schen Grundbestandes kaum Wesentliches geändert. Äußerlich auffällig ist zunächst die Erweiterung des Umfanges auf mehr als das Eineinhalbfache: den 205 Seiten der Erstauflage stehen in der Zweitauflage 324 Seiten gegen­ über. Den gedanklichen Fortschritt der Zweitauflage wird man dabei, in Ver­ bindung mit mannigfaltigen Erweiterungen und Differenzierungen der These von der Verflochtenheit der religionsgeschichtlichen und der kultur­ geschichtlichen Entwicklung, in folgenden Erweiterungen sehen müssen. Erstens, die Problematisierung der Fragestellung nach dem "Wesen des Protestantismus" findet sich erst in der Zweitauflage.14 Zweitens: nannte

73 74

Siehe unten, S. 1 1 1 . Siehe unten, S. 82 f. und die aus diesen Erwägungen folgende konsequente Vermei­ dung des Begriffes.

Werkgeschichtliche Einordnung

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Troeltsch in der Erstauflage als in die Moderne weisende Elemente des alten Protestantismus lediglich die Aufhebung des mittelalterlichen Sakraments­ begriffes und die Verknüpfung der verinnerlichten Religion mit Verstärkung der Autoritätslehre auf knappen drei Seiten,75 so verhandelt er in der Zwei­ tauflage, ungleich ausführlicher, vier solcher Elemente, die sämtlich im Got­ tesbegriff als dem fünften Element kulminieren.76 Drittens, die Erwägung der Verflechtungs sphären von Neuprotestantismus und moderner Welt ist in der Zweitauflage ergänzt um einen die "Soziale [n] Tatsachen und Theorien der modernen Welt" behandelnden Abschnitt,77 der als Ausdruck des zu­ nehmenden soziologischen Interesses Troeltschs verstanden werden muß. Viertens, die Zweitauflage ist durchweg ergänzt um die Gegenüberstellung von Kirchentypus und Sektentypus. Für all diese Veränderungen gilt aller­ dings: "Es handelt sich dabei aber tatsächlich nur um eine Verdeutlichung, die Substanz der Argumentation bleibt in beiden Auflagen die gleiche."78 Die dritte Auflage von 1 92279 bildet auf den Seiten 43 1-755 einen un­ veränderten Abdruck der zweiten Auflage von 1 909. Lediglich am Schluß wurde der Text von Troeltsch um "Nachträge zum zweiten Abdruck" erwei­ tert, die vier Seiten weiterführender Literaturhinweise umfassen und als die Seiten 755a-d paginiert wurden. In diesem Anhang deutet Troeltsch in knap­ pen Zügen an, wie sich das von ihm 1 906 und 1 909 gezeichnete Bild des Mit­ telalters vor allem um soziologische Perspektiven bereichert hat, die insbe­ sondere in den 1 9 1 3 erschienenen "Soziallehren" ausgeführt worden waren. Außerdem geht er sehr knapp auch auf die seit 1 909 geführte Auseinander­ setzung um seine Abhandlung ein. An dem Textkorpus von 1 909 konnten ansonsten keine Änderungen mehr vorgenommen werden. Der Text "Pro­ testantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" muß also im ganzen als in die Arbeitsphase von 1 906 bis 1 909 gehörend gelten.

75 76 77 78 79

Siehe unten, S. 1 1 1-1 1 7 (A 266-268) . Siehe unten, S. 1 1 1-1 33. Siehe unten, S. 355-37 1 . Hermann Fischer: Die Ambivalenz der Moderne. Z u Troeltschs Verhältnisbestim­ mung von Reformation und Neuzeit (1984), S. 58. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Die christliche Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion, 2. stark ver­ mehrte und verbesserte Auflage, 2. Abdruck, Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1 922, S. 43 1 -755d (= Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1 , Abteilung 4, 1 . Hälfte: Geschichte der christlichen Religion) .

34

Einleitung

3. Zum literarischen Charakter der Abhandlung Troeltschs Beiträge zur Protestantismus-Thematik sind unter formal-litera­ rischen Gesichtspunkten ganz unterschiedlichen Genres zugehörig. Neben der Form des wissenschaftlichen Aufsatzes findet sich hier auch die Form der Rezension und des Lexikonartikels oder des Vortrages, dessen Ursprung auch dann nicht kaschiert ist, wenn es sich um eine literarisch ausgearbeitete Fassung handelt wie im Falle der "Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt". Auch die Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" trägt eine eigentümliche und unver­ wechselbare literarische Gestalt. Sie ist gekennzeichnet durch den weitge­ henden Verzicht auf akademische Fachsprache und einen wissenschaftlichen Verweis- und Belegapparat. Statt dessen pflegt Troeltsch einen allgemeinver­ ständlich-gebildeten Sprachstil; Quellen- und Literaturhinweise finden sich nur höchst punktuell, sind sehr allgemein gehalten und in den Anhang der Abhandlung verlegt. In argumentationsstrategischer Hinsicht bietet "Prote­ stantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" weniger die spezielle Diskussion von Fachproblemen als vielmehr die großflächige Charakterisie­ rung einer religiös-kulturellen Gesamterscheinung, weniger die abstrahie­ rende Kühle der Detailprüfung als vielmehr die kolorierende und illustrie­ rende Veranschaulichung von Gehalt und Gestalt ihres Gegenstandes. Am treffendsten ließe sich die literarische Gestalt der Abhandlung vielleicht als Wissenschaftsessay bezeichnen. Einige hervorstechende Kennzeichen dieser wissenschaftsessayistischen Gestalt sollen genannt werden. Beachtung verdient die schier unermeßliche Fülle der gebildeten Anspielungen Troeltschs auf die literarische Ü berliefe­ rung. Wo diese Anspielungen sich dem gebildeten Leser entschlüsseln, ent­ schlüsseln sie zugleich die Komplexität und Diffizilität der Zusammen­ hänge, die Troeltsch in seiner weitgespannten Darstellung vor Augen hat; wo sie indes verschlossen bleiben, verschließt sich doch nicht die Substanz der Argumen tation. Das mögen einige Beispiele aus dem Text veranschaulichen. So charakte­ risiert Troeltsch im Zusammenhang seines Referates von Leibniz' Christen­ tumstheorie den Keim von dessen undogmatischer Gesinnung mit den Worten "Alles Vergängliche war ihm hier nur ein Gleichnis und alles Gleich­ nis vergänglich"8o. Troeltsch bedient sich dabei des Schlusses von Goethes

80

Siehe unten, S. 432.

Zum literarischen Charakter der Abhandlung

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Faust. 8 1 Goethes Weltchristentum wird dem Kundigen hier also in einen in­ direkten Zusammenhang mit Leibniz' Deutung der Dogmen als Ausdruck des religiösen Gefühls gestellt. Ein weiteres Beispiel: wo Troeltsch Schleier­ machers Inbezugsetzung des Programms der Dogmatik mit der Theorie des religiösen Erlebens schildert und den Vorwurf artikulieren will, Schleier­ macher habe die Schöpfungs sphäre nicht klar genug von der Natursphäre unterschieden, kleidet Troeltsch diesen Vorwurf in die Worte, es habe Schlei­ ermacher "den Manen Spinozas zuviel geopfert" 82. Damit bezieht Troeltsch sich auf Schleier machers Versuch einer Ehrenrettung Spinozas in der Auf­ forderung der ersten Rede: "Opfert mit mir eine Loke den Manen des hei­ ligen, verstoßnen Spinoza" 83; zugleich deutet Troeltsch aber auch eine Stel­ lungnahme zu dem Spinozismus-Vorwurf gegen Schleiermacher an, der die Reden-Rezeption des gesamten 1 9. und auch noch des frühen 20. Jahrhun­ derts begleitet hatte. Neben solchen theologisch-, philosophisch- und allge­ mein-literarischen Anspielungen bezieht Troeltsch sich aber auch in reichem Maße auf die Ü berlieferung in Bibel, Bekenntnisschriften und Gesangbuch. Auch hier muß ein einzelnes Beispiel genügen: Wenn Troeltsch den lutheri­ schen, ganz organisations-abstinenten Kirchenbegriff im Unterschied zum reformierten Kirchenbegriff mit den Worten charakterisiert: "Die Kirche ist erkennbar nur am reinen Wort und Sakrament, und das kann über die ganze Welt hin in den buntesten Formen enthalten sein; aber Wort und Sakrament sind göttliche Wunderkräfte und werden nicht leer zurückkommen"84, dann spielt er damit einerseits an auf CA VII, andererseits auf Jes 55,1 1 und erin­ nert zudem daran, daß in ApCA XIII (Von der Zahl und dem Gebrauch der Sakramente) in bezug auf das Priesteramt Jes 55,1 1 zitiert wird. Die Hin­ weise auf solche Anspielungen ließen sich fortsetzen. Ein weiteres hervorstechendes Charakteristikum der wissenschaftsessayi­ stischen Gestalt von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neu­ zeit" ist die Vielzahl der zusammenfassenden Kennzeichnungen, Bewer­ tungen und Verweise Troeltschs in Form von Summarien, Resümees und Gesamteinschätzungen. So ist etwa die Rede von der "von Locke, Leibniz, Wolff geschaffenen philosophischen Religionslehre", von der "an Kant sich anschließenden Theologie", welcher "Lessing stark präludiert hatte" oder 81

82

83 84

Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Theil in fünf Acten, S. 337, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Band 1 5, Erste Abtheilung (1 888) , S. 1 -337. Siehe unten, S. 485. Friedrich Schleier macher: Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1 799), S. 21 3 -+ KGA 1/2. Siehe unten, S. 249.

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Einleitung

von "Semlers historisch-relativistischer Theologie" - all das findet sich auf nur einer einzigen Seite.85 Eigenwillige Wortschöpfungen wie etwa diejenige vom "epikureisch-euhemeristischen Illusionismus"86 fallen unter diese Ru­ brik ebenso wie die originelle Anwendung moderner Deutungskategorien, etwa bei "Luthers Unterscheidung von Religion und Theologie"87. In all die­ sen Wendungen findet Troeltsch zusammenfassende Formeln für Resultate detaillierterer Forschungen, ohne sich hier jedoch mit dem Ballast von deren Einzeldiskussion zu beschweren. Freilich bietet Troeltsch solche Summarien nicht nur durch abkürzende Formeln, sondern auch in längeren, resümieren­ den Passagen. Exemplarisch wiedergegeben sei hier eine solche Passage aus dem ersten Hauptabschnitt von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit". (Diese Passage ist auch deswegen von interpretatorischem Interesse, weil sie die später in den "Soziallehren" entfaltete Unterscheidung von Kirche, Sekte und Mystik bereits vorwegnimmt.) Troeltsch charakteri­ siert in diesem ersten Hauptabschnitt das allgemeine Verhältnis des Prote­ stantismus zu Mittelalter und moderner Welt. Nachdem er die mittelalter­ lichen Grundlagen des Protestantismus dargestellt hat, wird nun der Blick umgekehrt und auf Tendenzen zur Aufhebung der mittelalterlichen Idee durch das spezifisch Neue im Protestantismus gerichtet. Troeltsch resümiert einleitend: "Dabei ist selbstverständlich auch dieses Neue vielfach vorberei­ tet durch die gewaltige Krisis des Katholizismus seit dem Ende des drei­ zehnten Jahrhunderts. Der neben der Ausbildung der Universalkirche seit dem gregorianischen Zeitalter sich erhebende Sektentypus hatte den ur­ christlichen Individualismus, die religiöse Innerlichkeit, die kompromißlose Moral erneuert. Die in der städtischen Kultur gepflegte Laienfrömmigkeit hatte sich von dem sakramental-priesterlichen Apparat auf die Innerlichkeit des Gemütes und der Gesinnung zurückgezogen. Die Entwickelung in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft hatte den Rahmen der kirchlichen Herrschaft wie der kirchlichen Ethik gesprengt. Die humanistische Kritik und die An­ fänge der Philologie hatten die geschichtliche Tradition und Selbstanschau­ ung der Kirche erschüttert. Alle diese Einflüsse strömten mittelbar und un­ mittelbar zusammen in der Neubildung der Reformation. Aber indem die all das beherrschende religiöse Persönlichkeit, Luther, doch wesentlich aus dem Zentrum der katholischen Theologie heraus seine Gedanken erarbeitete, wurden sie nicht bloß unter einen rein religiösen Gesichtspunkt gestellt, son­ dern blieben sie in den großen Fragestellungen gerade des lateinischen Ka-

85 86 87

Siehe unten, S. 48 1 -483 (B,C 725) . Siehe unten, S. 332. Siehe unten, S. 472.

Zum literarischen Charakter der Abhandlung

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tholizismus festgehalten. Es ist das nur natürlich, wenn man bedenkt, daß dieser Katholizismus mit seinen spätmittelalterlichen Entwickelungen im­ mer noch die wesentliche religiöse Kraft der Zeit war. Indem aber Luther zu den großen originalen geschichtlichen Persönlichkeiten gehört, ist diese Durchbrechung im Zentrum des Systems dann doch wieder im letzten Kerne eine ihm völlig eigentümliche religiöse Konzeption, die sich von den spätmittelalterlichen Sekten, von der Mystik und vom kritischen Humanis­ mus innerlichst unterscheidet. Nur durch diese neue Konzeption hat er das System wirklich durchbrochen, während - wenigstens für die ersten zwei Jahrhunderte - das weder der Humanismus noch die Sektenbewegung ver­ mochte."88 Solche Anspielungen und Summarien, zudem auch die unbefangene Ü ber­ nahme von Zahlen, Daten, Fakten und Formulierungen aus den einschlä­ gigen Artikeln der RE oder aus Kirchengeschichtsdarstellungen gehen also nicht nur auf das Konto von Troeltschs "unpenibler Zitier- und Verfahrens­ weise"89. Sie sind vielmehr im literarischen Charakter von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" begründet und legitimiert, der als Wissenschaftsessay konzipiert ist und sich detaillierter Quellenstudien be­ dient, statt selbst eine solche sein zu wollen. Dieser wissenschaftsessayistische Charakter von "Protestantisches Chri­ stentum und Kirche in der Neuzeit" verdankt sich nicht zuletzt auch den Vorgaben des Sammelwerkes, in dem die Abhandlung ursprünglich erschien. Denn es handelt sich bei Troeltschs Text um eine Auftragsarbeit, die von ihm 1 902 für das groß angelegte materialenzyklopädische Sammelwerk "Die Kultur der Gegenwart" durch deren Herausgeber Paul Hinneberg erbeten wurde, und für die Troeltsch "bei der Behandlung des Gegenstandes durch­ gehends peinlichste Raumökonomie mit volkstümlicher, aber künstlerisch gewählter Sprache"9o zu verbinden gebeten worden war. Doch das weist be­ reits in den nachfolgenden Editorischen Bericht hinein. Als Ernst Troeltsch 1 922, kurz vor seinem Tode, die eingangs bereits erwähnte werkgeschichtliche Selbstinterpretation "Meine Bücher" für eine zweite (von ihm selbst nicht mehr erlebte) Auflage überarbeitete, hob er in einer nun neu hinzugekommenen Einfügung die monographische Bedeu­ tung der Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neu­ zeit" hervor, die seit ihrem ersten Erscheinen eines seiner literarischen Lieb­ lingskinder gewesen sei, und stellte zuversichtlich eine Separatausgabe in 88 89

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Siehe unten, S. 1 1 2. Hans-Joachim Birkner: Glaubenslehre und Modernitätserfahrung (1 987) , S. 330, An­ merkung 1 1 . Paul Hinneberg: Vorwort (1 906) , S. VIII.

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Einleitung

Aussicht: "Die Abhandlung ist in Wahrheit ein großes Buch und soll als solches demnächst bei Teubner selbständig erscheinen."91 In der Tat hatte Troeltsch den Wunsch nach einer selbständigen Edition von "Protestanti­ sches Christentum und Kirche in der Neuzeit" schon früh geäußert, ohne je­ doch auf emphatische Resonanz seitens des Verlages zu stoßen. Eher hinhal­ tend ist der Ton, in dem der Leiter des Teubner-Verlages, Alfred Giesecke, schon am 8. Mai 1 909 an Troeltsch geschrieben hatte: "Ueber die besondere Ausgabe Ihres Beitrages zur ,Kultur der Gegenwart' bei der nächsten Auf­ lage können wir ja gewiss sprechen. Natürlich besteht immer bis zu einem gewissen Grade die Schwierigkeit, dass solche Wünsche auch dann von an­ derer Seite geäussert werden können, und dass das schliesslich zur Auflö­ sung des ganzen Werkes führen würde. Aber Sie dürfen überzeugt sein, dass ich gern nach Möglichkeit Ihren Wünschen entgegenkommen werde. "92 Mit der selbständigen Edition von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" im vorliegenden Band 7 der Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe liegt dieser Schlüsseltext für Troeltschs Neuzeit- und Prote­ stantismusdeutung nun erstmals separat und in historisch-kritischer Edition vor. Er kann zum einen der Troeltsch-Forschung vertiefte Einsichten in die Gestalt und Entwicklung der Troeltsch leitenden Fragestellung und ihrer Bearbeitung erschließen. Zum anderen aber geht mit dieser Separatedition auch ein bisher unerfüllte r Wunsch Ernst Troeltschs selbst in Erfüllung. Christian Albrecht

91 92

Ernst Troeltsch: Meine Bücher (1 923), S. 1 70 KGA 1 1 . Brief Alfred Gieseckes an Troeltsch vom 8 . Mai 1 909, Privatbesitz. ......

Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

Editorischer Bericht

1 . Entstehung

Ernst Troeltschs Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" war eine Auftragsarbeit, deren literarischen Charakter Troeltsch speziell auf das Sammelwerk "Die Kultur der Gegenwart" zuschnitt. Bei diesem umfänglichen Projekt handelte es sich um eine im Verlagshaus B. G. Teubner (Leipzig und Berlin) erschienene und von dem Berliner Histo­ riker Paul Hinneberg herausgegebene materiale Enzyklopädie, deren Kon­ zept dem alten, aber um die Jahrhundertwende noch nicht veralteten Bedürf­ nis nach einer Veranschaulichung der Einheit aller Wissenschaften entsprang und diesem Interesse auch und gerade in der Situation der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung der Wissenschaften entgegenkommen sollte. Vorgesehen war die Präsentation der Resultate der zeitgenössischen Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Technikwissenschaften durch die angesehensten Fachvertreter, die ihr jeweiliges Gebiet in den grö­ ßeren Zusammenhang menschlich-geschichtlicher Kulturarbeit stellen soll­ ten. Die ersten Pläne für dieses ambitionierte Projekt gingen mindestens bis in das Jahr 1 901 zurück, 1 905 erschien der erste Band von ursprünglich vier, bald jedoch vierzig geplanten Bänden. Das Unternehmen blieb indessen un­ vollendet. Ausbruch und Folgen des Ersten Weltkrieges verhinderten seinen Abschluß. 1 . 1 . Die "Kultur der Gegenwart" und ihr Herausgeber Paul Hinneberg Am 20. Juni 1 902 schlossen Paul Hinneberg und der Leiter der Verlagsbuch­ handlung B. G. Teubner, Alfred Giesecke, einen Vertrag über ein von Hin­ neberg zu redigierendes und herauszugebendes enzyklopädisches Sammel­ werk unter dem Titel "Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele". Inhalt und Ziel des Werkes waren im Verlagsvertrag in kargen Worten festgehalten worden: "Das Werk soll eine knappe Darstellung von der Ent-

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Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

wickelung der wichtigsten Kulturfaktoren der Gegenwart und der sie behan­ delnden Wissenschaften enthalten. "1 Dem Projekt dieser materialen Enzyklopädie galt von jeher das besondere Interesse und Engagement Alfred Gieseckes. Giesecke, der den Verlag seit 1 892 führte,2 sah in diesem Projekt die leitende Idee seines Urgroßvaters, des Verlagsgründers Benedictus Gotthelf Teubners, verwirklicht, der zufolge der Verlag ein "Geschäft recht geistiger Natur sei, der Wissenschaft und Bildung fördern, dem Staate und der geistigen Welt nützen könne"3. Insofern tritt in der Frühphase des Unternehmens Giesecke nicht nur wiederholt als Impuls­ geber des Unternehmens auf, sondern kann sich 1 905 auch "als den eigent­ lichen Vater der ganzen Idee"4 bezeichnen. Die "glänzende Lösung und da­ mit die Verwirklichung" dieser Idee ist jedoch, ausweislich der Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Verlages, dem Talent Paul Hinnebergs zu verdanken,s der seinen Zeitgenossen als "organisatorisch hochbegabter Her­ ausgeber"6, ja: als "Organisator deutscher Wissenschaft"7 galt. Seiner Person muß die Rekonstruktion von Programm und Entstehungsgeschichte der "Kultur der Gegenwart" sich zunächst zuwenden, bevor Programm und Ent­ stehungsgeschichte dieser Enzyklopädie beleuchtet werden können.

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Verlags-Vertrag zwischen Prof. Dr. Paul Hinneberg und der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner, § 1 , Privatbesitz. Alfred Giesecke wurde am 1 6. April 1 868 in Leipzig geboren und war nach einem mit der Promotion abgeschlossenen Studium der klassischen Philologie seit 1 892 Mitin­ haber und (gemeinsam mit seinem älteren Vetter Alfred Ackermann-Teubner) Leiter des Teubner-Verlages. Unter seiner Leitung erlebten insbesondere die philologischen, historischen und kunsthistorischen Verlagsgebiete ihren Aufschwung, außerdem baute Giesecke den Schulbuchsektor aus. Alfred Giesecke, der bereits 1 904 die Lei­ tung des technischen Betriebes an seinen jüngeren Bruder Konrad Giesecke abge­ geben hatte, wurde 1 932 von seinem Neffen Martin Giesecke abgelöst. Er starb am 1 6. November 1 945 in Friedrichroda. - Weitere biographische Informationen über Alfred Giesecke finden sich bei Walter Goetz: Wirtschaft und Idealismus (1 928) , S . 1 1 -14. Friedrich Schulze (Hg.) : B. G. Teubner 1 8 1 1 -1 9 1 1 (1 91 1), S. 508. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 1 . Dezember 1 905, Archiv der Berlin­ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzei­ tung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Friedrich Schulze (Hg.) : B. G. Teubner 1 8 1 1-1 9 1 1 (1 9 1 1), S. 509 . Eduard Norden: Der Verlag B. G. Teubner und die Altertumswissenschaft (1 928) , S. 2 1 . Prof. Hinneberg. Ein Organisator deutscher Wissenschaft (1 932) .

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1 . 1 . 1 . Paul Hinneberg Paul Ernst Franz Hinneberg8, Historiker, ist in erster Linie als wissenschaft­ licher Redakteur und Herausgeber tätig gewesen. Geboren wurde er am 1 6. März 1 862 als Sohn des Küsters und Lehrers Gustav Hinneberg und sei­ ner Frau Ida, geb. Paulick in Felchow bei Angermünde. Er war evangelischen Bekenntnisses. Die Schulzeit verbrachte er nach dem Umzug seiner Eltern in Berlin, nach der Maturitätsprüfung studierte er an der Berliner Universität Staatswissenschaften und Philosophie. Unter seinen Lehrern hob er insbe­ sondere Hans Delbrück, Wilhelm Dilthey und Friedrich Paulsen hervor. 1 885 trat er als Mitarbeiter in die Dienste Leopold von Rankes und gab den siebenten Band von dessen Weltgeschichte heraus.9 1 888 wurde Hinneberg von der Philosophischen Fakultät der Universität Halle mit einer Abhand­ lung über die philosophischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft pro­ moviert.10 Es ist im Blick auf das spätere wissenschaftssystematische Interesse Hin­ nebergs von Bedeutung, daß sich auch schon seine Dissertation mit einer formalenzyklopädischen Fragestellung befaßte. In der Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey, Johann Gustav Droysen, Heinrich von Sybel und Gu-

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Materialien zur Biographie und zum Werk Hinnebergs stehen nur spärlich zur Verfü­ gung. Quellen sind kaum erhalten. Lediglich der Separatdruck von Hinnebergs Dis­ sertation enthält im Anhang ein curriculum vitae. Paul Hinneberg: Die philosophi­ schen Grundlagen der Geschichtswissenschaft (1 888) , o. P. [nach S. 47]). Ein Nachlaß konnte bisher nicht nachgewiesen werden, Personalakten sind nicht überliefert. Ei­ nige Briefe Hinnebergs mit seinen zahlreichen wissenschaftlichen Korrespondenz­ partnern sind in verschiedenen Gelehrtennachlässen verwahrt. Einen guten Spiegel der Aktivitäten Hinnebergs bieten die zahlreichen Briefe, die im Bestand Deutsche Literaturzeitung des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen­ schaften, Berlin, verwahrt werden. Sie konnten für den vorliegenden Zweck ausge­ wertet werden. An sekundärer Literatur über Hinneberg stehen zur Verfügung: Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1 93 1 (1 931), Sp. 1 1 83. - Prof. Hinne­ berg. Ein Organisator deutscher Wissenschaft (1 932) . - Friedrich-Wilhe1m Wen tz­ laff-Eggebert: Paul Hinneberg t (1 934) . - Julius Petersen: Paul Hinneberg t (1 934) . ­ Ostdeutsche Morgenpost (1 934) . - Ingeborg Goltdammer: Paul Hinneberg und die Deutsche Literaturzeitung (1 966) , insbesondere S. 58-77. - Friedrich-Wilhe1m Wentzlaff-Eggebert: Hinneberg, Paul (1 972) . - [Red. :] Hinneberg, Paul (1 997) . Vgl. Alfred Dove: Vorwort, in: Leopold von Ranke: Weltgeschichte, 7. Theil, 1 .-3. Auflage (1 886) , S. V-VII. Paul Hinneberg: Die philosophischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft (1 889) . (Die Abhandlung ist auch erschienen als gekürzter Separatdruck - siehe oben Anmerkung 8) .

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stav Rümelin untersuchte Hinneberg die Unterschiedlichkeit erkenntnis­ theoretischer Gesetzmäßigkeiten in den Geistes- und Naturwissenschaften. "Worauf beruht nun die Schwierigkeit, für das Gebiet der Geisteswissenschaf­ ten derartige Gesetzmäßigkeiten, d. h. vergleichbare Thatsachen aufzufinden? Die Antwort darauf lautet: auf der [ . . . ] Thatsache, daß im menschlichen In­ nenleben neben dem Faktor der Gesetzmäßigkeit der der Willensfreiheit waltet, und daß dieser letztere den ersteren mehr oder minder modificirt. Dieser Umstand ist die Veranlassung, daß die Erscheinungen des geistigen Lebens auch nicht annähernd so gleichmäßig vor sich gehen, wie die physi­ schen, und hierin zugleich liegt auch die Schwierigkeit einer im letzten, höch­ sten Sinne des Wortes wissenschaftlichen Behandlung der Geisteswissen­ schaften begründet." 1 1 Von Bedeutung ist das Fazit, das der Autor aus diesem Befund zog. Er sah die Gefahr einer drohenden Atomisierung des Wissenschafts betriebes, falls die sich spezialisierenden und differenzieren­ den Einzelwissenschaften aufhörten, ihre Einzelergebnisse in den kulturel­ len Gesamtzusammenhang einzuzeichnen und in dessen Horizont diagno­ stisch und prognostisch auszuwerten. Mit der Forderung nach permanenter wissenschaftlich-kultureller Kontextualisierung der szientifischen Detailfor­ schungen, die der methodischen Herauspräparierung kultureller Leitideen dienen sollte, formulierte Hinneberg dann schon so etwas wie die Geburts­ urkunde des enzyklopädischen Programms der "Kultur der Gegenwart": "Allein je tiefer die Wissenschaft die unsere Zeit, unser Volk u.s.f. beherr­ schenden Ideen auf exaktem Wege, d. h. durch Studium aller Detailwissen­ schaften zu erfassen im Stande sein wird, um so genauer wird sie im großen und ganzen die Bahnen der weiteren Entwicklung anzudeuten vermögen. Das höchste Ziel wissenschaftlich-historischer Forschung wird darin beste­ hen, aus den empirisch gefundenen Ideen, welche eine Zeit, ein Volk, bewe­ gen, zuletzt die dieses Zeitalter, dieses Volk charakterisirende Gesammtidee mit empirisch-exakten Mitteln zu finden. [ . ] Die verschiedenen Gebiete des menschlichen Handelns ebenso, Religion und Sitte, Recht und Wirt­ schaft u. s. f. erschließen sich in ihrem innersten Wesen, in ihrem umfassend­ sten Sinne erst bei solcher Betrachtung. [ . . ] Auch die höchste menschliche Kultur, sie zeigt nichts anderes als die höchste Entfaltung der in der gan­ zen Kulturmenschheit vorhandenen geistigen und sittlichen Eigenschaften. Nicht anders vermag die Wissenschaft deshalb, will sie zu den höchsten Pro­ blemen des geistigen Lebens emporsteigen, dieselben zu beantworten, als indem sie sie in Zeit und Raum durch die Gesammtheit der menschlichen Kulturgemeinschaften, soweit diese in Gegenwart und Vergangenheit dem . .

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Ebd., S. 51 f.

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Erkennen zugänglich sind, in dem Maße ihrer Verwandtschaft mit der mo­ dernen Kultur, hindurch verfolgt."12 Im April 1 892 trat Hinneberg in die Redaktion der - 1 880 von Max Roe­ diger gegründeten - "Deutschen Literaturzeitung" ein. Hier fungierte er von 1 892 bis 1 923 als Herausgeber, von 1 924 bis 1 934 (bedingt durch den Wech­ sel des Verlages) als Schriftleiter. Er hatte damit knapp vierzig Jahre lang faktisch die "dauernde Leitung"1 3 der "Deutschen Literaturzeitung" in ne und begründete deren "Weltruf'14 als eine Wochenschrift internationaler Wissen­ schaftsschau und Wissenschaftskritik, die zudem in umfänglicher Weise Neu­ erscheinungen bibliographisch dokumentierte. Von 1 907 bis 1 9 1 1 redigierte Hinneberg daneben auch die 1 907 von Friedrich Althoff1 s begründete "Inter­ nationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik" und suchte deren Absicht zu fördern, die wissenschaftliche Welt über Deutschlands Grenzen hinaus in gemeinsamer Forschungsarbeit zusammenzuschließen. Daneben befaßte Hinneberg sich, insbesondere in den Anfangsjahren des Jahrhunderts, mit den Plänen und redaktionellen Aufgaben der "Kultur der Gegenwart" . Bedingt durch die Kriegsjahre und die Inflationsschwierigkei­ ten der Nachkriegsjahre kam es niemals zu deren Vollendung. Gleichwohl 12 Ebd. , S. 52-54. 13 Brief Paul Hinnebergs an Ulrich von Wilamowitz, 8. Juni 1 892, SUB Göttingen, Nachlaß Wilamowitz. 14 Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Paul Hinneberg t (1 934) , S. 27 1 . 1 5 Friedrich Althoff, geboren am 1 9 . September 1 839 in Dinslaken, kann als der einfluß­ reichste Wissenschaftspolitiker des Kaiserreiches gelten. Nach einem Studium der Rechte ließ er sich 1 870 als Advokat in Köln nieder. 1 87 1 wurde er Justitiar und De­ zernent für Kirchen und Schulangelegenheiten in der Verwaltung von Elsaß-Lothrin­ gen und war in dieser Eigenschaft maßgeblich an der Gründung der Straßburger Universität beteiligt. 1 872 wurde er zum außerordentlichen, 1 880 zum ordentlichen Professor für französisches und modernes Recht in Straßburg ernannt. 1 882 wech­ selte er ins preußische Kultusministerium, zunächst als Universitätsdezernent, ab 1 897 als Ministerialdirektor. 1 904 folgte die Ernennung zur Exzellenz, 1 907 - im Jahr seines Abschiedes - zum Wirklichen Geheimen Rat. Er starb am 20. Oktober 1 908 in Berlin. Spätestens seit 1 900 hatte Althoff unmittelbaren Vortrag bei Wilhelm II. Seinen prägenden und konstanten, gemäßigt liberalen Einfluß auf die preußische Universitäts- und Kulturpolitik unter fünf wechselnden Kultusministern brachte die seinerzeit kursierende, anerkennende Bezeichnung als "Bismarck des Hochschulwe­ sens" ebenso zum Ausdruck wie Max Webers abschätzige, auf das enge Geflecht von persönlichen Beziehungen gemünzte Rede vom "System Althoff" . Ü ber Althoff vgl. Bernhard vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter (1 980) und ders. : Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1 882-1 907 (1 991).

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gab Hinneberg sein Bemühen um eine material-enzyklopädische Gesamt­ darstellung der Wissenschaft seiner Zeit nicht auf. Ab 1 927 unternahm er einen zweiten Versuch und erneuerte das alte Vorhaben: "Ich plane [ . . . ] ein neues Enzyklopädie-Werk aus der Feder nur erster KräJte"1 6 . Unter dem Titel "Das wissenschaftliche Weltbild" redigierte und edierte er für den Verlag Quelle und Meyer in Leipzig eine Reihe von monographischen Untersu­ chungen zu historischen Persönlichkeiten, in der von 1 929 bis 1 93 1 insge­ samt fünf Bände erschienenP Auch dieses Unternehmen blieb unvollendet. Darüber hinaus plante Hinneberg 1 922 eine wissenschaftliche Sammlung von Volkslied-Texten: "Sie will das in zahllosen Werken zerstreute poetisch Schönste aus unserem und dem stammverwandten altflandrischen Volks­ liedbestand möglichst lückenlos vereinigen [ . . . ] . Das Ziel, dem die Arbeit, ein Produkt meiner Mußestunden nach der Betätigung an der DLZ und der Kultur der Ggw., zustrebt, ist [ . . . ] eine Art Neuwiederaufnehmens des Wun­ derhorn-Versuches mit den Mitteln des 20 . Jahrhunderts."18 Doch blieb die­ ses Projekt unverwirklicht. Am 20. Juni 1 934 starb Hinneberg in Berlin. Für seine editorisch-wissenschaftsorganisatorische Antriebskraft hat er vielleicht selbst die treffendste Charakterisierung gefunden: "Mag mir im Ü brigen jeg­ liches Können mangeln: in der Kunst des Nichtbesserwissenwollens glaube ich selbst [manchen] Titanen [ . . . ] überzusein."1 9 1 . 1 .2. Programm und Entstehungsgeschichte der "Kultur der Gegenwart"

Die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der "Kultur der Gegenwart" ist erschwert durch den Mangel an Quellenmaterial. Nahezu das gesamte Ar­ chiv des Verlages Teubner ist während des Zweiten Weltkrieges verlorenge­ gangen.20 Zwar ist der Schriftwechsel zwischen Hinneberg und dem Verlag

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Brief Paul Hinnebergs an Dietrich Mahnke, 1 4. Oktober 1 927, UB Marburg, Nachlaß Mahnke. Hier erschienen folgende Titel: Hanns Heiss: Moliere (1 929) ; Hajo Holborn: Ulrich von Hutten (1 929) ; Theodor Litt: Kant und Herder als Deuter der geistigen Welt (1 930) ; Benno von Wiese: Lessing. Dichtung, Ä sthetik, Philosophie (1 931); Ulrich Wilcken: Alexander der Große (1 931). Brief Paul Hinnebergs an Ulrich von Wilamowitz, 6. August 1 922, SUB Göttingen, Nachlaß Wilamowitz. Brief Paul Hinnebergs an Ulrich von Wilamowitz, 28. November 1 904, SUB Göttin­ gen, Nachlaß Wilamowitz. Schriftliche Auskunft des Teubner-Verlages Leipzig vom 9. September 1 98 1 , schrift­ lich bestätigt am 3. Oktober 2000 von dem Veriagsunternehmen GWV Fachverlage, Unternehmen der BerteismannSpringer Science + Business Media, Wiesbaden, in der

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Teubner in Teilen erhalten.21 Dennoch haben sich insbesondere über erste Konzeptionen, Erwägungen und Beratungen in der Frühphase der Planung des Sammelwerkes bisher nur spärliche Informationen finden lassen. Die Geschichte des Projekts läßt sich bis in den Sommer 1 90 1 verfolgen. Aus dem Briefwechsel dieses Sommers 1 90 1 zwischen Hinneberg und Gie­ secke geht hervor, daß Giesecke präzise Vorstellungen über den Zuschnitt des Unternehmens hatte. "Ich dachte also an eine Geschichte der geistigen Kultur, nicht nur der Wissenschaft."22 Als Vorbild der literarischen Form galt ihm "der letzte Abschnitt in Harnacks Vorlesungen üb. d. Wesen d. Christen­ tums. Nichts eigentlich Thatsächliches, Charakteristik der wichtigen Strö­ mungen, Feststellung des Bleibenden, in späteres Ü bergegangenen."23 Kurz darauf präzisierte Giesecke, offensichtlich veranlaßt durch Hinnebergs Re­ aktion und die Einsicht, daß Hinneberg und er "doch noch nicht ganz d'ac­ cord"24 seien, seine Vorstellungen noch einmal in grundsätzlichen Ausfüh-

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der Teubner-Verlag inzwischen aufgegangen ist. Allerdings sind im Zuge der Integra­ tion des Teubner-Verlages in die GWV Fachverlage im April 2000 Materialien zur Verlagsgeschichte aufgefunden und an die Deutsche Bibliothek in Leipzig übergeben worden, darunter aber kaum Materialien aus der für die Entstehungsgeschichte der "Kultur der Gegenwart" besonders relevanten Zeit vor 1 9 1 4. Ein in der Deutschen Bibliothek in Leipzig kürzlich aufgetauchter älterer und bislang unzugänglicher Be­ stand von Archivalien aus dem Teubner-Verlag betrifft insbesondere finanzielle, rechtliche und betriebswirtschaftliche Aspekte, dazu die Familienangelegenheiten der Familie Teubner und läßt keine Bezüge zu Paul Hinneberg und der "Kultur der Ge­ genwart" erkennen. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deut­ sche Literaturzeitung. Nr. 1 : Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Ver­ lag Teubner 1 899-1 902. - Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 2. Juli 1 90 1 , Archiv der Berlin-Branden­ burgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 1 : Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 899-1 902. H.i.o. Ebd. Im Brief vom 1 6. Juli 1 901 an Paul Hinneberg kommt Giesecke auf dieses Vor­ bild für die Geschichtsschreibung der geistigen Kultur noch einmal zurück: "Sehen Sie sich doch bitte die histor. Kapitel in Harnacks ,Wesen des Christentums' noch mal an: das ist ziemlich genau das, was mir vorschwebt. Er sagt: ,Urchristentum hat das geleistet, griechische Kirche das, röm-kathol. das, Protestantismus das; da stehen wir heute'! So denke ich mir die Sache überall, je nachdem mit geringerer oder stärkerer Berücksichtigung des Altertums." Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 1 : Prof. Dr. Paul Hinne­ berg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 899-1 902. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 6. Juli 1 90 1 , Archiv der Berlin-Branden­ burgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 1 :

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rungen: "Die Idee, die meinem Plane besonders eigen ist, ist eine geschicht­ lich fundierte Betrachtung unseres heutigen geistigen Kultur-Zustandes darin sind wir beide wohl j etzt einig. Nun denken Sie die Sache so anzulegen, daß mit dem Werk etwa die Frage beantwortet wird: Wie haben sich die wissen­ schaftlichen Anschauungen des 19. Jahrhunderts gewandelt? Das scheint mir nun zu eng. Bleiben wir bei Ihrem Beispiele - wie sich die Arbeit über Fr[iedrich] W[ilhelm] I. i. 1 9. Jahrh. gestaltet hat, ist von Interesse nur für den Fach­ mann, nicht einmal mehr für den Durchschnittstudenten, geschweige denn für den Gebildeten. Was Sie wollen würde ein Werk für die Bibliotheken und die Fachleute - entsprechend wäre der m. E. ziemlich bescheidene äussere Erfolg [ . . . ] Ich glaube deshalb, daß man unbedingt die Frage doch so stel­ len muss, wie ich es von Anfang an meinte: wie sind die Kulturelemente des 19. Jahrhdts entstanden? [ . . . ] Wer hat im Laufe von Jahrhunderten, auf anderen Gebieten Jahrtausenden mitgearbeitet, um unseren heutigen geistigen Besitz auf dem betr. Gebiete zusammenzubringen?"25 Das Ziel bestand infolgedes­ sen auch nicht darin, ein "Sammelsurium von Thatsachen ohne Geist" zu­ sammenzustellen, "sondern geistigen Extrakt aus den Thatsachen"26. Offen bleiben muß die Frage, aus welchen Personen sich der "engere Kreis von Gönnern und Freunden der Firma Teubner"27 zusammensetzte, auf des­ sen Beratung sich Herausgeber und Verlag stützen konnten, und wie dieser engere Kreis involviert war in die "langjährigen Vorbereitungen auf Grund zahlloser Konferenzen und Korrespondenzen mit den ersten Gelehrten und Praktikern unserer Zeit"28, derer es bedurfte, um das Projekt zur Druckreife zu bringen. Möglicherweise dürfen diese Formulierungen verstanden werden als Umschreibungen für das weitgespannte Netz von - durch wechselseitige Interessen geprägten - Kontakten in die zeitgenössische Wissenschaftswelt, das Hinneberg durch seine Herausgebertätigkeit für die "Deutsche Literatur­ zeitung" im Laufe eines Jahrzehntes geknüpft hatte. Nachweisbar ist einst­ weilen nur die Absicht, im Juli 1 902 "eine Art konstituirender Versammlung etlicher Vertrauensmänner und Gönner des Werkes zu veranstalten"29, wie Hinneberg brieflich am 23. Juni 1 902 an Friedrich Althoff berichtete.

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Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 899-1 902. Die Reaktion Hinnebergs auf Gieseckes Brief vom 1 2. Juli, auf deren Vorstellungen Gie­ secke im folgenden Bezug nimmt, hat sich nicht auffinden lassen. Ebd. Ebd. Brief Paul Hinnebergs an Ernst Troeltsch, 1 2. September 1 902, Privatbesitz. Paul Hinneberg: Vorwort (1 906) , S. VIII. Brief Paul Hinnebergs an Friedrich Althoff, 23. Juni 1 902, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, B Nr. 72, BI. 1 07.

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Als Paul Hinneberg und Alfred Giesecke im Juni 1 902 den Verlagsvertrag über die "Kultur der Gegenwart" schlossen, waren sie sich hinsichtlich der Programmatik und des Zuschnittes einig geworden. Beiden schwebte ein überschaubares Sammelwerk vor, das "eine knappe Darstellung von der Entwickelung der wichtigsten Kulturfaktoren der Gegenwart und der sie be­ handelnden Wissenschaften enthalten"3o sollte. Das Werk sollte sich in die folgenden drei Abteilungen gliedern: ,,1. Die geisteswissenschaftlichen Kul­ turgebiete, II. Die naturwissenschaftlichen Kulturgebiete, III. Die techni­ schen Kulturgebiete."31 Dabei sollte jede Abteilung sich ihrerseits "aus einer Reihe von Monographien zusammensetzen"32. Der Umfang des Gesamt­ werkes war auf vier Bände von je ca. 60 bis 70 Bogen veranschlagt. Das Bo­ genformat wurde nicht erwähnt. Die erste Auflage sollte in 2000 Exempla­ ren gedruckt werden. Die Gewinnung der Mitarbeiter (nur "hervorragende Autoritäten der einzelnen Gebiete'(33) hatte vertragsgemäß bis zum 1 . Okto­ ber 1 902 zu erfolgen, der Druckbeginn war auf den 1 . April 1 903 angesetzt.34 Hinneberg sollte die Tätigkeit des Herausgebers "in vollem Umfange" über­ nehmen. Zu seinen Aufgaben zählte "die Aufstellung des Gesamtplanes, die Raumverteilung für die einzelnen Abschnitte, die Auswahl und Gewinnung der Mitarbeiter, die Druckfertigmachung der Manuskripte sowie die Erledi­ gung der erforderlichen Korrekturen." Hinneberg "erteilt zusammen mit der Verlagsbuchhandlung das endgiltige Imprimatur"35. Für diese Herausge­ bertätigkeit sollte Hinneberg ursprünglich mit pauschal 8000.- Mark ent­ lohnt werden. Freilich scheint er bereits mit einer Ü berschreitung des in Aus­ sicht genommenen Umfanges gerechnet zu haben, denn ein von ihm handschriftlich aufgesetzter Vertragszusatz sieht die Vergütung mit einem Honorar von 30,75 Mark pro Bogen vor.36 Dazu kamen Beteiligungen an späteren Auflagen und Ü bersetzungen; außerdem der Ersatz von Reiseko-

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Verlags-Vertrag zwischen Prof. Dr. Paul Hinneberg und der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner vom 20. Juni 1 902, § 1 , Privatbesitz. Ebd., handschriftliche Ergänzung des § 1 . Ebd., § 1 . Ebd., § 2. Verlags-Vertrag zwischen Prof. Dr. Paul Hinneberg und der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner vom 20. Juni 1 902, Nachtrag vom 20. Juni 1 902 zum § 6 des Vertrages. In der ursprünglichen Fassung des Vertrages war der Druckbeginn auf den 1 . November 1 902 angesetzt gewesen, die Mitarbeiter sollten bis 1 . August 1 902 gewonnen worden sein. Verlags-Vertrag zwischen Prof. Dr. Paul Hinneberg und der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner vom 20. Juni 1 902, § 5 . Ebd., § 8 und handschriftliche Korrektur des § 8.

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sten.37 Der Verlag behielt sich vor, unvergütbare Rezensions- und Freiexem­ plare bis zur Höhe von 1 0 Prozent der Auflage herzustellen - ein Punkt, der später zum Konflikt zwischen Hinneberg und Giesecke führen sollte. Ü ber Honorare für die Verfasser wurde einstweilen keine Vereinbarung getroffen, ihnen wurden j edoch ,,20 Sonderabdrücke ihres Beitrages, sowie ein kom­ plettes Exemplar des Bandes, in dem ihr Beitrag enthalten ist"38, in Aussicht gestellt. Hinneberg konzentrierte sich zunächst auf die detaillierte Vorbereitung der ersten, geisteswissenschaftlichen Abteilung des Sammelwerkes, insbe­ sondere auf dessen ersten Band. Ein dreiseitig gedruckter, undatierter Ent­ wurf des Gesamtwerkes informiert über den im Frühsommmer 1 902 in Aus­ sicht genommenen Aufriß.39 Hier werden zunächst insgesamt 1 54 "Namen der bereits gewonnenen resp. in Aussicht genommenen Herren Mitarbeiter"40 aus allen Wissens­ gebieten genannt. Inzwischen war eine leichte Erweiterung des Umfanges geplant: das Sammelwerk sollte "in vier Bänden (zu je ca. 80 Bogen Lex.-8°) " erscheinen.41 Aufschlußreich sind die Modifikationen der Gliederung des Gesamtwerkes: Die im Verlagsvertrag zwischen Hinneberg und Teubner vor37

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Auch hier wurde der ursprünglich vereinbarte Betrag von 600.- Mark in der Nach­ tragsvereinbarung noch einmal um 200.- Mark aufgestockt, vgl. Verlags-Vertrag zwi­ schen Prof. Dr. Paul Hinneberg und der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner vom 20. Juni 1 902, § 5 und Nachtrag vom 20. Juni 1 902 zum § 5 . Verlags-Vertrag zwischen Prof. Dr. Paul Hinneberg und der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner vom 20. Juni 1 902, § 9. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Schmidt-Ott. Zur näheren Datierung ist zu sagen: Die dort zur Mitarbeit vorgesehe­ nen Namen weisen zunächst in den Sommer 1 902. Der präzisierte Stand der Gliede­ rung, die Erweiterung des Umfangs und der Umstand, daß es sich um den ersten bis­ her aufgefundenen gedruckten Entwurf handelt, legt die Vermutung nahe, daß der Aufriß nach dem Vertragsabschluß am 20. Juni 1 902 entstanden ist und es sich bei ihm um denjenigen Entwurf handelt, den Hinneberg in einem Brief vom 22. Juli 1 902 aus Göttingen an Ulrich von Wilamowitz erwähnt: "Anbei beehre ich mich von hier aus, wo ich seit zwei Tagen zu Gunsten unserer Enzyklopaedie mich aufhalte, Ihnen ein Expl. der Neubearbeitung des Grundrisses mit Berücksichtigung der Ergebnisse der Konferenz im Berliner Reichshof zu übersenden: die wenn auch immer nur noch ,vorläufige' Systematik hat Teubner des besseren Ü berblicks wegen setzen und mir in Druckform hierher nachsenden lassen" (SUB Göttingen, Nachlaß Wilamowitz) . So ergibt sich für den Aufriß ein Entstehungsdatum zwischen dem 20. Juni 1 902 und dem 22. Juli 1 902. Entwurf des Gesamtwerkes aus dem Sommer 1 902, S. 1 . Ebd., S. 2.

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gesehene Dreiergliederung ist nun zu einer in sich noch einmal unterteilten Zweiergliederung geworden.42 Die ersten beiden Bände behandeln "die gei­ steswissenschaftlichen Kulturgebiete" , wobei der erste Band "Religion und Philosophie, Literatur und Kunst (mit vorangehender Einleitung zu dem Gesamtwerk) " thematisiert, der zweite Band "Staat und Gesellschaft, Recht und Wirtschaft". Die anderen beiden Bände traktieren "die mathematischen, naturwissenschaftlichen, technischen Kulturgebiete", wobei der dritte Band sich "Mathematik, Naturwissenschaft und Medizin" widmet, der vierte Band dagegen "die technischen Kulturgebiete" darlegt. Damit ist die Grobgliede­ rung des Gesamtwerkes gefunden, an der fortan festgehalten wird. Der Entwurf enthält sodann die eineinhalbseitige Ü bersicht über den im Sommer 1 902 geplanten Inhalt des ersten Bandes und die Autoren.43 Die Einleitung in das Gesamtwerk sollte zwei Teile enthalten und zum einen die inneren wie die äußeren Vorbedingungen der Kulturentwicklung auf je einem Bogen entfalten. Hier waren als Autoren Wilhelm Lexis und Wilhelm Dilthey in Aussicht genommen worden. Zum anderen sollten in sieben Ab­ schnitten die Mittel der Kultur auf V2-1 Bogen dargestellt werden: Organisa­ tion der wissenschaftlichen Arbeit, Bildungsanstalten der Gegenwart, Buch­ und Bibliothekswesen, Presse, Theater, Museen, das Bildungsstreben der Gegenwart und seine Bedeutung für die Kultur der Gegenwart. Für diesen letzten Abschnitt war Adolf Harnack vorgesehen, für die anderen etwa Fried­ rich Paulsen, Wilhelm Bode und Hermann Diels. Des weiteren sollte der er­ ste Band den ersten Unterabschnitt der geisteswissenschaftlichen Kulturge­ biete behandeln, also Religion und Philosophie sowie Literatur und Sprache. Diese Abschnitte waren ihrerseits mannigfach unterteilt und verschiedenen Bearbeitern zugedacht. Der Religionsabschnitt etwa sollte vierzehn Unter­ abschnitte von lh-4 Bogen Umfang enthalten und sowohl systematische Fragen (etwa: Mythos und Religion, oder: Die moderne wissenschaftliche Theologie in Methode und Aufgabe) als auch Darstellungen historischer und gegenwärtiger positiver Religionen enthalten (von der ägyptischen My­ thologie bis hin zum Christentum in neuerer Zeit als Katholizismus und Protestantismus) . Als Mitarbeiter waren hier etwa Ulrich von Wilamowitz­ Moellendorff, Adolf Harnack, J ulius Wellhausen, Adolf J ülicher, Karl Müller und andere vorgesehen. Troeltschs Name findet sich im Sommer 1 902 noch nicht. In j enem Sommer bestand Hinnebergs Hauptaufgabe darin, die vorge­ sehenen Autoren zur Mitarbeit zu bewegen. Dabei bevorzugte er das persän-

42 Ebd., S. 2. 43 Ebd., S. 2 f.

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liche Gespräch. Ein Brief vom 22. Juli 1 902 aus Göttingen gibt einen gewis­ sen Eindruck von seiner Reisetätigkeit: "Im Ü brigen haben alle Göttinger in Aussicht genommenen Herren - Elias Müller, den Wellhausen sehr hoch stellt, Gust. Cohn usw. - ihre Theilnahme fest zugesagt. Heute Abend fahr ich nach Marburg, um J ülicher persönlich zu gewinnen, von da nach Bonn, um bei Loeschke und Justi das Glück zu versuchen, von da zu Marcks nach Heidelberg und zu Nöldeke nach Straßburg, und denke, Mitte nächster Wo­ che wieder in Berlin zu sein"44. Der im Herbst 1 902 verwendete Vordruck des Autorenvertrages sah vor, den Autoren ihre Tätigkeit mit 200.- Mark pro Bogen für die Erstauflage und alle Folgeauflagen zu honorieren.45 Dieser Vertragsvordruck läßt auch die inzwischen geplante Erhöhung der ersten Auflage auf 2500 Exemplare erkennen; darüber hinaus wird inzwischen die Verteilung der vier Bände auf ,,8 Halbbände von 35-40 Bogen"46 berechnet. Der Vertragsvordruck aus dem Herbst 1 902 präzisierte zudem das Pro­ gramm der "Kultur der Gegenwart". Die knappe Formulierung aus dem Verlagsvertrag zwischen Hinneberg und dem Verlag Teubner vom Juni 1 902 war zu einer eineinhalbseitigen Darlegung des Programmes ausgeweitet wor­ den und bildet die Substanz des Vorwortes für das Gesamtwerk, das Hinne­ berg vier Jahre später dem ersten Band voranstellen wird. Im Autorenvertrag aus dem Herbst 1 902 hieß es: "Für den tieferblickenden Beurteiler der Ent­ wickelung unseres geistigen Lebens bedarf es keiner näheren Begründung, daß mit der zunehmenden Ausdehnung, der immer größeren Specialisierung und der immer verwirrenderen Komplizierung unserer Kulturtätigkeit die Synthese des Erreichten notwendig Hand in Hand gehen muß. Gerade die hervorragendsten Geister innerhalb der einzelnen Fachgebiete sind es, wel­ che die Dringlichkeit dieser Forderung am stärksten betonen. [ . . . ] Zur Er­ reichung dieses Zieles soll das geplante Werk beitragen helfen. In allgemein verständlicher Form soll es, aus der Feder der geistigen Führer unserer Zeit, gleichsam ein Organon der modernen Kultur - in dem Baconischen Sinn des Wortes - bieten, indem es in großen Zügen die Fundamentalergebnisse der einzel­ nen Kulturgebiete in Wissenschaft, Technik, Kunst u.s.w. nach ihrer Bedeutungfür die ge­ samte Kultur der Gegenwart undfür deren Weiterentwickelung vom deutschen Stand­ punkt aus darstellt."47 Aufschlußreich sind sodann die im direkten Anschluß daran formulierten Erwartungen an die Autoren: "In diesem Sinne sollen die 44 45 46 47

Brief Paul Hinnebergs an Ulrich von Wilamowitz, 22. Juli 1 902, SUB Göttingen, Nachlaß Wilamowitz. Vordruck des Vertrages, unpaginierte S. 3, Privatbesitz. Ebd., unpaginierte S. 1 . Ebd., unpaginierte S. 1 .

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historischen Teile des Werkes in Längsschnitten die wesentlichsten Leistungen der einzelnen Epochen auf den verschiedenen Kulturgebieten entwickelnd darstellen soweit sie für die Folgezeit von grundlegender Bedeutung gewor­ den sind und noch über die Gegenwart hinaus Interesse versprechen, wäh­ rend andererseits die systematischen Teile in Querschnitten die gegenwärtige Struktur der betr. Gebiete in ihren wichtigsten Grundzügen veranschau­ lichen, die heute in denselben herrschenden Hauptströmungen charakteri­ sieren und die für die Zukunft einzuschlagenden Wege aufzeigen sollen. Sammelwerken ähnlicher äußerer Anlage gegenüber soll das geplante Werk somit eine besondere Bedeutung gewinnen, indem es 1 . weitentfernt, hand­ buchmäßige Vollständigkeit, die auch Berücksichtigung des Abgelebten, Veralteten bedingen würde, und schematische Gleichförmigkeit der Behand­ lung anzustreben, seine eigentliche Aufgabe sieht in der Hervorhebung desflr die Gegenwart Lebendigen und flr die Zukunft Fruchtverheißenden; 2. die Erreichung dieses Zieles in einer die Gefahr einseitiger subjektiver Darstellung aus­ schließenden Weise gewährleistet durch die Gewinnung der autoritativsten Vertre­ ter der einzelnen Gebiete. "48 Vermutlich aus dem Spätherbst 1 902 stammt sodann ein weiterer Ü ber­ blick über den Aufriß des Gesamtwerkes. Er ist vierseitig, undatiert und als "Vorläufiges Inhaltsverzeichnis! Vertraulich!"49 überschrieben. Hier werden 1 97 bereits gewonnene bzw. in Aussicht genommene Mitarbeiter namentlich genannt, unverändert sind die Angaben des Umfanges und der Vierergliede­ rung des Gesamtwerkes. Der Inhalt des ersten Bandes wird auf zweieinhalb Seiten präzisiert: Der die Religion behandelnde Abschnitt ist nun in drei übergeordnete Abschnitte unterteilt und umfaßt einen Einleitungsabschnitt, einen Hauptabschnitt über die Geschichte der Religion, in den die Darstel­ lung der positiven Religionen aufgenommen ist, und einen Schlußabschnitt über die Zukunftsaufgaben des Christentums. Analog dazu ist der Philoso­ phie-Abschnitt gegliedert: Er enthält eine Einleitung, einen historischen Hauptabschnitt über die Geschichte der Philosophie, einen systematischen Hauptabschnitt über die einzelnen Teilsysteme der Philosophie und einen Schlußabschnitt über die Zukunftsaufgaben der Philosophie. Auffällig ist der Zuwachs an detaillierten Teilartikeln. Dadurch erhöhte sich auch die Zahl der beteiligten Autoren. 48 49

Ebd., unpaginierte S. 2. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Schmidt-Ott. Die Datierungsvermutung ergibt sich daraus, daß die Namen der be­ reits verpflichteten Autoren hervorgehoben sind, diejenigen der noch zu gewinnen­ den Autoren dagegen nicht. Der Abgleich mit den Daten der vereinzelt aufgetauch­ ten Mitarbeiterverträge weist in den Spätherbst 1 902.

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Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

Spätestens ab November 1 90450 plante der Verlag zu Werbezwecken die Erstellung eines Probeheftes mit Teilabdrucken von bereits fertiggestellten Beiträgen. Ein solches "Propaganda-Heft"51 ist zwischen 1 7. April 1 905 und 2. Mai 1 90552 fertiggestellt worden. Es war undatiert, hatte einen Umfang von 7 1 Seiten und enthielt mehrseitige Leseproben (unter anderem aus den Beiträgen Wellhausens, Jülichers, Harnacks, Seebergs und Funks) . Der Bei­ trag Troeltschs war darin nicht enthalten. 53 "Probeheft und Spezial-Pro­ spekte" der "Kultur der Gegenwart" werden auch im Gesamtverzeichnis des Teubner-Verlages aus dem Jahr 1 90754 bzw. in einem Auszug aus dem Ge­ samtverzeichnis aus dem April 1 90855 zum Bezug angeboten. Die periodisch erscheinenden "Mitteilungen der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner in Leipzig", die das Gesamtprogramm des Verlages in ausführlicher Form vor­ stellten, warben in ihrer Ausgabe von 1 907 mit einem zweiseitigen Abdruck eines Auszuges aus Troeltschs Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit"56. Am 1 5. April 1 904 vereinbarten Hinneberg und der Verlag Teubner einen weiteren Nachtrag zum Verlagsvertrag vom 20. Juni 1 902. Hier wird nun zu­ nächst der Inhalt der vier Teile der "Kultur der Gegenwart" niedergelegt, des weiteren wird die inzwischen eingetretene Erweiterung der ersten Auflage auf 2500 Exemplare und die Verdopplung des Umfangs festgehalten: "Jeder 50

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Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 4. November 1 904, Archiv der Berlin­ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Brief Paul Hinnebergs an Ulrich von Wilamowitz, 22. November 1 904, SUB Göttin­ gen, Nachlaß Wilamowitz. Vgl. den Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 7 . April 1 905, in dem Giesecke erklärt: "Wenn wir Anfang des Sommersemesters [ . . . ] herauskommen wollen, müs­ sen wir den Prospekt unbedingt in allernächster Zeit fertig haben", mit dem Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 2. Mai 1 905, der nahelegt, daß der Prospekt in­ zwischen vorlag. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaf­ ten, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. N r. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwech­ sel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Ein Exemplar dieses Probeheftes, das sich in Bibliotheken bisher nicht hat nachwei­ sen lassen, findet sich im Nachlaß Friedrich Althoffs. Geheimes Staatsarchiv Preußi­ scher Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, A I Nr. 22 1 . Verlagsverzeichnis B. G. Teubner Leipzig Berlin (1 907), o. P. B. G. Teubners Verlag: Aus dem Gebiete der Mathematik Naturwissenschaften Tech­ nik nebst Grenzwissenschaften, 1 0 1 . Ausgabe, abgeschlossen im April 1 908, S. 53. Mitteilungen der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner in Leipzig, 1 907, S. 49-50: "Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus. Aus: E. Troeltsch, Protestan­ tisches Christentum und Kirche in der Neuzeit. (Kultur der Gegenwart. I. IV. 1 .)".

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der vier Teile ist auf etwa 1 60 Bogen veranschlagt"57. Auch wird die Höhe der Honorare neu bestimmt: Hinnebergs Herausgeberhonorar belief sich auf nun 4000.- Mark für jeden der vier Teile des Werkes, was einem Bogen­ satz von 25.- Mark entspricht. Die Höhe des Honorars sollte sich dabei allerdings proportional zu eventuellen Schwankungen der Auflagenhöhen nach oben oder unten verhalten. Der im Sommer 1 902 in Aussicht genommene Andrucktermin für April 1 903 konnte, nicht zuletzt der ständigen Erweiterungen wegen, nicht einge­ halten werden. Frühestens im Oktober 1 904 war mit dem Druck begonnen worden.58 Am 21 . Mai 1 905 konnte Hinneberg feststellen: "Wir drucken z. Z. an 5 Abteilungen"59. Auch dann verzögerte sich die Auslieferung des Werkes noch einmal. Denn der Verlag hatte sich entschieden, vom Kaiser die Annahme der Widmung des Werks zu erbitten. In dem Brief vom 21 . Mai 1 905 machte Hinneberg Ulrich von Wilamowitz eine Mitteilung, die er lieber im mündlichen Gespräch gemacht hätte und "geneigtest noch als streng vertraulich zu betrachten" bittet: "Exz. Althoff, dem ich [ . . . ] einige Probe­ Stücke unseres Werkes [ . ] überreichen durfte, fand diese Proben so vor­ züglich, daß er sie [ . . ] Sr. Maj . dem Kaiser unterbreitet hat. Sr. Maj . gefiel die Idee des Ganzen wie die einzelnen Stücke so vorzüglich, daß mir Exc. Alt­ hoff riet, in einem Gesuch vom Kaiser die Annahme der Widmung des Wer­ kes zu erbitten: er selber werde das Gesuch wärmstens befürworten. [ . . . ] Ehe nun der Bescheid aus dem Kabinett nicht eingetroffen ist, dürfen wir mit dem Werk nicht vor die Ö ffentlichkeit treten. "60 .

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Nachtrag [vom 1 5. April 1 904] zu dem Vertrag vom 20. Juli [gemeint ist: Juni] 1 902, § 1 , Privatbesitz. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 3. Oktober 1 904, Archiv der Berlin-Bran­ denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906: "Wir können in absehbarer Zeit mit dem Druck beginnen". Brief Paul Hinnebergs an Ulrich von Wilamowitz, 2 1 . Mai 1 905, SUB Göttingen, Nachlaß Wilamowitz. Ebd. - Hinnebergs Eingabe an den Kaiser datiert auf den 29. Juli 1 905, wie aus Archivalien des Kultusministeriums hervorgeht (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, 1. HA Rep. 76 V c, Sekt 1 Tit. XI Teil V D Nr. 4 Adh., BIl. 4-6) . Der Eingabe war der fertiggestellte Band 1/8 der "Kultur der Gegenwart" beigelegt, der die griechische und lateinische Literatur und Sprache behandelt. (Die Kultur der Gegenwart, Teil 1 , Abt. 8: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, hg. von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, 1 905) . Dieser Band war denn auch der erste des Gesamtwerkes, der ausgeliefert wurde, nämlich am 28. September 1 905 (Vgl. die Anzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 72 (1 905) , Nr. 268, 1 7 . November 1 905, S. 1 0772) .

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In Althoffs Einsatz für die Widmung durch den Kaiser kulminiert "das große Interesse, das Friedrich Althoff dem Werke von den ersten Anfängen zuwandte"6 1 . In der Tat hatte Althoff sich spätestens seit 1 902 in einer Weise für das Unternehmen interessiert und engagiert, die sowohl minutiöse als auch prinzipielle Einflußnahmen auf Programm und Gestaltung der Enzy­ klopädie nicht ausschloß. Der Verlag rechnete sich einigen Nutzen daraus aus62 und ließ Althoffs Beteiligung an editorischen Fragestellungen wie etwa das (vergebliche) Plädoyer für die lexikalische Anordnung des Ganzen63 und das (erfolgreiche) Plädoyer für ein selbständiges Register jeder Abteilung64 ebenso zu wie seine Einwirkung auf die Auswahl der Autoren65 und auf For61 62

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Friedrich Schulze (Hg.) : B. G. Teubner 1 8 1 1-1 9 1 1 (1 9 1 1 ) , S. 5 1 0. Davon versuchte Gieseckes Mitarbeiter Richard Quelle den Herausgeber Hinneberg am 26. Juni 1 902 brieflich zu überzeugen: "Das Interesse des Ministerialdirektors Alt­ hoff für die Kultur der Gegenwart ist in der That ein so weitgehendes und lebhaftes, wie ich es niemals erwartet habe und Sie werden auch selbst ganz überrascht sein über die Wärme, mit der er sich Ihrer und des Werkes annimmt. Seine Ratschläge und Pro­ tektion werden Ihnen bei Gewinnung von geeigneten Mitarbeitern von gros sem Werte sein und ich rechne auch im Stillen darauf, dass er später durch Empfehlung für den Absatz wirken wird." (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wis­ senschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 1: Prof. Dr. Paul Hinneberg Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 899-1 902.) Brief Paul Hinnebergs an Friedrich Althoff, 8. August 1 902, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, A I Nr. 221 , BI. 2. Vgl. auch den Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg vom 1 5 . Oktober 1 902, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deut­ sche Literaturzeitung. Nr. 1 : Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Ver­ lag Teubner 1 899-1 902: "Dass A �thoff] so auf die lexikalische Anordnung besteht, ist mir ganz unerfindlich; gerade er müsste doch bei seiner Organisationsgabe Ver­ ständnis dafür haben, dass die Sache ein ganz anderes Bild gewährt, wenn sie syste­ matisch aufgebaut ist. Das andere gäbe doch immer wieder ein, wenn auch noch so schönes Konversations-Lexikon; erst dadurch, dass wir das systematisch aufbauen, was ja freilich unendliche Schwierigkeiten macht, erheben wir uns schon äusserlich weit über das Niveau des Konversations-Lexikons." Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 28. Dezember 1 904, Archiv der Berlin­ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzei­ tung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. So rechtfertigte Hinneberg sich gegenüber Althoff brieflich am 8. August 1 902 für die geplante Einladung Lujo Brentanos zur Mitarbeit: "Daß ich, natürlich nur für peri­ phere Partien, auch einige persönlich fatale Patrone, wie Lujo Brentano, zu beteiligen mich bemüht habe, geschah selbstverständlich aus rein taktischen Gründen, um sie für die Kritiken mundtot zu machen." (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbe-

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mulierungen des Vorwortes66• Auf den über die Jahre mehrfach bezeugten Dank Gieseckes für diese Beteiligungen, insbesondere für die Vermittlung der kaiserlichen Widmungsannahme, konnte er sich dabei verlassen.67 Aus

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sitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, A I Nr. 221 , BI. 2.) Daß Hinneberg da­ mit bei Althoff nicht durchdrang, sondern sich genötigt sah, seine Mitarbeiterrekru­ tierung ganz grundsätzlich an Althoffs Vorstellungen zu orientieren, zeigt sein Brief vom 22. August 1 902 an Althoff: "Euere Hochwohlgeboren wollen mir geneigtest er­ lauben, anbei ein Ex[em]pl[ar] des überarbeiteten Grundrisses unserer Enzyklopädie, in dem der Name Brentano bereits beseitigt ist, zu übermitteln. Wie ich es vermieden, Brentano um die Mitarbeit anzugehen, bevor ich gewiß wußte, daß Lexis' sonst so be­ währter Rat auch in diesem Fall ein zuverlässiges Echo von Euerer Hochwohlgebo­ ren Auffassung bilde, so habe ich überhaupt auf meiner Rundreise absichtlich für das Werk fest genommen nur solche Herren, von denen ich mit Sicherheit annehmen zu können glaubte, daß ihre Mitarbeit Euerer Hochwohlgeboren genehm sei (wie z. B. Wellhausen, Carl Justi, Nöldeke, Frdr. v. Bezold, Roethe usf.) [ . . . ] . Weitere Aenderun­ gen in der Besetzung der einzelnen Gebiete, die Euere Hochwohlgeboren belieben sollten, ließen sich deshalb noch immer vornehmen." (Geheimes Staatsarchiv Preu­ ßischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, A I Nr. 221 , BI. 3.) Brief Paul Hinnebergs an Friedrich Althoff, 1 9. Juli 1 905, Geheimes Staatsarchiv Preu­ ßischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, A I Nr. 221 , BI. 1 1 f. Brief Alfred Gieseckes an Friedrich Althoff, 28. Juni 1 902: "Euer Hochwohlgeboren bitte ich meinen ehrerbietigsten Dank entgegen nehmen zu wollen für das ausseror­ dentIich freundliche Wohlwollen, das Sie dem unter der Redaktion von Herrn Profes­ sor Hinneberg stehenden, für meinen Verlag geplanten Werke ,Die Kultur der Ge­ genwart' in so reichem Masse entgegenbringen. Ich erblicke darin die Gewähr, dass das Werk eine für die Wissenschaft und das gesamte Kulturleben bedeutsame Auf­ gabe zu erfüllen berufen ist und bin mir bewusst, dass unter Ihren Auspizien die Durchführung des grossen Planes ganz wesentlich erleichtert wird. Von höchstem Werte wird insbesondere auch die Besprechung am 5. Juli sein, für die Sie gütigst die Anregung gegeben und, wie mir Herr Professor Hinneberg mitteilt, Ihre Teilnahme geneigtest in Aussicht gestellt haben. Bei dieser Gelegenheit hoffe ich noch persön­ lich meinen ehrerbietigsten Dank aussprechen zu können." (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, A I Nr. 221 , BI. 1 . Diesen Brief hat Althoff bei seiner Lektüre mit Bleistiftanmerkungen versehen, die erkennen lassen, daß er Gieseckes Tonfall für übertrieben hielt [" Ü bertreibun­ gen", "wird immer ärger'l) Vgl. auch den Brief Alfred Gieseckes an Friedrich Alt­ hoff, 8. April 1 905, in dem Giesecke Althoff für das auf einer Karte von einer Aus­ landsreise bezeigte Interesse an dem Unternehmen der ,Kultur der Gegenwart' dankt (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, B Nr. 1 85, Bd. I, BI. 94) ; ferner den Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinne­ berg vom 1 7. Juli 1 905, in dem Giesecke hofft: "Vielleicht können wir dann Mittwoch nachmittag zusammen zu Althoff gehen; ich möchte ihm beim Erscheinen des I. Ban­ des auch jedenfalls meinerseits nochmals für sein Interesse danken" (Archiv der

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der Retrospektive des Jahres 1 925 hat Hinneberg dann als Impulsgeber der "Anregung des Kultusministeriums"68, von der er 1 902 gesprochen hatte, auch Althoffs Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott genannt.69 Vorerst allerdings ließ die Annahme der Widmung durch den Kaiser noch auf sich warten, so daß Giesecke im Laufe des Sommers 1 905 die Verärge­ rung der Autoren zu spüren bekam 70 und sich nachgerade wünschte, "wir hätten die ganze Widmungsgeschichte nicht angefangen"71 . Erst am 8. Au­ gust lag dem Verlag die Mitteilung vor, daß das Werk dem Kaiser gewidmet werden dürfe.72 So erschien am 20. September 1 90573 der Band Iji der "Kul-

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Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literatur­ zeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906) ; und schließlich den Brief Alfred Ackermanns und Alfred Gieseckes an Friedrich Althoff, 9. August 1 905, in dem beide versichern, wie sehr sie sich bewußt sind, daß sie "das Gelingen des gros sen Werkes vor allem Ew. Excellenz so gütiger und unermüdlicher Förderung zu danken haben" (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Althoff, B Nr. 1 85, Bd. I, BI. 97) . Brief Paul Hinnebergs an Ernst Troeltsch, 1 2. September 1 902, Privatbesitz. Brief Paul Hinnebergs an Friedrich Heiler, 26. Januar 1 925, UB Marburg, Nachlaß Heiler. Friedrich Schmidt-Ott (bis 1 920: Friedrich Schmidt) , geboren am 4. Mai 1 860 in Potsdam, wurde nach einem Studium der Rechtswissenschaften in Berlin, Heidel­ berg, Leipzig und Göttingen 1 883 in Berlin promoviert. 1 882 war er in den preußi­ schen Staatsdienst eingetreten, und zwar zunächst als Dezernent im Reichsjustizamt. 1 888 erfolgte der Wechsel als Dezernent im preußischen Kultusministerium, wo er ab 1 895 den Rang eines Geheimen Regierungsrates und Vortragenden Rates bekleidete, ab 1 907 denjenigen eines Ministerialdirektors. Er galt im Kultusministerium als der engste Mitarbeiter Friedrich Althoffs. Im Jahre 1 9 1 7 übernahm er als Staatsminister das Ministerium für geistliche und Unterrichtsangelegenheiten, verließ diesen Posten jedoch im November 1 9 1 8 wieder. Bis 1 934 war er Präsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Schmidt-Ott starb am 28. April 1 956 in Berlin. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 3. Juli 1 905, Archiv der Berlin-Branden­ burgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 9. Juni 1 905, Archiv der Berlin-Branden­ burgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Brief Alfred Ackermanns an Paul Hinneberg, 8. August 1 905, Archiv der Berlin-Bran­ denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Der erste Band wurde am 20. September 1 905 als "Des Gesamtwerkes Teil I Abtei­ lung I Lieferung I", so das Deckblatt, ausgeliefert und umfaßte den Umfang des ge­ samten ersten Bandes, der auf 1 906 datiert war. Spätere Auslieferungen verzeichnen auf der Seite IV den 1 0. Juni 1 906 als Auslieferungsdatum.

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tur der Gegenwart", der "Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Ge­ genwart"74 behandelt, mit folgender Widmung: "Seiner Majestät dem Kaiser Wilhelm 11. dem erhabenen Schirmherrn deutscher Kulturarbeit ehrfurchts­ voll zugeeignet"75. Dem Band war als Motto ein Diktum des Kaisers von der Zweihundertjahrfeier der Akademie der Wissenschaften 1 901 beigegeben, das die wissenschaftsgeschichtlichen Differenzierungen der jüngeren Ver­ gangenheit in einen weiteren Horizont rückte: "Wie die Naturwissenschaften im letzten Ziel den Urgrund alles Seins und Werdens zu erforschen trachten, so bleibt, wie es Goethe selbst ausgesprochen hat, ,das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen un­ tergeordnet sind, der Konflikt des Unglaubens und Glaubens', und wie in sei­ nem Sinne hinzuzufügen ist, die Betätigung am Menschengeschlecht. "76 Aufschlußreich für Programm und Profil des Unternehmens sind die Ausführungen, die Hinneberg im Vorwort zum Gesamtwerk macht. Das Bedürfnis einer verknüpfenden Zusammenfassung des auf den einzelnen Kulturgebieten Erreichten grenzte er zunächst von der lexikalischen Enzy­ klopädie ab, um dann das Spezifikum des in der "Kultur der Gegenwart" ein­ geschlagenen Weges zu umreißen: "So dringend jedoch in der Theorie wie in der Praxis dieses Bedürfnis empfunden wird, so sehr fehlt es bisher an einem Werke, wodurch es gebührend befriedigt würde. Zwar über lexikalische Zu­ sammenfassungen der wesentlichen Tatsachen und Probleme des Kulturle­ bens verfügen heut alle zivilisierten Nationen. Aber gerade das, wonach der in die Tiefe dringende Geist am meisten verlangt, die Erkenntnis der letzten und feinsten Verbindungs fäden, welche die Betätigungen auf den verschie­ denen Gebieten menschlichen Denkens und Schaffens, in Religion und Wis­ senschaft, in Kunst und Technik, in Staat und Gesellschaft, in Recht und Wirtschaft zur Einheit der modernen Kultur verknüpfen, gerade das ist mit den Mitteln lexikalischer Arbeitsweise der Natur der Sache nach nicht zu gewinnen. Dazu bedarf es der Zusammenfassung in einem systematischen Aufbau, innerhalb dessen die einzelnen Kulturgebiete ihren sachlich be­ stimmten Ort einnehmen, und in dem, unter steter Rücksichtnahme auf den Zusammenhang mit der Gesamtkultur, sowohl ihr geschichtlicher Werdegang wie ihre gegenwärtigen Aufgaben und Leistungen zur Behandlung kommen, 74

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Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, von W Lexis, Fr. Paulsen, G. Schöppa, H. Gaudig, G. Kerschensteiner, W v. Dyck, L. Pallat, K. Kraepelin,J. Les­ sing, 0. N. Witt, G. Göhler, P. Schienther, K. Bücher, R. Pietschmann, F. Milkau, H. Diels, Berlin und Leipzig: B. G. Teubner, 1 906 (= Die Kultur der Gegenwart, Teil 1 , Abteilung 1 , hg. von Paul Hinneberg). Ebd., S. V. Ebd., S. VI.

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wobei die einzelne Darstellung ihre Spitze j edesmal in der Bestimmung der Ziele erhalten muß, denen die Weiterentwicklung in dem von ihr behandelten Gebiete zustrebt. "77 Hinneberg unterstrich sodann drei formale Aufgaben, die die enzyklopädi­ sche Darstellung der "Kultur der Gegenwart" zu leisten habe: die systema­ tisch gegliederte Bearbeitung des Stoffes "im Zusammenwirken des Heraus­ gebers mit führenden Geistern der einzelnen Kulturgebiete", die inhaltlich auf der Höhe der Zeit stehende Bearbeitung durch die anerkannt hervorragend­ sten Vertreter des Faches und die Übersichtlichkeit der Aus führungen durch gemeinverständliche künstlerische Darstellung auf knappstem Raume.78 Schließlich hob Hinneberg die innere Vielfalt des Sammelwerkes hervor und begründete diese mit der Gegenwartslage: "Aber so eifrig mein Bemü­ hen darauf gerichtet war, dem Werke die Form eines fest in sich geschlos­ senen, einheitlichen Ganzen zu geben: Einstimmigkeit des Inhalts zugun­ sten einer bestimmten Parteiauffassung, habe ich nicht erstrebt. Ein Werk, das von dem Kulturleben der Gegenwart ein getreues Abbild geben will, darf nicht einseitig konservativ oder liberal, orthodox oder freigeistig, klassizi­ stisch oder sezessionistisch sein. Unsere Zeit ist eine Zeit des Ü berganges, eine Epoche des Suchens und Tastens nach neuen, zeitgemäßen Lebensfor­ men und Bildungsidealen. "79 Dafür nennt Hinneberg zahlreiche Beispiele, um fortzufahren: "Ein Zeitalter, das in solchem Umfang auf allen Gebieten der Kultur die verschiedenartigsten Tendenzen miteinander im Wettstreit sieht, muß diesen Charakterzug auch in dem literarischen Spiegel, den es sich vorhält, zum Ausdruck gebracht finden. So konnte meine wohlverstandene Aufgabe gegenüber dem vorliegenden Werke nur sein, alle herrschenden Anschauungen und Richtungen des heutigen Kulturlebens zu Worte kom­ men zu lassen und für jede den berufensten Sprecher zu finden. Erfüllt das Werk diese Aufgabe - und ich hoffe, es wird sie erfüllen -, dann darf es be­ haupten, ein getreues Abbild unserer Zeit zu sein, dann trägt es seinen Na­ men mit Recht: Die Kultur der Gegenwart. "80 Ein Jahr nach dem Erscheinen der ersten Bände kam es zu Spannungen zwischen Hinneberg und dem Verlags haus Teubner. Hinneberg fühlte sich vom Verlag, der die vereinbarte Auflagenhöhe von 2500 Exemplaren um mehrere hundert Exemplare überschritten und diese als Rezensions- und Werbeexemplare bezeichnet hatte, um Teile des ihm zustehenden Honorars

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Paul Hinneberg: Vorwort (1 906), S. VIII. Ebd., S. VIII f. Ebd., S. IX. Ebd., S. X.

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gebracht.8l In einem am 1 5. September 1 906 beschlossenen Nachtrag zum Verlagsvertrag vom 20. Juni 1 902 sah sich die Verlagsbuchhandlung Teubner zu mehreren Zugeständnissen verpflichtet: Das Honorar für die fraglichen Bände wurde nachgezahlt, Hinneberg wurde nun ein festes Bogenhonorar von 25.- Mark für jede Auflage von 2500 Exemplaren zugesichert, die Firma verzichtete "auf Prospekt- und Propagandalieferungen mit Ausnahme von Prospektheften in der Form des bereits vorliegenden Prospektheftes"82, Hinneberg wurde die Fortsetzung der Ü bernahme seiner Portoauslagen und seiner Kosten für eine Schreibkraft zugesichert, es wurde die wechselseitige Nichtkündbarkeit des Vertrages vereinbart, schließlich sollten Streitigkeiten über den Verlagsvertrag künftig durch ein Schiedsgericht entschieden wer­ den, dessen Zusammensetzungsmodalitäten aus führlich niedergelegt sind.83 Sprechend für die angespannte Atmosphäre84 ist der § 2 des Nachtrages: "Die Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner verpflichtet sich, dass überall da, wo nach dem literarischen Herkommen der Herausgeber einer grässeren Pu­ blikation als solcher namentlich aufgeführt wird (d. h. bei Bänden, Lieferun­ gen, Prospekten, Waschzetteln, Inseraten u. s. f.) hinter dem Titel ,Die Kultur der Gegenwart' in gebührend großen Typen die Bezeichnung ,Herausgege­ ben von Paul Hinneberg' angebracht werde. "85 Seit 1 906 erschienen in rascher Folge zahlreiche Bände vom Teil I des Gesamtwerkes, "Die geisteswissenschaftlichen Kulturgebiete. Erste Hälfte (Religion, Philosophie, Literatur, Musik, Kunst)". Ab 1 908 folgten die Bände des Teiles II, "Die geisteswissenschaftlichen Kulturgebiete. Zweite Hälfte (Staat und Gesellschaft, Recht und Wirtschaft)". Im Jahre 1 909 wurde dem federführenden Herausgeber Hinneberg mit dem Mathematiker Felix Klein86 ein Organisator der mathematisch-naturwissenschaftlichen und technischen

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Vgl. Brief Paul Hinnebergs an Ulrich von Wilamowitz, 1 . September 1 906, SUB Göt­ tingen, Nachlaß Wilamowitz. Nachtrag [vom 1 5. September 1 906] zum Vertrag vom 20. Juli [gemeint ist: Juni] 1 902 nebst Nachtrag vom 1 5. April 1 904, § 5, Privatbesitz. Ebd., § 6. Hinneberg wechselte denn auch im Herbst 1 906 mit der "Deutschen Literaturzei­ tung" vom Verlagshaus Teubner zum Berliner Verlag Weidmann. Ebd., § 2. Felix Klein, geboren am 25. April 1 849 in Düsseldorf, war ab 1 872 Professor für Ma­ thematik in Erlangen, ab 1 875 in München, ab 1 880 in Leipzig und ab 1 886 in Göt­ tingen. Seine Arbeitsgebiete betrafen vor allem die Funktionentheorie und Geome­ trie. Klein war ab 1 900 zunehmend auch wissenschaftsorganisatorisch tätig und setzte sich für die Modernisierung des Mathematikunterrichtes an den Schulen und Hochschulen ein. Er starb am 22. Juni 1 925 in Göttingen.

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Teile des Gesamtwerkes zur Seite gestellt, so daß nun auch hier die entspre­ chenden Bände entstehen konnten. Ab 1 9 1 2 erschienen Bände des Teiles III "Die naturwissenschaftlichen Kulturgebiete (Mathematik, Anorganische und organische Naturwissenschaften, Medizin) ". Seit 1 9 1 3 folgten Bände des Teiles IV "Die technischen Kulturgebiete (Bau-Technik, Maschinen­ Technik, Industrielle Technik, Handels- und Verkehrstechnik)". Ab 1 909 er­ schienen zudem die ersten Bände in zweiter Auflage, ab 1 922 die ersten Bände im zweiten Abdruck der zweiten Auflage. Insgesamt waren bis zur Einstellung des Gesamtunternehmens 1 925 einunddreißig Teilbände er­ schienen, zum Teil in zweitem Abdruck der zweiten Auflage. Troeltschs Beitrag "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neu­ zeit" gehörte in den Teil I der "Kultur der Gegenwart" und war dort in die vierte Abteilung eingestellt. Einige Bemerkungen müssen der Drucklegung dieser vierten Abteilung gelten, deren Thema die christliche Religion war. Die vierte Abteilung um faßte zwei Hälften. Die erste Hälfte betraf "Die christliche Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion" (sie umfaßte die Seiten 1 -458) , die zweite Hälfte war dagegen mit "Systemati­ sche christliche Theologie" überschrieben (S. 459-752) . Diese erste Hälfte umfaßte zwei Lieferungen (S. 1 -240 und S. 241 -458) . Die beiden Liefe­ rungen um faßten Beiträge Wellhausens87, Jülichers88, Harnacks89, Bon­ wetschs90, Müllers91 , Funks92 und Troeltschs93• Die dritte Lieferung (S. 459-752) enthielt die zweite Hälfte der Abteilung, die "Systematische christliche Religion", und umfaßte Beiträge Troeltschs94, Pohles95, Maus-

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Julius Wellhausen: Die israelitisch-jüdische Religion (1 906) , S. 1 -40 (2. Auflage 1 909, S. 1-41). Adolf Jülicher: Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicae­ num (325) , S. 41-128 (in der 2. Auflage unter dem Titel "Die Religion Jesu und die Anfange des Christentums bis zum Nicaenum" S. 42-1 3 1 ) . Adolf Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche, S . 1 29-1 60 (2. Auflage 1 909, S. 1 32-1 63) . Nathanael Bonwetsch: Griechisch-orthodoxes Christentum und Kirche in Mittelalter und Neuzeit, S. 1 6 1-1 82 (2. Auflage 1 909, S. 1 64-1 87) . Kar! Müller: Christentum und Kirche Westeuropas i m Mittelalter, S . 1 83-220 (2. Auf­ lage 1 909, S. 1 88-297) . Franz Xaver Funk: Katholisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, S. 22 1-252. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, S. 253-45 8 (2. Auflage 1 909, S . 431 -755) . Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, S . 46 1 -49 1 (2. Auflage 1 909, S. 1-36) KGA 1 0. Joseph Pohle: Christlich-katholische Dogmatik, S. 492-520 (2. Auflage 1 909, S. 37-65) . -+

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bachs96, Kriegs97, Herrmanns98, Seebergs99, Fabers 100 und Holtzmanns1 01 • Keine dieser Lieferungen konnte bisher als eigenständiges Bibliotheksexem­ plar nachgewiesen werden. Die Lieferungen las sen sich aber über die zeitge­

nössischen Bücherverzeichnisse erschließen. Ende Dezember 1 905 war der Bogendruck aller für den Gesamtband vorgesehenen Beiträge abgeschlossen. Es zeigte sich, daß der Band umfäng­ licher als erwartet werden würde, so daß der Verlag sich Anfang januar 1 906 dazu entschloß, den Gesamtband sowohl in einem einzigen Band als auch in zwei Teilbänden erscheinen zu lassen. Sie lagen im Februar 1 906 vor. 102 Der vollständige Band I/4 der "Kultur der Gegenwart", der sämtliche Lieferun­ gen beider Abteilungen enthielt, um faßte 752 Seiten. Der Preis betrug 1 8 M. für das in Leinwand gebundene Exemplar, 16 M. für das kartonierte Exem­ plar. Zugleich wurde dieser vollständige Band in den Teilbänden I/4, 1 und 1/4,2 produziert. Teilband I/4,1 umfaßte die Seiten 1 bis 458 und damit die Beiträge über die Geschichte der christlichen Religion, er kostete gebunden 1 1 M., kartoniert 9,60 M. Teilband I/4,2 enthielt die Seiten 459 bis 752 und damit die Beiträge über die Systematische christliche Theologie; gebunden kostete er 8,80 M., kartoniert 6,60 M. Für alle Bände bzw. Teilbände gab es einen entsprechend geprägten Originaleinband. Das Inhaltsverzeichnis blieb unverändert, wurde aber auf die beiden Teilbände verteilt (veränderter Sei­ tenumbruch) . Ü ber die Zahl der als I/4 bzw. als I/4,1 und 1/4,2 gedruckten Bände liegen keine Informationen vor. Für die zweite Auflage der vierten Abteilung 1 909 ergaben sich folgende Veränderungen gegenüber der ersten Auflage. Die Abteilung erschien nun von vornherein in zwei Halbbänden. Der erste Halbband ist betitelt "Die Geschichte der christlichen Religion". Er enthält die nur leicht überarbeite­ ten Beiträge Wellhausens, Jülichers, Harnacks und Bonwetschs sowie die stark überarbeiteten und im Umfang kräftig erweiterten Beiträge Müllers

96 97 98 99 1 00 1 01 1 02

Joseph Mausbach: Christlich-katholische Ethik, S. 521-548 (2. Auflage 1 909, S. 66-93) . Cornelius Krieg: Christlich-katholische Praktische Theologie, S. 549-582 (2. Auflage 1 909, S. 94-1 28) . Wilhelm Herrmann: Christlich-protestantische Dogmatik, S. 583-632 (2. Auflage 1 909, S. 1 29-1 80) . Reinhold Seeberg: Christlich-protestantische Ethik, S . 633-677 (2. Auflage 1 909, S. 1 81 -225) . Wilhelm Faber: Christlich-protestantische Praktische Theologie, S. 678-708 (2. Auf­ lage 1 909, S. 226-255) . Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben der Religion und der Religions­ wissenschaft, S. 709-729 (2. Auflage 1 909, S. 256-279) . Zu Detailfragen der Datierung siehe unten, S. 70-74.

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Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

und Troeltschs. I 03 Der Beitrag über "Katholisches Christentum und Kirche Westeuropas" wurde, nachdem Franz Xaver Funk 1 907 gestorben war, für die zweite Auflage von Albert Ehrhard verfaßt. l o4 Daß dabei der Umfang des katholischen Pendants zu Troeltschs Beitrag auf das Vierfache anwuchs, mag mit der Resonanz zusammenhängen, die Troeltschs Abhandlung schnell zuteil geworden war. I OS Dieser erste Halbband verzeichnet auf der Seite IV als Auslieferungsdatum den 1 0. Juni 1 909 und traf zwischen dem 23. und dem 29. Juni 1 909 in der Deutschen Bücherei ein.1 06 Der zweite Halb­ band unter dem Titel "Systematische christliche Religion" erschien nun von vornherein eigenständig mit separater Seitenzählung, enthielt die oben ge­ nannten Beiträge Troeltschs, Pohles, Mausbachs, Kriegs, Herrmanns, Seebergs, Fabers und Holtzmanns 107 in überarbeiteter Form und wurde am 3. Juni 1 909 ausgeliefert. Einzellieferungen der zweiten Auflage konnten bis­ her nicht nachgewiesen werden. Beide Halbbände der zweiten Auflage er­ schienen 1 922 noch einmal im zweiten Abdruck. 1 .2. Zur Entstehung von Troeltschs Abhandlung Ü ber Troeltschs Kontakte zu Hinneberg, über seine Beteiligung am Unter­ nehmen der "Kultur der Gegenwart" und über die Entstehung seiner Ab­ handlung haben sich bisher kaum Quellen erschließen lassen. Immerhin läßt sich sagen, daß Troeltsch zwar einerseits seit 1 897 Rezensionen für die "Deutsche Literaturzeitung" verfaßte108, daß er andererseits aber nicht von Anfang an als Autor der "Kultur der Gegenwart" vorgesehen war. Im Pro­ grammentwurf aus dem Sommer 1 902 wird sein Name noch nicht genannt.

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Vgl. dazu oben, Anmerkung 87-93. Franz Xaver Funk, 1 840-1 907, war katholischer Kirchenhistoriker in Tübingen und erwarb sich dort hohes Ansehen als ein später Hauptvertreter der katholischen Tü­ binger Schule. Albert Ehrhard, 1 862-1 940, war seit 1 903 katholischer Kirchenhisto­ riker in Straßburg und ab 1 920 in Bonn. Er gilt als Vertreter eines kulturfreundlichen Katholizismus. Sein Beitrag für die "Kultur der Gegenwart" richtet sich denn auch gegen eine einseitige Bindung des Katholizismus an die mittelalterliche Geisteskultur. Allerdings ist weder der Beitrag Funks noch der Beitrag Ehrhards in der Breite rezi­ piert worden, die für andere Beiträge jenes Bandes der "Kultur der Gegenwart" oder gar für den Beitrag Troeltschs zu verzeichnen ist. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels Nr. 26. 30. Juni 1 909, S. 782. Vgl. dazu oben Anmerkung 94-1 01 . Troeltschs erste Rezension dort war im Dezember 1 897 erschienen: Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander Campbell Fraser: Philosophy of Theism (1 897) KGA 2. -+

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Erst am 1 2. September 1 902 richtete Paul Hinneberg eine erste Anfrage an Troeltsch. Handschriftlich und unter Verzicht auf einen offiziellen Brief­ kopf wandte er sich aus der Berliner Behrenstraße 5, dem Redaktionssitz der "Deutschen Literaturzeitung", an Troeltsch, indem er ihm zunächst das Gesamtunternehmen der "Kultur der Gegenwart" vorstellte: "Erlauben Sie gütigst, Ihnen im folgenden von einem neuen großen wissenschaftlichen Un­ ternehmen Mitteilung zu machen, das mein Verleger B. G. Teubner und ich vorbereiten, und für das wir Ihre freundliche Anteilnahme erbitten möchten. In etwa anderthalb Jahren wird im Teubnerschen Verlage unter meiner Re­ daktion auf Anregung des Kultusministeriums eine auf 4 starke Bände be­ rechnete allgemeine wissenschaftliche Encyclopädie zu erscheinen beginnen. Das Werk, das die Aufgabe verfolgt, die einzelnen Gebiete der modernen Kultur nach ihren leitenden Ideen in großen Zügen kurz zu charakterisiren, will sich eine einzigartige Bedeutung innerhalb der wissenschaftlichen Lit­ teratur der Gegenwart dadurch sichern, daß die Darstellungen sämtlich der Feder der ersten Autoritäten der betr. Gebiete entstammen. Das in den bei­ folgenden Anlagen - dem Inhaltsverzeichnis und dem Vertrags formular - ge­ nauer erläuterte Programm hat zunächst einem engeren Kreise von Gönnern und Freunden der Firma Teubner vorgelegen und ist von ihnen ausnahmslos mit warmer Theilnahme begrüßt worden. So haben die Herren Wellhausen, Harnack, Jülicher, v. Wilamowitz, Diels, C. Justi, F. v. Bezold, Roethe, Lexis u. A. nicht nur bereitwillig st ihre Mitarbeit an dem Unternehmen zugesagt, sondern darüber hinaus noch in mehrfachen Konferenzen den Entwurf des Grundrisses wie die Auswahl der neben ihnen in Aussicht zu nehmenden Herren Mitarbeiter entscheidend bestimmen helfen, wodurch es möglich wurde, die erste, geisteswissenschaftliche Hälfte des Werkes im Aufbau schon jetzt zu einem gewissen Abschluß zu bringen."lo9 Hinneberg führte zur Unterstreichung seiner Bitte um Troeltschs Mitarbeit sodann eine Empfehlung durch Adolf Harnack ins Feld: "Darf ich Sie, hoch­ verehrter Herr Professor, zugleich im Namen unserer Herren Berater, spez. Harnack, bitten, für dieses Werk uns die Ehre Ihrer Mitarbeiterschaft zu schenken und, unter den Umfassungs- und Ablieferungsbedingungen des Vertrags formulars, die wir nach Möglichkeit natürlich noch etwaigen Wün­ schen anzupassen bereit wären, den Artikel ,Die moderne wissenschaftliche Theologie in Methode und Aufgaben' (Inhaltsverzeichnis S. 2) zu überneh­ men? Wie wir bisher von keiner noch so exklusiven Stelle eine Ablehnung erfahren haben, so möchten Harnack und ich ganz besonders gern auch auf Ihre gütige Zusage hoffen. Ich hege diesen Wunsch um so sehnlicher, als Nie-

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Brief Paul Hinnebergs an Ernst Troeltsch, 1 2. September 1 902, Privatbesitz.

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mand in Deutschland, wie mir Harnack erklärte, den Gegenstand mit größe­ rer wissenschaftlicher Meisterschaft zu erschöpfen vermöchte als Sie." 1 1 0 Schließlich versuchte Hinneberg auch, Troeltsch die Mitarbeit unter wirt­ schaftlichen Gesichtspunkten schmackhaft zu machen: "Der buchhändleri­ sche Erfolg des Werkes wird nach der Ueberzeugung des Verlegers zweifel­ los ein außergewöhnlich bedeutender sein, ganz besonders was den Absatz der Einzel-Abteilungen (Theologie, Litteratur, Rechtswissenschaft usf.) an­ langt. Und da auch bei diesem ebenso wie bei dem Gesamtwerk die Herren Autoren für jede neue Auflage stets von Neuem wieder das Bogen-Honorar von 200 M. erhalten, so darf der Verleger wohl mit Recht behaupten, daß diese Bewertung wissenschaftlicher Arbeit das in Deutschland übliche Maaß weit übersteigt und in gebührendem Verhältnis zu der hohen Bedeutung des Unternehmens steht."1 1 1 Troeltsch war damit also einstweilen vorgesehen für den zweiten von 1 4 Teilbeiträgen in der Abteilung "Religion" der ersten Hälfte des geistes­ wissenschaftlichen Teiles. Dieser Beitrag sollte, neben einem Beitrag über "Mythos und Religion", für den Wilamowitz vorgesehen war, die systemati­ sche Grundlage bilden für die elf Darstellungen der historisch positiven Re­ ligionsbildungen von der ägyptischen Mythologie bis hin zum vorletzten Abschnitt mit dem Titel: "Christentum und Kirche in ihren ferneren histo­ rischen Wandlungen. 1 . Mittelalter. 2. Neuere Zeit. a) Katholizismus. b) Pro­ testantismus." Als Abschluß der Religionsabteilung war ein Ausblick auf die "Gegenwarts- und Zukunftsaussichten des Christentums" aus der Feder Harnacks vorgesehen. Für die Abschnitte über das Christentum im Mittelal­ ter (Nr. 1) und den neuzeitlichen Protestantismus (Nr. 2 a) war im Sommer 1 902 noch Karl Müller vorgesehen, für den Abschnitt über den Katholizis­ mus der Neuzeit Franz Xaver Funk. Als Autor für den Troeltsch angebote­ nen Beitrag verzeichnet die Ü bersicht aus dem Sommer 1 902 noch Adolf Harnack. Hinneberg hatte seiner Anfrage sogleich ein Vertrags formular für Troeltsch beigelegt, das Troeltsch am 1 8. September 1 902 unterzeichnete. 1 1 2 Damit verpflichtet er sich, die Bearbeitung des fraglichen Abschnittes "Die moderne wissenschaftliche Theologie in Methode und Aufgabe" auf ca. 32 Seiten zu übernehmen und ein druckfertiges Manuskript bis zum voraus­ sichtlichen Termin der Drucklegung, dem 1 . Juli 1 903, abzuliefern - bei ver1 10 111 112

Ebd. Ebd. Vertrag zwischen der Verlagsbuchhandlung Teubner und Ernst Troeltsch über die Bearbeitung des Abschnittes "Die moderne wissenschaftliche Theologie in Methode und Aufgabe", Privatbesitz.

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lagsseitiger Verzögerung auch zu einem späteren Zeitpunkt, der dem Verfas­ ser ein halbes Jahr vor dem Abgabetermin mitgeteilt werden sollte. Ebenfalls am 1 8. September 1 902, dem Tag von Troeltschs Vertrags unter­ zeichnung für "Die moderne wissenschaftliche Theologie in Methode und Aufgabe", wandte Hinneberg sich brieflich erneut an Troeltsch. Er bat ihn um die Ü bernahme eines weiteren Artikels, wobei er wiederum die Autorität Harnacks in einer sanft bezwingenden Weise ins Feld führte. Hinneberg schrieb aus Berlin, wiederum von Hand und ohne Benutzung eines Brief­ kopfes: "Ich hatte gestern mit Harnack nach seiner Heimkehr die erste Kon­ ferenz wegen der Abteilung ,Theologie' in unserem Enzyklopädie-Werke. Er war sehr erfreut, den systematischen Abschnitt in Ihren Händen zu wissen, richtet nun jetzt aber durch mich noch eine weitere Bitte an Sie, deren gütige Erfüllung ihm für das Gelingen unseres Planes noch bedeutsamer erscheint. Ursprünglich war in unserer Hauptkonferenz für die Darstellung der Kir­ chengeschichte der Neuzeit Karl Müller in Vorschlag gebracht worden. Har­ nack meinte nun gestern, Müller werde die mannigfachen Berührungen der neueren Kirchen- und Dogmengeschichte mit der Philosophie, die mit dem Ausgange des Mittelalters und der Entstehung der Reformation an Kompli­ kation wie an Bedeutung immer mehr zunehme, in ihrer ganzen Tragweite nicht genügend herausbringen, weil ihm eine tiefere Kenntnis der Philoso­ phie der letzten Jahrhunderte fehle." I 13 In diesem Satz gab Hinneberg Har­ nacks Formulierung vom nucleus der später aus Troeltschs Feder stammen­ den Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" wieder. Hinneberg fuhr fort im Bericht des Votums von Harnack: "Der Ein­ zige, der dies Problem adäquat behandeln könne, auch besser als er, H., sel­ ber, seien Sie, und er läßt Sie deshalb herzlichst bitten, ein Gesuch, dem ich mich natürlich aus innerster Seele anschließe, doch freundlichst auch diesen Abschnitt zu übernehmen, der (entsprechend der von ihm gewünschten Umnennung des vorhergehenden Artikels) definitiv heißen soll: Christen­ tum und Kirche Westeuropas vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart b) Protestantismus. " 1 1 4 Hinneberg bot Troeltsch umgehend die Erweiterung des Umfanges an, indem er den ursprünglich vorgesehenen, knappen Raum mit ökumenisch­ diplomatischen Rücksichten erklärt, über die Troeltsch sich ohne Bedenken hinwegsetzen könne: "Wenn Sie, hochverehrter Herr Professor, statt der ur­ sprünglich dafür vorgesehenen zwei Bogen deren drei beanspruchen, so finde ich das begreiflich. Denn in diesem Artikel ist natürlich unendlich viel

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Brief Paul Hinnebergs an Ernst Troeltsch, 1 8. September 1 902, Privatbesitz. Ebd.

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Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

mehr zu berücksichtigen, als in dem über den Katholizismus der Neuzeit. Wir haben nur im Inhaltsverzeichnis die Konformität des Umfanges ge­ wählt, damit Funk nicht gleich nach der Lektüre mit Paritäts schmerzen her­ ausrückt. Ich erlaube mir deshalb bereits im Vertrag den Umfang auf 3 Bogen zu bemessen. "1 1 5 Der dem Schreiben Hinnebergs beigelegte Vertrag datierte auf den 29. September 1 902. 1 1 6 Darüber hinaus unterzeichnete Troeltsch am 2 1 . Dezember 1 902 den Ver­ trag über die einen Bogen umfassende Bearbeitung des Abschnittes "Wesen der Religion und ihre Stellung im Rahmen der übrigen Kulturfaktoren", der für den "Systematische christliche Theologie" betitelten Teil des Gesamt­ bandes (feil I, Abteilung IV, 2. Hälfte der "Kultur der Gegenwart'') vorge­ sehen war und dort auch 1 906 erschien.1 1 7 Zu diesem Beitrag hatte Hinne­ berg in zwei Briefen, Ende August 1 9031 1 8 und am 20. Dezember 1 9031 19, Ergänzungs- und Ausweitungsvorschläge unterbreitet. Am 3. Oktober 1 904 meldete Giesecke brieflich an Hinneberg, daß "in absehbarer Zeit mit dem Druck" begonnen werden könne, nahm das Er­ scheinen des Bandes 1/4 für Mitte Oktober 1 904 in Aussicht und bat Hin­ neberg infolgedessen, Troeltsch auf den Abgabetermin im Januar 1 905 "nochmals besonders festzulegen"1 2o. In einem undatierten Brief Hinne­ bergs an Troeltsch, vermutlich aus dem Oktober 1 90412 1 , erlaubte Hinne­ berg sich, auf Troeltschs "beide Beiträge für die Kultur der Gegenwart" zu­ rückzukommen und erbat deren Zusendung "wenn möglich im Laufe des Febr.".122 Ende Dezember 1 904 hatte Troeltsch das Manuskript dem Verlag 115 1 16

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Ebd. Vertrag zwischen der Verlagsbuchhandlung Teubner und Ernst Troeltsch über die Bearbeitung des Abschnittes "Christentum und Kirche Westeuropas vom Beginn der neueren Zeit bis zur Gegenwart. b) Protestantismus", Privatbesitz. Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1 906) -- KGA 1 0. Bisher nicht aufgefunden. Vgl. aber die Erwähnung in dem in der folgenden Anmer­ kung genannten Brief, in dem Hinneberg einleitend festhält, daß Troeltsch auf seinen "ihm Ende August nach Wengen gesandten Brief' und die darin enthaltenen Ä nde­ rungsvorschläge nicht reagiert habe. Brief Paul Hinnebergs an Ernst Troeltsch, 20. Dezember 1 903, Privatbesitz. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 3. Oktober 1 904, Archiv der Berlin-Bran­ denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Die Datierung ergibt sich daraus, daß Hinneberg Troeltschs unmittelbar zurückliegende Rückkehr von der Amerika-Reise anspricht. Troeltsch war am 4. Oktober 1 904 aus New York nach Bremen aufgebrochen. Brief Paul Hinnebergs an Ernst Troeltsch, undatiert [vermutlich Oktober 1 904] , Pri­ vatbesitz.

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noch nicht eingereicht. 1 23 Wann Troeltsch das - nicht überlieferte - Manu­ skript von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" abge­ schlossen und an Hinneberg abgeliefert hat, läßt sich nicht ermitteln. Fest steht lediglich, daß dieses Manuskript spätestens Anfang April 1 905 dem Verlag vorgelegen haben muß, nachdem die Drucklegung von Troeltschs Abhandlung im Laufe des April 1 905 erfolgte, wie im folgenden Abschnitt dargestellt werden soll.

2. Textgenese und Drucklegung Allerdings lassen sich über die Geschichte der Textgenese und der Druckle­ gung nur spärliche Angaben machen. So wenig wie ein Manuskript Troeltschs sind bisher Druck- oder Korrekturfahnen aufgefunden worden. Auch ein Handexemplar Troeltschs ist nicht überliefert. All diese Unterlagen fehlen für die erste, aber auch für die zweite Auflage und für den zweiten Abdruck der zweiten Auflage. Es läßt sich lediglich rekonstruieren, daß die Drucklegung im Laufe des April 1 905 erfolgte. Am 1 3. April waren die Druckarbeiten immerhin soweit fortgeschritten, daß der Umfang der Druckfassung von Troeltschs Beitrag "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" feststand. An diesem Tag informierte Alfred Giesecke auf einer Postkarte Hinneberg kurz: "Die Probestücke haben Sie inzw. erhalten; Troeltsch (9 Bogen!) Paulsen hier u. Norden in Dresden sind im Gange!"124 Am 1 7. April nahm Giesecke noch einmal Bezug auf den Umstand, daß Troeltschs Abhandlung weit umfäng­ licher als erwartet ausgefallen war: "Der Umfang von Troeltsch ist von die­ sem eben stark unterschätzt worden; ich glaube nicht, dass sich meine Druk­ kerei mit der Berechnung geirrt hat."1 25

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Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 28. Dezember 1 904, Archiv der Berlin­ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzei­ tung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906: ,,[ . ] ich hoffte und erwartete, auch TrOltsch würde bald kommen [ . . .]" H.i.o. Postkarte Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 3. April 1 905, Archiv der Berlin­ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzei­ tung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 7 . April 1 905, Archiv der Berlin-Bran­ denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. . .

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Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

Noch im Juli 1 905 gingen Korrekturen hin und her. Am 1 0. Juli riet Alfred Giesecke davon ab, der von Troeltsch offensichtlich vorgeschlagenen Einfü­ gung eines weiteren Absatzes zu folgen. 1 26 Ab dem August 1 905 ist das Erscheinen der Abhandlung dann von Troeltsch und seinen Gesprächspartnern erwartet worden. So begründet Max Weber in einem Brief vom 23. August 1 905 an Georg von Below seinen Vorschlag, Troeltsch den Vortrag über die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt auf dem IX. Deutschen Historikertag in Stuttgart 1 906 anzutragen, mit dessen Kompetenz als "theologische [r] Fachmann", die sich in "Tr.'s vortrefflicher Leistung (bei Hinneberg) " zei­ gen werde. 1 27 Auch Troeltsch selbst hatte offensichtlich allen Anlaß, das Er­ scheinen zu erwarten. Am 1 2. Oktober hatte er an Friedrich Meinecke ge­ schrieben: "Die [ . ] Frage [nach der Bedeutung des Protestantismus für das Entstehen der Aufklärung und der modernen Kultur] glaube ich nun in mei­ ner Darstellung des Protestantismus erledigt zu haben, die in der ,Cultur der Gegenwart' j eden Augenblick erscheinen muß."128 Und zehn Tage später, am 22. Oktober 1 905, berichtete Troeltsch Friedrich von Hügel, er habe "so­ eben in der ,Kultur der Gegenwart' den Protestantismus dargestellt"1 29. Es folgt die Ankündigung, ihm die Arbeit "seinerzeit schicken" zu wollen. . .

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Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 0. Juli 1 905, Archiv der Berlin-Branden­ burgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906: "Ist denn wirklich die Einfügung des neuen Absatzes auf Seite 308, Zeile 4 von oben un­ bedingt nötig? Durch derartige neue Umbrechungen kommen eben die schrecklichen Druckfehler hinein, das ist gar nicht zu vermeiden. Vielleicht können Sie doch von dem Absatz hier absehen." Die entsprechende Seite der Druckfassung enthält über­ haupt keinen Absatzwechsel, was die Vermutung nahelegt, daß die von Troeltsch ge­ wünschte Ergänzung nicht vorgenommen worden ist. 1 27 Brief Max Webers an Georg von Below, 23. August 1 905, Geheimes Staats archiv Preu­ ßischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Bd. 4, BI. 1 30. Vgl. KGA 8, S. 1 6 f., S. 1 83 f. Schon im zweiten Teil seiner Studie "Die Protestantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus", die im Juni 1 905 ausgeliefert wurde, hatte Weber vorwegnehmend auf Troeltschs Abhandlung Bezug genommen - vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus (Band 2 1 , 1 905) , S. 4 und 1 4. 1 2 8 Brief Ernst Troeltschs an Friedrich Meinecke, 1 2. Oktober 1 905, Geheimes Staats­ archiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlaß Friedrich Meinecke, Nr. 324 KGA 1 8/1 9. Max Weber hatte das Erscheinen der Abhandlung schon Ende Au­ gust 1 905 erwarten können, wie aus einem Brief an Georg von Below hervorgeht vgl. dazu die Einleitung in KGA 8, S. 1 6 f. 1 2 9 Brief Ernst Troeltschs an Friedrich von Hügel, 22. Oktober 1 905, in: Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1 90 1 -1 923 (1 974) , S. 74 --+ KGA 1 8/ 1 9 . --+

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Troeltsch hatte guten Grund zu der Erwartung, daß sein Beitrag bald erscheinen würde. Denn während das Erscheinen des Gesamtbandes 1/4 sich bis in den Februar 1 906 hineinzog, waren Teillieferungen dieses Bandes auch schon früher herausgegangen. Das faktische Erscheinungsdatum von Troeltschs Abhandlung zu fixieren, stellt darum ein eigenes und schwer überschaubares Problem dar, weil sich das Erscheinen der Beiträge des Ban­ des in Etappen vollzog. Sonderdrucke, Lieferungen und der Gesamtband 1/4 bzw. 1/4,1 der "Kultur der Gegenwart" weisen verschiedene Daten aus. Im folgenden soll zunächst die Drucklegungsgeschichte des Gesamtbandes bis in den Februar 1 906 weiter verfolgt werden. Im Anschluß daran werden die verschiedenen Lieferungen und ihre Erscheinungsdaten verfolgt, und es soll das Problem des Erscheinungsdatums von Troeltschs Beitrag diskutiert werden. Die Fertigstellung des Gesamtbandes zog sich, wie gesagt, bis in den Februar 1 906 hinein. Im Verlag hatte man erst nach Eingang des letzten Beitrages, das heißt: nach dem 27. Oktober 1 905, "mit Hochdruck an der Fertigstellung des Theologie-Bandes"1 30 zu arbeiten beginnen können. Mitte November 1 905 wurde "gerade noch nicht" am Bogen 3 1 gedruckt,131 Mitte Dezember waren die Druckarbeiten an den Bogen 38Yz-40 im Gange1 32. Ende Dezember 1 905 war der Bogendruck aller für den Gesamtband vorge­ sehenen Beiträge, die zuvor teilweise schon in Lieferungen herausgegeben worden waren,133 abgeschlossen. Es zeigte sich, daß der Band umfänglicher als erwartet werden würde, so daß der Verlagsmitarbeiter Richard Quelle Hinneberg am 2. Januar 1 906 den Vorschlag unterbreitete, den Gesamtband "sowohl in einem Bande, wie auch in zwei Bänden zur Ausgabe gelangen zu lassen"1 34. Seinen Teilungsvorschlägen wurde entsprochen. Der vollständige 1 30

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Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 27. Oktober 1 905, Archiv der Berlin-Bran­ denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 1 5 . November 1 905, Archiv der Berlin­ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzei­ tung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Brief F. Paetzels an Paul Hinneberg, 1 6. Dezember 1 905, Archiv der Berlin-Branden­ burgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 904-1 906. Zur Drucklegungsgeschichte von Troeltschs Beitrag und den Schwierigkeiten ihrer Datierung vgl. unten, S. 71-74. Brief Richard Quelles an Paul Hinneberg, 2. Januar 1 906, Archiv der Berlin-Branden­ burgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 902-1 904.

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Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

Band 1/4 der "Kultur der Gegenwart", der sämtliche Lieferungen beider Abteilungen enthielt, um faßte 752 Seiten. Zugleich wurde dieser vollstän­ dige Band auch in den Teilbänden 1/4,1 und 1/4,2 produziert. Teilband 1/4,1 umfaßte die Seiten 1 bis 458 und damit die Beiträge über die Ge­ schichte der christlichen Religion, Teilband 1/4,2 enthielt die Seiten 459 bis 752 und damit die Beiträge über die Systematische christliche Theologie. Die Drucklegung und buchbinderische Fertigstellung der Bände zog sich indessen noch einmal hin. Die von Alfred Giesecke dringend erwartete Ver­ sendung von Rezensionsexemplaren mußte er am 1 0. Januar 1 906 noch ein­ mal zurückstellen. 1 3s Am 7. Februar bedankte Friedrich Paulsen sich bei Hinneberg brieflich für das Geschenk des Bandes,1 36 es ist freilich nicht sicher zu entscheiden, ob ihm der Gesamtband 1/4 oder der Teilband 1/4,1 zugegangen war. Der Umstand, daß Paulsen schreibt, er freue sich auf die Lektüre von "Wellhausen, Jülicher, Müller", deren Beiträge in der ersten Hälfte des Bandes erschienen waren, spricht dafür, daß er den Teilband in Händen hielt. Der Eingang des Gesamtbandes 1/4, der die eingedruckte Jah­ reszahl 1 906 trug, wurde im Wöchentlichen Verzeichnis der Neuerscheinun­ gen am 8. Februar gemeldet. 1 37 Auch der Teilband 1/4,1 kann, weil der Plan, Teile der Auflage aus buchbinderischen Gründen in zwei Teilbänden zu produzieren, ja erst aus dem Januar 1 906 stammte, erst in diesem Zeitraum ausgeliefert worden sein. Die eingesehenen Bibliotheksexemplare tragen die Jahreszahl 1 906. Einige Exemplare des Teilbandes 1/4, 1 dagegen müssen auch die Jahreszahl 1 905 getragen haben. Das ließ sich zwar autoptisch nicht verifizieren, wird aber nahegelegt durch die Titelaufnahmen in zeitge­ nössischen Neuerscheinungskatalogen: "Hinrichs' Fünfjahrs-Katalog" und "Kaysers Bücher-Lexikon" etwa scheinen solche Exemplare vorgelegen zu haben. 1 38 Es ist anzunehmen, daß die Buchbinderei hier Titelblätter verwen­ dete, die ursprünglich für die zweite Lieferung des ersten Teils (s. dazu unten, S. 7 1 ) angefertigt worden waren. Der Versand der Bände scheint Ende Fe1 35

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Brief Alfred Gieseckes an Paul Hinneberg, 10. Januar 1 906, Archiv der Berlin-Bran­ denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 902-1 904. Brief Friedrich Paulsens an Paul Hinneberg, 7. Februar 1 906, Archiv der Berlin-Bran­ denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 8: Redaktion: Schriftwechsel 1 902-1 909, N-Q. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels. Nr. 6. 8. Februar 1 909, S. 1 1 1 . Vgl. Hinrichs' Fünfjahrs-Katalog der im deutschen Buchhandel erschienenen Bü­ cher, 1 1 (1 906) , Erster Teil: Titelverzeichnis A-K, S. 8 1 5 . - Christian Gottlob Kay­ ser's Vollständiges Bücher-Lexikon 33 (1 907) , S. 1 21 8.

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bruar abgeschlossen gewesen zu sein. So berichtete Richard Quelle am 27. Februar 1 906 an Hinneberg: "Die Versendung des Theologenbandes ist zum grösseren Teil schon erfolgt" . 1 39 Doch das betraf nur den Gesamtband. Lieferungen und Sonderabdrucke waren teils schon früher herausgegangen. Dies muß hier genauer dargelegt werden, weil es das Erscheinen von Troeltschs Abhandlung betrifft. Die erste Lieferung der ersten Hälfte (siehe oben, S. 70) des Gesamt­ bandes umfaßte die ersten 1 5 Bögen des Gesamtwerkes, das heißt die Seiten 1 -240, und endete damit mitten im Beitrag Franz Xaver Funks. Diese Liefe­ rung ist auf einer erhalten gebliebenen Umschlaginnenseite der Interimsbro­ schur in das Jahr 1 905 datiert und im täglich erscheinenden "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" vom 2. Oktober 1 905 als erschienen gemel­ det.1 40 Die zweite Lieferung um faßte die folgenden 1 5 Bögen des Gesamt­ werkes (S. 241-480) . Diese Lieferung enthielt mithin den Schluß des Beitra­ ges von Funk, sodann den Beitrag Troeltschs zur Gänze und einen kleinen Teil der zweiten Hälfte des Bandes 1/4 mit den ersten Seiten von Troeltschs zweitem Beitrag in Band 1/4 der "Kultur der Gegenwart": "Wesen der Reli­ gion und Religionswissenschaft". Für diese zweite Lieferung haben sich naheliegenderweise keine erhaltenen Interimsbroschuren mit einem even­ tuellen Datumsaufdruck auffinden lassen. Das Börsenblatt meldet diese Lie­ ferung am 2. Januar 1 906 als erschienen und datiert diese Lieferung in das Jahr 1 905.141 Auch das Wöchentliche Verzeichnis der Neuerscheinungen meldet diese Lieferung am 1 1 . Januar 1 906 und datiert die Lieferung ins Jahr 1 905.142 Dies legt nahe, daß diese Auslieferung in den letzten Tagen des Jah­ res 1 905 erfolgt ist. Im Gesamtband 1/4,1 der "Kultur der Gegenwart", in dem die genannten Lieferungen enthalten sind, ist das Jahr 1 906 auf dem Umschlag angegeben. Einige der aufgefundenen Bibliotheksexemplare des Gesamtbandes, aber auch einige Lieferungen enthalten auf der Umschlaginnenseite den gedruck­ ten Hinweis auf ein amerikanisches Copyright. Es diente dem Urheber­ rechtsschutz auf dem amerikanischen Markt: "Privilege of Copyright in the United States, reserved under the Act approved March 3, 1 905, by 1 39

1 40 1 41 1 42

Brief Richard Quelles an Paul Hinneberg, 27. Februar 1 906, Archiv der Berlin-Bran­ denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzeitung. Nr. 7: Prof. Dr. Paul Hinneberg - Schriftwechsel mit dem Verlag Teubner 1 902-1 904. Vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 72 (1 905) , Nr. 229, 2. Oktober 1 905, S. 8703. Vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 73 (1 906), Nr. 1 , 2. Januar 1 906, S. 6. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels. Nr. 2. Ausgegeben zu Leipzig am 1 1 . Januar 1 906, S. 23.

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B. G. Teubner Leipzig." Diesem Hinweis vorangestellt ist regelmäßig ein Da­ tumshinweis. Er tritt in zwei Versionen auf: "Published December 20, 1 905" und "Published January 1 0, 1 906". Nun war der Urheberrechtsschutz von Büchern aus dem Deutschen Reich auf dem amerikanischen Markt gebun­ den an die Bedingung, daß mindestens zwei Exemplare in den USA gedruckt und binnen eines Jahres bei der Library of Congress abgeliefert worden wa­ ren. 143 Die eingetragenen Datierungen lassen also nicht auf faktische Publi­ kationstermine schließen, sondern stehen im Zusammenhang mit diesen Fristen; sie legen aber nahe, daß die entsprechenden Drucke vor den einge­ tragenen Daten, also vor dem 1 0. Januar 1 906 bzw. vor dem 20. Dezember 1 905 hergestellt worden sind. Schließlich wurden vertragsgemäß auch Sonderdrucke von Troeltschs Beitrag hergestellt. Ein in der Bibliothek Max Webers aufgefundener Son­ derdruck, der die Seiten 253-458 des Gesamtbandes um faßt, ist auf der Um­ schlagvorderseite bezeichnet als "Sonderabdruck - im Buchhandel nicht er­ hältlich" und trägt die Jahreszahl 1 905.144 Auf der Umschlaginnenseite findet sich auch hier die Bemerkung über das amerikanische Copyright, in diesem Falle datiert auf den 20. Dezember 1 905. Ein solcher Sonderdruck scheint auch Walther Köhler vorgelegen zu haben, der das Datierungsproblem in einer Sammelrezension mit folgender Bemerkung erwähnt: "Der S.-A. trägt die Jahreszahl 1 905, der ganze Bd. 1 906."145 Die zweite Lieferung des Gesamtbandes mit den Seiten 240-480, die auf den Seiten 253-480 Troeltschs Beitrag enthielt, oder aber der Sonderdruck müssen unmittelbar vor Weihnachten 1 905, wahrscheinlich am 22. Dezem­ ber 1 905, von Hinneberg an ausgewählte Empfänger verschickt worden sein. So dankte Gustav Schmoller Hinneberg am 25. Dezember 1 905: "Haben Sie besten Dank für Ihre Zeilen v. 22 c [urrentis anni] u. Ihre Zusendung von Troeltschs Beitrag Ihres großen Werkes."146 Am 24. Dezember 1 905 hatte auch Friedrich Paulsen Hinneberg "für die frd!. Zusendung des Troeltsch"1 47 1 43 1 44

1 45 1 46

1 47

Ausführlich Eckhardt Fuchs: Schriftentausch, Copyright und Dokumentation (1 997) . Max Webers Handexemplar wird von Arbeitsstelle und Archiv der Max Weber-Ge­ samtausgabe (Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München) aufbewahrt. Walther Köhler: Kirchengeschichte vom Beginn der Reformation bis 1 648 (1 906) , S. 508. Briefkarte Gustav Schmollers an Paul Hinneberg, 25. Dezember 1 905, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Litera­ turzeitung. Nr. 5: Redaktion: Schriftwechsel 1 902-1 9 1 0, Sch-Sp. Brief Friedrich Paulsens an Paul Hinneberg, 24. Dezember 1 905, Archiv der Berlin­ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Deutsche Literaturzei-

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seinen Dank gesagt. Troeltsch selbst müssen spätestens am 2. Januar 1 906 Lieferungen oder Exemplare der vertragsgemäß vereinbarten zwanzig Son­ derdrucke der Abhandlung vorgelegen haben, wie aus einem an diesem Tag geschriebenen Brief Troeltschs an earl Neumann hervorgeht. 148 Insofern hat die Vermutung, daß Troeltschs Abhandlung (entgegen der Angabe des Gesamtbandes) schon Ende 1 905 Verbreitung fand, einiges Recht für sich. Es handelte sich dabei allerdings keinesfalls um ein unge­ wöhnliches Vorkommnis. Die Versendung von Separatdrucken oder Einzel­ lieferungen, Vorab- oder Fortdruckexemplaren muß nicht mit der Verlags­ auslieferung der für den Buchhandel bestimmten Auflage zusammenfallen. Aus der deutschen Wissenschaftsgeschichte des 1 9. und 20. Jahrhunderts lassen sich mehrere prominente Parallelen heranziehen. So erschien der erste Band von Adolf Harnacks "Lehrbuch der Dogmengeschichte", auf dem Titelblatt datiert ins Jahr 1 886, nachweislich schon Ende Dezember 1 885. Umgekehrt wurde Max Webers Vortrag "Wissenschaft als Beruf', der ver­ mutlich bereits im Frühjahr 1 9 1 9 vorlag, vom Verlag erst im Sommer ausge­ liefert, da sich der Druck von "Politik als Beruf' aus technischen Gründen verzögerte und beide Broschüren gleichzeitig auf den Markt gebracht wer­ den sollten. Im "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" wurden beide Titel erst am 1 3. Oktober 1 9 1 9 in der Rubrik "Erschienene Neuigkeiten des deutschen Buchhandels" aufgeführt. 149 So kann darüber gestritten werden, wie Troeltschs Abhandlung zu datie­ ren ist. Einerseits ist auf dem Titelblatt des Bandes 1/4,1 der "Kultur der Ge­ genwart" das Jahr 1 906 vermerkt, in dem dieser Band vollständig vorlag; an­ dererseits haben die längerwierigen Verbreitungsprozesse des Teils, in dem Troeltschs Abhandlung enthalten ist, schon im Dezember 1 905 begonnen, und auch die Lieferung, die Troeltschs Beitrag enthielt, ist auf der Interims­ broschur in das Jahr 1 905 datiert. Im vorliegenden Fall ist die editorische Entscheidung getroffen worden, es bei der Datierung ins Jahr 1 906 zu be­ lassen. Dafür sind folgende Gründe ausschlaggebend: Auf den Drucktitel­ blättern des vollständigen Bandes findet sich die Jahresangabe 1 906. Dem entspricht, daß der vollständige Band - als Gesamtband wie auch auf zwei Teilbände verteilt - auch erst im Januar 1 906 beim Buchbinder war und im

1 48

tung. Nr. 8: Redaktion: Schriftwechsel 1 902-1 909, N-Q. Paulsen fährt fort: "Ich freue mich auf den ganzen Band und gratuliere Ihnen, zu so trefflicher Sache Gevat­ ter zu stehen." Für den Eingang des vollständigen Bandes dankte Paulsen dann am 7. Februar 1 906, s. o. Anmerkung 1 36. Brief Ernst Troeltschs an Carl Neumann, 2. Januar 1 906, UB Heidelberg, Heid.Hs. 379 1 , Nr. 1 1 , Nachlaß Carl Neumann KGA 1 8/ 1 9 . Max Weber: Wissenschaft als Beruf 1 9 1 7/1 9 1 9. Politik als Beruf 1 9 1 9 (1 992) , S . 65 f. -+

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Februar 1 906 ausgeliefert wurde. Die Verbreitung von Troeltschs Beitrag in Buchform begann also erst Anfang 1 906. Die Lieferung mit Troeltschs Beitrag wurde etwas früher verbreitet, wahrscheinlich am 22. Dezember 1 905, reicht damit aber nur unwesentlich in das Jahr 1 905 hinein. Ein weite­ rer Grund für die Beibehaltung der Datierung in das Jahr 1 906 liegt darin, daß sowohl Hinneberg in der zweiten Auflage des Bandes Ij4150 als auch Troeltsch selbst in allen späteren Verweisen auf seinen eigenen Text stets diese Datierung wählten. Unmittelbar nach dem Erscheinen der ersten Auflage von "Protestanti­ sches Christentum und Kirche in der Neuzeit" hat Troeltsch sich mit Plänen für die Umarbeitung und Erweiterung seines Textes getragen. Dem Freund Carl Neumann gegenüber äußerte er sich in dem bereits erwähnten Brief im Januar 1 906 über die Abhandlung wie folgt: "Es ist der Ertrag langer Stu­ dien, freilich noch sehr ergänzungsbedürftig, u [nd] schon möchte ich am liebsten alles umschreiben. Aber es ist doch, wie ich glaube, ein begründetes u[nd] detaillirtes Programm für kirchen-, religions- und kulturgeschichtliche Forschungen über die Neuzeit, von dem ich lebhaft wünschte, daß es ihm gelingen möge die Forschung zu beeinflussen".1 5 1 Wann Troeltsch die Um­ arbeitungen für die Zweitauflage vorgenommen und wann er sie abgeschlos­ sen hat, läßt sich aufgrund der Quellenlage nicht sicher sagen. Im Dezember 1 907 plante Troeltsch, ungefähr Ende April 1 908 mit den Arbeiten beginnen zu wollen.1 52 Die Zweitauflage des entsprechenden Bandes "Geschichte der christlichen Religion" (feil I, Abteilung IV, 1 . Hälfte der "Kultur der Gegen­ wart") und mit ihm die Zweitauflage von Troeltschs Abhandlung "Prote­ stantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" wurde vom Verlag Teubner am 1 0. Juni 1 909 ausgeliefert. 1 53 Hier muß offen bleiben, wann se­ parate Lieferungen oder Sonderdrucke vorlagen - die Sonderdrucke sind in das Jahr 1 909 datiert, wie wiederum aus einem in der Bibliothek Max Webers aufgetauchten Exemplar hervorgeht.

I SO

1 51 1 52 1 53

Paul Hinneberg: Vorwort, in: Die christliche Religion mit Einschluss der israelitisch­ jüdischen Religion, 2., stark vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin, Leipzig: B. G. Teubner, 1 909, S. V (= Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1 , Abteilung 4, 1 . Hälfte: Geschichte der christ­ lichen Religion) . Brief Ernst Troeltschs an Carl Neumann, 2. Januar 1 906, UB Heidelberg, Heid.Hs. 379 1 , Nr. 1 1 , Nachlaß Carl Neumann ...... KGA 1 8/ 1 9 . Brief Ernst Troeltschs a n Oskar Siebeck, 2 9 . Dezember 1 907, Verlagsarchiv J . C. B. Mohr (paul Siebeck), Tübingen ...... KGA 1 8/19. Siehe oben, S. 62.

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Schließlich muß einstweilen offen bleiben, wann Troeltsch den Literatur­ nachtrag für den zweiten Abdruck der zweiten Auflage abfaßte. Für diesen zweiten Abdruck der zweiten Auflage haben sich bislang keine Sonder­ drucke auffinden lassen. Wie alle innerhalb der "Kultur der Gegenwart" erschienenen Texte, so sind auch die drei Auflagen von Troeltschs Abhandlung mit Randmargina­ lien versehen. In kleiner Type auf den breiten Schreibrand gesetzt und vermutlich aus Troeltschs eigener Feder, formulieren sie, stets nach etwa zwei bis drei Seiten, knapp die Themen oder Thesen des jeweiligen Unterab­ schnittes. Die Randmarginalien der zweiten Auflage wurden gegenüber der ersten Auflage überarbeitet und den Modifikationen von Inhalt und Umfang angepaßt, sie wurden jedoch für die dritte Auflage so wenig wie deren Text verändert. Die vorliegende Edition dokumentiert die Form der Auflage von 1 922 und weist die Veränderungen gegenüber der ersten Auflage von 1 906 als Varianten aus. Alle drei Auflagen des Bandes lj4 enthielten ein redaktionelles Gesamt­ inhaltsverzeichnis beider Halbbände und ein redaktionelles Gesamtregister der bei den Halbbände. In das Inhaltsverzeichnis war die Gliederung der Abhandlung Troeltschs integriert, das Register wies einige Begriffe und Per­ sonennamen aus der Abhandlung nach. Weder das redaktionelle Inhaltsver­ zeichnis noch das redaktionelle Register können zum genuinen Textbestand von Troeltschs Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" gezählt werden.

3. Editorische Entscheidungen Editorische Entscheidungen, über die zu informieren ist, betreffen zunächst das Inhaltsverzeichnis. Troeltschs Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" verfügte in der Gestalt, in der sie in den Band 1/4, 1 der "Kultur der Gegenwart" eingegangen war, nicht über ein eigenes Inhaltsverzeichnis. Vielmehr war in allen drei Auflagen die Gliederung von Troeltschs Abhandlung in das redaktionelle, vollständige Inhaltsverzeichnis des Gesamtbandes und aller seiner Beiträge eingearbeitet. So zählt die im In­ haltsverzeichnis des Gesamtbandes angeführte Gliederung von Troeltschs Abhandlung nicht zum Edierten Text. In der hier vorliegenden Edition ist analog verfahren worden: Wie schon im Band lj4, 1 der "Kultur der Gegen­ wart" findet sich die Inhaltsübersicht auch in der hier vorliegenden Edition im redaktionellen Teil. Der Troeltschs Abhandlung umfassende Auszug aus dem Gesamtinhaltsverzeichnis des Bandes lj4,1 der "Kultur der Gegen­ wart" in der Auflage von 1 909 bzw. 1 922 konnte in das Inhaltsverzeichnis

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des hier vorliegenden Bandes 7 der Ernst Troeftsch . Kritische Gesamtausgabe übernommen werden. Eine weitere editorische Entscheidung bezieht sich auf den Literatur­ anhang. In j eder der drei 1 906, 1 909 und 1 922 erschienenen Fassungen der Abhandlung sind Troeltschs Literaturhinweise und forschungsgeschichtlich vertiefende Anmerkungen in einen Anhang verlegt, entsprechend den Kon­ ventionen der "Kultur der Gegenwart", die auf einen Anmerkungsapparat verzichtete. Dieser Literaturanhang bietet eine breite und präzise Ü bersicht über die Geschichte der Protestantismus-Deutung. Troeltsch gliederte die­ sen Anhang folgendermaßen: In einem ersten Teil gab er einige allgemeine Hinweise auf weiterführende und benutzte Literatur, in den Auflagen von 1 909 und 1 922 auch knappe Auseinandersetzungen mit den Kritiken und Einwänden, die seine Abhandlung erfahren hatte. 1 54 In einem zweiten Teil nannte Troeltsch Literatur zu ausgewählten Einzelthemen, die im Haupttext verhandelt wurden.1 55 Die Reihenfolge dieser spezielleren und fußnoten­ artigen Charakter tragenden Literaturhinweise orientierte sich an der Ab­ folge der Themen im Gang der Untersuchung. Diese Literaturhinweise hatte Troeltsch den einschlägigen Passagen des Haupttextes lediglich dadurch zu­ geordnet, daß er am Anfang des jeweiligen Hinweises diejenige Seitenzahl des Haupttextes nannte, auf die er den Hinweis bezogen wissen wollte. Im Haupttext fand der Leser dagegen keinerlei Verweise auf diese Literaturan­ gaben. In der hier vorliegenden Edition ist, dem Prinzip der Originaltreue fol­ gend, dieser Literaturanhang mit seinen beiden Teilen als in sich geschlos­ sene Einheit erhalten geblieben. Er wird ebenfalls als Anhang wiedergege­ ben. So sind die spezielleren und fußnotenartigen Charakter tragenden Literaturhinweise nicht in Anmerkungen zum Haupttext aufgelöst worden, weil dies den Gesamtcharakter und die Komposition des zweiteiligen An­ hanges unkenntlich gemacht hätte. Um der größeren Ü bersichtlichkeit wil­ len sind in dieser Edition j edoch im Haupttext Herausgeberanmerkungen gesetzt worden. Sie verweisen an den Referenzstellen des Haupttextes auf Troeltschs weiterführende Literaturhinweise im Anhang, so daß der Leser bei der Lektüre des Haupttextes umstandslos auf Troeltschs Literaturver­ weise geführt wird. Die Titel des Anhangs wurden in das "Verzeichnis der von Ernst Troeltsch genannten Literatur" aufgenommen; deshalb konnte in der Regel im Anhang selbst auf bibliographische Herausgeberanmerkungen verzichtet werden.

1 54 1 55

Vgl. A 452 f, B 744-747, C 755a-d. Vgl. A 453-458, B 747-755, C 747-755.

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Der nächste Punkt betrifft Text-Dubletten. Der philologische Abgleich von Troeltschs Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" mit anderen, thematisch verwandten Texten aus der Fe­ der Troeltschs 1 56 läßt einige Parallel formulierungen erkennen: Troeltsch hat bisweilen Teilsätze, manchmal auch vollständige Sätze aus früheren Texten übernommen. Dieses nicht unübliche Verfahren der Kompilation und Mehrfachnutzung eigener Formulierungen wird hier nicht nachge­ WIesen. Indes soll eine etwas umfänglichere Text-Dublette hier vorgestellt wer­ den. Troeltschs Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" weist an einer Stelle der 1 909 erschienenen Zweitauflage eine Parallele zu dem 1 908 erschienenen Text "Luther und die moderne Welt"1 57 auf. In der ersten Auflage von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" von 1 906 hatte Troeltsch die auf den modernen Charakter des Protestantismus hinweisenden Aspekte von Luthers Reformation nur sehr summarisch angedeutet. I SS Diese Aspekte hatte Troeltsch dann in "Luther und die moderne Welt" sehr viel ausführlicher dargestellt. 1 59 Insgesamt fünf Aspekte wurden 1 908 genannt: Erstens die Fassung der Religion als Glau­ bensreligion, zweitens die Einsetzung des religiösen Individualismus in sein Recht, drittens die Ethisierung der Religion, viertens die Weltbejahung. Sie werden, in einem fünften Punkt, auf die gemeinsame Wurzel des eigentüm­ lichen Gottesgedankens Luthers zurückgeführt. Für die zweite Auflage der Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" von 1 909 übernimmt Troeltsch diese Ausführungen aus "Luther und die mo­ derne Welt" von 1 908 weitgehend. Er streicht die knappen Ausführungen aus der Erstauflage und ersetzt sie durch die fünf Punkte, die er in "Luther und die moderne Welt" fixiert hatte. Dabei formuliert er den ersten Punkt, der Luthers Glaubensreligion betraf, weitgehend um, was zur Verdeut­ lichung beiträgt, doch kaum inhaltliche Veränderungen mit sich bringt. 16o Die in "Luther und die moderne Welt" gegebenen Ausführungen zum zwei­ ten, dritten, vierten und fünften Punkt1 61 übernimmt er dann aber weitge­ hend wörtlich in die Zweitauflage von "Protestantisches Christentum und

1 56 1 57 1 58 1 59 1 60 161

Siehe zu diesen etwa oben, S. 27-32. Ernst Troeltsch: Luther und die moderne Welt (1 908) - KGA 8, S. 59-97. A 267 f., siehe unten S. 1 1 6 f. Ernst Troeltsch: Luther und die moderne Welt (1 908) - KGA 8, S. 68-82. Vgl. Luther und die moderne Welt (1 908) - KGA 8, S. 70-73 mit "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" 1 909, unten, S. 1 1 8-1 20. Ernst Troeltsch: Luther und die moderne Welt (1 908) - KGA 8, S. 73-82.

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Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit

Kirche in der Neuzeit"1 62. So sind insgesamt neun Seiten aus "Luther und die moderne Welt" in die Zweitauflage von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" eingegangen. Dabei ist der übernommene Text von Troeltsch noch einmal stilistisch überarbeitet worden und verzeichnet insgesamt 41 stilistische Varianten. Diese Varianten werden unten in der textkritischen Edition des Textes nicht eigens ausgewiesen. Lediglich auf zwei größere Umarbeitungen soll hier hingewiesen werden. Erstens: Troeltsch formuliert im Zusammenhang der Diskussion von Luthers Gottesbegriff eine größere Passage um. 1 63 Zweitens: Ebenfalls in diesem Zusammenhang 1 62 1 63

Siehe unten, S. 1 20-1 3 1 . I n "Luther und die moderne Welt" (1 908) , ...... KGA 8 , hatte e s S . 7 8 f. geheißen: "So scholastisch diese Lehren scheinen, so sehr enthalten sie einen tiefen Sinn. Sie bedeu­ ten, daß für Luthers Gottesidee der Glaube an Gott zum Wesen des Menschen gehört und daß eine besondere Ü bernatur zur überkreatürlichen Verbindung mit Gott gar nicht nötig ist. Die Gnade ist kein außerwesentliches Geschenk, das an sich dem Men­ schen auch fehlen könnte, aber durch besondere Gnadenwillkür hinzugefügt wird, sondern die Gnade gehört zur natürlichen und normalen Beziehung des Menschen auf Gott. Das Wesensverhältnis von Gott und Kreatur ist von Hause aus eine innere Lebenseinheit der die endliche Kreatur zu sich erhebenden und für sich heiligenden göttlichen Gnade, keine Willkür, sondern Wesen, keine Ü bernatur, sondern wesen­ haft zur Verwirklichung bestimmte Natur des Menschen. Eine innere Lebenseinheit Gottes und der Kreatur und eine naturgemäße Werdebestimmtheit des Menschen zum Reifen für die Gottesgemeinschaft tut sich uns hier auf, die allen modernen Ge­ danken von der Immanenz der Kreatur in Gott verwandt ist und das Werden der Kreatur durch die Sünde hindurch zur ethischen Willens- und Lebenseinheit mit Gott andeutet. Die Beschreibung dieses Ideals als am Anfang fertig im Urstand verwirk­ licht und die Beschreibung des zu überwindenden Gegensatzes als Fall aus dem Ur­ stand ist nur die mythische Form für den Begriff des Ideals und seines zu überwin­ denden Gegensatzes." An entsprechender Stelle heißt es nun in "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" (1 909) , S. 1 28 f. : "In scholastischer und mythischer Hülle ist das ein neuer Gedanke über das Grundverhältnis Gottes und der Kreatur. In der Glaubenserkenntnis, in Liebe, Ehrfurcht und Vertrauen verwirklicht sich das normale und ideegemäße Verhältnis zu Gott; es gibt keine Erhebung aus der Natur in die Ü bernatur, und der ganze Stufenbau der emporführenden Lebensstufen und Gnadenhilfen, die Teilung Gottes und des Weltprozesses in Natur und Ü berna­ tur, die innere Doppelheit Gottes seIbst, fallen weg. Der Gottesbegriff steht nicht un­ ter der Kategorie der Substanz, die durch abgestufte substanzielle Gnadenmitteilung den Menschen über sich selbst erhebt, sondern in der Kategorie der Persönlichkeit, die durch Offenbarung ihrer Liebesgesinnung gegen den Menschen diesen in seiner eigenen Natur vollendet. Gott ist heilige Liebesgesinnung und das in einem Schlage eins und ganz. Es ist der vollendete Theismus und Personalismus, aber ein Theismus der Immanenz des kreatürlichen Geistes im göttlichen Geiste, vom Luthertum im

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der Diskussion von Luthers Gottesbegriff verzichtet Troeltsch darauf, einige Sätze aus "Luther und die moderne Welt" in "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" zu übernehmen. 1 64 Eine weitere editorische Entscheidung ist zu nennen. Soweit Schwankungen in der Schreibweise von Worten zwischen der ersten und der zweiten Auflage offensichtlich auf Setzerkonventionen beruhen, sind sie nicht eigens im Va­ riantenapparat aufgeführt. Das betrifft beispielsweise die Schwankung zwi­ schen "Entwicklung" und "Entwickelung" oder zwischen "Vermittlung" und "Vermittelung". Eckige Klammern sind in diesem Band wie in allen Bänden der Ernst Troeltsch . Kritische Gesamtausgabe für Hinzufügungen durch den Editor reser-

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Sinne einer universellen Liebe, vom Calvinismus im Sinne grundloser Gnade gedacht, bei beiden aber verhüllt unter der Fortführung des alten trinitarischen Dogmas und unter der Trennung des empirischen Menschen von Gott durch die den ganzen Welt­ plan durchkreuzende Erbsünde." In "Luther und die moderne Welt" (1 908) , KGA 8, S. 80 f., folgte im Anschluß an den Satz "Auch hier ist die Gnadenordnung das Normale, das was sein soll; und da diese Gnade nur in der von Gott bewirkten Erkenntnis Gottes mit allen Wirkungen der Freiheit und des Guten besteht, so ist die Erlösung ein Hindurchdringen der Er­ kenntnis zur Gnadenordnung als der eigentlichen Weltordnung Gottes" die folgende Passage: "Das ist auch der Sinn der bekannten Verwerfung der natürlichen Theologie und Gotteserkenntnis bei Luther. Es ist nicht eine Voraus nahme neukantischer Apologetik und Antimetaphysik, sondern die Abneigung gegen die Gipfelung der natürlichen Theologie im Gesetzesbegriff; der Wahn der Vernunft ist der Gesetzeswahn, der Selbstgerechtigkeitswahn und die Verblendung der Verzweiflung. Der erste Wahn zerbricht an der Erkenntnis der wahren Forderung, die nicht vernünftige Eigenkraft, sondern gotteinige Liebesgesinnung will, und der zweite Wahn zergeht in der Gna­ denerkenntnis, in der das die Lohnordnung aufstellende und den Sünder vernich­ tende Gesetz als ,fremdes Werk' Gottes, d. h. als eine dem an Vernunftmaßstäben messenden Sünder sich notwendig ergebende subjektive Mißdeutung erscheint. Was auch sonst Luther in seinem genialen Drange zur Vereinheitlichung gegen die dog­ matisierende und spintisierende Vernunft auf dem Herzen haben mag, sein eigent­ licher Groll gilt der alten Apologetik, die von der Vernunft her die Gesetzesordnung aufbaute, damit aber den religiösen Gedanken prinzipiell überhaupt unter den Ver­ nunftmaßstab des Gesetzes beugte und der Gnade nur die Bedeutung einer Ergän­ zung und Aushilfe übrig blieb. Alles wahrhaft Gute ist überhaupt nur durch Gnade möglich. Er hat allerdings, wie seine Bußlehre zeigt, gerade hier stark geschwankt, und seine Abneigung dagegen, daß auch die Sünde von Gott geordnet sei, hat ihn hier nie zur vollen Konsequenz kommen lassen, aber an der instinktiven Grundempfin­ dung kann kein Zweifel sein, daß die rationalistische Grundlehre vom Gesetz und der Gesetzesordnung das Widerspiel der wahren religiösen Gotteserkenntnis ist." Sie fällt in "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" (1 909) aus. -+

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viert. Eine Ausnahme bildet allerdings der Literaturanhang. Hier hat Troeltsch in seinen bibliographischen Angaben selbst gelegentlich, als weitere Ein­ klammerung in einer Einklammerung, eckige Klammern gesetzt. Sie sind belassen worden und als eckige Klammern wiedergegeben. Ein eigenes Problem stellt die Wiedergabe der Randmarginalien in Troeltschs Abhandlung dar. Ursprünglich waren sie auf dem Seitenrand abgedruckt und dienten, als zusammenfassende Randüberschriften, der rascheren Ü bersicht im Text. In der vorliegenden Edition sind diese Randmarginalien, original­ getreu, ebenfalls am Seiten rand wiedergegeben. Allerdings haben sie, aus Gründen der Ü bersichtlichkeit im Seitenlayout, keinen eigenen Randapparat erhalten, sondern teilen sich den Randapparat mit den Angaben der Seiten­ zahlen des Originaldrucks. Es ist dabei unvermeidlich, daß Seitenzahlenan­ gaben und Randmarginalien gelegentlich kollidieren. Dies ist etwa dann der Fall, wenn im Original ein mit einer Randmarginalie versehener Absatz auf einer neuen Seite beginnt oder wenn der Raum, den eine Randmarginalie in Anspruch nimmt, über den Seitenumbruch im Original hinausreicht. In die­ sen Fällen wurde die Randmarginalie stets unterhalb der Seitenzahl des Ori­ ginaldrucks positioniert. Eine letzte Bemerkung gilt den Sig/a. Das Siglum "A" bezeichnet stets die Erstauflage von "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" 1 906, das Siglum "B" die Zweitauflage von 1 909, das Siglum "C" den zwei­ ten Abdruck der zweiten Auflage von 1 922. Daneben tritt hier die Siglen­ kombination "B, C" auf. Sie bezeichnet die text- und druckgleichen Ab­ schnitte der Zweitauflage 1 909 und des zweiten Abdruckes der Zweitauflage von 1 922 und muß entsprechend häufig gebraucht werden, nachdem die Zweitauflage 1 909 und deren zweiter Abdruck 1 922 in Haupttext und Lite­ raturanhang identisch sind und sich nur durch die 1 922 beigegebenen Ergän­ zungen des Literaturanhanges, im Original paginiert als die Seiten 755 a-d, unterscheiden. Im übrigen folgen die verwendeten Zeichen den Editori­ schen Grundsätzen.1 65

1 65

Siehe oben, S. VII.

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Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit. Von Ernst Troeltsch.a

Einleitung. Die Kultur der Mittelmeerländer mündet in das römische Reich aus, und die des römisch-hellenistischenb Reiches geht unter der mächtigen Einwirkung der christlichen Idee über in die große Formation des Katholi­ zismus, der in seinen beiden Hälften das römische Werk der Unterwerfung und Zivilisierung der Barbaren fortsetzte; im Osten mit stärkerer Behaup­ tung der griechisch-römischen Grundlagen, aber innerlich weniger originell und bedeutend und schließlich unter dem Druck d der Türkend zur Halbkul­ tur herabsinkend, im Westen stärker erschüttert von den Barbaren und grö­ ßere Einbuße an Kulturtradition erleidend, aber Antike, Christentum und Barbarenturn innerlich verbindend und ein Ganzes von reichster Entwicke­ lungskraft schaffend. Im Westen hat die religiöse Idee ihr Meisterwerk e voll­ bracht. Ein halbes Jahrtausend landeskirchlicher Verschmelzung von welt­ lich-sozialen und kulturellen Interessen mit den kirchlichen Organisationen und Ideen hat die alte Weltscheu des Christentums brechen helfen und den Gedanken einer kirchlich geleiteten Kultur hervorgebracht. Dann hat seit dem gregorianischen Zeitalter die große, mit der französischen Kultur sich verbindende universal-kirchliche Reaktion durch das Papstturne das Gesamt­ leben der Völker unter eine einheitliche Leitung gebracht und es mit einem allmächtigen Gemeingeist erfüllt, eine Schöpfung, die nur so starken Kräf­ ten, wie der christlichen Idee und der antiken Römerbildung, und auch die­ sen nur bei der Wirkung auf unverbrauchte, gewaltig aufstrebende Völker, möglich war. Aber aus den Fesseln dieser Formation brach das selbständig werdende Leben endlichf doch heraus. Die christliche Idee war mit dem Katholizismus nicht erschöpft und befreite sich bei der allgemeinen Gärung des Systems zu einer gemütvollen und tiefsinnigen Neubildung, ebenso wie neben ihr die andereng Kräfte des künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens sich verselbständigten. abera da eine religiöse Macht nur durch eine andere religiöse Macht wirklich überwunden bZU werden pflegt b, so bedeutete der Protestantismus die zentrale Zerbrechung des ka­ tholischen Systems, durch die auch für alle anderen Kulturbewegungen erst Raum und Luft wurde, und den Zufluchtsort, zu dem sie sich vor den Reaktionen des katholischen I Systems wandten. C Der Protestantismus, der aus diesen Erschütterungen des katholisch­ abendländischen Systems hervorging, ist dann die Gestalt des religiösen Le­ bens des größten Teiles vom nördlichen Eurapa und von hier aus auch der nordamerikanischen Union geworden, eine Neuformation des Christentu­ mes mit neuen und eigentümlichen Entwickelungen. So klar aber äußerlich die Abgrenzung seines individualistischen Kirchentumes gegen das geist­ liche Weltreich des Papstes sich vor Augen stellt, so schwer ist es, sein Wesen einheitlich zu erfassen und aus diesem seine Geschichte in den Grundzügen zu verstehen. Der Verlauf seiner Geschichte zeigt eine außerordentliche Lebendigkeit, aber auch eine ebenso außerordentliche und sich immer stei­ gernde widerspruchsvolle Kompliziertheit; er ist offenkundig nicht in sei­ nem eigenen Entwickelungstriebe allein, sondern zugleich in den tatsäch­ lichen Verbindungen und Gegensätzlichkeiten gegenüber dem allgemeinen Kulturleben begründet. Nicht die Dialektik seines Prinzips, sondern Zusam­ menstoß und Verwachsung mit der selbständig neben ihm entwickelten mo­ dernen Kultur bedingen seine moderne Entfaltung. Dabei muß es dann aber doch in seinem "Wesen" liegen, daß hier diese Verwachsungen so leicht und so tief eintreten und erst in ihnen sich seine Lebenstriebe voll auswirken, während der Katholizismus von jedem Modernismus in seinen FundamenA: Aber a b - b A: werden kann c-c A: [In A kein Absatz ] Dadurch aber erhält der Protestantismus einen Doppelcha­ rakter, den Charakter einer religiösen Neubildung von spezifisch religiöser Art und den Charakter des Bahnbrechers und des Hervorbringers der modernen Welt, die von ihm teils unmittelbar durch seine religiöse Idee, teils mittelbar durch seine all­ mähliche Attraktion der modernen Kulturelemente geschaffen worden ist, bis sich auch in ihr wieder die Entzweiung der religiösen und der allgemeinen Kulturbewe­ gung einstellte. Dadurch bekommt sein Wesen etwas Widerspruchsvolles und wird auch seine geschichtliche Auffassung unsicher. Die einen sehen in ihm die Erneue­ rung des alten vorkatholischen Christentums, die andern betrachten ihn als eine Umformung des Katholizismus und wieder andere sehen in ihm den Beginn und den Schöpfer der modernen Kultur. Um über diese Fragen klar zu werden, bedarf es in erster Linie einer Ü bersicht über die Gesamterscheinung, einer Einsicht in die Stellung des Protestantismus zur mittelalterlichen und zur modernen Welt. [In A steht in der nächsten Zeile ein kurzer Trennstrieh.}

I. Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus

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ten erschüttert wird. Die Verwickeltheit, die Zusammenschweißung von Ge­ gensätzen, der Drang nach neuen Entfaltungen und die Festhaltung bei alten Grundlagen, das muß schon in seinen Anfängen und Grundlagen enthalten sein. In der Tat ist es das Eigentümliche seiner Ursprungsepoche, ein Dop­ pelgesicht zu tragen, wovon das eine in die katholisch-abendländische und das andere in die moderne Ideen- und Kulturwelt hineinsieht. Das Verhältnis dieser beiden Elemente, die von Anfang an in ihm gemischt sind, ist das Ge­ heimnis seines Wesens und seines Schicksals. Die Grundlage für die ge­ schichtliche Erfassung seiner Gesamterscheinung kann daher nicht eine irgendwie konstruierte einheitliche Formel für das "Wesen des Protestantis­ mus", sondern nur eine Analyse seines prinzipiellen Verhältnisses zu Mittel­ alter und moderner Welt sein. Er ist zunächst eine Vereinigung der fort­ wirkenden Grundtendenzen des abendländischen Kirchentumes mit einer neuen Auffassung vom Wesen des christlich-religiösen Gedankens, dann eine Auflösung der mittelalterlichen Elemente von diesem neuen Gedanken aus und dessen Verbindung mit völlig modernen Lebenselementen, in alle­ dem eine von keiner Formel überhaupt zu charakterisierende geschichtliche Macht, deren Entwickelung nicht wie die des Katholizismus in den Grundzügen ab I geschlossen ist, sondern in einer noch unabsehbaren Bewegung sich befindet und mit dem ganzen dunkeln Problem der Gestaltung des religiösen Lebens in der modernen Welt überall aufs engste verflochten ist.c

B, C 433

A. a Der Protestantismus in seinem allgemeinen Verhältnis zu Mittelalter und moderner Welt.4 Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus. Renaissance1 und Refor­ mation gelten als Ende des Mittelalters und Beginn der Neuzeit. Beide sollen diesen Umschwung dadurch herbeiführen, daß sie auf vormittelalterliche Kulturgrundlagen zurückgreifen. Unter der Beleuchtung dieser alles färben­ den und bestimmenden Auffassung pflegt die Darstellung meistens zu ste­ hen. Erwägt man aber, daß das Mittelalter, für das wir nunb einmal diesen sinnlosen Namen haben und verwenden müssen, eine ganz bestimmte Kul­ turform ist, nämlich die auf dem Supranaturalismus der Erlösung und Kirchenstiftung erbaute, kirchlich geleitete Kultur, dann erscheint diese Mei­ nung doch sehr bedenklich. Denn es ist klar, daß diese Kulturform Westeu1.

a-a

b 1

A: Mittelalterliche und moderne Elemente im Protestantismus. A: nur

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 5.

Falsche Ent­ gegensetzung von Renaissance und Reformation gegen das Mittelalter.

84

A 255

B, C 434 d Voraussetzun­ gen von Renais­ sance und Reformation in der Verwandlung des Christen­ tums zu einer Kulturidee durch das Mittelalter. d

A. Der Protestantismus in seinem alIgem. Verhältnis zu Mittelalter und mod. Welt

ropa bis zum Ende des 1 7. Jahrhunderts beherrscht hat und erst mit dem 1 8. Jahrhundert wirklich zusammengebrochen ist. Ebenso macht die genauere Kenntnis der Vorgänge jeden Tag deutlicher, daß auch das angebliche Zurückgreifen auf vormittelalterliche Kulturgrundlagen nichts wesentlich Neues einführt und daß das ergriffene Neue durchaus in der durch die bisherige Entwickelung bestimmten Weise gestaltet wird. Das Mittelalter hat die Antike von Anfang an besessen und sie nur zunehmend sich verlebendigt, und es hat sie - abge­ sehen von der italienischen Hochrenaissance - in einer ganz eigentümlich stimmungsvollen und phantasiereichen Weise dem besonderen westeuropäi­ schen Geiste unterworfen. Ebenso und noch mehr hat das Mittelalter das Neue Testament immer besessen und immer aus ihm geschöpft, und die Verwertung desselben durch Luther geht in Bahnen, die die mittelalterliche Entwickelung vorgezeichnet hat. Das Mittelalter ist eben nicht, wie der Hu­ manismus und die protestantische Polemik in einer durch Augenblicks l stim­ mung und -gegensatza eingegebenen Schätzung der Distanzen uns eingere­ det haben, die Unterbrechungb einer nun wieder neu aufzunehmenden Kultur , sondern es ist der mächtige Mutterschoß calles west­ europäischen Lebensc, in dem die Empfindungen und Gedanken, die Insti­ tutionen und Selbstverständlichkeiten des Lebens, die wirkenden Kräfte auf unabsehbare Zeit hinaus geformt und die jugendfrische Barbarenwelt durch Kirche und Antike gebildet worden ist. Die Spuren dieser Erziehung trägt Westeuropa noch heute tief in seiner Seele. Die letzten Wurzeln eder das Mittelalter beherrschenden religiösen Ideee liegen zwar im allgemeinen in der Lehre Jesu, nach ihrem besonderen katho­ lischen Wesen aber in der Umformung des Evangeliums Jesu, die I der Apo­ stel Paulus vorgenommen hat und durch die er es erst zu einer werbenden, ein neues Gesamtleben gestaltenden Religion gemacht hat. Ihm hatte sich die christliche Idee dargestellt in der Gestalt einer übernatürlichen Erlösung der verlorenen erbsündigen Menschheit durch die Menschwerdung eines himmlischen Wesens und durch die Bildung einer sakramentalen Tauf- und Abendmahlsgemeinschaft der erlösten Gemeinde mit dem verklärten himm­ lischen Haupte. Damit ist, wenn auch erst im Keim, der Gedanke einer gött­ lichen Anstalt und Stiftung gesetzt, die auf einzigartigem göttlichen Eingriff in die verlorene, sich selbst überlassene Welt beruht, ihre Gläubigen aus dem A: -polemik A: Abbrechung A: aller westeuropäischen Kultur c-c d-d A: Die Wurzeln der mittelalterlichen Kulturidee. A: des Mittelalters selbst e-e a

b

1.

Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus

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absoluten Irrtum in die absolute Wahrheit versetzt und mit der himmlischen Weit als dem einzigen wirklichen Ziel des Lebens verbindet. Es bedurfte nur der Ü berwindung des urchristlichen Enthusiasmus und autonomen Indivi­ dualismus sowie der Zurückdrängung der Erwartung des Weitendes, um Raum zu schaffen für ein Priestertum, das die absolute göttliche Wahrheit den Schwankungen individueller Begeisterung entzieht, sie mit der festen In­ stitution geweihter Persönlichkeiten verbindet und eben damit auch die allei­ nige Macht zum Vollzug der Sakramente gewinnt. Das aber wiederum ver­ stärkt den Sakramentsgedanken; die Sakramente entziehen das Heil den Unsicherheiten der persönlichen Meinungen und binden es an sinnliche Mit­ tel, an heilige Besprengungen, Salbungen, Speisungen und Tränkungen. So­ bald diese Weiterentwickelung vollzogen war, gab es außerhalb der priester­ lichen Kirche kein Sakrament und darum kein Heil und keine Gnade, und es wurde die Liebespflicht der Kirche, in den Bannkreis dieser Anstalt alle Ver­ lorenen und Verdammten zu bringen und mit ihrem Geiste zu durchdringen. Weiter vermochte die Kirche des Orients nicht vorzuschreiten,a sie fand an dem fortdauernden Römerstaat und der fortdauernden antiken Bildung eine Kulturmacht, der sie vorbehaltlich der Anerkennung ihres Dogmas und ihrer Sakramente ihrerseits sich unterordnete und die hier der eigentliche KuIturträger blieb, lediglich mit christlichem Firnis überzogen. Ü ber die Durchsetzung der Orthodoxie und die Regelung der Privatmoral ist die Kir­ che des Ostens nie hinausgelangt. Aber damit ist auch die eigentliche Idee der Kirche unentwickelt geblieben;b ihr wahres Ziel mußteC sein, der absoluten und sicher erkannten I göttlichen Wahrheit das Leben in seinem Gesamtumfang zu unterwerfen, eine religiös bestimmte und kirchlich geleitete Kultur zu schaffen. Was sie im Osten nicht erreichte, das erreichte sie im Westen, wo der Römerstaat zerfiel und in seine Lücke die Kirche mit ihrer Or­ ganisation eintrat, wo die jugendliche Barbarenwelt das Missionsfeld der Kirche und die Kirche für sie zugleich der Quell aller politischen und rechtlichen Tradition, aller Bildung, aller Kultur und Technik wurde. Hier hat sie den Staat geformt und beherrscht, Wissenschaft und Kunst, Familie und Ge­ sellschaft, Wirtschaft und Arbeit aus ihrem Geiste geregelt. Der überweltliche Zweck der Rettung für den Himmel und das höchste Ideal des rein der Religion I gewidmeten Lebens beherrscht alles. Aber dieser religiöse Zweck hat zur Voraussetzung die Fortpflanzung und Sicherung, Ordnung und Or­ ganisation des irdischen Lebens. Wie in der areopagitisch-neuplatonischen

a

b c

A: vorzuschreiten; A: geblieben: A: muß

A 256

B, C 435

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A. Der Protestantismus in seinem alIgem. Verhältnis zu Mittelalter und mod. Welt

Denkweise der Kirche das reine göttliche Leben sich stufenweise entäußert und materialisiert , so baut sich umgekehrt das Reich der Erlösung stufenweise auf einer geistlichen Ord­ nung und Beherrschung des natürlich-sinnlichen Lebens auf und vollendet es sich in der Mystik der durch die priesterlichen Sakramente bewirkten Gotteinigkeit. Den ganzen Aufbau aber entwirft und beherrscht die Kirche, die eben darum aus der rein geistlichen Sphäre in die weltliche wenigstens durch Ordnung der allgemeinen Grundzüge und durch Kontrolle der Seelen hineinwirken muß. Sie ist Wahrheit aus Gott, und um Gottes Willena muß ihr gehorcht werden. Sie überwindet und überhöhtb die Welt, um die Seelen zu retten; aber, um den Seelen diesen Ret­ tungsweg zu sichern und diese Rettung in einem heiligen Leben zu bewäh­ ren, muß sie die Welt beherrschen, wobei es nur eine Frage der Ausführung ist, ob sie das mehr direkt oder mehr indirekt tut. Die Idee der geschlossenen Kultur beherrscht sie durchaus. Für sie erscheint der Staat als eine interna­ tionale Einheit, wie sie selbst eine Einheit ist, und als mit dem Weltstaat ver­ bundene Weltkirche braucht sie alle Mittel des Zwanges und der Liebe, der Selbstaufopferung und Gewalt, um in diesem Gebiet die Herrschaft der göttlichen Wahrheit über alle zu sichern. Sie allein darf die Menschen zu ihrem Glücke zwingen; denn sie allein hat das wahre Glück oder das Heil in ihrer Hand. Sie erzieht die Barbarenwelt in allen weltlichen und religiösen Gütern, individualisiert und vertieft das Gemütsleben, entbindet unermeß­ liche Kräfte der Phantasie und des Gefühls, führt wider ihren Willen ihre Schüler zur Selbständigkeit und eigenen Produktion und kämpft durch das ganze Spätmittelalter hindurch mit den Wirkungen ihrer eigenen Erziehung, mit dem Reif- und Mündigwerden ihrer Zöglinge.

a

b

A: willen A: verleugnet

I. Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus

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Wenn man das bedenkt, so ist die Frage wohl berechtigt, ob nicht Renais­ sance und Reformation in erster Linie als Erzeugnisse der mittelalterlichen Entwickelung selbst zu betrachten sind. I bWie weit das bei der sogenannten Renaissance der Fall ist, kann hier auf sich beruhen.b Ganz zweifellos aber ist es bei dem Protestantismus, daß er in erster Linie unter diesem Gesichtspunkte zu betrachten ist. Er ist zunächst in seinen wesentlichen Grundzügen und Ausprägungen eine Umformung der mittelalterlichen Idee, und das Unmittelalterliche, Moderne, das in ihm un­ leugbar enthalten ist, kommt als Modernes erst in Be­ tracht, nachdem diec erste und klassische Form des Protestantismus zerbro­ chen oder zerfallen war. Diesen grundlegenden Satz, der die Voraussetzung für jedes historische Ver­ ständnis des Protestantismus ist, gilt es zunächst in Kürze zu erläutern. Hier ist zuerst negativ der eine Umstand völlig klar, daß die Reformation keine einfache Erneuerung des Urchristentums ist. Die Berufung auf das Evangelium und seine Geltendmachung gegen kirchliche Fortentwickelun­ gen und Entstellungen war ihr Rechtstitel. Aber dieser Rechts-

a-Q

b-b

c

B, C 436 Der Protestanis­ mus aus der Entfaltung der mittelalterlichen Idee heraus­ gewachsen.•

Die Reformation keine einfache Erneuerung des Urchristentums.

A: Renaissance und Protestantismus als Evolutionen des Mittelalters. A: In bezug auf die Renaissance hat man das neuerdings zu zeigen versucht, teils indem man zeigte, wie in der Franziskanerbewegung und Dante I die Renaissance aus der A 257 inneren Bewegung des christlichen Gefühlslebens selbst herauswuchs, teils indem man darauf hinwies, wie in Byzanz gerade die enge Berührung mit der antiken Welt nichts der Renaissance Ähnliches hervorgebracht hat. Barbarenkraft und religiöse Gemütsvertiefung, die Verfeinerung und Verinnerlichung aller Lebensinteressen, die Ausweitung der Phantasie ins Grandiose und Zart-Innerliche, die Entstehung immer neuer Kämpfe auf Grund der Idee einer kirchlichen Gesamtkultur, die Nötigung, die damit geschaffenen Probleme durch neue praktische und theoretische Schöpfungen zu lösen, und die Ergreifung und Ausdehnung der in der kirchlichen Kultur selbst schon enthaltenen antiken Elemente: das hat die eigentliche und echte Renaissance geschaffen; die antikisierende und heidnische Hochrenaissance Italiens ist nur ein un­ fruchtbarer Seitenzweig. Dem wird im ganzen zuzustimmen sein, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß in dieser Renaissancebewegung aus dem antiken Material philosophische, naturwissenschaftliche, historische und theologische Ideen hervor­ gingen, die etwas völlig Neues bedeuten, aber freilich zu schwach und verschwommen sind, um gegen den Geist der überwiegend kirchlichen Kultur aufzukommen. Sie bleiben in der Stille und treten mit ihrer Wirkung erst hervor, nachdem diese Kultur sich in sich selbst verzehrt und dem neuen wissenschaftlichen Geiste selbst die Breschen aufgetan hatte, durch die er eindringen konnte. Wesentlich Wiederbelebung der Antike ist freilich dieser Geist auch so nicht; denn sein Zentrum, die mathematische Naturwissenschaft, ist eine völlig moderne Schöpfung. [Absatz] A: diese

88

A. Der Protestantismus in seinem allgem. Verhältnis zu Mittelalter und mod. Welt

titel war nichts Neuesd; er war nur die Isolierung und Herausgreifung eines Grundelementes des bisherigen Systems. a Nun sind freilicha von da aus zweifellos Ausscheidungen grundlegender katholischer Institutionen und Ideen vorgenommen b worden. Aber darum ist dochh der Geist der Reformation selbst keineswegs der des Urchristentums oder einfach des Neuen Testamentes. cWas auch immer der besondere Sinn des Rückgangs der Reformatoren auf das Neue Testament gewesen sein mag, sie stehen jedenfalls der Konti­ nuität des katholischen Systems näher als die Sekten und die Humanisten bei ihrer analogen Argumentation. Die ersteren haben aus dem Neuen Testa­ ment einen Individualismus herausgelesen, der den Begriff einer objektiven d a-a

b-b c-c

A 258

A: neues A: Wenn A: worden sind, so ist doch darum [Unten, S. 9 1] A: [In A kein Absatz] Die Differenz zwischen Jesus und Paulus, die Erasmus bemerkt hat und in der er sich an Jesus angeschlossen hat, wird von den Reformatoren gar nicht emp l funden. Sie erneuern ausschließlich den Paulinismus und identifizieren das Neue Testament mit ihm. Das aber ist der augustinisch-ka­ tholische Geist, der von der Bibel nur den Paulinismus kennt als die Lehre von den Heilstatsachen, der supranaturalen Gnade, der Heilsaneignung und der Prädesti­ nation; die Bergpredigt steht von vornherein nur unter dem Gesichtspunkt der Be­ tätigung der paulinischen Gnade, der ethischen Ergänzung zur Heilslehre. Und so ist es auch nicht der eigentliche und volle Paulinismus, der hier wirksam ist. Die stark eschatologischen Züge des Paulinismus, der lebhafte mystische Enthusias­

mus, die Zurückhaltung gegen Welt und Kultur, der Glaube an eine Ausscheidung der Gläubigen aus der Welt und ihre Verbindung mit dem himmlischen Haupt zur Gemeinde der Heiligen und Vollkommenen, sie fehlen vollständig. 2

3

Gemeint ist das Dekret über die Auslegungsweise der Heiligen Schrift, das auf der 4. Sitzung vom 8. April 1 546 beschlossen wurde, vgl. besonders Heinrich Denzinger/ Peter Hünermann: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehr­ entscheidungen (200 1), 1 507. Die verbreitete Wendung findet sich, an prominenter Stelle, erwa in Melanchthons Antrittsvorlesung in Wittenberg ("Sermo habitus apud iuventutem Academiae Wite­ bergensis, de corrigendis adolescentiae studiis'') , gehalten am 29. August 1 5 1 8: "Atque cum animos ad fontes contulerimus, Christum sapere incipiemus, mandatum eius lucidum nobis fiet, et nectare illo beato divinae sapientiae perfundemur." CR XI (1 843) , S. 1 5-25 und S. 23, vgl. CR VI (1 839) , S. 1 70.

1.

Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus

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Heilsanstalt oder der Kirche ganz oder großenteils auflöste und die Gemeinschaft an die Zusammenfassung der religiösen Subjektivitäten wies. Demge­ genüber aber haben die Reformatoren von Anfang an dem Kirchenbegriff selbst - abgesehen von seiner besonderen Fassung und Begründung - als den Begriff einer rein objektiven, alle Subjektivität erst hervorbringenden und ihrer unter Umständen auch entbehren könnenden Anstalt grundlegend festgehalten. Mit dem Begriff der Kirche aber war unmittelbar der ihrer Uni­ versalität, ihrer Bestimmung zu Leitung und Formung des Gesamtlebens und das heißt einer einheitlich geleiteten kirchlichen Gesamtkultur verbunden. Eine solche kirchlich geleitete Gesamtkultur wiederum aber rechnet auf die Hilfe des Staates und der realen Gewalten für ihre Aufrechterhaltung und für die Durchsetzung ihrer Einheitlichkeit. Luther selbst freilich hat am Volkschristentum an sich und an einer christlichen Einheitskultur kein un­ mittelbares Interesse besessen und war anfangs geneigt, I die Erlösungsanstalt auch nur in einzelnen kleinen Gemeinden zu sehen. Aber erstlich setzte er dabei als selbstverständlich voraus, daß die Obrigkeit die christliche Moral und den Glauben wenigstens äußerlich bei den schlechten Christen und Un­ bekehrten aufrechterhalte um der Ehre der Wahrheit willen; und zweitens rechnete sein supranaturaler Idealismus mit Sicherheit darauf, daß von den einmal hergestellten kleinen Herden aus die Heilsanstalt und das Wort durch innere Kraft unwiderstehlich auch die innere und einheitliche Christianisierung der Masse bewirken müsse. Die übrigen Reformatoren sind darin noch viel weiter gegangen als Luther, und Luther selbst hat bei dem Scheitern seiner idealistischen Erwartungen schließlich auch äußerlich und gewaltsam die Herrschaft der Kirche und die wenigstens äußerliche Einheitlichkeit eines christlichen Gemeinwesens zu bewirken sich entschließen müssen. Das aber ist ein Gegensatz nicht bloß gegen die Sekten, sondern vor allem auch gegen das Evangelium, das eine solche Anstalt nicht kennt. Es ist ein Gegensatz auch gegen den Paulinismus, der freilich in der Ecclesia als dem mystischen Leibe des alles erfüllenden pneumatischen Christus etwas Anstaltartiges meint, aber durch den pneumatischen Enthusiasmus dessen Wirkungen teils wieder aufhebt teils bei seiner eschatologischen Erwartung und seiner Zu­ rückhaltung von der sündigen heidnischen Welt keine derartigen Folgerungen aus dem Anstaltsgedanken zieht.4 Es ist die wesentliche Idee des Katho­ lizismus, der die kirchliche Anstalt als allgemeine Erlösungsanstalt in einer dauernden Welt betrachten gelernt hatte und in der Durchsetzung dieser Anstalt auch die einheitliche Beherrschung der übrigen Welt als unumgängliche Voraussetzung und Folge hatte fordern müssen. Diese Kirchenidee dauert

4

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 5.

B, C 437

90

B, C 438

A. Der Protestantismus in seinem allgem. Verhältnis zu Mittelalter und mod. Welt

fort im Protestantismus, nur ohne Hierarchie, Priestertum und priesterliche Sakramente. Der Rückgang auf das Neue Testament und der reformatori­ sche Individualismus fügen sich dieser Voraussetzung der universalen An­ staltskirche ein, und es wird seine schwierige Aufgabe, diese Voraussetzung ohne die Hilfsmittel des katholischen Kirchentums durchzuführen. Aber auch der humanistisch-biblischen Theologie gegenüber steht der pro­ testantische Rückgang auf das Neue Testament den Kerngedanken des Ka­ tholizismus näher. Während jene die Lehre Jesu instinktiv hervorziehen und betonen und auch den Paulus vor allem im Sinne dieser Ethik verstehen, geht der Protestantismus vielmehr auf die paulinische Erlösungslehre zurück. Die Bibel wird mit ungeheurer Einseitigkeit rein im Lichte des Paulinismus ge­ lesen. Das aber ist die Wirkung des die katholische Lehre vor allem be­ herrschenden Augustinismus. Wie die ganze mittelalterliche Gnaden- und Sa­ kramentslehre unter diesen Einflüssen wesentlich den Erlösungsgedanken bearbeitet, so ist bei anderer inhaltlicher Fassung doch auch für den Protestan­ tismus die Erlösungslehre das alles verschlingende Zentrum. Aber auch der Paulinismus selbst ist durch das Medium der mittelalterlichen Fragestellungen und Bedürfnisse hindurch gesehen. I Für Paulus sind es kleine Gemeinden von getauften Erwachsenen, die aus der Welt und der Herrschaft der Sünde heraus in den Leib des Christus hineinverwandelt werden, im Fleische schon als in sich geschlossene Einheit der oberen Welt angehören und in Bälde dem wiederkommenden Christus entgegen gehoben werden. Für Luther ist es die aus den getauften Kindern erwachsende große Christenheit, die aus der Taufgnade Schutz und Trost gegen die immer wiederkehrende Sündhaftigkeit sucht, immer neue Vergebung und immer neue Kraft zum Guten braucht, in einer dauernden sündigen Welt die Individuen gerade auch als Glieder dieser Welt betrachtet und ihnen ihr Leben in der Welt mit Tröstung des Sünden­ schmerzes wie mit Anweisung des christlichen Wandels führen helfen muß. Die paulinische Erlösung läßt das Individuum untergehen in dem Christus­ leibe und entnimmt es mit ihm zusammen in einem Schlage prinzipiell der Welt. Die reformatorische Erlösung reguliert das Leben in der Welt, stärkt das kämpfende Individuum im Auf und Nieder seiner religiösen und sittlichen Le­ bensarbeit, hat die erbsündige verlorene Welt nicht draußen, sondern mitten in der Christenheit, und hilft dem einzelnen in immer neuem Anlauf die mit der Christenheit selbst identische und doch verlorene und verdammte Welt überwinden. Hier liegt zwischen Paulus und Luther die katholische Erlö­ sungslehre, die in einer mit der Welt identischen Christenheit die Erlösungs­ gnade stets neu erwerben gelehrt hatte. Wenn es Luther durch die Darbietung der Gewißheit der Sündenvergebung und der Katholizismus durch seine sakramentale Gnadeneinflößung tut, so ist das ein wichtiger Unterschied, aber der Rückgang auf das Neue Testament steht doch unter der gleichen Frage-

I. Die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus

91

stellung. Man kann auch anderes im Neuen Testament suchen; die spätmittel­ alterlichen Sekten, die humanistische Theologie, die Täufer, die Erlösungs­ lehre des modernen Idealismus haben anderes darin gefunden. Wenn der Protestantismus dies suchte und fand, so hat er mit den Fragestellungen des Katholizismus gelesen.& Luther las im Paulusa Antworten auf katholische Pro­ bleme, auf die Frage nach der Gewißheit des Heils in allen den Schwierigkei­ ten und Abhängigkeiten der kirchlichen Heilsvermittelung, in den Finsternis­ sen der Prädestinationslehre, und auf die Frage nach den sicheren Maßstäben der christlichen Selbstbeurteilung in all den Schwankungen und Verwickelun­ gen eines unabsehbar durch die Welt sich erstreckenden Lebens.b Daher geht auch die paulinische Erkenntnis und Entdeckung Luthers direkt aus dem Herzpunkt des katholischen Systems hervor, aus den Problemen des Mönch­ tums, des Bußsakramentes, der Prädestination, der guten Werke. Cwenn sich auch positiv zeigen läßt&, daß die Grundidee des Protestantismus aus der Kontinuität des Mittel­ alters herauswächst. Nicht um Schranken und Reste des Mittelalters oder um Rückfälle und Entartungen der Epigonen handelt es sich dabei, wie man oft von solchen spricht, um den spezifisch modernen Charakter der Reforma­ tion zu erweisen; sondern die leitenden Ideen erwachsen selbst I unmittelbar aus der Fortsetzung und dem Trieb der mittelalterlichen Idee heraus und sind nur neue Lösungen mittelalterlicher Probleme. Und zwar handelt es sich hier um died vier epraktischen Hauptschöpfungene des Protestantismus, um die Idee der Gnade und des Glaubens, um die Gestaltung einer religiösen, das Gesamtleben umfassenden Kultur, um die Verwirklichung dieser Idee in ei­ nem ausschließlich von ihrf bestimmten und ihr dienenden Staatswesen, um die Konstruktion des Kirchen- und Autoritätsbegriffes. Der reformatorische Gnadenbegriff ist eine mittelalterlich-augustinische, nicht eine unmittelbar paulinische Idee. Bei Paulus ruht die Religion auf dem Geiste als der Mitteilung des erhöhten Christus und ist ihre Wirkung der a

b

c-c

d e-e

f

In Afolgt: nur In A folgt: Hinter Paulus versinkt die Welt, und seine Gemeinde der Heiligen ist keine Kirchenanstalt; Luther kämpft gegen die Welt und sucht bei der Kirche den Trost der Heilsgewißheit gegen die Anfechtungen des selbstgerechten oder ver­ zagten Weltsinnes. A: Aber auch positiv läßt sich zeigen In A hervorgehoben. A: Grundideen A: dieser Idee

B. C 439

1. Der refor­ matorische Gnaden- und Glaubensbegriff.

92

A 259

B, C 440

A. Der Protestantismus in seinem allgem. Verhältnis zu Mittelalter und mod. Welt

Leib Christi, in dem alle Gläubigen vereinigt, der Welt abgestorben und eine neue Kreatur sind, bis sie der Herr heimholt oder verwandelt beim Kommen des Reiches. Im Katholizismus und in der Reformation ruht I die Religion auf dem Begriffe der Gnade als der beseligenden und heilsverbürgenden Kraft, die die Kirche ausspendet. ihre volle Wirkung als Grundlagen einer neuen Kul­ tur e doch erst getan, seit f die Oberherrschaft der geistlichen Idee und die kirchliche Uniformität g des Staates überhaupt - und d. h.h auch des protestantischen - gebrochen war i. Und i dies letzterej ge­ schah doch nur k im Zusammenhang mit der Selbstzersetzung des kirch-

a- Q

A: Hier ist zunächst der ungeheuren praktischen Wirkungen zu gedenken, die die A: Universalmonarchie, A: Kirchenguts c d-d A: gebracht hat. Die Beförderung des Absolutismus, die Ausbildung einer natio­ nalen Politik, die Entstehung einer einheitlichen rationellen Volkswirtschaft sind hierdurch zweifellos bewirkt oder nahegelegt worden. In A folgt· haben diese Fortschritte e A: seitdem sie f A: Konformität g A: das heißt h A: haben j -j A: das A: erst k b

1 14

B, C 456

A 267 Die Aufhebung des Sakraments­ begriffes als religiöse Zentral­ idee des Pro­ testantismus.

A. Der Protestantismus in seinem allgem. Verhältnis zu Mittelalter und mod. Welt

lichen Systems und mit dem Aufkommen einer neuena rein weltlichen Wis­ senschaft. Das bwesentlich Neueb sind daher doch nur die positiven religiösen Ideen der Reformation selbst. Sie sind in der innersten Wurzel antikatholisch. I Aber sie kommen zunächst über cias Wurzelstadium nicht hinaus; und als sie über dies Stadium hinauswuchsen und in freier Luft sich entfalteten, da führten sie in ein unermeßliches Wirrsal neuer Pro­ bleme. Es ist eben nicht so leicht, sie aus dem Boden der katholischen Kir­ chen- und Kulturidee zu lösen, in dem sie gewachsen waren. Immerhin ist die Wendung erkennbar genug. Die religiöse Zentralidee des Protestantismus ist die Auflosung des Sa­ kramentsbegriJJes, des echten und wahren katholischen Sakramentsbegriffes; wenn die Reformatoren zwei "Sakramente" haben bestehen lassen, so sind das keine eigentlichen Sakramente , sondern nur besondere I Dar­ stellungsformen des Wortes. c Das Wesen der katholischen Sakramentsidee ist die Aufnahme der alten Urform des religiösen Verkehrs der Menschen mit der Gottheit, died Bin­ dung übersinnlich göttlicher Wirkungen an sinnliche Mittel. Die Gottheit wird gegessen und getrunken, sie wird geopfert und ihr Blut angeeignet, sie strömt zu in heiligen Wässern, heiligen Ö len und heiligen Räucherwerken. Sie wohnt an heiligen Orten und in heiligen Menschen, die allein die gött­ liche Wunderkraft haben, aB diese Zauber zu verwirklichen. Im katholischen a

b-b c

d

A: neuen, A: Wesentliche In A kein Absatz. A: der

11. Die Aufhebung der mittelalterlichen Idee im Protestantismus

115

Sakrament ist es freilich kein einfacher Zauber und Blutsbund, sondern in dem sinnlichen Mittel wird die ganze religiöse Gefühlswelt und sittliche Kraft eingegossen. a Der Sakramentsbegriff der ethnischen Religion ist vom Katholizismus rezipiert, aber freilich auch durchgreifend vergeistigt, mit philosophischen Mitteln konstruiert worden. Wie die Stoa Sinnliches und Geistiges im Begriff der höchsten Realität vereinigt, wie der Begriffsrealis­ mus dem Geistigen eine dingliche Realität verleiht, so werden die Sakra­ mente als die Materialisierungen des Göttlichen, als die Kanäle der Gnade, als die Mittel der Erlösung, als das Zentrum der Kirchenanstalt, als mit der Wahrheitstradition zusammen das göttliche Wesen des Priestertums ausma­ chend, von der Theorie zum Kern des mittelalterlichen Dogmas gemacht. Sie sind I Fortleiter und Erzeuger alles Geistigen, alles Moralischen, aller Mystik und Sündenvergebung.a Außerhalb des Sakraments ist kein Heil, keine wahre Frömmigkeit, keine wahre Sittlichkeit. Daher muß die Sakra­ mentskirche herrschen über alle und eine unwürdige Menschheit erziehen und überwachen durch das Sakrament. Darum muß sie die durch das Sakrament verliehene religiöse Vollkommenheit abtrennen von aller natürlichen, und, wie das Sakrament selbst aus der Ü bernatur der transzendenten Gottheit stammt, so ist die inb ihm verliehene Sittlichkeit eine c weltflüchtig-asketische, und besteht die Kunst katholischer Ethik in einer Zusammen stimmung der natürlichen innerweltlichen Moral des Naturgesetzes mit der vom Sakrament zu verleihenden mystischen Moral. Indem aber das Sakrament bei aller Dinglichkeit des Vorgangs doch eine ethisch-religiöse Erhöhung und Reinigung ist, fordert es zur Behauptung dieses Charakters eine strenge Vorbereitung und Disposition in entgegen­ kommender Reinigung, in Sündenerkenntnis und Selbstheiligung, woran die ganze Gesetzlichkeit und der Moralismus einer heteronomen Moral an­ knüpft, und fordert es ebenso eine ethische Bewährung, in der die mystischen und innerweltlichen Motive der Ethik verknüpft werden und von der Moralanweisung des Beichtstuhls die von der Kirche geleitete Morallehre gea-a

b c-c

A: Aber gerade, daß das nicht in Menschenhand liegt und nicht vom wandelbaren Subj ekt abhängt, sondern völlig objektiv im sinnlich-übersinnlichen Wunder des Sakraments konferiert wird, das macht die Sicherheit und Göttlichkeit des Heils aus. Von diesem Punkte aus läßt sich der ganze Katholizismus konstruieren. Um des Sakramentes willen braucht er das Priestertum, als die durch wunderbare Weihe und Kraftzusammenhang mit Christus zur Sakramentsspendung befähigten Mittler. A: von A: weltflüchtig-asketische. Das Sakrament schließlich fordert als Gegengewicht die strengste Gesetzlichkeit.

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schaffen wird. Die Gnade wird von Verdiensten vorbereitet und in Verdien­ sten höherer Ordnung ausgewirkt, und bleibt doch Gnade, da sie nur im sakramentalen Wunder konferiert wird. Darum beruht auch alle Heilsgewiß­ heit auf den Sakramenten, die bei allen Schwankungen und Unvollkommen­ heiten der Verdienste gerade durch ihre dingliche Objektivität und ihre stete Wiederholbarkeit der Gnade gewiß machen.& An diesem Zentralpunkte nun hat Luther das katholische System durch­ brochen. Seine Lehre von Gnade und Glaube macht die objektive Religion zu einem Gedanken von Gott und die subjektive zu einem Bejahen dieses Gedankens oder zum Glauben und entwickelt alle Folgen rein psychologisch aus der Bejahung des Gedankens von Gott.21 Der Katholizismus a steIlt den Gedanken zurücka zugunsten sakramental-dinglicher Krafteinflößungen, die dann aber doch Gedanken, Gefühle und Willen hervorbringen sollen. Dieses sinnliche Wunder hat Luther beseitigt und nur das Wunder des Ge­ dankens bestehen lassen, daß der Mensch in seiner Schwachheit und Sünde einen solchen Gedanken fassen und vertrauensvoll bejahen könne. Die Re­ ligion und das Wunder ist in die Sphäre des Gedanklichen und des psychologisch Verständlichen gezogen, und damit ist dem katholischen Sy­ stem das Herz ausgeschnitten. b Das entspricht dem modernen Zuge zum a-a

b-b

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A: schaltet den Gedanken aus [Unten, S. 134] A : Damit fällt dann auch das Priestertum, e s bedarf nur des Predi­ gers solcher Gedanken, die an sich jeder ja auch selbst in der Schrift finden kann. Damit schwindet die Unmündigkeit der vom Priestersakrament abhängigen Menge; jeder kann sein eigener Priester sein und jeder sich selbst das Sakrament des Wortes reichen; alle Christen sind mündig und gleich in geistlichen Dingen. Damit schwindet schließlich die weltflüchtige Askese. Denn kein Sakrament trennt mehr I Natur und Ü bernatur; keine besondere Schaffung weltentrückter Bedin­ gungen ist mehr nötig, um das Ü berweltliche zu gewinnen und zu genießen. Der Gedanke kann sein mitten in allem Weltlichen; und seine religiösen Wirkungen können uns begleiten und durchdringen mitten in allem Tun des Berufs. Das Ge­ setz wird in ihm zur Freiheit. Damit verschwindet schließlich und vor allem der ka­ tholische Begriff Gottes, der neuplatonisch als Ü bernatur über der Natur thronte und aus der Natur heraus nur durch natürlich-übernatürliche Mittel in eine andere darüber liegende Sphäre erheben kann. Gott ist gegenwärtig mitten in seiner Welt und überall mitten in ihr durch den glaubenden Gedanken, durch demütige Sün­ denerkenntnis und vertrauende Hingabe zu erreichen. [Absatz] Das alles sind Ge­ danken von der ungeheuersten Bedeutung. Es ist die Innerlichkeit, Persönlichkeit und Geistigkeit der Religion; die Autonomie, Freiheit und Ganzheit der aus der

21 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 6.

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Gedanklichen und zur immanenten Verkettung aller seelischen Vorgänge, zur Immanenz Gottes in dem geistigen Leben selbst. Damit sind auch alle Hingabe an Gott quellenden Sittlichkeit; es ist die Immanenz und Gegenwart Got­ tes in seiner Welt und die Weihung alles Natürlichen als eines gottgewollten Be­ standteils seiner Schöpfung; die Ü berwindung des bösen Willens rein durch die Erkenntnis des göttlichen Heiligkeits- und Gnadenwillens. [Absatz, als Randko­ lumne: Verknüpfung der verinnerlichten Religion mit Verstärkung der Autoritäts­ und Erbsündenlehre.} Aber diese völlig modernen Gedanken haben nun die Re­ formatoren mit zwei völlig unmodernen Gedanken unlösbar verknüpft: erstlich mit der Bindung der erlösenden Gotteserkenntnis an eine absolute objektive su­ pranaturale Autorität und eine diese Autorität handhabende Kirchenanstalt von nicht minder supranaturalem Charakter; zweitens mit der aufs höchste gesteiger­ ten Lehre von der Erbsünde, die alles Christliche vom Außerchristlichen isoliert, die Gegenwart Gottes in der Schöpfung und den natürlichen Gütern wieder ent­ wertet und das ganze Weltbild an den Mythos von der ursprünglich vollkommen leidlosen, todes freien und dann um der Freiheit willen verlorenen und leidvollen Welt festheftet. Mit dem ersten ist die ganze Idee der geschlossenen kirchlichen Zwangskultur gegeben, die unter die göttliche Wahrheit und ihr Institut die Welt zu beugen verpflichtet ist, und mit dem zweiten die spezifisch altprotestantische Askese, die alles Weltleid als Sündenstrafe und alles Irdische nur als Mittel des Himmlischen betrachtet, und daher von einem Selbstzwecke und einem eigenen inneren Entwicklungsgesetz des Staates, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kunst nichts weiß. Nur dadurch war ihnen die Meinung möglich, daß sie den Ka­ tholizismus und die Kirche bloß reformieren und sie nicht etwa aufheben. Nur da­ durch war ihnen aber auch der Erfolg möglich, weil sie so den Katholizismus von innen heraus und nicht von außen her angriffen. Daß aber diese Gedanken von dieser Verknüpfung befreit nicht eine dann übrig bleibende rein protestantische Lehre ergeben, sondern daß sie Keime gewaltigster weiterer Umwälzungen sind und eine wirkliche Neubildung des religiösen Lebens überhaupt nur erst sehr ver­ einzelt hervorgebracht haben, das zeigt die Entwicklung der modernen Welt und des modernen Protestantismus. I [Absatz, als Randkolumne: Einteilung der Darstellung.} Die folgende Darstellung wird also ihren Stoff sehr einfach in zwei große A 269 Hauptgruppen teilen dürfen, in die des alten und die des modernen Protestantismus. Da aber die sich auf beide verteilenden Gedanken schon beisammen sind im Denken der Reformatoren, und da die Reformatoren nur Bestandteile der großen allgemeinen religiösen Umwälzung des ausgehenden Mittelalters sind, so ist dem eine Darstellung der religiösen Bewegungen des 1 6. Jahrhunderts vorauszuschikken, wo neben den Reformatoren noch andere mächtige Kräfte hervortraten. Die Reformatoren haben diese Kräfte zurückgedrängt. Es wird sich zeigen, daß sie in der späteren Geschichte des Protestantismus wieder ihre Wirkung ausüben und für die Zurückweisung von seiten des Altprotestantismus sich rächen durch um so stärkere Beeinflussung des Neuprotestantismus. [In A steht in der nächsten Zeile ein kurzer Trennstrich.}

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weiteren Folgen22 gegeben, in denen sich der moderne Charakter des Prote­ stantismus auswirkt. Das erste und Entscheidende ist die Verwandelung des religiösen Grund­ vorgangs aus einem sakramentalen, wenn auch noch so ethisierten I und ver­ geistigten Zauber in ein rein durchsichtiges Ereignis des Gedankens und der Gesinnung. Die Religion wird zur Glaubens- und Geistesreligion. Freilich ist dabei der besondere Charakter der religiösen Erkenntnis gewahrt, und seine Wahrung gegen die Gefahr des Hinübergleitens in ein rein menschliches Denken ist ein Hauptanliegen Luthers. Es geschieht einmal durch die Beto­ nung des praktischen und Gesinnungscharakters dieser Erkenntnis, die nicht eine verwickelte Lehre, sondern ein Vertrauen zu dem klar erkannten einfa­ chen Grundwesen Gottes und des göttlichen Liebeswillens ist. Die Einheit und Einfachheit, die praktische Erringung und praktische Auswirkung un­ terscheiden ihn von ergrübelter Lehre und Spekulation. Mehr aber noch als das dient dieser Aufgabe die Prädestinationslehre. Sie ist das ganz natürliche Gegengewicht gegen die Verwandelung der Religion in Gedanke und Er­ kenntnis und tritt daher von Anfang im engsten Zusammenhange mit der ganzen neuen Religiosität auf. Der religiöse Gedanke nämlich ist kein vom Menschen erfundener und ergrübelter, das Vertrauen kein einfacher Willens­ entschluß, sondern Gedanke und Wille sind gewirkt durch Gott, ein Wirken Gottes in uns. Darum sind sie ohne alles Verdienst, darum sind sie vor allem kein Menschenwerk und kein subjektiver Wahn. Der Gedanke bleibt Ge­ danke, aber auch als Gedanke ein Wunder Gottes. Luther hat die Prädestina­ tionslehre nur so weit gepflegt und betont, als sie diese Bedeutung hat. Im übrigen hat er die Geheimnisse und Abgründe dieser Idee gemieden, vor al­ lem es unterlassen, daraus die irrationalistischen Folgerungen einer rein wil­ lensmäßigen und darum völlig verschiedenen Bestimmtheit der Menschen durch Gott zu ziehen, wie das der Calvinismus getan hat. Aber die Allein­ wirksamkeit Gottes im Heil blieb auch ihm immer eine Kernlehre. Freilich ist nun durch die Prädestinationslehre zwar der religiöse Gedanke zu einem Denken und Wirken Gottes im Menschen gemacht, aber zugleich damit ist die Gefahr eines ungeschichtlichen religiösen Enthusiasmus nahegelegt. Es ist die Gottgewirktheit des religiösen Gedankens gewahrt, aber seine histo­ rische Abhängigkeit und seine Christlichkeit gefährdet und mit alledem der Gedanke der kirchlichen Heilsanstalt. Eine enthusiastische und spiritualisti­ sche Mystik droht hereinzubrechen. Dem nun begegnet Luther durch die stärkste Betonung der geschichtlichen Gemeinschaft und des von ihr über­ lieferten Wortes Gottes, durch dessen Wirkung allein Gott die Prädestina-

22 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 6.

II. Die Aufhebung der mittelalterlichen Idee im Protestantismus

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tion auswirken will. Nur im "Wort" will Gott gesucht werden, und nur durch das "Wort" bewirkt er die Erkenntnis. Der Betonung des Erkenntnischarak­ ters der Religion entspricht die Betonung des "Wortes", durch das die Er­ kenntnis gewirkt wird. Und wiederum ist dabei auch diese geschichtliche Ü berlieferung und Gemeinschaft mehr als ein natürlich-geschichtliches Ge­ bilde; es ist die auf Christi Heilstat begründete Offenbarung der Bibel und die um die Bibel gescharte kirchliche Erlösungsanstalt. Die Religion ist ein supranaturaler Vorgang als prädestinatianisches Wirken Gottes, aber sie ist ein supranaturaler Vorgang I auch als vermittelt durch das Wort und durch das geordnete Amt, dem die Ü berlieferung des erlösenden Wortes anvertraut ist. Luther hebt das so stark hervor, daß ihm hinter dem "Wort" und seiner Zusage des Heils alles Grübeln über die Prädestination und ihre Ge­ heimnisse wieder zurücktritt in das Dunkel der verborgenen göttlichen Weisheit. Der Calvinismus hat sich mehr an die Prädestination als an das Wort gehalten, aber doch auch alle Auswirkung der Prädestination an das Wort gebunden und sich dadurch freilich nicht abschrecken lassen, das Geheimnis der Prädestination in seine letzten Konsequenzen auszudenken. In der prak­ tischen Wirkung aber bedeutet diese Bindung der Prädestination an die Ver­ mittelung durch das Wort das Festhalten an der geschichtlichen Ü berlieferung, an der kirchlichen Erlösungsanstalt, an dem konkreten, durch göttliche Autorität festgelegten Sinn der christlichen Erkenntnis, die Gestaltung des Glaubens als freie, persönliche Beugung unter die aus der Geschichte aufge­ nommene Autorität. Damit ist die Innerlichkeit des Vorgangs, aber auch sein supranaturaler Charakter und seine supranaturale Bewirkung durch die Bibel behauptet. Aller weitere Supranaturalismus verschwindet. Insbesondere folgt daraus die Aufhebung des sakramentalen Wunderzaubers und der priesterlichen Sakramentsherrschaft. Alles empfängt einen Zug zum Ge­ danklichen und Erkenntnismäßigen, der Mythus der Volks religion und die ethnische Unterströmung der Religion mit ihrer Poesie und ihrem Heidentum, die Heiligen und die realistisch-magischen Kulte verschwinden. Im Dogma selbst treten die in einem Zentralgedanken gesammelten, auf das Heil der Sündenvergebung und Erneuerung sich beziehenden Gedanken hervor, alles übrige wird ausgemerzt. Eine neue Idee des Kultus entsteht, der von allem bisherigen Kultus verschieden ist und keine sakramental-mystischen Verbindungen mit der Gottheit, keine realistisch-magischen Einwir­ kungen auf die obere Welt kennt, sondern nur Erlösung und Erhebung im Gedanken oder Wirkung im Gebet und in der Selbstdarstellung der andächtigen Gemeinde vor Gott. Freilich hat auch hier der Calvinismus die puristischen Konsequenzen viel schärfer gezogen als das Luthertum. Er hat den Kultus durchgreifend vom neuen Prinzip aus reformiert, während Luther nur das mit ihm ganz Unverträgliche beseitigte. Er hat die Sakramente rein

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zu Wirkungen durch das Wort gemacht, während Luther in steigendem Maße sakramentale Elemente in die Lehre von der Taufe und besonders vom Abendmahl wieder aufnahm. Er hat die Unklarheit von Gefühl und Stim­ mung verbannt und sich an den reinen, scharfen Gedanken gehalten, wäh­ rend das Luthertum Gefühl und Stimmung als Wirkung und Probe der reli­ giösen Erkenntnis viel stärker in den Vordergrund stellt. Scharfer und klarer Gedanke als Grundlage, strenges und umfassendes Handeln als Wirkung und Erprobung sind der Charakter des Calvinismus, einfache und intuitive Vergegenwärtigung der Wahrheit und seliges Ausruhen in ihrer Gefühlswir­ kung mit sicherer Zuversicht zu den automatisch hervortretenden Wirkun­ gen ist der des Luthertums. I Mit diesem Ersten ist nun unmittelbar das Zweite verbunden. Jede solche Erkenntnis ist nur möglich in eigener persönlicher Ü berzeugung, als eine völlig individuelle Gewißheit, die jeder nur auf seine Weise und auf seine eigene Rechnung hat. Es ist die Einsetzung des religiosen Individualismus in sein nicht bloß faktisches, sondern prinzipielles Recht. Wie jeder Gedanke einen überzeugenden Sinn hat, nur wenn er ein eigener und selbständiger Gedanke ist, so gilt das auch von der Religion. Jedes Individuum steht nicht bloß un­ mittelbar in Geist und Gedanken seinem Gott gegenüber, sondern es steht auch auf eigene Weise und in eigenem Sinne Gott gegenüber. Wird hierbei in der Weise des Calvinismus die Prädestinationslehre in den Vordergrund ge­ stellt, so entsteht daraus ein radikaler religiöser Individualismus, der jedes In­ dividuum auf innerlichste Weise von Gott mit dem Glauben erfüllt und mit einer unzerstörlichen Gewalt gefestigt weiß. Luther hat mehr als die Calvini­ sten die geschichtlichen Vermittelungen betont, innerhalb deren der Gläu­ bige zu seinem Glauben kommt. Aber auch er hat doch in seiner eige­ nen Haltung die absolute Sicherheit des religiösen Individuums betätigt und durch sein Vorbild allen vor Augen gestellt. Dieser religiöse Individualismus ist nun aber das Gegenteil aller kirchlichen Autoritätsreligion. Er kennt nur eine Autorität, Gott und das eigene Gewissen, in dem Gott spricht. Im übri­ gen kennt er Pietät und Rücksicht, menschliche Schätzung aller kirchlichen Dinge, soweit sie der reinen Erkenntnis nicht geradezu hinderlich sind. Hier wiederum gehen Luthertum und Calvinismus auseinander; das erste ist in al­ len nicht direkt das Grunddogma angehenden Dingen tolerant und konser­ vativ, der letztere auch nach den peripherischen Beziehungen hin radikal und puristisch. Aber beide behaupten darin nur den Individualismus der Glau­ benserkenntnis. Ein mit dem Opfer eigener Ü berzeugung und Meinung zu befolgendes und die Demut im Gehorsam erprobendes Glaubensgesetz ist diesem Individualismus unbekannt. Wie der Glaube der Gegensatz gegen das Sakrament und die priesterliche Erlösungskraft ist, so ist der religiöse In­ dividualismus der Gegensatz gegen das Kirchendogma und die priesterliche

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Lehrautorität. Er ist auch seinerseits eine Emanzipation von der Gewalt der Kirche und des Priestertums, wenn auch nicht von der Macht der Ü berliefe­ rung und dem Einfluß des Gemeinlebens. Aber diesem steht der Glaube frei gegenüber und nimmt aus ihm heraus, was dem Gewissen und der ernsten religiösen Arbeit als bezwingend und befreiend sich darstellt. Es ist derjenige Gegensatz gegen das Dogma, den Luther überhaupt erreicht hat, der eine neue religiöse Stellung zu ihm, aber nicht seine Auflösung bedeutet. Nicht Unterwerfung unter ein Kirchengesetz der Lehre ist die religiöse Erkenntnis, sondern freie vertrauensvolle Bejahung der religiösen Idee, die aus Ü berlie­ ferung und Leben uns entgegentritt und die an ihrer erlösenden Kraft und gewissenstillenden Wirkung erkennbar ist. Freilich ist es dann hierbei für den gesamten alten Protestantismus eine Selbstverständlichkeit, daß diese Idee selbst in ihrem I gedanklichen Gehalt trotz aller freien Ü berzeugungsaneignung unerschütterlich und eindeutig verbürgt ist durch die Bibel und in­ nerhalb ihrer vor allem durch die apostolische Christuslehre. Der ganze neue Individualismus erschüttert doch nicht die Grundvoraussetzung einer schlechthin geltenden historisch-supranaturalen Autorität und Offenbarung. Beides ist vereinigt durch die Lehre vom heiligen Geist, der den Glauben wirkt, der als Geist nur in Kraft freier Ü berzeugung wirken kann und der als heiliger Geist diese freie Ü berzeugung zur gemeinsamen Anerkennung des apostolischen Christusglaubens führen wird und führen muß. Er ist die sichere Kraft, die den religiösen Individualismus nie in rein menschlichen Subjektivismus ausarten läßt, sondern ihn vielmehr an das Historische festkettet und auch dieses Historische nicht als bloß menschlichen Gemeingeist, sondern als göttliche Offenbarung und Offenbarungsüberlieferung sicherstellt. Es ist der Geist Christi, der die Gläubigen sich einverleibt hat zum my­ stischen Leben der Gemeinde in Christo und der, indem er die Freiheit des radikalen Individualismus erzeugt, durch sie in nichts anderes leiten kann als in die schlechthin feststehende Wahrheit. Eben darum ist dieser Begriff der Wahrheit kein formaler, sondern die Gewißheit eines ganz bestimmten religiösen Gedankeninhalts: die Gewißheit von der Heilstat des menschgewordenen Gottessohnes. Alle Kritik, die durch diesen Individualismus entbunden wird, bleibt daher in enge Grenzen gebannt. Ihr verfällt die ganze katholische Ü berlieferung, und hier bildet der Protestantismus neben der weltlich-philologischen Forschung einen starken historisch-kritischen Geist aus. Aber diese Kritik dient rein und ausschließlich dem religiösen Bedürfnis zur Sicherstellung der biblischen Gnaden- und Glaubensreligion gegen die katholische Tradition. Sie denkt nicht an eine Erschütterung der biblischen Ü berlieferung selbst. Diese wird vielmehr gerade durch den heiligen Geist in freier, von ihm bewirkter Zustimmung erst recht befestigt und ins Licht gestellt. Ein kritischer Sinn an sich ist dieser Individualismus nicht; er ist rein

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ethisch und religiös verstanden und sucht nur die volle Festigkeit und Eigen­ überzeugung des übrigens feststehenden religiösen Gedankens selbst. Eben­ deshalb ist auch der protestantische Kirchenbegriff des allgemeinen Prie­ stertums nur eine tiefgreifende Modifikation des katholischen Kirchenbe­ griffes, aber nicht seine Aufhebung in dem entscheidenden Hauptpunkt, in der Behauptung einer uniformen alle verpflichtenden und alle beherrschen sollenden Wahrheit. Diese Wahrheit ist auch ihm eine sichtbare und in Wort und Sakrament genau feststellbare supranaturale Kraft, die es gilt allbeherr­ schend auf den Leuchter zu stellen; nur die Wirkungsweise dieser Wahrheit ist eine rein innerliche unsichtbare der persönlichen Ü berzeugung, und die von ihr gestiftete Gemeinschaft ist eine Glaubens- und Gesinnungsgemein­ schaft, die sich die rechtlichen Formen zur Pflege von Wort und Sakrament nach Belieben bilden mag oder bei den Reformierten von der Bibel geben läßt. Zur Möglichkeit verschiedener Kirchen nebeneinander und verschiedener Glaubensüberzeugungen in derselben Kirche dringt I dieser Individua­ lismus nicht vor, aber er wirkt alles, was er bei Vermeidung dieser Konse­ quenz wirken kann. Daraus folgt dann unmittelbar auch das Dritte. Der religiöse Gedanke ist kein wissenschaftlich erklärender, sondern ein praktisch-intuitiver Gedanke, er allein ist die Quelle und der Träger aller religiösen und ethischen Wirkun­ gen, nicht ein unverständliches sakramentales Stoffwunder, das seine geistli­ chen Wirkungen nur durch mühsame Vorbereitung und durch dunklen Zau­ ber ausüben kann. Er ist vielmehr ein Gedanke, aus dessen innerem Wesen logisch und psychologisch sich die religiösen und ethischen Wirkungen ab­ leiten und verstehen lassen. Ein völlig durchsichtiger Zusammenhang tritt an Stelle der vereinzelten und zerstückelten Akte, der Vorbereitungen, der Sa­ kramentsempfänge und der damit bewirkten guten Werke. Die durchsichtige Gedankennatur des Glaubens teilt sich allem mit, und so kann er psycholo­ gisch durchsichtig zeigen, wie aus diesem Gedanken die neue religiöse Le­ bensstellung, das Vertrauen, die Seligkeit, die Liebe, die Hingebung und der Gehorsam gegen Gott hervorquellen, wie sich der Glaube umsetzen muß in ein Handeln aus der mit Gott geeinigten und seinem Willen hingegebenen Seele heraus. Es ist der Stolz der Reformatoren, daß sie zeigen können, quo­ modo bona opera fieri possint.23 Der Glaube ist, wie ein Gedanke, so auch eine Gesinnung, die aus der Gotteserkenntnis entspringt und zum Handeln treibt. Und dabei ist das Große, daß nicht bloß dies Hervorgehen des Ethi23 Vgl. den Schluß der Beweisführung von Confessio Augustana XX: "Hinc facile ap­ paret, hanc doctrinam non esse accusandam, quod bona opera prohibeat, sed multo magis laudandam, quod ostendit, quomodo bona opera face re possimus." Die sym­ bolischen Bücher der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. von Müller, S. 46, Nr. 35.

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sehen aus dem Religiösen sich psychologisch erleuchtet, sondern daß auch das Ethische selber als aus einem Punkte quellend einheitlich und durchsich­ tig wird. Die Ethik wird zur Gesinnungsethik. Das einzelne Handeln hat seinen Wert nur in der prinzipiellen Gesinnung, aus der es quillt, und das Handeln ist nicht eine Summe zersplitterter einzelner "Werke", sondern die Auswir­ kung einer einheitlichen Gesinnung in einer einheitlichen Lebenshaltung und einem einheitlichen Lebenswerk. Das ist der Gegensatz gegen die Ge­ setzesethik und die Lohnethik in jedem Sinne. Der Fromme empfängt das Gesetz durch sich selbst aus seiner auf den Gottesgedanken gerichteten Ge­ sinnung, er wendet es an in freier, eigener Ü berlegung auf den einzelnen Fall, er wirkt nur eine von Gott ihm geschenkte Grundhaltung aus und haftet nicht am einzelnen Werke, damit auch nicht an dessen Lohn- oder Straffol­ gen. Das Ganze aber ist eine Stiftung und Wirkung des Glaubens und außer­ halb jedes Gedankens an Lohn und Gesetz. Das ist der schärfste Gegensatz gegen die Gesetzesethik des katholischen Beichtstuhls mit ihrem autoritati­ ven Moralgesetze, ihrer priesterlichen Anwendung, ihrer beständigen Bezie­ hung auf Fegefeuer, Himmel und Hölle; es ist eine neue Richtung des ethi­ schen Gedankens. Und damit ist dann im Grunde auch dasjenige abgetan, was vor allem die katholische Ethik zersplitterte und veräußerlichte, die ganze ethische Bedeutung der Eschatologie mit ihren Belohnungen und Be­ strafungen. Die Seligkeit ist eine dem guten Handeln innerlich immanente, aus der Glaubensgewißheit jetzt schon quellende, ebenso wie I die Unseligkeit aus dem bösen Handeln und der Gottesferne hervorgeht. Aber auch hier wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß damit der reine Gedanke der ethischen Autonomie aufgerichtet wäre. Er empfängt seine Schranken in einer selbstverständlichen Voraussetzung, die auch hier obwaltet, in der Voraus­ setzung, daß der aus dem Glauben erwachsende gute, Gott hingegebene Wille von selbst zusammenfällt mit dem göttlichen Gesetz des Dekalogs, und in der weiteren Voraussetzung, daß dieses supranaturale Gesetz identisch ist mit dem natürlichen Sittengesetz. Gegenüber den Sekten, die die christliche Ethik einengen auf die radikale Sittengesetzgebung der Bergpredigt, betont Luther die Freiheit von Buchstaben und Gesetz. Dazu treibt ihn nicht bloß sein Prinzip der Gesetzesfreiheit, sondern auch die Notwendigkeit einer das allgemeine Leben umfassenden Kirche, die jene Gebote ausweiten und mit dem praktischen Leben ausgleichen muß. Aber jene Freiheit vom Buchstaben der Bergpredigt ist keine Freiheit vom supranaturalen und geoffenbarten Gesetz überhaupt. Dies letztere stellt sich nur dar in der weiteren und unbestimmteren Gestalt des Dekalogs, der bei strenger Fassung seiner ersten Hälfte als Forderung von wahrhafter Gottesliebe, Furcht und Vertrauen identisch ist mit dem Gesetz Christi und in seiner zweiten Hälfte identisch ist mit den erhaltenen Resten des ins Gewissen geschriebenen Na-

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turgesetzes. An Stelle der Gesetzgebung des Beichtstuhls und an Stelle des sektenhaften "Gesetzes Christi" tritt der Dekalog, der als übereinstimmend mit dem Naturgesetz und in seiner tiefen Bedeutung erläutert durch das Evangelium vom heiligen Geist zu dem den Willen leitenden Gesetz von selbst gemacht wird. Wie vorhin Individualismus und dogmatische Autori­ tät, so sind hier Autonomie und Offenbarungsgesetz zusammengebogen durch die Macht selbstverständlicher Voraussetzungen, und wie von hier aus bei dem ersten die Autorität ganz naturgemäß immer stärker entwickelt wurde, so bei dem zweiten der Gedanke des übernatürlichen Sittengesetzes. Die Ethik wird Auslegung des Dekalogs, im Luthertum weiterhin unterstützt durch Privatbeichte und Kasuistik, im Calvinismus aber entfaltet zu einer bi­ blischen Sittengesetzgebung, die, aus Altem und Neuem Testament den De­ kalog erklärend, zu einer universalen christlichen Lebensordnung wird. Und wie das übernatürliche Sittengesetz im autonomen Willen, so bleibt in der immanenten Seligkeit des Gläubigen die Furcht vor der Hölle und die Aus­ sicht auf die himmlische Seligkeit doch überaus nachdrücklich erhalten. Nur das Fegfeuer wird aus der katholischen Eschatologie gestrichen, das freilich den heteronomen Lohn- und Strafgedanken am stärksten in sich sammelte, das aber doch auch in den Gedanken der charakterologisch bedingten Fort­ entwickelung umgebogen werden kann. Aber gerade dieses letztere hat der Protestantismus lebhaft abgelehnt. Schroffer und unvermittelter als der Ka­ tholizismus knüpft er an die ethische Leistung oder Nicht-Leistung oder vielmehr an Gläubigkeit oder Nichtgläubigkeit die rein supranaturale Hete­ ronomie der Höllenschrecken und der Himmelsfreuden. I Ist derart überall der Gegensatz zwischen Natur und sakramentaler Ü ber­ natur, individueller Eigenart und übernatürlicher Autorität, gutem Willen und göttlichem Gesetze beseitigt, ist der Gedanke Gottes etwas aus dem in­ neren Wesen des Menschen Aufquellendes und die neue Gesinnung ein Ge­ samtprinzip des Lebens, so muß viertens auch im Inhalte der Ethik der Ge­ gensatz zwischen dem Weltleben und dem weltflüchtigen Mönchsideale verschwinden. Eine Religion, die ein heller Glaube und Gedanke zu sein ver­ mag und kein dunkles Sakramentswunder zu sein braucht, die kann auch das Handeln der Gläubigen nicht aus der Welt hinausführen, sondern muß die­ sen Gedanken die Welt durchdringen und gestalten lassen. Es würde wie eine Flucht in besondere und selbstgemachte Lebensbedingungen sein, statt sich den natürlichen von Gott gesetzten zu unterziehen. Wie das Wunder des Glaubens nur der Mut zu einem an sich völlig durchsichtigen und klaren Ge­ danken ist, so kann das Wunder des Handelns nur die Kraft und Freudigkeit der Arbeit in den gegebenen Verhältnissen sein. Wie die ethische Gesinnung eine einheitliche Durchwirkung der gesamten Persönlichkeit ist, so muß sie auch allen den gleichen Lebensstoff zur Durcharbeitung anweisen. Und wei-

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terhin und vor allem: der radikale religiöse Individualismus hat zu seiner Folge einen ebenso radikalen ethischen. Die Gleichheit der sittlichen Forde­ rungen an alle wird etwas Selbstverständliches. Die ständischen Abstufun­ gen, die Stellvertretungen und Ergänzungen des einen durch den andern, die der katholischen Ethik ihren Charakter gegeben und ihr das Nebeneinander einer weltlichen und einer asketischen Sittlichkeit ermöglicht hatten, fallen dahin und eine qualitative Gleichheit der sittlichen Forderung für jedes Indi­ viduum gehört zum Wesen des Ethischen. Das Vollkommenheitsideal, das der Katholizismus in seinem System der organisch in der Kirche verbunde­ nen Stände verschieden hatte abstufen können, wird jetzt erst uniform. Die religiöse Kategorie der Stellvertretung zieht sich ausschließlich auf Christus zusammen und hat hier nicht den Sinn der Ergänzung der weltlichen Sittlich­ keit durch die asketische, sondern den ganz singulären Sinn der Befriedigung und Ablösung des göttlichen Strafzornes. Die einheitliche Gesinnungsethik macht derart den Sonderbezirk guter Werke in der Askese übeiflüssig und unmöglich und hebt die Abstufungen des Vollkommenheitsideales auf; sie fordert, wie die glei­ che Einstellung auf das Leben, so das gleiche Motiv der Gottesliebe bei allen und macht damit einen aus besonderen asketischen Motiven entspringenden Kreis der Askese undenkbar. Von allen diesen Seiten her ergibt sich die Fol­ gerung des Gegensatzes gegen die besonderen und überverdienstlichen, weltabgewandten und Sonderkreise stiftenden Werke des Mönchtums. Da­ mit ergibt sich dann aber der prinzipielle Gegensatz gegen alle asketische Verwerfung der Welt und Natur und das völlige Eingehen auf die natürlichen Lebensverhältnisse und die geschichtlichen Kulturbildungen. Es ist auch an diesem Punkte die Durchbrechung des katho l lischen Stufenprinzips, das Natur und Ü bernatur, natürliche Sittlichkeit und Wundersittlichkeit in einem System von Ü bergängen und Ergänzungen verband und das höchste und eigentlichste Wunder erst in der asketischen, weltentrückten Sittlichkeit finden konnte, ohne doch dadurch die übrigen Stufen zu entwerten. So schroff nun Luther an sich auch in der Ethik den Wundergedanken festgehalten und ihn geradezu durch seine verschärfte Erbsündenlehre gesteigert hat, so ist doch das beibehaltene Wunder selbst in seinem inneren Wesen verändert. Es ist nicht mehr Ü bernatur oder Einwirkung eines göttlichen Zaubers auf die Natur, sondern das Zurückgeführtwerden des Menschen auf sein eigentliches echtes Wesen selbst durch die uns ergreifende und in Christus sich verbürgende Offenbarung des wahren Grundwesens Gottes, der gnädigen Liebe. Daher ist auch sein Tätigkeitskreis nicht mehr ein der Ü bernatur ent­ sprechender Kreis übernatürlicher Leistungen, sondern die schlichte Ausfüllung der natürlichen Lebensaufgaben mit dem bloßen Wunder der gottver­ trauenden und gotteinigen Gesinnung. Insofern hatte Goethe ein Recht, Luther als den zu feiern, der "dem Menschen wieder den Mut gegeben hätte,

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fest auf der gottgegebenen Erde zu stehen".24 Aber die Sache hat auch hier ihre Kehrseite. Gerade indem das Vollkommenheitsideal für alle gleich wird, wird die strenge Ü berweltlichkeit und Jenseitigkeit der Abzweckung alles Sittlichen, der Bekehrungsbruch mit aller Weltliebe, auch hineingetragen in jede Einzelsittlichkeit und das Haben der Welt zu einem Haben, als hätte man nicht. Wie schon oben gezeigt: die Askese wird etwas anderes, aber sie rückt dafür auch tiefer hinein in das natürliche Leben. Es ist mehr ein Erdul­ den und Leiden der Welt als ein Bejahen und freudiges Entwickeln ihrer Auf­ gaben. Wie sehr das der Fall ist, erhellt aus nichts deutlicher als aus der Ge­ staltung des Berufsbegriffes. Die katholische Ethik hatte die arbeitsheilige Gesellschaft und damit das System der Berufe aus dem Naturgesetz abge­ leitet und der natürlichen Stufe der Ethik zugewiesen; die darüber erbaute mystische Ethik der Gottes- und Menschenliebe sollte zwar dieses Berufs­ system organisierend durchdringen, hatte aber daneben noch einen völlig freien Spielraum rein persönlicher mystischer Liebesverbindungen. Die pro­ testantische Ethik dagegen nimmt das natürliche Gesetz in das christliche hinein und macht den Beruf an sich zum Spielraum der religiösen Nächsten­ liebe, die in erster Linie durch Aufrechterhaltung der Gesellschaft als Liebes­ dienst für das Ganze im geordneten Berufe sich betätigt. Damit wird die Be­ rufsausübung in den Begriff der christlichen Liebe selbst hineingenommen und entsteht der etwas hausbackene und bürgerliche Charakter dieser Ethik zugleich mit ihrer prinzipiellen Zuwendung zu den Weltaufgaben. Die Aus­ arbeitung dieses Begriffes als des ethischen Zentralbegriffes gibt dann die Möglichkeit, den Boden der gegebenen Verhältnisse als den gottgewollten Spielraum des christlichen Handelns zu betrachten und bei der Gleichheit des Vollkommenheitsideals doch durch die Besonderungen des Berufes den I nur qualitativen Gleichheitscharakter bei Freigebung aller individuel­ len Differenzen zu behaupten. Allein um deswillen ist doch dieser Berufs­ begriff weit entfernt von dem Begriff eines inneren Wertes der weltlichen Betätigungen in sich selbst und einer auf Grund verschiedener Lebens­ lagen und Begabungen sich auswirkenden freien Individualität des Sittlichen. 24

Vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1 999) , hier: Gespräch am Sonntag, 1 1 . März 1 832, S. 748 ( = Johann Wolf­ gang Goethe: Sämtliche Werke. 2. Abteilung, Band 1 2 [39]): "Wir wissen gar nicht, fuhr Goethe fort, was wir Luthern und der Reformation im Allgemeinen Alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind in Folge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzu­ kehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Men­ schennatur zu fühlen."

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Auch er ist eng gebunden durch supranaturale Selbstverständlichkeiten. Die Geltung und Bedeutung des Berufes nämlich ist überall nur die einer gött­ lichen Setzung und Stiftung, einer rein positiven göttlichen Anordnung. Teils ist er unmittelbar eingesetzt von Gott wie die Ehe und die Obrigkeit, teils ist er mit dem Naturgesetz von ihm geordnet und fällt zusammen mit den Ord­ nungen, Zünften, Herrschaften und Rechten des herrschenden sozialen Systems, das aus dem Triebe des Naturgesetzes unter Leitung und Zulassung der Vorsehung hervorgegangen ist. Während im katholischen System die Be­ rufs gliederung mittelbar, d. h. aus dem natürlichen Gesetz folgt und in inne­ rer Fortleitung von den weltlichen Berufen aus die Sittlichkeit emporsteigt zu den mystischen Höhen, ist für den Protestantismus der Beruf eine aus dem unmittelbaren göttlichen Willen folgende Stiftung, innerhalb deren die religiöse Moral zu betätigen ist; aber es fehlt j ede innere Vermittelung der Berufsarbeit mit dem christlich-ethischen Ideal, es sei denn, daß diese Arbeit als der Erhaltung der Gesellschaft dienend unter die Betätigung der Näch­ stenliebe gerechnet wird, womit wiederum jede, wenn auch relative, Selbst­ wertigkeit des innerweltlichen Schaffens aufgehoben wird. Man leistet die christliche Liebe in den nun einmal vorhandenen Berufsverhältnissen der Gesellschaft. Ebendeshalb bedeutet der Beruf auch nicht die von innen her­ aus wirkende Individualisierung der Sittlichkeit, die erst in individueller Eigen­ heit ihren wahren Wert besäße, sondern die von außen geordnete Besonder­ heit der Lage und Stellung, in die man mit Gottvertrauen und Demut sich fügen soll. Die protestantische Berufsidee führt unzweifelhaft die christliche Sittlichkeit tiefer in die Welt hinein, aber j ede Deutung ist falsch, die in ihr eine innere Verbindung des Weltlichen und Ü berweltlichen, eine von innen heraus wirkende freie Individualisierung des Sittlichen zu sehen meint. Hier kam das katholische Ideal des Stufenbaus dem Gedanken der Kontinuierlichkeit und Einheit des Lebens näher als die protestantische Neben- und Ineinan­ derfügung gottgesetzter Lebensverhältnisse und zuversichtlich duldender Glaubensbewährung. Und wenn der Calvinismus beides sehr viel enger in­ einander geschlungen hat, so ist er eben damit erst recht asketisch geworden. In diesen vier großen Gedanken, dem der Glaubens- und Erkenntnisreligion, des religiösen Individualismus, der Gesinnungsethik, der Gleichheit des Vollkommenheitsideals und der Weltoffenheit liegen die neuen Prinzipien. Sieht man näher zu, so ist leicht zu erkennen, daß ihrerseits alle vier eine gemeinsame Wurzel haben. Diese gemeinsame Wurzel ist Luthers eigentümlicher Gottesgedanke, in dem vor allem das Prinzip I des Neuen liegt und in dem doch das Neue am tiefsten in der bloßen Stimmung, dem bloßen Gefühl, der instinktiven religiösen Grundhaltung verborgen ist. Seinen Gottesgedanken glaubte er mit den Gegnern gemeinsam zu haben und nur über das "Wie?" des Kommens zu Gott glaubte er mit ihnen uneinig zu sein. In Wahr-

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heit aber entsprach sein neues "Wie?" auch einem neuen "Was?", geradeso wie der alte Weg auch einem ihm entsprechenden und gemäßen Ziele ent­ sprochen hatte. Wenn die Religion und die Erlösung in Gedanken von Gott gefunden wird, dann muß auch der Gedanke von Gott ein neuer sein. Wie Ver­ änderungen im Zentrum sich oft in Symptomen an ganz entlegenen Stellen zeigen, so kann man diese Veränderung an zwei Lehren peripherischer Art erkennen, in der Lehre vom Urstand und in der Lehre vom Gesetz. Die katho­ lische Urstandslehre hatte die natürliche Vollkommenheit der Ureltern be­ hauptet und mit ihr eine Vollendung aller natürlichen und kreatürlichen Kräfte in Tugend und Gotteserkenntnis. Aber zu einer wirklichen Gnaden­ verbindung mit Gott genügte die natürliche Vollkommenheit auch damals nicht, sondern es mußte zu diesem Zwecke noch ein übernatürliches Gna­ dengeschenk der Erhebung der Kreatur über die "konnaturalen" Grenzen und Fähigkeiten hinzukommen. Auch schon im Ur- und Vollkommenheits­ stande mußte die Ü bernatur, die gnadenweise Eingießung der eigentlichen, über das Maß der Kreatur hinausgehenden Gottesgemeinschaft zur voll­ kommenen Natur, die similitudo Dei zur imago Dei, hinzukommen, eine Art Sakramentswunder des Urstandes, nur von Gott unmittelbar ohne Priester zuerteilt. Der Sündenfall ist der Verlust j enes besonderen Gnadengeschen­ kes der Ü bernatur und erst vermittelst dieses Verlustes die Zerstörung auch der natürlichen Vollkommenheit, deren sinnliche und geistige Bestandteile sich nun leichter voneinander trennen und in Gegensatz geraten. Darum muß dann die Erlösungsanstalt der Kirche das Doppelte bringen, die Hei­ lung der Sündenschuld und die Wiedereingießung des Wunders der Ü ber­ natur. Demgegenüber lehrt Luther, daß im Urstand ein solches besonderes Gnadengeschenk nicht nötig gewesen sei, daß zwischen imago und simi­ litudo nicht zu unterscheiden sei, weil schon innerhalb der Grenzen der natürlichen Vollkommenheit die Gottesgemeinschaft gelegen habe. Deshalb ist auch die Erbsünde eine Verkehrung der inneren Natur des Menschen, das heißt eine Aufhebung der zu seinem Wesen gehörenden Gottesbeziehung, und ist die Erlösung nur die Wiedergewinnung der zu Wesen und Natur des Menschen gehörenden Gotteserkenntnis ohne Gnadeneinflößung der Ü ber­ natur. In scholastischer und mythischer Hülle ist das ein neuer Gedanke über das Grundverhältnis Gottes und der Kreatur. In der Glaubenserkenntnis, in Liebe, Ehrfurcht und Vertrauen verwirklicht sich das normale und ideege­ mäße Verhältnis zu Gott; es gibt keine Erhebung aus der Natur in die Ü ber­ natur, und der ganze Stufenbau der emporführenden Lebensstufen und Gnadenhilfen, die Teilung Gottes und des Weltprozesses in Natur und Ü bernatur, I die innere Doppelheit Gottes selbst, fallen weg. Der Gottesbegriff steht nicht unter der Kategorie der Substanz, die durch abgestufte substan­ zielle Gnadenmitteilung den Menschen über sich selbst erhebt, sondern in

II. Die Aufhebung der mittelalterlichen Idee im Protestantismus

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der Kategorie der Persönlichkeit, die durch Offenbarung ihrer Liebesgesin­ nung gegen den Menschen diesen in seiner eigenen Natur vollendet. Gott ist heilige Liebesgesinnung und das in einem Schlage eins und ganz. Es ist der vollendete Theismus und Personalismus, aber ein Theismus der Immanenz des kreatürlichen Geistes im göttlichen Geiste, vom Luthertum im Sinne einer universellen Liebe, vom Calvinismus im Sinne grundloser Gnade ge­ dacht, bei beiden aber verhüllt unter der Fortführung des alten trinitarischen Dogmas und unter der Trennung des empirischen Menschen von Gott durch die den ganzen Weltplan durchkreuzende Erbsünde. Ä hnlich steht es mit der zweiten Lehre vom Gesetz. Hier scheint freilich auch Luther das Ge­ setz als die zerstörende und zermalmende Macht zu betrachten, die den Sün­ der in die Höllenangst j agt und ihn bei der Unmöglichkeit der Erfüllung zum Vertrauen auf die Gnade ohne des Gesetzes Werke hinweist, die von Chri­ stus in seinem stellvertretenden Strafleiden erwirkt ist. Das ist die alte apo­ logetische Lehre seit Paulus und den Apologeten des zweiten Jahrhunderts, daß das außerchristliche natürliche Erkennen vom Gesetze beherrscht sei, von dem israelitischen des Dekalogs und von dem damit identischen des natürlichen Gewissens, und daß dann eben um der Unerfüllbarkeit dieses Gesetzes willen die Gnade eintrete. Diese alte Apologetik, die im katholi­ schen Bußsakrament eine mächtige praktische Wirkung erhielt, hat sich auch Luther angeeignet und damit die natürliche außerchristliche Gotteserkennt­ nis teils anerkannt, teils in ihre Grenzen der Wirkung der Reue und Verzweif­ lung eingeschränkt, wodurch sie zur Folie des Evangeliums wird. Allein im Grunde erkennt hier Luther, daß diese natürliche Gesetzeserkenntnis nur eine Fiktion und Selbsttäuschung des gottentfremdeten, mißtrauischen und rebellischen Menschen ist. Das wahre göttliche Gesetz ist im Evangelium of­ fenbar und geht nicht auf gesetzliche Forderungen mit Lohn und Strafe; es hat auch gar nicht die Absicht der Bewirkung der Verzweiflung, sondern es gebietet freie Liebe, inneren Herzensdrang des Guten, wesensnotwendige Gottesliebe ohne Lohn und ohne Strafe; es gibt die Kraft, zu verwirklichen, was es gebietet durch die in seiner Erkenntnis enthaltene Gottesgemein­ schaft. Das heißt nun aber wiederum in scholastischer Hülle nur, daß die Ge­ setzesordnung überhaupt nicht Gottes Wesen ist, daß sie nicht den Unterbau der Erlösung bildet und die natürliche Voraussetzung der Offenbarung, son­ dern daß sie vielmehr ein Werk menschlichen Wahns, menschlicher Selbst­ gerechtigkeit, menschlichen Trotzes und menschlicher Angst ist. Die wahre Ordnung zwischen Gott und Mensch ist von Hause aus die Gnadenordnung, die nur die Freiheit des von Gott erfüllten Menschen und die innere Not­ wendigkeit des Guten kennt und die freilich erst durch die Sünde hindurch mit ihrer Erkenntnis der menschlichen Schranken und I der kreatürlichen Selbstsucht im Menschen Platz greifen kann. Auch hier ist die Gnadenord-

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nung das Normale, das was sein soll; und da diese Gnade nur in der von Gott bewirkten Erkenntnis Gottes mit allen Wirkungen der Freiheit und des Gu­ ten besteht, so ist die Erlösung ein Hindurchdringen der Erkenntnis zur Gnadenordnung als der eigentlichen Weltordnung Gottes. Gott ist in Wahr­ heit nichts als Gnade, auch da, wo er richtet und verurteilt. Luthers Begriff vom Gesetz als "fremdem Werk" Gottes25 ist nur eine mythische Form hier­ für. Mit alledem aber offenbart sich ein Gottesgedanke, der die innere Le­ benseinheit der Welt, die Bestimmung der Kreatur zur Freiheit in Gott und zur vollen Gotteserkenntnis in sich enthält, und damit dem alten Gegensatze von Gesetz und Gnade, von natürlicher Kraft und Wunderdurchbruch ent­ gegengesetzt ist. Es wird die Bekehrung zu einer Selbstläuterung durch den Glauben, indem der voll erkannte Gnadengott nach seiner Heiligkeit die Sünde richtet und verurteilt und zugleich nach seiner Gnade und seinem ei­ gentlichen Wesenswillen in dieser Erkenntnis das Vertrauen und die Gewiß­ heit mitteilt, in der das Gute erstarkt und durch die Einigung mit Gott mög­ lich wird. An der Entwickelung dieser Gedanken war aber Luther durch seine Erbsündenlehre verhindert, die ihn die Sünde nur negativ als etwas rein Zerstörendes zu fassen nötigte und sie daher nicht in die Entwickelung der Gnadenerkenntnis aus der Selbstzerstörung der endlichen Selbstgerechtig­ keit durch die Sünde positiv aufnehmen ließ. Damit verband sich ihm die alte Apologetik des natürlichen Unvermögens gegenüber dem Gesetze, das erst das Eingreifen der Gnade nötig macht. Vor allem blieb ihm unter seinen bunten und phantastischen Deutungen des Todes Christi doch die der stell­ vertretenden Ablösung des Gesetzesfluches die wichtigste, und damit blieb ein aus Gesetz und Gnade zusammengesetzter Gottesbegriff doch in der eigentlichen Herrschaft. Und wenn die Reformierten von ihrer Prädestina­ tionslehre aus gelegentlich die Sünde als Bedingung der Gnade von Gott ge­ ordnet und den Genugtuungstod Christi lediglich von Gottes Willen so hin­ genommen sein lassen, so ist in Dogma und Theologie doch eine wirkliche Umgestaltung des Gottesbegriffs auch so nicht eingetreten. Das Neue bleibt hier unter der Schwelle der Theologie und vielfach auch unter der des Be­ wußtseins, weil die Erbsündenlehre beides unmöglich macht, sowohl die personalistische Immanenzlehre als die Aufhebung der Gesetzesordnung in die Gnadenordnung. Die Erbsündenlehre ihrerseits aber ist wieder die orga­ nische Voraussetzung der Gnaden- und der Autoritätslehre und kann aus dem Ganzen nicht weggedacht werden. Die katholische Doppelheit im Got­ tesbegriff, die Abstufung in Natur und Ü bernatur, verschwindet; aber dafür wird die andere, im Katholizismus bis dahin weiter zurückstehende Doppel-

25 Vgl. z. B. Operationes in Psalmos. 1 5 1 9-1 521 , WA 5, S. 63, Zeile 36 f. u. ö.

11.

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heit, das Nebeneinander des Gesetzeszornes gegen die Erbsünde und der vergebenden Gnade, allmächtig über den protestantischen Gottesbegriff. I Faßt man das alles zusammen, so ist deutlich, daß der Protestantismus nicht bloß eine Durchbrechung des katholischen Systems im Kerne ist, son­ dern daß diese Durchbrechung zugleich in einer Richtung erfolgt, die die religiöse Parallele zu den großen aufstrebenden Grundrichtungen der mo­ dernen Welt ist. Die starke Gedankenmäßigkeit und Geistigkeit einer hoch­ entwickelten Kultur, der Individualismus einer differenzierten und das Ein­ zelwesen in seiner metaphysischen Tiefe empfindenden Gesellschaft, die Autonomie einer alles Ü berkommene nur in eigener Ü berzeugung und inne­ rer Zustimmung aneignen könnenden geistigen Reife, die Immanenz und Diesseitigkeit einer Reichtum, Verwickeltheit und Zusammenhang des Le­ bens empfindenden Weltlichkeit: alles das hat hier seine vom religiösen Ge­ danken her entwickelte Parallele. Es ist verständlich, daß das religiöse Ge­ meinschaftsleben des Protestantismus von hier aus im Laufe der Zeit viel leichter sich verband und verschmolz mit der modernen geistigen Welt, daß es deren Durchbruch an seinem Teile mit bewirken half, und es ist wahr­ scheinlich, daß unmeßbare Einflüsse dieser modernen Geisteswelt selbst schon bei der Bildung der lutherischen Gedankenwelt mitgewirkt haben. Aber ebenso deutlich ist doch auch, daß alle diese Wahlverwandtschaft mit der modernen Welt und der ganze Zusammenhang mit ihr in engen Grenzen bleibt und daß trotzdem die vom Protestantismus erzeugte konfes­ sionelle Kultur dem mittelalterlichen Typus näher bleibt als dem modernen. Der Protestantismus teilt mit der katholischen Formation des Christentums, aus der er herausgewachsen ist, Selbstverständlichkeiten und Voraussetzun­ gen, die j ene modernen Tendenzen des Protestantismus von Hause aus unter ganz bestimmte Schranken stellen. Er ist wesentlich eine innerlichere, per­ sönlichere, geistigere und freiere Aneignung des Religiösen und verändert den Inhalt des Angeeigneten nur so weit, als es von diesem neuen Aneig­ nungsprinzip aus gefordert ist. Das greift immerhin tief genug. Es verwan­ delt das ganze Dogma in eine O ffenbarung der göttlichen Gnadengesinnung gegen den Menschen, in eine Metaphysik des vollendeten religiösen Perso­ nalismus, wo die Personwerte des göttlichen Lebens nur durch gottgewirkte persönliche Tat ergriffen werden können. Aber diese Offenbarung der Per­ sonwerte des göttlichen Lebens kleidet sich ihm mit völliger Selbstverständ­ lichkeit ein in das apostolisch-katholische Christusdogma von der Herablas­ sung des Gottmenschen in das Fleisch, in welchem er die Gläubigen erlöst und sich zum mystischen Leben in dem Gottmenschen angeeignet hat. Die­ sen Kernbestandteil schält er aus dem katholischen Dogma heraus, und aus diesem Kernbestandteil entwickelt auch er alle Folgen einer um diesen su­ pranaturalen Wahrheitsbesitz gesammelten und durch seine Fortleitung er-

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lösenden kirchlichen Anstalt. Diese Heilsanstalt leuchtet auch ihm auf der Folie einer Erbsündenlehre,a aus der erst die Notwendigkeit einer solchen Erlösung, einer solchen Autorität und einer solchen Wunderkraft verständlich wird und die die I von ihm vorgenommene Beziehung des Weltlichen auf das Religiöse immer wieder praktisch entwertet. Und aus dem Begriffe dieser Heilsanstalt ergibt sich auch ihm das Postulat ihrer universalen Herr­ schaft, die, wo sie durch Freiheit nicht zu erreichen ist, wenigstens äußerlich durch Gewalt aufrecht zu erhalten ist und das ganze geistige Leben unter die Herrschaft der göttlichen Wahrheit zu stellen hat. Das sind nicht katholische Reste, sondern das liegt organisch im protestantischen Gedanken. Es ist auch nicht eigentlich gegen die Konsequenz seiner Grundgedanken. Eine rein religiöse Kritik braucht in der Tat von ihnen aus nicht weiter fortzu­ schreiten. Das religiöse Denken bedarf stets eines konkreten Inhalts, eines Haltes an überindividuellen Wahrheiten und an göttlicher Objektivität; es hat naturgemäß einen Trieb zum Universalismus und zur Unterwerfung des Ge­ samtlebens unter seine höchsten Werte. Wenn dem Protestantismus sich all das darstellte in Gestalt des von ihm beibehaltenen Selbstverständlichen, so lag darin von seinen religiösen Voraussetzungen aus kein Widerspruch gegen sich selbst, solange diese Selbstverständlichkeiten mit gutem Gewissen und in Ü bereinstimmung mit dem Gesamtleben festgehalten werden konnten. Diese Selbstverständlichkeiten sind zerbrochen worden, aber sie sind von außen her zerbrochen worden, durch eine historische Kritik, die die prote­ stantische Bibellehre und das Christusdogma erschütterte, durch eine Meta­ physik, die den dualistischen Supranaturalismus fraglich machte, durch eine Gestaltung des praktischen Gesamtlebens, die die Ethik des Dekalogs, des natürlichen Sittengesetzes und der Fügung in die gegebene Berufsgliederung unmöglich machte, durch einen religiösen Individualismus, der den kirch­ lichen Universalismus zersetzte und keinerlei Gewaltherrschaft der Religion zu ertragen vermochte. Damit entstand eine neue Lage für den Protestantis­ mus, der er dann nun freilich vermöge seiner eigentümlichen religiösen Grundidee anders gegenüberstand als der Katholizismus, welcher ja sei­ nerseits genau ebenso unter den Einfluß dieser neuen Verhältnisse geriet und mit ihnen bis zum Tage sich auseinandersetzt. Nicht bloß die gerin­ gere kirchliche und organisatorische Widerstandskraft, sondern eine innere Wahlverwandtschaft mit dem Geiste wissenschaftlicher Kritik und Wahrhaf­ tigkeit, autonomer Ü berzeugung und persönlich-freier Lebensführung läßt ihn die neuen Verhältnisse und Gedanken in sich aufnehmen. Der an sich keiner rationell-wissenschaftlichen Kritik bedürftige Geist seines religiösen

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B, C Erbsündenlehre

111.

Die Gruppierung des geschichtlichen Stoffes

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Individualismus und seiner Glaubensreligion kann der ersteren, so wie sie erst sich durchgesetzt hat, nicht widerstehen, und muß das religiöse Er­ kenntnisstreben mit dem allgemeinen, den religiösen Individualismus mit der prinzipiellen Autonomie, den religiösen Wahrheitsbegriff mit dem wis­ senschaftlichen verschmelzen. Es siegt der individuelle Geist, der seinen religiösen und seinen außerreligiösen Besitz zu einer persönlicher und auto­ nomer Aneignung fähigen Gesamtüberzeugung muß vereinigen können, während aller katholische Modernismus über der individuellen Ü berzeugung doch die Autorität und Kontinuität der Gesamtkirche immer sich I vorbehält. Freilich zerbricht damit nun aber auch die Einheitlichkeit des Prote­ stantismus. Er hat einen Fremdkörper in seinen Blutumlauf aufgenommen und die Assimilation vollzieht sich nur unter schweren Krisen, in denen Er­ mattungen und Fieberzustände wechseln. Er bleibt er selbst, und wird doch etwas Anderes und Neues. Er teilt sich in unzählige Gruppen, schafft neue kirchliche Organisationen und zerteilt die alten Kirchen in Parteien und Richtungen. Er belebt bald die alte Rechtgläubigkeit und bald gibt er sich an fremde Ideen hin bis zur Selbstaufgabe, und zwischen beiden Polen stehen alle erdenklichen Formen des Kompromisses. Das ist seine Lage bis zum heutigen Tage. Er hat in ihr die Konsequenzen des in ihm enthaltenen Neuen entfaltet, aber er hat es nur gekonnt, indem er seine alten Vorausset­ zungen zerbrach; und das so Entfaltete ist nicht die reine bloße Konsequenz seiner neuen religiösen Gedanken, sondern zugleich eine Verbindung dieser Gedanken mit Elementen des modernen Lebens, die jenseits seines Bereiches gewachsen sind. Der Fall der mittelalterlichen Schranken und Hüllen stellt nicht einen j etzt erst ganz konsequenten und reinen Protestantismus auf eigene Füße, sondern, wie jener Fall selbst erst durch moderne Einwir­ kungen zustande kommt, schafft er einen mit dem neuen Geistesleben unlösbar und spannungsreich verbundenen neuen Protestantismus. Die Gruppierung des geschichtlichen Stoffes. Damit ist das verwickelte Verhält­ nis des Protestantismus zu Mittelalter und Neuzeit erleuchtet. Damit zu­ gleich ergibt sich aber auch die Gruppierung der Darstellung. Am Anfang steht die reformatorische Epoche selbst mit ihrer freien Bewegung der großen Persönlichkeiten, auf deren Werk die ganzen mächtigen Bildungen der Fol­ gezeit beruhen, mit ihrer Verflechtung der verschiedenen Strömungen einer reichen Zeit, in der neben den führenden Reformatoren auch die Strö­ mungen des Humanismus und des Täuferturns einen starken Anteil an der Schöpfung des neuen religiösen Lebens haben und bald positiv, bald negativ die reformatorische Bewegung stark bestimmen. Sie trägt das Doppelgesicht der Herkunft vom Mittelalter und des Hinweises auf eine neue Geisteswelt und vereinigt noch beides in dem lebendigen Schaffen der großen Meister, 111.

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B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

vor allem in der Persönlichkeit Luthers, der am reichsten ist an Ideen und am ärmsten an Organisation. Auf diese grundlegende Epoche folgt die Bildung der beiden großen Gruppen von Konfessionskirchen, der lutherischen und der calvinistischen, die zusammen den Altprotestantismus bilden und neben sich im Anglikanismus ein spezifisch englisches Sondergebilde haben. Hin­ ter ihnen treten Humanismus und Täufertum, teils von selbst, teils durch Gewalt, stark zurück, um dann freilich bei der Lockerung des Altprotestan­ tismus und ihrem Wiederaufleben in kritisch-rationalistischen und mystisch­ schwärmerischen Gruppen eine verspätete, aber gründliche Genugtuung zu erleben. In diesem Altprotestantismus ist alles auf kirchlich-staatliche I Or­ ganisation und geistig-politische Einheit des protestantischen Kulturlebens gerichtet. Hier gilt es daher auch die Grundzüge dieses allgemeinen Lebens, den Protestantismus als ein einheitliches Kulturprinzip zu schildern. Ganz anders wird dann aber das Bild seit der Auflösung der strengen staatskirch­ lichen Einheitskultur, dem Aufkommen des modernen weltlichen, paritäti­ schen und toleranten Staates und einer kirchenfreien Wissenschaft. Damit wird das protestantische Kirchentum auf sich selbst zurückgeworfen, ein Einzelkirchentum neben anderen Kirchen, eine geistige Einzelströmung ne­ ben anderen Strömungen, ein in allen Grundfesten erschüttertes und sich mühsam reorganisierendes Gebilde. Er verliert seine Einheit und Geschlos­ senheit, holt die radikalen Ideen aus seiner schöpferischen Epoche heraus, bringt sie mit den wissenschaftlichen und sozialen modernen Verhältnissen in Verbindung, gerät in den heftigsten Zwiespalt zwischen seiner dogmati­ schen Tradition und den neuen Ideen, seiner alten Organisation und den neuen sozialen Aufgaben. Er ist dem Altprotestantismus gegenüber ein viel­ fach grundverschiedenes Gebilde, das daher auch im Namen als Neuprote­ stantismus unterschieden werden muß und das die schwere Frage der reli­ giösen Zukunft der europäisch-amerikanischen Völker immer deutlicher aus sich heraus entwickelt, je mehr der Katholizismus in seine mittelalter­ liche dogmatisch-philosophische Tradition sich wieder einspinnt und nur für Zwecke politischer Machtgewinnung sich modernisiert.b

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts. Humanistische und lutherische Theologie.

I . Die humanistische Theologie. asteht zeitlich in erster LinieO die humanistische Reformbewegung. Sie hat den großen Umschwung reichlich vorbereiten helfen und hat dem

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A: In erster Linie steht zeitlich

I. Die humanistische Theologie

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vollzogenen ihre Kräfte geliehen. Sie hat zugleich eine eigene und selbstän­ dige religiöse Idee innerhalb der Neuformungen des Christentums bedeutet, und im Gegensatz gegen diese erst in ihren späteren Wirkungen sich voll entfaltende Idee erhellt erst recht die Eigentümlichkeit des die nächsten Jahrhunderte völlig beherrschenden religiösen Genius Luthers. Mit ihrem besten und wichtigsten Besitz hat sie freilich ebendeshalb auf die Zeit noch nicht zu wirken vermocht. Ihre großen religionsgeschichtlichen Wirkungen treten erst hervor, als mit dem Verfall der großen Kirchenbildungen die Ideen der Renaissance wieder vordrangen. Anderthalb Jahrhunderte lang blieb sie wie das Täufertum in ein dünnes Rinnsal eingeengt, um dann frei­ lich wie dieses in um so vollerem Strom sich zu ergießen. Deshalb darf hier, wie bei den Täufern, die Darstellung bereits bis zur Mitte des 1 7. Jahrhun­ derts vorgreifen. Die humanistische Reformbewegung ist keineswegs eine einfache Begleit­ erscheinung der Renaissance oder der humanistischen Studien, sondern I ist die ganz bestimmte, persönliches Gepräge tragende Schöpfung eines Kreises, der innerhalb der Kirche die alten reinen Grundlagen derselben erneue rn und sie dadurch reinigen, beleben und vertiefen wollte. Wie überall durch die Erforschung der Grundlagen sich die Elemente des herrschenden Systems verjüngten, so sollte das auch mit Religion, Theologie und Kirche der Fall sein. In diesen Kreisen bildete sich das Schlagwort von der Renaissance des Christentums "renascens pietas, restitutio Christianismi, Christum ex fontibus praedicare". Es ist der Ruf "ad fontes"26, der in den letzten Jahrzehnten oft genug gehört worden war, dem aber die offizielle Theologie sich stets entgegengesetzt hatte. Sie galt es daher vor allem zu beseitigen und durch diese Beseitigung reiner, frisch aus I den Quellen sich nährender Laienfrömmigkeit Platz zu machen. Hierarchie und Sakralwesen sollten nicht gestürzta, wohl aber reformiert werden; Fürsten und Konzilien würden dann ja dieser Aufgabe der Abstellung der gravamina sich widmen. Bis dahin galt es, durch die neue Wissenschaft die innerliche Reform der Religion selbst zu bewirken, die Laizisierung der Religion und die Eröffnung des Zugangs zu ihrem einfachen Urgehalt. Die richtige Stellung zu Hierarchie und Sakralwesen würde sich dann schon von selbst geben, wenn beides als Mittel im Dienst der reinen Religion und nicht mehr als Mittel im Dienst italienischer Ausbeutung stehen würde. Der Kreis, aus dem dieses Programm der Renaissance des Christentums stammt, ist der Kreis der aplorentiner PlatonikerQ, und der Mann, der ihm das siegreiche persönliche Gepräge einer neuen Religiosität und Theologie gege­ ben hat, ist Erasmusb (geb. um 1 466, gest. 1 536) .27 Auf dem Umweg über eine Erneuerung des neuplatonisch und moralistisch verstandenen Paulinis­ mus ergab sich die Religion der Wiederbelebung der synoptischen Jesuspre­ digt . Marsilio Ficino (gest. 1 499) bildet den Ausgangspunkt des platonisieren­ den Laienchristentums, das in dem stark neuplatonisch gedeuteten Platon und in dem als Paulus-Schüler geltenden kirchlichen Neuplatoniker Diony­ sius Areopagita die Ideen der Geistesfreiheit und der Gotteskindschaft, der Ü berwindung des Fleisches und der Affekte, der Seligkeit und Sittenreinheit fand, und das in diesen Ideen den eigentlichen echten Paulinismus zu ent­ decken meinte. Es war eine Religiosität, die aus dem Wesen des Kosmos me­ taphysisch und aus dem des Menschen psychologisch verständlich war, die ebendeshalb dem Laien ohne scholastische Theologie und ohne sakrale Ver­ mittlung zugänglich war und die ihren Herold in dem christlichen Hauptapo­ stel, in Paulus, fand. Ficino trennte sich von der neu-heidnischenc Renais­ sance und erklärte in seinen Vorlesungen den Paulus, schon Vulgata und griechischen Text unterscheidend.28 Freilich sind die Wir l kungen in Italien zunächst schwach geblieben. Um so stärker waren sie in England, Frankreich und Deutschland, wo der heidnische Humanismus ja überhaupt eine Aus­ nahme war. Nach England brachte John Colet (gest. 1 5 1 9) von einer italie­ nischen Reise das Programm des platonischen Paulinismus mit; es ist eine einfache biblische antischolastische Theologie ohne Gegensatz gegen die Kirche als solche, nur gegen ihre Theologie und ihre superstitiösen Ent­ artungen. Von Colet ging Erasmus aus, der bei einem Aufenthalt in Oxford die Verachtung des h. Thomas und die Bewunderung des Paulus lernte und

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In A nicht hervorgehoben. In A nicht hervorgehoben.

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A: heidnischen

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27 28

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 6. Marsilio Ficino: Opera omnia, Basel [1 576J . Nachdruck von Paul Oskar Kristeller, Band 1 (1 962) , S. 425-472: In epistolas D. Pauli, ascensus in tertium coelum, ad Pau­ lum intelligendum. Der Kommentar ist unvollendet und reicht bis Röm 5 , 1 2 .

I. Die humanistische Theologie

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so hier das langsam reifende Programm seiner Reformtätigkeit empfing. Gleichzeitig zündete das Florentiner Feuer bei Le Fevre d'Etaples (gest. 1 537) , der auf einer italienischen Reise die Bekanntschaft Marsilios und Pi­ cos della Mirandola machte und von da aus trotz seiner im übrigen aristote­ lischen Neigungen den biblisch-platonisch-paulinischen Zug zu einer neuen unzünftigen Theologie empfing. Im Jahre 1 5 1 2 ließa I er einen Kommentar zu den Paulusbriefen erscheinen, den ersten Pauluskommentar nach huma­ nistischen Prinzipien, nachdem er 1 509 bereits den Psalter in fünffacher Ü bersetzung herausgegeben hatte.29 An all diese Mittelpunkte erneuter Religion und Theologie schlossen sich breite Bewegungen an. Die weitaus bedeutendste unter ihnen ist aber die Erasmische. Sie wurde auf Dezennien zu einer geistigen Großmacht der Zeit und enthielt eine Universalität der Anschauung, die kein anderer erreichte, zugleich eine Wärme und Lebendigkeit der Ü berzeugung, die dem geistrei­ chen Literaten und viel beschäftigten Entdecker bis heute nicht gerne zuge­ traut wird. Die Anregungen Colets waren nicht verloren, sondern verdichte­ ten sich ihm - bei der Unruhe und Vielseitigkeit seines Lebens freilich langsam - zu einem ernsten, innerlichen und ganz persönlichen Reformge­ danken. Zunächst arbeitet er an Ausgaben der Kirchenväter, an der Schöp­ fung einer Patrologie gegenüber der Scholastik. Dann taucht der Plan eines Pauluskommentars auf, der ihm besonders teuer war, den er aber mit ins Grab nahm. Das erste wichtige Ergebnis seiner Arbeit ist ein ganz anderes, eine populär-religiöse Schrift, das "Enchiridion militis Christiani" (1 502) . Mit dieser Schrift ist der Ü bergang von Paulus, den im Grunde keiner dieser Männer verstanden hat, zu der Religion der Bergpredigt und des schlichten Jesusglaubens gemacht. Es ist die Heraushebung eines Elementes aus dem biblischen Stoff, das in der Tat seine eigentümliche Stellung und Bedeutung in ihm hat und in seinem ethischen Ernst dem Laienverständnis am leichte­ sten zugänglich ist. Es ist ein Laienchristen­ tum, um seines sittlichen Gehaltes an Vorsehungsglauben, Lebensernst, Jen-

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A: läßt

29 Vgl. Qvincvplex Psalterium. Gallicum. Romanum, Hebraicum. Vetus, Conciliatu [m] , hg. von Iacobus Faber Stapulensis (1 509) . Jacobus Faber Stapulensis: S. Pauli episto­ lae XIV ex Vulgata (1 5 1 2) .

A 271

Die Theologie des Erasmus.

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B, C 476

A 272

Problem der Stellung zum Sakralwesen.

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

seitshoffnung willen jedem verständlich und um der göttlichen Autorität des Redners und Lehrers willen für jeden verbindlich: in der Welt voll Kampf und Not hat der seine I Selbstsucht und seine Triebe überwindende Mensch durch Offenbarung und Lehre Christi das himmlische Vaterland, und in sei­ nem Kriegsdienst für dies himmlische Vaterland gegen alle List und Versu­ chungen hat er den Trost göttlicher Gnadenhilfe. Im Jahre 1 5 1 6 erscheint dann aber - gleichzeitig mit der Hieronymus-Ausgabe - das Hauptergebnis seiner Studien, das griechische Neue Testament, in seiner Hervorhebung des Unterschieds von der Vulgata und der damit angedeuteten Korruption des reinen Christentums durch die scholastische Kirche eine reformatorische Tat, in den beigegebenen Abhandlungen, einer admonitio an den Leser und einer ratio verae theologiae, ein theologisches Programm. Es sind Reforma­ tionsschriften von anderer Art, aber ähnlichem Gewicht wie die Luthers. Wieder ertönt hier als Anweisung für die Reform der Theologie die Losung: zurück zur Bergpredigt und zur Nachfolge Christi, zu dem reinen Evange­ lium, das mit allen Wahrheiten des reinen Altertums, mit stoischem Vorse­ hungsglauben und stoischer Geisteserhabenheit, aber auch mit platonischer Ü bersinnlichkeit und Jenseitigkeit a innerlich verwandt ist. Das ist das Pro­ gramm der Renaissance des Christentums im Namenb der Renais l sance überhaupt, des neuen Frühlings für alle Wurzeln, aus denen die bisherige Kultur gewachsen war, und die nun neu und kräftig ausschlagen. Von hier aus erwächst dann auch eine Apologetik der Religion gegenüber der neuen Bildung. Einig mit aller wahren Religion und Sittlichkeit, die je gewesen war, fügt das Christentum dem nur die volle Autorität Christi und diec Gnaden­ hilfe hinzu. Alle ra­ tionalen Anstöße an der Bibel beseitigt eine angemessene philologische Er­ klärung, die mit Euseb Unterschiede unter den biblischen Schriften macht und die das allzu Fabelhafte allegorisch erklärt, ohne übrigens dabei die kirchlichen Grunddogmen anzutasten, wenn auch gewisse Schriftbedenken gegen die Trinitätslehre angedeutet werden. Ein solches Programm enthielt nun aber freilich zwei schwere Probleme in sich, in deren Behandlung erst der eigentliche Geist des Erasmus sich of­ fenbart. Einmal steht ein derartiges Laienchristentum und eine derartige Er-

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b c

A: Jenseitigkeit, A: Rahmen A: der

1.

Die humanistische Theologie

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neuerung in scharfem Gegensatz zu dem hierarchischen Sakralwesen und zu der gegenwärtigen Gestalt der Kirche. Erasmus wußte hierauf nur mit histo­ rischen Erörterungen zu antworten. Er zeigte, wie diese bekämpfte Gestalt der Kirche erst ein Erzeugnis der barbarischen Jahrhunderte sei, während die mit der klassischen Kultur einige alte Kirche sie nicht gekannt habe, und wie die viel beklagten Superstitionen der Kirche gar nicht dem Christentum, sondern dem in ihm nachwirkenden Heidentum entstammen. Schließlich aber a fühlte weder Kraft und Beruf noch Lust, eine Revolution mit allen unvermeidlichen Greueln und Radikalismen her­ beizuführen; er b hoffte auf die Zukunft und tolerierte das Unvermeidliche für die Masse, den Spitzen die Reinigung anheimstellendb• Allein für diesen Gleichmut historisch-relativistischer Betrachtungen war die Zeit noch nicht reif; sie verlangte ein Entweder-Oder betreffs der Göttlichkeit und apostolischen Einsetzung des Sakralwesens. Und anderseitsC war dieses Sakralwesen mit den Dogmen und der Institution der Kirche zu eng verbunden, als daß hier eine theologisch-religiöse Reform von innen heraus gerade die Dinge hätte ändern können, auf die es ankam. So kam es, daß Erasmus die Führung verlor, als das Entweder-Oder von dem absoluten religiösen Geiste gestellt und die Axt an die Wurzel des Sakralwesens gelegt wurde. So ist es aber auch verständlich, daß Erasmus in diesem Entweder-Oder sich nicht auf die Seite der kirchlichen Revolution mit ihren unabsehbaren Folgen und ihrem unwis­ senschaftlichen Geiste stellte. Es hätte dazu der zahlreichen persönlichen Gründe gar nicht bedurft, die den Pensionär katholischer Könige und Kir­ chenfürsten an der alten Kirche festhielten. Das zweite Problem erwuchs aus dem Zusammenhang dieser religiösen Reform mit der allgemeinen wissenschaftlichen Aufklärung und der Renais­ sance der antiken Ethik und Religionsphilosophie. Erasmus hat mit der Kir­ che die Identität des Christentums und der Antike, der beiden I Grundpfei­ ler der mittelalterlichen Kultur, festgehalten und diese Identität nur enger und frischer gefaßt, dabei auf die alten Väter mit ihrer Identifizierung der Lehre Christi und des göttlichen Welt-Logos zurückgehend.30 Die Religion a

b-b c

In A folgt· hing er doch selbst an der Kontinuität der Menschheitskirche und A: hoffte, die Reinigung der Religion und Theologie sollte von innen heraus und von selbst auch die Kirche zu den angemessenen Reformen führen A: andrerseits

30 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 6.

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Problem der Stellung zur wis­ senschaftlichen Aufklärung. A 273

1 40

B, C 478

Zerfall der humanistischen Reform.

B. Reformatoren und Reformbewegungen des t 6. Jahrhunderts

der Menschheit ist im Grunde überall dieselbe. Die philosophia Christi ist identisch mit der reinen philosophia des Altertums; auch Cicero, Seneca und Plato sind inspiriert. Christus ist nur die Menschwerdung und dadurch die göttlich beglaubigte und göttlicher Wirkung fähige Verkörperung der überall einen Religion. Zugrunde liegt also ein theistischer Universalismus, eine Re­ ligionsphilosophie, die im Evangelium nur die göttlich geoffenbarte a und zusammengefaßte Spitze der allgemeinen Religion zeigte und die dem Su­ pranaturalismus des Mittelalters nur das Zugeständnis machte, daß die Menschheitsreligion einer solchen Autorisation und der Unterstützung der von hier ausgehenden Gnadenhilfe bedürfe. Erasmus ist in seiner Zusam­ menfassung der Menschheitsreligion unter einem gemeinsamen Namen ein Gegner des Augustinischen Dualismus, der die Menschheit in eine göttliche und widergöttliche zerreißt, und findet den von ihm anerkannten Gegensatz von Fleisch und Geist in j eder Menschenbrust. Er hat Augustin unter den Kirchenvätern am wenigsten geliebt, weil er ihm die Einheit des Allgemein-Menschlichen und des Christlichen zerstörte. Mit dem servum arbitrium Luthers, das diesen Dualismus und Supranaturalismus womöglich noch überbot, war daher für ihn kein Komprorniß möglich; da war eher noch das Sakralwesen der I Kirche zu ertragen, wenn sie nur dem ermäßigenden Einfluß von Bildung und Wissenschaft sich öffnete. Als seine Gönner ihn zum Bruch mit Luther nötigten, hat er ehrlich diesen Hauptpunkt zur Spra­ che gebracht, der ihm dabei noch den Vorteil bot, sich über die heikelste Frage, die Geltung des Sakralwesens, auszuschweigen. Hier war in der Tat kein Ausgleich möglich. Aber es ist nicht bloß der Konflikt religiösen Tief­ sinns und moralistischer Flachheit, sondern der Konflikt des werdenden modernen antisupranaturalistischen und universalen Religionsgedankens und des schroff erneuerten mittelalterlichen Supranaturalismus und Dualis­ mus. Dieser eigentliche gedankliche Hintergrund der Lehre des Erasmus ist je­ doch den wenigsten deutlich zum Bewußtsein gekommen. Der Rückzug des Humanismus von der Lutherschen Sache nach den großen Revolutionsjah­ ren hat bei den meisten weniger tief liegende Gründe; teils waren sie über­ haupt von Hause aus wesentlich konservativ gesinnt; teils verloren sie das Interesse, wo es sich nur mehr um innertheologische Dinge handelte; teils bestimmten sie die äußeren Verhältnisse in der nun gewaltsam einsetzenden Rekatholisierung. Ein großer Teil aber faßte die religions philosophischen Hintergründe der erasmischen Lehre überhaupt nicht auf, sondern hielt sich nur an das Laienevangelium der reinen Schrift und vollzog von da seinen

a

A: offenbarte

I. Die humanistische Theologie

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Ü bergang zur Lutherischen oder Zwinglischen Reformation, als diese die Führung übernahmen.3! Mit dieser Krisis ist aber das humanistische Renaissance-Christentum I nicht zu Ende. Seine Hauptgedanken, die Reduktion des Christentums auf bdie allgemeine, überall zum Durchbruch strebende Menschheitsreligionb und die philologisch-kritische Herausstellung des hiermit übereinstimmen­ den reinen Christentums Christi, wirken weiter. Hier liegen die Wurzeln der moralistischen, rationalistischen und antitrinitarischen Bewegungen, die sich vor allem aus dem kirchlich oppositionellen italienischen Humanismus her­ ausbildeten.32 In Venedig, Oberitalien, Südfrankreich, Graubünden regten sich mannigfach derartige Bestrebungen, die, aus dem Restaurations-Katho­ lizismus sofort ausgestoßen, in eine viel schärfere Opposition hineinge­ drängt wurden, als die des Erasmus war. Von hier kamen die humanistischen Gelehrten, die vor allem an den reformierten Universitäten eine unsichere und oft lebensgefährliche Zuflucht suchten: ein Ochino, ein Castellio, ein Servede, ei n Gentile und ein Lelio Sozini. Sie erlagen hier dem erneuerten Ketzerrecht. Erst unter der Führung Fausto Sozinisc (t 1 604) und unter dem Schutz der polnischen Adels-Anarchie fanden sie eine Konsolidation und Gemeindebildung. Von hier wieder verjagt, zerstreuten sie sich in kleine Ge­ meinden über Preußen und Holland bis nach England und Nordamerika, um dort überall ein wichtiges Ferment der theologischen Aufklärung und der modernen Religiosität zu bilden. Ihre Lehre unterscheidet sich nicht bloß durch den größeren Radikalismus von der des Erasmus. Sie beto­ nen die Willensmacht Gottes, der der Kreatur I nichts schuldig ist, um dann die Offenbarung Christi um so stärker als göttliche Offenbarung und Gna-

a

b-b c

A: Ihre A: eine allgemeine metaphysisch und psychologisch verständliche Religion In A nicht hervorgehoben.

31 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 7. 32 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, ebd. 33 Troeltsch bezieht sich hier auf die Darstellung von Otto Fock: Der Socinianismus nach seiner Stellung in der Gesammtentwicklung des christlichen Geistes (1 847) , be­ sonders S. 252-285. Fock führt über die Größe der Gemeinden aus: "Die Zahl der Unitarier in Siebenbürgen, welche dort eine gesetzlich anerkannte Confession bilden, belief sich 1 789 auf 32,000, meist Ungarn und Szekler, gegenwärtig auf etwa 40,000, welche in 1 04 Pfarrbezirken mit 1 20 Geistlichen vertheilt sind" (S. 262) .

A 274 Fortentwicklung der humanisti­ schen Theologie­ Sozinianer.

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dengeschenk betonen zu können. Sie leugnen ferner die allgemeine natür­ liche Religion, um den christlichen Positivismus demgegenübera um so wir­ kungsvoller zur Geltung zu bringen. Darin pflegt man Fortwirkungen des Scotismusb zu sehen.34 1edenfalls wollen sie die Exklusivität und die Positi­ vität des Christentums stärker betonen, als es der universale Theismus des Erasmus getan hat. > Aber sie gehen doch ganz in erasmischen Bah­ nen, wenn sie die philologisch-quellen mäßige Theologie fordern, die alles nur auf die Lehre Christi stützt und diese Lehre philologisch aus den synop­ tischen Evangelien schöpft. Sie tun das schließlich auch in der Auffassung der Lehre Christi selbst, die ihnen ein auf Christi Autorität begründeter Glaube an Vorsehung, göttliches Sittengesetz, jenseitige Glückseligkeit ist und die ihnen doch etwas rational Verständliches, metaphysisch und psycho­ logisch Einleuchtendes ist, für dessen Anerkennung die allgemeine Vernunft wenigstens die rationalen Kriterien besitzt. Die jüdisch-messianischen Elemente des Evangeliums, der uraposto­ lische Glaube an den durch die Auferstehung bestätigten und vergöttlichten Boten Gottes, altchristlicher Vorsehungs- und Jenseitsglaube ohne die alt­ christliche Mystik und ihren Enthusiasmus wachen wieder auf. Eine mutige und redliche Kritik beseitigt die kirchlichen Dogmen, die im Evangelium Jesu keine Wurzel haben, die Trinitätslehre und die Zwei-Naturen-Lehre, die Urstandsvollkommenheit, die Erbsünde, den Genugtuungstod und die Gna­ denwahl. Ein nicht minder mutiger und redlicher Glaube setzt diese durch

a

b

A: dem gegenüber A: Skotismus

34 Zwar bezeichnet Otto Fock: Der Socinianismus nach seiner Stellung in der Ge­ sammtentwicklung des christlichen Geistes (1 847) , auf den Troeltsch sich in seiner Darstellung im wesentlichen stützt, den Sozianismus nirgends als direkte Fortsetzung des Scotismus, sondern als konsequente Weiterentwicklung des Scotismus. Aller­ dings findet sich bei Wilhelm Dilthey die Einschätzung, daß Fock scotistische Ele­ mente im Sozinianismus als erster deutlich herausgestellt habe: "Man hat den ent­ scheidenden Punkt in der verstandesmässigen Sonderung des Endlichen vom Unendlichen, sonach in der religiös-metaphysischen Position der Socinianer gefun­ den. Diese Auffassungsweise, welche das Skotistische, Katholische und Schulmässige in dem Socinianismus im Gegensatz zum speculativen Verständniss des Dogma her­ aushebt, ist zuerst durchgeführt in der sehr gründlichen und verdienstvollen Schrift von Fock [ . . . ] ." Wilhelm Dilthey: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im siebzehnten Jahrhundert (1 892/93) , hier das Zitat S. 97.

I. Die humanistische Theologie

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Wunder und Auferstehung beglaubigte reine Christuslehre ein in den Zusammenhang einer von Gottes Willen regierten, von der Vorsehung I geleiteten, auf Seligkeit und Glück der Kreatur hinzielenden Welt. Es war die Einreihung der Theologie in eine wissenschaftliche Aufklärung, wie sie rationalen und nüchternen, aber moralisch und religiös interessierten Denkern vor der Wirkung des naturwissenschaftlichen Antisupranaturalismus sich gestalten mußte. Diese Lehre hat den alternden, mit dem Calvinismus zerfallenen Milton gewonnen, hat den Rationalismus der englischen Staatskirche gefärbt und ging unter Abstreifung des positivistischen Supra­ naturalismus leicht in den rationalen, die Grundform der modernen Aufklä­ rungstheologie, über. Sozinianismus wurde der Ketzername, mit dem der Kon­ fessionalismus alle moderne Theologie stigmatisierte. Eine andere Wirkung des Erasmus und der humanistischen Theologie erhob sich in dem holländischen Rationalismus und dem Arminianismusa• Den Ausgangspunkt bildeteb hier der Dichter und Staatsmann Coornheert35 (t 1 590) , weIcher e in dem Kampf der Konfessionen und Theologen den Ausweg lediglich I in der humanistischen Theologie der quellenmäßig wiederhergestellten und mit dem reineren Altertum übereinstimmenden philosophia Christi sah. Für ihn, der das Elend der Kirchen hatte kennen lernen, handelte es sich freilich nicht mehr um Reform der Kirche, sondern um Rückgang hinter die Kirchen überhaupt, um Aufsuchung eines von den Kirchen unabhängigen gemeinsamen Fundaments. Ein Verehrer des Cicero, des eben in Holland aufblühenden Stoizismus, und vor allem des Erasmus predigte er die humanistische Theologie als Friedens- und Einigungstheologie. Auf das allen Christen Gemeinsame, das weiterhin sie auch mit allen Frommen der Menschheit verbindet, auf die reine Lehre Christi, soll zurückgegangen werden. Christus und sein Wort als moralische Vorschrift und Kraft, als göttliche Bestätigung und Kräftigung dessen, was auch die nicht-christlichen Frommen besitzen, ist die einzige Theologie. In ihr steht die Lehre von der Freiheit und der religiösen Vernunft, die alle Menschen besitzen, in der alle sich einigen und alle zu Christus und der Seligkeit kommen können. Der

a

b c

In A nicht hervorgehoben. A: bildet A: der

35 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 7.

A 275

Arminianer.

B, C 480

1 44

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finstere Dualismus der calvinistischen Prädestinationslehre zerreißt die Menschheit; aber Gnade und Religion ist universell und j edem zugänglich, der ernsten Willens ist. Von diesen Ideen Coornheerts wurde sein Landsmann Arminius Ct 1 609), als er sie zu widerlegen versuchte, überwältigt, und leitete sie nun in das engere Bett der Fachtheologie, korrigierte den Calvinismus durch eine universale Gnadenlehre und betonte die in der Freiheit gegebenen allge­ mein-menschlichen, vernünftigen Religionselemente. Vom Arminianismus angeregte Denker haben damit die Veranschaulichung des Allgemein-Reli­ giösen an der quellenmäßigen Theologie Christi und die Rationalisierung der Theologie Christi durch zeitgeschichtliche Auslegung, die exegetischen Theorieen der Akkommodation und des Anschlusses an orientalische und antike Redeweise, verbunden: Alphons Turretin, Wettstein, Ledere, Schött­ gen. Damit sind dann die Annäherungen an die Sozinianer vollzogen, und der große Jurist Hugo Grotius ct 1 645), der seinen juristischen Weltruhm auch auf seine Theologie verbreitete, hat seine durch und durch I humanisti­ sche Apologetik und Exegese mit dem Gedanken durchdrungen, daß aus rein historisch-kritischen Gründen der Lehre Christi um seiner Wunder und seiner Auferstehung willen die Autorität der reinen Religion gebühre, und daß hierdurch das Christentum die allgemein menschliche Sehnsucht und Anlage zur Glückseligkeit 3verwirkliche und vollende a. Die Theologie des Grotius ist neben der neuen Cartesianischen und vor der Lockesehen und Leibnizischen die Großmacht des wissenschaftlich aufge­ klärten religiösen Denkens gewesen. Leibniz, der die Sozinianer bbekämpfte, priesb die Theologie des Grotius als den großen modernen Fortschritt. Lockes rationaler Supranaturalismus truge überall die Züge der Grotianisehen Lehre. d Spinoza verkehrte in den Kreisen der radikalen I Remonstran­ ten, die zu der arminianischen Theologie übergegangen waren. Bayle hat von der arminianischen Kritik Wesentliches gelernt. Als die Bewegung nach Deutschland übergriff, da wurde dann auch Erasmus als ihr Vater ausdrück­ lich anerkannt. Semler schrieb: "Der große Erasmus ist der unsterblich ver-

A: zur Verwirklichung und Vollendung bringe A: bekämpft, preist A: trägt c d-d A: In alledem aber feiert der Geist des Erasmus seine Auferstehung, wenn auch niemand den angeblichen Apostaten des Luthertums zum Patron des Fortschritts zu machen wagte. a-a

b-b

H. Luther (1 483-1 546)

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diente Mann, der allein der Theologie mehr geleistet hat als alle anderen. In allen articulis der Theologie hat er das Gute schon ausgerichtet, das sich her­ nach bei anderen findet. "d36 II. Luther (1 483-1 546) .37 In schroffem Gegensatze zu dieser Bewegung, die teils die Schöpfung einer modernen Bildungsreligion, teils die stark ethisch gefärbte Wiederbelebung des Laienchristentums der Bergpredigt ist, steht der eigentliche religiöse Genius des Zeitalters, Luther. Völlig naiv hat er aus den vorhandenen kirchlichen Erziehungsmitteln heraus eine religiöse Kraft von elementarer Wucht entbunden und hierbei den Paulinismus zu einer neuen gewaltigen Wirkung gebracht. Luther ist von Hause aus ein Kind des Volkes, und ist ein Bauernsohn trotz seinera scholastischen und humanistisch-philo­ logischen Bildung geblieben. Alle Bildung ist ihm nie mehr als ein Mittel für seine rein religiösen Zwecke bgewesen, und nie hat er ein Interesse daran empfunden, die Identität des Christentums mit aller wahren Philosophie zu behauptenb. Sogar alles Moralische ist ihm immer Nebensache gewesen ne­ ben dem rein religiösen Besitz der Gottesgnade, und er hat sich das Mora­ lische stets nur als Folge und Wirkung dieses religiösen Besitzes denken kön­ nen, immer darum besorgt, daß diese Wirkung nie die Ursache um ihre Kraft und ihre absolute Sicherheit bringen könne;c Das alles Beherrschende in ihm war 3 eine wunderbare religiöse Kraft und Tiefe, die ganz aus sich selbst heraus mit den Mitteln der bspätmittelalterlichen und mystischen Theologieb und dann der Bibel arbeitete, die aber hier wie oft einen sehr gesunden praktischen Weltverstand keineswegs ausschloß. Sie ist überall mit großartiger Sicherheit auf den durchgreifenden, alles bestimmen­ den religiösen Grundgedanken gerichtet, von dem aus er die Festigkeit der eigenen Gewißheit und die CAufrichtung der Kirche des reinen Gotteswortes mit kindlicher ZuversichtC erstrebte. So hatte er die unverbrauchte Naivität des I Volks kindes, aus der allein die elementaren religiösen Kräfte hervor­ zugehen pflegen, und die sichere Konzentration des Willens, die die reli­ giöse Aufgabe durch keinerlei Nebenzwecke gefährdet oder schwächt. Aber auch zum Schwärmer, der dem erregten religiösen Gefühls­ leben sich hingibt und von den Wellen wechselnder Inspirationen sich tragen läßt, hatte er nicht die mindeste Anlage. Mit ererbtem kirchlichend Sinn für feste Wahrheit, mit scharfem auf bestimmt formulierbare Erkenntnisse gerichtetem Verstand I und mit naturwüchsigem Bedürfnis, das Götdiche vom bloß Menschlichen zu scheiden, hielt er sich an die festen objektiven Träger religiöser Wahrheit und an helle Gedanken. Und dabei erschienene ihm diese Träger ganz selbstverständlich in dem Sinn des mittelalterlichen exklusiven Supranaturalismus. Außerhalb der Offenbarung der Bibel ist kein Heil, und ganz besonders verdroß es ihn bei Erasmus und Zwingli, daß sie auch er­ leuchteten Heiden die Seligkeit einräumten. Er schätzte die Vernunft als mo­ ralistisches Prinzip für den noch unchrisdichen Haufen. Da diente sie zur Zucht. Er schätzte sie im praktischen täglichen Leben und als sozialeudämo­ nistisches Prinzip für Staat und Gesellschaft. Aber er übergoß sie mit allen Schmähungen, wenn sie religiöse Erkenntnisse außer und neben der christ­ lichen Offenbarung zu besitzen wähnte f oder wenn sie in Offenbarungsan­ gelegenheiten sich einmengte g• Daher stammt sein grimmiger Haß gegen

a

b-b c-c

d e

f g

A: ist A: Kirche A: Ordnung des gegebenen Lebens einfach und kraftvoll B, C' kirchlichem A: erscheinen A: wähnt A: einmengt

11.

Luther (1 483-1 546)

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aAristoteles, sein Hohn über die Vernunft und Offenbarung vermittelnde Scholastik, worin ihm übrigens der Nominalismus gründlich vorgearbeitet hatte D. Und das hat die Kraft und Eindrucksfähigkeit seiner Lehre nur er­ höht . Dazu kam eine unbegrenzte moralische Redlichkeit und eine voll­ kommene Furchtlosigkeit in Ziehung und Ertragung der Konsequenzen seines Gedankens, ein unbeirrbarer imponierender Glaube an sich selbst und eine schroffe Herrschernatur, der Zauber einer überaus originellen und gemütvollen Persönlichkeit, die Genialität einer in Kraft und Pathos, Humor und Satire, Erbaulichkeit und Zartheit unerhört gewaltigen Sprache und schließlich nicht zum mindesten die Gunst derb Gesamtlage, die ihn erst vor der Ausführung der kirchlichen Exkommunikation und Reichsacht schützte und die ihm dann die Möglichkeit zur Aufrichtung eines gereinigten Kir­ chentums gab. Diese Anlage trieb ihn zur tieferen Beschäftigung mit religiösen Dingen und das hieß ins Kloster.38 Hier hat er mit den praktisch-religiösen Proble­ men der mittelalterlichen Gnadenreligion gerungen;C einerseits mit der Auf­ gabe, die nötige Disposition für die sakramentale Gnade in genügender Reue und guten Vorsätzen und dann die nötige Bewährung und Bestätigung in gu­ ten Werken mönchischer Askese zu gewinnen, anderseitsd mit dem Gnaden­ charakter dieser Vollkommenheit, die nicht ein Erwerb des Willens, sondern ein Wunderwerk der Erwählungsgnade sein sollte. Die übliche Kompensa­ tion des einen Gedankens durch den anderen, die Milderung der Selbstdis­ position durch Verweis auf die alles Gute wirkende I Gnade und die Erwei­ chung der Prädestination durch die Mitwirkung des sich disponierenden Willens, die durchschnittlichen Naturen einen Ausweg eröffnete, stürzte ihn gerade in die größte Qual und Unsicherheit; er zweifelte I bald an seiner

a-a

b c

d 38

A: Aristoteles. Bei allem instinktiven Streben, die Religion psychologisch verständ­ lich und dadurch als ein innerlich-persönliches Erlebnis allen zugänglich und ge­ wiß zu machen, blieb er doch stets ebenso sicher auf dem ererbten kirchlichen Supranaturalismus. Ja, er hat ihn, im Bedürfnis nach einem festen Stützpunkte in seinem Kampfe, noch ganz außerordentlich überboten und im Gegensatz gegen die erbsündige Verdammnis und Ohnmacht zum schroffsten Wunder des inneren Lebens und der Erlösungs-Offenbarung gesteigert. A: einer A: gerungen, A: andererseits

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 7.

Luthers religiöse Grundidee .

B, C 483

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B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

Würdigkeit, bald an seiner Erwählung. Aus dieser Not befreite ihn Staupitz durch die Lehre der deutschen Mystik, durch die Ermahnung zu einer völligen Bege­ bung von jedem Versuch eigener Gerechtigkeit und zu einem ebenso völli­ gen Vertrauen zur göttlichen Gnade als ader DarbietungO der Sündenverge­ bung und der Kraft gelassener Seligkeit in Gott. Hierin und in dem Hinweis auf Paulus hat Luther später mit Recht den Ausgangspunkt seiner ganzen Religion und Lehre gesehen.39 Hierin lag die prinzipielle Befreiung von der von Fall zu Fall eingegossenen Sakramentsgnade und die Hinwendung zu der den ganzen Menschen ein für allemal umfassenden Gesinnungsgnade und Sündenvergebung Gottes, die von keiner Vorbereitung verdient und von keiner Anstrengung bestätigt, sondern die frei empfangen und nur als Zuversicht behauptet wird. Zugleich hat Staupitz als Distriktsvikar des Or­ dens den jungen Mönch den Grübeleien eines untätigen oder doch Luthers Begabung nicht entfernt aus füllenden Ordenslebens entrissen, indem er ihn an das Wittenberger Augustiner-Kloster versetzte, das der neugegründeten Universität die philosophischen und theologischen Lehrer stellte. Dort mußte er zunächst, ungern genug, philosophische Vorlesungen über Aristo­ teles halten, dann mußte er zum Doktor der Theologie promovieren und durfte damit zur ersehnten Theologie übergehen. Diese aber las er sofort nicht mehr in dem Sinne der Summisten und Sententiarier, sondern in Ge­ stalt von Bibelauslegungen. Psalmen und Paulus sind seine Gegenstände. Von hier gelangte er zu Bernhard, Augustin und Tauler, schließlich zur Phi­ lologie Reuchlins und Erasmus ' . So entstand unter seinem überragenden Einfluß eine bia-a

A: dem Willen

39 Troeltsch nimmt Bezug auf die Vorrede Luthers zur Gesamtausgabe seiner lateini­ schen Schriften von 1 545. Darin gibt Luther eine autobiographisch rückblickende Selbstdeutung der reformatorischen Wende seiner Theologie. Vgl. Martinus Luther pio lectori s. In: WA 54, S. 1 79-1 87, hier S. 1 8 5 f.

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blizistisch-augustinische Theologie und Ordensschule in Wittenberg, de­ ren Glanz noch durch die Berufung Melanchthons und damit durch die Einbeziehung des humanistisch-philologischena Reformprogramms erhöht wurde. Diese Theologenschule mit ihrer Verbindung klösterlicher Ordens­ sorgen, pastoraler Aushilfen an der Stadtgemeinde und biblisch-augustini­ scher Studien ist der Mutterschoß der religiösen Neubildung geworden. I Zum Kampf kam es durch Anstöße, die Luther als Beichtiger an den Wir­ kungen der kurmainzischen Ablaßkommission nahm. Völlig logisch wurde der Sakramentsbegriff und gerade das für die praktische Religion wichtigste Sakrament der Buße der Anlaß der großen Auseinandersetzung. Luther stellte in seinem berühmten Thesenanschlag die Ablaßlehre zur Diskussion, indem er gegen die Vermengung des Bußsakraments mit dem Ablaß die rein innerliche Buße des Gesinnungswandels, des Gottvertrauens und willigen Leidens als den eigentlichen Sinn des Bußsakramentes geltend machte und den Ablaß lediglich auf Umwandlungen kirchlicher Strafen während des ir­ dischen Lebens einschränkte. Ohne das Bußsakrament zu verwerfen b hat er b damit doch dene Geist der mittelalterlichen Sakraments- und Gna­ denlehre selbst verworfen. Der daraufhin angestrengte Ketzerprozeß, dem Luther sich in Deutschland stellen durfte, führte zum Konflikt mit der Au­ torität der Bulle Unigenitus Clemens' VI.40 Luther mußte diesem I Konflikt nachgehen und vertiefte sich in kanonistische und kirchengeschichtliche Studien. Ihr Ergebnis war, daß Papst und Konzilien, Bischöfe und Tradition irren können. Da blieb nichts als die Schrift, und die Hierarchie mußte als bloß menschliche Ein­ richtung preisgegeben werden. Es bildete sich Luthers Kirchenbegriff, daß die Kirche die Gemeinschaft aller Gläubigen rein auf Grund der Schrift und

a

b-b c

A: humanistischen philologischen A: ist A: der

40 In der Bulle "Unigenitus Dei Filius" vom 27. Januar 1 343 (vgl. Heinrich Denzinger/ Peter Hünermann: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehr­ entscheidungen [200 1 ] , 1 025-1 027) erklärte Clemens VI. das Jahr 1 350 zum voll­ kommenen Ablaßjahr und legte bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal die Lehre vom Gnadenschatz der Kirche (thesaurus ecclesiae) als Grundlage der Ablässe dar. Insbe­ sondere diese Lehre bzw. ihre Interpretation wurde von Luther unter anderem in den Thesen 56-66 der Wittenberger Thesen (WA I, S. 233-238, hier S. 236) kritisiert: Der Schatz der Kirche bestehe im Evangelium Jesu Christi (These 62) und nicht etwa in überschüssigen, im Ablaß distribuierbaren Verdiensten der Heiligen.

B, C 484 Beginn des kirch­ lichen Kampfes und Entfaltung von Luthers religiöser Idee.

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B, C 485

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erkennbar am Besitz der Schrift sei, unabhängig von jeder Autorität einer an­ geblich Gott vertretenden und in seinem Namen die Gnade verwaltenden Priesterschaft, auch unabhängig von den willkürlich gezogenen Rechtgläu­ bigkeitsgrenzen einer solchen Priesterkirche. Damit war nun aber auch die Autorität gebrochen, die ihn bisher bei dem Wichtigsten, bei der kirchlichen Gnaden- und Sakramentslehre festgehalten hatte. Die Einsicht in den menschlichen Ursprung der Hierarchie machte ihm möglich, seine Grundtendenz auf die persönliche, autonome, lediglich aus der Bibel ge­ nährte Gesinnungsreligion grundsätzlich auszubilden. a Sob erschien 1 520 seine wichtigste und kühnste Schrift "De babylonica captivitate ecclesiae";c in ihr wurden die Sakramente und mit ihnen der sakramentale, dingliche Gnadenbegriff verworfen; die Sakra­ mente, die er als biblisch stehen ließ, Taufe, Abendmahl und Beichte, waren nicht mehr eigendiche Sakramente, dingliche und stoffliche, nur vom Prie­ ster zu leistende Wunder, sondern lediglich Formen der Gewißmachung von der sündenvergebenden Gnade, völlig wie das Schriftwort, das in ihnen nur eine besonders feierliche Gestalt annahm. Vom Fall der Sakramente aus ver­ stärkte sich dann wieder der Gegensatz gegen Hierarchie und Papst l tum, die nun keinen Zweck mehr hatten und auch nicht mehr de jure humano gelten konnten. Und zwar konnte für Luthers völlig theologisch-supranaturali­ stische Geschichtsauffassung dann die Hierarchie nicht als menschlicher Irrtum, Ü bertreibung oder Entartung, sondern nur als teuflische Störung der reinen und unveränderlichen Gotteswahrheit in Betracht kommen. Er mußte von der Herabsetzung der Hierarchie als einer menschlichen Einrich­ tung zum Angriff auf die Hierarchie als auf ein Teufelswerk übergehen. Das Papsttum war die in der Bibel geweissagte teuflische Stiftung des Antichrists, nur so konnte sein Glaube an Gottes Weltregierung die große Verführung und Verfälschung ertragen. Stand aber das alles so, dann war vom Papsttum keine Hilfe und Reform zu erwarten, wie sie Kirche und Nation immer noch erhofften. Durch den Haß scharfsichtig geworden, gingen Luthern die Augen auf über die Schädigungen, die das Papsttum auch in weltlichen Din-

a

b c

In A kein Absatz. A: Es A: ecclesiae":

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gen gestiftet hatte; er vertiefte sich auch in die politische und soziale Oppo­ sition gegen das Papsttum, und in tiefster Erregung wie freudiger Zukunfts­ hoffnung ginga er den Weg Occams, in solcher Not, wo die Hierarchie völlig und prinzipiell versagteb, kraft des allgemeinen Priestertums die Laien und Stände selbst zur Reform der Kirche und cder christlichen GesellschaftC aufzufordern. So entstand im selben Jahre 1 520 seine Pro­ grammschrift "An den christlichen Adel deutscher Nation", die I ihn in kurzem zum populärsten Manne Deutschlands machte. Bis zu derd endgültigen Regelung eder Gesamtlagee sollten alle Reformen nur Provisorien sein, bei denen die christliche Freiheit und Liebe in ihrer Unabhängigkeit von allem Ä ußerenf alles dulden soll, was nicht direkt der Schrift und der Allein­ wirkung der Gnade entgegen ist, ein Prinzip der Provisorien, das bei dem Ausbleiben der Gesamtreform und des Nationalkonzils allen lutherischen Reformen dauernd seinen Charakter aufgeprägt hat. gAber freilich welch tiefe Spannungen für Luther in diesem Begriff einer kirchlichen Kultur dann doch enthalten wareng, zeigt seine dritte Schrift aus dem Jahre 1 520, die innigste und zarteste, "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Hier wird der Gegensatz des Geistlichen oder Religiösen gegen alles Weltliche so hoch gespannt, daß die Religion le­ diglich zur gotteinigen, seligen Stimmung des getrösteten Sündenschmerzes wird und gegen alles weltliche h, auch gegen alles sittliche Handeln der Ge­ meinschaft, zunächst nichts als eine völlig spiritualistische und transzen­ dente Gleichgültigkeit zeigt. Das reicht alles nicht entfernt an die Tiefen des in der Sündenvergebung der Welt entnommenen Gemütes. Die Leiden der Welt willig ertragen und nicht widerstehen dem Ü bel und Unrecht, das ist die

a

b c-c

d e-e

f g-g

h

A: geht A: versagt A: des christlichen Körpers, d. h. der christlichen Gesamtkultur A: dieser A: des Gesamtkörpers A: Ä ußern A: Wie wenig überhaupt Luther an eine völlig neue Welt gedacht hat und wie selbstverständlich ihm die Fortdauer des mittelalterlichen Lebenssystems nur auf anderen Grundlagen und mit anderer Abgrenzung des Geistlichen und Weltlichen gegeneinander erschien A: Weltliche

A 280

1 52 B, C 486

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eigentliche Probe I dieser Freiheit und ist entgegen dem weltlichen Recht der Rechtsbegriff des Christen. Der Christ ist ein Herr aller Dinge, weil er auf dieser religiösen Höhe ihnen als bloß äußerlichen und weltlichen völlig gleichgültig gegenübersteht. Zu einer ethischen, der Welt und dem welt­ lichen Handeln zugewendeten Betrachtung kommt es von hier aus über­ haupt nur auf dem Umweg über die Leiblichkeit, in der der Christ mit ihren fleischlichen Begierden und ihren Notwendigkeiten sozialen Zusammenle­ bens doch immer bleibt. Daraus ergibt sich aber zunächst nur die Abtötung und Dämpfung des Fleisches und dann die Erweisung der Gottesgesinnung, der Liebe auch an die Mitmenschen, da wir Gott nichts geben können und alle unsere Gegenleistung daher den Mitmenschen als Liebestat zuwenden müssen. Es ist die lediglich gebende und sich opfernde Liebe, und ihr Zweck ist in erster Linie nur die Bekehrung des Nächsten und seine Zubringung zu Gott durch diese unsere Liebeserweisung. Die weltliche und soziale Sittlich­ keit in Staat, Gesellschaft, Haus und Arbeit wird erst auf dem noch weiteren Umweg einbezogen, daß die Liebe zu den Mitmenschen dann auch die Un­ terwerfung unter diese ihrem fleischlichen Wohl dienenden Institutionen verlangt.41 Es ist Unterwerfung unter das an sich nicht Notwendige und Gleichgültige bloß um der Liebe willen, die den rein sozialeudämonistisch aufgefaßten Staat um des Nutzens für den Nächsten willen sich gefallen a läßt. Hiermit ist freilich die Vereinigung von Geistlichem und Weltlichem, die im Katholizismus zur Herrschaft der Priester auch über die Welt geführt hatte, gründlich aufgehoben. Aber sie ist so gründlich aufgehoben, daß nun überhaupt kein Weg vom Geistlichen zum Weltlichen mehr zu führen scheint und ein Reformprogramm, wie das in der Schrift an den Adel, den Boden verliert. Der Gegensatz der beiden Schriften beleuchtet in der Tat ei­ nen bleibenden Gegensatz in seinem eigenen Wesen und Wollen: die Glau­ bensreligion als Religion der reinen Freiheit und Innerlichkeit, der Weltüber­ legenheit und Gotteinigkeit soll stehen auf reiner freier Predigt und soll wirken eine rein dem Jenseits und der Gottesliebe zugewandte Sittlichkeit, die nur um des Leibes und der an irdische Gemeinschaft und Arbeit gebun­ denen Bruderliebe willen die Welt erträgt; anderseits soll dieses Evangelium von innen heraus Welt und Gesellschaft erneuern, den Irrtum überwinden a-a

A 281

41

A: läßt, eine sehr kindliche, jedenfalls rein religiöse und theologische Argumenta­ tion, die den transzendent-mystischen Gegensatz höher spannt als der Katholizis­ mus. Aber andererseits ist doch auch die Wiederaufeinanderbeziehung beider ähnlich vorausgesetzt I wie beim Katholizismus .

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 8.

11. Luther (1 483-1 546)

1 53

und ein im wahren Glauben einiges, nach Gottes Wort geordnetes Gesamtleben hervorbringen. Die katholische Vereinigung beider Tendenzen in einem von der Natur zur Ü bernatur aufsteigenden, kirchlich geleiteten Stufenbau hat er zerschlagen. Eine neue Vereinigung war sein Ideal, das ihm aber niemals in wirklichem inneren Zusammenhang zu entwickeln gelang. Vorerst, wo alles im Werden und unfertiger Gärung lag, genügte die Hoffnung, Gott werde beides, eines durch das andere, verwirklichen. Noch steht alles im Zeichen heroischer Zuversicht und weitherziger Duldung. Das Wort wird es tun, und für die Welt ist zunächst gesorgt durch das natürliche Sit­ tengesetz und das Naturrecht.a Staat I und Gesellschaft, Recht und Ordnung gehen aus dem natürlichen Sittengesetz der Vernunft hervor, die Religion braucht sich also darum gar nicht zu kümmern. Sie braucht nur zu wissen, daß dieses natürliche Vernunftgesetz die zweite weltliche Hälfte des Dekalogs ist und daher mit dem ganzen göttlichen Gesetz eng zusammenhängt.a Der Gott, in dessen Gesetz die beiden Hälften identisch sind, wird schon ganz von selbst für ihre Harmonie und ihr Zusammenwirken sorgen, und gegen Ausbeutung der christlichen Leidensbereitschaft durch Schurken und Verbrecher hilft die derartig gottverordnete Obrigkeit. Hier bedarf es nur des Glaubens und Vertrauens auf die göttliche Vorsehung.b So kann neben der ganz weltindifferenten Mystik und der rein religiösen Lie­ besethik der "Freiheit des Christenmenschen" doch zugleich ein politisch­ soziales Reformprogramm, wie das der Schrift "An den Adel" stehen. Auch für die etwaige Notpflicht der Obrigkeit, in schwerer Lage die Kirchenreform in die Hand zu nehmen, bleibt Raum, insofern neben ihremC weltlichen Beruf die Obrigkeit doch auch selbst Glied der Gemeinde ist und ihr in Liebe und Freiheit dienen muß. Luthers Religion ist damit in ihren Grundzügen voll entwickelt. Ihr gan­ zer Reichtum und ihre innere Freiheit strömt, solange es sich lediglich um die prinzipiellen Grundlagen einer erst noch dbevorstehenden großen Wandlung der Dinged handelt. Noch ist alles in ihm voll Enthusiasmus und In Afolgt: Die Obrigkeit ist für Luthers natürliches konservatives Gefühl nach dem Naturrecht von Gott eingesetzt und exekutiert den zweiten, dem weltlichen Nut­ zen der Menschheit dienenden Teil des Dekalogs. b A: Vorsehung, der bloß die hierarchische Kirche nicht mit gewaltsamen und die göttliche Sphäre überschreitenden Einwirkungen in den Arm fallen darf. c A: dem d-d A: zu bewirkenden Gesamtreform des christlichen Daseins a

B, C 487

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B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6 . Jahrhunderts

erwartet die Erneuerung aus den innerlich treibenden Kräften des all­ gemeinen Priestertums und der erneuerten, verinnerlichten, gereinigten Re­ ligiosität. Noch bedarf es keiner Einzelausprägung und keiner Stiftung und Gründung. a Erfüllt von der Prädestinationsgnade, vertrauend auf das Wort und daher vor allem das Wort seinen Deutschen darbietend, verachtet er alles künstliche Machen und entwirft nur das Ideal überhaupt, im einzelnen, wo immer es sich regt, zu seiner Verwirklichung seelsorgerlich mithelfend. Mit unserer Macht ist nichts getan, Freiheit und Vernunft haben nichts zu su­ chen in Gottes Sachen. Denna ganz abgesehen davon, daß diese Freiheit in das Geheimnis der Prädestinationsgnade und der Gewinnung des Rechtfer­ tigungsstandes in keiner Weise hineinreicht, sondern demgegenüber viel­ mehr ihre volle Unfähigkeit in den Qualen der Selbstverzweiflung erfahren muß, auch abgesehen davon, daß unter den Verhältnissen der Erbsünde

a-a

A 282

A: Die Religion ist in ihrer Innerlichkeit und damit in ihrer vollen Gewißheit her­ gestellt, und ihr Inhalt ist die Sündenvergebung, die Ü berwindung der alles mit Leid und Schuld erfüllenden großen Weltstörung, der Erbsünde und des Teufels. Die Gewißheit, die nicht mehr auf der sakramentalen magischen Gnadeneinflö­ ßung beruht, beruht auf dem absoluten Wunder der Gewinnung eines solchen Vertrauens mitten in aller Erbsünde durch die Schrift. Dieses Wunder hat, wenn es wirkliche Gewißheit sein soll, zu seinem Hintergrunde die Prädestination, nicht den modernen Determinismus naturwissenschaftlicher oder psychologischer Art, sondern den theologischen Glauben, daß die durch Adams Freiheit in religiösen Dingen völlig verderbte Menschheit aus ihrer Unfähigkeit zum Gottesglauben be­ freit werde durch das Wunder der Einflößung dieses Glaubens vermittels der Schrift. Luther hat es aber unterlassen, von seinem rein subjektiven Standpunkt aus die Prädestination weiter zu verfolgen hinein in das Wesen Gottes und in die in Gott erfolgende doppelte I Vorbestimmung, in das grausige Geheimnis der Ver­ werfung und Erwählung. Er nannte das außerhalb der Schrift spekulieren und wies den Gläubigen daran, sich an die Schrift zu halten und im Gottvertrauen selber sei­ ner Prädestination gewiß zu sein. So sehr dies große religiöse Mysterium, das dann bei den Reformierten im Zentrum stand, bei ihm derart allmählich zurücktrat, so bleibt es doch von den Anfängen her immer der Hintergrund seines ganzen reli­ giösen Denkens, seiner Scheidung von Weltlichem und Geistlichem, seines Dua­ lismus zwischen Sündenwelt und Erlösungswelt, zwischen Gott und Teufel. Er be­ durfte des absoluten Wunders , und aus dieser fröhlichen Gewißheit quoll ihm alle Zuversicht zur Erneuerung des Corpus Christianum in geistlichen und weltlichen Dingen. Nur wollte er dies Wunder nicht verstanden wissen auf Kosten der gött­ lichen Güte, die alle Geschöpfe beseligen will. Adams Fall selbst ist ein Werk der Freiheit, und so gibt es auch heute noch außerhalb der rein religiösen Sphäre im natürlichen Licht, in der Lex naturae eine von Gottes Güte verliehene Freiheit. Aber

II. Luther (1 483-1 546)

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diese Vernunft die Formen von Zwang und Recht, Lohn und Strafe, Krieg und Nahrungskampf annehmen muß - es ist diese Freiheit überdies eine völlig geschwächte auch auf ihrem eigenen Gebiete; sie ist beständig bedroht von den listigen Anläufen des Satans und wird von ihm überall möglichst in Gewalttat, Bosheit, Geiz, Herrschsucht verkehrt. Daher sollen die deutschen Stände auch vor allem sich hüten vor dem Vertrauen auf weltliche Mittel, auf Menschen I oder Organisation. Daran seiena die staufischen Kaiser gescheitert. Das Evangelium muß es von innen heraus durch Demut und herzlichen Glauben wirken. Sonst möchte es nichts werden mit der Reform der Christenheit.42 Aus der Gesamtreform wurde in der Tat nichts. Die entscheidenden Stellen versagten. Vielmehr umgekehrt wurde Luthers Reformidee verwickelt in den Ausbruch der seit lange drohenden sozialen Revolution, und bei seinen eigenen Anhängern ergaben sich die unvermeidlichen Zwiespältigkeiten. Er mußte es als Gnade Gottes betrachten, daß die Reichs- und Weltlage wenig­ stens in einzelnen Territorien, vor allem in seinem sächsischen Kurstaate, eine vorläufige partielle Neubildung erlaubte. Von hier ab nimmt allerdings sein Werk neue Züge an.43 Die ungeheure Enttäuschung, daß es mit dem Vertrauen auf das allgemeine Priestertum und auf die von innen heraus zum Rechten wirkende Kraft des göttlichen Wortes und des natürli­ chen Sittengesetzes nichts gewesen war, gibt von nun ab allem eine andere Färbung. Alles wird unfroher, enger, härter, autoritativer. aAnderseits nötigte a aber auch die Organisation neuer Kirchen und eines neuen Verhältnisses zum Staat zu einer Reihe konkreter Aus l arbeitungen, in denen die Idealität der ersten gro­ ßen phantasievollen Konzeptionen sich nicht behaupten konnte. Alles wird praktischer, nüchterner, menschenverständiger, gröber und weltmäßiger. Man hat darin einen Abfall Luthers von sich selbst, einen Rückfall ins Mit­ telalter sehen wollen. Allein das kann man nur meinen, wenn man übersieht, wie seine großen Ideen von Anfang an im Zusammenhang mittelalterlicher Gedanken gedacht waren und wie bei der Ausführung diese Voraussetzun­ gen naturgemäß stärker hervortreten mußten. Man wird umgekehrt sagen dürfen, daß in der Ausführung die mönchischen und katholisch-asketischen Reste immer stärker zurücktratenb und die C gegebenen Verhältnisse immer voller zu ihrem Rechte kamend. Es verschwindet sein kirchliches Gemein­ deideal, das übrigens nie über eEinzelversuche und Hoffnungene hinausge­ kommen war, und an dessen Stelle tritt die Anvertrauung von Ausbildung

a-a

b c-c

d e-c

A: Andrerseits nötigt A: zurücktreten A: spätmittelalterliche Laienkultur A: kommt A: flüchtige und gelegentliche Andeutungen

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und Anstellung der Pfarrer, von Visitation und Finanzierung der Sprengel an die einzige dazu fähige Gewalt, die Landesobrigkeit, die als Hüterin des Gesetzes auch zur Hütung der ersten geistlichen Gesetzestafel und als her­ vorragendstes Gemeindeglied zum freiena Liebesdienst für das Wort Gottes berufen ist. Er folgt damit nur der schon länger bestehenden spätmittelalter­ lichen landeskirchlichen Praxis. Es verschwindet die freie rein religiöse Stel­ lung zur Schrift, die den Paulus herausgriff und die übrige Schrift in ihrer Menschlichkeit erkannte. Es bedurfte einer absoluten Autorität, und das konnte nur die Schrift in vollem Umfang sein. Es verschwindet die Toleranz gegen Juden und Ungläubige, an denen das Wort Gottes schon von selbst ohne Zwang und Zutun wirken werde; nun sollen sie im Zaume gehalten und von dem Boden reiner christlicher Lehre ausgewiesen werden; ja die Voraussetzung, daß Ketzer zu Unruhen neigen, führt zur Betrauung des Staates mit der Todesstrafe. Es verschwindet das Zutrauen zu dem Zusammenwirken von weltlichem, naturrechtlichem Staat und geistli­ chem, rein religiösem Gemeindeleben, und die Obrigkeiten werden mit ge­ waltsamer Erhaltung christlicher Zucht, mit der Verhängung bürgerlicher Rechtsfolgen für geistliche und moralische Vergehen, betraut, wie umgekehrt die Kirche die Obrigkeiten über ihre religiösen Pflichten gegen die Kirche und den Christenstand des Volkes belehren muß. Es schwindet in allen Stük­ ken das Vertrauen zum automatisch, von innen heraus bewirkten Sieg des Guten; Auskunftsmittel der Gewalt und weltlichen Ordnung müssen getrof­ fen werden, und im übrigen tröstet sich Luther des lieben jüngsten Tages, der mit dem Erscheinen des Antichrist - und das ist jetzt der Papst _b in der Schrift verheißen ist. AnderseitsC aber nimmt Luther doch auch immer fester seine Stellung auf der gottgegebenen Erde und bildet I in dem Vertrauen, daß ihre Verhältnisse, d. h. Geschlechtsleben, Arbeit und Wirtschaft, Herrschaft und Recht, Krieg und Nahrungskampf, nun einmal von Gott geordnet sind , die Grundzüge der Ethik des Luthertums aus.d Sehr charakteristisch ist er hierbei zu steigender Bezugnahme auf das Alte Testament genötigt, das für weltliche Dinge mehr Stoff bietet. Gott I hat die Welt nun einmal so geordnet, wie sie ist, und darum ist sie wie Wetter und Jahreszeit hinzunehmen als Schauplatz und Lebensform, innerhalb de­ ren wir unsere Glaubensgewißheit erleben und innerhalb deren wir die Liebe betätigen. Gottes Vorsehung sorgt dafür, daß die im natürlichen geschichtli­ chen Fluß hervortretenden Sozialgebilde ein System sind nach dem Bilde des Paulus von dem Organismus der Gemeinde, in dem jeder durch die ständi­ sche Ordnung seinena Beruf für den Nutzen des Ganzen empfängt. In den Formen des Berufs lebend und nie über sie hinaus zu selbstgemachten Le­ bensbedingungen strebend, betätigt der Christ die innere Askese der Lösung seiner Seele von der Welt, aber betätigt er auch Gehorsam und Liebe gegen Gott, indem er die Berufsstellungen und die ehrliche Berufsausübung als die Gelegenheit und Form betrachtet, in denen er seine Liebe gegen den Näch­ sten erweisen kann. So lebt er in einem christlichen Stand des gemeinen We­ sens, rein geistlich erbaut auf die Rechtfertigungsgnade und in Kreuz und Leid sich am seligsten fühlend, aber doch zugleich das irdisch-weltliche We­ sen als Anlaß zu geistlicher Bewährung benutzend und sich dem einträchti­ gen Zusammenwirken von geistlicher und weltlicher Gewalt befehlend. Aus der Gegenliebe gegen Gott, die bei Gottes Bedürfnislosigkeit sich in der Unterziehung unter die weltliche Ordnung zum Nutzen I des Nächsten äu­ ßert, ist der Gehorsam gegen die Schöpfungsordnung geworden, die zwar durch die Erbsünde getrübt genug ist, aber doch im Staat und im Gesell­ schaftsleben ein gottgewolltes System nützlicher menschlicher Funktionen darbietet. Dabei hängt freilich diese geistliche Berufsethik aufs engste zua

44

In Afoigt: besonderen Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 8 .

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1 59

sammen mit der Auffassung des ständisch-agrarischen Staates als der nor­ malen Auswirkung der Lex naturae. Das Naturrecht ist von ihm instinktiv durchaus antidemokratisch und konservativ gedacht, und die rein religiöse und innerliche Gleichheit des Christen fügt sich demütig in diese natürlichen Ordnungen Gottes. Die Sozialgebilde sind eine Schöpfung der Gewalt, aber unter Zulassung und Anordnung durch Gottes Vorsehung, so daß der Christ nach geistlichem und natürlichem Recht sich willig der Macht zu fügen hat, die Gewalt über ihn hat. Das von solcher Gewalt geschaffene Gemeinwesen bringt durch die gottgewollte innere Logik der Lex naturae die ständischen Gliederungen hervor, die nicht minder zu respektieren sind als die Obrig­ keit selbst, und die das Fachwerk sind, in dasb Gott die Tätigkeit des Christen eingliedert.c Daher haßt er auch den erst respektlos nivellierenden und dann künstlich naturwidrige Unterschiede machenden Kapitalismus. Der Patriar­ chalismus beruht in gleicher Weise auf geistlichen wie auf naturrechtlichen Gründen und hängt mit einem gegebenen, nicht erst vom Individuum zu erörternden System sozialer Funktionen zusammen. In diesem System fin­ det jeder den seinem Stand I gemäßen Nahrungsschutz, bei dem er sich in Gottvertrauen und Geduld zu bescheiden hat. Dogmatisch ist Luther über seine bisherigen Positionen lediglich in der Abendmahlslehre hinausgegangen. Hier hat ihn der Kampf mit Karlstadt und dann später mit Zwingli, der ihm mit Karlstadt immer identisch blieb, zur schroffen Betonung der wahren Gegenwart von Leib und Blut des ver­ klärten Christus in den Elementen zum Genuß Frommer und Unfrommer veranlaßt. Der Mystiker hing an dem Ineinander des Göttlichen und Mensch­ lichen, und so erhielt er seiner Kirche das katholische Abendmahlsdogmae ohne seine Beziehung auf die Göttlichkeit des Priestertums und auf die Wiederholung des Opfers Christi durch den Priester. Es war eine besondere Vergewisserung, wenn das Wort der Sünden­ vergebung in dem gegenwärtigen Logos Gottes selbst leiblich zu genießen gegeben wurde. Mit der Erneuerung scholastischer Spekulationen, die die hierzu erforderliche Allgegenwart des Leibes Christi bewiesen, vererbte er seiner Kirche auch scholastischen Geist und scholastische Technik, mit der Entladung seines grimmigen Zorns gegen Zwingli die Begeisterung für ein A: gottverordnete A: die c In A folgt: An die Gesellschaft der Freizügigkeit und Gewerbefreiheit, der Maschi­ nen und des Kapitals ist dabei freilich nicht gedacht; sie würde Luthern als Auf­ hebung aller patriarchalischen Ordnung und Autorität erschienen sein. d-d A: Luthers Abendmahlslehre. e A: Dogma a

b

A 28S d Scholastische Neubauten über der biblisch­ mystischen Grund­ konzeption.d

1 60

B, C 492

Das Luthertum beim Tode Luthers.

Luthers Ctheologisches Erbe'.

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

lutherisches Sonderdogma und die stereotypen stilistischen Formeln des Hasses gegen die Sakramentierer. Luther starb gerade, bevor es zur endlichen Ausführung der Reichsacht ge­ gen ihn und die seine Lehre beschützenden Fürsten und Stadt-Regimente kam. Seine Kirchen wurden von neuem in interimistische Zustände gestürzt, aber sie waren bereits zu stark, um völlig erdrückt zu werden.a Er b hatte ihnen eine, wenn auch prinziplose und sehr provisorische, aber doch zähe Organi­ sation, vor allem einen festen und unbesieglichen Geist hinterlassen. Er hatte ihnen aber auch eine Theologie hinterlassen, die zwar völlig gelegentlich und unsystematisch war, die aber doch einen starken und einheitlichen Gesamt­ charakter trug und die nun bei der endgültigen Ausgestaltung und Befesti­ gung seiner Hinterlassenschaft sehr natürlich zu immer stärkerer Geltung kam. Sie wurde immer mehr das leidenschaftliche Schibboleth einer Partei des allein wahren und echten Christentums. Von hier aus reorganisierte sich das Luthertum aus den Wirren des Interims. Sein Einheitsband und seine Kraft wurde eine immer strenger gefaßte, rein lutherische Theologie. Luther selbst hatted eine eigentliche Theologie nicht besessen, sondern nur die Elemente einer solchen. Der Grund davon lage nicht bloß in dem praktisch bedingten gelegenheitlichen Charakter seiner Schriftstellerei - sie ging trotzdem immer aus ernsterf Denkarbeit hervor -; auch nicht in der Ab­ neigung des religiösen Genius gegen j eden begrifflichen Doktrinarismus Luther hat begrifflich gedacht und hat gelegentlich den Doktrinarismus a

b c-c

d e

f

In A folgt: Auch half ihnen die Eifersucht der ständischen Libertät gegen den drohenden kaiserlichen Absolutismus. A: Luther A: Theologie A: hat A: liegt In A folgt: einheitlicher

11. Luther (1 483-1 546)

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durchaus nicht verabscheut. Er laga in dem Ausgangspunkt seines Denkens, das bei der Analyse des subjektiven religiösen I Bewußtseins psychologisierend einsetzteb, hier dann den ganzen kirchlichen Supranaturalismus, abgesehen von der Sakramentsmagie und der Priestertheokratie, als einen in­ nerlich geistlichen wiederherstellteC und so beständig zwischen psycholo­ gisch-subjektivierenden Analysen und supranaturalistisch-objektivierenden Offenbarungssätzen hin und her gingd. So entstande ein sehr buntes Gemenge von Aussagen, das aber doch ein ein­ heitliches Gepräge trugf. Die Welt zerfällt seit dem unseligen Sündenfall in zwei große Teile, in die Welt außer Christo und in die Welt in Christo. Die erste ist die Welt des Teufels und der Erbsünde, der Verderbnis und der Höl­ lenstrafen, der Versehungsqualen und Gotteszweifel, des Gesetzeszwanges und der Lohngerechtigkeit, des I Zorns und der Verdammnis, der Äußerlichkeit und des Werkwahnes, des kreatürlichen Hochmutes und der glaubenslosen Verzweiflung. In ihr ist der Mensch ein Werkzeug des Teufels, und selbst die hier noch übrige, im natürlichen Sittengesetz sich äußernde Vernunft muß sich diesen Verhältnissen durch Recht und Zwang anpassen und vermag kaum die Einschränkung der gröbsten und äußerlichsten Sünden. Die zweite ist die Welt des Gottessohnes und der Gnade, des Heils und der Seligkeit, des Gottvertrauens und der Freudigkeit, der Selbstverneinung und Neuschöpfung, der Bußschmerzen und des Sündentrostes, der Gotteskraft und des Geistbesitzes, des absoluten Bekehrungswunders und der Vereinigung mit Christo, wo der Mensch alle Verdienste und Gnadengüter Christi empfängt und Christus alle Strafe und Sünde des Menschen auf sich nimmt. Darin wurzelt schließlich auch innerlich die Behauptung des kirchlichen Tri­ nitätsdogmas: nur das Wunder der Menschwerdung Gottes selbst kann die verkehrte Welt wieder umkehren, insbesondere die alles beherrschende Be­ tonung des Genugtuungs- und Strafleidens Christi, der die Gesetzes- und Zornwelt aufhebt und den Teufel besiegt; ein Tod fraß hier den anderen und hat dadurch die Menschheit befreit . Dieses kosmische Grundwunder wird aber zur Erlösung des einzelnen nur durch das ganz innerliche und persönliche Bekehrungswunder. a

b c

d e

f

A: liegt A: einsetzt A: wiederherstellt A: geht A: entsteht A: trägt

A 286

B, C 493

1 62

A 287

B, C 494

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6 . Jahrhunderts

a Dieses durch das ganze Leben dauerndeo Bekehrungswunder selbst voll­ zieht sich trotz aller unmittelbaren Gottgewirktheit überall nur durch die Vermittlung des Wortes und der Sakramente. In beiden wird die wahre Got­ teserkenntnis zusammen mit der Botschaft von dieser großen Heilstat Got­ tes dem Glauben dargeboten. Daher ist die Verkündigungb des Wortes, die Reinheit der Schriftlehre und der Trost der leiblichen Gegenwart Christi im Sakrament der eigentliche Kern der Kirche. Dabei tritt ihm aber der pauli­ nisch-johanneische Christus so stark als Kern der Schrift hervor, daß die in menschliche Hülle sich kleidende Gottheit, ihre Gegenliebe und Vertrauen weckende menschliche Liebe, ihre ganze Verkleidung in psychologisch wirk­ same, geschichtliche Personwirklichkeit ein Zentrum seiner Theologie wird neben dem Mysterium des Genugtuungstodes. Die Zahl der so Bekehrten wird nicht groß sein; freilich ringt hier die allgemeine Men­ schenliebe, die die Bekehrung als eine für alle wenigstens mögliche und von Gott gewollte ansieht und sie auch allen zuwenden will, mit den Ent l täu­ schungen der Erfahrung und den Konsequenzen der nie aufgegebenen Prädestinationslehre. Nur schwer ergibt sich Luther in die I Kleinheit der Chri­ stenschar. Calvins Härte, der diese Kleinheit aus dem Wesen Gottes folgerte, ist ihm fremd; ihm ist Gott der Gott der gnädigen Liebe und nicht der Gott der Offenbarung seiner Herrlichkeit und Allmacht. Die Christengemein­ schaft oder die wahre Kirche erstreckt sich durch alle Welt und ist überall da, wo Wort und Sakrament rein zur Wirkung kommt. Die Kirche ist eine objek­ tive Heilsanstalt, aber nur sichtbar in Wort und Sakrament. Sein mystischer Individualismus ist überall nur an der Rettung der Einzelnen durch die Kir­ che oder das Wort interessiert, und sein Pessimismus erlaubt ihm nicht, ir­ gendwo eine reine und große Kirche zu erwarten. Auch im eigenen Lande muß es genügen, die Obrigkeit zur Pflege des reinen Wortes zu veranlassen und alles übrige Gott canheim zu stellenc• Die Bekehrten selber sollen, in der Welt wie Küchlein unter Christi Fittichen

a-a

b c-c

A: Das ganze A: Erhaltung A: zu überlassen

III. Zwingli (1 484-1 531)

1 63

sitzend, der Welt gebrauchen als des von Gott verordneten Ortes und Beru­ fes, aber nirgends ihr Herz an sie hängen. Sie sollen den alten Adam ersäufen in täglicher Reue und Buße, in rechter biederer Pflichterfüllung ihren Platz ausfüllena und die Welt heiligen, soweit sie es leiden will, im übrigen aber Gott für das Weltregiment sorgen lassen und als echte Christen stets zur Be­ währung ihres Glaubens im Martyrium bereit sein. Denn der Zwiespalt zwi­ schen der Teufelswelt und der Gotteswelt hört auch nach der Bekehrung im irdischen Leben nicht auf. Sie dürfen sich dabei stets dessen getrösten, daß durch die Gnade ihnen die Hölle verschlossen und die selige Heimat im Himmel offen ist. Um das Fegefeuer aber, das ihnen bisher so viel Sorge machte, brauchen sie sich nicht zu kümmern, das ist ein Wahn. Gott macht immer ganze Arbeit; entweder verdammt er völlig oder beseligt er völlig; er rechnet nicht und macht keine Kompromisse. Es ist kein Wunder, daß bei weniger groß angelegten und weniger phanta­ sievollen Menschen unter der Nötigung zur Bildung fester kirchlicher Lehr­ enb daraus die Theologie der lutherischen Dogmatik wurde. I III. Zwingli (1 484-1 5 3 1 ) .45 Die zweite religiöse Bewegung, die es zur Bildung einer religiösen Gemeinschaft von beträchtlichem, wenn auch hinter dem Luthertum sehr zurückbleibendem Umfang brachte, ist die Reformation Zwinglis. Sie ist die aus den Verhältnissen der Schweiz herausgewachsene

a

b

A: ausfüllend, A: Lehre

45 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 8.

B , C 495 Sonderart der Schweizer Reformation.

1 64

A 288

Zwinglis Charakter.

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

Reformation, eine Verdichtung allgemeiner Schweizer Gravamina und hu­ manistischer Kritik zur Reform, von dem Ausbruch der Lutherischen Bewe­ gung in Gang gebracht und durch die gleichen internationalen politischen Verhältnisse begünstigt wie die Reformation im Reich. Trotzdem ist ihre Be­ sonderheit keineswegs bloß begründet in der Sonderart der Schweiz, in ihrem Republikanismus, ihrem Kampf gegen die zerrüttenden Soldbünd­ nisse, ihrer Freiheit von Rücksicht auf Reich und Reichsacht, ihrer traditio­ nellen Beteiligung der demokratischen Vertretungen an der Kirchenhoheit. Vielmehr erhält sie ihr charakteristisches Gepräge durch die reli l giöse und ethische Individualität Zwinglis, die neben derjenigen Luthers durchaus selbständig und durch eigene Vorzüge ausgezeichnet ist. Die in neue Bewe­ gung geratene christliche Idee äußert sich in dem fruchtbaren Zeitalter in einem großen Reichtum sehr verschiedener Gestaltungen. Neben der mora­ lischen Laientheologie des Erasmus und der unmittelbar gefühlsmäßigen paulinischen Gnadentheologie Luthers steht die exegetisch-historisch be­ gründete, intellektuell-systematisch durchgedachte und in einer praktischen politisch-sozialen Schöpfung betätigte Schrifttheologie Zwinglis. Zwingli ist wie Luther ein Bauernsohn und hat von seiner Herkunft die natürliche Frische und Aufrichtigkeit; aber die bäuerlichen Elemente sind doch fast ausgetilgt durch eine planmäßige, mit früher Jugend einsetzende humanistische Erziehung. Als Kind leidlich wohlhabender Eltern und gelei­ tet von wohlwollenden und gebildeten Verwandten hat er in Basel, Bern, Wien und dann wieder Basel studiert, überall ein fröhlicher Zögling ader neuen humanistischen Gedankenwelta. Den Trübsinn des Lebens lernte er nicht kennen wie Luther, und von melancholischen Anwandlungen war er stets frei. Dagegen hat er den Sinn für umsichtiges und planmäßiges Stu­ dium, für sorgfältige Begründung, radikale Durchdenkung der Prinzipien, sichere Bedächtigkeit des Vorgehens und freudige Tatkraft des Entschlusses. Er hat stets besser lateinisch als deutsch geschrieben, und sein Stil ist, ohne Luthers Originalität und Vollkraft, wohl humanistisch geschmückt und gele­ gentlich von größter Energie, aber im ganzen farblos und zu philologischer Pedanterie geneigt, weniger grob als Luther, aber reicher an Satire und ste­ chendem Witz, rhetorisch wirksam, aber ohne Humor und Phantasie. So ist denn auch die eigentliche religiöse Grundanlage seiner Natur bei allem ge­ wissenhaften Ernst und trotz der stets sich steigernden Wärme nicht ent­ fernt von der vulkanischen Gewalt Lutherischen Empfindens. Luthers An­ fänge schöpften aus der deutschen Mystik, und er behielt aus ihr dauernd den formellen Gegensatz aller christlichen oder spiritualen Moral gegen die

a-a

A: humanistischer Studien

III. Zwingli (1 484-1 531)

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weltliche oder legale bei, auch wenn er die I welt flüchtige Askese beseitigte. Zwinglis Anfänge schöpften aus dem Humanismus und dem Schweizer Pa­ triotismus, und er hatte dadurch von Hause aus die Richtung auf die Identität gesunder weltlicher Ordnung mit dem geistlichen Leben, auf die Konvergenz von Natur und Geist. Zwingli hat nie an das Kloster gedacht, hat die Theologie zunächst nur nebenbei studiert, das geistliche Amt nur übernommen, weil die verwandtschaftlich beeinflußte Gemeinde von Glarus gegen alles Erwarten den blutjungen Magister berieP und mit dieser Stelle die Leitung einer humanistischen Schule verbunden war. Von Anfang an religiös bewegt, hat er doch in die Religion sich immer mehr pflichtmäßig hineinstudiert und erst später, von der Gewissenspflicht erfaßt, sein ganzes Leben in ihren Dienst gestellt, dann freilich ohne Rest und ohne Furcht. Immer aber ging bei ihm das religiöse Gefühl durch das Medium pflichtmäßiger Aner­ kennung der Schriftwahrheit und verstandesmäßiger Aufhellung seines ver­ pflichtenden Gehaltes I hindurch. Diese Anlage und dieser Entwickelungsgang hatte zur Folge, daß bei ihm sich alles in Ruhe, Harmonie und Klarheit durchbildete, daß er bei seinem Hervortreten schon eine sorgsam erwogene, klare und kritisch befestigte Gedankenwelt in sich trug, und daß er dann eineb konsequente Tatkraft ohnegleichen daran setzte, das mißbräuchliche Alte durch ein konsequentes und einheitliches Neues zu ersetzen. Die Kata­ strophen, das Gedrängtwerden durch die Verhältnisse, die stets von Fall zu Fall nur das Notwendigste reformierende Art Luthers, auch all die starken Stimmungsschwankungen und Unfertigkeiten Luthers fehlen in seinem Wirken. Dabei aber ist sein Radikalismus doch nur ein Radikalismus des Pflicht­ bewußtseins und der Verstandesklarheit. Sein Temperament selbst ist kon­ servativ im höchsten Grade. Theologisch hält er wie selbstverständlich an dem nicänisch-chalcedonensischen Dogma, an dem mittelalterlichen Weltbild, an der Inspiriertheit der Schrift fest; auch der kirchliche Supranaturalismus, dem die Bibel und die von ihr bezeugte Geschichte ein absolutes Wunder ist, steht ihm völlig unerschüttert. Politisch und ethisch drängt er - und zwar schon vor den Konflikten mit den Täufern - auf Anerkennung des Staates und der staatlichen Ordnung, des geltenden Rechtes und Besitzes, und sein Hauptziel ist von Anfang an eine moralisch-religiöse Wiedergeburt der Eidgenossenschaft und Zürichs zu den echten vaterländisch-christlichen Tugenden eines geordneten Gemeinwesens. Er ist weder ein Rationalist _c das Endgeheimnis seiner Theologie ist die absolut irrationale doppelte Prä-

a

b c

A: berief, A: seine A: Rationalist,

B, C 496

A 289

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S.

Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

destination und die Freiheit Gottes von jedem Gesetz a noch ein Radika­ ler b das Ziel seines Lebens ist die christliche Ordnung eines in bestimmter Rechtsgestalt einmal gegebenen Gemeinwesens. Es liegt nur auf allem ein Hauch pflichtmäßiger Strenge und verstandesmäßiger Klarheit. Und in beidem regt sich die starke Selbständigkeit einer großen Persön­ lichkeit. Seine religiöse Grundposition ist nicht das Ergebnis eines schweren explosiven Kampfes, sondern beharrlicher Arbeit und Selbsterziehung. Von seinem Lehrer Wyttenbach auf die alleinige Heilsbedeutung I Christi hinge­ wiesen, hat er den Ausschluß priesterlich-sakralerc Vermittlung stets als selbstverständlich betrachtet, und kein Kampf trotzigen Temperamentes hat ihn gegen das Gesetz empört. Von Erasmus ließ er sich in die alleinige Gel­ tung der Schrift einführen, ohne daß er eine gewaltsame Befreiung von den kirchlichen Autoritäten nötig gehabt hätte. Von Luther ließ er sich das Ver­ ständnis für den Gegensatz von Gesetz und Gnade und damit für den Pau­ linismus öffnen, ohne daß ihm Tröstung des Sündenschmerzes und Freiheit von Gesetzeszwang das ganze Geheimnis der Religion dgeworden wäre d. Vielmehr selbständig in die Schrift sich hineinlebend empfand er immer mehr die alle kreatürliche Mitwirkung ausschließende Alleinwirksamkeit Gottes, die den Glauben an die Schrift selbst erst hervorbringt e und durch ihn die Gewißheit der Gnade und die Gemeinschaft mit Gott verleiht, als den Kern des Christentums. Nur die alle kreatürlich-menschliche Vermitt­ lung ausschließende Gotteswirkung gibt völlige Heilsgewißheit. So wird die I Prädestination der Mittelpunkt seiner Lehre. Damit tritt die Bekehrung, de­ ren Analyse Luther beherrschte, zurück, und die Moral wird nicht zum An­ hang, sondern zum Ziel der Heilsgewißheit. Die Prädestination läßt für Zwingli alles als einheitlichen Vorgang erscheinen, während für Luther das rein Göttliche oder die Rechtfertigung gegen das mit menschlicher Aktivität Gemischte eifersüchtig isoliert werden muß. Buße, Rechtfertigung und Hei­ ligung sind ein und derselbe einheitliche Vorgang, dessen rein göttliche Be­ wirktheit eben gerade die Heilsgewißheit gewährt. Das schwere Problem des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium, in das Luther sich verbohrt hatte und aus dem heraus er nur mühsam und inkonsequent den Weg zu seiner positivenf Berufsethik fand, besteht für Zwingli in dieser Weise nicht. In der von der Gnade bewirkten Sündenerkenntnis wird der Glaube geboren als _

_

Religiöse Grundposition Zwinglis. S, C 497

A 290

A: Gesetz, A: Radikaler, A: kirchlicher e d-d A: wurde A: wirkt e A: geduldig leidenden f a

b

III. Zwingli (1 484-1 531)

1 67

Hingabe an den lebendig tätigen Gott und an sein geistlich-evangelisch und gesinnungsmäßig, nicht zwangsmäßig verstandenes Gesetz. Paulus zeigt sich ihm vor allem von der Seite der Prädestinationslehre; und die Prädestination zum Glauben war ihm daher zugleich die Prädestination zur Erfüllung des geistigen Gesetzes, zur Auswirkung der im Glauben gesetzten Gotteinigkeit. Und von da aus hat schließlich sein Glaube ihn zu dem letzten Schritt geführt, zur Erkenntnis auch der Sünde als von Gott gewirkt und gewollt, um in ihrer Bestrafung die furchtbare Gerechtigkeit Gottes zu illustrieren. Ebendeshalba steht er auch dem Augustinismus viel ferner als Luther. Augustins Determinismus strenger behauptend als Luther, mäßigt er doch seinen Dualismus; Luthers grotesker Teufelsglaube ist Zwingli fremd. Er ist allerdings strenger Supranaturalist, aber sein Supranaturalismus ist nicht exklusiv; er erkennt die Erleuchtung und Prädestination der großen, vom Humanismus so geliebten Heiden an und kann ihre Gedanken verweben mit den christlichen. Er verdammt alles außer Christo zur Erbsünde, aber um deswillen nicht alle zur Hölle. Denn die Erbsünde ist nicht wirkliche Schuld, wirkliches Mitsündigen mit Adam, sondern eine I Unglücksfolge der Sünde Adams, die nun j eden ohne eigene Schuld in das allgemeine Schicksal zieht, die aber ebendeshalb durch die Gnade der Erwählung, Erleuchtung und Glaubenspflanzung bei Christen und Nichtchristen aufgehoben werden kann. Die Gnade ist ihm der Mittelpunkt wie für Luther, aber sie ist ihm etwas anderes. Die Gnade und das Bekehrungswunder erscheinen ihm nicht so sehr als eine absolute Aufhebung einer ebenso absoluten Weltverkehrung, sondern als Ausfluß der ordnungsmäßig überhaupt das geistliche Leben nur durch ein Wunder setzenden Macht Gottes. Die Gnade ist die Auswirkung der göttlichen Allkraft, geoffenbart in der Heilsoffenbarung beider Testamente und insbesondere in der historisch-exegetisch festzustellenden Lehre des Gottmenschen, daher im gewöhnlichen Heilsweg gebunden an die Ver­ mittlung durch die Schrift und immer deutlich umgesetzt in die klare Er­ kenntnis von der den Glauben an die Schrift wirkenden und dadurch das neue Leben pflanzen i den Gottesrnacht. Gott ist absolute Tätigkeit, und der tätige Gott ist tätig auch im Menschen;b und an seiner eigenen Tätigkeit er­ kennt der Mensch die Erwählung. Damit sind für Zwingli Spekulationen über den Gottesbegriff, über die Allursächlichkeit Gottes und die Bewirkung aller Gotteserkenntnis nur durch Gott selbst, über Vorsehung und Weltplan, eröffnet, in die seine jugendliche Begeisterung für den christianisierten Stoi­ zismus und Platonismus der Renaissance einmünden konnte. Persönlichkeit

a

b

A: Eben deshalb A: Menschen,

B, C 498

A 291

1 68

B, C 499 Zwinglis Ethik.

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

Gottes, Schöpfung, Trinität, Menschwerdung verstehen sich für seinen Of­ fenbarungsglauben von selbst, aber er stellt diesen Glauben doch ein in die allgemeine Lehre des Panentheismus, in der christliche und vorchristliche Theologen, Paulus und Moses, aber auch Seneca, Cicero und Platon überein­ stimmen:a alles geschieht durch Gott und Gott ist die einzige wirkliche Realität; zu dieser Erkenntnis führt Gott selbst den Menschen durch die Zer­ trümmerung der Selbstgerechtigkeit in der Sünde und durch die Erweckung des Erlösungsglaubens an Christus hindurch. Über Zwingli liegt ein Hauch des Panentheismus der Renaissance, der freilich immer wieder vergeht vor den Lehren der Beharrung derb Bösen, der ewigen Verdammnis, der doppel­ ten Prädestination und der Genugtuung Christi. Bei diesen Lehren schlägt Zwinglis Lehre von der Güte der allwirkenden Substanz um in den harten Voluntarismus, der dann die Seele von Calvins theologischem Denken wurde. Aber ein derartiger Widerspruch fiel dem an biblisch-christlichec Voraussetzungen gewöhnten Denken jener Zeit nicht auf, und auch der allgemeine Determinismus sollte j a nur die Kraft und Selbstgewißheit des von der Sünde und dem Bösen sich abhebenden Guten veranschaulichen,d e Seine völlig prädestinatianische Religiosität bedeutet für ihn eine durch und durch ethische Richtung des Handelns. Diesee Ethik wird fihm dabei ganz von selbst! positiv und weltgestaltend; da auch die Verhält­ nisse der sündigen Welt von Gott geordnet sind, darf und soll der Christ sich ihrer zur Aufrichtung des christlichen Gemeinwesens bedienen.46 Der im Sündenleib und der sündigen Welt stehende Mensch soll daher in den durch A: übereinstimmen; A: des c A: solche d - d A: bewirken. [Absatz] e-e A: Es ist eine völlig prädestinatianische und ebendeswegen eine durch und durch ethische Religiosität. Die f-J A: hier a

b

46

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 8.

III. Zwingli (1 484-1 531 )

1 69

die Welt gewährten Formen des Rechts, der Ordnung, des Staates das geist­ liche Leben ausüben, in die von der Lex naturae ausgehenden Lebens formen den christlichen Geist der Liebe und der freien Selbstdisziplin hineintragen, den Staat und das bürgerliche Leben vergeistigen durch die christliche Gei­ stesgesinnung und umgekehrt das geistliche Wesen der religiösen Gemein­ schaft befestigen durch bürgerliche Rechtsordnung, obrigkeitliche Sitten­ mandate und staatliche Kirchenfürsorge. Dafür, daß beides harmoniert ohne Ü bergriffe des einen in das andere, sorgt die göttliche Weltordnung, in der Sünde, Lex naturae und geistliche Erneuerung alle zusammen begründet sind. In der erbsündigen Welt darf Rechtszwang und Gewalt, Krieg und Po­ litik in den Dienst des Evangeliums gestellt werden, darf die Kirche und das christliche Leben eingehen in die Nöte und Händel des sündigen leiblichen Daseins. Eine Gottes Gesetz entsprechende christliche Gesellschaft ist das Ziel, und I für diese ist Krieg und Politik geboten, wenn es der Schutz des Evangeliums verlangt, ist geistlich-biblische Einwirkung auf die Obrigkeit und schließlich Gehorsamsverweigerung gegen die Obrigkeit gefordert, wenn die Obrigkeit den Weg des göttlichen Gesetzes verläßt. Den Optimismus, daß beide sich immer finden werden und müssen in reiner freier Ü ber­ einstimmung, hat Zwingli nie verloren; er hat freilich beide auch von Hause aus nie so schroff getrennt wie Luther, dem ebendeshalb auch die Wieder­ vereinigung größere Mühe machte und der in Wahrheit über ein Leiden und Dulden der irdischen Ordnungen nie hinausgekommen ist. Luther sah eben auch alles vorn Standpunkt der Weltzerstörung durch Adams Sünde und von der Voraussetzung einer völligen Scheidung des Geistlichen und Irdischen aus, die er psychologisch stets in dem Seelenkampf der Buße vorfand. Statt dessen sah Zwingli auch die Sünde in Gottes Weltplan begründet und sah er die Einheit aller Dinge in dem göttlichen Weltplan. Zwinglis Religion sah die Dinge von Gott aus an, die Luthers vorn Menschen aus. Luther bleibt ab­ sichtlich im Dualismus der sündigen und geistlichen Welt stecken. Zwingli will kraft der Einheit des göttlichen Vorsehungs- und Weltplanes zur Le­ benseinheit des verchristlichten Weltlebens.

A 292

B, C 500

1 70 Zwinglis Sakraments­ idee.

A 293

Gang der Reform in Zürich.

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

Anderseitsa zog aber b Zwingli eine zweite wichtige Folge­ rung aus seinem Gnadenbegriff, die völlige und restlose Zerstörung der katholischen Sakramentsidee, zu der Luther trotz prinzipieller Ü berwindung sich tatsächlich nicht verstehen konnte. Wirkt die Gnade rein geistig und persönlich, so sind die Sakramente im Sinne des Katholizismus Materialisie­ rungen der Religion. Sie sind für Zwingli der Urkeim des katholischen Kir­ chentums, aus dem alle Bindung der Religion an sinnliche Mittel und da­ durch an Priester und Päpste und an die äußerliche Gewaltherrschaft der Kirche immer wieder hervorgehen muß. Hier argumentiert Zwingli mit aller Energie historisch-kritisch und rationalistisch. Die Sakramente sind ihm auch in ihremc auf Christus zurückzuführenden Bestandteil symbolische Ze­ remonien, die als Taufe das Kind der christlichen Gemeinde verpflichten und als Herrenmahl die christliche Gemeinschaft vor Gott bezeugen, die aber an Heilskräften nichts anderes enthalten als die biblische Verkündigung von der freien Gottesgnade überhaupt. Wie den Sakramenten erging es den Bildern und dem ganzen Kultus, sofern er als Vermittlung geistiger d Kräfte anders als durch das bloße Schriftwort wirken wollte. Hier hat Zwingli den Katholizismus viel tiefer getroffen und radikaler aufgelöst als Luther und auch neben der Autorität Luthers, selbst um den Preis der Entzweiung und Schwächung der Reformpartei, sich behauptet. Er durfte hier nichts preisge­ ben; denn das Pathos seiner Sakramentslehre war nicht der Rationalismus, sondern die religiöse Idee von dem geistigen und persönlichen Charakter der Gnade. Beruhte diese allein auf der Heilsgewißheit der Prädestination, dann gab es nur innere Vergewisserung und keine sakramentalen Ver l mittelungen. Dieser Idee hat er sogar seine christliche Politik, die zum Schutz des Evan­ geliums alle Reformer einigen sollte, geopfert . Von dieser starken Individualität ist denn auch der Gang der religiösen Re­ form in der Schweiz charakteristisch bedingt. Zehn Jahre lang wirkte Zwingli in Glarus. Es war die Zeit seiner Studien und Vorbereitung, wo er sich als humanistischer Lehrer und Gelehrter seinen Ruhm erwarb, seinen Freun­ deskreis sammelte und seine religiösen Ideen an der Hand des Erasmus durchbildete, schon hier durch die Aufnahme des Panen­ theismus von dem Moralismus des Erasmus sich scheidend,

a

b c

d

A: Ebendeshalb In A folgt: auch A: dem A: geistlicher

111. Zwingli (1 484-1531)

171

aber dessen Programm der schonenden Umbildung von innen heraus ohne Kampf gegen das Sakralwesen noch teilend. Seine jetzt schon vorhandene Kampfesstimmung beschränkt sich auf den moralisch-patriotischen Kampf gegen das Reis l laufen, die Soldbündnisse und das alles Staatsleben parteiisch vergiftende Pensionswesen. Dieser Kampf vertrieb ihn von Glarus nach Einsiedeln, aber auch in diesem Zentrum des katholischen Kultus hielt er noch an dem erasmischen Programm der bloßen Beeinflussung durch Predigt und Erziehung fest. Seine gelehrten und patriotischen Verdienste ver­ schafften ihm dann eine Berufung an das Großmünster in Zürich. Hier predigte3 er die Evangelien und dann die paulinischen Briefe durch und entwickelteb seine Pfarrtätigkeit zu tiefgreifendem Einfluß, aber noch immer schonteC er das Sakralwesen. Da ergriffd ihn seit der Leipziger Disputation der Sturm der Lutherischen Bewegung und machtee ihm die Pflicht des Bruches mit der Papstkirche oder vielmehr der offenen Reformforderung auch für das Sakralwesen klar. Von nun fan trat! er Schritt für Schritt, langsam, aber sicher mit seinem wohldurchdachten kritischen Programm hervor und erhob g sich lediglich durch den gewaltigen Eindruck seiner pfarramtlichen Tätigkeit zum geistigen Leiter Zürichs. Zunächst freilich h noch immerh langsam genug. Das erste war i ein politischer Sieg über die Parteigänger des Pensionswesens. Kraft der dadurch errungenen Stellung rückte i er mit seinem religiösen Reformprogramm heraus. Sorgfältig die Bürgerschaft durch Predigt und Belehrung vorbereitend, sich einen starken Anhang schaffend und vor jeder gewalttätigen und voreiligen Reform warnend, gewannk er den Rat für das Prinzip rein biblischer Religion. Da setzte er dann ein mit der Methode der Religionsgespräche. Ordnungsgemäß sollten in ihnen die bischöflichen Gegner überwunden werden und dann dem Ergebnis gemäß vom Rat verfügt werden. Das erste Religionsgespräch hatte die Abstellung der Fastenpflicht und des Zölibates zum Ergebnis, ein zwei-

A: predigt A: entwickelt A: schont c d A: ergreift A: macht e f-J A: ab tritt A: erhebt g h-h A: immer noch A: ist A: rückt j A: gewinnt k a

b

B, C 501

1 72

A 294

B, C 502

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

tes die Abstellung der Messe, der Klöster und der Bilder, und eine Kirchen­ visitation auf Grund einer Zwinglischen Normschrift, der "christlichen Ein­ leitung". Alle Geistlichen wurdena in biblischen Unterricht genommen und dieser Unterricht auch auf die Laien ausgedehnt. Armen­ ordnung, Ehegesetzgebung, Sittenmandate, Erleichterungen der Bauern­ lasten, Schul- und Universitätseinrichtungen folgtenb. Das Kirchengut wur­ dec für die neuorganisierte Pfarrerkirche und die Schulen verwendet. Alles I geschahd vom Rat unter Einwirkung Zwinglis, und Zürich wurdee eine ern­ ste, moralisch gründlich durchregierte Stadt. Die Kirche wurde c Zwinglis klarem Kirchenbegriff ganz von selbst zur Gemeindekirche, in der jeder Sprengel von einem schriftkundigen Geistlichen als dem ordnungsmäßigen Verwalter des Wortes pastoriert wurde g. Das Verhältnis zur weltlichen Ge­ walt ordnete h sich nach Zwinglis Grundsätzen ebenfalls leicht, indem die­ selbe Gemeinde ja die politische und die kirchliche Gemeinde wari: die durch die politische Ordnung gegebene Gemeindevertretung hatte ; infolge­ dessen die Pflicht zu christlichem Regiment wie zur Unterhaltung und zum Schutz der Kirche. Was Luther als einen Notbau schließlich einrichtete, hat Zwingli von Hause aus als im Prinzip der Sache gelegen betrachtet und daher mit voller und freudiger Konsequenz durchgeführt. Zwar ist Zwingli wie Luther über l zeugt, daß die geistliche Sphäre eine Sphäre reiner Freiheit und Gesinnung ist, daß die Kirche nur wirken soll durch Wort und Predigt und daß die weltliche Zwangs sphäre weit unter der der evangelischen Freiheit liegt. Aber er zweifelt nicht an der inneren Zusammengehörigkeit des Welt­ lichen und Geistlichen, des Leiblichen und Religiösen, und ist gewiß, daß das Wort die Gemeinden erobern muß. Dann aber ist ihm auch selbstverständ­ lich, daß die kirchliche Gemeinde als zugleich politische ihre Ordnung und ihr Regiment in den Dienst der Bibel aus freien Stücken stellt und daß in allen Fällen der Unklarheit die Bibel die Richtschnur des Zusammenwirkens angeben werde. Luthers tiefe Scheidung zwischen der Rechts- und Zwangs­ sphäre und der religiösen Freiheitssphäre ist moderner empfunden als a

b c

d e

f g h

A: werden A: folgen A: wird A: geschieht A: wird A: wird A: wird A: ordnet A: ist A: hat

III. Zwingli (1 484-1 531)

1 73

Zwinglis zuversichtliche Zusammenfassung beider, anderseitsa aber wieder ist Zwinglis Eingehen auf die irdischen Verhältnisse und ihre Hinnahme als normaler, die religiöse Idee zum Komprorniß nötigender Lebensbedingun­ gen moderner gedacht als Luthers leidende Fügung in die Folgen der Sünde Adams. Freilich hat auch Zwingli bei der von selbst funktionierenden Ein­ heit des Geistlichen und Weltlichen nicht stehen bleiben können. Seine radi­ kalen, dem Anabaptismus verfallenden Anhänger und später grimmigen Gegner hat er entschlossen mit aller Zwangsgewalt des Staates bekämpft und vernichtet, nachdem Predigt und Religionsgespräch versagt hatten. Es ist eben beiner religiösenb Normidee tatsächlich ohne Zwangsgewalt nicht durchzusetzen, und, was Luther völlig prinzipwid­ rig tun mußte, das hat Zwingli aus seiner Idee des christlichen Staates kon­ sequent abzuleiten vermocht. Dann aber galt es die Züricher Reform über die Eidgenossenschaft weiter auszubreiten. Auch hier sollte zunächst das Wort alles allein wirken, Religi­ onsgespräche sollten die altgläubige Partei zum Anschluß oder die Regierun­ gen gegen sie zur Aktion veranlassen. Zwinglis Freunde und Schüler wirkten in diesem Sinne an verschiedenen Orten. Als aber trotz der Gewinnung Berns diese Methode an der beim alten Glauben verharrenden und von aus­ wärts steif gemachten Majorität der Tagsatzung versagte, da griff Zwingli hier noch entschiedener als in der inneren I Politik neben der des Wortes zu der Waffe des Schwertes. Eine militärischpolitische Zwangs ausbreitung der Reform über die ganze Eidgenossenschaft machte ihm keine Bedenken, im Gegenteil sie entsprach seiner Idee von der Pflicht, die erkannte Wahrheit zu C verteidigen; war sie ja in der Eidgenossenschaft nur durch Aus­ breitung bei sämtlichen Kantonen zu behaupten und dwar sie verlorend, wenn Zürich allein blieb. Luthers Lehre vom bloß passiven Widerstand, von der er zuletzt doch, wenigstens bezüglich der Reichsfürsten gegenüber dem Kaiser, abgehen mußte, hat für Zwinglis religiöses Gefühl nie existiert. Die­ ses forderte den fröhlichen Einsatz aller Kräfte und Mittel, auch der weltli­ chen des Schwertes und der Diplomatie, für eine Sache, die in der Welt nach Gottes Ordnung ohne weltliche Mittel nun einmal nicht behauptet werden I konnte. Bei alledem ist seine Stellung in der Sache rein defensiv gedacht und empfunden, und wenn sich damit Wünsche des Züricher Patrioten verban­ den, die die Stellung Zürichs vergrößern sollten, so mochte er auch das mit

A: andrerseits A: eine religiöse c-c A: verteidigen, die d-d A: verloren war

a

b-b

Eidgenössische und inter· nationale Religionspolitik Zwinglis.

A 295

B, C 503

1 74

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6 . Jahrhunderts

solchen defensiven Gründen rechtfertigen. Auch winkte für den eidgenössi­ schen Patrioten bei solcher Defensive das Ziel einer politisch enger vereinig­ ten, moralisch gereinigten und religiös verbundenen Eidgenossenschaft. Die Behauptung des Evangeliums in Zürich und Bern und die weitere Ausbrei­ tung mittels gewaltsamer Verpflichtung der Eidgenossenschaft zur Reform konnte nur zum Segen der ganzen Eidgenossenschaft ausschlagen. Aber der Plan scheiterte, und es traten die naturgemäßen Konsequenzen jeder religiö­ sen Politik ein: die patriotischen und rein politischen Interessen mußten hin­ ter dem religiösen Ziel zurücktreten. Zwingli wandte sich von der Eidgenos­ senschaft ab und mußte mit schwerem Herzen im Gegensatze gegen sie eine internationale Koalition zum Schutz der Züricher Reform und zum Schaden der Eidgenossenschaft zu schaffen versuchen. Er wollte bewußt und plan­ mäßig in der Konsequenz seines Prinzips tun, was die Schmalkaldener aus religiösen Skrupeln und politischer Erbärmlichkeit später versäumten und dann durch den Verrat Moritzens sich schenken lassen mußten. Zwing­ lisa von vornherein nicht aussichtsreichen großen Pläne scheiterten, seine re­ ligiöse Politik unterlag in Zürich selbst seinen wieder erstarkenden Gegnern, und er fiel als Feldprediger in dem kleinen Kriege Zürichs gegen die Urkan­ tone, der das ungewollte Ergebnis all der großen weltbewegenden Pläne wurde. Zürich und das Evangelium verloren wichtige Gebiete; aber b wenn die Wirkung weit weniger zerschmetternd war als die Schlacht bei Mühlberg, so ist das doch Zwinglis vorbauender christlicher Politik zu danken. Damit verlor freilich die Züricher Reform die Verbindung mit den ober­ deutschen Städten, die inC die Einflußsphäre des Schmalkaldischen Bundes d übergingen und von Butzers Vermittlungs tätigkeit mit den Lutherischen wieder geeinigt wurden; auchd in der Schweiz kam die Reform zum Still­ stand, bis ihr mit Calvin wieder neue Kräfte und Gedanken zuteil wurden. Aber in Zwinglis Werk, edessen Geiste der rastlose Arbeiterf in großen Schriften und in umfangreichster Korrespondenz niedergelegt hatte, ver­ blieb ein religiös-ethisches Gedankenkapital von hoher selbständiger Bedeu-

a

A: Seine A: aber, c A: an d-d A: übergingen, und e-e A: das A 296 f In Afolgt: neben all diesem

b

I

politischen Wirken zugleich

IV. Die Täufer und Spiritualisten

1 75

tung. I IV Die Täufer und Spiritualisten. 47 Die Persönlichkeits- und Geistesreligion der Reformatoren hat die sakramentale und hierokratische Kirche zerbrochen. Die Reformatoren behieltena als Autorität und organisierende Kraft die Schrift übrig, vor die sie jeden Christen ohne priesterliche Vermitt­ lung und Leitung stelltenb. Ihr Problem wurde daherc die Bindung des Geistes und der Gnade an die Schriftvermittlungd und eben damit zu­ gleich eine einheitliche Schriftauslegunge normieren. In der Lösung dieser Lebensfrage wurzeltenf die charakteristischen neuen Hauptdogmen der Reform über die Bekehrung durch die Schrift, über die Erbauung der Kirche auf die Schrift,g die Aufstellungh von Leit­ fäden für die richtige Schriftauslegung . Exegetisch-

a

b c

d e

f g h

A: behalten A: stellen A: daher, In A folgt: festzustellen In Afolgt: zu A: wurzeln In A folgt: und A: Aufstellungen

47 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 8 f.

B, C 504 Probleme des Verhältnisses von Schrift und Geist.

1 76

B, C 505

A 297

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

wissenschaftliche Schriftkenntnis und dogmatisches Verständnis der refor­ matorischen Grundlehre für die Prediger, zugleich die neue Ausbildung des alten Grundgedankens von der Einheit politisch-sozialen und kirchlichen Lebens auf dieser Grundlage: das waren daher ihre Hauptforderungen. An Stelle der Obergewalt der sakramentalen Hierarchie trat die gemeinsame Herrschaft von Schrifttheologen und biblisch-belehrter Obrigkeit über die Gläubigen. Aber damit sind doch zugleicha Folgerungen unterdrückt und beseitigt, die bei der Eröffnung einer neuen lebendigen, auf das innere Erle­ ben sich berufenden Religionsbewegung und bei der Geltendmachung der Schrift und des von ihr repräsentierten, staats freien und enthusiastischen Urchristentums unausbleiblich waren. Diese Folgerungen sind vierfach: erstlich die Lösung der religiösen Erleuchtung von der ausschließlichen Bin­ dung an die Schrift und die Entbindung einer neuen persönlichen religiösen Produktivität, die sich im Empfang gegenwärtiger religiöser Erleuchtung und Offenbarung äußern mußte und auf das urchristliche enthusiastische Prophetenturn berufen konnte; zweitens die Erfassung des Kriteriums für die Schriftauslegung in der inneren Erleuchtung und Versiegelung, die sich aus der Betonung der Innerlichkeit und Erfahrung und aus der Lobpreisung des einfältigen, jedem Laien verständlichen Wesens der Schrift, ja aus der Po­ pularisierung des Neuen Testamentes selber, notwendig ergeben mußte; drittens der Radikalismus einer lediglich aus der Schrift I schöpfenden Lebensordnung, die sich nicht nur auf die paar, mit dem Römerstaat ihren Komprorniß schließenden Pau­ lusstellen, sondern auf den ganzen staatsindifferenten und weltfeindlichen, überweltlich-eschatologischen Geist des Urchristentums berief;b viertens die Ablehnung des weltlichen Staate SC und der angeblich im Staat sich offenbarenden Lex naturae, indem das Prinzip der Geistigkeit und Reinheit der Gemeinden den Gedanken der Volks- und Staatskirchen unmöglich machte und damit dann auch das Prinzip der Ergänzung der christlichen I Moral aus der staatlich­ weltlich-philosophischen Lex naturae wegfiel. Die beiden ersten Konsequenzen wurden verstärkt durch die Reste des mystischen und sektiererischen religiösen Sub­ j ektivismus, der seit Jahrhunderten gegen die Äußerlichkeit der Kirche sich

a

b c

A: nur In A folgt: und In A folgt: als einer bloß irdisch-sündigen Ordnung

IV. Die Täufer und Spiritualisten

1 77

empört hatte, und durch die ganze Stimmung verinnerlichter, subjektivierter und neue Erleuchtung hoffender Religiosität, wie sie ein solches Revolu­ tionszeitalter hervorbrachte, das alle seine Forderungen noch religiös zu fär­ ben und zu begründen gewohnt war. Die beiden letzten Konsequenzen wur­ den insbesondere genährt durch die alten Forderungen der Wikkliffie48 und der Bauernaufstände, die sich auf die biblische Lebensordnung der persön­ lichen Freiheit und der brüderlichen Liebe, auf die reine und echte, mit der Bibel identische Lex naturae beriefen, wie sie vor dem Sündenfall gewesena und von der Bibel erneuert bworden war b, und die nur von weltförmigen Theologen, klugen Politikern und aristotelischen Philosophastern auf das Niveau der Anpassung an die erbsündige Welt herabgezogen worden war; die offizielle katholische und die reformatorische Theologie erkannten ja die Lex naturae nur an, wie sie Gott unter den Bedingungen der Erbsünde zu einem Gesetz des obrigkeitlichen Zwanges, des Privateigentums, des harten Rechtes und der lieblosen Weltklugheit hat C werden lassen, und nicht in der Reinheit des Urstandes, wo sie Freiheit und Liebe, Gütergemein­ schaft und Friede bedeutet hatte und wie sie von der Bergpredigt für die Be­ kehrten und geistlich gewordenen Brüder erneuert ward.49 Hier schienen die neuen Pfaffen nicht besser als die alten und zugunsten der harten ungerechten Welt vor den eigentlichen Ideen des Urchristentums Halt zu machen. Aus jenen Konsequenzen und diesen die Atmosphäre erfüllenden Stimmungen, wie sie die Bauern und das städtische Kleinbürgertum begei­ stertend und wie sie auch manchen Theologen bei dem neuen Schriftstudium kamen, ging die große und folgenreiche Bewegung des Täufer/ums hervor die Gedanken der deutschen Mystik, von denen Luther ausgegangen war,b gegen die Verengung auf den bloßen Sündentrost, gegen die Aufrichtung einer neuen Theologenherrschaft und gegen die I c veräußerlichende und verhärtende Verbindung der doch rein geistigen und innerlichen Religion mit den herrschenden städtischen, fürst­ lichen, adligen Rechten und Privilegien. Sie wirktend fort zu einer neuen großen Bewegung, in der die "deutsche Theologie"SO, von den Re­ formationskirchen allmählich mißtrauisch verleugnet, der spiritualistischen Laienreligion von neuem als Grundbuch dientee.

Gleichwohl ging der eigentliche Anstoß der Bewegung nicht vom Luther­ tum aus. Karlstadt, Münzer, die Wittenberger und Zwickauer SchwärmerS1 kamen nie zu bestimmten Prinzipien und gingen unter in den Wogen des 51

Mit den "Zwickauer Schwärmern" sind die auch so genannten Zwickauer Propheten Nikolaus Storch, Thomas Drechsel und Markus Stübner gemeint, die maßgeblich an den Unruhen in Wittenberg vom Oktober 1 52 1 bis zum März 1 522 beteiligt waren. Wie Karlstadt bezogen sie eine kritische Haltung zur Messe und Kindertaufe. Es muß offen bleiben, ob Troeltsch mit den Wittenberger Schwärmern eben jene ursprüng­ lich aus Zwickau stammende, in Wittenberg operierende Gruppe meint oder die Wit­ tenberger Bewegung um Gabriel Zwilling (1 487 [?]-1 558) und zwölf weitere Augu­ stinermönche, die sich an den Wittenberger Unruhen beteiligt.

B, C 507

Bildung täuferischer Separations­ gemeinden.

1 80

B, C 508

Bauernkrieges. Luther selbst hatte in der "Formula missae" 1 523 und in der "deutschen Messe" 1 526 ein Gemeindeideal angedeutet, das den Anstalts­ charakter von Wort und Sakrament zwar wahrte, aber die äußere Gestaltung der von ihnen hervorgebrachten Gemeinde in die Hand der Gemeinde selbst legen wollte. Er hat bes, in seinen Erwartungen enttäuscht und vor al­ lem in seiner eigenen Wittenberger Gemeinde auf gefährliche Ausartungen stoßendb, in pessimistischer Stimmung wieder aufgegeben und die AufgabeC in die Hände der Obrigkeit zurück gelegt. Daherd konnten die Täufer sich be­ rufen, aber sie sind nicht von hier aus zu ihrer Idee und Gemeindee gelangt. Vielmehr nahmenf sie ihren Ausgangspunkt von radikalen Anhängern Zwinglis, dessen Sakramentskritik und dessen panentheistische, mit dem Panentheismus der Renaissance und dem Prädestinationsgedanken in Ver­ bindung stehende Lehre von der reinen inneren Gotteswirkung im Geiste zum mystischen Radikalismus zu leiten geeignet war. Sobald Zwinglis kon­ servative Grundüberzeugung von der Glaubenseinheit des Staates und dem Zusammenwirken weltlicher und kirchlicher Ordnung zur Hervorbringung eines religiös-sittlichen Musterstaates beiseite gesetzt wurde, und sobald die ihm mit Luther gemeinsame Lehre von dem bloßen innerlichen Gesinnungs­ charakter der evangelischen Sittlichkeit oder des neutestamentlichen Geset­ zes in die Aufsuchung festerer, konkreter Lebensregeln aus der Schrift über­ ging, war die reine Geistes- und Wiedergeborenen-Kirche, das evangelische Gesetz einer geistlichen, von Welt und Staat geschiedenen Brüdergemeinde, fertig. Im Gegensatz gegen das Prinzip der Staatsreligion entstand so in Zü­ rich durch Grebel und Manz das Prinzip der gegen den Staat mißtrauischen und feindlichen Separation. Ihr Charakter ist die Heiligkeit der Brüder nach dem Gesetz der Schrift, die Separation von Staat und Welt, die Passivität des Nicht-Widerstandes und des Nicht-Förderns gegenüber dem Staat, die Versiegelung des I Glaubensstandes durch das innere Licht. Damit verbinden sich naturgemäß demokratisch-individualistische Neigungen, indem jeder Wiedergeborene gleichberechtigt ist, und sozialrevolutionäre Kritik, vor al­ lem biblische Ideen der Gütergemeinschaft, und schließlich die unausbleib-

a

A 298

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

A: wahrt

b - b A: es teils wegen der Ge l fahrdung der Objektivität von Wort und Sakrament, teils c

d e

f

wegen der Schwierigkeit, hierbei die kirchliche Uniformität zu behaupten In A folgt: wieder A: Darauf A: Kirche A: nahm

IV. Die Täufer und Spiritualisten

1 81

lichen Folgen aller religiösen Exaltation, krankhafte Phantasieüberreizung bis zu den Orgien eines spiritualistischen Antinomismus. Auch die dem reli­ giösen Wahnsinn so nahe liegenden sexuellen Ü berreizungen blieben nicht aus. Doch sind die letzteren stets Ausnahmen geblieben. Der Hauptcharakter ist der des Enthusiasmus des inneren Lichtes, der Entstaatlichung der re­ ligiösen Gemeinde, der reinen Heiligkeit brüderlicher Liebe und der quieti­ stischen Ergebung in Verfolgung und Weltfeindschaft. Der Christ trägt kein Schwert und schwört keinen Eid, er geht vor kein bürgerliches Gericht, er zahlt Zins und Schoß höchstens aus Ergebung ins Unrechtleiden. Ihr Symbol schuf sich die Gemeinde in der Spättaufe, da ja die rein äußerliche Taufe nur Sinn habe als Siegel auf wirklichen Glauben und wirkliche Bekehrung. Die Spättaufe wurde bei den in der Kindheit schon Getauften zur Wieder­ taufe, und von dem Konventikel, wo die Brüder im Jahre 1 525 sich gegenseitig die Wiedertaufe verabreichten, hat die Kirche der Wiedertäufer ihren Ursprung. Mit dem Prinzip der Wiedertaufe und der se­ paratistischen Gemeindebildung war dann der Mystik ein neuer organisie­ render Zug ge i geben, der in der religiös und sozial erregten Zeit eifrig aufgenommen wurde. Großer Dinge war man ja gewärtig, und nachdem die Kirchen der Reform versagt hatten, entstand hier ein reineresa den Mystiker, den Demokraten und den sozial Gedrückten gleich anziehendes Gemeinde­ idealb von größter Innerlichkeit, von lockersten Formen und von begeistertster Zukunftshoffnung. Zwingli hat nach gütlichen Versuchen zur Beilegung der Unterschiede das Prinzip der Separation als seinem religiösen Gedanken völlig zuwiderlaufend erkannt und schließlich rücksichtslos zur Gewalt gegriffen. Dadurch zer­ streute er den Samen aber nur über die ganze Nachbarschaft, über die Schweiz, Süddeutschland, Mähren, Tirol und Westdeutschland den Rhein herunter bis in die Niederlande und nach Friesland. Hier vollzogen sich dann die Verschmelzungen mit den älteren mystischen Lehren und mit den nach dem Bauernkriege verbliebenen Resten der sozialen Revolution in Stadt und Land. Der Revolutionsgedanke blieb dabei freilich vorerst völlig in dem Ge­ dankenkreis des Duldens und Leidens, der Enthaltung und Separation, der eschatologischen Hoffnung und bloß inneren Vorbereitung auf die göttliche Aufrichtung des wahren Schriftrechtes. Apostolische Wanderpredi­ ger, von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt ziehend mit dem apostolischen Gruß und der Predigt vom Gottesreiche, Hirten, die den rasch gesammelten

a

b

A: neues A: Kirchentum

A 299

1 82

B, C 509

Aggressiv­ apokalyptische Gestaltung des Täufertums . A 300

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

Gemeinden eine völlig einfache Laientheologie predigten und das Brot bra­ chen, Diakonen, die das gemeinsame Gut oder doch die hohen Armenabga­ ben verwalteten, das sind die Träger der äußerst losen Organisation. Die Gedanken selbst sind unsäglich bunt und I nur durch die geschilderten Grundzüge einheitlich verbunden. In den Gebieten des mährischen, nach Population suchenden Adels, in den proletarische na Städten Augsburg und Straßburg sind ihre Hauptsitze. In Augsburg findet zweimal eine Art Konzil der neuen, im Dunkel schleichenden Kirche statt. 52 Begabte und originelle Führer wie Hätzer und Denk, Hubmeier und Huter stärken die Gemeinden. All e strecken sich in dem Elend der Lage nach den kommenden Erlösungs­ freuden, deren Eintreffen aus der Schrift nach den Anzeichen des Tages ver­ schiedentlich berechnet wird. Freilich setzt auch sofort eine Verfolgung von beispielloser Härte ein. Die katholischen Länder gingen voraus, aber auch die lutherischen und zwinglischen folgten, indem sie das Täuferturn bganz wieh die Blasphemie als weltliches, staatsgefährliches Verbrechen dem Staat zur Bestrafung übergaben. Das Blut der Märtyrer ist für keine Sache so reich­ lich geflossen wie für diese Religion der Duldung und Ergebung und hat trotz der rührenden, das fromme Ende beschreibenden Flugschriften keiner so wenig genützt wie dieser. Unter diesen Umständen trat bei einigen Gruppen seit Beginn der dreißi­ ger Jahre ein Umschwung ein; unter dem Druck belebte sich die eschatologische Hoffnung zur Erwartung des baldig kommenden himmlischen Jerusalem und verwandelte sich die Lehre vom Nicht-Wider­ stand in I die Lehre von der Pflicht, die Gottlosen auszurotten mit Gewalt. In der Endzeit hörec das stille Dulden auf, und das Wort kamd von Gott, daß nune vor dem Ende das Schwert zu ergreifen sei. Der Verkünd er dieser Lehre warf der Kürschner Melchior Hoffmann. Er glaubte nach aufregender Wanderpredigt, daß Straßburg, wo der Rat die Täufer vera A: proletariats reichen b - b A: und schließlich c A: hörte d A: kommt e A: jetzt f A: ist

52

Troeltsch entnimmt diese in der neueren kirchengeschichtlichen Forschung nicht mehr aufrechterhaltene Ansicht möglicherweise Belfort Bax: fuse and Fall of the Anabaptists (1 903) , S. 91 . Sie wird auch geäußert bei Gerhard Uhlhorn: Anabaptisten, (1 896) , hier S. 484.

IV. Die Täufer und Spiritualisten

1 83

hältnismäßig gelinde behandelte, zu dieser heiligen Stätte ausersehen sei. Al­ lein Straßburg entzog sich dem durch Gefangensetzung Melchiors und durch strengere Haltung gegen die Täufer. Da erging das Wort von Gott, daß Straßburg verworfen sei um seines Unglaubens willen und daß Münster be­ rufen sei an seiner Stelle. Melchior sei nur der Elias gewesen, der dem Ende vorausging. Nun galt es nach dem Henoch auszusehen, dem zweiten Vorläu­ fer des Endes.53 Dieser fand sich in Gestalt des holländischen Täufers Jan Bockelson und seines Anhangs. Aus den Niederlanden vertrieben fanden sie in dem politisch zerklüfteten und durch den Prediger Rothmann im Bund mit den Gilden zum Täuferturn geführten Münster den Ort für die Aufrich­ tung des Reiches der Heiligen und der letzten Tage. Hier tobten dann alle Phantasieen einer überreizten, von keiner objektiven Norm mehr geleiteten Religiosität, mit allen Greueln, zu denen ein solcher Enthusiasmus bei bil­ dungslosen Fanatikern führt. Die Vereinigung der benachbarten Fürsten be­ reitete dieser apokalyptischen und gewaltsamen Episode des Täuferturns ein blutiges Ende (1 535) . Es war zugleich die Katastrophe des Täufertums über­ haupt, das nun überall auch an den Orten, wo es bisher mild behandelt war, schonungslos ausgerottet wurde. I Das süddeutsche und südostdeutsche Täuferturn behauptete unter schwe­ ren Martyrien einige Gemeinden. Das holländische, englische und nieder­ deutsche Täuferturn stobb unter dem Eindruck der Katastrophe in Parteien verschiedener e Art auseinander, vor allem eine gewalttätig-chiliastische und eine quietistisch-asketische Gruppe unterscheidend. Der wunderliche Hei­ lige David Joris, der sich als den Messias bezeichnete, aber seine Messianität unter zwinglischem Inkognito in Basel verbarg und nur den Gläubigen in verworrenen Schriften offenbarte, versuchte vergeblich eine Einigung. Eine solche gelang erst für die niederdeutschen und holländischen Täufer durch Menno Simons (t 1 559) . Vom katholischen Priestertum zur Reformation und von da zum Täuferturn geführt war er doch ein scharfer Gegner des melchioritischen Chiliasmus und der münsterischen Phantastik und Gewalta-a

b b

53

A: der Täufergemeinden, Nordwestdeutschland und Niederlande A: fuhr A: verschiedenster

Der Prophet Elias, von dem in 1 Kö 1 7-1 9;21 und 2 Kö 1-2 berichtet wird, gilt als Vorläufer des Tages Jahwes (Mal 3,23-24; Sir 48, 1 0 ; vgl. Mk 9,1 1 - 1 2) . Auch Henoch, eine Gestalt der Urzeit, der wegen seiner Frömmigkeit zu Lebzeiten entrückt wurde (Gen 5,1 8-24; Hebr 1 1 ,5) , galt in der Apokalyptik als Empfänger grundlegender Of­ fenbarungen über Weltenbau und Weltenlauf; vgl. das zweite Henochbuch.

B, C 5 1 0 Reorganisatio­ nen ' und Fort­ entwickelungen des Täufertums·.

1 84

A 30 1

B. C 51 t

B. Reformatoren und Reformbewegungen des t 6. Jahrhunderts

lehre. Er ging auf das alte Täufertum zurück, auf das Prinzip der separierten Heiligungsgemeinde, die den Staat duldet, aber möglichst jede Berührung mit ihm vermeidet, die Gemeinde durch Kleidung, Sitte, Gruß, Konnubium, Exkommunikation streng von der Welt getrennt erhält und im übrigen eine mystisch-ethische Laienreligion pflegt. Der Kommunismus, der bei den mei­ sten nur eine stark betonte Armenpflege aus gemeinsamer Kasse war, ver­ schwand;a die reformatorische Berufssittlichkeit trat an seine Stelle und führte hier wie sonst in solchen kleinen Gemeinschaften bei fleißiger Arbeit und mäßiger Konsumtion zu I wirtschaftlichem Gedeihen. Von hier stammen die über Deutschland, Holland, Frankreich, England und Amerika in kleinen Gemeinden verbreiteten Mennoniten, eine friedliche Sekte, die aus merkantilistischen und populationistischen Gründen immer wieder Gönner fand, eine Abstumpfung der Prinzipien, die neben dem Aus­ bruch in Gewalt der andere mögliche Ausweg aus der ursprünglichen ge­ spannten Stimmung war. Damit war freilich eine durchgängige Einigung nicht erzielt, und auch un­ ter den Mennoniten selbst gab es fortwährende Trennungen und Wiederver­ einigungen. Daher schied sich in Holland, das in dem großen religiösen Kampfe überhaupt eine Fülle spiritualistisch-mystischer Gedanken empor­ kommen ließ, eine besondere Gemeinschaft der Taufgesinnten aus, die prin­ zipiell undogmatisch und independentistisch sich mannigfach mit den So­ zinianern und Arminianern berührte und durch die Brownisten ihre Lehren nach England übertrug. bwaren sieb dogmatisch freier und schlossen sich weniger I streng von der Welt ab. Auch Spinoza und Rembrandt standen in Beziehung zu diesen mystischen Kreisen. Um eines großen Beitrages zu den Kosten der Landesverteidigung willen wurden cdie Täuferc 1 672 als Bürger anerkannt. A: verschwand, b-h A: Sie waren c-c A: sie a

54

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 9.

IV. Die Täufer und Spiritualisten

1 85

Ihr wachsender Reichtum verschaffte ihnen steigende soziale Geltung trotz ihrer geringen Zahl. Ina Graubünden, Italien und Polen gingb das Täufertum Mischungen mit dem humanistischen Antitrinitarismus ein, indem die Antitrinitarier den täu­ ferischen Forderungen der Toleranz, der religiösen Freiheit und der ethi­ schen Bewährung entgegenkamen, wie umgekehrt der täuferische strengeC Moralismus, ihre Abneigung gegenüber den Schuldogmen und der Um­ schlag des inneren Lichtes in das Gewissen sich einer intellektuellen Kritik nähern mußte, sobald die erste Glut verflogen war. Die Früchte hat hier der Sozianismusd geerntet. In England hatte das Täuferturn von Anfang an von Holland aus Fuß ge­ faßt und erhielt durch einen Geistesverwandten des David Joris, Heinrich Nicolaus, einen weiteren Zuzug aus Holland. Auf ihn führtee sich die Sekte der Familisten, d. h. der geistlichen Brüder im täuferischen Sinne mit kom­ munistischen Ideen, zurück, die bis zu der großen Revolution nachweisbar ist und mit der dief Quäker, Chiliasten und Enthusiasten zusammenzuhän­ gen scheineng. Durch Brown erfolgte dann von England aus ein erneuter Kontakt mit den holländischen Täufern, der die Prinzipien des Independen­ tismus und undogmatischen Laienchristentums in die englische Heimat h üb­ ertrug; und h als vollends der radikale Puritanismus auch von sich aus zu in­ dependentischeni Konsequenzen überging, da erlebte die große Revolution eine Neubelebung des Täuferturns, die nicht nur in den Quäkern, der Sekte des inneren Lichtes, und den Baptisten, den Gläubigen der Untertauchungs­ taufe, sondern vor allem in den demokratischen, toleranz staatlichen und un­ dogmatischen Prinzipien eine welthistorische Wirkung hervorbrachte. Deri < frühere> Zusammenhang mit den Resten der spätmittelalterlichen Sozialre­ volution war k freilich hierbei lendgültig gelöst worden/ die I täuferischen Ideen

a

In A als Randkolumne: Ausbreitung des nach-münsterischen Täufertums. A: geht A: mystische c A: Sozinianismus d e A: führt f A: der A: scheint g h-h A: übertrug, und, A: täuferischen A: Jeder j A: wird k A: schließlich gelöst, und I-I b

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Mystiker und Spiritua­ listen.

B, C 5 1 2

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

hülltena sich nach dem großen Kampfe in das Gewand religionsphilosophi­ scher, politischer und rein theologischer Theorienb. In alledem handelte es sich um Massenbewegungen und um religiöse Ideen, wie sie die Masse faßt. Es galt die einfache biblische Theologie und die Ablehnung der neuen reformatorischen Kunsttheologie. Gelegentliche originelle, kritisch verständige oder schrullenhaft absonderliche Gedanken verstandene sich in der allgemeinen theologischen Atmosphäre von selbst, indes von eigentlicher Theologie war d dabei nicht die Rede. Aber das Täu­ fertum brachte doch auch einige selbständige Kritiker und Denker hervor, die von den Prinzipien des Täuferturns aus religionsphilosophische und re­ ligionsgeschichtlich-kritische, auch bibelkritische Gedanken der Zukunft vorausnahmen. e So erzeugten sich allerhand hin und her gehende Beziehun­ gen zu der zweiten Gruppe sektenhafter Bildungen, den Mystikern I und Spiritualisten, denen es nicht auf Enthusiasmus, Spättaufe und heilige Ge­ meinden, sondern auf Innerlichkeit, Geistesfreiheit, Subjektivierung der Re­ ligion und Vermittelung mit den Ü berlieferungen einer mystischen Religi­ onsphilosophie ankam.55 Sie haben dabei zugleich von der dogmatischen Begriffsbildung der Reformatoren und der humanistischen Kritik gelernt.e Unter den Täufern ragte f hervor Hans Denk, der Himmel und Hölle spiritualistisch umdeutete, die origenistische Wiederbringung aller Dinge lehrte und die Satisfaktionslehre bestritt. Sein Gesinnungsgenosse Ludwig Hätzer fügte dem die Leugnung der Gottheit Christi und die Schei­ dung des Christusgeistes vom historischen Christus hinzu. g In der anderen Gruppe steht an erster Stelle der tapfere Patriotg und hvorurteilslose For-

a

A: hüllen A: Ideen A: verstehen c A: ist d A: Vor allem ragen hier einige dem Täufertum bloß nahestehende, aber nicht zu e-e ihm gehörige gedankenreiche Mystiker hervor. Bei ihnen ist dann aber auch der Einfluß der schärferen reformatorischen Begriffsbildung und des Humanismus fühlbar. f A: ragt g-g A: Umfassender ist das Denken des tapfern Patrioten h-h A: vorurteilslosen Forschers

b

55

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 5 1 9.

IV. Die Täufer und Spirirualisten

1 87

scherh Sebastian Franck, der a nach Luther bhervorragendste deutsche Pro­ saistb und egelehrte Universalchronistc• Ihn stieß die neue Buchstaben- und Glaubenstheologie und ihre Zurückstellung der Ethik hinter die Sündenver­ gebungsgewißheit ab, aber auch bei den Täufern fand er aus dem Geist eine neue Gesetzlichkeit entwickelt. So wurde er ein einsamer, unparteiischer und schmerzlich resignierter Mann, der lediglich literarisch für ein unsektisches Christentum und reine unparteiische Liebe, d. h. für Toleranz, undogmati­ sche Religion und mystisch gefärbte Ethik wirkte. Seine Mystik trägt zugleich die Farbe des Panentheismus der Renaissance, und seine Schätzung der in­ neren Geisteskräfte gab ihm eine gerechte, relativ würdigende Auffassung der nichtchristlichen Religion. Ä hnlich dachte Seba­ stian Castellio, der freisinnige Humanist, der bei den Reformierten eine viel angefochtene Zuflucht fand. Mehr spezifisch theologisch sind die Lehren Caspar Schwenkfelds und Valentin Weigels. Hier trat die Tendenz auf eine stärkere Betonung der mystischen Ethik in Verbindung mit der lutherischen Abendmahlschristologie, wonach das innere Licht auf der Einwohnung des vergöttlichten Fleisches Christi beruhen sollte. Darüber trat dann natürlich die Genugtuungslehre zurück. 56 Weigel gelangte vollends vom inneren Licht zum Gnostizis­ mus und gewann von diesem aus vermöge der Geringschätzung des bloß Hi­ storischen einen religionsgeschichtlich relativierenden Universalismus. Hier scheinen Ideen des Paracelsus mitzuwirken. Noch mehr ist das der Fall bei dem Laientheologen Jakob Böhme, der das innere Licht in den Zusammenhang einer dualistischen I Metaphysik stellted und in ihm die Verklärung der Leiblichkeit als Ziel des Weltprozesses sahe• All das blieb in kleinen Kreisen und wirkte fort bis in die Anfänge des Pietismus, wo diese ganze Literatur insbesondere beim radikalen Pietismus - ihre Auferstehung feierte und die

a A: des b - b A: hervorragendsten deutschen Prosaisten c-c A: gelehrten U niversalchronisten d A: stellt A: sieht e

56

Die seit etwa 1 660 in der Oberlausitz ansässigen Schwenkfeldianer, denen 1 733 von Kurfürst Friedrich August 1. von Sachsen das consilium abeundi erteilt worden war, siedelten ab September 1 734 im Südosten Pennsylvaniens, gründeten 1 782 die Society of Schwenkfelders und 1 909 die Schwenkfelder Church mit eigener constitution.

A 303

1 88

B, C 5 1 3 Dogmen- und religions­ geschichtliche Stellung des Täufertums.

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

Ehrenrettung der Ketzer jenen Märtyrern und Ausgestoßenen des Reformationszeitalters eine verspätete Genugtuung bereitete. I Die religions- und dogmengeschichtliche Stellung einer so komplexen Er­ scheinung ist nicht leicht zu bestimmen. a Der enge innere Zusammenhang und der tatsächliche Ausgang von der reformatorischen Bewegung ist nicht zu bezweifeln, ebensowenig aber ein starker innerer Gegensatz und eine sehr weit auseinandergehende Entwickelung. So ist das richtige Verständnis die­ ser Gruppen sehr bedeutsam für das Verständnis des Protestantismus über­ haupt. Ein solches Verständnis ergibt sich aus der weiteren Verfolgung der Beobachtung, daß hier der Sektentypus dem Kirchentypus gegenübersteht. Beide Typen sind von Hause aus in der christlichen Ideenwelt angelegt, je nachdem mehr der objektive, von der Leistung des Subjekts unabhängige Gnaden- und Heilsbesitz oder mehr die subjektive Religiosität und Moralität betont wird. Beide Typen sind im Spätmittelalter bedeutungsvoll auseinan­ der gegangen. Jetzt wiederholt sich nur dieses Auseinandergehen auf dem protestantischen, einer solchen Spaltung besonders günstigen Boden. Von hier aus erklärt sich insbesondere das äußerlich am meisten ins Auge Fal­ lende, die beiderseitige verschiedene Stellung zu dem sozialen Problem, zu der Ethik, der Kultur und dem Staate, wobei die sozialen Bewegungen der sich zersetzenden mittelalterlichen Gesellschaft vielfach mit dem sektenhaf­ ten Individualismus und seinem absolut naturrechtlichen Liebeskommunis­ mus zusammenfielen; ein ähnliches Zusammenfallen hatte ja auch schon bei den spätmittelalterlichen Sekten stattgefunden. Die kirchliche Anstalt in ihrer Universalität und Objektivität muß irgendwie mit den gegebenen po­ litisch-sozialen Verhältnissen paktieren, die Sekte mit ihrer prinzipiellen Kleinheit und Freiwilligkeit der Zugehörigkeit und mit ihrer Strenge der sub­ jektiven Moralität muß allen Nachdruck auf Freiwilligkeit und auf strenge Christlichkeit des einzelnen legen. Die Kirche legt ihrem Paktieren das rela­ tive Naturrecht zugrunde, das die gegebenen Verhältnisse als mit dem Sün­ denstand gegeben hinnimmt. Die Sekte beruft sich auf das absolute Natur­ recht, das mit der Vollkommenheit des Urstandes und dem Gebot der Bergpredigt identisch ist, und daher Privateigentum, Krieg, Recht, Eid ver­ wirft oder einschränkt. Das war schon im Spätmittelalter der Gegensatz. a-a

A: Insbesondere verwirrt die Vermengung mit den sozial-revolutionären Bewe­ gungen der sich zersetzenden mittelalterlichen Gesellschaftsordnung das Urteil. Aber schließlich waren ja auch die reformatorischen Ideen mit politischen und so­ zialen Wandlungen eng verbunden, ohne daß darum an der Selbständigkeit ihrer religiösen Idee gezweifelt werden könnte, und haben im Täufertum die Spirituali­ sten den religiösen Ideengehalt von den sozialistischen Beimengungen schließlich gelöst.

IV. Die Täufer und Spiritualisten

1 89

Wenn aus den Reformationskirchen der gleiche Gegensatz hervorgegangen ist, so steht er nun aber doch unter neuen Bedingungen. Die Komplemen­ tärbewegung zu den Reformationskirchen verhält sich zu derjenigen der mit­ telalterlichen Kirche, wie die beiderseitigen Kirchen zueinander. Das Täuferturn und der vom Protestantismus ausgehende Spiritualismus enthalten einen viel radikaleren und viel klarer religiös begründeten Individualismus, die Deutung der Bibel aus dem autonomen Gewissen.Q Im ganzen wird die Bewegung als ein radikaler Seitenzweig des Protestantismus beurteilt werden dürfen, von dem sie tatsächlich ausging und dessen Ideen sie auch innerlich konsequent fort­ entwickelte; sie hat nur im Gegensatz gegen das neue reformatorische Staatskirchenturn und gegen die ausschließliche Verherrlichung der Sünden­ vergebung I die ethischen Ideen der gelassenen und auf enge Brudervereinigungen strebenden Mystik bevorzugt. Aber indem diese Mystik auch bei ihnen mit dem Gedanken der freien Persönlichkeitsreligion verbunden ist und die katholische Hierarchie und Sakraments magie entschlossen ablehnt, ist eben doch der Grundgedanke wesentlich von der Reformation bestimmt. 3Auf dieser radi-

a-a

B, C 5 1 4

A: Dabei darf aber freilich nicht übersehen werden, daß das Täufertum einerseits hinter die Reformation zurückging und andererseits über sie weit hinaus fort­ schritt. Es geht hinter sie zurück, indem es statt der von den Reformatoren aus dem neuen religiösen Gedanken gefundenen bestimmten Begriffe die unbestimm­ teren der Mystik wieder aufnahm. Die Reformatoren haben aus der Mystik den schroffen Personalismus der christlichen Idee wieder hergestellt und die Meister­ frage des Verhältnisses der rein religiösen Vereinigung mit Gott zum persönlichen sittlichen Leben mit spitzen Formeln beantwortet, die den religiösen Gedanken der durch die Sündenvergebung gesetzten Gotteinigkeit einerseits gegen panen­ theistische Vermengung und andrerseits gegen j eden Einfluß der sittlichen Lei­ stung sicher stellen sollten. Die Täufer fanden diese Formeln ethisch gefährlich und stellten die ungeschiedene Einheit der Gotteinigkeit und des sittlichen Han­ delns in unbestimmteren Formeln wieder her. Das schien ihnen einfachere Laien­ theologie. Noch weiter rückte das Täuferturn ab, indem es auf dieser Grundlage die Ethik als die Grundsätze einer weltscheuen Märtyrer- und Minoritätsgemeinde aufbaute, während die Reformatoren mit entschlossenem Griff und großartiger Weite des Gesichtskreises das weltliche Leben in die neue verinnerlichte Heilser­ kenntnis aufnahmen. Auch den Reformatoren ist die Ü berbrückung in der Theorie nicht gelungen - Luthers Anfänge zeigen dem Täuferturn I sehr ähnliche Gedan- A 304 ken -, aber sie haben sich in die große Kulturbewegung praktisch eingestellt und sie unter ihren Heilsgedanken gebeugt. Sie haben einen Begriff der Lex naturae konstruiert, der ihnen das erlaubte und in dessen Fassung sie im wesentlichen dem Katholizismus folgten, nur daß sie ihn ihrem neuen anti katholischen Heilsgedan-

1 90

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

kaIen Fortentwickelung reformatorischer Gedanken, die bei der ganzen Lage der Verhältnisse nicht in dem umfassenden und an zahllose Rücksich­ ten gebundenen Staatskirchenturn, sondern nur im engen Rahmen der Sekte und damit unter den Bedingungen eines schwärmerischen Enthusiasmus und einer strengen Heiligkeit möglich war, beruht nun aber auch der eigen­ tümliche Doppelcharakter dieser ganzen Erscheinung. Auf der einen Seite entwickeln nämlich die Täufer in zunächst rein supra­ naturalen schwärmerischen Formen, die der Spiritualismus freilich psycho­ logisch abklärt, Folgerungen aus dem religiösen Individualismus, die sehr viel moderner anmuten als die konfessionellen Positionen.a Ihre Lehre vom inneren Licht enthält die Keime des modernen religiösen Subjektivismus, einer psychologischen Erfahrungstheologie, die in den religiösen Ü berliefe­ rungen nur Anreger und Symbole und in allen Dogmen nur Erzeugnisse des eigentlich grundlegenden Elements, des religiösen Gefühls, erkennt und da­ her alle Religion zunächst nur an die Innerlichkeit persönlicher Ü berzeugung bindet unter Freigebung sehr verschiedener Ausdrucksformen. Freilich fehlt ihnen noch die ordnende Grundlage einer psychologisch-transzendentalen Theorie und eine sichere Beziehung des Geistes auf die Geschichte.

ken aufpfropften. Die Täufer haben diesen Begriff verworfen und sich statt dessen an die urständliche Lex naturae gehalten, wie sie vor dem Sündenfall war und wie sie mit dem urchristlichen Ideal übereinstimmt; sie haben damit sich gegen die le­ bendige Kulturentwicklung isoliert und nur chiliastische Hoffnungen für das Elend der Welt übrig behalten. Damit gehen sie aber nicht, wie oft gesagt, auf ka­ tholisch-mittelalterliche Gedanken zurück - diese ergänzten die geistlich-asketi­ sche Vollkommenheit immer durch die weltliche Lex naturae -, sondern auf das vor mittelalterliche ursprüngliche Christentum. Hierauf und auf die kompromiß­ freie, urständliche Lex naturae hatten sich ja auch die Sozialrevolutionäre des Mit­ telalters im Gegensatz gegen die katholische Kirchenlehre stets berufen. Sie erneu­ ern die eigentliche urchristliche Weltfeindschaft und stoßen die Ergänzung durch die weltliche Ethik wieder ab, welche die Arbeit von Jahrtausenden diesen hinzu­ gefügt und einverleibt hatte. Während sie den formellen Supranaturalismus der Bindung der Religion an äußere Vermittlung durch Kirche, Dogma, Schrift zugun­ sten einer innerlichen Persönlichkeitsreligion aufheben und die religiöse Erfah­ rung auch bei Nichtchristen anerkennen, gehen sie doch auf den inhaltlichen Su­ pranaturalismus des Urchristentums zurück und enden sie bei dem Ideal eines Reiches des Heiligen, dem es dann doch schließlich auch an einem Schriftgesetz nicht fehlen darf. Hier bevorzugen sie wie Erasmus die Bergpredigt vor dem Pau­ linismus. Andererseits aber ziehen sie freilich auch wieder aus der Persönlichkeits­ religion Folgerungen, die über die Reformation hinaus auf die moderne Welt wei­ sen und, in der englischen Revolution neu auflodernd, in der Tat die Grundzüge der modernen Welt haben schaffen helfen.

IV. Die Täufer und Spiritualisten

191

Allein alles das ist dann aus der Wiederbelebung ihrer Lehren in der eng­ lischen Revolution und im Pietismus, und noch mehr unter den wissen­ schaftlichen Einflüssen eines nicht mehr überwiegend dogmatischen Zeitalters hervorgewachsen. Weiterhin vertraten sie im Zusammenhange damit die Ideen des allgemeinen Priestertums, der religiösen Gleichheit und Freiheit, der indivi l duellen Persönlichkeit. Auch die Frau wird hier erst emanzipiert. Noch sind es nicht die Menschenrechte und der moderne Individualismus überhaupt; denn all das gilt nur vom wie­ dergeborenen Christen und nicht vom Weltmenschen. Aber es bedurfte nur des Ü berdrusses an der Theologie und an dem kirchlichen Fanatismus, um diese Wahrheiten von der Religion abzulösen und sie zu säkularisieren. Wo man für das innere Licht den Schutz gegen schwärmerischen Enthusiasmus in der Zurückführung dieses Lichtes auf die Wesensanlage des Menschen in Gewissen und Vernunft suchte, da war der Ü bergang von selbst gegeben. Der rein innerlich und psychologisch ge l faßte göttliche Geist geht leise über in die Vernunftanlage des menschlichen. Aus alledem folgte schließlich bei ihnen die Idee der staatlichen Toleranz, die Nichteinmischung des rein äu­ ßerlichen und legalen Staates in die Innerlichkeit des frommen Gefühls und des Gewissens, die Freigebung der Kirchen- und Gemeindebildung von seiten des Staates, der Independentismus und Kongregationalismus.57 Auch hier ist es noch nicht die moderne Idee eines eigenen Rechtes des Staates, der in seiner Souveränetät von der Kirche frei sein muß, sondern umgekehrt die religiöse Idee der Geringschätzung des Staates und seines Unverständnisses

57 ",Kongregationalisten' - oder, wie man in England früher sagte ,Independenten' sind der Bedeutung und Geschichte des Wortes nach alle diej enigen [evangelischen] Christen, welche a) in den einzelnen lokalen Gemeinden (congregations) der wirklich Gläubigen eines Ortes die dem NT entsprechende Form der Kirche sehen und daher b) jeder einzelnen solchen Kirche oder Gemeinde in Bezug auf ihr gesamtes kirch­ liches Leben, also nicht nur in Bezug auf die Bestellung der Pfarrer, sondern auch in Bezug auf Kultus, Disziplin und Lehre, völlige Unabhängigkeit (independency) gewahrt wissen wollen, also nicht nur jedes Staatskirchentum verwerfen, sondern auch gesetzgebende und die einzelnen Gemeinden bevormundende, ja eventuell ma­ jorisierende Synoden ebenso perhorrescieren wie ein konsistoriales oder ein hierar­ chisches Kirchenregiment." Friedrich Loofs: Kongregationalisten oder Independen­ ten (1 901), hier S. 681 .

A 305

B, C 5 1 5

1 92

B, C 5 1 6

B. Reformatoren und Reformbewegungen des 1 6. Jahrhunderts

für religiöse Gewissensfragen. Aber die Umkehrung lag nahe, sobald der Staat seiner eigenen Hoheit sicher wurde und seine Souveränetätsforderung durch Berufung auf die eigenen Aussagen des religiösen Geistes zu stützen für gut fand. Aus dem reformatorischen Staatskirchen turn wären diese For­ derungen nie entsprungen. Alles das sind grundlegende Ideen der modernen Welt, die aus der Entwickelung des täuferischen Geistes und des ihm inner­ lich verwandten radikalen Puritanismus geboren sind, und demgegenübera treten sogar die gelegentlichen Vorwegnahmen moderner historischer Kri­ tik, panentheistischer Ideen und universaler religionsgeschichtlicher Welt­ historie trotz aller Originalität an Bedeutung zurück.

Die Reformatoren haben das Täuferturn radikal unterdrückt. Sie konnten als handelnde und gestaltende Führer nicht anders. Die Täufer und Spiritualisten vermochten nur zu kritisieren und nicht zu schaffen. Die Zeit war nicht reif für das Täuferturn und das Täufertum nicht reif für die Zeit. Aber mit der englischen Revolution und dem Pietismus kam die Stunde des Täuferturns und seiner weltgeschichtlichen Erfolge. Zunächst in der prakti­ schen Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche und in der Auffas­ sung der religiösen Gemeinschaft selbst; dann aber auch wissenschaftlich. Schleiermachers Religions­ lehre ist in seinen Reden eine religions- und geschichtsphilosophisch unter­ baute Verkündigung der täuferischen Religions- und Gemeindetheorie, und der heutige Protestantismus steht - ab­ gesehen von der Weltbezogenheit der Ethik, wo aber auch Luther nicht sein einzigera Meister ist - Sebastian Franck näher als Luther. I

a

A: eigentlicher

Das Organ, wodurch der lutherische Konfessionsstaat adie von dieser Dogmatik gefordertea Einheitlichkeit hervorbringt, warb in erster Linie die Schule und innerhalb dieser Universität und Gymnasium.81 Die Schule ist Staatssache, aber im kirchlichen und religiösen Interesse; sie ist durch und durch geistlich bestimmt, aber der geistliche Charakter wird gehandhabt vom Staat als dem Hauptträger des kirchlichen Gedankens; sie ist auf das a-a

b

A: diese A: ist

81 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 522.

I. Das Luthertum

223

eingezogene Kirchengut begründet und dient vor allem der Erziehung von Geistlichen und Beamten. Das große Musterbild der lutherischen Universitäten ist Melanchthons Schöpfung in Wittenberg. Hier ist der Vorrang der theologischen Fakultät selbstverständlich, propter principiorum certitudinem. Sie lehrt auf Grund der Bibel und der Symbole die Dogmatik, die Grundlage des ganzen Systems in Staat und Kirche, Schule und Leben, ihre geoffenbarte I Gotteserkenntnis unterbauend mit der natürlichen Gotteserkenntnis, d. h mit der Lex naturae, die das höchste Ergebnis natürlicher Er­ kenntnis ist und zur Buße und Erlösungsbedürftigkeit geneigt macht. Neben ihr steht die Jurisprudenz, die Staats- und Kirchenrecht, römisches I und kanonisches Recht lehrt und als Fundament eben die volle christlich verstandene Lex naturae hat, die an sich mit dem Dekalog identisch ist; auch das römische Recht läßt sich auf den Dekalog zurückführen und bedarf zu einem christlichen Recht nur der Ergänzung aus den im Heidentum verloren ge­ gangenen spiritualen Momenten der Lex naturae oder aus der ersten Tafel . Die gemeinsame Voraussetzung beider oberen Fakultäten bildet die artistische Fakultät, die sich durch ein Aufnahme-Examen eine gewisse Vorbildung sichert und von den Grundkenntnissen der Sprachen und des Rechnens zu der humanistischen Stil- und Verskunst, zur aristotelischen Dialektik oder der Handhabung der Denkmaschinerie und schließlich zur Ethik und Metaphysik führtb. Die beiden letzteren sind an Aristoteles angeschlossen, verfallen aber sehr bald dem neuthomistischen Aristotelismus. Die Ethik insbesondere erläutert den Begriff der Lex naturae und entwickelt die natürlich-weltliche Ethik, die von der geistlichen als Unterbau und Ergänzung vorausgesetzt wird. Von Naturwissenschaften ist nur die Rede, soweit sie im Studium des Aristoteles und Galenus bestehen. Die Astronomie ist Astrologie. Ein Kepler hat sich an lutherischen Schulen nicht zu behaupten vermocht. Der Geschichtsun­ terricht verläuft in dem Schema der vier Monarchien und knüpft das rö­ misch-deutsche Reich unmittelbar an die biblischen Patriarchen an, betrachtet zugleich das Papsttum als Erfüllung der Weissagung vom Antichrist. Nebendem gibt es nur Aktenpublikationen in polemischem Interesse. Der Humanismus ist bei alledem immer mehr wie bei den Jesuiten zu einer reinen Form und Technik verflüchtigt, dafür aber als Eloquenz und Prunkrede um so schwülstiger entwickelt. Die Voraussetzung der Universitäten wiederum bilden die Gymnasien, die wesentlich Unterricht in den antiken Sprachen und der Dogmatik vermitteln. Der Volksschulunterricht ist sehr dürftig

a

b

A: Denkmaschine A: führte

A 324

B, C 539

224

B, C 540

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7 . Jahrhundert)

durchgeführt; er hat zum Hauptgegenstand Lesen und Schreiben und den Katechismus. Daß es einem solchen Schulwesen an Gegnern und Reforma­ toren nicht fehlte, versteht sich von selbst; aber es war zu eng mit dem gan­ zen System verknüpft, als daß ihnen ein Erfolg in dieser Periode hätte be­ schiedena sein können.

Die Hauptsache ist b nun aber bei allem Vorwalten des Dogmatismus dochb der ethisch-kulturelle Geist cdes Ganzenc•83 Er spricht sich zunächst aus in der theologischen Ethik und der praktischen Moral des Luthertums, die ihrerseits wieder in seiner theologischen Weltanschauung wurzeln. Freilich sind hier die großen und einfachen Grundanschauungen Luthers vom Her­ vorgang des sittlichen Lebens aus dem Glauben arg vertrocknet und zer­ splittert. Die Genugtuungslehre wurde immer mehr zum Zentraldogma des Luthertums, und pedantischer Eifer glaubte die alles religiöse Leben ent­ scheidende Bedeutung der Sündenvergebung oder Rechtfertigung nur dann sichern zu können, wenn er I die Heiligung möglichst scharf von der Recht­ fertigung abtrennte und von den guten Werken jeden I selbständigen Wert sorgfaltig fernhielt. Dadurch ist die lutherische Ethik in ihrer Begründung überhaupt unsicher geworden und ist sie vor allem verhindert worden, ein planmäßiges, einheitliches Ganzes der Lebensführung ins Auge zu fassen und ihren Gläubigen anzuerziehen. Immerhin blieb für das Volk der kleine Katechismus das ethische Lehrbuch und mit ihm die Ü berzeugung lebendig, daß der Gerechtfertigte Gott fürchten, lieben und vertrauen soll im Gehor­ sam gegen den Dekalog und daß ein jeder seinen Stand und Beruf anschauen soll nach den zehn Geboten. Außerdem ward die rein geistliche Ethik jeder­ zeit zu ergänzen aus der philosophischen und natürlichen Ethik, in der die

a-a A: Ethik. b - b A: natürlich A: dieses Systems selbst c-c A: ist d

83

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 521 f.

Die ethische Kultur des Luthertums.· •

A 325 B, C 541

226

B, C 542

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

Lex naturae oder die aus der natürlichen Weltordnung und Vernunft hervor­ gehenden sittlichen Gebote und Lebensformen entwickelt wurdena, auf wel­ che der Christ nur die spirituale Gesinnung des Gehorsams aus Liebe gegen Gott und das Vertrauen zu Gottes Vorsehung aufpfropfen soll. Hier hat Melanchthon die oft aufgeleg­ ten und kommentierten Lehrbücher geschaffen, deren Zweck war b, auf der Grundlage des Cicero und Aristoteles den Dekalog als epitome legis naturae zu erweisen; er galt dafür als der Morallehrer, der Platon und Ari­ stoteles, die berühmtenC Muster, übertroffen habe. Von hier aus versteht sich auch der starke theologisch-ethische Gehalt der Rechtslehre und die starke Einmischung juristischer Dinge in die theologische Ethik. Denn das Recht fließt aus der Lex naturae, die ja ihrerseits mit dem Dekalog identisch ist, so daß man Straf- und Zivilrecht auf den Dekalog zu reduzieren d unternehmen konnte d. Die in ihrem vollen doppelten Sinn verstandene Lex naturae erwies sich eben als die Zusammenschließung der geistlichen und weltlichen, jenseitigen und diesseitigen Ethik, die man brauchte und die bald nach der rechtlichen, bald nach der religiösen Seite verwendet werden konnte. Sie - und nicht eine rein christliche neutesta­ mentliche Sittlichkeitsidee - ist der eigentliche Grundbegriff der Moral. Soweit biblische Veranschaulichungen gesucht werden, werden sie daher auch in steigendem Maße dem Alten Testament, für die Staatsmoral den Königsbüchern, für I die Privatmoral Jesus Sirach und den Proverbien entnommen. Schließlich besteht ein großer Teil der praktischen

A: werden A: ist A: großen c d-d A: unternahm a

b

I. Das Luthertum

227

Ethik in den obrigkeitlichen Sittenmandaten, den polizeilichen Strafen we­ gen religiöser, moralischer oder kirchlicher Verstöße, den konsistorialen Handhabungen der Kirchenzucht. Auch das stark theologisch beeinflußte Strafrecht beleuchtet die Sachlage. Ist es doch die Aufgabe des Konfessionsstaates, nicht bloß den reinen Glauben, sondern auch die christliche Ehrbarkeit und Moral zu schützen und zu pflegen. Trotz aller Verzerrung wirken hierbei im wesentlichen doch die Grundge­ danken Luthers fort, in ihren Vorzügen, der Innerlichkeit und Freiheit der gotterfüllten Gesinnung, und in ihren Schwächen, dem Mangel an zielsiche­ rer Organisation des Lebens und der Verweisung der Masse an den Gehor­ sam. Das Ziel liegt nicht in der Gestaltung der Welt; diese ist I vielmehr ein zufälliger, von Gott so geordneter Stoff, an dem es vor allem Gottvertrauen, Sündentrost und Gottesliebe zu bewähren gilt. Es liegt aber auch nicht außer der Welt im Dienst für die Kirche oder einem höheren geistlich-mön­ chischen Lebensstand; damit hat der Papismus die Gläubigen genarrt. So fehlt jedes eigentliche Ziel, und es bleibt als Ziel immer nur gehorsames Aus­ harren in den einmal gegebenen Lebensbedingungen, treue und fleißige Ar­ beit in den durch sie gestellten, nützlichen Berufen und Befestigung in der Bekehrungsstimmung des verdienstlos Begnadigten. Das Ziel wird daher von der Ethik immer nur als das der Bewahrung der Rechtfertigungsgnade bezeichnet, d. h. als Bewahrung der Stimmung der Begnadigung, die durch Eingehen auf wirklich Böses und Gottwidriges natürlich verloren gehen würde. Wenigstens gilt das für den einzelnen Christen. Der Zweck des Gan­ zen, des staatskirchlichen Gesamtlebens, aber liegt nicht in der Hand und nicht im Urteilsbereich des gewöhnlichen Untertanenverstandes. Das steht nur der Obrigkeit und den Geistlichen zu, und auch sie können als Zweck des Ganzen wesentlicha nur die Aufrechterhaltung und Wirkung des reinen Gotteswortes ansehen, das alles Ü brige von selbst hervorbringen werde, so­ weit es Welt, Teufel und Fleisch leiden ; Polizei und Richteramt lei­ sten nur Nebendienste. b In alledem wirkt die von Luther vorgenommene a In A folgt: immer b - b A: Die tiefe Ü berzeugung von der Erbsündigkeit überhaupt und von der Roheit und Begehrlichkeit der Massen insbesondere führt zu einer charakteristischen Trennung von Privatmoral und öffentlicher Moral. Die erste betätigt sich im Glau­ ben, der Nächstenliebe und dem Berufsgehorsam, alles lediglich im Gehorsam ge­ gen Gottes Wort und im Vertrauen auf die Vorsehung, daß treuer Fleiß am ange­ wiesenen Ort schon zum Guten führen werde. Die letztere beschäftigt sich mit der Gestaltung des Lebensganzen in Staat, Kirche und Schule zu einem Ausdruck des göttlichen Wortes und ist in dem Gefühl der göttlichen Berufung und Autorität

Verhältnis der öffentlichen und Privatmoral.

A 326

228

B, C 543

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7. Jahrhundert)

Umformung des geistlich-weltlichen Kultursystems des Katholizismus nach. Auch dieses hatte im ganzen die Herstellung des christlichen Ideals der Ge­ sellschaft der Vorsehung überlassen, die in der ständisch-organischen Glie­ derung vom Naturgesetz emporführt zur Gnadensittlichkeit, und hatte nur die direkt politischen Mächte durch Papsttum und Hierarchie sich zum Zweck der Herstellung des Ideals untergeordnet. Luther löste diese Verbin­ dung auf und behielt nun den reinen Gegensatz des Geistlichen und Leib­ lichen übrig, in welchem die Kirche vor allen Eingriffen in das Leibliche und von allen Beeinflussungen durch das letztere gesichert werden sollte und im Grunde nur mit der Seligkeit der Individuen beschäftigt ist. Gleichwohl sollte aber I doch das Ideal einer christlichen Gesellschaft daraus hervorge­ hen, aber lediglich durch die Macht des Wortes und der Vorsehung. Schon er selbst hat dieses Nebeneinander nicht festhalten können, der weltlichen Ge­ walt Einfluß auf die Kirche und der geistlichen Beratung Einfluß auf die weltlichen Gewalten eingeräumt. Und darin ging seine Kirche immer weiter. Aber es blieb von seinen Grundgedanken die Sprödigkeit der nur das Indi­ viduum rettenden und anweisenden Kirche, und für die Konkordanz dieser geistlichen Individualitätsmoral mit den ethischen Interessen des Gesamtle­ bens gab es nur die Hoffnung auf Gottes Weisheit und Macht. Es gibt ein So­ zialideal, aber keine Sozialreform und einheitliche christliche Ausarbeitung des Gesamtlebens. Damit ergibt sich eine charakteristische Trennung der Privatmoral, die die eigentlich geistliche und unmittelbar biblisch bestimmte ist, und der öffentlichen Moral, die als ein gemischtes System obrigkeitlicher und kirchlicher Gewalt, naturgesetzlicher und biblischer Ideen sich darstellt und in ihrer Verwirklichung der inneren Macht des Guten in letzter Linie überlassen wird. Dazu kommt die schroffe Betonung der Erbsünde, die es zu keiner rechten Stärke dieser Hoffnung, und die Geringschätzung der rohen begehrlichen Masse, die es zu keiner echten Interessierung der Christen an einer solchen öffentlichen Ordnung kommen läßt. Privatmoral und öffent­ liche Moral, Herzens- und Hausmoral einerseits und Staats- und Gesell­ schaftsmoral andererseits, treten derart für den einfachen Christen weit aus­ einander, ein Charakterzug, der bis heute die lutherischen Länder von den calvinistischen fühlbar unterscheidet, und die Passivität der politischen und sozialen Moral in Deutschland geht zum guten Teil auf diese Trennung zu­ rück.b lediglich den regierenden Ständen und Personen anvertraut; sie bessert und regiert das System, innerhalb dessen der einzelne an seinem Ort Gott dienen soll, und hat ihre höchste Aufgabe lediglich in der ruhigen, friedlichen, ehrbaren und gott­ seligen Ordnung des Systems, dem sie selbst vorsteht, während sie um den allge­ meinen Weltlauf sich zu kümmern auch ihrerseits keinen Beruf hat.

I. Das Luthertum

229

Die personliehe Privatmoral hat ihren Ausgangspunkt durchaus im Glauben, im lutherischen Sinne dieses Wortes. Da dieser Glaube aber bei aller Betonung des Vertrauens und des praktischen Gefühls doch immer die Bejahung bestimmter religiöser Gedanken ist, so muß er a gerade zum Zweck der vollen Hervorbringung seiner Folgen ein klarer und deutlicher sein. Er muß Bibel und Dogma gegenwärtig haben und darf mit der fides implicita des Ka­ tholizismus sich nicht begnügen, die ja ihre gedankliche Unvollständigkeit durch die Hauptsache, den Gebrauch des heiligenden Sakraments-Wunders, bei weitem ersetzt. Der lutherische Christ muß vielmehr völlig bibelfest und rechtgläubig sein und gewinnt beide Eigenschaften durch häufigste Teilnahme am Predigtkultus, I häusliche Bibellektüre, endlos wiederholten Katechismusunterricht und reichliche theologische Literatur. Das Mittel zur Lebendigmachung dieses doktrinären Glaubens ist das nachdrücklich eingeschärfte Gebet; selbst der Bettler soll das dargereichte Brot mit Gebet und Lied verzehren. Als weitere Tugendmittel oder Förderungsmittel sittlicher Leistungsfähigkeit dienen die Privatbeichte und etwa aufzunehmende asketische Gelübde, diese aber in voller Freiheit und abhängig von der Tauglichkeit für die individuelle Persönlichkeit und Lage. Dabei muß dieser Glaube aus I der tiefsten Empfindung erbsündiger Verlorenheit hervorgehen, sein einziger Beweis und Rechtstitel ist ja, daß er dem absolut verlorenen und nur durch ein Wunder errettbaren Menschen eben gerade das Wunder darbietet, dessen er bedarf: das Wunder der stellvertretenden Büßung Christi für seine Sünden und das Wunder der Bekehrung durch die diese Büßung ihm gewiß machende inspirierte Bibel. Die Befestigung des rechten Glaubens ist also zugleich möglichste Selbstversetzung in die Sünden- und Unwürdigkeits­ stimmung. Der Kampf gegen die Reste der Erbsünde im eigenen Selbst, die tägliche Buße, soll das Leben erfüllen, und ebenso soll der Haß gegen die das ganze Gemeinschaftsleben vergiftende Sünde ihn nie verlassen. Am Glauben ist so das Wichtigste die durch ihn vermittelte Seligkeit, die Wiederver­ einigung mit Gott, die von den Theologen nicht mit Unrecht als unio mystica gefeiert worden ist und deren Beschreibung durch bAusdrücke, die mit der katholischen Mystik verwandt sind,b nur den ursprünglichen mystischen Ausgangspunkten und weltindifferenten Gefühlen Luthers entspricht. So erhält sich in dieser Mystik, in der Bekehrungsstimmung und in der starken Jenseitshoffnung das asketische Moment des Christentums. Es ist ein Unter­ brechen des gewöhnlichen Laufes und Ausruhen in dem einzigen rein und absolut göttlichen Moment des Christenstandes, in der Sündenvergebungs-

a

b-h

A: dieser Glaube A: der katholischen Mystik verwandte Ausdrücke

Privatmoral.

A 327

B, C 544

230

A 328

B. C 545

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

gewißheit, während alle übrigen Momente aus Göttlichem und Mensch­ lichem gemischt sind und schließlich doch nirgends einen Wert in sich selbst haben, sondern nur immer neue Anläufe und Versuche sind, von denen aus der Christ immer auf das Rechtfertigungsheil zurückgeht. Für gröbere Na­ turen freilich nahm diese Mystik dann mehr den Ausdruck der Zuversicht und des Vorsehungsglaubens an, daß dem Bekehrten alle Dinge und alles Handeln zum Besten dienen müssen, daß er daher in ehrbarer Fröhlichkeit der Welt genießen dürfe und nur sein Geschäft mit fleiß und Treue zu be­ sorgen habe. Die ersteren konnten sich mehr auf den früheren, die letzteren mehr auf den späteren Luther berufen, obwohl in Luther selbst beides im­ mer eng verbunden geblieben ist. Aus solchem Glauben ging die Moralität des täglichen Lebens hervor. Es ist die Moralität der Gottesliebe; denn die Liebe des Versöhnten zu Gott bestimmt alles Handeln. So ist zunächst die Moralität des persönlichen Verhaltens zu sich selbst nichts anderes als die Selbstbewahrung in der Liebe zu Gott und in der Rechtfertigungsgnade, die nur dann möglich ist, wenn wir alle Forderungen des natürlichen Gewissens I aus Liebe und Dankbarkeit gegen Gott und in der Gesinnung der De­ mut gegen ihn erfüllen. Mögen diese Forderungen mehr gelehrt aus der an­ tiken Moral oder mehr populär aus Jesus Sirach und verwandten Schriften entwickelt werden, immer handelt es sich darum, die allgemeinen Forderun­ gen der Wahrhaftigkeit, Keuschheit, Mäßigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gewissenhaftigkeit, Geduld aus der richtigen geistlichen Gesinnung heraus, d. h. nicht als gute Werke oder Leistungen der Vernunft, sondern als Wirkungen der Gnade und Hingebung an die göttliche Liebe demütig I zu betätigen. Dem Nächsten gegenüber wird diese Gottesliebe, da wir Gott j a nichts ge­ ben, sondern nur seine Gesinnung gegen die anderen betätigen können, zur religiösen Nächstenliebe. Es gilt um Gottes willen den Nächsten zu lieben. Diese Liebe betätigt sich freilich zunächst in Milde, Güte, Gerechtigkeit ge­ gen alle und besonders gegen die Nächststehenden; aber ihre Hauptbetäti­ gung ist doch der gewissenhafte und fleißige Dienst an dem verordneten Sy­ stem der natürlichen Berufs formen. Die Arbeit in den Berufsformen ist das "große Werkhaus der Nächstenliebe"84, und auch die Wohltätigkeit tut am besten, ihre Gaben der berufsmäßigen öffentlichen Armenpflege zuzuwen­ den. Die Berufstätigkeit ist dabei freilich wiederum vor allem eine Ä ußerung

84

Als Zitat nicht nachgewiesen, vgl. aber etwa Gerhard Uhlhorn: Die christliche Lie­ besthätigkeit, Band 3 (1 890) , S. 20: "Ganz ähnlich weist Melanchthon darauf hin, daß ein Christ seine Nächstenliebe besonders und zuerst in der Erfüllung seiner bürger­ lichen Pflichten beweisen soll, und Chemnitz nennt einmal gerade den geschäftlichen Verkehr der Menschen untereinander ,die Werkstatt der Liebe'."

1. Das Luthertum

231

der Demut gegen Gott, die sich in die von Gott durch die natürliche Ord­ nung gegebenen Lebensbedingungen fügt, und ein Liebesdienst, der nicht für das eigene Wohlergehen, sondern für die Ordnung und das Gedeihen des Gemeinwesens arbeitet, da der Mensch nun einmal im Fleische lebt und das Fleisch einer solchen gedeihlichen Ordnung bedarf. Die Äußerungen hier­ über nehmen freilich oft in populärer Abplattung den Charakter einer etwas philisterhaften, nur durch die Klagen über die Erbsünde eingeschränkten Weltzufriedenheit an. Aber in Wahrheit ist doch der Grundgedanke der in­ nerweltlichen Askese dabei keineswegs aufgegeben. Nichts Weltliches hat einen Wert in sich selbst; alles dient nur dem religiösen Zweck. Künste und Wissenschaften sind nur für die Erbauung oder für den Nutzen. Die Adia­ phora oder die erlaubten Vergnügungen sind freilicha ein starker Trumpf gegen die papistische und calvinistische Werkheiligkeit, und alles Handeln kann vor Gott im Grunde nur bestehen, weil es von Christi Genugtuung gedeckt ist. Das Leben bleibt im Grunde ein täglicher Kriegsdienst gegen den Teufel, und die eigentlichste Erprobung der Rechtfertigungsseligkeit ist b neben dem Berufsgehorsamb die Unterwer­ fung unter die zahllosen Leiden, die in der sündigen Welt dieses Berufswir­ ken mit sich bringt. Die strengen Gebote der Bergpredigt, die viel von den Ethikern besprochen werden, bleiben an sich überall in Geltung als Gesin­ nungsregeln; sie sind überall da in Kraft, wo es der Christ als Christ mit dem Christen zu tun hat. mit e dem wirklichen Leben und sei­ nen Bedürfnissend vermittelt, indem echt lutherisch überall der innere christ­ liche Mensch und sein ihm aus der natürlichen Ordnung erwachsendes Amt unterschieden wird. In der erbsündigen Welt ist die natürliche Ordnung der Lex na l turae eben eine Ordnung des Zwanges, Rechtes und Privateigentums, und daher ist der Christ nach seinem natürlichen Amt berechtigt und ver­ pflichtet zu Kriegsdienst, obrigkeitlicher Funktion oder Gehorsam gegen die Obrigkeit, zum Gebrauch der Gerichte und des Eides, zum Eigenbesitz und Erwerbsstreben; alles das tut er nicht unmittelbar als Christ, sondern als Glied der natürlichen I Ordnung, unter welche freilich Gott zum Zweck der Züchtigung der Gottlosen und des Schutzes gegen die Gottlosen, zum Zweck der äußerene Ordnung und Disziplin, auch die Christen beugt. So a A: im Grunde doch nur b-b A: nicht sowohl der Berufsgehorsam als A: Mit c In A folgt: werden sie nur d A: äußern e

A 329

B, C 546

232

Ö ffentliche Moral.

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 17. Jahrhundert)

sind Demut und Liebe gegen Gott die Grundmotive dieser Ethik. Darüber tritt die Persönlichkeit atrotz aller Innerlichkeit und Gefühligkeita zurück. Die Liebe gegen Gott stärkt und erfüllt nicht die Per­ sönlichkeit zum selbständigen, souveränen Gewissen, sondern bewirkt vor allem Hingabe und Ergebung. Die Liebe gegen den Nächsten bereichert nicht vor allem die Persönlichkeit durch gegenseitige Ergänzung und Ver­ stärkung des sittlichen Charakters, sondern gibt um Gottes willen und im Selbstverzicht, weil wir Gott nichts geben können und uns daher an die Menschen halten müssen; zudem fügt sich der Christ bei diesem Geben an die Mitmenschen in das naturgewachsene, von der Vorsehung bewirkte Ge­ füge des nun einmal gegebenen Gemeinlebens. Nur an einem Punkte macht sich die Selbständigkeit der gotterfüllten Persönlichkeit geltend, im Bekennt­ nis zum wahren Glauben. Dies muß auch gegen den Widerspruch einer gan­ zen Welt behauptet werden; auch gegen eine ungläubige Obrigkeit ist hier der passive Widerstand erlaubt; ja nach gelegentlichen Äußerungen Luthers glaubten manche noch über den passiven Widerstand hinaus auch zu akti­ vem Angriff gegen eine aus dem Gesetz sich heraus setzende Obrigkeit vor­ gehen zu dürfen.85 Im ganzen aber überwiegt auch hier die Begrenzung auf den passiven Widerstand und auf das Leiden für die Wahrheit. Und das ist von zahllosen Christen, insbesondere von zahllosen treuen Geistlichen, in schweren Zeitläuften auch opferfreudig betätigt worden. Die böffentliche Moralb bezieht sich auf das geistlich-weltliche Lebens­ ganze der christlichen Gesellschaft. Auch esC steht unter dem Prinzip des religiösen Liebesgedankens. Die gegenseitige Liebe und Förderung der in diesem System vereinigten Elemente ist die Aufgabe, undd in der Dar­ stellung einer solchen von der Liebe beseelten Gemeinschaft Gottes Ehre e verkündet werdene•86 "Auf daß wir ein geruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit"87 heißt es in der Hausa-a

b-b e

d e-e

A: als solche In A hervorgehoben. A: sie A: um A : z u verkünden

85 Vgl.

Troeltschs Literaturhinweise, S. 522. Troeltschs Literaturhinweise, ebd. Martin Luther: Der kleine Katechismus, S. 525, 27-29.

86 Vgl. 87

1. Das Luthertum

233

tafel des kleinen Katechismus oder mit den Worten Seckendorffs: "Es beste­ het die landes fürstliche Regierung in Erzielung und Behauptung gemeines Nutzens in geistlichen und weltlichen Sachen. Der letzte Zweck soll sein die Ehre Gottes. "88 Dabei kommen aber als die eigentlichen Elemente dieses geistlich-politisch-wirtschaftlichen Lebenssystems nicht die Einzelindivi­ duen, sondern in mittelalterlich-ständischer Denkweise die Stände in Be­ tracht, die drei großen Hierarchien, wie Luther sie nennt:89 die Hierarchie der Fürsten, des Adels und der Beamten, die Hierarchie des Predigtamtes und die Hier l archie des Hausstandes, wozu Luther noch als vierten den "gemeinen Orden der Christenheit" oder die im Beruf arbeitende und dienende Masse I rechnet. So handeln dementsprechend auch Juristen, Theologen und Nationalökonomen von diesen Dingen unter dem Titel des dreifachen Status, des statusa politicus, ecclesiasticus und oeconomicus. Jeder dieser Stände soll dem andern Dienst und Liebe erweisen um Christi willen und dafür seine eigene Ehre genießen: die Obrigkeit, indem sie dem geistlichen und weltlichen Wohle mit ihrem ganzen Machtapparat dient; der Klerus, indem er Obrigkeit und Volk die göttliche Wahrheit auslegt, beide zu christlichem Sinn ermahnt und die Geschäfte der Seelsorge übernimmt; die Masse, indem sie aus Liebe zu ihren landesväterlichen Obrigkeiten, zu ihren

a

A: Status

88 Das Zitat findet sich in Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürsten-Stat (1 687) , S. 56 f. Es lautet vollständig: "Es bestehet aber wie gedacht, die Lands-Fürstliche Re­ gierung in Erzehlung und Behauptung gemeines Nutzes und Wolstandes in geist­ lichen und weltlichen Sachen. Der letzte Zweck zwar aller menschlichen Handlungen und Thaten soll seyn die Ehre Gottes, darzu das menschliche Geschlecht fürnemlich erschaffen: Insonderheit aber gebühret denen hohen Obrigkeiten, welche Gottes Stadthalter auff Erden sind, dahin zu sehen, daß ihres höchsten himmlischen Ober­ Herrns Ehre in allen Dingen gesuchet werde, weil aber eben durch treue und fleißige Ausrichtung ihres Amts und Beruffs, wie derselbe Göttlichem Wort, und den natür­ lichen und Land-üblichen Rechten gemäß ist, und zu geist- und leiblicher Wolfarth zielet, Gott dem Herrn selbst Gehorsam, Ehre und dienst geleistet wird, so kan auch aus der Beschreibung dieser ihrer obliegenden Landes-Fürstlichen Regierung der letzte Zweck von sich selbst erscheinen." 89 Vgl. WA TR 5, S. 2 1 8, 1 4-1 8 (Nr. 5533, 1 542/43) .

A 330 B, C 547

234

B, C 548

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

Lehrern und Seelsorgern und zum Besten des Ganzen willig dient,a gehorcht und arbeitet. In dieser christlichen Gesellschaft gibt es keine Tyrannei, hat das Individuum den Anspruch auf Fürsorge,b Rechtsschutz90 und Sicherheit des Eigentums; aber es gibt auch keinen unruhigen und neuerungsüchtigen Hochmut. In allem soll vielmehr die Liebe herrschen. Soweit aber Got­ tes Vorsehung diese Liebesgesellschaft auf die natürlichen Ordnungen des Rechts und der Gewalt begründet hat, ist auch der Rechtsgesichtspunkt und der Gewaltgebrauch erlaubt und Pflicht, alles nach Anordnung der diese weltliche Ordnung als ihren besonderen Beruf verwaltenden Obrigkeit.

Der Staat ist a lediglich eine sozialeudä­ monistische Anstalt zum Zweck der Aufrechterhaltung der Ordnung, des Friedens, des Eigentums nach innen und außen. Was sieb darüber hinaus leistet, das leistet sieC als der große christliche Bruder, der in der christlichen Gemeinde die meiste äußere Macht und Wirkungsmöglichkeit und daher den göttlichen Beruf zum Dienst mit diesen Mitteln für die Kirche hat. In diesem Sinne ver­ waltet der Staat die Kirche, die Schule, das Armenwesen; er erläßt Luxus­ gesetze, Kleiderordnungen und dem wahren ehrlichen Wert der Waren entsprechende Preistaxen, er gibt Sittenmandate, handhabt durch seine kirchlich-juristischen Behörden die Exkommunikation, die Ketzer- und He­ xenprozesse und die Zensur. Soweit er lediglich als Staat handelt, übt er im göttlichen Auftrag die Regalien, die Justizhoheit, das Münzrecht und Steuerrecht aus als der Inhaber der Zwangs- und Rechtsgewalt; hier ist sein Beruf teils die Pflege des Ganzen, die Konservation der einzelnen Stände und Nahrungen, teils die strenge Unterdrückung der Sünder und Ungläubi­ gen, die er in dem rohen Strafrecht mit seiner Inquisition, Tortur und den strengen Strafen nachdrücklich ausübt. In Milde und Strenge ist er ein Ab­ bild Gottes, und sein Beruf ist in seiner Ausübung von Gottes Gnaden und nur Gott verantwortlich. An seiner Berufswürde nimmt Anteil der Beamten­ stand, der, nach burgundischen und österreichischen Vorbildern zunächst gestaltet, doch in lutherischen Landen eine eigentümliche Würde und Pflicht der Ehrlichkeit I und der sozialen HochsteIlung gewinnt.91 "Der Haupt­ zweck dessen allen ist", sagt Seckendorff, "die heilsame Erhaltung der Poli­ zei oder ganzen Regiments in seiner Ehre, Krafft und Hoheit, und das letzte Ziel ist die Ehre Gottes", und dabei sind die Beamten und Geistlichen, sagt derselbe Autor, "nicht eigentlich Untertanen, sondern Werkzeuge".92 Nicht zu vergessen sind dabei die Halb-Obrigkeiten, die adeligen Standes­ herren, denen für ihre Gutsbezirke eine ähnliche Stellung zukommt wie der

a

b c

A: ist, wie das bei einer rein religiösen Abzweckung des Lebens immer der Fall sein muß, A: er A: die Obrigkeit

91 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 522. 92 Das Zitat findet sich in Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürsten-Stat (1 687) , S. 1 94.

< I. Der Staat oder die Obrig­ keit.>

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236

B, C 549

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

Obrigkeit für das Ganze, und die zwar von der Gesamtobrigkeit möglichst unter den gemeinen Nutzen gebeugt werden, die aber doch Anspruch auf Gehorsam haben. Die Obrigkeit wehrt ihnen das Bauernlegen und die Aus­ dehnung der Jagdrechte, aber die Pilichtigen selbst dürfen ihnen nicht widerstehen,a I der b Beugung der Feudalen unter den BeamtenstaatC die Sicherstellung adliger Macht im Gutsbezirk dochd eine Wirkung lutherischer Staatsethik. Der Junker wird höfisch nach oben, nach unten aber zu Gottes Stellvertreter im kleinen. Die Sächsische Ritterschaft trägt 1 672 auf Haustaufe an,94 "denn es wäre doch dis reputierlich, wenn ein vornehmes Kind mit demselben Wasser getauft würde, mit welchem gemeine Kinder getauft sind"95. e Sie betätigt als geistliche Führerine ihre Liebe vor allem durch Reinhaltung der Lehre. Der furchtbare Doktrinaris-

a

b c

d e-e

93 94 95

A: widerstehen. A: Die In A folgt: und andrerseits A: ist gleicherweise A: Die Kirche als geistliche Führerin betätigt

Vgl. Troeltschs Angabe, S. 522. Vgl. Troeltschs Literaturhinweis, ebd. Das Zitat bildet eine Kompilation zweier Stellen aus Franz Callenbach: Genealogia Nisibitarum (1 7 1 6) . Vgl. S. 92: "Nisiceps: Ich erinnere mich von meinen Eltern ge­ hört zu haben: ich wäre in meiner Tauff schon von gemeinen Kindern distinguirt worden. Justament sollte um eben dieselbe Stund ein Bauren-Kind getaufft werden: da litten meine Eltern nicht, daß man mich sollte in die Kirch tragen, sondern zu Haus im Saal mußte ich getaufft werden, sie meinten, es wäre disreputirlich mit dem Wasser getaufft werden, mit welchem auch gemeine Kinder getaufft seynd." Vgl. au­ ßerdem ebd., S. 38 f.: 0 wie recht hat der Herr; ich förchte, der Staat komme so weit, daß man vornehme Kinder nicht mehr in purem Wasser, sondern in The oder Caffe, oder Chokolada werde tauffen sollen." ,,

I. Das Luthertum

237

mus des Luthertums ist die naturgemäße Folge des Glaubensbegriffes. Wo persönliche Ü berzeugung die Religion ausmacht, muß die Religionswahrheit genau bekannt sein, und da ist dann zwischen Fundamental- und Nicht-Fun­ damentalartikeln nur ein fließender Unterschied. Soll Einheit des Glaubens herrschen, so muß der Glaube genau definiert sein. Daneben steht die sitt­ liche Vermahnung gegen alle Stände, die praktisch freilich oft mehr gegen die Kleinen sich richtet als gegen die Großen. Die Erziehung der Unmündigen und Unwissenden, die Behandlung der Gemeinden als unwürdiger und gro­ ber Christen ist auch hier der Hauptcharakter des Systems. Als Patronats­ pfarrer sind die Geistlichen Stützen und Organe der Gutsherrschaft. Einfluß und Wirkung dieser Geistlichkeit auch auf das innerste persönliche Leben kann nicht gering gewesen sein. Denn ihre Erziehung hat den Volkscharak­ ter auf Jahrhunderte bestimmt. Am schwersten zu umschreiben ist die besondere Gestaltung der Liebes­ pflichten des Nährstandes. In Haus und Familie gilt Liebe und Zucht. Hausandacht und religiöse Erziehung sichern den wahren Familiensinn. Der Hausvater ist für die Familie, was die Obrig­ keit für das Land. Die Frau soll als Schwester in Christo geachtet werden, doch steht sie völlig unter der patriarchalischen Gewalt des Mannes. Heira­ ten sollen früh geschlossen werden; Gefahren der Ü bervölkerung sind noch unbekannt; man denkt nur an die Gefahren außerehelichen Geschlechts­ verkehrs. Kinder sollen zahlreich im Vertrauen auf Gottes erhaltende Vor­ sehung gezeugt werden. Zum Hausstand gehört der Gesindestand, das Betriebspersonal, die Dienerschaft; sie unterstehen der gleichen patriarcha­ lischen Verpflich l tung und sollen dienen, als ob sie Christo dienten. Alte und Invalide sollen vom öffentlichen Armenwesen versorgt werden. Der Haus­ stand und die Hauswirtschaft ist auch die I Grundform der wirtschaftlichen Berufsarbeit. Dabei ist die Berufswahl eine von Hause aus sehr eng be­ grenzte; sie steht innerhalb des Schemas der gegebenen ständischen Gliede­ rung von Adel, Bauern, Städten und hält sich innerhalb dieser Stände wieder an hergebrachte und rechtlich abgegrenzte Gruppen.96 "Zu diesem Zweck", sagt Seckendorff, "ist in etlichen Landesordnungen die gemeine Satzung, daß ein j eder Stand bei seiner hergebrachten Nahrung bleiben, der Adel z. B. seiner Güter sich nähren, der Bürger der Kaufmannschaft und Handwerks auch Schenkens und Brauens sich gebrauchen und der Bauersmann dem Ackerbau obliegen soll, doch alles nach Maße des alten Herkommens und je-

96

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 522.

A 332 B, C 550

238

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

des Ortes Gelegenheit."97 Dabei ist das Handwerk durch "Zucht- und Handwerks-Regeln oder Gilden- und Innungsbriefe"98 geregelt und der Kaufmannstand durch Preis taxen und Aus- und Einfuhrbestimmungen zu ehrbar bescheidenem Gewinn genötigt. Auch die verschiedenen Bauernka­ tegorien werden zum Verbleiben in ihrem Stand ermahnt, die Taglöhner und Dienstboten insbesondere, "daß sie bei billigem Lohn und fleißiger Arbeit verbleiben; denn ohne dieselben werden alle anderen Handtierungen und Haushaltungen gestopfet und gehindert"99. Die freie Berufswahl und das Vorwärtsstreben sinda sehr gehindert, die liberalen Be­ rufe außer dem juristischen, geistlichen und Schulamt fast ganz ausgeschlos­ sen, Schauspieler und freies Literatenturn unmöglich; besondere individuelle Begabungen können durch Stipendien in das höhere Schulwesen und da­ durch in die höheren Klassen vorrücken. Strenges Verbot des Müßiggangs und des Bettels fordert eine unausgesetzte Arbeitsamkeit; daß aber die Ar­ beit innerhalb des gegebenen Systems nährt, das ist teils durch den Vorse­ hungsglauben, teils durch die Wirtschaftspolitik der Regierungen und die Dünnheit der Bevölkerung gesichert. In möglichst abgeschlossenen Han­ dels- und Erzeugungsgebieten wird nach dem Prinzip des Nahrungsschutzes jedem seine Sphäre garantiert; dafür ist er Fleiß und Dienstwilligkeit schul­ dig. So ist zu erwarten, daß "keinem Untertanen die Notdurft zu seinen Le­ bensmitteln außer sonderbarer Strafe und Verhängnis Gottes und sein Ver­ schulden mangele"lOO. Beweglichkeit der Güter und des Besitzes, auch der Menschen, wird nach Möglichkeit verhindert, Fremde und Vaga­ bunden werden abgeschoben. Das Ziel der Arbeit ist, wie für die mittelalter­ liche Wirtschaftslehre, das Auskommen und das Ü brighaben für Liebes-

a

In A folgt: also

97 Das Zitat findet sich in Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürsten-Stat (1 687), S. 206 f. 98 Ebd., S. 207. Seckendorff spricht freilich nur von "Zunfft- und Handwercks-Re­ geln". 99 Ebd., S. 2 1 0. 100 Ebd., S. 205.

1. Das Luthertum

239

zwecke. Der Reichtum und Ü berfluß ist volkswirtschaftlich erwünscht, aber kein Ziel für das Individuum;a b ist esb nicht bloß der überwiegend agrarische Charakter des Luthertums und der Boden unentwickelter wirt­ schaftlicher Verhältnisse, der sich in dem Ausschluß oder der starkenC Ein­ schränkung des Zinses äußert. Es ist die d uralte christliched Abneigunge gegen den Besitz und seine Gefahren, die hier vor allem wirkt. Die Pflege des innern Menschen und des Ge l fühlslebens, die Verwerfung der sündigen Welt und ihrer Versuchungen läßt trotz mancher obrigkeitlicher merkantilistischer Versuche den Geist des Kapitalismus nicht aufkommen. Eine so erzogene Bevölkerung stellt gute Beamte, gute Untertanen, gute Soldaten und willige Arbeiter, aber bringt keine Initiative und Planmäßigkeit des individuellen wirtschaftlichen Handelns hervor. Es ist eine sonderbare Verschränkung gegenüber dem Calvinismus. Ist dieser in seiner puritanischen Strenge dem Vergnügen und dem Lebensgenuß viel feindlicher als das Luthertum, so ist wiederum die Askese des Luthertums der Entwickelung der modernen Wirtschaft und des Kapitalismus, der Technik und der Unternehmungslust viel feindlicher als der Calvinismus, der diese Dinge für das Gedeihen des christlichen Gemeinwesens benutzen zu müssen meinte f. Hier wirken Mittelalter und kanonisches Recht im Luthertum fort, während der Calvinismus es hier scharf durchbrochen hat, um an anderen Punkten um so schroffer alte Wege zu gehen. AlIes in allem ist die ethische Kultur des Luthertums eine Kultur des christlichen Patriarchalismus.101 Wenn sie auch durchgehends die Züge

A: Individuum. a b - b A: Es ist A: äußersten c d-d A: religiös-ethische In A folgt: des Asketismus e f A: meint

101

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 522.

B, C 551

A 333

Gesamtcharakter der lutherischen Ethik.

240

B. C 552

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7. Jahrhundert)

der a sinkenden deutschen Kultur zeigt, so ist sie bin ihre mb eigentlichsten Wesen doch bedingt durch den religiösen Geist Luthers. C Die Erfolge der Reformation waren in ihrer ersten, größten Zeit allerdings bewirkt wor­ den durch das Auftreffen der lutherischen Gedanken auf eine in der Eman­ zipation und Neubildung begriffene Gesellschaft. Seine Glaubensidee hatte die Bildung der Gemeinde von unten herauf und damit die freie Korporation gefordert. Aber indem diese freie Korporation in unheilbaren Zusammen­ stoß mit seinem immer festgehaltenen Ideal der Einheit der Lehre und Ob­ j ektivität der Erkenntnis geriet, wandte er sich zu einem rein autoritativen Aufbau im Sinne des neuen antikorporativen Fürstenrechtes. Damit vertrug sich in der Tat auch sein Ideal objektiven Kirchenturns besser. Ä hnlich hat­ ten Luthers wirtschaftliche Ideale die Angemessenheit des Arbeitsergebnis­ ses zur Arbeit gefordert. Aber als die Bauernrevolution ihren Anteil an der Neubildung der Gesellschaft selbst in die Hand nahm, da schlug Luther sich auf die Seite des Absolutismus und entschied damit wenn nicht das Schicksal Deutschlands, so doch das des I Luthertums. Dieser Geist dauerte fort, auch nachdem der enge konfessionelle Kleinstaat zerbrochen und der deut­ sche Niedergang überwunden war: der setzted sich fort in der Gemütstiefe und dem Gefühlsreichtum der neueren deutschen Poesie und Spekulation, in dem patriarchalisch bevormundenden Geiste des fridericianischen Abso­ lutismus, in der Organisationslosigkeit und Bescheidenheit des deutschen Arbeiters bei Beginn der Industrialisierung Deutschlands und in den sozial­ ethischen Programmen der konservativen Partei. eAus der Innerlichkeit des Luthertums, die kein Gesetz und kein künstliches Machen kennt, aus seiner theistischen Mystik, der die wahre Natur die Einheit des Menschen mit Gott ist, ging die große deutsche Spekulation mit ihren Gedanken eines natürlich-geistigen Weltprozesses und einer sich frei entfaltenden Auto­ nomie des Geistes hervor. Aber ebenso ist es in ihm mitbegründet, wenn diesem Idealismus der Ü bergang zu dem Aufbau eines sozialen Ganzen so schwer wird, in dem die Freiheit des Individuums mit der Einheit des In A folgt: seit dem Scheitern der Reichsreform, der Niederschlagung des Bauernkrieges, der großen Preisrevolution und der Ä nderung der Handelswege überall b - b A: im A: Sie ist die gleiche in den von der theologischen Literatur Deutschlands abhän­ c-c gigen skandinavischen Ländern, und sie wirkt d-d A: sie setzt A: Vielleicht führt von hier aus eine leise Nachwirkung auch zu dem alle geistige e-e Kultur und Religion in sich aufnehmenden Staat Hegels, der freilich in das Corpus Christianum die ganze Fülle moderner weltlicher Ethik aufnimmt. a

11. Der Calvinismus

241

Ganzen und die realen Lebensbedingungen mit den idealen Zielen des gei­ stigen Lebens sich einigen.e 11. Der Calvinismus. Ein ganz anderes Bild bietet trotz der nahverwandten theologischen Grundlage der Calvinismus. Hier herrscht Einheit und Ge­ samtbewußtsein trotz des auch hier selbstverständlichen landeslcirchlichen Prinzips, hier gibt es gemeinsame Aktion und sogar ein reformiertes Gesamt­ konzil, hier findet Fortschreiten und Ausbreitung im weitesten Maße statt, hier wird auch die profane Kultur ganz anders von der geistlichen angeeignet, befördert und organisiert. Der Grund dieser andersartigen Entwickelung liegt teils in der anderen Art ihres Bodens - es ist der geistig, politisch und wirtschaftlich höchst entwickelte Teil Europas, der nach Eintritt der spa­ nischen Friedhofsstille in Italien die Führung auf I allen Gebieten über­ nimmt -, teils in den besonderen Geschicken dieses Teils von Westeuropa, den Fügungen des Kriegsglücks und den Wandlungen der Seeverhältnisse, die gerade Holland und England zu großen Seemächten werden ließen, teils und vor allem in eben den Abweichungen der religiösen Idee, die den Calvi­ nismus von seiner Grundlage im Luthertum schieden. Es ist die Aufnahme der täuferisch-spiritualen und pietistisch-ethischen Elemente in das System Calvins, die ihm von Straßburg aus zugeflossen sind, die eiserne Festigkeit, die der Prädestinationsgedanke einzuflößen vermag, die Ausbildung einer bi­ blisch begründeten Kirchenorganisation, die dem lutherischen, tatsächlich an katholische Ü berlieferungen sich anschließenden, territoriallcirchlichen jus humanum ein anti katholisches, evangelisches jus divinum zur Seite stellt, und schließlich die strenge Einheitlichkeit der Lehre, die, von Hause aus im Besitz der einzigen wirklichen Dogmatik des Reformationszeitalters, der christlichen Institution, von den Unsicherheiten und Lehrstreitigkeiten der werdenden lutherischen Dogmatik verschont geblieben ist und trotz ver­ schiedener landeslcirchlicher Konfessionen doch eines eigentlichen Symbols nicht mehr bedurfte. Auch I hier ist es ein Zeitalter des Krieges, das von der neuen Kirchenbildung eröffnet wird. Aber der Krieg wird nicht möglichst vermieden und erstaunt oder widerstrebend als göttliche Züchtigung für sün­ dige Unvollkommenheit hingenommen, sondern als die natürliche Folge der Kirchenspaltung begriffen und daher nicht bloß zur Verteidigung, sondern auch zum Angriff und zur Sicherung geführt. Die Gotteskriege des Alten Te­ stamentes und die Stimmung der Kreuzzüge lebt wieder auf; militärische Ausdrücke wie die Armee der Heiligen, der Kriegsdienst Christi, das Fähn­ lein Jesu, beherrschen die calvinistische religiöse Sprache. Genf lag im Zentrum Westeuropas vor den Toren Frankreichs, Italiens und Deutschlands und unter dem Schutz der Eidgenossenschaft; der geist­ liche Diktator Genfs sah in ihm das große Seminar einer calvinistischen

Vetwandtschaft und Unterschied von Luthertum und Calvinismus.

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B, C 553

Ausbreitung.

242

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C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7 . Jahrhundert)

Weltkirche, die durch die verschiedenen Landeskirchen sich erstrecken sollte. 102 Zunächst führte die Verbindung mit der Eidgenossenschaft zu einer Vereinigung mit den Zwinglischen Kirchen der Schweiz, die an ihrem Staatskirchentum und ihrer Theologie nichts änderten, aber allmählich von selbst dem calvinischen Geiste erlagen. Im Consensus Tigurinus (1 549) 1 03 schloßa Calvin einenb Kompromiß in der Abendmahlsfrage mit Bullinger, dem Nachfolger Zwinglis, und nach mancherlei Reibungen wurdec umge­ kehrt auch die von Bullinger für den Pfälzer Friedrich IU. verfaßte Bekennt­ nisschrift von Genf anerkannt (1 564) . So entstandd die Confessio Helvetica posterior104, eines der Hauptbekenntnisse des Calvinismus. Noch näher standene Calvin die Nachbarkirchen der französischen Schweiz, die von Fa­ rel organisierte Neuenburger und die von Viret in beständigem Kampf mit der bernischen Obrigkeit geleitete Waadtländer Kirche. Weiterhin erwirktef Calvin den piemontesischen Waldensern durch eine schweizerisch-deutschfürstliche Gesandtschaft Ruhe. In dem autonomen, I der Schweiz verbün­ deten Graubünden bekannteg sich ein Teil der dort frei sich bildenden Gea

b c

d e

f

g 102 103

104

A: schließt A: ein A: wird A: entsteht A: stehen A: erwirkt A: bekennt Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 522. Der Consensus (consensio mutua in re sacramentaria ministrorum Tigurini ecclesiae et Joh. Calvini) formuliert die im April 1 549 in Zürich erzielte Verständigung in der Abendmahlsfrage zwischen Heinrich Bullinger für die zwinglianische Partei und Jean Calvin. Das zweite Bekenntnis für die gesamte Schweiz, das der confessio helvetica prior vom 4. Februar 1 536 folgt und den Abschluß der konfessionellen Entwicklung in der Schweiz markiert, geht auf ein von Bullinger privat verfaßtes Bekenntnis aus dem Jahre 1 564 zurück, die "expositio brevis". Bullinger sendet es im Dezember 1 565 gemeinsam mit der von ihm erbetenen Apologie des Heidelberger Katechis­ mus an den pfälzischen Kurfürsten Friedrich III. Die zustimmungsvolle Aufnahme des Bekenntnisses in der Pfalz sowie Theodor Bezas Forderung nach einem gemein­ samen Bekenntnis für Genf und Zürich veranlaßten den Züricher Rat, das Bekennt­ nis zu genehmigen und den übrigen reformierten Orten der Eidgenossenschaft zu­ senden zu lassen, die es bald annahmen. Allein Basel folgte erst später, bald jedoch auch andere Länder mit reformierten Gemeinden: Schotdand, Ungarn, Böhmen, Polen, Holland.

11.

Der Calvinismus

243

meinden zur Confessio Helvetica posterior. Auch weit nach dem Osten reichtea die Propaganda: in Polen schloßb ein Teil des halbsouveränen Adels und der Städte, in den Wirren Ungarns der überwiegende Teil der Magyaren sich dem Genfer Glauben an, während die Deutschen des Ungarlandes dem Luthertum verbliebene. Auch in Deutschland selbst machted der Calvinismus mächtige Fortschritte, indem das in der Konkordienformel sich verengende Luthertum ihm die Anhänger des Philippismus und eines weniger intoleranten Luthertums in die Arme trieb; dabei blieben hier meistens die Grundzüge des lutherischen Staatskirchen turns bestehen. Der wichtigste Gewinn war die Kurpfalz, wo Friedrich III. im Heidelberger Katechismus ein Haupt­ symbol des gemäßigten Calvinismus schuf. Dann folgten Nassau-Dillenburg und einige benachbarte Grafschaften, Hessen-Kassel, Bremen, Anhalt, Lippe. In Kurbrandenburg trat Johann Sigismund zu ihm über und legte damit den Grund zur Unionspolitik seines Hauses. Eine echt calvinische Kirche warene aber unter allen diesen deutschen Gebieten nur die nieder­ rheinischen und ostfriesischen I Synodalkirchen, die von niederländischen Flüchtlingen organisiert wurdenf und lange Zeit nach den Niederlanden gra­ vitierteng• Es handelte h sich hierbei zumeist i um die höchstkultivierten und unter dem Einfluß des Westens stehenden Teile Deutschlands. Der Calvinismus genoß nicht nur das Ansehen der ethisch strengeren, sondern auch das der feineren und vornehmeren Religion, wie ja auch in dieser Hinsicht bereits Calvins Persönlichkeit sich charakteristisch von der Luthers unterschieden hatte, und wie die calvinistischen Fürstenhöfe hierin den lutherischen vorangIngen. Das Wichtigste aber ist die Ausdehnung nach dem Westen, nach Frank­ reich, den Niederlanden, Schottland und England. Seinerfranziisischen Heimat war Calvins Liebe vor allem zugewandt, soweit für den Theologen nationale Gesichtspunkte überhaupt in Betracht kom­ men durften i. Ganz persönlich hat er durch seinen Einfluß und seine geist­ liche Beratung den dortigen Evangelischen, die von humanistischen und a

b c

d e

f g h

A: reicht A: schließt A: verbleiben A: macht A: sind A: werden A: gravitieren A: handelt A: stets A: dürfen

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C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7. Jahrhundert)

lutherischen Anfängen her sich längst ihm zugewandt hatten, die Notwen­ digkeit an das Herz gelegt, ihren Glauben zu bekennen und sich zu organi­ sieren; das heimliche und unorganisierte Dasein sei bequemer und ungefahr­ lieh er, aber das Bekenntnis sei Pflicht und Bedingung des Erfolges. So entstand 1 559 auf einer Versammlung in St. Germain die französische Hu­ genottenkirche mit ihrem Bekenntnis und ihrer discipline ecclesiastique.1 05 Zugleich erstand in Coligny der französischen Kirche ihr großer Führer, und die religiöse Bewegung verband sich mit den dem werdenden Absolutismus entgegengesetztena Elementen. In einer Reihe blutigster Kämpfe errang sich diese Kirche dann endlich im Edikt von Nantes 1 598106 die Duldung ihrer Organisation und militärische Garantieen ihres ungestörten Daseins. So blieb sie 31 Jahre lang unter weiteren Kämpfen ein Staat im Staat, bis sie ihrer politisch-mili l tärischen Sonderorganisation beraubt und im Gnadenedikt von Nimes 1 629107 auf rein kirchliche Duldung gesetzt wurde. So blieb sie bis zur Wiederaufhebung des Edikts von Nantes 1 685108 und ihrem damit bewirkten Untergang. Nicht minder heiß, aber von dauernderem Erfolge a

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107

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A: entgegenstrebenden Nachdem 1 557 auf der Provinzialsynode von Poitiers schon eine Kirchenordnung in Ü bereinstimmung mit den Grundsätzen des Calvinismus verabschiedet worden war, trat vom 25. bis 29. Mai 1 559 die erste Nationalversammlung der reformierten Kir­ chen in Frankreich in St. Germain-des-Pres zusammen und konstituierte sich dort als eglise reformee. Dabei wurde die confessio gallicana Jean Calvins mit leichten Modifikationen angenommen. Nach acht Religionskriegen zwischen 1 562 und 1 598 kam es unter Heinrich IV nach vierjährigen Verhandlungen mit den protestantischen Versammlungen von Nantes, Saurnur und Loudun zur Anerkennung der Hugenottenkirche durch das Edikt von Nantes (1 3. April 1 598) . Es gewährte Gewissensfreiheit, Recht auf privaten Gottes­ dienst an bestimmten Orten, sicherte den Hugenotten die Möglichkeit des Zutritts zu allen Staatsämtern, garantierte ihnen rechtlichen Schutz und gesicherte Rück­ zugsorte. Unter Kardinal Richelieu wurden die politischen Sonderrechte der Hugenotten weit­ gehend eingeschränkt und die Rückzugsorte der Hugenotten militärisch überwältigt. In dem im Juli 1 629 erlassenen Gnadenedikt von Nimes wurden die politischen und militärischen Bestimmungen des Ediktes von Nantes aufgehoben, die rechtlichen und religiösen Bestimmungen dagegen bestätigt, allerdings ohne Sicherheitsgarantien. Im Oktober 1 685 verfügte Ludwig XIV mit dem Edikt von Fontainebleau die Aufhe­ bung des Ediktes von Nantes und bewirkte damit das faktische Verbot des Protestan­ tismus in Frankreich. Einige hunderttausend refugies verließen Frankreich und fan­ den insbesondere in Holland, England, Brandenburg, Hessen und in der Pfalz Aufnahme.

II. Der Calvinismus

245

war der Kampf in den Niederlanden. In diesen burgundischen Erblanden des Kaisers hatten die lutherische und täuferische Bewegung von Anfang an eine blutige Unterdrückung gefunden, waren aber trotzdem nicht vernichtet, sondern vielmehr zum radikalen Antikatholizismus, zum Genfer Glauben, gedrängt worden, ohne daß übrigens die anderena, namentlich die zürcheri­ schen und spiritualistischen Elemente, verschwunden wären. Calvins Ein­ fluß wirkte auch hier auf Organisation hin. Im tiefsten Geheimnis wurden seit 1 560 in den Südniederlanden reformierte Gemeinden gebildet und mit einer Konfession 1 56 1 und einer discipline ecc1esiastique 1 564 ausgestat­ tet.1 09 Daraufhin begann Philipp H. den Vernichtungs kampf gegen die schleichende Bewegung, die zugleich unterstützt wurde durch die allgemeine Erregung gegen das absolutistische spanische Regiment und gegen seine in die ständischen Verhältnisse tief eingreifenden Maßnahmen. Weit über die I Kreise der religiös Beteiligten hinaus entstand ein Aufstand der Nation. Hier kam es auch endlich zu einer Kirchenordnung für die gesamten Niederlande auf der Emdener Nationalsynode 1 57 1 1 1 °. bAus den Wirren der allgemeinen Anarchie erhob sich dann auch ein neues Staatsgebilde. Auf der Genter Pazifikation 1 5761 1 1 vereinigten sich die Generalstaaten, die Vertreter der 1 3 Provinzen, schlossen einen Bund zur Ausrottung A: andern b - b A: Das Ergebnis des Krieges und der konfessionellen Wirren war schließlich die Trennung der südlich-belgischen, beim Katholizismus verbleibenden und der nördlich-holländischen evangelischen Provinzen. Die letzteren schlossen 1 579 in der Utrechter Union einen Staatenbund, erklärten Philipp für abgesetzt und berie­ fen Wilhe1m, den Schweiger, und dann seinen Sohn Moritz zum Statthalter und Bundesfeldherrn. Mit dem Waffenstillstand 1 609 war die Freiheit und der Besitz des Evangeliums erstritten; die geringen andersgläubigen Minoritäten wurden ohne politische Rechte zur Duldung zugelassen. Der Westf:ilische Friede erkannte schließlich diesen neuen Zustand auch völkerrechtlich an. a

Die confessio belgica wurde 1 56 1 von Guy de Bres (1 522-1 567) , einem Schüler Cal­ vins, auf der Grundlage der confessio gallicana verfaßt. Sie wurde von der calvinisti­ schen Synode in Antwerpen 1 566 und auf der Synode von Dordrecht 1 6 1 9 ange­ nommen. Sie zeigte, im Gegensatz zur confessio gallicana, kongregationalistische und demokratische Tendenzen. 110 Vom 4. bis 1 3 . Oktober 1 57 1 tagte die erste offizielle niederländische Nationalsyn­ ode in Emden, außerhalb der Niederlande, weil die Herrschaft des spanischen Ge­ neralstatthalters, des Herzogs von Alba (1 567-1 573) , eine Versammlung auf nieder­ ländischem Gebiet ausschloß. 1 1 1 Am 8. Dezember 1 576 schlossen die niederländischen Provinzen ein Bündnis zur Vertreibung der spanischen Truppen.

1 09

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C. Der Alt-Protestantismus (16. und 17. Jahrhundert)

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der Fremdherrschaft, stellten die Herrschaft der reformierten Kirche in Hol­ land und Seeland fest, vereinbarten im übrigen Duldung der Protestanten und proklamierten Wilhelm von Oranien zum Statthalter und Bundesfeld­ herrn. Gegenüber den Schwierigkeiten der Südniederlande wurde es dann freilich nötig, den Staatenbund in der Utrechter Union 1 5791 1 2 auf die 7 nördlichen Provinzen zu beschränken und damit Flandern, Spanien usw. dem Katholizismus preis zu geben. Aber dieser Nordbund behauptete sich dann auch in 30jährigem Kampf, vor allem mit Hilfe Englands, das 1 578 die spanische Seemacht vernichtetel 1 3, und mit Hilfe des Frankreichs Hein­ richs IV, der die spanische Macht nicht allzu groß werden lassen durfte. So kam es 1 609 zum Waffenstillstandl l4, zur Anerkennung der Souveränität des neuen Staates auch durch Spanien, das ihm zugleich freie Fahrt durch die Meere bewilligen mußte. Der Westfälische Friede brachte dann auch völker­ rechtlich die Anerkennung. Die Regelung der kirchlichen Frage verblieb den Einzelstaaten, die den Calvinismus zur Staatsreligion machten, aber anders­ gläubige Minoritäten, darunter Täufer, Spiritualisten, Erasmianer, ohne po­ litische Rechte anerkannten. Diese Mischung gibt dem niederländischen Religionwesen von Hause aus trotz aller Heftigkeit seines Calvinismus ein besonderes Gepräge.b Noch länger dauerte der Kampf in Schottland. Dort hatte sich eine lutherische Richtung in den Wirren des Kampfes zwischen Adel und Krone zu behaupten vermocht. Aus ihr ging als Schüler des bereits von Bullinger stark beeinflußten Märtyrers Wishart der furchtlose John Knox (t a 1 572) hervor, der von Anfang an sich und den Seinen den entschlossenen

a

A: gest.

1 12 Als der spanische Statthalter Alexander Farnese, Herzog von Parma, im Januar 1 579 die niederländischen Südprovinzen durch Zusicherung ihrer alten Rechte für Spa­ nien zurückzugewinnen vermochte und in der Union von Arras vereinte, schlossen sich die sieben nördlichen Provinzen am 23. Januar 1 579 zur (Gegen-)Union von Utrecht zusammen, die sich 1 58 1 für unabhängig erklären wird. 113 Die Vernichtung der spanischen Armada teils durch die Ü berlegenheit der eng­ lischen Artillerie im Kanal, teils durch Stürme auf dem Rückweg um Schotdand und Irland, trug sich im Sommer und Herbst 1 588 zu. 114 Am 26. Juni 1 58 1 proklamierten die in der Union von Utrecht zusammengeschlos­ senen niederländischen Nordprovinzen als Republik der Vereinigten Niederlande gegenüber Spanien ihre Unabhängigkeit. Spanien leitete militärische Auseinander­ setzungen ein, die jedoch erfolglos blieben und bis zum zwölfjährigen Waffen­ stillstand vom 9. April 1 609 andauerten. Nach dem Fristablauf 1 62 1 flammten die Kämpfe erneut auf, erst 1 648 kam es im Haager Frieden zur endgültigen Anerken­ nung der neuen Republik durch Spanien.

11.

Der Calvinismus

247

Kampf des Glaubens gegen den Unglauben zum Grundgesetz machte und im Kampf gegen die ungläubige Obrigkeit die letzten Konsequenzen des Widerstandsrechts bis zum Tyrannenmord zog. Von der Galeere befreit ging er nach Genf und kehrte von da 1 555 als der gewaltigste Kämpfer für die cal­ vinistische Lehre nach Schottland zurück. Ganz nach den Prinzipien Calvins drang er auf Bekenntnis, Kirchenordnung und Organisation. So entstand der Covenant, der calvinistische Adels bund, und auf den Ländereien dieses Adels die "Gemeinde Christi" in Schottland. Damit wurde aber schließlich die allgemeine Reformation des Landes das Ziel, was nur durch I einen Kampf gegen die Regentin und deren Tochter Maria Stuart zu erreichen möglich war. Mit der Vertreibung Maria Stuarts wurde 1 567 durch das Par­ lament die Aufrichtung der presbyterianischen Kirche möglich und deren Anerkennung in den Krönungseid aufgenommen. Versuche Jakobs VI., diese Bestimmungen wieder aufzuheben, I scheiterten und führten 1 592 zu einer erneuten Festigung des Presbyterianismus. Aber als Jakob im Erbgang die englische Krone übernahm, entstanden Versuche, Schottland zu anglika­ nisieren. Dagegen erhob sich schließlich ein neuer Covenant und gab das Signal zu den großen englischen Kämpfen. In diese hineingezogen erlangte auch Schottland eine völlige Sicherung seiner kirchlichen Lage erst durch die glorreiche Revolution 1 689 und ist seitdem das strengste calvinistische Land Europas geblieben. Damit ist denn auch bereits schon die Entwickelung des Calvinismus in England berührt. Aber hier ist er nur sehr bedingt zum Siege gelangt, und seine Geschicke sind hier so eng mit dem besonderen Gang der englischen Dinge und der Entwickelung des Anglikanismus verbunden, daß diese wichtigste und folgenreichste Entfaltung des Calvinismus erst bei der Darstellung des Anglikanismus zur Sprache kommen kann. Der Calvinismus begnügte sich nicht mit Europa, er streckte seine Arme auch nach dem großen Land der Zukunft, nach dem scheinbar vom Katho­ lizismus schon endgültig besetzten Amerika, aus; dies freilich nicht planmä­ ßig, sondern zufälliger- und gezwungenerweise. 1 1 5 Auch geschaha es erst ziemlich spät, nachdem sein Besitzstand in Europa abgeschlossen war, im 1 7. Jahrhundert und im Beginn des 1 8. Jahrhunderts. Im Süden des Ostran­ des ließen sich anglikanische Siedler nieder in direkter Abhängigkeit von der englischen Krone, die Grundlage des späteren aristokratischen, Sklaven hal­ tenden und Plantagen bauenden Südens. Die Sklaverei wurde mit der Verflu-

a

115

A: geschieht

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 522 f.

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C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

chung Harns gerechtfertigt. Von ihnen durch die holländischen Kolonieen getrennt, bauten sich im Norden Scharen von bäuerlichen und handwerker­ lichen Puritanern an, die seit der Bedrückung durch die Stuarts England ver­ ließen und auf Grund königlicher Charters wenigstens dort freie nonkonfor­ mistische und politisch sich selbst verwaltende Kolonieen bilden durften. Die ersten sind die Gründer von Plymouth (1 620) , die von der amerikani­ schen Ü berlieferung so hoch gefeierten Pilgerväter, die Sendlinge der eng­ lischen Flüchtlingsgemeinde zu Leyden. Von ihnen ging dann die Besiede­ lung von Massachusetts aus, des Hauptstaates dieser Gruppe, an den sich bald Newhaven und Connecticut reihten, während die weiter nördlichen Sie­ delungen von New-Hampshire und Maine unter königlichem und anglikani­ schem Einfluß standen und andererseitsa Rhode-Island vom Puritanismus zum Independentismus fortschritt. Die vier Erstgenanntenb fanden sich da­ her auch bald zu einer Konföderation zusammen, dem Grundstock der spä­ teren Union und des nordamerikanischen Puritanerturns. Dieses war zwar von seinen Ursprüngen her kongregationalistisch gefärbt und hielt auch an der Selbständigkeit der I Einzelgemeinde fest, die lokale Selbstverwaltung mit der religiösen Selbstregierung verbindend. Aber dogmatisch und ethisch wurde der hier konsequent und ungehindert entwickelte Puritanismus doch rasch wieder zu einer völlig exklusiven Einheit, die zunächst durch die Be­ trauung des Staates mit der dogmatischen und ethischen Kontrolle und dann auch durch gelegentliche Synoden der I Ortskirchen strengstens behauptet wurde. Er ist schließlich echtester und engster Calvinismus geworden, nur ohne streng synodale Organisation, aber mit um so nachdrücklicherer Be­ hauptung des moralisch-religiösen Gemeinschaftsideals durch Staat und Prediger, die überall gemeinsam operieren. Eine von Hause aus bereits kor­ rekt calvinistische Einwanderung ginge erst von den schottisch-irischen Presbyterianern aus, die dem Druck der anglikanischen Kirche wichen und die strengsten schottisch-genferischen Prinzipien, Calvins kirchliches jus di­ vinum, mitbrachten. Dazu kamen dann später Nachschübe strenger Schot­ ten, und holländische, hugenottische und pfälzische Einwanderungen, die sämtlich ihr besonderes Kirchenturn aufrichteten. In diesem nordamerikani­ schen Calvinismus, verbunden mit der angelsächsischen Selbstverwaltung und der Stählung durch den harten Kampf des Koloniallebens, bildeten sich die Charakterzüge der zur zukünftigen Herrschaft berufenen Rasse, deren Freiheitssinn, strenge Moralität und granitene Gläubigkeit sie zum Beherr-

a

b c

A: andrerseits A: erstgenannten A: geht

11. Der Calvinismus

249

scher des hier entstehenden Völkergemisches, zur bildenden Kraft im Zen­ trum der modernen Völkerwanderung machen solltena. Ihre Festigkeit erhalten alle diese Schöpfungen durch den reformierten Kirchenbegriff. 1 1 6 War der lutherische Kirchenbegriff in seinem gläubigen Idealismus und seinem unbedingten Vertrauen zu der die Bekehrung wirken­ den Wunderkraft des reinen Evangeliums ein sehr allgemeiner und unbe­ stimmter Glaubensbegriff, so war eben auch von einem solchen Kirchenbe­ griffe aus eine Organisation sehr schwer möglich. Er umschloß in allen äußerlichen Kirchenverfassungen der Welt alle, die irgendwie durch diese Vermittelung mit dem reinen Evangelium in Berührung kamen. Die Kirche ist erkennbar nur am reinen Wort und Sakrament, und das kann über die ganze Welt hin in den buntesten Formen enthalten sein; aber Wort und Sa­ krament sind göttliche Wunderkräfte und werden nicht leer zurückkommen. Für eine Organisation blieb bnach vergeblichen Anläufen, diese Erlösungs­ anstalt des reinen Wortes nach ihrer menschlichen Seite als Gemeinde­ kirchen zu konstruieren/ nichts anderes übrige als alle Ordnungen der weltlichen Obrigkeit zu überlassen und die Kirche lediglich an der rechten Lehre er­ kennbar zu machen und dementsprechend auch im Predigt- und Schulamt für reine Lehre zu sorgen. Die lutherischen Kirchen wurden lan­ desherrliche Predigtanstalten, die von sich aus nur für reine Lehre zu sorgen haben; denn diese allein vollbringt in verborgener Weise das Wunder der Rechtfertigung. Je mehr die lutherischen Kirchen dann gegen Papisten und Sakramentierer sich zu wehren hatten und je weniger sie in diesen fremden Kirchen von reiner Lehre finden konnten, um so mehr engte sich der weite unbe l stimmte lutherische Kirchenbegriff auf die Predigtanstalten der reinen Lehre ein, und um so gründlicher wurde der zur Aufrechterhaltung der reinen Lehre notwendige Zwang den Händen der Regierungen überantwor­ tet. Das Wunder der Bekehrung durch das reine Wort bedurfte I stark der Zwangsnachhilfe, wenn es zu Kirchen des reinen Wortes kommen sollte; aber diese unvermeidliche Zwangsnachhilfe wurde dem großen christlichen Bruder, der Obrigkeit, zugeschoben, und die Kirche bewahrte so scheinbar den freien Charakter der rein geistlichen Wunderwirkung durch das Wort. Dabei trat der in dem Bekehrungswunder ursprünglich enthaltene Prädestia A: sollte b - b A: unter solchen Umständen naturgemäß c A: übrig,

1 16

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 523.

Reformierter Kirchenbegriff der Theokratie.

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nationsgedanke immer mehr zurück bis zur Anerkennung der Widerstands­ möglichkeit, und damit fiel dann auch jeder Antrieb weg, die Gemeinde der Heiligen als festen, von Hause aus bestehenden Kern der Kirche zu behan­ deln, der dem Ganzen den Charakter aufprägen müsse. Die Heilsanstalt der reinen Predigt wendet sich vielmehr an die bald in der Gnade Stehenden3 und bald aus ihr Fallenden und kann nichts tun, als diesen Individuen predi­ gen in der gläubigen Gewißheit, daß das Wort Gottes immer stark genug sein werde, eine erhebliche Zahl zu bekehren, denen dann als Gerechtfertigten al­ les übrige und insbesondere die Heiligung immer wieder von selbst zufallen werde. Demgegenüber b ist der reformierte Kir­ ehenbegriff von Hause aus ganz anders angelegt und darum ganz anders zur Organisation befähigt. Er beruht auf der Grundüberzeugung, daß mit einem so unbestimmten Kirchenbegriff, einer solchen Passivität gegenüber der rei­ nen Lehre und solcher Selbstauslieferung an den guten Willen der christ­ lichen Regierung nichts zu erreichen ist. Er rechnet mehr realistisch mit der Notwendigkeit der Organisation und des Zwanges, mit den menschlichen Schwächen der Passivität und Bequemlichkeit und fordert überall die Bil­ dung einer mit den nötigen GarantienC der Kirchenzucht versehenen und sich auch äußerlich hervorhebenden kirchlichen Gemeinschaft. Aber diese Berücksichtigung der realen menschlichen Charaktereigenschaften und Da­ seinsbedingungen verbindet er auch seinerseits mit dem höchstgespannten Supranaturalismus und vermag sie gerade mit ihm auf eine höchst bedeut­ same Art innerlich zu vereinigen und aus ihm zu verstärken. Die Kirche ist die von Christus im Himmel regierte Weltgemeinde der Erwählten. Sie be­ steht nicht in Institutionen und Gnadenmitteln, sondern in den Personen der Erwählten. Das Objektive an ihr ist die Herrschaft Christi, der die Er­ wählten innerlich regiert und ihnen sein Gesetz gibt. Durchaus spirituali­ stisch, Innerlichkeit und Persönlichkeitsreligion stärker betonend als das Lu­ thertum, ist sie doch durch die Herrschaft Christi zugleich eine Anstalt wie dieses und nicht ein Verein. Und zugleich vermag der Calvinismus aus dieser inneren Herrschaft Christi die organisierte Landeskirche strenger und prak­ tischer abzuleiten als das bloß von der Sichtbarkeit der Gnadenmittel aus operierende Luthertum. Indem er den im Bekehrungswunder enthaltenen Prädestinationsgedanken aufs höchste steigert und die Auswirkung der Prä-

a

b c

A: stehenden A: Dem gegenüber A: Garantieen

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251

destination gerade in dem I göttlich bewirkten Glauben an die Bibel bestehen läßt, gewinnt er I den Gedanken einer von Hause aus durch Gott und Christus fest bestimmten Gemeinschaft der Heiligen; diese aber muß als solche erkennbar sein und ihren Charakter auch der äußerlich kirchlichen Gemeinschaft aufprägen, indem sie alles Unheilige und Unreine ausschließt. Sie braucht nicht erst ge­ sammelt und gebildet zu werden, sondern sie ist da und bedarf nur einer Darstellung. Diese Darstellung bewirkt aber wiederum die Bibel selbst, indem sie das verordnete Mittel der Erwählung ist und zugleich die Grundsätze einer Darstellung und Bewährung der reinen Gemeinde der Heiligen in den allgemeinen Grundzügen einer biblischen Kirchenverfassung enthält. Die mit Predigern, Ältesten, Ar­ menpflegern und Lehrern versehene, die Kirchenzucht übende Gemeinde ist die von der Erwählung selbst in unserer Zustimmung zu der Bibel gewirkte Darstellung der heiligen Gemeinde. Die Kirche ist so eine Heiligungsanstalt, die ihre a prädestinatianische Krafta in der reinen Ge­ meinde darstellt b Sie hält auchb die Ungläubigen unter dem Joch der WahrheitC zur Ehre Gottes. So ist sie die Königsherrschaft Christi, der unter Ausschluß jeder menschlichen Herrschaft allein durch die Bibel die Gemeinde regiert und in der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit seine ko­ ordinierten Organe hat; die letzteren müssen sich dabei eine beständige Kritik nach dem Maßstab der Bibel gefallen lassen. Den größeren Rationalismus, den die Berücksichtigung der realen Lebensbedingungen gegenüber dder lutherischen bloßen Glaubenszuversicht zur nie völlig versagenden Wirkung des Wortesd enthält, macht ein gesteigerter Suprana­ turalismus wieder wett, der die lutherischen Kompromisse mit der Freiheitslehre und Resistibilität der Gnade verwirft um der strengen, rein übernatürlichen Erwählung willen. An Ausschließlichkeit geben

a-a A: Gläubigkeit b - b A: und c In Afolgt: hält d-d A: dem Glauben des Luthertums

A 340 B, C 559

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B, C 560

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sich Calvinismus und Luthertum nichts nach; aber die Ausschließlichkeit des letzteren ist auf die reine Lehre, die des ersteren auf die reine Kirche begrün­ det. Und die Parole der reinen Kirche ist ein viel stärkeres Organisations­ prinzip. Nach lutherischen Grundsätzen beraten, würden die französischen Evangelischen sich ver­ laufen haben, nach calvinistischen beraten, haben sie den gewaltigen Huge­ nottismus geschaffen. Naturgemäß liegt auch in diesem Kirchenbegriff das mittelalterliche Prinzip der Einheit von Staat und Kirche im Corpus I Chri­ stianum, der gemeinsamen Aufrichtung der christlichen Gesellschaft 3 durch geistliche und weltliche Gewalt zugleich. Das volle reformierte Kirchenideal rechnet genau wie das lutherische auf die christliche Obrigkeit, die über­ haupt die Kirche des reinen Wortes aufrichtet, die volle bürgerliche Oberho­ heit über den Geistlichen behält, in Streitfällen endgültig aus ihrer christ­ lichen Einsicht entscheidet und mit ihrer Polizei- und Finanzmacht die Kirche unterstützt. Daherb hat die calvinistische Kirche mehr relative Freiheit, eine eigene Vertretung und Aktionsfähigkeit, und ihre Kirchenzucht bleibt als geistliche immer unterschieden von den bürgerlichen Rechtsfolgen, die der Staat daran knüpfen kann und soll. cgeht in ihre nicht bloß der Staat, sondern auch die Kirche auf das Ganze I der christlichen Gesellschaft. Die Kirche predigt nicht bloß und wendet sich nicht bloß an die einzelnen, der Bekehrung sich öffnenden Individuen; die Kirche ist vielmehr vermöge der in ihr wirkenden prädestinierenden Gnade eine Heiligungsanstalt und wen­ det sich an das Ganze, unbeschadet der gleichzeitigen Arbeit der christlichen Obrigkeit für die Herstellung eines heiligen, dem Wort Gottes entsprechen­ den Volkes.

a

b c-c

A: Gemeinschaft A: Aber innerhalb dieser Grenzen A: In ihr geht

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So sind durch die eisernen Klammern calvinistischer Logik in dem Kir­ chenbegriff vier schwer zu vereinigende Gedanken eng verbunden: erstens die Innerlichkeit und Individualität des Heilsbesitzes, da die Prädestination in jedem einzelnen rein für sich und zwar völlig innerlich und geistig wirkt; zweitens die Objektivität der Schrift und der von der Schrift getragenen Lehre und Verfassung, indem die Prädestination ja in erster Linie den Glau­ ben an die Schrift wirkt; drittens die Herstellung einer Gemeinde der Heili­ gen, insofern alle Gnadenwirkung durch die Schrift a nur auf die Darstel­ lung der erwählten Gemeinde Christi hinarbeitet und nur in einer solchen Gemeinde die Ehre Gottes sich verwirklicht; viertens die theokratische Ver­ bindung mit dem Staat und die religiös-sittliche Einheit der Gesellschaftb, unter welche zur Ehre Gottes auch die Verworfenen gebeugt werden müs­ sen und an der zu arbeiten die christliche Obrigkeit im Gesamtumfang ihrer Tätigkeit zu ihrer Pflicht gegen ChristusC rechnet. In der Vereinigung von alledem beruht die heroische persönliche Kraft und Ü berzeugung, der or­ ganisatorische Gemeinsinn und die rücksichtslose Herrscherkunst des Cal­ vinismus. I Freilich ist es die Frage, ob deine solched Vereinigung edauernd festgehal­ ten werden konntee• So ist denn auch in den verschiedenen reformierten Ländern bei der Verschiedenheit der allgemeinen Lage der Stand ein recht verschiedener geworden. fFast überall! mußte das Genfer Ideal der Vereini­ gung von Staat und Kirche zurücktreten, da die meisten Kirchen im Kampf gegen eine übermächtige andersgläubige Staatsgewalt entstanden. Doch war das für g den Bestand selbstg noch am ungefährlichsten. Denn die Kirchen­ gemeinschaft war so stark, um faßte so sehr alle Kulturgüter und konnte im Notfall ohne staatliche Macht, durch rein soziale Wirkung, die Kirchenzucht so strenge aufrechterhalten, daß sie auch ohne Staat bestehen konnte. Auch haben sich die kirchlichen Parteien nach Möglichkeit zugleich politisch or­ ganisiert, so daß das Hugenottenturn geradezu zu einem Staat im Staate ge­ worden ist. Die Hauptschwierigkeiten lagenh vielmehr darin, wieweit die Kir-

In Afoigt: ja A: Territorialkultur A: die Kirche c d-d A: diese A: immer festzuhalten ist e-e f-j A: Vor allem g-g A: das Prinzip h A: liegen a

b

B, C 561 Entwicklung der Konsequenzen des calvinisti­ schen Kirchen­ begriffes und Auflösung der politisch­ kirchlichen Theokratie.

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B, C 562

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chenzucht sich wirklich die Bevölkerung zu unterwerfen vermochtea, wie­ weit der Individualismus sich dauernd an die objektiven Heilsmittel der Bibel und Kirchenverfassung bbinden wollteb, und wieweit der bei Calvin noch völlig konservative Geist der UnterwerfungC der Masse unter den geistlich­ weltlichen Organismus samt der im Grunde gut mittelalterlichen Beschrän­ kung des Widerstandsrechtes auf die Stände, Vertreter und untergeordne­ tend Behörden sich gegen radikalere Konsequenzen des Widerstands- und Kontrollrechtes behaupten ließe. I In Genf 1 1 7 , dem kleinen Gemeinwesen, das es unternehmen konnte, ausschließlich für die Religion zu leben, und das zugleich durch einen ewigen Krieg mit Savoyen zusammengehalten wurde, blieben die Verhältnisse, wie Calvin sie geordnet hatte, nur daß nach dem Wegfall seiner gewaltigen Per­ sönlichkeit der Staat begreiflicherweise wieder stärker hervortrat. Den Genfer Verhältnissen am ähnlichsten wurden die Schottlands, wo die streng presbyterianisch-calvinistische Staatskirche durch Adel und Parlament die Herrschaft des Calvinismus geistlich und weltlich durchsetzte und sich um die Krone wenig kümmerte. Nur hat gerade durch den schottischen Refor­ mator Knox das Widerstandsrecht eine über Calvin völlig hinausgehende Umbildung gefunden, indem er auch jeder Minoritat, schließlich bei dem Mangel gesetzlicher Vertreter dem Individuum, die Pflicht zusprach, einen gottlosen und dadurch aus dem Gottesstaat sich heraus l setzenden Monar­ chen zu bekämpfen und zu beseitigen. Erst von ihm rührt die alttestament­ liche Idee der Bundschließungen und der Verwerfung der untreuen Könige

a A: vermag b - b A: bindet A: Unterordnung c B, C: untergeordnete d A: läßt e

117

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 523.

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her. Daher a ist es auch zu begreifena, daß nach der großen englischen Revolution der die schottische Reform ursprünglich tragende Adel größtenteils zum Anglikanismus abfiel. Noch selbständigere Wege aber schlug der Calvinismus in Frankreich ein. Hier stand die Kirche einem mächtigen katholischenb Staate gegenüber und verschmolz die kirchliche Opposition mit dem Versuch des Adels, territoriale Sonderhoheiten dem Königtum wieder abzustreiten. Zugleich machten sich die Bedingungen eines ausgebreiteten Gebietes geltend, für das das Genfer Muster nicht mehr ausreichen konnte. Daraus entstand die Ausbildung desc Calvinismus zur Syn­ odalverfassung und zur kirchlich-parlamentarischen Selbstregierung. Die Einzelgemeinden wurden zusammengefaßt unter Provinzial synoden und diese unter einer Nationalsynode; in den Pausen zwischen den Versammlungen der letzteren amtierte ein gewählter Vorort. Doch liegen alledem de­ mokratische und rein korporative Gedanken noch ferne. Den Independentismus hat die Nationalsynode von 1 644 aufs schroffste verworfen. Die Geistlichen werden bestellt durch die Nachbargeistlichen oder die Provin­ zialsynode, das Konsistorium ergänzt sich durch Kooptation, die Wahlen zu den Synoden stehen bei den Presbytern, und die gewählten Vertreter gehen nur aus ihnen hervor; das Ü bergewicht der geistlichen Führer bleibt gesichert. Immerhin aber ist damit ein folgenreiches Prinzip eines kirchlichen Verfassungsbaus geschaffen und ein föderativ-repu­ blikanisches Ideal nahe gelegt. Auch Schottland hat diese Organisation übernommen, und von ihm geht dann der große englisch-amerikanische Presbyterianismus aus. Desgleichen haben die niederrheinischen und nie­ derländischen Kirchen diese Verfassung in der Hauptsache angenommen. Ein zweiter neuer Zug, den der Calvinismus im Hugenottismus empfängt, ist die Lösung des Verhältnisses zum Staate. Diese Lösung war im Luthertum nicht möglich, dessen konservatives Naturrecht sich mit dem duldenden Vorsehungsglauben und der Verachtung der erbsündigen I Welt dahin vereinigte, alle Staatsgewalt aus ursprünglicher Gewalttat oder erster Okku­ pation abzuleiten, sie durch den Erfolg als von Gottes Vorsehung legiti­ miert anzusehen und sich dieser legitimen Obrigkeit gewissenhaft zu unter­ werfen. Der Calvinismus hatte von vornherein ein ratio­ nalistischeresd Naturrecht und einen stärkeren Glauben an die Bestimmung der von Christus regierten Erwählungsgemeinde zur Herrschaft über die a-a

b c

d

A: rührt es auch A: papistischen A: das A: rationalistisches

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sündige aWelt; so konnte er esO unternehmen, die Herrschaft auch gegen die legitime und überkommene Staatsgewalt aufzurichten oder die Verbindung beider aufzuheben. Aber auch diese Lösung ist, soweit der eigentlich calvinistisch-religiöse Gedanke in Betracht kommt, noch rein theokratisch gedacht: nicht Duldung in einem kirchlich-neutralen Staat, sondern Beseitigung der gottlosen Obrigkeit und ihre Ersetzung durch eine I Gott gehorsame Obrigkeit ist der Gedanke; solange das nicht mög­ lich ist, organisiert sich die Kirche selbst provisorisch als Staat. Sie kämpft nicht um Duldung, sondern um Herrschaft. Die starke Ausdehnung des Wi­ derstandsrechtes und der revolutionären Gedanken war nicht im Sinne Cal­ vins, der im Gegenteil zurückzuhalten und alles in ordnungsmäßige und gesetzliche Wege zu leiten suchte. Aber das war nicht mehr möglich. So tauchte hier wie in Schottland, nur noch viel stärker und prinzipieller, die Lehre von der christlichen Volkssouveränitätb auf, eine Benutzung natur­ rechtlicher Lehren des Mittelalters und des Humanismus, die an sich mit der Anerkennung der indirekten göttlichen Einsetzung der Obrigkeit und mit theokratischen Gedanken sich vertrug: das christliche Volk verwirft den sündigen Herrscher und setzt sich einen neuen, dem es gehorcht; es ist nur ein Notstandsrecht, das dem normalen Zustand der Theokratie baldmög­ lichst weichen soll. Dabei ist das christliche Volk doch immer nur wirksam gedacht durch die magistrats inferieursl 18, denen bei dem Versagen der obersten Gewalt zukommt, an deren Stelle zu handeln oder sie zu berichti­ gen; der Tyrannenmord ist dem Individuum nur auf Grund göttlicher Inspi­ ration wie der Jael und Judith1 1 9 erlaubt. Aber freilich verbandenc sich damit in der Leidenschaft des politischen Kampfes rein naturrechtliche und posi­ tivrechtliche Theorieen, die nur das Recht der Stände gegen die Krone wie­ derherstellen und damit zum alten natürlichen vor-absolutistischen Rechte zurückleiten wollten. dDas war aber zunächst nurd ein politisches Entwicke­ lungserzeugnis des ständischen Kampfes, keine religiöse Lehre, für die die Idee des Calvinismus verantwortlich e wäre. Aber sie wurde dafür stets herA: Welt, und konnte es so A: Volkssouveränetät c A: verbinden d-d A: Aber das ist dann eben A: wäre, wenn sie auch stets dafür herangezogen wurde e-e a- Q

b

118 119

Siehe oben, S. 206, Anmerkung 66. Die Ermordung Siseras durch Jad wird geschildert im Richterbuch (Ri 4,1 7-22) ; die Tötung des Holofernes durch Judith wird berichtet im apokryphen Buch Judith Gdt 1 3,1-1 1 ) .

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angezogene . Wieder anders gestalteten sich die Dinge in den Niederianden. 1 20 Hier war der Befreiungskampf von Hause aus kein rein religiöser, sondern zugleich ein politischer . Daher mußten die mitkämpfenden konfessionellen Minoritäten, Katholiken, Lutheraner und Täufer, neben der Staatskirche geduldet werden. Immerhina überwog die Staatskirche so stark und war sie in so engem Zusammenhang mit den Regierungen, daß auch hier der Staat I alsb kirchliche Genossenschaft und die Kirche als das Salz des Staates gelten konnte. In der Kraft, die diese Verbindung verlieh, lag die Größe der c Siebenprovinzen-Republik. Aber begreif­ licherweise war doch diese Verbindung hier nichtd so fest und plan­ mäßig wie anderwärts. Die Kirchenverfassung beruhte im wesentlichen auf dem französischen Vorbild, aber es kam doch trotz verschiedener Anläufe zu keiner gemeinsamen Reichs-Kirchenverfassung, und der Versuch, eine

a

b c-c

d

A: Doch In A folgt rein A: Sieben-Provinzen-Republik. Immerhin aber In A folgt ganz

120 Vgl.

Troeltschs Literaturhinweise, S. 523.

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solche auf der Dordrechter Synode zu begründen, scheiterte: die Einzel­ staaten ordneten die Verhältnisse selbständig . Dabei trat a insbesondere das Bestreben des Staates nach stärkerer Kontrolle über die Kirche hervor; das kirchliche Strafwesen wurdeb von dem staadichen völlig getrennt , die Handhabung der Exkommunikation an erschwerende Be­ dingungen geknüpft. diec Zugehörigkeit zur Staats­ kirched nicht selbstverständlich, e vielmehr wur­ de" in der Weise der ersten Anfänge, wo sich die Gemeinden aus unklaren Verhältnissen oder aus Flüchtlingen bildeten, die Zugehörigkeit an eine ausdrückliche Beitrittserklärung gebunden und wurdenf auch die Getauften erst bei der Absol­ vierung der Katechismusschule als ihren Beitritt erklärend betrachtet. Das mochte independentistische und baptistische Folgerungen nahe legen; doch empfandg sich die Staatskirche selbst durchaus als die Heilsanstalt der götdichen Kirchenverfassung, von deren Grundlage, dem Zucht üben­ den Kirchenrat, überhaupt alle Gemeindebildung erst ausgeht. Immerhin zeigen diese Umstände, daß die Durchdringung mit calvinistisch­ rigorosen Ideen hier nicht so bis auf den Grund der Bevölkerung geht wie in Genf und Schottland. Das wird auch von anderer Seite her bestätigt. Un­ ter dem wohlhabenden Bürgertum hat sich ein rechtgläubig reformierter und puritanisch gesinnter Kern gebildet; die große Menge huldigt nach wie vor dem Trunk und der hLiebe. Dieh reichen Handelsherren und Unterneh­ mer, insbesondere das sehr stark hervortretende Amsterdam, folgen den Bedürfnissen der Handelspolitik und leben unter einem die Welt umspan­ nenden nivellierenden Horizont. Desgleichen herrschten im Haag bei den Oraniern rein po­ litische Prinzipien, die Kirche und Religion nach macchiavellistischen Prin­ zipien als Machtfaktoren behandelten. So drängte ein starkes Staatsregi­ ment auf Eindämmung der Theologenherrschaft. Zwar unterlag die dieses Programm verfolgende städtische I Partei unter der Führung Oldenbarnea

b c

d e-e

f g

h-h

A: tritt A: wird A: Die In A folgt: ist A: und so wird A: werden A: empfindet A: Liebe; die

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259

veldts und Hugo Grotius ' und büßte mit schweren Strafen. Aber das Prinzip blieb, und den Remonstranten mußte schließlich Duldung gewährt werden. Der streng orthodoxe Balthasar Bekker wurde wegen seiner Leugnung dämonischer Besessenheit von seiner Synode abgesetzt, erhielt aber ein Jahrgeld von der Stadt Amsterdam. Man gab Descartes ein Asyl und duldete Spinoza. Man erkannte die jüdischen Gemeinden an und erteilte den Mennoniten das volle Bürgerrecht. Auch für große moderne Naturfor­ scher, wie Stevin, Huygens, Swammerdam, Leeuwenhoek und Boerhave war Raum, wenn auch freilich meist nicht an den kirchlichen Lehranstalten des Landes. Die Drucker machten ihre Geschäfte mit der freisinnigsten Literatur Europas, und I Amsterdam oder Eleutheropolis stand als wirklicher oder fingierter Druckort auf der literarischen Konterbande aller Länder. Die Kolonialkämpfer der ost- und westindischen Kompagnie verzichteten auf religiöse Propa­ ganda und auf die Maßstäbe der christlichen Ethik. Das Geld wirkte inter­ konfessionell, und das geärgerte Amsterdam erklärte, seine Kolonieen an jedermann, auch an den König von Spanien, verkaufen zu können. Die hol­ ländische Kunst vollends, deren Träger übrigens keine besondere soziale Achtung genossen, wäre in einem rein puritanischen Lande unmöglich ge­ wesen. Sie zeigt in den Persönlichkeiten der Künstler und in ihren Darstel­ lungen zwar die Abwesenheit der katholischen Stoffe, aber keinen puritani­ schen Geist und durchaus nicht immer puritanische Sitten und Toiletten. Unter diesen Umständen tratena in Holland zwei neue charakteristische Er­ scheinungen hervor.b die Neigung zur Konventikelbildung oder dem Pietismus. Sie widerspricht völlig dem Geiste des alten Calvinismus und der Theokratie, aber sie war e deren notwendiges Ergebnis, wenn in einer herrschenden Staatskirche doch die theokratische Strenge bei Regierung und

a

b c

A: treten In A folgt: Einmal A: ist

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Masse zu vermissen wara• Da mußtenb sich aus der offiziellen Kirche die eigentlichen präzisen Christen zu besonderer Gemeinschaft absondern ; der streng ortho­ doxe Gisbert Voet ist mit dem Programm vorausgegangen. cAndererseits bildete e sich von seiten des Staates die Toleranzlehre aus, freilich noch nicht die Lehre von einer religiösen Neutralität des Staates, aber von ei­ nem bloß allgemein christlichen Charakter des Staates, I der ihn nicht hin­ dern darf, neben der Staatskirche auch andere Kirchen und eine dogmatisch freie, freilich jede Blasphemie vermeidende Literatur zu dulden. Es ist die Lehre, über die auch Spinoza nicht hinausgegangen ist, und die Wilhelm III. nach England übertrugd, die erste Abbröckelung von dem theokratischen Geist des Calvinismus. Höchst eigentümlich ist die Entwickelung des Problems in Neuengland, in dem für die Zukunft Amerikas wichtigsten Koloniallande des Calvinis­ mus.121 Hier war, wie bereits erwähnt, der Puritanismus trotz seiner kongre­ gationalistischen Organisation und trotz seiner alten Forderung der Gewis­ sensfreiheit wieder vollständig in die dem Calvinismus wesentliche Idee von Staat, Kirche und Sittenzucht zurückgeartet. Der Independentismus wurde streng verworfen, Täufer und Quäker schwer, teilweise sogar mit dem Tode, bestraft. Die Prediger und Ältesten beherrschtene die soziale Meinung und die gewählten Obrigkeiten; die Gewissensfreiheit wurdef dahin erklärt, daß die Menschen zur Wahrheit zu zwingen nicht gegen die Gewissensfreiheit gehe g; die Obrigkeit behauptete h daher die dem Wort Gottes entsprechende Wahrheit und bekämpftei alle Laster, auch Trägheit, Lüge, Luxus, Tanzen, Trunkenheit, mit empfindlichen Strafen; sogar die autonomen Orts kirchen einigten; sich zu einer "Plateform of discipline". Die Gesamtheit empfandk die Anwesenheit eines Sünders in ihrer Mitte wie eine Befleckung der Gea

b c-c

d e

f g h

j

k

121

A: ist A: müssen A: Andrerseits bildet A' übertragen hatte A: beherrschen A: wird A: geht A: behauptet A: bekämpft A: einigen A: empfindet Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 523.

11.

Der Calvinismus

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meinschaft und machtea die Ausübung der vollen Bürgerrechte abhängig von der Kirchenzugehörigkeit, die jedesmal durch persönliche Erklärung allein bewirkt werden konnteb und mit der Taufe noch nicht empfangen war e. Die Verschmelzung des religiösen und politischen Individualismus, der ortskirchlichen Independenz und lokalen Selbstverwaltung war d eine überaus enge, aber der Geist des Ganzen ware nicht demokratisch, am Anfang eher oligarchisch, die Herr­ schaft der Frömmsten und Besten, die, durch Wahl zur Regierung gelangt, eine ziemlich unbeschränkte Macht ausübtenf. Der leitende Staatsmann Neuenglands, Winthrop etg 1 649), definierteh in einer seiner Staatsschriften: "civil liberty is liberty to that only, which is good, just and honest"1 22, und über den Inhalt dieses Maßstabes befand der puritanische Asketismus. Derselbe Winthrop hat in einer Schrift "Model of christian charity"123 das Staatsideal als bruderliehe, von Christus regierte Gemeinschaft geschildert und aus Anlaß einer strengen Verfügung vor den Presbytern unter Tränen zukünftig größere Milde und Demut gelobt. Das sind altreformierte patriarchalische Züge. i Dieser Geist überdauerte nun aber; die ersten Generationen nicht lange. Die beständigen Unionen mit fremden Gruppen, Rücksichten des Handels, Wirkungen des Wohlstandes, Einwirkungen der europäischen dei­ stischen Literatur, Konzessionen an das anglikanische Mutterland führten zu ähnlichen Folgen, wie sie in Amsterdam zutage getreten waren. Das Ergebnis wari die Anbahnung der neureformierten freikirchlichen Theorie, die an der Christlichkeit des Staates und der Obrigkeit im allgemeinen festhält, aber diese auf rein weltliche I Funktionen einschränkt und ihr gegenüber das Recht der freien Kirchenbildung als Forderung der Gewissensfreiheit proa

b c

d e

f

g

h i-i

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123

A: macht A: kann A: wird A: ist A: ist A: ausüben A: gest. A: definiert A: Freilich überdauerte dieser Geist A: ist Troeltsch übernimmt das Zitat, das a� s John Winthrops berühmter Rede "On Liberty" vom 3. Juli 1 645 stammt, aus dem von ihm im Literaruranhang genannten Buch von John Andrew Doyle: The English in America (1 887) , hier Bd. 1 , S. 356. John Winthrop: A Modell of Christian Charity (1 630) , S. 282-295.

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klamiert; innerhalb der einzelnen Kirche selbst kann und soll die Wahrheit lediglich durch religiöse und soziale Machtmittel geschützt werden. aDie Freiheit des Kultus und des religiösen Gewissens gehört zu den Menschen­ rechten, die als unantastbar durch äußere Gewalt dann in den Verfassungs­ urkunden der Union gesichert wurden. Sie sind nicht unmittelbar aus dem Calvinismus der Pilgerväter, sondern erst aus dessen Umbildung und Erwei­ chung erwachsen, wobei der Einfluß der Täufer in Rhodisland ein erheb­ licher war.a Erst b von dem so erreichten Standpunkt ausb erweichte sich dann auch die schroffe Rassentrennung, wobei Quäker und Baptisten mit ihrer universalistischen, antiprädestinatianischen Religion den Hauptanstoß gaben. Auch Indianer und Neger warenC nunmehr von Christen als Brüder zu behandeln, wenn auch freilich eine Vermischung zu vermeiden ist. Schon 1 700 bekämpfted Sewall die Sklaverei in einer Schrift "The selling ofJoseph" vom christlich-humanen Standpunkt aus. 1 24 So erwuchsene die Grundzüge des modernen Amerika. Die wiederbelebten Grundsätze des ursprünglichen Kongregationalismus , die später noch zu schildernden Einflüsse des reinen Independentismus und die konfessionelle Indifferen­ zierung, wie sie aus dem Handelsleben und dem Nebeneinander vielfacher Sekten und Kirchen entsteht, reichten sich hier die Hand. Den gleichen Weg A: Im Zusammenhange damit erhebt sich auch der Gedanke der Menschenrechte. Wie wenig er aber mit dem der religiösen Gewissensfreiheit schon identisch ist, zeigt gerade diese Entwicklung Neuenglands. Hier hat man die alte Gewissensfrei­ heit erst liberal deuten gelernt, seit Handelsgesichtspunkte und die Konkurrenz verschiedener religiöser Gemeinschaften sie nahelegten und die Theokratie von Massachusetts ins Unrecht setzten. b - b A: auf diesem Umweg c A: sind d A: bekämpft A: erwachsen e a-a

124

"The Numerousness of Slaves at this day in the Province, and the Uneasiness of them und er their Slavery, hath put many upon thinking whether the Foundation of it be firmly and well laid; so as to sustain the Vast Weight that is built upon it. It is most certain that all Men, as they are the Sons ofAdam, are Coheirs; and have equal Right unto Liberty, and all other outward Comforts of Life. GOD hath given the Earth (with all its Commodities) unto the Sons of Adam, Psa! 1 1 5. 1 6 And hath made of One B!ood, aff Nations ofMen, for to dweff on aff theface ofthe Earth, and halh delermined the times before appointed, and the bounds of Iheir habitation: That they shoufd seek the Lord. Forasmuch then as we are the Offsprings of GOD etc. Act 1 7.26,27,29." Samuel Sewall: The Selling of Joseph (1 700) , S. 7.

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mußten schließlich die schroffen irisch-schottischen Presbyterianer I gehen, die ja von Anfang an keine Regierung gefunden hatten, welche sich ihres jus divinum angenommen hätte, und daher durch alle Staaten als freie Kirche verbreitet waren. aDabei ist dann aber auch die Union ein offiziell christ­ liches Landa bis heute bgeblieben; dieb Verfassung spricht im Aufblick zu Gott, der Präsident ordnet Buß- und Bettage an, und j ede Kongreßsitzung wird mit Gebet eröffnet, der letzte Rest reformierter Theokratie< , während im übrigen das Freikirchenprinzip hier zu seiner höchsten Entfaltung ge­ langt und geradezu eine religiöse Forderung ist. So ergeben sich aus dem Calvinismus Bildungen, die eine neue Welt be­ deuten. Aber sie ergeben sich gegen seinen ursprünglichen Willen und sein Prinzip. Sein Gemeindeaufbau färbt auf das Staatsleben republikanisch ab, obwohl Calvin selbst erklärter Aristokrat und Feind der Massen war. eS eine Widerstandsrechte wird zum Revolutionsprinzip, obwohl Calvin es nur als Notrecht den Nächstberufenen beim Versagen der eigentlich zur Herrschaft berufenen Gewalt eingeräumt hatte. Seine Selbständigkeit der Kirche wird zur Freikirche, obwohl Calvin die engste Verbindung von Staat und Kirche und die Uniformität des Bekenntnisses im Staate gefordert hatte. Die Frei­ kirche wird in ihrer Betonung der Freiwilligkeit und Reife der Zugehörigkeit zur Freiwilligkeitskirche, obwohl Calvin die Zwangsunterwerfung aller, auch der Gottlosen, gefordert hatte. Der mittelalterliche Rahmen der kirchlichen Kulturidee wird gesprengt, obwohl Calvin gerade ihn aufs allerstärkste ge­ spannt hatte. Der Unterschied I zwischen Kirche und Sekte wird verwischt, obwohl Calvin den rein objektiven Anstaltscharakter in seiner Lehre von Wert, Sakrament und Disziplin aufs stärkste gegen die Sektierer gesichert hatte. Eben deshalb haben alle diese Umbildungen keinen unbedingt siche­ ren Halt am Calvinismus; sie müssen sich mit rationalistischen und, wie sich zeigen wird, wiedertäuferischen Elementen verbinden, wo aus ihnen ein neues Prinzip werden sollte. Der echte Calvinismus ist überall Theokratie.> Derselbe theokratisch-biblische Geist, der die Verfassung durchdringt und der in dieser Periode doch nur Abwandelungen und Ein­ schränkungen, aber keine Aufhebung erfährt, beseelt den reformierten Kul­ tus. Er ist im Gegensatz zum Luthertum, das den katholischen Kultusd bloß reinigtee, gleich der Verfassung radikal antikatholisch und lediglich auf bib-

a-a A: Aber ein offiziell christliches Land ist die Union b - b A: geblieben. Die B, C Sein Widerstandsrecht c-c d In A folgt: ebenso In A folgt: wie das katholische Landeskirchentum e

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Reformierter Kultus.

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Reformiertes Universitäts­ wesen.

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lischen Vorschriften aufgebaut. Er ist prinzipiell lediglich Predigtkultus und lediglich mit Gebeten und Psalmengesängen ausgestattet. Der katholische Kirchenschmuck ist beseitigt; jede Reform beginnt mit dem Bildersturm. Auch im Kirchenbau wird das katholische Muster verlassen und die prote­ stantische Gemeinde- und Predigtkirche an Stelle der Meßkirche gesetzt. Der katholische Festkalender ist radikal beseitigt und j ede Festfeier außer an Sonntagen verboten, der Sonntag dafür mit der Strenge des Sabbatgesetzes ausgestattet a. Der Katechismusunterricht wird aufs strengste betrieben; Junge und Alte werden streng dogmatisch geschult. Den Sakramenten ist je­ der abergläubische Charakter genommen, der Exorzismus verpönt. Dafür aber steigt die soziale Bedeutung des Abendmahls ins Außerordentliche. Es ist ein viermaliger Höhepunkt des Gemeindelebens, sozusagen die Parade der Gemeinde vor Gott, die von gründlichster Vorbereitung und Ausmuste­ rung begleitet ist und den Mittelpunkt der Kirchenzucht bildet. Nur eine hei­ lige Gemeinde soll mit Brot und Wein Christus im Geiste genießen, und die Furcht vor unheiligen Abendmahlsgenossen wird später bei dem Nachlassen der geistlichen Lebensordnung ein Motiv der Separation. Auch kommt hier die ganze Selbständigkeit des Laienpriestertums in der Form des Ritus zum Ausdruck: der Gläubige wird nicht vom Priester gespeist und getränkt, son­ dern ergreift selbst Brot und Kelch. Die Zurückgewiesenen werden erst nach offenkundiger Besserung wieder zugelassen; ihre soziale Stellung und Achtung ist davon abhängig. Ein Organ der Kirche war die Schule, insbesondere die zur Erziehung von Geistlichen und Juristen dienende hohe Schule. 125 Ihr Grundcharakter warb durch die Genfer Leges Academiae von Calvin festgelegt,1 26 und dem Mu­ ster von Genf folgtenc die hugenottischen Akademiend und die niederländi-

a

b c

cl

125 1 26

A: gefeiert A: ist A: folgen A: Akademieen

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 523. Calvins "Leges Academiae Genevensis" aus dem Jahre 1 559, in französischer Spra­ che 1 559 unter dem Titel "L' ordre du college du Geneve" und 1 56 1 unter dem Titel "L' ordres des escoles" betitelt, finden sich abgedruckt in CR 38, 1 ; Calvini opera omnia 1 0, 1 , S. 65-1 46.

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sehen Universitäten, während die westdeutschen reformierten Universitäten und Gymnasia illustria mehr dem allgemein deutschen Typus I folgtena. Das Vorbild für Geist und Stoff der Erziehung bildeteb auch hier die melanch­ thonischeC Schöpfung mit ihrer Verbindung des artistisch-philosophischen, juristischen und theologischen Unterrichts. Melanchthon blieb trotz aller Differenzen mit dem Luthertum bei den Reformierten ein hochgeschätztes Vor l bild aller wahren Bildung und ihrer richtigen Verknüpfung mit der Theologie. Nur war d entsprechend dem streng systematischen Geiste und der zielsicheren Energie Calvins die Organisation viel straffer. Ein streng im Stufengang der Schuljahre und Klassen festgelegter Unterricht des College gabe die Voraussetzung. An ihn knüpfte f die Akademie an, bestehend aus einer theologischen Professur uhd mehreren aushelfenden Lektoren, unter ihnen die Lektoren für die Literatur, d. h. die Interpretation der lateinischen und griechischen Klassiker, und gfür dieg Philosophie, d. h. für Logik, Ethik, Physik und Metaphysik im Sinne des melanchthonischen Aristotelismus. Eine Juristenschule, lang ersehnt und unentbehrlich für alle Interessen des Calvinismus, kam in Genf dazu und ergänzte, nicht ohne mancherlei Rivalität, die theologische Hauptschule. Die Leitung von College und Akademie lagh in einer obersten Hand . Ebenso wari die moralisch-pädagogische Ü berwachung der Schüler eine sehr strenge und geordnete; das System der Belohnungen, Bestrafungen, gegenseitigen Ü berwachung spielte ; neben den Erprobungen in den Disputationen eine große Rolle. Diese engen Verhältnisse des stets mit größter Geldknappheit kämpfenden Genf wurdenk an anderen Orten, in den Niederlanden und Heidelberg, sehr stark erweitert; auch die direkte Abhängigkeit von der Venerable Compagnie ist anderwärts gelockert oder gar nicht vorhanden. Man war stolz auf die Wissenschaft und pflegte sie mit großen Opfern als Mittel des Dienstes für das Gemeinwesen; das befreite Leyden erbat sich als Lohn für unerhörte Ausdauer die Einrichtung einer Universität. A: folgen A: bildet A: Melanchthonische c d A: ist e A: gibt A: knüpft f g -g A: die für h A: liegt A: ist A: spielt j A: sind k a

b

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Zugleich brachtea der beständige Austausch von Gelehrten so verschiedener Länder und Nationen, die überdies die damals höchst kultivierten warenb und von Frankreich her unter den lebendigsten Nachwirkungen der huma­ nistischen und juristischen Renaissance standenC, in die reformierten Uni­ versitäten einen bewegten, lebendigen und vornehmen Geist. Neben den strengen reformierten Dogmatikern lehrtend hier die glänzendsten Gräzi­ sten, Latinisten, Orientalisten, Romanisten und Publizisten der Zeit. Ein Scaliger, Portus, Casaubonus, Salmasius, Heinsius, Justus Lipsius, die Dyna­ stie der Vossius, ferner die Schüler des Cujacius, ein Doneau, Hotmann, Bonnefoy, Pacius, die beiden Godefroy ziertene die reformierten Schulen und machtenf sie weithin berühmt, dabei meistenteils dem theologischen Geist des Instituts und seiner Sittenstrenge sich einfügend; in Leyden, der Hochburg des Humanismus, fehlte es nicht an arminianischen Sympathieen oder auch an völliger kirchlicher Indifferenz. Auch die Historie blühte bei dem rechtskundigen, politisch interessierten Geschlecht; alte und neue Geschichte nebst Geographie tauchteng in den Lehrplänen auf, I alles freilich in dem konfessionell polemischen Sinne des Ganzen. Die moderne Naturwis­ senschaft fehlte h freilich an den offiziellen Schulen; neben den theologisch beherrschten Schulen durften nicht einmal in den Niederlanden technische, naturwissenschaftliche oder nautische entstehen. Nur eine große medizini­ sche Fakultät konnte sich wenigstens dort entwickeln; der Sinn, in dem das geschah, erhellt aus dem Worte Bever l wycks: "Unser Leben hat seit dem Sündenfall seine größte Anziehungskraft verloren, allein es ist doch immer noch dem Tode vorzuziehen."127 Auch die Philosophie wari wenig entwik­ kelt; man ließ sie teils durch die Humanisten als Interpretation des Aristote­ les, Plutarch, Cicero und Seneca vortragen, teils schloß man sich an die in Deutschland fortwirkende Tradition der melanchthonischen Schule an, für

a

b c

d e

f g h

127

A: bringt A: sind A: stehen A: lehren A: zieren A: machen A: tauchen A: fehlt A: ist

Als Zitat nicht nachgewiesen.

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die Keckermann und Gocleniusa vielgebrauchte Lehrbücher schrieben. 1 28 Das zeigt denn, daß auch hier die Grundlage dieser ganzen Unterrichtsorga­ nisation und des wissenschaftlichen Denkens auf den melanchthonischen Lehren über das natürliche Sittengesetz, seine Auslegung durch die Jurispru­ denz und seine Ü berhöhung und geistliche Ausfüllung durch die Offen­ barung, beruhte. Doch machteb sich die Differenz des allgemeinen Geistes beider Konfessionen auch in der Beantwortung dieses Grundproblems des alt-protestantischen Bildungssystems, in der Frage des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung, von humanistisch-juristischem und theologi­ schem Unterricht, geltend. Der Calvinismus hat das Bildungswesen, die Ver­ bindung von natürlichem und christlichem Sittengesetz, Zusammenhang und Einheit des Denkens weit stärker entfaltet als das Luthertum< , wie das bei seiner Richtung auf planmäßige und einheitliche Christianisierung der Gesellschaft wohl verständlich ist und überdies mit dem Kulturstand seiner Gebiete zusammenhängt>. Er ist durch glänzende und dauernd bedeutende Humanisten und Juristen ausgezeichnet, er steht in lebhafter Beziehung zu den Ländern der westlichen Kultur, insbesondere zu dem Zentrum, wo nach dem Verfall Italiens die Renaissance fortblühte, zu Frankreich. Er betont aufs stärkste neben der Elektionsgnade die Gratia universalis, die in Ver­ nunft, Philosophie, Recht, GeschichtsforschungC und natürlichem Sittenge­ setz die Mittel der Weltbeherrschung und des Dienstes für die göttlichen Zwecke gegeben hat und von den Griechen und Römern grundlegend ver­ körpert worden ist. In den gebildeten Kreisen des Calvinismus äußerte sich diese Betonung der Gratia universalis in der Akzeptierung der Renaissance­ Kultur, die als Humanismus die Wissenschaft, als italienisch-französische Weltbildung die Literatur, Kunst, Rhetorik und Lebensform durchdrangd. Zugleich ist die Denkgewöhnung des Calvinismus überall systematisch und universal, indem siee aus dem großen Zusammenhang des Gottesbegriffes als von Gott ausgehend und zu Gott zurückkehrend zu denken durch ihre religiöse Grundposition angeleitet wird. Das gibt allem calvinistischen

a

b c

d e

128

A: Goclemus A: macht A: Geschichte A: durchdringt In A folgt: alles

Bartholomaeus Keckermann: Systema disciplinae politicae (1 6 1 6) . Rudolph Gocle­ nius: Philosophiae practicae Mauritianae (1 604).

268

B, C 571

A 350

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 17. Jahrhundert)

Denken einen Zug ins Große und Umfassende, Einheitliche und Systematische, während im Luthertum Denken und Handeln durch den immer I wie­ der eintretenden Rekurs auf das seelische Rechtfertigungswunder etwas Ab­ gehacktes, absichtlich Widerspruchvolles, Wiederholungsreiches und doch Resultatloses erhält. Aber das bedeutet keineswegs eine stärkere Neigung zum Rationalen gegenüber dem Luthertum. Im Gegenteil, der Calvinismus bleibt dauernd antirationaler als das Luthertum und seine Bildungsgrundlage im Melanchthonianismus. Der Calvinismus hat eine hohe und feine Intellek­ tualität, aber diese Intellektualität ist antirationalistisch, ist voluntaristisch. Die Offenbarung beruht auf der Aus l wirkung des souveränen Prädestina­ tionswillens und bedarf weder rationaler Beweise für das Dasein Gottes noch einer rationalen Vorbereitung der Buße durch die natürliche Gesetzes­ erkenntnis, noch einer Rechtfertigung der Gerechtigkeit und Güte Gottes daraus, daß alle Verwerfung der Offenbarung schließlich in der Schuld des auch-anders-könnenden Menschen liegt. Ja noch mehr; sein Begriff der Wil­ lens-Souveränität a Gottes läßt auch die natürliche Vernunft und das natür­ liche Sittengesetz nur als eine Setzungb seines Willens betrachten, die dem Verworfenen seine Nichtswürdigkeit zum vernichtenden Bewußtsein brin­ gen und dem Erwählten die Beherrschung der Welt zur Ehre Gottes möglich machen soll. Seine Beziehungen zu den Kulturgütern sind lebhaft, aber völ­ lig unpersönlich; nur als Mittel für den Dienst Gottes im Gemeinwesen, nicht als persönlich befriedigender Bildungsbesitz kommen sie in Betracht. Das Luthertum hat im allgemeinen größeres Mißtrauen gegen die Kultur­ güter, aber persönlichere und intimere Freude an ihnen, wo es sie zuläßt; sie sind ihm direkte Gottesgaben zum erlaubten Genuß. Die ursprüngliche Ver­ nünftigkeit der j etzt so traurig entstellten Welt schimmert bei ihm immer durch, während der Calvinismus überall nur den Herrscherwillen Gottes empfindet. Ü berall scheut er die Kreatur-Vergötterung. So steht das refor­ mierte Bildungswesen bei aller Verwandtschaft doch eigentümlich neben dem lutherischen, das zugleich unter der Enge der kleinstaatlichen Ver­ hältnisse, dem Elend des Krieges, der Roheit des Pennalismus und der Dumpfheit der niedergehenden deutschen Kultur litt. Genf und Leyden sind Weltzentren, und freie, als Bürger behandelte Studenten arbeiten in Studen­ tenkompagnieen mit an der Verteidigung Genfs, während in den deutschen Universitätsdörfern kleinlichster Theologenzank oder Bier und Tanz herrschenc.

a

b c

A: Willens-Souveränetät A: Satzung A: herrscht

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Auf dieser Basis erhoba sich die reformierte Theologie, in der Gesamtanlage und in der scholastischen Technik der lutherischen durchaus ähnlich, wie diese mit der Zeit immer mehr der neuthomistischen Scholastik formell angenähert. 1 29 Hierin haben sich namentlich die Holländer nach der Dordrechter Synode ausgezeichnet. Im Inhalt wurden natürlich die Differenzen gegen Papismus, Luthertum und Täufertum aufs schärfste herausgearbeitet. bSeine Wirkungenb erstrecken sich nach und nach über alle Teile des mit dem Luthertum gemeinsamen I theologischen Gedankenschatzes a Christus istO nur für die Erwählten bgestorben. Aber auch für sie war sein Genugtuungstod nicht begrifflich notwendig; denn der souveräne Willensgott kennt nicht wie das Luthertum, die Entzweiung von Gerechtigkeit und Liebe, die durch den Sühnetod ver­ söhnt werden müssen. Der Genugtuungstod ist nur ein von Gott gewähltes besonders gnadenvolles Mittel, das die Sündenvergebung besonders ein­ drucksvoll macht. Und selbstverständlich besteht dann auch Jesu Leistung und Werk nicht bloß in der Tilgung des Sündenfluches und der Stiftung des Amtes der Predigt von der Versöhnung wie im Luthertum, sondern in der aktiven Heiligung der Gemeinde. Er sammelt als Herr und König eine hei­ lige Gemeinde, rüstet sie mit der Erkenntnis der Gnade und mit der Ord­ nung der Kirche aus, um sich so sein Königreich zu schaffen. Mittelst dieser Stiftung Jesu wirkt dann die Prädestination sich weiter aus in den einzelnen, sie durch Sündenerkenntnis und Buße, durch Abtötung des eigenen, natür­ lichen Selbst zu verwandeln in die ewig in Gott gegründete und zum Han­ deln im Königreiche Christi bestimmte Persönlichkeit. Die eigentliche ZuA: Insbesondere ist Christus hier a-a b- b A: gestorben, sein Genugtuungstod also nicht die Befriedigung des großen Welt­ gesetzes der Gerechtigkeit, sondern ein von Gott gewähltes Mittel, und ist auch die Gottheit Christi reine Willensverbindung mit dem Menschen Jesus, die die luthe­ rische Mystik des finitum capax infiniti ausschließt. [In A kein Absatz]

11 . Der Calvinismus

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sammenfassung der Gemeinde ist dann das Abendmahl, an dem nur wirklich reine Gemeindeglieder teilnehmen sollen, um hier gleichzeitig mit dem äußeren Essen und Trinken die innere geistgewirkte Erhebung zu ihrem himmlischen König zu gewinnen. Die Taufe, die für das Luthertum so wichtig ist als Mittel der Berufung auf die dargebotene Gottesgnade, tritt dahinter zurück. Die so geschaffene Gemeinde kämpft in Kraft der Prädestination ihren großen Lebenskampf bis zum Kommen des Antichrist, von wo ab dann die gemeinsame protestantische, das Fegfeuer ausschaltende Eschatologie eintritt. Aber auch in ihr bleibt schließlich der Unterschied. Die reformierte Seligkeit ist eine Seligkeit des Willens und des Geistes. Das eigentliche Prinzip der Endlichkeit, die in sich selbst ruhende Natur, hat auch hier keinen Ort. Finitum non est capax infiniti. Es sind in scholastischen Formen die großen ewigen Probleme des religiösen Denkens, die freilich für die Religion der Gegenwart zurückgetreten sind, seit sie durch den Wandel der Dinge in den Kampf um ihre elementarsten Lebensbedingungen zurückgeworfen ist und die Selbstverständlichkeiten nicht mehr kennt, von denen eine solche Dogmatik ausging. Wo der Gottesglaube selbst in Frage steht, begreift man nicht mehr, daß seine Nüancen, die Akzentuierung des irrationellen oder des ra­ tionalen religiösen Elementes, große Gruppen scheiden und große Gei­ steswelten bestimmen konnten. Es ist hier wie im Luthertum das religiöse Denken vor der Durchsetzung der modernen naturwissenschaftlichen Ge­ setzesbegriffe, mit denen sich auseinandersetzend und vermittelnd das moderne religiöse Denken heute immer erst seine Stellungen gewinnt, und die ihm nicht mehr das Feld frei lassen seinen eigenen inneren Abgründen nach­ zugehen. Es ist eben damit zugleich der noch I ungebrochene Anthropomorphismus der Gottesidee, der zwar von der Dogmatik selbst immer wieder durch den Gedanken der Absolutheit Gottes eingeschränkt wird, aber der die Unendlichkeit der Welt, die völlige Ü bermenschlichkeit Gottes und die durchgehende Korrelation aller Dinge nicht kennt, wozu der Fall des Geozentrismus und Anthropozentrismus, die Anschauung von der inneren Einheit des Naturlebens, den heutigen Menschen erzogen haben. Es ist schließlich die Ü berspinnung und Ü berarbeitung des wunderhaften biblischen Geschichtsstoffes und des apostolischen Christusglaubens mit einer religiösen Spekulation, die in ihnen unbezweifelte, selbstverständliche Stützpunkte und Grundlagen hat, statt sie selber erst stützen zu müssen. Diese, von denen der modernen Welt so verschiedenen Bedingungen aber einmal vorausgesetzt, ist die reformierte Dogmatik ein großartiges Werk religiösen Denkens, das das Irrationale im Wesen der Dinge gewaltig unter dem religiösen Gesichtspunkt herausgearbeitet hat, und sie beleuchtet in ihrem Gegensatz gegen die lutherische auch ihrerseits bleibende Grundprobleme des religiösen Denkens. Während der gleichzeitige Katholizismus von religiösen

B, C 574

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Reformierte Ethik".

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Problemen im Grunde nur das Autoritätsproblem und als Gegengewicht die individuelle Mystik bearbeitet, erheben sich in den protestantischen Konfes­ sionen trotz aller mittelalterlichen Hülle und Form doch neue lebendig fort­ wirkende religiöse Probleme, in der einen das Problem von Sünde und Schuld, in der anderen das der Prädestination und der ungleichen Beteiligung der Menschen an den höchsten religiösen Lebenswerten.b Auch die reformierte Theologie hatte ihren zahlreichen Theologenzank und übte den schwersten Druck, wenn sie auch bei der Erstreckung über so viele Länder die schulmäßige Einheitlichkeit der lutherischen nicht erreichte und früher wieder zu mehr biblizistischen Lehrformen überging. Auch sie hatte ihren großen dogmatischen Kampf. I Doch ging er nicht wie im Lu­ thertum dem Abschluß der Symbole vorauf, sondern erst aus der Durchar­ beitung des Hauptdogmas hervor. Ein großes reformiertes Konzil aller Län­ der schlichtete 1 6 1 8 den Streit zugunsten der Lehrkonsequenz1 3o und trieb die Gegner, Remonstranten genannt, in das Lager der humanistischen Theologie, wo sie dann ein Ausgangspunkt der moder­ nen rationalistischen Entwickelungen wurden, während der übrige Teil der Remonstranten sich als independente und predigerlose Gemeinden, als Col­ legianten, dem täuferischen Vorbild anschloß. Das Wichtigste ist natürlich auch hier der religiös-sittliche Geist des Gan­ zen, die calvinistische Kultur, wie sie auf der calvinistischen Ethik unmittel-

a

130

In A folgt: und Kultur

Die arminianische Lehre vom Zusammenwirken des menschlichen und göttlichen Willens beim Entstehen des Glaubens und demzufolge die Möglichkeit der An­ nahme und Verwerfung der Gnade durch den Menschen wurde von der National­ synode der niederländischen Kirche in Dortrecht (1 3. November 1 6 1 8 - 9. Mai 1 6 1 9) verurteilt, dagegen wurde die doppelte Prädestination und die Lehre vom Be­ harren des Glaubens, der Perseveranz, festgeschrieben. Nachdem sich die Arminia­ ner weigerten, die Legitimität der Synode anzuerkennen, wurden sie am 1 8. Januar 1 6 1 9 von der Synode ausgeschlossen, am 6. Mai 1 6 1 9 wurde ihre Verurteilung öf­ fentlich ausgesprochen und es wurden die Arminianer aus ihren Ämtern entlassen. Die Synode von Dortrecht erlangte ihre Wirkung und Bedeutung dadurch, daß nahezu alle reformierten Länder an ihren Beschlüssen beteiligt waren. Neben der niederländischen Kirche, mit 35 Geistlichen vertreten, fanden sich aus dem gelade­ nen Ausland 27 Theologen ein, so aus der Pfalz, aus Nassau, Hessen, Ostfriesland, Bremen, aus Zürich und Genf, aus England und Schottland. Anhalt war nicht gela­ den worden, Brandenburg schickte keinen Vertreter, den französischen Gemeinden hatte Ludwig XIII. die Teilnahme untersagt.

II. Der Calvinismus

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bar und mittelbar beruht.1 3 1 Diese Ethik stimmt in allen wesentlichen Begriffen völlig überein mit der des Luthertums. Auch hier handelt es sich um das Hervorgehen einer christlichen Gesinnungsethik aus der den alten Menschen vernichtenden Sündenerkenntnis und aus der beseligenden Rechtfer­ tigungsgewißheit. a Aber auf der gemeinsamen Grund l lage erhebt sich ein ganz verschiedener Bau. Der Calvinismus schafft planmäßig einen Gesell­ schaftsaufbau, der wie das Ideal der Täufer eine christliche Gesellschaft herstellen will, ohne doch, wie diese, den Anstaltscharakter und die allbeherr­ schende Universalität der Kirche aufzugeben. Gleichzeitig aber ist dieser Gedanke einer kirchlich geleiteten Kultur verbunden mit der Anerkennung der modernen politischen und wirtschaftlichen Fortschritte, eignet sich das damals erreichbare Maß theoretischer Einsicht in diese Dinge an und biegt sie mit rationellster Schärfe in das christliche Ideal ein. So ist es in der Ge­ schichte des Christentums der erste Versuch einer planmäßigen und in das natürliche Leben unmittelbar eingreifenden sozialen Gestaltung, die der Ka­ tholizismus von dem Aufstieg der Natur zur Gnade erwartet und nur durch die päpstliche Universalherrschaft unterstützt, die das Luthertum der Macht des Wortes und der christlichen Einsicht der Obrigkeiten mit vieler Resignation überläßt. Dabei entfernt sich der Calvinismus naturgemäß noch mehr als beide von der Moral der Bergpredigt und muß die christliche Moral mehr als beide mit der weltlichen vermitteln. Aber er hält die Christlichkeit dadurch aufrecht, daß er einerseits für aB das sich möglichst auf die Bibel und hier freilich sehr viel auf das Alte Testament - das ja aber auch schon Katho­ lizismus und Luthertum in steigendem Maße hatten heranziehen müssen bezieht, andererseits dadurch, daß er mit strengster Konsequenz alles dieses Handeln auf die überweltlichen christlichen Zwecke der Gemeinschaft abstellt und ihm jeden Charakter der Weltbejahung oder Kreaturvergötterung nimmt. Alles Reden von einem jüdischen Zuge des Calvinismus oder einem Rückfall in die katholische Hierokratie sind Fabeln, entsprungen aus dem Mißverständnis dieser christlich sozialen Politik des Calvinismus. Er ist die a-a

131

A: Auch die Erwählten sind von Gott unter die Sünde getan, damit sie in der Selbstverurteilung ihres sündigen Wesens lernen das Gute rein als Ausfluß des göttlichen Gnadenwillens zu empfangen und in sich wirken zu lassen. Aber inner­ halb dieses übereinstimmenden Gedankenganges macht doch die Vorherrschaft des Erwählungsgedankens, die Festigkeit der kirchlichen Organisation und die Wirkung des westlichen Kulturbodens sich derartig geltend, daß etwas ganz ande­ res daraus entsteht.

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 524.

B, C 575

274

B, C 576

Wirkung der Prädestinations­ lehre auf die Ethik.

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 17. Jahrhundert)

modernste Gestalt des Christentums, muß aber dafür die Christlichkeit ge­ genüber solchen Konzessionen um so schärfer durch Biblizismus, kirchliche Lebensbeherrschung und asketisch-jenseitige Abzweckung aller Anerken­ nungen des Natürlichen behaupten. Wie er zu dieser Entwickelung kam, ist so einfach nicht zu sagen. Besteht die Vermutung zu Recht, daß Calvin durch Butzers Vermittelung das täuferische Ideal der heiligen Gemeinde in ver­ kirchlichter Gestalt übernommen hat, dann wäre von hier und von den bi­ blischen Begründungen dieses Ideales her die Grundtendenz zu begreifen. Indem er gleichzeitig das kirchliche Anstaltsideal und die Uniformität und Universalität der Kirche behauptet, wäre die Zwangsherrschaft dieses Ideals zu verstehen. Daß er aber dieses Ideal zugleich unter Anerkennung der mo­ dernen sozialen Entwickelungen durchführt, das wäre aus Calvins Persön­ lichkeit und aus der Lage Genfs wie der calvinistischen Länder zu begreifen. Die Verhältnisse Genfs - dasa heißt einer städtischen, geldwirtschaftlichen Kultur, die überdies mit Frankreich, dem Lande der modernen Jurisprudenz und fortschreitenden Renaissancebildung, in engem Verhältnis steht -, be­ dingen die Formation des Calvinismus. Und wenn Genf später zurücktritt, so wirken in Frank i reich, den Niederlanden, England und schließlich Ame­ rika die gleichen fortgeschrittenen Verhältnisse nur noch stärker auf ihn. Er hat sie überall zu rezipieren und unter seinen Geist zu beugen verstanden. Der letzte Grund aber liegt in seiner ethischen Richtung, die ihrerseits mit der Ausgestaltung des Prädestinationsgedankens eng verbunden ist. Er macht nicht die Erlösung und Rechtfertigung zum Selbstzweck, sondern fragt nach dem Zweck der Erlösung, und der liegt im Handeln des prädesti­ nierten Individuums zur Ehre Gottes und damit in dem Königreiche Christi. Der ganze sozial-ethische Gedanke des Calvinismus geht selbstverständlich nicht einfach von der Prädestinationsidee aus, aber diese bemächtigt sich als organisierender Mittelpunkt der verschiedenen Motive, gibt ihnen Zusam­ menhalt und theoretische Begründung und wirkt damit praktisch wieder auf das derart sich bildende Ganze zurück.a Nur die Erwählten stehen im wahren und echten Glauben; die Verworfe­ nen haben nur etwa einen unechten und vergänglichen Zeitglauben, der Glaube der Erwählten aber dauert. Die Irresistibilität und Perseveranz der Gnade gibt ihm seinen Charakter; einmal aktualisiert steigt er notwendig von Stufe zu Stufe; er braucht nicht Rückfälle zu fürchten, keine Werkheiligkeit zu scheuen, nicht mit allerhand Unterbrechungen sich auf seine Bewahrung oder Wiedergewinnung vor allem zu konzentrieren. So hat der Glaube nicht, wie im Luthertum, lediglich in sich selbst seinen Zweck, sondern in der sitt-

a

B, C daß

II. Der Calvinismus

275

lichen Auswirkung und Betätigung. Nicht Seligkeitsgefühle, sondern Aktivi­ tät sind sein Charakter. Für die populäre Denkweise tritt geradezu in den Vordergrund, daß man in dieser Aktivität seiner Erwähltheit gewiß wird, und so steigert dann ein Gedanke den anderen. Für die feinere begriffliche Be­ trachtung liegt im Gottesbegriff selbst die Nötigung zu einer derartigen ent­ scheidenden und zentralen Betonung des tätigen Handelns. Der Gott, der in die Gnadengemeinschaft aufnimmt, ist ein tätiger Wille und kann auch in der begnadeten Menschheit nicht ruhen. Der Gott-Mensch Jesus Christus, unter aden alsa Haupt die Gemeinde gesammelt und von dem sie regiert werden soll, ist eine tätige Kraft und ein spornendes Vorbild, ein regierender Herr­ scher, keine Menschwerdung der alle Liebe und Vernunft in sich schließen­ den Weltsubstanz zum seligen Genuß und zur mystischen Vereinigung. Der ganze Zweck und Sinn der Prädestination ist nichts anderes als die Bekun­ dung I der Herrlichkeit und Ehre Gottes in einem heiligen, von Christus regierten Gemeinleben, und diese Bekundung kann nur in der sittlichen Reinheit und Strenge bestehen. Wenn die Lutheraner namentlich für das Ge­ meinleben auch gerne denselben Zweck der Ehre Gottes angeben, so ist eben doch der Gott, um dessen Ehre es sich handelt, in beiden Fällen ein an­ derer. Nicht Dank und Gehorsam für die Gnade, welche die sündige Welt­ zerstörung wieder aufgehoben hat und in der GenugtuungJesu die Erlösung von dieser Folge des freien Willens j edem Willen anbietet, ist hier der Leit­ gedanke, sondern die Hingabe an einen Willen, der in den I Verworfenen seine strafende und in den Erwählten seine heiligende Allmacht bekunden will. Unter diesen Umständen tritt im Calvinismus die Persiinlichkeitganz anders hervor als im Luthertum. Nicht demütige Selbstaufgebung gegen Gott und liebevolle Selbstaufgebung gegen den Nächsten, sondern stärkster persön­ licher Wert, das Hochgefühl einer göttlichen Mission in der Welt, einer gna­ denvollen Bevorzugung vor Tausenden und einer unermeßlichen Verant­ wortung erfüllen die Seele des Menschen, der völlig einsam und in sich selbst die ihn erwählende Gnadenwirkung empfindet und auswirkt. Hierin liegt ein ungeheurer Individualismus, eine außerordentliche Selbständigkeit der Per­ son, mit der die Renaissancestimmung und die größere Differenziertheit der westlichen Kultur sich leicht vereinigen konnte. Die so nachdrücklich be­ tonte Selbstverleugnung ist doch immer nur die Opferung des natürlichen Selbst an das höhere geistliche Selbst. Freilich ist diese im Prädestinations­ gedanken wurzelnde Persönlichkeitsidee nirgends zu verwechseln mit mo­ dernen individualistischen und demokratischen Gedanken. Die Prädestina-

a-a

A: dessen

A 352

B, C 577

Persönlichkeits­ idee.

276

Gemeinschafts­ idee.

A 353

B, C 578

Ö ffentliche und Privatmoral.

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tion bedeutet die Berufung der Besten und Heiligen, der Minorität, zur Herrschaft über die Sünder, die Majorität; sie schließt ein die Betrachtung der gegebenen Lebens- und Machtverhältnisse, soweit sie nicht Gottes Wort widersprechen, als göttlicher Fügungen, in die sich der Mensch demütig und ohne Kritik ergibt, wie denn auch die bisherige Darstellung den aristokra­ tisch-konservativen Charakter des ursprünglichen Calvinismus überall ge­ zeigt hat. Das konnte bei dem strengen Anschluß an die Bibel auch gar nicht anders sein. Aber innerhalb dieser Grenzen hat der Calvinismus eine Schät­ zung der erwählten Persönlichkeit, die durchaus an Kant erinnert, während Luther hier mehr im Gedankenkreis der Mystik bleibta. Mit dieser starken Betonung der Persönlichkeit ist dann aber auch die Ge­ meinschaftsidee eigentümlich bestimmt. Die Gemeinschaft ergibt sich nicht wie bei den Lutheranern bloß mittelbar aus den Bedingungen der Leiblich­ keit, aus den gegebenen Ordnungen der Lex naturae und aus den unsichtba­ ren Wirkungen der sichtbaren reinen Lehre und Sakramentsübung, sondern unmittelbar aus dem prädestinierenden Willen Gottes selbst. Dieser Wille ist von Hause aus auf eine heilige Gemeinde, ein Reich der Heiligen, eine von Christus regierte und nach seinem Willen verfaßte Gemeinde, I gerichtet. Bei aller individuellen Isolierung der b einzelnen Erwählten im Vorgang der Auswirkung der Erwählung, stellt ihn doch die Erwählung prinzipiell in die sich gegenseitig hebende und tragende, beurteilende und bessernde Ge­ meinschaft hinein. Und diese Gemeinschaft ist jedesmal wie die Israels ab­ gegrenzt als eine Volksgemeinschaft, in der die Kirche die geistliche Kraft ist und das weltliche Schwert dieser Kraft seinen Nachdruck leiht. Gott schließt seinen Bund mit jedem Volke und verlangt Treue um Treue, erzieht durch Strafgerichte und Heimsuchungen, gibt sein Wort zur Erkenntnis sei­ nes Willens. Es ist die Idee der christlichen I Kultur im geschlossenen Volks­ ganzen, wobei die einzelnen Völker und Kirchen miteinander in Verbindung stehen, die Urteile fremder Kirchen eingeholt und die Almosen der fremden Glaubensgenossen erbeten werden. Ein Bund christlicher Völker, in dem je­ des Volk in seinem Bezirke die Idee des Gottesstaates verwirklicht:C das ist der Wille Gottes, wenn er recht aus der Bibel verstanden wird. Bei solcher Sachlage ist dann auch von der Trennung der privaten und öffentlichen Moral nicht die Rede wie im Luthertum. Das Privadeben mündet überall ein in das Ganze des christlichen Gemeinwesens, und jeder Christ ist verpflichtet, sein Handeln mit Ü berlegung für dessen

a

b c

In A folgt: ; ja, bisweilen drängt es ihn selbst über diese Grenzen hinaus A: des A: verwirklicht,

11. Der Calvinismus

277

Nutzen einzurichten. Die einzelnena behalten das Recht, den vorgeschlage­ nen Geistlichen zu genehmigen, dürfen in biblischen Auslegungsstunden ihre Bibelkenntnis auch gegen die Geistlichen geltend machen, ja im Notfall haben sie Recht und Pflicht, die bestehenden Gewalten an Gottes Wort zu erinnern und, sei es durch ihre Vertreter, sei es schlimmstenfallesb selbst, den Gehorsam gegen Gottes Wort zu erzwingen. Es gibt vor dem Zuchtgericht kein Ansehen der Person, der Vorsitz der Predigergemeinschaft wechselt wöchentlich, alle Ämter sind Pflichten aber keine Vorrechte. Umgekehrt hat das Ganze für die einzelnen zu sorgen. Versteht man den Sozialismus nicht bloß als Demokratie oder als Kommunismus oder als Gemeinsamkeit aller Betriebsmittel, so kann man von einem christlichen Sozialismus sprechen, einem Sozialismus im Sinne der Propheten des Alten Testaments. Jeder soll in diesem Gemeinwesen seine Ehre, seine Nahrung, sein Recht haben; Staat und Kirche sorgen gleichmäßig dafür. Armen- und Krankenpflege ist eine Funktion der Kirche, die auf große Einkünfte rechnen kann, Arbeitsmangel und Arbeitsscheu durch geeignete Einrichtungen bekämpft und eine große Zahl von Beamten beschäftigt. 1 32 Alle Luxusordnungen, Preistaxen, Not­ vorkehrungen, ja sogar die Höhe des Zinsfußes werden in Genf von der Geistlichkeit mit der Obrigkeit gemeinsam festgestellt. Vor allem aber sind die Sittenmandate und die Handhabung der Sittenpolizei, die Ausbreitung des Unterrichts und der Gottesfurcht bei allen Gliedern, ein gemeinsames Anliegen der regierenden Gewalten. Ein solches Lebenssystem kann dann freilich nicht, wie im Luthertum, le­ diglich mit kindlichem Vertrauen der freien gesetzlosen Auswirkung I des in­ neren Geistestriebes oder der Glaubensgesinnung überlassen werden. Es muß im einzelnen wie im ganzen streng geordnet sein. Das führte die Refor­ mierten zu der Behandlung der Bibel als eines göttlichen Maßstabes nicht bloß für das Dogma, sondern auch für das Leben. Es ist das nicht an sich eine größere Gesetzlichkeit als im Luthertum, das ja die Bibel als Lehrgesetz für die Dogmen doktrinär genug handhabte, sondern nur eine Erstreckung der Lehrgesetzlichkeit auch auf die Moral. Es hatten ja schließlich auch die Lutheraner für das Wesen der aus dem Glauben fließenden Sittlichkeit auf den Gehorsam gegen den Dekalog zurückgreifen I und ihre rein innerlich freie Liebes-Sittlichkeit stets aus der Rechtssittlichkeit der Lex naturae ergän­ zen müssen. Die Reformierten gehen nur sehr viel weiter in der Verwertung a

b 132

A: Einzelnen A: schlimmsten Falles Vgl. Troeltschs Literaturhinweis, S. 524.

A 354 Organisation des ethischen Gemeinlebens, der Dekalog.

B, C 579

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A 355

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des Dekalogs. 1 33 Er ist ihnen der Inbegriff der göttlichen Sittenoffenbarung und prinzipiell von Gott zum Zweck der Regelung des heiligen Lebens ge­ geben. Er ist ein Dogma so wichtig wie Trinität und Christologie. Zu diesem Zweck freilich muß sein Inhalt durch Deutung erweitert werden, und so deu­ ten sie ihn aus der ganzen Bibel, die erste Tafel wesentlich aus dem Neuen Testament, die zweite wesentlich aus dem Alten, aus den ethischen Bestand­ teilen des Gesetzes, aus der sozialen und politischen Predigt der Propheten und aus den Geschichtsbüchern. Durch diese Deutung bekommen sie aus dem Dekalog Aufschluß über alle konkreten Angelegenheiten eines inner­ weltlichen Gemeinwesens, und der Geist der Bergpredigt, den Luther in sei­ ner Forderung der Unbedingtheit und Freiheit der Liebe neben den Erfor­ dernissen des weltlichen Amtes und Berufes festzuhalten suchte, geht beinahe unter in dem Geist des Dekaloges und der Propheten. Dabei ist auch, wie schon bemerkt, die lutherisch-melanchthonische Lehre von der Identität des göttlichen Gesetzes mit dem natürlichen und die Hilfeleistung des letzteren beibehalten, aber das Nebeneinander und die Anleihen machen weniger den Eindruck des Fremden und Gewaltsamen. Denn das ganze Alte Testament ist den Reformierten nur eine Illustration der Lex naturae, die in ihrer gegenwärtigen getrübten Gestalt überwiegend nach ihrer Identität mit der zweiten Tafel des Dekalogs aufgefaßt wird;a inb besonderer Anwendung auf die Verhältnisse Israels, wie das römische Recht esC ist mit besonderer Anwendung auf die Roms. So ist der reformierten Ethik die Heranziehung der stoischen Ethik, des römi­ schen Rechtes, der antiken Kardinaltugenden neben den biblischen Beispie­ len an den Dekalog leichter oder doch wenigstens natürlicher als der luthe­ rischen; denn indem der Dekalog aus dem Alten Testament illustriert wird, wird er eben dadurch zugleich aus der Lex naturae illustriert. Die Bevorzu­ gung des Alten Testaments hat also nichts Jüdisches oder Katholisches an sich, sondern ist nur die vorzugsweise beliebte Gestalt, in der hier die Lex na­ turae herangezogen und im weitesten Umfange als bereits biblisch bezeugt erwiesen wird. Umgekehrt wird hier freilich die Lex naturae stark alttesta­ mentlich gefärbt. Die christliche Ethik wird überhaupt gegenüber dem Ü ber-Idealis l mus der Bergpredigt einen Ton tiefer gestimmt d und einigt sich a

b c

d

133

A: wird, A: mit A: eine solche A: herabgestimmt

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 524.

11. Der Calvinismus

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dann leichter mit der Lex naturae und den praktischen Forderungen des weltlichen Gemeinschaftslebens. Aber wenn so der Idealismus und die Ge­ mütstiefe des Luthertums herabgestimmt ist, so ist dafür auch Erfolg und Wirkung möglich. Was auf der einen Seite an Radikalismus der bloßen Liebes­ ethik aufgegeben wird, das wird auf der anderen durch größeren Ernst, stär­ keren Gemeinsinn, gründlichere Strenge und peinlichere Gewissenhaftigkeit gewonnen. Was im Luthertum nur allzuleicht Theorie bleibt I und überdies praktisch stets noch Anleihen bei der Polizei und bei der Lex naturae machen muß, das wird hier strengste Wirklichkeit und kommt aus dem inneren We­ sen der Sache selbst. Es sind innere Spannungen und Schwierigkeiten der christlichen Ethik überhaupt, die sich hier auftun und die vom Calvinismus jedenfalls in der dem Durchschnittscharakter des Menschen entsprechende­ ren und daher wirksameren, vom Luthertum in der der christlichen Idee ge­ mäßeren und freilich auch unwirksameren Weise aufgelöst worden sind. So liegt im Calvinismus auch eine umfangreiche wissenschaftlich- und populär-ethische Literatur vor; auch die Erbauungsschriften sind vorwie­ gend ethisch gefärbt; es ist eine Literatur, die in verschiedenen Anläufen und Nuancen das biblische und das antik-humanistische Material kombiniert, in­ dem als Exponent von beiden j edesmal der Dekalog erscheint. Das Luther­ tum hat dieser Literatur wenig an die Seite zu setzen und sie später durch Ü bersetzungen sich vielfach angeeignet. Eine derartig begründete und kom­ mentierte, unermüdlich eingeprägte Moral wurde eine geistige Macht ersten Ranges und interpretierte nach allen Seiten systematisch das Sittengesetz des Calvinismus. Aber diese Gesetzlichkeit selbst bedurfteb, wenn sie wirken sollteC, eines Organs für Durchführung und Ü berwachung. Dieses Organ hat denn auch der Calvinismus gründlichst durchgebildet und, wie es für ihn selbstverständlich war, in der Schrift angeordnet gefunden. Eine Schrift, die das Sittengesetz des Dekalogs gab, mußte auch das jus divinum einer Kir­ chenverfassung und Kirchenzucht darbieten, das zu seiner Durchführung gehörte. Und so hat man denn aus dem Neuen Testament die großartige Verfassung des Consistoire entwickelt, die dem Calvinismus seinen Halt und seine Kraft gegeben hat. Das ist im Bisherigend genugsam hervorgetreten. Hier ist nur noch auf eine weitere Seite der Sache hinzuweisen, auf den ge­ schlossenen, systematischen, jeden Moment umfassenden Charakter, den die calvinistische Ethik durch das so verwaltete Gesetz empfangen hat. Die a-a

b c

d

A: Rationalisierung A: bedarf A: soll A: bisherigen

B, C 580

Die Kirchen­ zucht, " rationelle Organisierungd der Askese.

280

A 356

B, C 581

Calvinistische Kultur:

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

lutherische Ethik ist voll von Unterbrechungen und Wiedergewinnungen des Gnadenstandes und läßt in den Adiaphora ein Gebiet des Natürlichen frei, das in ihr eine feste religiöse Grundlage nicht hat, aber doch eine große Rolle spielt; an diesen Punkten ist aim Luthertum4 gewissermaßen die abso­ lut erbsündige Verderbung der Schöpfung ausgesetzt und kommt die Güte und Vernünftigkeit der Schöpfung zur Geltung. Für die strenge Logik des Erwählungsgedankens I und die Zucht des Consistoire gibt es alles das nicht. Die Perseveranz der Gnade kennt keine Unterbrechung, sondern nur ein beständiges Arbeiten, und die Sündigkeit der Welt kennt keine Adia­ phora, sondern nur die strenge Unterwerfung unter das Gesetz bis in jede Kleinigkeit. Es fehlt alle Harmlosigkeit und alle Freude an Paradoxie und Widerspruch, womit der Lutheraner in der Seligkeit der Rechtfertigungs­ gnade dieb Welt gebrauchen kann. Aber dafür herrscht auch eine durchge­ rechnete Strenge und Exaktheit, die der lutherischen Laxheit unbekannt ge­ blieben ist. In I dieser Strenge und Exaktheit, in der Beugung des Selbst und der Welt unter diese Maßstäbe liegt daher hier auch der Charakter der prote­ stantischen Askese. Der Calvinismus ist weltlicher als das Luthertum in sei­ ner Benutzung weltlicher Dinge, in seiner Handhabung politischer und so­ zialer Ideen, seiner Schätzung feiner Bildung und Sitte, aber er erkennt in alledem noch grundlegender als das Luthertum bloße Mittel des Gottesrei­ ches, die gar keinen Wert in sich selbst haben. Er beherrscht die Welt mehr als das Luthertum, aber er beherrscht sie dadurch, daß er sie mehr systema­ tisch verleugnet und den Widerstand gegen sie stärker organisiert. Die Erb­ sünde, die hier doch schließlich von Gott geordnet ist, wird bei allem Ab­ scheu dennoch nicht als die Macht betrachtet, der die Welt um ihrer Schuld willen überlassen werden muß, sondern als der zu beugende Feind der Er­ wählten, und die Kulturgüter der Gratia universalis und Lex naturae dürfen daher vorbehaltloser benutzt werden, vorausgesetzt, daß sie lediglich zu Gottes Ehre und nicht zum eigenen Genuß oder um ihrer selbst willen ge­ sucht werden; das wäre Kreaturvergötterung. Ein derartig organisiertes Gesamtleben estellt siche als Ganzes in Staat, Kirche, Schule und Wirtschaftsleben ddar. Als solches erschien es da­ her auch bereits überall in der bisherigen Darstellungd, und es bedarf hier keiner Wiederholung mehr. Nur das von hier aus organisierte Wirtschaftsle­ ben und die Politik bedürfen noch eines Wortes. Denn hier hat der Calvinis-

A: in ihm B, C' der A: kommt in erster Linie c-c d-d A: in Betracht. Es mußte daher von Anfang an als solches geschildert werden a-a

b

II. Der Calvinismus

281

mus wichtige Grundrichtungen des modernen Lebens angebahnt, die Arbeitsgesinnung, die der natürlichen Seelenverfassung des Genießens und Ausruhens so entgegengesetzt ist und dem Kapitalismus seinen besten Nährboden lieferte,a die politische Neigung zum naturrechtlichen Indivi­ dualismus und rationellen Aufbau des Staates , schließlich die ersten Elemente der dem Staatszwang sich entgegenstellenden Gewis­ sensfreiheit. Es versteht sich von selbst, daß in diesem System nur der geistliche Zweck ein wirklicher Selbstzweck ist. Rein utilitarisch ist daherc die Auffassung des Staates; patriotische und politische Gesinnung hat keinen Wert in sich selbst. So ist auch das Wirtschaftsleben 1 34 nur ein Leben in nützlichen Berufen, die für das Wohl des Ganzen erforderlich sind, während alle nutzlosen Berufe ausgeschlossen werden. So scheint d nichts anderes vorzuliegen als die Berufslehre, wie sie auch das Luthertum entwickelte. Und doch findet auch hier ein charakteristischer Unterschied statt. In der westlichen Kultur wird das Gefüge von I Ständen, Berufen, Zünften nicht so als ewige göttliche Notwendigkeit empfunden und geduldig ertragen, wie in den für die lu­ therische Ethik maßgebenden agrarischen Verhältnissen Norddeutschlands; die niedergehenden Reichsstädte hatten der lutherischen Ethik nichts mehr zu sagen. Außerdem ist im Calvinismus die Frage nach Nützlichkeit und Beitrag für das I Ganze allen viel geläufiger und erlaubter. So ist das System der Berufe hier in freierer Bewegung, hindert nicht Berufswechsel und Gewinnung neuer Berufe. Ein beweglicher und rationeller Utilitarismus wird hier möglich. Insbesondere aber egehören hier zue den erlaubten und nützlichen Berufen die Handels- und Unternehmerberufe mit ihrer Grundlage im Zinswesen. Die Forderungen der Wirklichkeit und die größere innere Unabhängigkeit vom kanonischen Recht haben dem Calvinismus die Be­ streitung des Zinsverbotes nahegelegt. Bei aller Strenge gegen den Wucher ist ein mäßiger Zins, über dessen Höhe die Obrigkeit wacht, ein unentbehr-

a

b c

d e-e

134

In A folgt: und A: Wirtschaftsleben. A: auch In A folgt: hier A: stehen unter

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 524.

1 . Wirtschafts­ lebenb

A 357

B, C 582

282

A 358

B, C 583

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7 . Jahrhundert)

liches Mittel des Gedeihens. So verwendet sich die Genfer Venerable Co m­ pagnie selbst für Errichtung einer Darleihungsbank, so entstehen die großen Handelskompagnien, die großen Banken und die großen Unternehmer. In­ dem nun aber der Kapitalgewinn bei der Strenge des Lebens nicht in Luxus und Wohlleben aufgehen konnte und andererseits die Benutzung jeder Er­ werbsmöglichkeit eine Pflicht der Arbeitsamkeit war, entstanden große Ka­ pitalanhäufungen, die teils in die öffentliche und private Wohltätigkeit flos­ sen, teils aber zu immer neuer Anlage und Verwertung nötigten. So trägt die calvinistische Ethik ihr wichtiges Teil bei zur Entstehung des Kapitalismus, der Lebensform der heutigen Welt, die von ihr selbst ganz antikapitalistisch gemeint war als ein Werk der calvinistischen Askese. Noch wichtiger aber als diese direkte Begünstigung des Kapitalismus ist die in­ direkte Schaffung seiner wichtigsten Voraussetzungen. Der Calvinismus schafft gerade durch seine rationale Anspannung der Arbeitsleistung ohne genießende Hingabe an den Arbeitsertrag den Boden für die kommende Blüte des Kapitalismus, der von Holland, dem hugenottischen Frankreich und vor allem von England und Amerika ausgeht. Er züchtet den Geist lük­ kenloser Arbeitsamkeit und rationeller Zweckbeziehung, die Herrschaft des Arbeitsberufes über den Menschen. Das Luthertum hat das nicht gekonnt und nicht gewollt; auch seine Sozial- und Wirtschaftslehre ist zwar naturge­ mäß utilitaristisch; aber für das Individuum verlangte bei ihm die Berufs­ pflicht nur die Sicherung einer auskömmlichen Existenz und die Fähigkeit zur Gewährung von Unterstützungen; die rationelle Steigerung der Gesamt­ wohlfahrt dagegen überwies es der Obrigkeit, die unter seinem Segen die Wege des Merkantilismus beschritt. Auf reformiertem Boden dagegen ge­ wann die Berufsidee bei der Abwesenheit des ausruhenden Genießens, bei der Bekämpfung aller innerirdischen und menschlich-gefühlsmäßigen Be­ friedigung als Kreaturvergötterunga, bei der Abzweckung jedes Lebensmo­ mentes auf die Verherrlichung Gottes j enen Charakter der Arbeit um der Arbeit willen, I die teils die Lust des Fleisches mortifiziert, teils die Mittel zu großartiger öffentlicher Liebestätigkeit gewährt, teils und vor ballern, haus­ haltend mit denb Gaben Gottes Gott durch Wuchern mit diesen Gaben verherrlicht. Auch hier liegt schließlich die Differenz der beiderseitigen Gottesbegriffe I zugrunde. Immerhin aber ist aus dieser allgemeinen Disposi­ tion die eigentlich kapitalistische Gesinnung nur im englischen Puritanertum und in den kleinen von der Welt sich trennenden asketischen Gemeinschaf-

A: Kreatur-Vergötterung a b - b A: allem als Haushalter der

II. Der Calvinismus

283

ten entstanden, die bei ihrer Trennung von der Welt neben der Religion nichts als die ökonomische Arbeit überbehielten. a Ü berall unter solchen UmständenO bildete sich jener Geschäftsgeist, der die rationelle arbeitsteilige Wirtschaft, die systematische Ausnützung der Zeit, möglichste Steigerung des ehrlichen Gewinnes und Verwertung für allgemeine Zwecke zur Auf­ gabe des frommen Christen und guten Bürgers machteb und ebendamit frei­ lich auch Gott von der Höhe des prädestinierenden Weltwillens herabzogC auf das Niveau des die Berufstreue seiner Erwählten mit irdischem und jen­ seitigem Segen lohnenden Auftraggebers. Gegenüber dem alten Genfer Cal­ vinismus ist das mit seiner Werkheiligkeit, seiner Gesetzlichkeit und seiner Messung an Geschäftsmaßstäben freilich eine starke Veräußerlichung, und die Gründe dieser Entwicklung liegen wohl vor allem in der Herkunft des Puritanismus aus den kleinbürgerlichen Mittelklassen, die durch den Gegen­ satz gegen die anglikanische Seigneurie, ihre von Hause aus geschäftlichen Interessen und den materiellen Kampf des Koloniallebens dazu veranlaßt worden sein mögen. In Genf selbst, in dem immer zugleich stark politisch und intellektuell interessierten Hugenot­ tismus, in dem arminianisch gesinnten und der Renaissancebildung erliegen­ den Reichtum Hollands und vollends in dem agrarisch-aristokratischen Un­ garn ist diese Entwickelung nicht eingetreten. Dagegen hat sie allerdings den Charakter der englisch-amerikanischen Welt durchgreifend bestimmt. 1 35 Auch ihmd fehlen patriarchalischene Züge nicht. Im Familien- und Staatsleben sind sie auch hier {vorherrschend; die! Unterordnung der Frau, a-a

b c

d e

f-J

1 35

A: Hier A: macht A: herabzieht A: dem Calvinismus A: patriarchalische A: vorherrschend, wie sich das bei dem aristokratischen Grundgedanken und der Ergebung in die Weltregierung Gottes von selbst verstand. Die

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 524.

2. Politik.

284

B, C 584 A 359

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7. Jahrhundert)

die strengste Geltung der patria potestas sinda selbstverständlich. Das Her­ vortreten gebildeter Frauen, wie der berühmten Anna Schürmann, die völlig humanistisch gebildet mit Voet und Descartes in Verbindung stand, gehört der Frauenbewegung der Renaissance, der Einfluß religiös wirksamer Frauen erst dem Pietismus und vor allem dem Quäker- und Täufertum an. Der Ar­ beiter wurde wie im Luthertum zur Ehrlichkeitb Bescheidenheit und Forderung billig en Lohns ermahnt;1 36 Armut und Abhängigkeit erschiene als das von Gott verordnete Los der Mehrzahl und dien ted der Erziehung einer gottergebenen Gesinnung, wie umgekehrt Herren und Arbeitgeber die christliche Liebe und Fürsorge betätigen solltene. Es liegt eben auch hier der patriarchalische Kosmos I der von Gott gesetzten Lebens- und Berufsformen zugrunde wie im Luthertum und im Katholi l zismus. Hooker entwickelt in seinen "Laws of ecclesiastical polity" (1 594) grundlegend dieses System faristokratischer Gliederungen.t; die aus dem göttlichen Willensge­ setz ausfließen und zum sittlichen Naturgesetz werden und von hier aus übergehen in das positive Gesetz. In diesem System ist jedem die Lebens­ norm durch die allgemeinen Naturgesetze und die ethischen Grundbegriffe erteilt und macht das positive Gesetz im Alten Testament, im gemeinen Recht und in der Staatsordnung die Anwendung dieser allgemeinen Begriffe. Gott ist die causa remota dieses Systems, die geschichtliche Len­ kung durch die Vorsehung in der Hervorbringung der einzelnen Sozialge­ bilde ist die causa proxima, und j eder hat sich in dem so entstehenden Sy­ stem als von Gott und der Vorsehung an seinen Platz gestellt anzusehen, er a

b c

d e

f-f

136

In A folgt: hier A: Ehrlichkeit, A: erscheint A: dient A: sollen A: von Gesetzen

Vgl. Troeltschs Literaturhinweis, S. 524.

11. Der Calvinismus

285

sei hoch oder niedrig, arm oder reich. Dabei verlangt es der alte, in der Prä­ destination verkörperte aristokratische Gedanke des Calvinismus, daß dies System sich als Herrschaft der Besten zu gestalten hat, und daß alle an die Spitze Gestellten sich als von Gott mit ihrem Amt betraut betrachten und so auch von den anderen geachtet werden: "it is a kind of natural right in the noble, wise and virtous to govern them, which are of servile disposition"1 37. Das Staatsideal ist die Herrschaft der Besten und die christliche Lenkung und Erziehung der Masse; so ist es bis Milton und Carlyle geblieben. Aber das politisch-soziale Lebenssystem des Calvinismus als Ganzesa doch nicht zu bezeichnen als christlicher Patriarchalismus, sondern vielmehr als die Idee der geschlossenen, im Zusammenwirken des Ganzen und der einzelnenb erzeugten christlichen Kultur, als die Idee des Reiches der Heiligen, das auch die Ungläubigen unter Gottes Wort beugt zur Ehre Gottes. cAus alledem zusammenC gehen dann aber wichtige politische Folgen hervor. Der Calvinismus achtet überall, solange sein Gewissen es duldet, die gegebene politische Gewalt. Aber abgesehen davon, daß er von ihr die An­ erkennung von Gottes Wort verlangt, sucht er sie auch möglichst ethisch rationell zu gestalten, indem es die Besten sein sollen, die herrschen, und indem die Herrschaft dieser Besten möglichst auf Zustimmung oder gar Wahl der Beherrschten beruhen sol1. 1 38 Darin äußert sich die Wirkung des tiefen,

a

b c-c

137 138

In A folgt: ist deshalb A: Einzelnen A: Daraus

Richard Hooker: The Laws of Ecclesiastical Polity (1 888), S. 94. Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 524.

B, C 585

286

A 360

B, C 586

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7. Jahrhundert)

in der Prädestinationslehre gesetzten a Individualismus, und dieser letztereO äußert sich ganz ausdrücklich in der individualistisch-rationellen Art, wie er das Naturrecht für seine Zwecke heranzieht. Folgen die Lutheraner der positivistischen Form des Naturrechtes, die den Staat aus Gewalt entste­ hen läßt, und wird bei ihnen diese Gewalt nur durch die Zurückführung auf die göttliche Vorsehung religiös rationalisiert, so folgen die Reformierten der rationalistisch-subjektivistischen Gestalt, die eine geordnete Staatsgewalt aus Anordnung und Zustimmung der Staatsangehörigen selbst hervorgehen läßt. In dieser Richtung wirkt die Auffassung des alttestamentlichen Staates als Bund mit Gott, die presbyterial-synodale Organisation der Kirche und ihre Begründung auf Repräsentation und Majoritäten, der reichliche Ge­ brauch des Wahl- und Bestätigungsverfahrens, im tiefsten Grunde natürlich die I religiöse Idee von der aktiven und verantwortlichen, zu Gottes Ehre wirkenden Persönlichkeit. So sind auf reformiertem Boden die Rechtslehren des Staatsvertrages und der Repräsentation gepflegt worden, die auf lutheri­ schem fehlen;b Auf callen drd Seiten wird die Ethik in alter Weise mit der Lex naturae und einem aus ihr abgeleiteten Naturrecht unterbaut, aber die jedes­ maid verschiedene Deutung dieser Unterlage spiegelt Verschiedenheiten des religiösen Gedankens, der freilich seinerseits jedesmal durch die vorgefun­ dene politisch-soziale Umgebung schon mitbedingt ist. Althusius, die huge­ nottische Publizistik, der Arminianer Grotius, der Anglikaner Hooker ent­ wickeln aus Schrift und Vernunft die Theorie des Staatsvertrages als der Grundlage des politisch-sozialen Lebens, und, obwohl über Calvin damit weit hinausgehend, können sie sich doch auf die Konsequenz seiner Ideen berufen. So empfängt die calvinistische Politik den oft beobachteten Zug zur Beförderung des politischen Individualismus und des rationellen Naturrech­ tes. Er fügt sich freilich dem augustinisch-alttestamentlich-aristotelischen Gedankengang noch durchaus ein. Der Staat gehört der Ordnung der I Sünde an und ist die durch die Sünde bedingte Umgestaltung des Naturrech­ tes; alle seine Bildungen sind von Gottes Vorsehung herbeigeführt, und auch a-a

b c-c

d

A: Individualismus. Er A: fehlen. A: beiden A: beide Male

11. Der Calvinismus

287

j eder Kirchen- und Staatscovenant ist zugleich ein Bund vor Gott, der die so eingesetzten Machthaber mit göttlicher Autorität bekleidet; jeder Staatsver­ trag ist eine Zweckmäßigkeitsoperation, die dem Individuum zu seiner ge­ ordneten Befriedigung hilft, aber noch nicht, wie im späteren technischen Naturrecht, ein Rechtsbegriff, der auf einem vorstaatlichen, begrifflich strengen Rechte des Individuums als solchen beruhte. Der starke calvinisti­ sche Individualismus drängte nur nach einer möglichsten Mitbeteiligung des Individuums. So fügt Hooker zu dem oben angeführten Satze hinzu: "never­ theless for manifestation of this their right, and men's more peacable con­ tentment on both sides, the assent of them who are to be governed seemeth necessary"1 39. Immer bleibt doch die Bibel die Hauptquelle der Deutung ei­ nes solches Naturrechtes und, wenn hierbei die Lutheraner sich mehr an die göttliche Autorisation und Einsetzung der Gewalthaber, die Reformier­ ten sich mehr an die Bundschließungen und die soziale Predigt der Pro­ pheten gehalten haben, so ist doch auch ihnen jede Gesellschafts- und Autoritätsbildung trotz aller Beteiligung der Individuen eine göttliche Veran­ staltung: "Almighty God has graciously endued our nature and thereby en­ abled the same to find out both those laws which all men generally are for ever bound to observe, and also such as are most fit for their behoof who lead their lives in any ordered state of government"140. Eine direkte politi­ sche Wirkung solcher Gedanken ist daher auf dem Boden des reinen Calvinismus auch nur in einigen radikalen hu­ genottischen Programmen und in den Neuengland-Staaten eingetreten; die ersteren sind auf Grund der Lehre vom Revolutionsrecht der ma­ gistrats inferieurs stark ständisch gedacht, und die letzteren sind wieder in den reformierten Patriarchalismus ein l gebogen.a Ebendeshalb ist selbst auf rein religiösem Gebiet nicht diejenige Wirkung eines solchen Individualismus eingetreten, die naturgemäß ist, wo er der lei­ tende Gedanke ist, die Gewissensfreiheit. Zwar haben die unter abnormen Verhältnissen lebenden englischen, niederländischen und amerikanischen Flüchtlingsgemeinden eine streng individualistische Kirchenverfassung, den Kongregationalismus, ausgebildet und gegenüber ihren Bedrängern die Ge­ wissensfreiheit als Folge des rein persönlichen Ü berzeugungscharakters der Religion gefordert. Allein nach innen war dabei doch immer die Vorausset­ zung, daß die Prädestination übereinstimmende religiöse Erkenntnis hervora

139 140

In A kein Absatz. Richard Hooker: The Laws of Ecclesiastical Polity (1 888), S. 94. Ebd., S. 1 00.

A 361

288

B, C 587

Politischer Ursprung des Anglikanismus.

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

bringen müsse und daß das Dogma streng zu wahren sei; nach außen war es nur die Forderung, daß Gewalt über die religiöse Wahrheit nicht bestimmen dürfe, sondern diese sich durch sich selbst durchsetzen müsse. An verschie­ dene mögliche Formen und Ausdrücke dieser Wahrheit ist nicht gedacht, und, einmal in der Herrschaft, hat der streng calvinistische Kongregationalismus sich zur Aufrechterhaltung der I Wahrheit verpflichtet gefühlt. So herrscht im Grunde doch der Gedanke des Reiches der Heiligen und der Beugung aller Staatsgenossen unter die dogmatischen und ethischen Ideale dieses Reiches. Die Prädestination läßt die allgemeine Gleichheit und die Menschenrechte nicht aufkommen; die Herrschaft eines absoluten, aus der Bibel geschöpften Wahrheitsideals läßt den Relativismus der dogmatischen Lehren nicht aufkommen, diea die Voraussetzung für die Toleranz und die Freiheit verschieden urtei­ lender Gewissen sind:b die Gewissensfreiheit ist nur Freiheit und Un­ antastbarkeit des wahren Gewissens. DieC Versuche, aus dem Calvinismus die Ideen des modernen Individualismus, der Demokratie, der staatlichen Neutralität gegen das Kirchenwesen, der gegenseitigen Toleranz verschiede­ ner Kirchen abzuleiten, sind Irrtümer; seine Idee ist theokratisch . Wenn doch aus ihm tatsächlich diese Folgerungen hervorgetreten sind, so ist das nur geschehen, weil neue und fremde Gedanken zu ihm hinzutraten und die in ihm streng gebundenen und mit der Theokratie vermittelten täu­ ferischen Elemente befreiten. Das geschah in England. III. DerAnglikanismus und Independentismus. Einen ganz eigentümlichen Gang nahmen die Dinge in England, das innerhalb der europäischen Entwicke­ lung überhaupt eine insulare Stellung einnimmt, die Rezeption des römi­ schen Rechtes nicht mitgemacht und entgegen der kontinentalen Entwicke­ lung zum Absolutismus die alte germanische Staatsauffassung der Teilung der Staatsgewalt zwischen Krone und Ständen beibehalten hat. Auch waren hier bereits starke landeskirchliche Rechte gegenüber dem Papsttum erzwungen worden. In diese Verhältnisse griff aber doch auch hier der Zug zur Entwickelung der absoluten Monarchie ein, und, wie auf dem Kontinent, sollte die Losreißung der Kirche vom Papst und die Gewinnung der Macht über die Kirche der Krone hierzu verhelfen. So ist die englische

a

b c

A: der A: ist, In A folgt: häufigen

IH. Der Anglikanismus und Independentismus

289

Kirche zunächst I eine rein politische Schöpfung des Absolutismus, ein gesteigerter Gallikanismus. 1 41 Damit waren aber die auch in England eindrin­ genden, an alte wiklifitische Reste und humanistische Opposition anknüp­ fenden, reformatorischen Kreise nicht zufrieden, während andererseits die Losreißung von Rom doch ihre Entfaltung begünstigte. Auch hier wurdena die ursprünglich lutherischen Einflüsse durch Schweizer, Genfer und Straß­ burger Beziehungen abgelöst und flößteb der Calvinismus der Bewegung seine Energie ein. Daraus entstanden schwere und blutige Kämpfe, und das Ergebnis war unter der Regierung Elisabeths ein Kompromiß. Die eigen­ tümliche Institution der Church of England blieb, aber ihr Dogma wurde ge­ mäßigt calvinistisch und ihr Kultus beseitigte das, was mit diesem Dogma unvereinbar war wie Fegfeuer, Heiligenkult usw. In den 39 Artikeln und dem Common Prayer Book erhielt sie ihr Symbol. Das allein gab dem Staate wieder Festigkeit I und Ruhe, und gestützt auf dieses uniformierte Kirchentum vermochte Elisabeth in der spanischen Flotte die letzte und wichtigste Aktion der Gegenreformation zu vernichten. Seit dieser tödlichen Verwundung Spaniens ist der Protestantismus gerettet. Damit ist ein Kirchentum von völlig nationaler Eigenart geschaffen, nach außen scharf abgegrenzt gegen andere Kirchen, j eden Einfluß abschneidend; in Dordrecht haben die anglikanischen Deputierten nicht mitgestimmt. Eine Ausbreitung hat es nur durch Hinüberwirken nach Schottland und Irland, sowie durch die Kolonisation gefunden, so daß heute allerdings der Episkopalismus über die ganze Welt verbreitet ist. In seiner echten na­ tionalenglischen Gestalt ist er j edoch schroff abgeschlossen. Es blieb die alte Episkopalverfassung mit der Lehre von der bischöflichen Sukzession, dem priesterlichen character indelebilis, der Beteiligung der Bischöfe an der Lan­ desregierung im Oberhause, dem eximierten Gerichtsstand und dem weltlichen Besitz der Priester. Es blieb der König als Oberhaupt, der durch den Suprematseid gewaltsam die Konformität oder die geschlossene Religionseinheit des Staates aufrecht erhält. Es blieb der Kultus in den katholischen Formen und Gewändern, nur daß die Messe abgeschafft war. Dagegen ist das Dogma der Kirche gemäßigt calvinistisch mit Zurückstellung der Präde­ stinationslehre. Die Folge davon ist, daß im Anglikanismus frühzeitig rationalistische und moralistische Milderungen eintreten. Seine großen Prediger

a

b

141

A: werden A: flößt

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 524 f.

A 362

B. C 588

Wesen des Anglikanismus.

290

A 363

Erhebung des Puritanismus gegen den Anglikanismus.

B, C 589

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 17. Jahrhundert)

Hooker, HaIes und Taylor können so als Wegbereiter des späteren Latitudi­ narismus gelten. Die Theologie beschäftigt sich bei dem Interesse an der Kontinuität mit der altchristlichen Bischofskirche gern mit verfassungsge­ schichtlichen, liturgischen und patristischen Studien, darin unterstützt von der fortwirkenden Renaissance-Philologie. Auch die Ethik nimmt unter die­ sen Umständen eine mildere Färbung an; sie nähert sich in ihrer praktischen Verständigkeit der calvinistischen und ihrer größeren Läßlichkeit gegenüber dem Natürlichen der lutherischen. Ihre Staatslehre ist ähnlich der lutheri­ schen absolutistisch. Filmer schrieb das berühmte Musterbuch patriarchali­ scher Staats l lehre142, die alle Gewalt von der patria potestas Adams ableitet, und der naturrechtlich-calvinistisch gesinnte Hooker läßt den Absolutismus auf stillschweigendem Konsens der Beherrschten rechtsgültig beruhen. Dieser Kompromiß an sich unvereinbarer Ideen befriedigte natürlich die große calvinistische Partei nicht, die sich nun im Gegensatz gegen die papi­ stisch verunreinigte Kirche Puritaner zu nennen pflegte. Zwar hat Elisabeth mit großer Härte diesen Puritanismus auszurotten gesucht und Scharen zur Auswanderung nach den Niederlanden gezwungen. Aber unter dem Einfluß der Schotten und j ener niederländischen Flüchtlingsgemeinden bildete sich ein neuer Puritanismus, der zu großen Dingen berufen und in seinem Innern nicht unerheblich verändert war. Zwar schien er äußerlich eine große calvini­ stische Partei von gleichmäßiger Strenge und Lebhaftigkeit der Forderungen. Aber in der Berührung mit den I holländischen Verhältnissen, dem holländi­ schen Täufertum, dem dortigen Toleranzgedanken und Republikanismus hatten in den Flüchtlingsgemeinden die Ideen sich gewandelt, und diese Ideen wirkten auf England zurück. Dort hatte sich schon 1 581 in beständiger Berührung mit den Täufern der Independentismus oder Kongregationalis­ mus gebildet:143 die Theorieena der Freiheit vom Staate, der Autonomie der Einzelgemeinde, der demokratisch-korporativen Gemeindeverfassung, Be­ schränkung der Gemeinde auf Wiedergeborene, Beseitigung j eder fests te-

a

142 143

A: Theorien

Vgl. Robert Filmer: Patriarcha or the natural power of kings (1 680) . Im Jahr 1 58 1 gründete Robert Browne (1 550-1 633/36), ein entschiedener Vertreter demokratisch-kongregationalistischer Ideen, die erste separatistische, von der Staatskirche unabhängige Gemeinde in Norwich, wo auch eine holländische Täufer­ gemeinde beheimatet war. Friedrich Loofs: Browne, Robert (1 897) , S. 425 f., stellt die zeitgenössische Diskussion um den Einfluß dieser Täufergemeinde auf Browne dar und stellt fest, daß eine "völlige Unabhängigkeit" unwahrscheinlich sei.

111. Der Anglikanismus und Independentismus

291

henden Liturgie, Herabsetzung der Sakramente zu reiner Zeremonie; im übrigen sollte das calvinistische Dogma und eine allgemeine Christlichkeit des Staates gelten. Der uncalvinistische Charakter dieser Lehre liegt auf der Hand. Auchb die Anfänge des eng­ lischen enthusiastischen, später freilich orthodoxen Baptismus liegen hier in Holland, indem 1 606144 sich eine arminianisch gesinnte englische Täuferge­ meinde in Holland und 1 633145 eine streng calvinistisch gesinnte, zugleich die Untertauchungstaufe lehrende in London von den Independentengemein­ den abzweigte. Außerdem dauertenC in England selbst die Familisten fort, die später direkt in die Ranters übergingend und deren "Apologie" noch 1 656 neu aufgelegt wurde e 146. Auch die Grundlagen des Quäkerturns müssen hier

a

b c

d e

1 44

145

146

In A folgt: und ihr Zusammenhang mit dem Täuferturn A: Aber auch A: dauern A: übergehen A: wird

Nachdem John Smyth 1 605 als Prediger in Lincoln entlassen worden war und eine führende Stellung gegen die antipuritanische Haltung jakobs I. eingenommen hatte, gründete er 1 606 eine Gemeinde in Gainsborough. 1 608 floh er mit der Gemeinde nach Amsterdam, wo er trotz der schon bestehenden Independentengemeinde eine eigene Gemeinde gründete, indem er sich und seine Glieder selbst taufte. 1 6 1 5 schlossen sich Teile der Gemeinde den Mennoniten an, der ablehnende Rest kehrte unter der Führung Thomas Helwys' nach England zurück und gründete in London die erste Baptistengemeinde, deren Anhänger aufgrund ihrer Lehre der universalen Gnadenwahl auch als General-Baptists bezeichnet werden. Henry Jacob, um 1 6 1 0 in den holländischen Emigrantengemeinden tätig, gründete 1 6 1 6 eine nichtseparatistische, kongregationalistische Gemeinde in Southwark. Ob sie sich mit der im vorangegangenen Kommentar genannten Baptistengemeinde Thomas Helwys ' vereinigte, ist unklar. Die Southwark-Gemeinde erfuhr um das Jahr 1 633 eine Spaltung aufgrund differierender Haltungen zur Kindertaufe. Der sich ab­ spaltende, zur Volltaufe durch Untertauchen sich bekennende Gemeindeteil wurde fortan von John Spilsbury geleitet. Ihrer Lehre von der partikularen Gnadenwahl halber werden Anhänger dieser Gemeinde auch als Particular-Baptists oder als cal­ vinistische Baptisten bezeichnet. Anonym: An Apology for The Service of Love (1 656) .

292

A 364

B, C 590

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 17. Jahrhundert)

oder in holländisch täuferischen Ideen liegen. Insbesondere aber ist der große Erbauungspoet, Bunyan, von täuferischen Ideen erfüllt; sein "Pilgrims progress" scheint sich an die Erzählung des Tobias von den Wanderungen des Heinrich Niklaes 147 anzuschließen und sein "Holy War" beruht geradezu auf der Geschichte des Münsterischen Aufruhrs.148 Noch aber tratena alle diese Dinge nicht wesentlich hervor. Noch schien nur eine große gemeinsam presbyterianische Opposition vorhanden, die ge­ gen das absolutistische und katholisierende Regiment der beiden Stuarts immer stärker und leidenschaftlicher sich erhob. Calvinismus und Vertei­ digung der parlamentarischen Volks rechte wurden identisch; die Verbindung des calvinistisch-religiösen Individualismus mit den angel i sächsischen Ideen der Selbstregierung eröffnet die folgenreiche englische Parallele zur hugenottischen Lehre. Da berief Karl I. kein Parlament mehr und regierte 1 1 Jahre ohne Parlament. Als er aber die gleichen katholisierenden Maßnah­ men auf Schottland ausdehnen wollte, da erhob sich dort ein neuer Cove­ nant. bDie von diesem drohende Gefahr" veranlaßte den König endlich zur Wiedereinberufung des Parlamentes. Aber dieses von der Opposition ge­ wählte, presbyterianisch gesinnte Parlament griff nun selbständig in die Entwicklung ein und machte sich zum Organ des Kampfes gegen Anglika­ nismus und Absolutismus. Es rüstete 1 642 eine eigenes Heer aus und er­ öffnete damit den Bürgerkrieg. Die Siege der Schotten und des Parlamentsheeres setzten es in den Stand, eine große Synode zu berufen, I welche von

a A: treten b - b A: Das c A: sein

147

Troeltsch bezieht seine Kenntnis aus Belfort Bax: The soda! side of the Refor­ mation in Germany, Part III (1 903) , S. 379. Dort heißt es: "No one reading the ,Pilgrim's Progress' side by side with Tobias' story of the journey of Henry Nicholas and his friends, when they set out to an unknown destination, can fail to be struck with the idea that Bunyan had read Tobias' book or that, at any rate, they lived in a like mental atmosphere. We do not mean to say that there was any correspondence in the detail of the story but at the general idey of the pilgrimage [ . . ]". Tobias, ein Anhänger und Begleiter des Führers der Familisten (oder: des house of love) Hein­ rich Nicholas, veröffentlichte "some time during the third quarter of the sixteenth century" (Bax, a.a.o., S. 339) ein Buch über Nicholas unter dem Titel: Mirabilia opera Dei: Certaine wonderfull Works of God which hapned to H. N. [1 575] . Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S . 525. .

148

III. Der Anglikanismus und Independentismus

293

1 643-1 647at49 tagend England als calvinistische Staatskirche einrichten sollte. Die streng reformierte Westminster-Konfession und zwei Katechis­ men wurden beschlossen, der Episkopalismus abgeschafft und gegen eine allerdings lebhaft protestierende Minorität die genferisch-schot­ tische Kirchenverfassung beschlossen. I SO Aber diese Synode sollte auch das einzige sein, was der echte Calvinismus in England erreichte. Ihre Beschlüsse blieben auf dem Papier. Denn inzwi­ schen trat in dem Heer ein neuer religiöser Geist hervor, der dem presbyte­ rianischen Staatskirchenideal gerade entgegengesetzt war und der um so ein­ flußreicher wurde, je mehr der Bruch mit allen historischen Ordnungen nur das Heer als Träger einer aktions fähigen Gewalt übrig ließ. I Sl Es wird immer eine der denkwürdigsten und schwierigsten Fragen bleiben zu sagen, wie und woher dieser Geist in das Heer gekommen ist. Er erklärt sich wohl zumeist

a

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151

A: 1 643-47 Die auf Veranlassung des englischen Parlamentes am 1 . Juli 1 643 sich konstituie­ rende Westminster Assembly of Divines bestand aus 1 2 1 Geistlichen, 1 0 Oberhaus­ sowie 20 Unterhausabgeordneten und tagte bis zum 25. März 1 652. Nachdem zu­ nächst an einer Revision der 39 Artikel gearbeitet wurde, begann man seit dem Er­ scheinen einer schottischen Delegation im August 1 643 eine die schottische und die englische Kirche vereinigende Konfession und einen Katechismus zu erarbeiten. Bereits 1 647 war das Vorhaben zum Abschluß geführt worden, so daß die letzten schottischen Vertreter die Assembly am 9. November 1 647 verlassen konnten. Die verbleibenden englischen Vertreter berieten, nach dem Erreichen eines gemeinsa­ men Katechismus, über die Ausarbeitung neu zu behandelnder Detailfragen. Die Westminster Assembly (siehe obenstehenden Kommentar) verfaßte eine die schottische und englische Kirche vereinende confession of faith sowie einen großen und einen kleinen Katechismus nach calvinistischem Vorbild (Müller: Die symboli­ schen Bücher, 1 886, S. 542-653) . Das Bekenntnis wurde von der schottischen Ge­ neral Assembly am 27. August 1 647 anerkannt und verdrängte alsbald die confessio scotica von 1 560 und wurde auch für die amerikanischen Gemeinden maßgeblich. Die Zustimmung des englischen Parlamentes erfolgte im März 1 648. Das Episkopat wurde freilich schon vor der Westminster Assembly abgeschafft, nämlich in einer Parlaments akte vom Januar 1 643 und mit Wirkung vom 5. November 1 643. Neben den mehrheitlich presbyterianisch gesinnten Teilnehmern "gab es in der Synode eine kleine aber energische Partei von Independenten [0 0 . ] . Diese [0 0 '] waren ent­ schlossen, der presbyterianisch gesinnten Majorität nicht nur jedes erdenkliche Zu­ geständnis abzuringen, sondern auch die Einführung der presbyterianischen Verfas­ sung möglichst zu verzögern, ja wenn möglich ganz zu hintertreiben." Benjamin B. Warfield: Westminster Synode (1 908) , hier S. 1 80. Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 525.

Der Indepen­ dentismus.

294

A 365

B, C 591

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

aus dem Zurückströmen holländischer und amerikanischer Flüchtlinge, die nach dem Aufhören der Verfolgung wieder das Vaterland aufsuchen konn­ ten und independente, republikanische und enthusiastische Ideen aus ihrer Berührung mit dem Täufertum und aus der sektenhaften Entwickelung ihrer Flüchtlingsgemeinden zurückbrachten. Gewissensfreiheit der religiösen Ü berzeugung bei der Voraussetzung einer im allgemeinen selbstverständ­ lichen Christlichkeit der Nation, demokratisch-korporative Gemeindebil­ dung, analoge demokratisch-korporative republikanische Auffassung des Staates, der Enthusiasmus persönlicher, innerlicher religiöser Erleuchtung, pietistische Strenge der Lebensführung, vor allem die felsenfeste Ü berzeu­ gung von der Notwendigkeit, moralisch den Staat unter das Gesetz der christlichen Ethik zu stellen und das Leben bei aller Freiheit der dogmati­ schen Begriffs- und der kirchlichen Gemeindebildung doch streng unter diese Maßstäbe organisatorisch zu beugen;a das sind die Ideen, welche das Heer und vor allem seinen gewaltigen Führer Cromwell (gest. 1 658) und sei­ nen späteren Staatssekretär Milton erfüllen. Hier wird der Bruch mit der ge­ lehrten Schultheologie und ihrem Ideal einer uniformen Doktrin vollzogen, wird das Ideal der einfachen aus der Bibel geschöpften Laienreligion er­ neuert, die Bibeldeutung abhängig gemacht von der persönlich-individuellen Erfahrung und Erleuchtung und I innerhalb einer allgemeinen offenba­ rungsgläubigen Christlichkeit der Relativismus der theologischen Lehre pro­ klamiert. Das ist ein runder Gegensatz gegen die dogmatische Idee des ech­ ten Calvinismus. Eine solche Anschauung ließ Raum für alle mög­ lichen Gemeindebildungen, für Kongregationalisten, Baptisten, Quäker, Presbyterianer, Pietisten, reine religiöse bIndividualisten. Aber dieser Sub­ j ektivismus galt nur für das Dogma, nicht für die Ethik. Alle die bunten kirchlichen Gemeinschaften sollten sich beugenb unter die große, gemein­ same Idee des Staates einer christlichen Sittlichkeit oder des Reiches der Hei-

a A: beugen: b - b A: Individualisten und beugte sie doch alle

IH. Der Anglikanismus und Independentismus

295

ligen. aEs sollte nurO dies Reich der Heiligen im echt christlichen Sinn, mit relativer dogmatischer und absoluter kirchenverfassungsmäßiger Toleranz verbunden sein und sich nur auf das Christlich-Moralische erstrecken. Daß die erregte reli­ giöse Phantasie und Leidenschaft, die freigegebene Bibeldeutung hierbei ne­ ben dem gewaltigsten Heroismus auch die bizarrsten Exzentrizitäten und wildesten Spekulationen hervorgebracht hat, istb selbstverständlich. So groß und gewaltig die Gedanken der Führer warenc, so verworren, anarchistisch und exzentrisch warend die der Masse, die ohne Bildung und Regel die Bibel und die Inspiration für ihre Einfalle ausbeutete. e Gegenüber diesen wild wo­ genden Massene war das Parlament nicht imstande, die Führung in der Hand zu behalten; sie geriet völlig in die Hände Cromwells und seiner Getreuen. Diese aber wurden durch den einmal vollzogenen Bruch immer weiter f zu einer! radikalen Neuaufrichtung gder staatlichen und christlichen Ordnungg getrieben. Der König war zu den Schotten geflohen, und die streng presby­ terianischen Schotten traten nun für den König gegen die Sektierer ein. Die Schotten wurden geschlagen, das Parlament von Cromwell gereinigt und der König auf Grund der hugenottisch-schottischen Theorie von der Pflicht des frommen Volkes gegen die gotdose Obrigkeit hingerichtet (1 649) . Die Re­ publik wurde erklärt und, als das Parlament versagte, ein neues Parlament, das Parlament der reinen Heiligen, einberufen. Aber als die Heiligen durch die Abschaffung der Zehnten die Kulturgüter, insbesondere die Universitä­ ten, antasteten, konnte Cromwell auch mit ihnen nicht regieren und ließ sich zum Protektor machen. Hier hat der geistliche Herrscher Unvergängliches für die Größe Eng­ lands geleistet. Aber das Experiment des christlichen Staates zerfiel mit sei­ nem Tod. Die Stuarts kehrten zurück, und von seinem Werke blieb nichts als die politische Machtstellung Englands, die Lehre von der Duldung religiöser

a-a

b c

d e-e

f-j g-g

A: Nur sollte In A folgt: nur A: sind A: sind A: Unter diesen Umständen A: zur A: des christlichen Staates

296

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 1 7. Jahrhundert)

Gewissensüberzeugung und Freigebung der Gemeindebildung. Sehr eingeschränkt wurde sie durch die glorreiche Revolution Wilhe1ms III. (1 689) zum Gesetza•

a

A 366

In A folgt: , in ihrem vollen Sinne dagegen durch die Lehre John Lockes zur welt­ beherrschenden Theorie. [Absatz, als Randkolumne: Umschlag in den Liberalismus.) Vor allem aber ergab sich, freilich sehr gegen die Absicht des Independentismus, die Einsicht in die rein weltliche, von keiner religiösen Idee zu lenkende Natur des Staates und der innerweltlichen Kulturgüter, welche Lehre Hobbes als Ertrag des geistlichen Experimentes formulierte und zum Ausgangspunkt der modernen Ethik machte. Der damit eintretende Umschwung wurde vollendet durch die Ver­ wandlung des reli l giösen Individualismus in die rein weltlich demokratischen Ideen der Gleichheit der Menschen und ihrer Lebensansprüche. [Folgende Passage wurde in B, C, 593j., unten, S. 299j., leicht modifiziert eingefügt. Die Abweichungen von A gegenüber B, C sind dort als Varianten ausgezeichnet.) Den Ü bergang hierzu vollziehen die Leveller, aber diese Ideen werden bald zum Gemeingut aller, bei denen die Revolutionswirren die Herrschaft der religiösen Idee gebrochen haben. Die Prädestinationslehre ist mit der Zurückdrängung des Presbyterianismus und dem Scheitern des geistlichen Reiches zerstört und durch den Universalismus der Gnade ersetzt; der Enthusiasmus der religiösen Subjektivität ist verraucht und zum Subjektivismus des natürlichen Individuums geworden. Damit wird der Raum frei für das große Ergebnis der Epoche, den Liberalismus. Er behält aus der religiösen Grundlage einen allgemeinen, oft sehr christlich gefärbten Theismus bei und stattet das Individuum aus mit den in dieser Epoche erreichten Prädikaten und Forderungen individueller Freiheiten. Die Individuen sind ihm mit diesen Ansprüchen von Hause aus und wesentlich ausgestattet, und diese Ausstattung ist das Wichtigste am Menschen; keine Prädestination und keine Ü bernatürlich­ keit fügt dem etwas weiteres Wesentliches hinzu, sondern die individuellen Ein­ heiten des sozialen Systems treten in die Analogie zu den gleichartigen individuel­ len Einheiten der neuen mechanischen Naturphilosophie, und der Gedanke geht von der bisherigen dogmatischen auf die neue naturphilosophische Basis über. Die Harmonie der Naturelemente wie die der Sozialelemente hat ihren Grund in der zweckvollen göttlichen Weltregierung, die im Christentum diesen ihren allgemeinen natürlichen Zweckgedanken nur besonders großartig zusammen­ faßt und offenbart. Die Lex naturae wird von ihrer biblisch-theologischen Um­ klammerung befreit und ihrem alten stoischen Zusammenhang der Naturphiloso­ phie zurückgegeben, nur daß dieser Zusammenhang jetzt aus der atomistisch­ mechanistischen Naturlehre und der theistischen Teleologie gedeutet wird; und umgekehrt wird die Bibel nunmehr radikal von dem neuen Begriff der Lex naturae umklammert und alles damit nicht Ü bereinstimmende als bloß zeitgeschicht­ lich bedingt betrachtet und beiseite gelegt. So kommt es neben der Toleranzlehre zu der Sozialphilosophie des Liberalismus, zum Aufbau von Staat und Gesell­ schaft auf dem Individuum und seinen wesentlichen Rechten, zu der Zweck-

IH. Der Anglikanismus und Independentismus

297

blhre Resteb wurden zu ruhige nC und loyalen Dissen­ ter l kirchen. Auch die aufgeregten Quäker beruhigten sich zu einer kommer­ ziell prosperierenden Sekte, die Baptisten I wurden orthodox; beide grün­ deten zugleich Siedelungen in Amerika, wo vor allem Penns Stiftung in Philadelphia zu hoher Bedeutung gelangte. Dort war auch von früher her noch eine Stiftung des echten Independentismus, Rhode-Island, die Schöp­ fung von Roger Williams.1 52 Dieser edle Enthusiast für Gewissensfreiheit, Menschenrechte und Indianermission, der, wie später Penn, den Indianern die Ländereien durch Vertrag abkaufte, war nach seiner Auswanderung aus Altengland (1 631) nach Massachusetts gegangen, dort überall von den stren­ gen Puritanern abgewiesen und schließlich verbannt worden, gründete daher neue Siedelungen ganz demokratischer und religiös independenter Art, die unter seiner beständigen Einwirkung schließlich zu dem Staate Rhode-Is­ land zusammenwuchsen. Dieser Kolonialstaat wurde für Neuengland, was dieses für Altengland geworden war, der Sammelpunkt aller Verfolgten und Freiheitsdurstigen, verstand es aber, das Prinzip der rein weltlichen Bedeu­ tung des Staates und völlige Kirchenfreiheit zu behaupten; christlich wollte dabei auch er bleiben, nur ohne Zwang. Von den vereinigten Neuengland­ staaten mit äußerstem Mißtrauen als Herd politischer und religiöser Anar­ chie betrachtet und mit dem verabscheuten Anabaptismus zusammengewor­ fen, vermochte er doch sich zu halten und schließlich seine Aufnahme in den Bund durchzusetzen. Von ihm und den Quäkern ging dann nach der Erweichung der puritanischen Orthodoxie, unterstützt durch den inzwi­ schen auch hier eingedrungenen Deismus, die große Parole der freien Kirche und des freien Gewissens im freien christlichen Staate aus, die später nach dem Abfall von England in den Einzelverfassungen und der Unionsverfas­ sung das religionspolitische Programm Nordamerikas wurde, das Prinzip beziehung beider auf das individuelle Wohl. Die Staatslehre Lockes und ein halbes Jahrhundert später die Wirtschaftslehre Adam Smiths sind auf diesem Boden ge­ wachsen und von ihm aus zu einer Weltmacht geworden, die ihren Ursprung in englischen und independenten Ideen darin noch immer bekundet, daß es ihr we­ niger auf die Gleichheit als auf die Freiheit und Ungestörtheit der Bewegung des Individuums, weniger auf eine abstrakte Gleichheitsdoktrin, als auf Kritik und Re­ form des Bestehenden nach diesen Maßstäben, ankommt. A: Independentismus in Amerika. a-a b - b A: Die Reste des Independentismus und Puritanismus A: friedlichen c 152 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 525.

B, C 592 A 367 'Weitere Ge­ schichte des In­ dependentismus als Gewissens­ freiheit."

298

B, C 593 < U niversal­ historische Doppelwirkung der englischen Revolution und Säkularisierung des religiösen Individualis­ mus.>

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

des absoluten kirchlichen Individualismus nicht aus religiöser Indifferenz, sondern aus Achtung vor der Gewissensfreiheit.

Das Reich der Cromwellschen Heiligen ist der Wendepunkt in der Geschichte des Protestantismus, die letzte religiöse Volksbewegung, das Ende der Religionskriege, der Ausgangspunkt der modernen Welt. Politik und Wirtschaft lösen sich prinzipiell von der geistlichen Verwickelungd, die Toleranz wird die Grundlehre aller philosophischen Bildung, die Ethik stellt sich selbständig auf die Basis des natürlichen Sittengesetzes,e völlig unbe­ kümmert um die mittelalterlich-reformatorische Lehre von der Identität des natürlichen Gesetzes mit dem christlichen oder die Lehre umkehrend und das christliche Gesetz auf das natürliche reduzierend. 1 ss a

b c

d e

155

Fehlt in A. A: atomistisch-mechanistischen A: Maßstäben, A: Verwicklung und streben nach selbständigen, natürlichen rationalen Grundla­ gen und Maßstäben In A folgt: das sie aus antiken Ideen und modernen Erfahrungen ausbaut,

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 525.

III. Der Anglikanismus und Independentismus

30 1

Diese Wirkungen liegen als Tatsachen auf der Hand. Aber es ist die Frage, wie sie innerlich aus der Geschichte des Protestantismus a hervorgegangen sinda, wie sie religions- und dogmengeschichtlich zu ihm sich verhalten. Wel­ ches ist die Wandlung, die der Calvinismus und mit ihm der Protestantismus überhaupt hier erlebt hat, und welche Bedeutung hat diese Wandlung für die allgemeine Kulturgeschichte? I Zunächst ist klar, daß die von der Logik des Calvinismus gebundenen Grundelemente hier auseinandergetreten sind. Die Prädestination wird zum persönlichen religiösen Enthusiasmus und zur individuellen Gewissensüber­ zeugung; freilich ist diese dabei stets als religiöse und im allgemeinen bib­ lische Ü berzeugung betrachtet. Aber die Bibel ist nicht das einzige I Organ der Erkenntnis des göttlichen Willens; neben ihr steht die persönliche, von ihr angeregte Inspiration. Und auch die Bibellektüre selbst steht nicht unter dem Maßstab eines Symbols oder einer dogmatischen Schultradition, son­ dern unter dem der persönlichen Erleuchtung und inneren Ü berführung, was der Inspiration der Bibel keinen Eintrag tut, aber jedenfalls die reforma­ torische Betrachtung derselben völlig aufhebt. Die Kirchenverfassung ferner mit ihrem jus divinum und ihrer Kirchenzucht ist gegen die christliche Frei­ heit und widerspricht dem individualistisch-demokratischen Gefühl, daß alle Gemeinschaft auf freier Korporation und Vertrag beruhe; der Anstaltscha­ rakter der Kirche und die göttliche Anstaltsverfassung, bei deren Vorausset­ zung nur eine einzige herrschende Kirche möglich ist, ist aufgegeben, und die Vielheit der Kirchen hat nichts Beirrendes. Die Beziehung schließlich zum Staate,b wo die Eine Anstaltskirche zur Aufrechterhaltung der Christ­ lichkeit überall mit dem Staate Hand in Hand gehen und auch den Gottlosen zum äußern Bekenntnis zwingen mußte, ist mit alledem gründlich aufgeho­ ben, der Staat seiner rein natürlichen Aufgabe zurückgegeben und das Ge­ wissen mit seinen Institutionen unverwirrt. Es ist eine völlige Zersetzung der reformierten Ideen und in der Hauptsache gerade derjenigen Ideen, die der Calvinismus mit dem Luthertum gemeinsam hatte und durch die sie beide von der Schwärmerei so schroff sich unterschieden . Das deu­ tet schon darauf hin, daß diese Auflösung nicht aus dem Geiste und der in­ neren Dialektik des calvinistischen Gedankens selbst hervorgegangen ist. Sie stammt aus fremden Ideen, und diese fremden Ideen liegen ganz offen­ kundig im Täuferturn. Zwar ist die reformatorische Lehre vom Rechte des Staates und des Krieges und insbesondere die calvinistische vom christ­ lichen Staat geblieben, aber der independente, undogmatische, rein persön-

a-a

b

A: hervorgehen B, C' Staate

A 368 Dogmen­ geschichtliche Stellung des Independentis­ mus. B, C 595

302

A 369 Ende der mittel­ alterlichen Idee . B, C 596

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

liehe Geist dieser Religiosität stammt aus dem Täufertum. Das von Luther, Zwingli und Calvin so blutig unterdrückte Täufertum hat hier gesiegt. Es hat auf reformiertem Boden gesiegt, weil hier die Ideen der persönlichen Er­ wählung und der heiligen Gemeinde in dem dem Täufertum so streng ver­ schlossenen System doch eine Spalte aufgelassen hatten. Und diese Spalte stammte aus mittelbarer täuferischer Beeinflussung des Calvinismus selbst, aus den in Straßburg von Calvin aufgenommenen Ideen Buzers. Aber der Sieg auf reformiertem Boden bedeutete nur den Anfang des Sieges. Er hat indirekt mit den Ideen Lockes und Wolffs und direkt mit denen des Pietis­ mus bald auch das ganze Luthertum überflutet. Aber damit ist nur der dogmengeschichtliche Zusammenhang der I Idee aufgehellt. Eine andere Frage ist: was bedeutet dieser Sieg des Täu­ fertums? Er bedeutet nichts Geringeres als das Ende der mittelalterlichen Idee, die Trennung von Staat und Kirche, die Spaltung von weltlicher Kultur und religiöser Idee, die Freigebung der Zersplitterung der christ­ lichen Kirche in eine Reihe verschiedener Gemeinschaften und Leh­ ren, I die relativistische Auffassung der religiösen Gebilde als verschiedener möglicher Gestaltungen des religiösen Gedankens, den Verzicht auf das mittelalterliche Prinzip, daß die göttliche supranaturale Offenbarung nur eine sein könne und daß diese eine Wahrheit herrschen müsse über den Ge­ samtumfang des ganzen natürlichen und sündigen Lebens, daß insbeson­ dere Staat und Kirche nur die eng verbundenen Organe der einen von der Religion beherrschten Kultur seien. Die Idee der in ihrem Gesamtumfang religiös bestimmten Kultur und der sie tragenden erlösenden Gottesstif­ tung der Kirche hat aufgehört. Verschiedengläubige Minoritäten mögen ihre Gewissensüberzeugung in den von ihnen gebildeten Gemeinschaften wirksam machen, soweit sie können und wollen; Staat und Gesellschaft mö­ gen darauf eingehen, soweit auch sie ihrerseits können und wollen; aber beide gehen den eigenen Weg, der ihnen durch die Natur ihrer Interessen vorgeschrieben ist. nicht a bloß die einheitliche religiöse Organisation, sondern j ede einheitliche Organisation der Kultur b überhaupt zu Ende.c Died Einheit bea

b c

d

A: Nicht In A folgt: ist A: Ende; A: die

III. Der Anglikanismus und Independentismus

303

ruht avon nun aba mehr auf der Einheitlichkeit des tatsächlichen Gedan­ kenbesitzes, und dieser wird unter dem Einfluß der verschiedenen sich im­ mer stärker differenzierenden Interessen und unter dem Einfluß der die mannigfachsten Wege gehenden Gewissensfreiheit im­ mer bunter. Damit ist die tausendjährige Idee der kirchlichen Kultur zu Ende. Ohne daß noch der Rationalismus das göttliche Heilswunder der Menschwerdung und Genugtuung und das davon zeugende Wunder der Bibelinspiration aufgelöst hatte, ist doch durch die Bindung des Wunders an die variierenden Gewissensüberzeugungen die eigentliche Wirkung dieses Wunders, die Sammlung der Menschheit unter Herrschaft und Zucht der einen absoluten göttlichen Wahrheit, aufgehoben. Weil sie diese Konse­ quenz fühlten, darum haben die Reformatoren und ihre Kirchen das Täu­ fertum und den Independentismus als frivolen Zweifel an der einen gött­ lichen Wahrheit, als Verachtung der göttlichen Heilsanstalt der Kirche und als Spiel menschlicher sündiger Einfälle verworfen; und weil im Glaubens­ begriff der Reformatoren trotz aller Bindung an objektive Mittel diese Kon­ sequenz doch enthalten war, darum starb noch ohne jede rationalistische Ankränkelung die protestantische Nachblüte der mittelalterlichen Idee in den Stürmen der englischen Revolution für immer ab. Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Die Zersetzung des Calvinismus warb zweifellos ein Werk täufe­ rischer Gedanken. Aber darum ware doch die Idee des englischen Indepen­ dentismus nicht überhaupt identisch mit dem Täufer l tum. Er kannted weder die täuferische Nicht-Resistenz noch die Zurückziehung vom Staate, aber auch nicht die apokalyptische Phan l tastik der Münsteriten. Solche Dinge ha­ ben nicht gefehlt, aber sie gehörtene den Kreisen der erregten Massen an. Die Führer dachten nicht daran. Sie wolltenf überhaupt nicht den Zu­ sammenhang mit der protestantischen Ü berlieferung zerreißen. Cromwell glaubte g an die Prädestination, und Milton schriebh eine biblische Dogma-

a-a

b c

d e

f g h

A: nur A: ist A: ist A: kennt A: gehören A: wollen A: glaubt A: schreibt

< Innere Krisis der christlichen Ethik über­ haupt.>

B, C 597 A 370

304

C. Der Alt-Protestantismus (16. und 1 7. Jahrhundert)

tik.1 56 So blieba vor allem auch die Grundidee des Calvinismus, die Idee des politisch orga­ nisierten Reiches der Heiligen, des sittlich vollkommenen Staates, in dem sich Gottes Ehre bekundet. Sie verschmähtenb nur die Mittel des dogmati­ schen Glaubenszwanges und der einheitlichen Kirchenverfassung. Sie woll­ te ne auf dem radikal eingeebneten Boden den christlichen Staat aufrichten, aber mit den Prinzipien der Independenz und der Gesinnungsreligion. Die Freigebung der Kirchenbildung und der dogmatischen Ü berzeugung standd immer unter der Voraussetzung, daß dabei die christliche Wahrheit erst recht siegen werde und daß in allen sittlichen Forderungen die strengste Ü berein­ stimmung bestehen bleibt. Der Herr wird sein Volk nicht aus der Wahrheit fallen lassen, und die Erzwingung der sittlichen Korrektheit ist durch alle dogmatische und verfassungsmäßige Independenz nicht ausgeschlossen; sie liegt in der Hand der christlichen Regierung. Staat und Religion bleiben auf den gemeinsamen Zweck der Kultur bezogen, auch wenn der Staat in spezi­ fisch kirchliche Dinge sich nicht mehr einmischt. Ein christliches Gemein­ wesen soll, wie Cromwell und Milton gemeinsam bezeugen, hier zum ersten­ mal in der Welt völlig reinlich aufgerichtet werden. Es soll von der frommen Minorität der laxen Majorität aufgezwungen werden und deren endliche Zustimmung gewinnen; es soll in Glaubensfreiheit und Sittenstrenge der christliche Geist verwirklicht und innere wie äußere Politik den christlichen Maßstäben unterworfen werden. Der demokratische Charakter ist spezifisch christlich gedacht als eine Verwirklichung der christlichen Freiheit, und die Wahlkandidaten müssen durch puritanische Gesinnung und Anerkennung der neuen Ordnung qualifiziert sein. Religiös-kirchliche Autonomie, poli­ tisch-demokratische Selbstregierung, puritanische Sittenstrenge, antikatho-

a

b c

d

156

A: bleibt ihnen A: verschmähen A: wollen A: steht

John Milton: Joannis Miltoni Angli de doctrina christiana libri duo posthumi (1 827) . John Milton: Oe Ooctrina Christiana, in: The Works of John Milton, Band 1 4-1 7 (1 933/34) .

III. Der Anglikanismus und Independentismus

305

lische und protestantensammelnde äußere Politik, Popularisierung und Verchristlichung von Recht und Prozeß, moralisch-religiöse Ü berwachung durch die Generalmajore, christliche Ordnung in Militär und Verwaltung, Wissenschaft und Schule, Erwerbsleben und Privatleben: das sind die Grundzüge dieser Regierung. Auch die Weihe der christlichen Kunst, so wie sie der Calvinismus hervorbringen konnte, hat diesem Reich der Heiligen nicht gefehlt; Milton ist sein Dante geworden. 1 57 I Alles das zeigt, daß auf der einen Seite der Independentismus die mittelalterliche Idee auflöste, daß er sie auf der anderen Seite aber um so energischer in einem enthusiastischen Anlauf und gewaltigen Heroismus, j edoch ohne Zwang und ohne Staatskirchenturn nur aus dem freien Triebe der christlichen Sittlichkeit und durch die Kraft sittlicher Erziehung, aufzurichten strebte. Siea wollte die Freiheit der verschiedengestaltigen Glaubensüber­ zeugung, aber auch das staatlich und kulturell organisierte Reich I der Heiligen. Es ist ihrb nicht gelungen, beides zu vereinigen. Auf den Enthusiasmus läßt sich kein Gemeinwesen aufbauen. An der Anarchie, die von der Verbindung des religiösen Autonomiegedankens mit dem politischen ausging, hat sich der Staat Cromwells verblutet, und die Folgezeit hat die Errungenschaften dieser Kämpfe nur in der Weise festzuhalten vermocht, daß sie den religiösen Autonomiegedanken von der Idee der politischen Freiheiten sorgfältig trennte und die kirchliche und politische Sphäre als geschiedene Sphären der Gesittung vorsichtig auseinan­ derhielt. Aber noch viel mehr: der Gedanke einer rein auf die christliche Ethik aufgebauten Politik, auch wo diese Politik, wie hier im reformierten

a

b

A: Er A: ihm

157 Mit dem Hinweis auf Dante bezieht Troeltsch sich auf Miltons Epos "Paradise lost" (1 665), fortgesetzt durch "Paradise Regained" (1 671).

B, C 598

A 371

306

B, C 599

A 372

C. Der Alt-Protestantismus (1 6. und 17. Jahrhundert)

Sinne, Krieg und Kampf zur Ehre Gottes für aerlaubt, diea Rechtsordnung zur Zucht des Gemeinwesens für geboten hielt , erwies sich aus seinem inneren Wesen heraus als undurchführbar. Die noch so starke Heranziehung des Al­ ten Testamentes zum Aufbau eines weltfähigen christlichen Staates konnte hier nichts helfen. Es blieb zu viel Innerlich-Christliches . Der innere Zwiespalt, in den er dadurch geführt wurde, war die Tragik von Cromwells Leben. Er mußte zunehmend erfahren, daß nicht bloß eine derartige sittliche Strenge die naiven Instinkte der Masse nicht be­ wältigen kann, sondern daß vor allem auch die einzelnen weltlichen Zwecke und Funktionen von Staat und Gesellschaft eine innere Logik haben, die eine selbständige, durch die Natur dieser Gebiete bedingte Entfaltung verlangt und nicht einfach durch christliche Maßstäbe vergewaltigt werden kann. Cromwell hat hier Stück für Stück nachgeben und die geistlichen Maßstäbe mit weltlichen vertauschen müssen; er hat seinen religiösen Enthusiasmus zum Opportunismus stimmen, seine Liebe und Freiheit erstrebende Politik in Diktatur und seine idealistische religiöse Weltpolitik in sehr realistische Handelspolitik verwandeln müssen. Und ähnlich hat Milton I bei aller Begei­ sterung für Freiheit und Idealismus zu der Diktatur Cromwells schweigen und der Notwendigkeit sich fügen gelernt, daß die wahre christliche Sittlich­ keit nicht von einem ganzen Volke, sondern nur von wenigen Erwählten ver­ wirklicht werden könne. Die Bedeutung dieses Mißlingens ist aber von der außerordentlichsten Wichtigkeit und von unermeßlichen historischen Folgen. Ist die mittelalter­ liche Idee auf der einen Seite aufgelöst durch den sie zersetzenden Gedanken der Independenz, so ist sie auch auf der anderen Seite aufgelöst durch das Experiment der reinen und echten Verwirklichung ihres ersehnten Zieles, der Ableitung alles sittlichen Lebens direkt aus der christ­ lichen Idee selbst. Das Mittelalter und der Protestantismus hatten sie nur verwirklichen können durch Anleihen bei der Staat, Gesellschaft, Recht und Eigentum sichernden Lex naturae und hatten sich den Anleihe-Charakter durch die naive Identifizierung von Lex naturae undb Lex Christi verborgen. Hier wurde der Versuch gemacht, ohne solche Anleihe, oder wenigstens mit äußerster Reduktion der Lex naturae auf den christlichen Gedanken, das Einzel- und Gesamtleben unmittelbar aus der christ l lichen, nur durch das Alte Testament ergänzten, Idee zu regeln, und der Versuch scheiterte an der

a-a

b

A: erlaubt und In A folgt: und

IIl. Der Anglikanismus und Independentismus

307

eigenen inneren Unmöglichkeit. Er scheiterte so offenkundig, daß allen tie­ fer Denkenden der Grund in der inneren Unmöglichkeit der Sache offenbar wurde, soa daß alle Oberflächlichen zwar die Theorie in der Doktrin irgend­ wie behaupteten, aber in der Praxis völlig verleugneten. Das Experiment wird nirgends mehr wiederholt; Politiker und Praktiker folgen den realen Notwendigkeiten, die Staat und Gesellschaft in sich tragen; Philosophen und Theoretiker erklären die natürlichen Kulturgüter, zu denen neben Staat und Gesellschaft bald noch Wissenschaft und Kunst hinzukommen, für in der allgemeinen Natur der Dinge begründete vernünftige Güter und Zwecke, die sich nur nach ihrem eigenen inneren Wesen regeln. Der alte Komprorniß der christlichen Ethik mit der Lex naturae ist aufgelöst, und der christlichen Ethik bleibt nichts übrig, als entweder in pietistische Kreise sich zurück­ zuziehen, oder einen neuen sehr viel umfassenderen Komprorniß zu voll­ ziehenb.

a

b

A: und A: suchen, der die innerweltlichen Kulturgüter als selbständige ethische Werte mit dem höchsten religiösen Gute verbindet und die alte Lehre von der radikalen erb­ sündigen Verderbung alles Natürlichen und Außerchristlichen über. Bord wirft

B, C 600

308

Protestantisches Christentum und Kirche in der N euzeit

Das alles aber bedeutet das Ende des Mittelalters und mit ihm das Ende des Alt-Protestantismus. Es beginnt der Neu-Protestantismus, der die von den Reformatoren so heftig verworfenen täuferischen oder die nicht viel glimpflicher behandelten humanistischen Prinzipien oder eine Kombination von beiden a unter die reformatorischen Lehren aufnimmta und im Bunde mit beiden eine neue protestantische Ethik aufrichtet.b

D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 1 9. Jahrhundert) . Wesen der modernen Kultur.

A 373

I. Die moderne Welt und die moderne WissenschaJt. 1 58 Daß mit dem Ende des 1 7. und dann mit dem 1 8. Jahrhundert eine große alles ergreifende geistige Umwälzung in Europa stattfindet, das ist allbekannt und aus dem Gegensatz gegen alle Erzeugnisse der älteren Periode leicht herauszufühlen. Es beginnt eine neue Kulturform, welche die seit dem Bündnis des römischen Reiches mit der siegreichen Kirche herrschend gewordene Kulturform ablöst. So leicht und einfach aber im ganzen das Wesen dieser abgelaufenen Kulturpe­ riode sich bezeichnen läßt, so schwierig ist das der neuen zu bestimmen. Sie hat sich zunächst als Aufklärung bezeichnet und nennt sich nun nach Ablauf der Aufklärungsperiode moderne Zivilisation in dem Gefühl, gegenüber Antike und Mittelalter trotz allenc Zusammenhangs etwas Eigentümliches zu besitzen, das auch ihrd eine gewisse innere Einheit und Geschlossenheit gibt. Freilich ist dieses Eigentümliche nach der positiven Seite schwer zu formulieren; es liegen ihm verschiedenartige Motive und Mittel zugrunde, es hat eine sehr wechselreiche und widerspruchsvolle Entwickelung der mo­ dernen Welt I nicht ausgeschlossen und ist bei der Nähe und Gegenwart sei­ ner tausend Interessen schwer zu übersehen. Leichter ist es, dieses Neue von der negativen Seite zu bestimmen, und das ist auch die Seite, die für die Ge­ schichte des Protestantismus die wichtigste wurde. Zunächst ist sie eine Wiederanknüpfung an die Renaissance-Ideen, die hinter der konfes­ sionellen Welt zurückgetreten waren, die aber im stillen praktisch in der Po­ litik und der Staatsauffassung und theoretisch in den kühnen und einsamen Anläufen zu einer Neubildung der Natur- und Gesellschaftswissenschaften

a-a

b c

d

A: für genuin reformatorische Lehren hält In A steht in der nächsten Zeile ein kurzer Trennstnch. A: alles A: dieser Kultur

158 Vgl.

Troeltschs Literaturhinweise, S. 525 f.

I. Die moderne Welt und die moderne Wissenschaft

309

weitergewirkt hatten. Sie tritt nun nach der Ermattung des konfessionellen Geistes in den Religionskriegen mit den Bedürfnissen der praktisch- I politischen Regeneration und mit der größeren Bewegungsfreiheit der Wissen­ schaften in Holland und England wieder hervor. Aber inzwischen hatte sich der Renaissance-Geist sehr a verändert. Er war ursprünglich individua­ listisch-aristokratisch gewesen und hatte in seinen höchsten Vertretern als eine ästhetische Lebensauffassung gelebt; er hatte keinen prinzipiellen Kampf gegen das geistliche Kultursystem geführt, sondern dessen Aufrecht­ erhaltung für die Massen bals selbstverständlich angesehenb• Der ästhetische Geist verschwindet nun vollständig, er wird aggressiv, prinzipiell und umfassend zum Kampf gegen das überlieferte System, zu einer Umstimmung und Bekehrung auch der Massen. Die Renaissance ferner hatte zurückgeschaut und mit dem kirchlichen System die Ü berzeugung geteilt, daß alle Kultur­ grundlagen fertig seien; sie fand in der Antike nur die Bibel der freien weltlichen Lebensauffassung. Nun wird sie schöpferisch und revolutionär auch gegen die Antike und pflanzt das Panier einer völlig neuen, alles verwandelnden, ungemessene Fortschritte ahnenden Weltkultur auf. Was diese Veränderung bewirkt hat, ist im einzelnen schwer zu sagen. Es steckt jedenfalls in diesem Geiste ein guter Teil des sittlichen Ernstes und des Reformwillens, den die religiösen Bewegungen dem europäischen Leben eingeflößt hatten. Noch wichtiger aber war die klare Erkenntnis von der C Notwendigkeit, die Voraussetzungen der bisherigen konfessionellen Welt grundlegend zu verneinen'", die nur zu Krieg und Blut geführt und wissenschaftlich größtenteils eine neue scholastische Barbarei herbeigeführt hatte. Der Radikalismus der Verneinung war nur zu ertragen bei einem entsprechenden Radikalismus des Neubaues und bei einem Opti­ mismus, der des Kommens einer besseren Welt sicher ist. So fehlt es an For­ mulierungen des Neuen nicht. Das völlig Klare aber ist bei alledem nur der Radikalismus der Verneinung. Auch er bewegt sich durch verschiedene Grade der Intensität und Klarheit, durch allerhand Kompromisse und allerhand sehr verschiedene Formen hindurch. Aber der Punkt, der verneint wird, ist im wesentlichen immer derselbe, und zwar ist es

A: tief b-b A: für selbstverständlich gehalten A: Notwendigkeit einer grundlegenden Verneinung der Voraussetzungen der bis­ c-c herigen konfessionellen Welt a

B, C 601

310

Antisupranatu­ ralismus. A 374

B, C 602

D. Der moderne Protestantismus (18. und 1 9. Jahrhundert)

die eigentliche begriffliche Grundlage des bisherigen kirchlichen Lebens­ systems. Der Gegensatz richtet sich gegen den absoluten, exklusiven Supranatura­ lismus der Kirche in seiner engen Verbindung mit der Erbsünden i lehre. Man wendet sich gegen die Alleinwahrheit der kirchlichen Offenbarung, gegen die schmale Konzentration aller Wahrheit bloß in dem einen Faktum des göttlichen, offenbarenden und erlösenden Eingriffes in die Welt und ver­ langt den Rückgang auf die breite Basis dessen, was in der inneren Notwen­ digkeit und Allgemeinheit des menschlichen Geistes begründet ist. Vom zweifelhaft und bedenklich gewordenen Besonderen I geht man zurück auf das Allgemeine; man läßt sich das kirchlich Besondere gefallen, wenn es sich als irgendwie identisch darstellt mit dem Allgemeinen, wozu ja die kirchliche Identifikation von Lex naturae und Lex Christi überall die Handhaben bot; aber man wendet sich grimmig gegen die Kirchenlehre, wenn sie im Gegen­ satze gegen das Allgemein-Menschliche eine alleinige, höhere, andersartige Wahrheit sein will. Und ebendamit ist die Opposition gegen die Erbsünde verbunden, die ja die Voraussetzung für diesen kirchlichen Anspruch überall bildete. Gerade die Erbsündenlehre hatte die Anerkennung des Allgemein­ Menschlichen, den Rückzug auf die breite Basis der allgemeinen Begriffe im­ mer verhindert oder doch bedeutungslos gemacht; sie hatte zur Fesselung der Geister, zur Bindung des Staates unter die Kirche, zur Verkennung aller Selbstzwecke in den Kulturgütern geführt. Sie hatte die Herrschaft der Kir­ che begründet und die Inhalte der natürlichen Kulturgüter gebunden und widersinnig an fremde kirchliche Zwecke gekettet. Ist der kirchliche Supra­ naturalismus gefallen, so wird Raum für eine friedliche Entwickelung der Kultur aus ihren allgemein menschlichen Ideen und wird der Glaube und Optimismus möglich, der sich an dieses Werk wagt. So ist denn die all­ mählich immer weiter fortschreitende Auflösung des kirchlichen Supranatu­ ralismus und die Ersetzung der Erbsündenstimmung durch die Fortschritts­ stimmung das Werk der neuen Zeit, klar in der Negation und in der Fortschrittsbegeisterung, weniger klar in dem Inhalt des Neuen, das an die Stelle des Alten treten sollte.a a

In A folgt: Daß damit auch eine völlige Änderung der religiösen Stimmung verbun­ den war, versteht sich von selbst. Der Raum wird frei für die bisher immer gewalt­ sam unterdrückte religiöse Skepsis und für den Atheismus. Im ganzen aber hält die bisherige religiöse Erziehung die Menschheit bei einem starken Gottesglauben fest, nur wird dieser Glaube jetzt mehr auf das Allgemeine als auf das Besondere gestützt und bewegt er sich nicht in den Gefühlen der Reue und Sündenvergebung, sondern in dem Enthusiasmus des Fortschrittsglaubens und des Zutrauens zur Zweckmäßigkeit und Güte der Welt.

1. Die moderne WeIt und die moderne Wissenschaft

31 1

Es sind natürlich in erster Linie praktische Motive, die diese Veränderung herbeigeführt haben. Die Religionskriege münden in eine rein weltliche Po­ litik aus. Mit dem Zurücktreten Spaniens hört die Gegenreformation auf. Die Kolonialpolitik greift über den Kontinent und seinen Horizont hinaus. Allianzen-Systeme a und Populations-Interessen durchbrechen die kon­ fessionelle Gleichförmigkeit. Es entsteht ein neuer Staat, dessen Typus Hol­ land, England, das Frankreich Ludwigs XIV und Preußen I werden. Dem rein weltlichen Staat folgt die Theorie des weltlichen Staates. Der - übrigens durchaus gläubige - Hugo Grotius entwirft ein System des Völkerrechts aus der Lex naturae, das gilt, auch wenn kein Gott wäre< ; die universale Mensch­ heitsgemeinschaft ist damit nicht mehr die Kirche und die Christenheit, son­ dern die Vernunftgemeinschaft samt ihren Rechtsfolgen>. Hobbes, Locke und Pufendorf wenden die bisher religiös verwendete Vertrags theorie zur Konstruktion des rein weltlichen, souveränen Staates, der nur politische Zwecke hat und diese Zwecke als absolute setzt. Die Volkswirtschaft des Absolutismus geht im engen Zusammenhang damit die Wege des Merkanti­ lismus und macht die Geldanhäufung zum Selbstzwecke; und, als dieses Sy­ stem zur gegenseitigen Ausschließung und Schädigung führte, da verkündet die physiokratische Theorie eine auf dem Gesetz der Natur beruhende Lehre der Wirtschaft und des automatisch sich regulierenden Güteraustausches, die wiederum I das wirtschaftliche Leben als einen Selbstzweck erscheinen läßt. Der damit in der Privatwirtschaft beförderte und längst vorbereitete Kapitalismus schafft den Produktionsfanatismus und die rechenhafte See­ lenstimmung des modernen Erwerbslebens, die wieder als Rationalisierung auf die Gesamtauffassung des Lebens zurückwirken. Hand in Hand mit diesen großen Umwälzungen geht der Wandel der allgemeinen Stimmung, der nicht sowohl Folge als Voraussetzung der Aufklärung ist. Magie, Hexen­ glaube, Hexenprozeß werden heftig bekämpft, die theologische Zänkerei und religiöse Verfolgung als Ursache des allgemeinen Elends betrachtet; die Eschatologie, der Teufel und die ewigen Höllenstrafen verschwinden aus der Phantasie; die drei kämpfenden Ü bernatürlichkeiten gewöhnen an eine rela­ tivistische Beurteilung der Konfessionen und an die Bevorzugung der Ethik gegen die Unheil stiftende und verwirrende Dogmatik. Ein milder, philan­ thropischer Geist folgt auf die Ermüdung des Heroismus und auf die Härte des konfessionellen Geistes.b Unterricht in praktischen und technischen Dingen statt in Kontroverstheologie wird Bedürfnis, und die praktischen Bea

b

A: Alliancen-Systeme In A folgt: Aus dem Gedanken der Menschheitskirche, die nur zu kirchlichen Spal­ tungen führt, wird der Gedanke der Menschheit, die auch ohne Kirche eine ethi­ sche Einheit ist.

Praktische Motive des Umschwungs.

A 375

B, C 603

312

A 376 Ü bernahme der führenden Rolle durch die Wissenschaft.

B, C 604

Natur- und Geschichts­ wissenschaft.

D.

Der moderne Protestantismus (1 8. und 1 9. Jahrhundert)

ziehungen überwiegen die konfessionellen Trennungen. Tortur und Inquisi­ tionsverfahren verschwinden aus dem Recht, und eine umsichtige weltliche Wohlfahrtspolitik ersetzt die religiöse Volksbearbeitung durch den Staat. Vor allem verbreitet sich von Frankreich aus in seiner Nachblüte der katho­ lisch korrekten Renaissance der esprit mondain, der die Fürsten- und Adels­ erziehung total verändert und allmählich in die allgemeine Kultur übergeht. Es ist nach den großen Anstrengungen ein allgemeines Nachlassen und Er­ matten des religiösen Geistes, von dem nur das Freundliche, Milde, Trö­ stende und Erbauliche, Sentimentale und Philosophische, Zukunftsgläubige und Optimistische zurückbleibt, währenda alles andere mitsamt seinen bis­ herigen Greueln und Schrecken versinkt. Alles das aber hätte nicht eine wirkliche neue Kultur geschaffen, wären nicht völlig neue Elemente hervorgetreten. Diese neuen Elemente I liegen in der Wissenschaft. Die Wissenschaft übernimmt die Führung statt der Theo­ logie und Religion, und es beginnt das Zeitalter, das seine gläubigen Verehrer als das wissenschaftliche und positive gegenüber demb bis dahin dauernden religiösen priesen und noch heute preisen. Es bringt alle Segnungen der Wis­ senschaft, die Milde, Toleranz, Besonnenheit und die technische Naturbe­ herrschung, aber auch alle Schattenseiten einer überwiegend wissenschaft­ lichen Kultur, die übermäßige Reflexion, die Kühle und Verständigkeit, die Auflösung aller Werte in den Fluß des Relativismus,c die Ersetzung der Nor­ men durch die Einsicht in die Notwendigkeit, wie sie entstehen und verge­ hen mußten. An erster Stelle steht hier die neue Naturwissenschaft, die mit dem mathe­ matisch-mechanischen Geiste ihrer Physik in der Tat ein völlig neues, unge­ heuer folgenreiches Prinzip darstellt. Sie hat die sich entwickelnden übrigen Naturwissenschaften unter ihren Geist gebracht, eine unermeßlich folgen-

a

b c

A: aber A: den A: Relativismus und schließlich

I. Die moderne Welt und die moderne Wissenschaft

313

reiche Blüte der Technik herbeigeführt und den stärksten Einfluß auf das allgemeine Denken erlangt. 3 Gleichzeitig erfolgt aber auchO eine Neubelebung der Gesellschaftswissen­ schaft, die als Geschichte den psychologischen Kausalzusammenhang des Geschehens, den Ausschluß aller Ü bernatürlichkeiten und Wunder, die Mes­ sung der historischen Leistungen an den allgemeinen Menschheitszwecken lehrt, und die als Staats-, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie alle diese so­ zialen Bildungen aus natürlichen Gesetzen der Vernunft ableitet und mit au­ tonomen Zwecksetzungen erfüllt. Eine neue historische Selbstanschauung von der Menschheit entsteht, die den Mythos und die kirchliche Geschichts­ philosophie zerstört und einen unendlichen Fortschritt der Menschheit in Aussicht stellt. Aus diesen Spezialwissenschaften regeneriert sich auch die Philosophie. Sie übernimmt von nun ab die geistige Führung. Zunächst steht sie vollstän­ dig unter dem Einfluß der Mathematik und Mechanik; sie erklärt das ganze Sein aus gesetzmäßigen Bewegungen kleinster Elemente und ersetztb die te­ leologische Physik und Metaphysik des Aristoteles durch eine rein kausale. Damit beginnt die ungeheure Wirksamkeit des modernen Kausalitätsbegriffes, die schließlich alles in ihren Bereich zieht. Von ihm aus entstehen die großen philosophischen Typen des Materialismus, des parallelistischen Pantheismus, des die gesetzmäßige Erfahrung als Erscheinung behandelnden Idealismus und des die Kausalität lediglich als empirische Generalisation behandelnden Positivismus. In den meisten Fällen waren mit diesen allgemeinen Systemen ethisch-normative und theologische Ideen noch verknüpft. Dazu kam dann um die Wende des 1 8. Jahrhunderts der Einfluß des historischen Denkens und der Ä sthetik. Der Stufenbau der Leibnizischenc Monaden, die Entwickelung der Weltidee durch das Medium des kausalen Weltablaufes hindurch bei Hegel, die in na­ turwissenschaftlich-biologische Abfolge gebrachten Gesellschaftstypen der Sozialphilosophie Comtes oder die ästhetische Ethik und Lebensanschauung mit dem Hintergrund der Geistiges und I Natür l liches ins Gleichgewicht setzenden Gottnatur, wie sie die große deutsche Poesie und die Lehre

a-a

b c

A: Damit verbindet sich zugleich A: entfernt A: leibnizischen

Philosophie .

B, C 605, A 377

314

D. Der moderne Protestantismus (18. und 1 9. Jahrhundert)

Schellings erfüllt: das werden die weiteren Typen, die mit den streng natura­ listischen im Kampfe liegen oder Kompromisse schließen. Die Wirkung von alledem auf den religiösen Gedanken ist natürlich eine außerordentliche. Der bisher stets als gemeinsamer Besitz der natürlichen und übernatürlichen Of­ fenbarung betrachtete Gottesbegriff wird schwankend. Die Hauptfrage des religiösen Denkens ist nicht mehr, wie man den unbezweifelten Gott zu einem gnädigen Gott kriegen und vor seinem Grimme Rettung finden könne, sondern ob es Gott überhaupt gebe. Dahinter tritt alles andere zu­ rück, und das stellt Probleme, die der Alt-Protestantismus nicht kannte, läßt Probleme erkalten, die diesem seine Glut gegeben hatten. Und wenn, wie das bei den hervorragendsten Denkern nur selten bezweifelt wurde, der Gottes­ glaube selbst sich behauptet, so wird doch das Bild Gottes und der Welt ein ganz anderes. Die gesamte Wirklichkeit tritt unter das Kausalitätsprinzip, und das Wunder wird entweder ein Wahn oder ein schwieriges Problem, während es doch bis dahin die selbstverständliche Voraussetzung von allem war. Die Einheitlichkeit der Welt wieder läßt das göttliche Wirken in jedem Moment in dem Gesamtzusammenhang der Dinge bestehen; der Gottesbe­ griff wird immanent oder monistisch, und die individuelle Vorsehung, die Naturunterbrechung, die Gebetserhörung erleiden das Schicksal des Wun­ ders. Ein Gott, der überall mit dem gesetzlichen Gesamtzusammenhang identisch ist und nicht wie eine Einzelperson in einen gegebenen Stoff ein­ greifen darf, verliert die Züge der Persönlichkeit, und der Anthropomorphis­ mus der Gottesidee wird ein quälendes Problem. Eine Welt, die in einer un­ ermeßlichen Größe und Fülle der Weltkörper besteht und in der die Erde nur eine kleine Teilerscheinung ist, muß einen über die Menschheit weit hin­ ausreichenden Sinn haben;a und so verschwindet der Anthropozentrismusb. Auf der Erde selbst schließlich rückt die Erkenntnis der physikalischen Bil­ dungsgeschichte und der Bildung des organischen Lebens die Anfänge des Menschen in unermeßliche Fernen der Vergangenheit, gehören Leid, Tod und Kampf ums Dasein zu den Ingredienzen des organischen Lebens und offenbart sich eine unermeßliche Fülle historischen Daseins ne­ ben der engen Welt der Christenheit; das erledigt den Mythos vom Sünden­ fall und von der ihn wieder aufhebenden Heilsgeschichte und stürzt in neue Probleme der Theodicee, nachdem Leid, Ü bel und Tod nicht mehr bloß Fol­ gen und Strafen des Sündenfalls sind. Ü berall neue Probleme, überall neue Richtlinien des Gedankens.c

a

b c

A: haben, B, C Anthroprozentrismus In A kein Absatz.

I. Die moderne Welt und die moderne Wissenschaft

315

Und das bedeutet nicht bloß Auflösungen alter religiöser Gedanken, son­ dern auch die Bildung neuer. 1 59 Es entsteht eine Art moderner Religion, im Grunde mit christlichen Gedanken wohl zusammenhängend, aber von einem neuen Weltbild doch auch mit neuen religiösen Gefühlen erfüllt. Die Größe und Weite, Gesetzmäßigkeit und Einheit der Welt erfüllt mit Gefüh­ len der Demut und Erhebung, mit einer Herabsetzung des I Individuums im Gefühl der Kleinheit und einer Erhöhung I des Individuums in der Teil­ nahme am Gedanken des Ganzen, Gefühle, wie sie die bisherige Religion so nicht gekannt hatte. Die Behauptung der Freiheit gegenüber der Gesetzmä­ ßigkeit der Welt und die Verknüpfung dieser Freiheit mit allen Werten und Wahrheiten des Universums ergibt einen neuen Begriff der Persönlichkeit und stellt die Selbstbehauptunga aller Religion in einer Weise gerade auf die Freiheit, wie es der alten prädestinatianischen oder doch monergistischen Erlösungsidee unfaßbar war. Die unendliche Mannigfaltigkeit und orga­ nisch-gesetzliche Bewegung des Werdens bringt mit sich eine Schätzung des Individuellen, Besonderen, eine Freiheit, Beweglichkeit und Vielförmigkeit aller Werte, eine Unabgeschlossenheit der Entwickelung und eine Vorstel­ lung von der Fülle des göttlichen Wesens, wie sich das die christlich-mittel­ alterliche Kultur nicht hatte träumen lassen. Es sind Grundempfindungen einer modernen Religiosität, die sich mit der alten mannigfach verbinden und verknüpfen, die aber einen völlig selbständigen Ursprung haben.b Die Bahnbrecher der modernen Wissenschaft, Galilei, Pascal, Macchia­ velli, Bodin, Descartes, sind dabei Katholiken gewesen und nicht Protestan­ ten, was natürlich nichts beweist für eine katholische Herkunft dieser Ideen, aber jedenfalls ihre protestantische ausschließt. 16o Daß diese Ideen dann von den protestantischen Völkern aufge-

a

b

159 1 60

A: Behauptung In A kein Absatz.

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 526. Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, ebd.

B, C 606 A 378

316

B, C 607

C Positiver Charakter' .

D. Der moderne Protestantismus (18. und 1 9. Jahrhundert)

nommen und vor allem in ihnen entwickelt wordena, bei ihnen auch in Fühlung mit der religiösen Idee zumeist geblieben sind, das ist freilich in den Vorbedingungen protestantischer Erziehung, in dem Geist der In­ dividualität und der Gewissensautonomie begründet, der hier im Prinzip herrschte und wenigstens Eindringen und Festsetzung dieser Ideen erleich­ tert b• Der Protestantismus setzte den geringeren Widerstand entgegen und vermochte sogar, nachdem er seine antikatholischen Elemente von den mit­ telalterlichen zu lösen begonnen hatte, innerlich darauf einzugehen. Doch sind auch hier die führenden Länder England und Holland, d. h. die Länder, wo der strenge staatskirchliche Protestantismus nie voll zur konfessionellen Herrschaft gekommen war oder wo er in schwerer Krisis sich selbst aufge­ löst hatte. Die Zerstörung des kirchlichen Supranaturalismus ist derart der Aus­ gangspunkt und der Kern der modernen Kultur, und darin ist sie das Gegen­ stück der mittelalterlich-kirchlichen. a Zunächst zwar wirkte der anerzogene Geist absolut nor­ mativen Denkens nach und man hielt sich statt an die kirchliche Offen­ barungsnorm an die Norm der von ihr befreiten und zu einem natürlichen System ausgebauten Lex naturae. Aber auch diese rationalistische Norm zer­ brach, und der deutsche Idealismus machte die Vernunft beweglich zu einem die gesamte Wirklichkeit entfaltendenb und auf das absolute Vernunftziel hinführenden Entwickelungsprinzip. Nachdem auch dieser Rationalismus der idealistischen Entwickelungsidee zerfallen war, blieb die naturalistische Entwickelungsidee der gesetzlichen Anhäufung und Verkettung kleinster Veränderungen, aus denen sich die scheinbare Zweckwelt als Spielball des

a

b

In A kein Absatz. A: enthaltenden

I. Die moderne Welt und die moderne Wissenschaft

319

Zufalls ergab, oder e s I blieb die Freiheit der Anempfindung an tausendfach verschiedene Gruppen geschichtlicher Wirklichkeit rein aus Freude am Mitfühlen des Gewesenen und Mannigfaltigen. Darwin und Renan bezeichnen die Generation nach Hegel. So kämpfen nun in der modernen Kultur die verschiedensten Gedanken miteinander. Alle berufen sich auf das Recht der Gewissensfreiheit. Der extreme schrankenlose Individualismus, die Anarchie der Werte, ist die naturgemäße Folge der Aufhebung der tausendjährigen normativen Kultur und der Beseitigung der Idee eines normativen Zen­ tralgedankens, der das Gesamtleben beherrscht, überhaupt. Der Weg von der kirchlichen Kultur zur rationalistisch-individualistischen und von ihr zur subjektivistisch-individualistischen liegt klar zutage. Der häufige Versuch, aus der Naturwissenschaft und dem Naturgesetz Normen abzuleiten, ist nur eine letzte aAusflucht. Innerhalba einer gemeinsamen politischen, wirt­ schaftlichen und wissenschaftlichen Kultur der modernen Welt ist doch die individualistische Zersetzung aller Weltanschauungswerte der Hauptcharakter des Ganzen. bAber er ist es nur nach der einen Seite. Auf der anderen Seite bleiben die alten religiösen Kräfte lebendig und wirken dem entgegen, ja der Gegensatz gegen die Verabsolutierung des endlichen Subjektes und gegen die reine Diesseitigkeit entflammt ihn zu leidenschaftlichem Feuer. Nur fehlt all diesen Gegenbewegungen j etzt die Einheitlichkeit. Es gibt Gruppen, die die alte Autoritätslehre erneuern und damit gerade in der Ge­ genwirkung gegen die Explosion der neuen Welt in der französischen Revolution einen außerordentlichen bis heute dauernden Erfolg errungen haben. Sie befriedigen das Autoritätsbedürfnis der Massen und der Regierungen. Andere trennen das Religiöse vom Weltlichen, engen das Dogma auf einen mit der modernen Welt leidlich verträglichen Kernbestand ein und pflegen in freien Kirchen ihre Ideenwelt und ihre sozialen Kräfte. Wieder andere ver­ schmelzen die christliche Ideenwelt mit denjenigen Grundzügen modernen Denkens, die sie als richtig und unabänderlich betrachten, und schaffen damit ein modernes Christentum, das sie in den Kirchen gepflegt und ver­ kündigt wissen wollen als in den unentbehrlichen Organen ethischer Volks­ erziehung. I Wieder andere suchen eine kirchenfreie Religion, die jeden Komprorniß mit dem Ü berlieferten verschmäht und die christlichen Ideen ganz frei gestaltet. Das Christentum ist nicht tot und nicht ausgelebt, die religiösen Kräfte brechen immer wieder hervor, wie sie es j ederzeit getan haben. Aber es bewegt sich auf einem völlig anderen Boden, als der seiner A: Ausflucht, und innerhalb a-a b -b A: Die negative Charakteristik der modernen Kultur ist gegeben durch den Ge­ gensatz gegen den kirchlichen, als positive läßt sich kaum ein anderer Begriff an­ geben als der des unbegrenzten Individualismus. [ln A kein Absatz]

A 379

B, C 6 1 0

320

D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 1 9 . Jahrhundert)

ganzen bisherigen Geschichte war, und es unterliegt kirchlich-soziologisch, dogmatisch-theologisch und ethisch-praktisch überall den stärksten Umbil­ dungen, steht überall den mannigfachsten Gegensätzen gegenüber. So bleibt es für den Charakter der modernen Welt bei dem Ergebnis des ersten Ein­ druckes: die moderne Welt ist kein einheitliches Prinzip, sondern eine Fülle zusammentreffender oder auch sich stoßender Entwickelungen, für die bei der Ausgelebtheit der alten Welt Raum geworden ist. Der Eindruck eines einheitlichen Prinzips rührt ganz überwiegend von diesem Gegensatze her, während sie positiv in die verschiedensten Strebungen auseinandergeht. Ihr Geist ist der Geist der Autonomie, aber die Inhalte des autonom Entwik­ kelten und Angeeigneten sind grundverschieden. Der Rationalismus, der glaubte, alle zum gleichen Ergebnis durch die übereinstimmende Vernunft zu führen, war eine Anfangstäuschung. So ist sie auch nicht ein einfacher Ge­ gensatz gegen die kirchliche Ideenwelt oder ein einfacher Abfall von ihr. Sie ist vielmehr deren Nachfolgerin und Erbin, die nur den Zwang theologischer Autorität zerbrochen hat, im übrigen aber das Erbe mannigfaltig fortgebil­ det, Neues und Gegensätzliches dazu erworben hat und die nun all das in tausend Mischungen und Kreuzungen zu einem relativ einheitlichen Ganzen zusammenlebt, dessen Spannungen und Gegensätze doch überall kenntlich sind und immer von neuem aufspringen.b Es ist kein Wunder, daß unter diesen Umständen der moderne Protestan­ tismus auch seinerseits eine geschlossene Gestalt3 seines religiösen Gedan­ kens und seiner Ethik nicht gefunden hat. b Indern er auf weite Strecken hin

a In A folgt: auch nur b - b A: [Absatz ] Ob alles das ein so großer und reiner Fortschritt ist, wie die Lobredner der individualistischen Kultur meinen und wie die vom Druck der kirchlichen Kul­ tur Befreiten es zunächst wirklich empfanden, das ist hier nicht zu erörtern. Jeden­ falls ist es nichts Selbstverständliches und nichts Gefahrloses. So rührten sich denn auch sozialistische Gegenbewegungen, die das aus dem Sturz der kirchlichen Kul­ tur entbundene individualistische Zeitalter wieder begraben wollen. Aber dieser Sozialismus hat darum doch keinerlei Zusammenhang mit der alten religiösen Idee und unterscheidet sich gerade dadurch von seinen biblisch und religiös gefärbten Vorläufern, daß er lediglich auf naturalistisch-wissenschaftlichen Grundlagen be­ ruhen will. Er beruft sich auf ein soziales Entwicklungsgesetz, das aus den Bedin­ gungen der Erwerbsarbeit und der Arbeitsorganisation heraus die Massen immer stärker hervortreten läßt, bis sie zu einer jedes Individuum an den Lebensgütern gerecht beteiligenden Organisation gelangt sind. So ist es im Grunde auch hier der individualistische Geist der modernen Welt, der nur die Form der Massenbefrie­ digung annimmt. Die Religion ist hier ein völlig überwundener Standpunkt, ein Mittel, mit dem alte Zeiten die Massen niederhielten, und die Bildung der Welt-

1. Die moderne Welt und die moderne Wissenscha ft

321

seinen religiösen und ethischen Autonomiegedanken mit dem viel allgemei­ neren modernen Autonomiegedanken verschmolz und ganz dieser Einwir­ kung überhaupt nirgends widerstehen konnte, ist er in alle Schicksale und Bewegungen der modernen Welt hineingezogen worden." 1 6 1 S o kann sich auch die Darstellung dieser Periode des Protestantismus keine einheitliche Aufgabe stellen. Sie kann nur die allgemeine Lage und die

anschauung ist, sofern sie über das grundlegende soziale Entwicklungsgesetz hin­ ausgeht, reine Privatsache. [Absatz, als Randkolumne: Stellung des Protestantismus in der modernen Welt.} Die moderne Welt sieht sich so einerseits als ein reiner Auflösungsprozeß an. Sie ist aber andrerseits doch auch ein Fortführungs- und Re­ organisationsprozeß. Sie hat das politische, wirtschaftliche und wissen l schaftliche A 380 Leben ungeheuer entfaltet und großartige Volks entwicklungen hervorgebracht, unter denen England, Nordamerika und Deutschland hervorragen. Die fortfüh­ renden und reorganisierenden Kräfte standen dabei überall im Zusammenhang mit den alten religiösen Kräften oder mit einer Umwandlung derselben zu mo­ dern-religiösen Ideen. Insofern ist der Protestantismus an ihnen stark mitbeteiligt, teils als Fortdauer alter Kräfte, teils als Boden für die Bildung neuer. Auf dem ka­ tholischen Boden, der die Reformation ausgetilgt hat, ist die Auflösung auf ihren höchsten Gipfel gelangt, während die protestantischen Völker stärkere Reorgani­ sationskräfte hatten. Aber in alledem ist doch die Stellung des Protestantismus überaus unklar und verworren, bald nach rückwärts gewendet zu seiner klassischen symbolgläubigen Zeit, bald nach vorwärts zu einer neuen Religiosität, bald in der Isolierung des religiösen Lebens die Kontinuität blind und stumpf fortführend, bald neue Sekten und Gruppen schaffend. Der Protestantismus tritt ein in das Stadium individualistischer Sonderbildungen unter äußerer Aufrechterhaltung vielfacher Reste der früheren Konformität. Seine Staatskirchen bleiben mit ober­ flächlicher Anpassung an die neuen Verhältnisse und besitzen an vielen Orten noch stärksten populären Einfluß; aber sie sind in die modernen Kämpfe hinein­ gezogen, und das eigentliche geistige Leben dieser Kämpfe pulsiert nicht in ihnen. Seinen Gläubigen, soweit sie auf die moderne Welt eingehen, bleibt in der Tat nichts als der reine Glaube persönlicher Ü berzeugung, verbunden mit einer Be­ gründung dieser Ü berzeugung auf allgemein wissenschaftliche Anschauungen, die aber auch jedesmal der einzelne sich selbst erst zu bilden hat, und für die er nur einen beschränkten Kreis von Zustimmenden findet. Daß der Protestantismus dabei nicht aufgehört hat, die stärksten ethischen Wirkungen auf das Gesamtleben auszuüben, und daß er, je nach den Ländern, in verschiedenen Volksschichten eine starke und verhältnismäßig geschlossene Anhängerschaft besitzt, versteht sich von selbst. Aber unter den führenden geistigen Mächten der modernen Kultur ist seine Stellung nicht anders zu bezeichnen, als es hier geschehen ist.

161

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 526.

322

B, C 61 1

b Emanzipation einer autonomen Ethik und Religionstheorie. b A 381

D.

Der moderne Protestantismus (18. und 1 9 . Jahrhundert)

neuen Grundgedanken zeichnen, unter deren Wirkung er asteht, und sodann seine eigene Entwickelung schildern, wie sie teils aus eigenem Lebenstriebe neue Bildungen hervorbringt, teils mit dem neuen Leben zu einer neuen Re­ ligionslehre und Ethik verschmilzt, teils die alten landes kirchlichen Bestände fortführt und den Verhältnissen anpaßt.a II. Die moderne Ethik in ihrer Wirkung auf den Protestantismus. 1 6 2 Nicht nur die allgemeine Atmosphäre einer modernen Kultur und Wissenschaft wirkteC auf den neuen Protestantismus. Vielmehr gerade die Lebensgebiete, die er selbst bisher maßgebend bearbeitet hatte, Ethik I und Religionstheone, er­ obertend sich eine selbständige, kirchen freie Bewegung, und, was sie hier cerarbeiteten, wirktee aufs stärkste auf Theorie und Leben des Protestantis­ mus. Die englische Revolution ist der Ausgangspunkt einer immer siegreiche­ ren weltlichen Ethik, die die tatsächlich gewordenen Zustände aus der Theo­ rie beleuchtet und durch die Theorie fortentwickelt. Daß sie gerade von der englischen Revolution ausgeht, ist begreiflich. Denn hier war die Ethik des konfessionellen Zeitalters zu ihrer Krisis und Selbstauflösung gekommen. Die Freistellung der persönlichen Ü berzeugung und die Einsicht in die Un-

A: steht; dann die Reaktionen, in denen er seine Gegenwirkung vollzieht und teil­ weise zu religiösen Neubildungen fortschreitet; schließlich die Fortführung und Anpassung seines aus der ersten Periode überkommenen kirchlichen Bestandes. Luthertum und Calvinismus dürfen von jetzt ab als Einheit behandelt werden. b- b A: Verweltlichung der Ethik. c A: wirken d A: erobern e-e A: erarbeiten, wirkt a-a

162

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 526.

11. Die moderne Ethik in ihrer Wirkung auf den Protestantismus

323

möglichkeit eines wesenhaft christlichen, die christlich-religiösen Zwecke und Maßstäbe zu seinen eigenen machenden Staates waren ihre Ergebnisse. Mit grimmiger Härte hat Hobbes die Idee des absolut souveränen Staates aufgestellt, der aus dem Gesetz der Vernunft und des Kosmos hervorgeht und statt der Religion zu unterstehen, vielmehr selbst souverän die Religion bestimmt. An Hobbes knüpft zustimmend oder feindlich, immer aber den Gedanken der souveränen Vernunftnotwendigkeit des Staates fortspinnend, die moderne Ethik und Gesellschaftslehre an. Alle soziale Ethik dreht sich um den Staat, dessen neues Merkmal zunächst die Souveränetät ist, der im übrigen aus der bisherigen Lehre, wo die Religion alle idealen Interessen ver­ schlungen hatte, den utilitarischen und sozialeudämonistischen Charakter behält und von hier aus auch seine Stellung zu den nun mit Macht eindrin­ genden und völlig verselbständigten wirtschaftlichen Problemen gewinnt. All e Ethik des persönlichen und privaten Lebens dagegen bewegt sich um die natürlichen und vernünftigen Tugenden des rationalen Sittengesetzes, die man meistenteils für identisch mit den christlichen Tugenden hält und ebensosehr aus der stoischen als aus der christlichen Lehre schöpft und die man insbesondere durch psychologische Ableitung und Erklärung aus der Menschennatur 3 fest zu verankern strebt. I Formel/betrachtet wurdec die Ethik psychologisch. Gegenüber den Wirren der Beurteilung, dem Widerspruch der sittlichen Mächte des praktischen Le­ bens, gingd sie auf die seelische Natur des Menschen zurück und entwickel­ tee aus ihr den Verpflichtungsgrund und das Wesen der sittlichen Normen. Der theologische Supranaturalismus der Ethik, der mit göttlichen Kraftmit­ teilungen und mit göttlich geoffenbarten Gesetzen gearbeitet hatte, ver­ schwandf wie von selbst. Die ganze transzendente Psychologie der Kirche, die teuflische Versuchungen und Eingebungen und göttliche Einwirkungen vorausgesetzt, die alles wahrhaft Gute nur aus dem psychologischen Wunder der Bekehrung g hatte hervorgehen lasseng, die ganze Begründung der Ge-

a A: Natur des Menschen b - b A: Natürliche Methode der Ethik. A: wird c A: geht d e A: entwickelt A: verschwindet f g-g A: hervorgehen lassen hatte

B, C 6 1 2 bpsychologi­ sierung und Rationalisierung der Ethik. b

324

A 382

B, C 6 1 3

D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 1 9. Jahrhundert)

setze auf göttliche Offenbarungen und ihre Aufrechterhaltung mit gött­ lichen Strafen, sank a in sich selbst zusammen. Die guten Werke hörtenb auf gefährlich zu sein, weil kein Gnadenwunder C übrig bliebe, das sie beeinträch­ tigen könnten. Die Prädestination wurded ein barbarisches Sophisma, weil ja gerade die Behauptung der Freiheit gegen l über dem neuen naturwissen­ schaftlichen Determinismus die religiöse und idealistische Position wurdee. Dabei erschien dann die Ausstattung der Seele mit den Gesetzen des sitt­ lichen Denkens und die Harmonie des Kosmos mit diesen Gesetzen als die eigentliche und einzig notwendige göttliche Beglaubigung des Sitdichen. Die gesetzmäßige Harmonie des Weltalls enthält als ihren wesentlichen Bestand­ teil das mit allen anderen Gesetzen harmonierende und zusammenwirkende sittliche Gesetz. Ob man bei dieser psychologischen Ableitung vom wohl­ verstandenen Nutzen, von Vernunftanlagen oder von Gefühlsinstinkten ausging, ist für Sinn und Methode, meist auch für das Ergebnis, gleichgültig. Man glaubte noch, wie das ja auch die theologische "natürliche" Moral getan hatte, an den consensus gentium, und es kam nur darauf an, dessen Aussagen psychologisch abzuleiten und zu erklären. So entstand die Literatur der eng­ lischen Moralisten, an der verschiedene Theologen mit beteiligt sind und de­ ren Haupt, John Locke, ein supranaturalistisch gläubiger Christ gewesen ist. Sie hat das moderne sittliche Denken grundlegend umgeschaffen. Die Füh­ rung verblieb dabei durch das 1 8. Jahrhundert hindurch den englischen Den­ kern, die in Nachfolge und Bekämpfung des Hobbes den Psychologismus des 1 8. Jahrhunderts als Grundwissenschaft und Orientierungsmittel für alle Probleme der geistigen, sittlichen und historischen Welt aufgerichtet haben, und die hierin von der ganzen englischen Literatur in den moralischen Wo­ chenschriften und in psychologischen Sittenromanen unterstützt wurden. Von diesem Psychologismus aus trennten sich dann die Wege der weiteren Entwickelung. Traten die Reste der bisherigen Religiosität, d. h. die meta­ physischen Voraussetzungen der göttlichen Weltharmonie zurück, so wurde die psychologische Ethik ein religionsloser und meist religions feindlicher Sozialeudämonismus, der die für das Gemeinwohl bewährten Handlungs­ weisen eben dadurch zu sitdichen Geboten gestempelt und sie durch soziale Autorität und Forterbung zu scheinbarf notwendigen Vernunft l wahrheiten

a

b c-c

d e

f

A: sinkt A: hören A: da ist A: wird A: ist A: scheinbaren

II. Die moderne Ethik in ihrer Wirkung auf den Protestantismus

325

werden läßt. Diesen Weg ging und geht die rein utilitaristische Ethik . Wurde dagegen in dem psychologischen sittlichen Trieb der Ver­ nunftkern und der Vernunftcharakter des Notwendigen, die antieudämoni­ stische Entgegenstellung der Motivierung durch die Idee statt durch den bloßen Kausalnexus des Trieblebens, betont, so wurde die bloß psychologi­ sche Ethik zur Ethik des sittlichen Gefühls, wie bei den Schotten und den Eklektikern des Kontinents, oder zur Ethik des formalen Apriorismus der sittlichen Vernunft, der sich psychologisch in den verschiedenen Beziehun­ gen mit verschiedenem Inhalt erfüllen mag, dessen Verpflichtungscharakter aber auf dem formalen persönlichen Gewissensurteil der Notwendigkeit die­ ses HandeIns beruht. Diesen letzteren Weg ging Kant und die Ethik des deutschen Idealismus. Den letzten Schritt in der Vollendung dieses Gedan­ kenbaus tat Schleiermacher, der diesen Charakter einer autonomen formalen Vernunftnotwendigkeit in allen Offenbarungen der Vernunft anerkannte, aber zugleich die j edesmal indi l viduelle Ausformung dieser allgemeinen Ver­ nunft in einer besonderen, nur dem betreffenden Individuum möglichen, pflichtmäßigen Lebensleistung forderte. Damit ist die Reduktion des Sitt­ lichen auf eine allgemeine Vernunftgesetzlichkeit vollendet und diese Gesetzlichkeit ohne jeden abstrakten Rationalismus als eine zugleich absolut individuelle erkannt. Schwieriger ist der Inhalt der ethischen Forderungen zu bestimmen, wie er sich in der modernen Ethik ausbildete.

372 B, C 650 Zentralstellung des Begriffs der Askese im alten System.

A 399

Emanzipation der weltlichen Kulturzwecke vom asketischen System.

D. Der moderne Protestantismus (18. und 1 9. Jahrhundert)

VI a. Die Auflösung derprotestantischen Askese. 1 68 Der Protestantismus zieht sich auf seine alte Grundposition, die persönliche Ü berzeugungsreligion zu­ rück und sucht in ihr seinen Halt. Aber gerade hier zeigt sich nun die aller­ wichtigsteb Veränderung. Der Altprotestantismusc war mit den Gedanken der Erbsünde und der Erlösung durch Christi Werk auf die As­ kese gestellt, die dauch als innerweltliched doch immer Askese blieb. Nun aber ereignet sich das Wichtigste, daß I diese ethische Gesinnungsreligion im Zentrum ihrer Gesinnung selbst einen gewaltigen Wandel erlebt, daß die altprotestantische Askese sich auflöst und eine neue Gefühlsstellung zur Welt und zum Natürlich-Sinnlichen ein­ tritt. Das ist teilweise die naturgemäße Folge aller geschilderten Vorgänge. Es vollzoge sich in ihnen ein eigentümliches Schicksal des Protestantismus. Teils wandtenf sich die modernen Kräfte, die von dem Restaurationskatho­ lizismus aus der Heimat der Renaissance ausgestoßen waren und dann eine Zuflucht bei g den Protestanteng, vor allem den Reformierten, gefunden hatten, nach Erstarkung unter seinem Schutze gegen ihn;h teils hat er sich gerade durch seine Askese selbst die Mächte groß gezogen, die dann un­ dankbar den Vater verließen und gegen seine asketische Lehre sich kehrten. Das erste ist der Fall mit der modernen Wissenschaft; ihr hatte sein eigener kritischer Geist und sein religiöser Freiheitssinn ein Pförtchen geöffnet, durch das erst der humanistische Rationalismus und dann die neue Na­ turwissenschaft, Geschichtsforschung und Gesellschaftslehre eindringen ikonnten. Siei wandten sich, wie bisher dargestellt, in steigendem Maße ge­ gen ihn. Das letztere ist der Fall mit deni politischen und wirtschaftlichen

A: V A: wichtigste c A: Alt-Protestantismus d-d A: für ihn eine innerweltliche wurde, die aber A: vollzieht e f A: wenden g -g A: ihm h A: ihn, i-i A: konnten; sie In A folgt: großen a

b

168

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 527.

VI. Die Auflösung der protestantischen Askese

373

aEntwickelungen auf seinem Boden. Die Verherrlichung und Verselbstän­ digung des Staates verlieh dem Staate einen religiösen Glanz, der ihm blieb, auch als er die Liebespflicht gegen die Kirche vergessen hatte und die Kir­ chen nur mehr als Mittel seiner weltlichen Herrschaft behandelte.a Der auf­ geklärte Absolutismus und der alles bevormundende Polizeistaat sind Kinder des Luthertumsb. Auf reformierten Gebieten Chatten die Lehren von dem Recht des frommen Volkes zur Revolution gegen gottlose ObrigkeitenC, mit ihr die politisch-demokratische Lehre vom Staatsvertrage , von den unantastbaren Men­ schenrechten der religiösen Ü berzeugung und der Freiheit des Gewissens . Alld das emanzipiertee sich von seinen I religiösen Voraussetzungen. Der von Gott angeordnete und geheiligte Volksvertrag wurde f zu freier menschlicher Nützlichkeitsüberlegung oder zur abstrakten Folge eines rein abstrakten Naturrechts, das auch gilt ohne Gott; die Got­ tesrechte des erwählten Individuums, das seinen Anteil am Gottesreich hat, wurdeng zu den Menschenrechten j edes Erwachsenen, der seinen gerechten

a-a

b

c-c

d e

f g

A: Gefühlswerten der modernen Welt. Der Protestantismus hat auf seinen luthe­ rischen Gebieten die Souveränetät des Staates durch die religiöse Weihung des Staates unermeßlich gesteigert, Fürsten und Beamtenschaft aus Dienern der Kir­ che zu Inhabern unmittelbaren göttlichen Berufsauftrages für geistliche und welt­ liche Dinge gemacht und den in alles sich schickenden und duldenden Untertanen­ verstand zur Fügung in diese amtliche Ordnung erzogen. Der Christ begab sich seiner eignen Rechte in weltlichen Dingen, und die christliche Demut entäußerte sich alles eigenen Willens an die berufenen Träger der von der Vorsehung verord­ neten Gewalt. Diese Glorie des Staates und des Beamtenturns blieb, auch nachdem der Staat sich nach moderner weltlicher Souveränetätslehre auf sich selbst gestellt und die Kirche nur mehr als ein Mittel der Volks erziehung und moralischen Ge­ sinnungsbildung, als einen Teil seines Machtapparates, ansehen gelernt hatte. In Afolgt: aber ihnen ist der Staat Selbstzweck geworden, und nur mehr um seiner eigenen Ehre willen fordert er den Gehorsam. Und vom Absolutismus erzogen, wacht die spezifisch politische Empfindung überhaupt wieder auf, die im Staate einen der höchsten Selbstzwecke des irdischen Lebens sieht und nun die politische Erziehung der bisher völlig unpolitischen Bevölkerung zu ihrer Hauptaufgabe macht. A: dagegen ist gerade aus dem religiösen, überweltlichen Individualismus her­ aus die Unterwerfung aller irdischen Dinge unter die Freiheit des Gewissens ent­ standen A: Aber all A: emanzipiert A: wird A: werden ,

A 400

374 B. C 651

D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 1 9. Jahrhundert)

Anteil fordern darf an den Lebensgütern; die Gewissensfreiheit I des seinem Gott nach fester Ü berzeugung dienenden Gemütes zum Rechte der Indifferenz gegen alle religiösen Institutionen und Gedanken . Nicht anders steht es mit der Anbahnung des Kapitalismus durch die bürgerlich-puritanischen Kreise. Die hier anerzogene Arbeits­ und Geschäftsgesinnung, die planmäßige Einstellung eines systematisch rastlosen Fleißes auf nützlichen Erwerb wurdea aus einem Mittel der Flei­ schesabtötung und der Gottesverherrlichung durch den allgemeinen gro­ ßen Aufschwung der kolonialen und technischen Entwickelung und durch die Erkaltung des religiösen Gedankens zu der profithungrigen, unterneh­ mungslustigen Seelenverfassung des modernen Kapitalismus, dem der Er­ werb zum Selbstzweck und systematische Ausnutzung aller Konjunkturen zur Pflicht wird, der die Arbeit zur eigenen Ehre und zum Erweis des eige­ nen Könnens und Vermögens betreibt. Klassisch für diese Säkularisation altreformierten Geschäftsgeistes ist Benj amin Franklins Tagebuch 1 69 mit seiner rein utilitaristischen Motivierung einer entsagungsvoll systemati­ schen Arbeitsamkeit: aus Bunyans Himmelspilger, der in allem für die himmlische Rettung und für die Ehre Gottes besorgt ist, wird Daniel De­ foes Robinson, der irdisches Gedeihen und Selbstgenuß der eigenen Erfin­ dungskraft zur Angelegenheit der einsamen Seele macht und mit einem gro­ ßen Kolonialreich belohnt wird. Es ist eben das Wesen der innerweltlichen Askese im Gegensatze zu der weltflüchtig-katholischen, daß sie die weltli­ chen Angelegenheiten zu unmittelbaren Willens zielen und gottgesetztenb Aufgaben macht und so ihnen eine gewaltige Energie zuführt, daß sie aber innerlich doch die Seelen von diesen Willenszielen völlig fernhält und so die j eder inneren religiösen Bedeutung ermangelnden Welttätigkeiten der Reli­ gion in dem Momente über den Kopf wachsen läßt, wo sie selbst matter wird und jene durch allgemeine Verhältnisse eine neue selbständige Grund­ legung erfahren. Wer a

b 1 69

A: wird A: göttlichen

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 528.

VI. Die Auflösung der protestantischen Askese

375

den Protestantismus preist wegen seiner poli­ tisch und wirtschaftlich befreienden oder entwickelnden Wirkung, muß wissen, daß der Protestantismus diese Wirkungen gegen seine eigene inner­ ste Absicht hervorgebracht hat, daß sein ethisches Wesen die innerweltliche Askese ist und daß die Schöpfungen dieser die Welt durchdringenden As­ kese sich gegen die Askese selbst schließlich gewandt haben. a Das Eindringen der modernen Wissenschaft und die Emanzipation der politisch-wirtschaftlichen Mächte ist von ihm als seine eigene Konsequenz schließlich anerkannt und ertragen worden. Das aber bedeutete dann I einen neuen Begriff des Natürlichen und der Vernunft, die gut und göttlich blei­ ben, auch wo sie nur sich selbst folgen und nicht auf den Dienst für die Kir­ che mehr bezogen werden können. Damit ist die stärkste Bresche in seinen alten Naturbegriff geschlagen. Bei dieser Bresche aber blieb es nicht. Das hätte nur Verluste an ursprünglich beherrschten Gebieten bedeutet und wäre nicht allzutief in das Innere des religiösen Gedankens selbst hineingedrun­ gen. Wenn das dann doch geschah, so ist es das Werk der metaphysischen und geschichtsphilosophischen Ideen, die den bisherigen religiösen Natur­ begriff selbst in seinem inneren Kern verwandeltena, um in ihm überhaupt die Voraussetzungen des asketischen Gefühls zu brechen. Hier wir­ ken die Ideen der AllgesetiJichkeit und der Optimismus des bFortschritts- und Entwickelungsgedankensb. Die neue Naturwissenschaft machteC den Gedanken immer unausweich­ licher, daß die ganze Welt in Natur und Geschichte nur ein großes, einheit­ liches System gesetzlicher Entfaltung und Gestaltung des Universums ist. Die göttliche Zwecktätigkeit und Vorsehung wurded nicht mehr auf das Ein­ zelgeschehen, sondern auf die Kalkulation des Ganzen durch den großen Weltmechaniker bezogen; oder, wo die Gesetzmäßigkeit mehr in der Weise des stoischen Naturbegriffes empfunden wurdee, da er­ schienenf die Gesetze als die Wirkungs formen der breiten, großen Gott-

B, C 652

Moderner Monismus als Zerstörer der Askese.

A: All dies freilich bedeutet nur Entziehungen und Verluste von ursprünglich be­ herrschten Gebieten und wirkt auf diejenigen, die innerlich im Bann der protestan­ tischen Idee bleiben, nur indirekt zu einer Verstärkung und Verselbständigung der weltlichen Interessen. Viel tiefer dringen die metaphysischen und geschichtsphiloA 401 sophischen Ideen in das I Innere des religiösen Gedankens selbst ein, b- b A: Fortschrittsgedankens A: macht c A: wird d A: wird e A: erscheinen f

a-a

376

D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 1 9. Jahrhundert)

Natur, die nur als Ganzes ihr eigener Selbstzweck ist. a Es war die unaus­ bleibliche Folge des modernen Kausalitätsbegriffes und des kopernikani­ schen Weltbildes, daß die Welt eine unermeßliche Größe annahm und zu­ gleich in all dieser Größe als eine überall in sich einheitlich verbundene Lebenseinheit erschien. Unermeßlichkeit der Welt und Vielzahl der Geister­ reiche, Gesetz und Einheit durch das ganze Universum, gegenseitige Be­ dingtheit und kontinuierlicher Zusammenhang alles Einzelgeschehens in einem großen Gesamtgeschehen, das waren die Eindrücke, die sich von hier aus für Denken und Phantasie ergaben und die ganz unabhängig von den be­ sonderen naturwissenschaftlichen und philosophischen Theorien der wisa-a

A 402

A: Typisch für die Wirkung dieser Ideen ist die Art, wie Leibniz gerade von ihnen aus eine energische christliche Position behaupten will. Er stellt das Auge in die Sonne, in die allgemeine Weltgesetzlichkeit, ein. Der einzelne Mensch und sein Geschick wird weniger wichtig. Wohl ist ihm ein letztes Ziel des Glückes vorbehal­ ten, aber doch immer nur mit Rücksicht auf das Gesamtziel der ganzen Geister­ fülle. Daraus ergibt sich ein unbegrenzter religiöser Optimismus, aber nur für das Ganze der Welt, und eine ebenso bedingungslose Ergebung und Resignation, aber nur für den einzelnen und einzelne Lagen. Gott führt diese ganze unendliche Welt zum letzten Ziele der Seligkeit; sonst wäre er nicht Gott. Aber die Seligkeit der ein­ zelnen ist nur möglich mit Rücksicht auf die Erreichung der jedes anderen; und das fordert unendlich viel Verzicht auf Einzelglück und vertrauensvolle Ergebung in unerforschliche göttliche Wege. Aber alle diese Ergebung ist nicht Ergebung in den Sündenfall und seine Folgen, alles Leiden ist nicht Folge der menschlichen Freiheit und Schuld, sondern Folge der Zusammenpassung kreatürlicher Vielheit zum einheitlichen göttlichen Endzweck. Alles Leiden ist nur ein Einzelton in der Symphonie des Ganzen. Aus diesem göttlichen Wirken tönt die Notwendigkeit und Einheit des Naturgesetzes entgegen wie eine Harmonie der Sphären, die aus geistigem und körperlichem Geschehen die gleiche Notwendigkeit und Einheit vernehmen läßt. Die göttliche Notwendigkeit schließt das menschliche Tun in sich ein und läßt ihm nur die größere oder geringere Herausarbeitung der ihm imma­ nenten Wesensbestimmung, aber keine Durchkreuzung göttlicher Wege übrig. Die Freiheit ist die wahre Notwendigkeit, ist das Reich der Gnade, und wenn das Evan­ gelium in uns den Trieb zum höheren Leben weckt und festigt, dann vollendet es nur den innersten Trieb der Natur. Keine Katastrophen und keine Brüche, keine Tragödien und Wiederherstellungen bringt das göttliche Schaffen hervor, sondern eine unendliche Annäherung an die Quelle alles Guten und aller Wirklichkeit. Freudig zum Ziel bestimmt und doch beständig zu Geduld und Ergebung ge­ nötigt, kann die Seele das künftige Leben erwarten wie einen künftigen Tag, und un l erschöpflich tätig hat sie ihr Glück zu suchen in der Ausnutzung jedes Momen­ tes, da doch jede Zukunft nur die Folge jeder Gegenwart und Vergangenheit ist und in dem Heute der irdischen Tätigkeit schon das Morgen des ewigen Lebens wandelt. [In A kein Absatz )

VI. Die Auflösung der protestantischen Askese

377

senschaftlichen Arbeit bestanden. Mögen die letzteren noch so schwierig und dunkel sein, j ener Gesamteindruck wurde ein davon unabhängiger selbstverständlicher Koeffizient aller Stellungnahme des Gefühls und der Phantasie zu den Dingen. Es ist der volle Gegensatz zu der bisherigen Me­ taphysik der Kirchen, der katholischen wie der altprotestantischen, die in dem Aristotelismus ein teleologisch gedachtes, aber vom modernen Kausa­ litätsbegriff noch völlig freies System und in der ptolemäischen Lehre ein die Weisheit des Schöpfers wie die anthropozentrische Enge der Welt anschau­ lich machendes Bild der Dinge vorausgesetzt hatten. Das war ein ebenso selbstverständlicher Koeffizient aller Phantasie und alles Denkens gewesen, dem die Zweckstufen der Welt, die immer neuen Eingriffe zur Erzeugung dieser Zweckstufen, ihre Aufgipfelung zum Menschen als dem Ziel der Schöpfung und die Aufgipfelung des Menschen zu den Wundereingriffen der besonderen Vorsehung etwas völlig Zweifelfreies und Natürliches waren. I Mit einem solchen System hatte die Weltdurchbrechung durch den Sündenfall, das Wunder der Wiederherstellung und die starke Naturverwerfung im gegenwärtigen Sündenstande leicht vereinigt werden können. Aber all das trat in ein ganz anderes Licht, wenn statt Bruch und Wiederherstellung, Entzweiung und Versöhnung vielmehr die im unermeßlichen Kausal­ prinzip sichtbare unverbrüchliche Einheit, Kontinuierlichkeit und Korrelation des ungeheuren Weltlebens anschaulich vor dem Gedanken stand. Davon war das religiöse Ergebnis dann unvermeidlich ein Zug zum Pan­ theismus, zum Empfinden Gottes als der alles in sich einheitlich tragenden und entfaltenden Lebenseinheit der Welt, die um dessen willen überhaupt nicht mehr von der Welt klar geschieden, am wenigsten mit anthropomorphen Person- und Eigenschaftsbegriffen bezeichnet werden konnte, sondern vor allem in der Einheits- und Harmonieempfindung zum Ausdruck kam po Erst wirkte zwar noch der alte Anthropomorphismus nach, indem man Gott als den mathematischen Kalkulator des Weltzusammenhangs be­ schrieb und ihm Wundereingriffe in dieses mechanische Ganze mehr oder minder zuversichtlich zutraute. Aber die dahinterliegende pantheistische Konsequenz befreite sich ganz naturgemäß. Spinoza, Shaftesbury, Lessing, Herder und vor allem Goethe zogen diese Folgerung. Damit ergab sich ein Wandel nicht bloß in der Wissenschaft, sondern vor allem in der eigentlichsten praktischen Lebensstimmung. Gott und Welt fallen nicht auseinander, sondern die Welt lebt und webt in Gott, und alles Große und Gute ist nicht ein göttliches Offenbarungsgesetz von außen, sondern ein Wirken des göttlichen Lebens von innen her, ein Wirken Gottes im Menschen; alle suprana-

170

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 528.

B, C 653

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B, C 654

D. Der moderne Protestantismus (18. und 1 9. Jahrhundert)

turalistischen Theorien sind nur veräußerlichende Deutungen dieser inneren Lebensvorgänge. Ist aber das ganze Weltleben eine innere Einheit, so muß alle Offenbarung des Geistes in kontinuierlichem inneren Zusammenhang mit dem Leben der Natur stehen; auch sie ist eine Äußerung und Selbstof­ fenbarung des göttlichen Lebens, ja geradezu die Unterlage und Vorausset­ zung des geistig-ethischen Lebens, das aus ihr herauswächst und in ihr zu­ nächst nur verborgen und verdeckt ist. Die materielle, sinnliche Natur wie die seelische Natur muß in jener Lebenseinheit einbegriffen sein, kann in der Freiheit nur überhöht und fortgeführt, organisiert und vergeistigt werden. Wird aber so die Natur mit hineingenommen in die Einheit des Lebenspro­ zesses bei Gott und beim Menschen, so entsteht eine größere, reichere Le­ bensfülle, die, alles im Zusammenhange fühlend, auch das Ganze in seiner Einheit durchdringen und gestalten will, die verschiedenen Lebenskreise in ihren relativen Werten achtet und sie harmonisch und umfassend in der Ein­ heit der durchgebildeten Persönlichkeit verbindet. Das religiöse Leben ins­ besondere kann dann nicht mehr eine der Natur und Sünde völlig entgegen­ stehende, alles Natürliche bestenfalls nur zu Form und Stoff herabsetzende fremde Welt sein, sondern die Religion muß das Ganze in seinem Reichtum und seiner Verschiedenheit in sich aufnehmen und es zur inneren Lebensharmonie durchdringen. Die religiöse Ethik wird zur I Humanitätsethik, der nichts Menschliches fremd ist und welche die aus der Natur emporstreben­ den Kräfte des Idealen mit der Naturanlage des Menschen harmonisch ver­ bindet, die innere Lebenseinheit des Kosmos in der reichen Fülle harmoni­ scher Menschenbildung spiegelt und wiederholt.a Das sind typische religiöse Stimmungen des modernen Menschen, die auch da, wo, wie bei Kant, die Freiheit und das Böse eine größere Rolle spie­ len,171 im wesentlichen doch nicht verändert werden. a Das aber bedeuteta die Aufhebung des Dualismus zwischen der erb­ sündig-verdammten und der erlösten Welt, des absoluten Gegensatzes bder Bekehrtheit und der Unbekehrtheit b, der asketischen Stellung zur Welt, wo der Christ nach Gottes Willen in der verlorenen Welt geduldig ar­ beitete, aber nur selten ein Strahl ihrer Göttlichkeit in das dem Jenseits zuge­ wendete Herz eindringtd. Das ist Weltbejahung nicht im Sinne des Duldens und Gehorsams, sondern im Sinne einer vollen Anerkennung der durch kei­ nen Sündenfall verringerten Göttlichkeit der Welt. l 72 e Daher ist es vor allem ein uni­ versal begründeter" Optimismus, der j ene Zeit zunächstf charakterisiert. Er ist bereits nahe gelegt durch die harmonisch-gesetzliche Betrachtung der Welt, die den Weltzweck nur behaupten kann, wenn sie die Welt als Ganzes in gesetzmäßiger Bewegung auf den Weltzweck hin denkt. Aber er hat über­ dies in der Zeit noch seine eigenen Wurzeln. Eine Jahrtausende alte Kultur war abgelaufen und hatte zuletzt in furchtbaren Religionskriegen grauenvoll geendet. Eine neue Welt erhob sich, deren Grundbegriffe und Ideale noch unerprobt und unwiderlegt sind. Alles, was der alten Periode nicht gelang, wird der neuen gelingen. Noch sieht man nur die erlösende und I befreiende Kraft der neuen Gedanken, nur den Gegensatz gegen das Alte und die un­ begrenzte Zukunft. Auf eigenen freien Kräften der Menschheit, auf ewigen Gesetzen der Vernunft, auf Begeisterung und Teilnahme jedes Individuums A: Sie aber bedeuten b - b A: des unbekehrten und bekehrten Seelenzustandes A: arbeitete c d A: eindrang e-e A : Damit verbindet sich die Wirkung des geschichtsphilosphischen f A: vor allem a -D

172

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 528.

Fortschrittsidee als Zerstörer der Askese.

B, C 655

380

A 403

D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 19. Jahrhundert)

beruht die Zukunftsarbeit. Sie wird leisten, was bloßer Zwang und positive Autorität nicht vermochten. Die inneren Springquellen aller Kultur sind frei geworden, sie werden den reinen, neuen Strom hervorbringen. Dazu hat der Mensch der neuen Zeit ein Mittel in der Hand, das unendlicher Entwicke­ lung fähig ist und durch seine eigene innere Rationalität sich unendlich neu erzeugt; er hat die neuen Naturwissenschaften und mit ihrer Methode das Prinzip der Wissenschaften überhaupt, ebenso exakt und sicher als uner­ schöpflich und vorwärtsdringend. Es ist, in Turgots Formulierung, das neue Zeitalter der positiven Wissenschaft nach dem der Phantasie und Zufalls­ routine, oder, in Kants Formulierung, das Zeitalter der Mündigkeit, wo jeder selbständig und doch ohne Willkür die Regel des Fortschrittes finden kann. Technik und Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, alles wird auf die neue Basis gestellt und wird auf ihr eine unbegrenzte Entfaltung finden, alles nur gelei­ tet von der Idee des Gesetzes. Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze ist der jetzige Mensch der reife Sohn der Zeit. Diese Stim l mung hat sich na­ turgemäß auch dem religiösen Gefühl mitgeteilt, ja gerade mit ihm sich zu einer freudigen Gewißheit verschmolzen. Der Niedergang des bAltpro­ testantismus schienb der Fortschritt der neuen Zeit, und die neue Religiosität Cstellte sich dar alse die höhere, reinere, freiere, fester begründet auf innere Notwendigkeit und Einsicht, freudiger und tätiger, menschenfreundlicher und praktisch förderlicher. Die Liebestä­ tigkeit nah md einen neuen Aufschwung, das leibliche Wohl und die natür­ liche Empfindung bedenkend. Tugend und Menschenliebe tratene erst jetzt nach dem Verstummen des dogmatischen Zankes lebendig hervor. In dieser Stimmung ist aber natürlich geschichtsphilosophisch der Bruch der Schöp­ fung durch die Sünde und der Bruch der Sündenwelt durch die Erlösungstat unmöglich. Das religiöse Leben {erscheint als! eine aufsteigende Entwicke­ lung, durch Sünde getrübt, aber nie abgebrochen. Die Erlösung ist die Er­ öffnung eines höheren, reineren Lebens und Denkens, von Gott aus den Menschen emporhebend, aber keine Umkehrung des Weltlaufs ; die Zukunft wird nicht das Reich des Antichrist, sondern das Reich des ewigen Friedens und der Menschenliebe oderg die Unsterblichkeit bringen. Damit fällt der

A: reifste a b - b A: Alt-Protestantismus ist c-c A: ist cl A: nimmt e A: treten f-J A: ist A: und g

VI. Die Auflösung der protestantischen Askese

381

Sinn der Askese weg. Vervollkommnung wird die Losung; Ü berwindung des Bösen ist nur ein Mittel zu ihr, und die Vervoll­ kommnung besteht in der Entfaltung der ganzen reichen, gottgegebenen Menschennatur. Der Beruf ist nicht mehr das Arbeiten und Dulden des einzelnen an dem bestimmten Ort des von Gott ihm gegebenen Gesellschafts­ systemes, sondern die individuelle Besonderheit der persönlichen Geistesanlage, und der Gottesdienst im Beruf wird die Ausbildung der individuellen Gottesidee, die in j edem Individuum ver l körpert ist. Das erste große praktische Experiment mit diesen Fortschrittsideen, die französische Revolution, hat dann freilich viel Wasser in diesen Wein gegossen; ihr Glaube und ihre Bekenntnisformeln sind alt geworden; auf ihnen liegt vielfach der Staub der Phrase oder der Rost der Enttäuschung. aAber die steigende Skepsis gegen den Gedanken eines einfachen und unbegrenzten Fortschrittes hob den Gedanken der Entwickelung selbst nicht auf, sondern zwang ihn erst recht, seinen Sinn und seine Probleme zu entfalten. Alles geistige Leben geht hervor aus dem natürlichen, alle Freiheit reißt sich los erst vom Gegebenen und Tatsächlichen und steigt nur in langsamen Entwickelungen auf zur Herrschaft über die Natur. Der Gegensatz beider muß als Triebkraft schon in den elementaren Entwickelungen enthalten gewesen sein, aber er bricht erst auf gewissen Höhen der Entwickelung hervor aus der Naturbasis; die Freiheit und Vernunft gestalten nur auf ihrer Grundlage in wechselndem Kampf ihr Reich, dessen letzte Ziele bei der Größe der Zeiträume unerkennbar sind und das vielleicht nur ein Ausschnitt aus viel größeren kosmischen Entwik­ kelungen ist. Immer bleibt der Gedanke einer werdenden Einheit des Kosmos, der alle Gegensätze als Entwickelungsbedingungen und als Durch­ gangsstufen untergeordnet sind, in der die Natur die Vorstufe der Freiheit bildet und alles Böse nur ein Moment in der Entwickelung der Freiheit ist. Der Sündenfall bleibt ein Mythos, und die absoluten Gegensätze der Bekehrung werden zu einem Gegensatz der Lebensstufen, die Bekehrung selbst wird zur inneren Läuterung und Emporhebung. Die Natur ist nur das erste Gegebene, die Vorstufe und die Basis des geistigen Lebens, im Kampf der

a- Q

A: Aber für Unzählige sind sie eine Macht geblieben, und auch wo der unbedingte Fortschrittsglaube sich mit steigendem Zweifel und gelegentlichem Pessimismus durchsetzt, ist doch der allgemeine Gedanke einer aufsteigenden Menschheitsent­ wicklung und einer Eingliederung des Natürlich-Sinnlichen in sie, die Ablehnung des Mythos vom Sündenfall und der absoluten Gegensätze in der Bekehrung, ge­ blieben. Eben damit ist auch der Askese im Sinne des Alt-Protestantismus der Bo­ den entzogen. [Absatz, als Randkolumne: Auflösung der Askese durch die moderne Kunst.} Daß es aber dazu kam, dazu hat noch ein letztes vor allem gewirkt,

B, C 656

382

Auflösung der Askese durch die moderne Kunst.

A 404

B, C 657

D. Der moderne Protestantismus (18. und 1 9 . Jahrhundert)

Freiheit zu überhöhen und zu überwinden, nur in ihrer Festhaltung gegen die Freiheit eine Quelle des Bösen, in ihrer Einigung mit der Freiheit ein Ausdrucksmittel des göttlichen Lebens. Am wichtigsten aber für die Umgestaltung des Naturbegriffes - diesen Begriff nicht im naturwissenschaftlichen, sondern im ethisch-religiösen Sinne verstanden - ista die moderne Kunst. Das Verhältnis des Altprote­ stantismusa zur Kunst ist nicht ganz einfach zu bestimmen. Es warb im all­ gemeinen zweifellos ein spröderes und schwierigeres als das des Katholi­ zismus. Gehört zur Kunst die reflexions freie Naivetät, die sich dem Gestaltungs- und Verkörperungsdrange überläßt, und die sinnliche Sensi­ bilität, die das Sinnliche als Verkörperung des Schönen unmittelbar emp­ findet, so hat der Katholizismus viel mehr Naivetät und unbefangene Sinn­ lichkeit besessen. Gerade seine weltflüchtige Askese besaß die Idee der Askese selbst naiv und ver l mochte sie künstlerisch auszusprechen, und seine Freilassung des Sinnlichen in gewissen Grenzen ließ der künstleri­ schen Verherrlichung Raum. So hat denn auch der Katholizismus in der Zeit seiner unreflektierten Selbstzuversicht eine großartige und eigentüm­ liche Kunst hervorgebracht, die freilich wesentlich um religiöse Gedanken und um den Kultus sich sammeltec• Der Protestantismus war hierzu von Hause aus weit weniger befähigt. Seine Religion der persönlichen I d Ü ber­ zeugung stimmted ihn zur Reflexion, und seine innerweltliche Askese ware einerseits zu reflektiert, um sich von selbst in Poesie umzusetzen, und an­ dererseitsf zu radikal in den Gesamtumfang des Lebens hineingetragen, um der Sinnlichkeit ein selbständiges Recht zu lassen. Gleichwohl hat auch er den natürlichen Drang zur künstlerischen Verkörperung seiner Ideeg emp­ funden und blieb auch er nicht ohne Gefühl für den das Leben veredelnden Schmuck der Künste. Er ist nicht wesentlich bilderstürmerisch; er hat die Bilder nur als Gnadenmittel verboten; im übrigen haben nicht bloß Luther, sondern auch Calvin und Zwingli "edle Künste" geliebt und gebilligt; Cromwell hat die Raffaelischen Kartons gerettet. hDer Protestantismush hat in der Tat igroße künstlerische Leistungen; hervorgebracht, am wenigA: Alt-Protestantismus A: ist A: sammelt und zu der die heidnische Hochrenaissance Italiens nicht gehört c d-d A: Überzeugung und des vollen Besitzes des religiösen Gedankens stimmt e A: ist A: andrerseits f In A folgt: naturgemäß g h - h A: Und er i-i A: eine große künstlerische Leistung a

b

VI. Die Auflösung der protestantischen Askese

383

sten freilich in den an die Sinnlichkeit vor allem appellierenden Künsten, in Architektur und Plastik; auch in der Malerei, denn die niederländische Malerei darf nicht wesentlich auf seine Rechnung gesetzt werden, und der einzige Rembrandt stand jedenfalls dem offiziellen Protestantismus fern, hat außerdem charakteristisch genug die Malerei je länger je mehr ent­ sinnlicht und in Symbolik des Lichtes verwandelt. Dagegen hat der Prote­ stantismus im Kirchenliede innige Töne gefunden,a in Bunyan seine Ideen mit wundervoller Naivetät in Poesieb umgesetzt. Milton hat C trotz starkerC Renaissanceneigungen, die auch in seiner völlig eigenartigen Theologie sich aussprechen, 1 73 währendd Spencer und Shakespearee zwar unkatholisch, aber j edenfalls von protestantischen Ideen nicht zentral bewegt ; hier überwiegt trotz alles sittlichen Ernstes die Weltbejahung der Renais­ sance, und cvon der protestantischen Askese ist die Elisabethanische Literatur nie voll anerkannt worden.t: Das Höchsteg hat der Prote­ stantismus begreiflicherweise in der unsinnlichsten Kunst, in der Musik, geleistet, wo Bach immer sein gewaltigster künstlerischer Ausdruck bleiben wird. Aber auch er ist wohl nur auf dem Boden des Luthertums möglich ge­ wesen, dash die Askese nicht entfernt so systematisch behandelt hat als der Calvinismus. Also die protestantische Askese hat die Kunst nicht unmöglich gemacht, aber sie hat sie gern nur als Schmuck des Lebens oder des Kultus betrachtet oder ihr belehrende und moralisierende Zwecke zuge­ schrieben. Eines jedenfalls hat sie nicht getan und konnte sie nicht tun, nämlich die Kunst als ein selbständiges Prinzip des Lebens, als eine Offen­ barung der Ethik und Metaphysik betrachten, die gerade in der künstleri­ schen Verklärung des I Sinnlichen und der Versinnlichung des Geistigen auf ihre Weise den Sinn der Welt und des Lebens erblicken läßt. Gerade das aber ist das Werk der modernen Kunst.

a

b c-c

d e

f-f g h

173

A: gefunden und A: Prosa A: freilich starke A: und In A folgt: sind A: die protestantische Askese hat die Elisabethanische Literatur nie voll anerkannt A: höchste A: der

Siehe oben S. 305, Anmerkung 1 57.

A 405

384

B, C 658

D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 1 9 . Jahrhundert)

Der wachsende künstlerische Sinn des Mittelalters hat in der Renaissance den religiösen Individualismus zu einem ästhetischen gemacht und damit überhaupt die geistige Freiheit des modernen Menschen angebahnt; er hat die Rechte der Sinnlichkeit und der Leidenschaft, den Sinn für die Schönheit der Natur und des Leibes befreit und dadurch bei I aller Vereinigung himm­ lischer und irdischer Liebe, bei aller Zartheit und Spiritualität der Empfin­ dung die Askese gebrochenP4 Dabei fand er an der Antike eine Hilfe und an der platonischen Vereinigung von Sinnlichkeit und Ü bersinnlichkeit im Schönen ein Mittel des Ü bergangs. Er hat damit die Befreiung vorbereitet, die in Philosophie und Naturwissenschaft den neuen Weg selbständiger Ar­ beit und Entdeckung weiterging. All das ist freilich durch die Erneuerung der kirchlichen Kultur unterdrückt worden, aber mit deren Abschwächung ka­ men die alten Renaissancestimmungen und vor allem ihre Kunst wieder in die Höhe. Zunächst wirkte auf die protestantischen Länder die Renaissan­ cepoesie - bneben dem allgemeinen italienisierenden Lebensstil, der für jene Zeiten selbstverständlich war,b - in der rhetorisch-lateinischen Gestalt, die die Renaissance in ihrer c gewaltsamen Verbindung mit dem Restaurations­ katholizismus so äußerlich und dekorativ machted. Aber einmal überhaupt in poetische und literarische Interessen hineingezogen, brachtene die prote­ stantischen Länder in steigendem Maße eine neue nordische Poesie und Literatur hervor, die zunächst religiöse und moralische Interessen noch pflegtef, aber schon ein selbständiges Interesse am Spiel und Reichtum der Phantasie und am sinnlichen Wohllaut der Form, an der Kraft und Stärke der elementaren Leidenschaften verriet g. Ä sthetisch-künstlerische und welt­ männische Bildung, Reisen in die Musterländer der Renaissancebildung, wie sie Miltons Erziehungsprogramm vorschreibt,175 erzogenh den vornehmen a A: wirkt b - b A: denn um die Poesie handelt es sich hierbei vor allem, während der bildenden Kunst große populäre Wirkungen in jener Zeit schwerlich zugeschrieben werden können c A: der d A: macht e A: bringen f A: pflegt A: verrät g h A: erziehen

174 Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 528. 175 Vgl. John Milton: Ü ber Erziehung. An Meister Samuel Hartlib (1 890), S. 1-12. John Milton: Of Education to Master Samuel Hartlib (1931), S. 273-29 1 .

VI. Die Auflösung der protestantischen Askese

385

Mann. Moralische Wochenschriften verbandena mit religiösen und morali­ schen Ideen das Programm ästhetischer und gesellschaftlicher Erziehung. Der psychologisierende Roman tat b eine Welt von Leidenschaften und Er­ lebnissen auf, die das Interesse an die Stärke des naturwüchsigen Gefühls heftetenc• Die Empfindsamkeit in Lyrik und Erzählung verbandd die tran­ szendente Ü berschwenglichkeit der abgelaufenen religiösen Epoche mit na­ türlich-sinnlichen Gegenständen und Geschehnissen. Von England ginge die neue Literatur über nach Deutschland und wardf in der Seele Lessings zu dem Ideal der das volle Menschentum kraftvoll und harmonisch auslebenden Persönlichkeit. Lessings Kämpfe gegen die Theologen sind im Grunde der Kampf der künsderischen Lebensauffassung gegen die mit ihren Dogmen eng verbundene protestantische Askese. Winckelmann führteg die antike Plastik im Sinne des platonischen Symposions als Offenbarung des einheitlichen I Weltprinzips vor, in dem stille Einfalt und Größe mit unbefangener Sinnlichkeit sich verbinden. Rousseau, der Bürger von Genf und Umbildner des calvinistischen Staatsvertrages zur Gleichheitslehre, warbh aus Christen Menschen nicht bloß im Sinne der Niederwerfung des dogma­ tischen Dualismus zwischen Christen und Nichtchristen, sondern vor allem im Sinne der vollen Empfindung eines unverbildeten Gemüts für Leiden­ schaft, Gefühl und Naturverwandtschaft. Herder entdeckte i Shakespeare, Homer und die Volkspoesie, verkündete; die unreflektierte Leidenschaft und Stimmung mit dem Drang der Verkörperung in anschaulichem Bilde als die Quellen humaner I Bildung. Den Höhepunkt bildete k die wandlungsreiche und doch so einheitliche Kunst Goethes, zu der Schiller mit stärkerer Betonung des Willens und des Moralischen emporstrebte ', beide geradezu in ihrer Kunst Lehrer der Weltweisheit und Moral, die in der Gottheit die Natur und im Guten die schöne Einheit der Gesamtpersönlichkeit ver-

a

b c

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j

k

A: verbinden A: tut A: heften A: verbindet A: geht A: wird A: führt A: wirbt A: entdeckt A: verkündet A: bildet A: emporstrebt

A 406

B, C 659

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D. Der moderne Protestantismus (1 8. und 19. Jahrhundert)

kündetena• Nichts ist hier charakteristischer als das mit Rosen umwundene Kreuz in Goethes Geheimnissen, verglichen mit Luthers Petschaft. Wie an­ ders als Luthers ist Goethes Erklärung: "Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten Das schroffe Holz mit Weichheit zu bekleiden!"1 76 Und wenn schließlich die Romantik in diese Kunst die religiöse Mystik und Ü berwelt­ lichkeit wieder hereinzog, so hat sie doch gerade den Protestantismus abge­ lehnt wegen seiner Unsinnlichkeit und Abstraktheit und das Mittelalter ver­ herrlicht, dessen Ü berweltlichkeit und Askese den Weg zur Vereinigung mit der sinnlich-poetischen Schönheit gekannt habeb• Was seither dann weiter erfolgt ist, der Einbruch des positivistisch begründeten Realismus in die hel­ lenisierende, neuhumanistische Literatur und die dem entgegengesetzte Re­ aktion einer um so zerflosseneren Neuromantik, das hat wohl indirekt aske­ tischen Stimmungen zugute kommen können, hat aber direkt sie j edenfalls nur noch weiter aufgelöst. Erst allmählich kommt mit Kierkegaard und Tol­ stoi der Gegensatz gegen die ästhetisch-pantheistische Weltseligkeit wieder zum Worte, zeigen Schopenhauerscher und Wagnerscher Pessimismus das Weltbild von der anderen Seite. Alles das aber ist eine Tatsache von höchster Bedeutung. Der heutige Mensch empfängt seine moralische Welt- und Menschenkenntnis nicht mehr wesentlich aus der Bibel und etwa auch aus Plutarch und Seneca, son­ dern aus einer großartigen, die Phantasie überwältigenden Literatur, und hier herrscht überall eine den alten biblischen und stoischen Vorbildern entgegengesetzte Behandlung des Sinnlich-Natürlichen. Hier ist die Poesie nicht mehr bloß ein Schmuck des Lebens oder ein aus der gratia universalis ableitbarer Rest der natürlich-vernünftigen Anlage, der auch in der erbsün­ digen Welt bleibt und zur Ehre Gottes gebraucht werden mag, sondern ein selbständiges Zentrum des Lebens, in dem die Einheit und Göttlichkeit der Welt zur Empfindung kommt und die Moral ihre Vollendung zur Harmonie empfängt. Das sind Stimmungen, die bis tief in das Innerste der religiösen Empfindung selbst hineingedrungen I sind und sie oft genug in einen ästhetischen Pantheismus verwandelt haben. Aber cauch WOC dieser Erfolg nicht eintrat oder sich nicht behauptete, wo die na-

a

b c-c

A: verkünden A: hat A: wo auch

176 Johann Wolfgang von Goethe: Die Geheimnisse. Ein Fragment (1 894), hier S. 1 73. Das Zitat lautet korrekt: "Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten / Das schroffe Holz mit Weichheit zu begleiten."

VI. Die Auflösung der protestantischen Askese

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türliche Tendenz aller Religion auf das Ewige und Ü bersinnliche sich wieder geltend machte, wo die reine Innerweltlichkeit in Pessimismus umschlug oder die Opposition des sittlichen Gestaltungswillens weckte, da ist doch das eigentümliche Wesen der altprotestantischen Askese, ihre leidende und duldende oder ihre rationell arbeitsame Berufssittlichkeit mit dem Blick auf das Jenseits als das eigentliche Ziel nicht wiederhergestellt worden, ebenso­ wenig ihre Voraussetzung, I die Lehren vom Fall und der Wiederher­ stellung, von der Erbsünde und dem absoluten Wunder der Bekehrung; diese Lehren sind praktisch wirksam nur in pietistischen Kreisen und theo­ retisch in theologischen Büchern, die aus dem inneren Wunder der Be­ kehrung die alte Theologie wieder heraus zu theoretisieren unternehmen. Mächte des allgemeinen Gefühlslebens sind sie nicht mehr; denn, auch wo sie angeblich herrschen, fehlt ihnen die notwendige praktische Folge, die Askese. Sie können nicht wiederhergestellt werden, solange die modernen Völker ihre Kunst und Literatur nicht wieder vergessen haben;3 und, wenn sie mit ihrer tiefen, inneren Notwendigkeit sich wieder geltend machen, so wird das in ganz anderen Formen geschehen, als die des Altprotestantis­ musb gewesen sind.

VII. Neue religiöse Bewegungen innerhalb des Protestantismus

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aVII. Neue religiöse Bewegungen innerhalb des Protestantismus. Unter all diesen ver­ schiedenen Einflüssen steht der Protestantismus der Neuzeit. Aber seine Geschichte ist nicht bloß die von Beeinflussungen durch die neue Ideenwelt. Er hat zugleich seine eigene Geschichte, die aus seinen eigenen Lebenstrie­ ben hervorgeht und mit der Umgebung in fortwährendem bald freund­ lichem bald feindlichem Austausch steht. Damit wendet sich die Darstellung zu der Eigengeschichte des Protestantismus, dessena mächtige Ideenwelt bder Altprotestantismusb durch eine seelsorgerliche Arbeit ohnegleichen, durch eine kolossale populäre Literatur und durch Kämpfe und Leiden tief in die Seelen der Völker geprägt Chatte. Das erste ist hier die Reaktion, die noch vor einer erheblichen und durch­ greifenden Beeinflussung durch den Geist der neuen Zeit aus seinem eigenen Geiste gegen die landeskirchliche Verhärtung und Veräußerlichung, die dog­ matische Objektivierung und intellektuelle Lehrhaftigkeit, gegen die I Verro­ hungen in den großen Kriegen und gegen die dabei zutage tretenden Schäden des kirchlichen Wesens hervortrat. Es sind neue Triebe der individuellen Ge­ sinnungs- und Ü berzeugungs religion der Reformatoren, die dem modernen autonomen Individualismus unbewußt entgegenwachsen, andererseits aber eben mit dieser Freiwilligkeit auch die Strenge der subjektiven Leistung beto­ nen und von hier aus in einen steigenden Gegensatz zur Weltförmigkeit der Landeskirchen geraten. Es ist eine neue Äußerung des neben dem kirchlichen Ideal immer hergehenden, aus der Bibel genährten Sektengeistes, die wieder hervorbricht, wie einst bei Täufern und Spiritualisten und die den Doppel­ charakter der individuellen Innerlichkeit und Beweglichkeit und der asketi­ schen Strenge und Weltabschließung trägt. Nur ist es jetzt nicht eine eigent-

A: VI. Asketisch-independente Reaktionen und moderne religiose Bewegungen. Gegenüber diesen außerordentlichen Veränderungen verhielt sich die b-b A: des Alt-Protestantismus, die A: worden ist, keineswegs nur duldend. Sie antwortete mit starken Reaktionen, c-c und zwar sind es im wesentlichen Reaktionen der Askese gegen die Verweltli­ chung. Da aber diese Reaktionen gerade in einer derartig verweltlichten Kultur nicht das alte Staatskirchentum herstellen konnten, vielmehr im modernen Staate und in der mit ihm unlösbar verbundenen offiziellen Kirche gerade einen Haupt­ träger der Verweltlichung zu fürchten hatten, so konnten diese Reaktionen nur er­ folgen durch Betonung der persönlichen christlichen Ü berzeugung und Erfahrung und durch Schaffung von hierauf aufgebauten Konventikeln, die innerhalb oder neben dem Staatskirchentum die jetzt allein noch mögliche Art rein geistlicher Ge­ meinschaft darstellen. Neben der Behauptung der Askese charakterisiert sie ein starker religiöser Individualismus, und bald tritt mehr das eine und bald mehr das andere hervor. Und wenn sie einerseits a-a

Allgemeine historische Stellung des Pietismus.

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Der moderne Protestantismus (18. und 1 9. Jahrhundert)

liche Komplementärbewegung. Die neuen Bewegungen und Gruppierungen stellen sich nicht neben den kirchlichen Protestantismus, sondern brechen aus dessen Zentrum hervor und suchen reformierend auf ihn zurückzuwir­ ken. Sie bleiben in der Hauptsache an sein kirchliches Ideal gebunden, wollen es nur beleben und ernster machen, ohne es aufzuheben. Sie gehen daher nur vereinzelt zur wirklichen Sektenbildung über; es blieb größtenteils bei unkla­ ren Mischungen. Sie verflochten sich gleichzeitig mit den Wirkungen, welche die veränderte allgemeine Welt auf den Protestantismus ausübte, und empfin­ gen von hier aus die Bedeutung, einerseits den Protestantismus innerlichst zu subjektivieren und ihm damit den Anschluß an die moderne Ideenwelt zu er­ leichtern - hier gingen sie in den Rationalismus und dann in die romantische Theologie über -, andererseits die Kirchen mit dem alten Dualismus und as­ ketischen Geiste wieder zu durchdringen, so daß sie mit seiner Hilfe die Ge­ genstellung gegen die moderne Welt vollzogen - hier schufen sie die große Restauration des 1 9. Jahrhunderts. Doch gehört das erst den letzten Endwir­ kungen dieser Erscheinungen an. Zunächst waren sie nichts anderes als neue Regungen der religiösen Kraft des Protestantismus. Sie konnten bei der gan­ zen Lage der Dinge anfangs nur als Reformen der Landeskirchen auftreten, die sich von kleinen engeren Kreisen wirklicher Christen aus vollziehen soll­ ten und die dann von da aus freilich oft in die Bahn der Separation und der selbständigen Gemeindebildungen gedrängt wurden. Wenn sie dabd den Zusammenhang mit dem Altprotestantismusa betontenb so wuß­ tenC sie andererseits sehr wohl, daß sie mit der Preisgabed des Staats­ kirchentums und seiner Kultureinheit neue Wege gingene; sie rechtfertigtenf sie aber mit der Hervorhebung der individualistischen Ideen, die I gsich beig den Reformatoren fandenh; es wurdei eine stehende Rede, daß das Staats kir­ chentum ein Rückfall der Epigonen in den Papismus gewesen sei. Man holte i die täuferische und mystische Literatur wieder hervor und bekanntek sich zu

A: Alt-Protestantismus A: betonen c A: wissen A: Aufgabe d A: gehen e A: rechtfertigen f g g A: in h A: enthalten waren A: wird A: holt i A: bekennt k a

b

VII. Neue religiöse Bewegungen innerhalb des Protestantismus

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ihrer Persönlichkeits- und Erfahrungsreligion. Darum führen sie auch den Sammelnamen Pietismus. a In der Herausbildung des religiösen Individualismus ist bder Pietismusb verwandt mit dem englischen clndependentismus. In der ängstlichen Zu­ rück l haltungC gegen die Welt bekundet er sich als dKind der ganz andersarti-

B, C 663

In A folgt: So sind diese Bewegungen einerseits Reaktionen, andererseits Fortschritte in der Individualisierung der Religion. [In A kein Absatz] b - b A: er A: Independentismus, in der polemischen Stellung c-c d-d [Unten, S. 404) A: einer späteren Epoche, in der bereits die Auflösung des alten Systems stärker oder schwächer eingesetzt hatte. [Absatz ] Beruht der Independen­ tismus auf dem Heroismus des gegen den Zwang sich auflehnenden religiösen Ge­ wissens, so beruht der Pietismus auf der Gegenwirkung gegen die dogmatische Verholzung der Landeskirchen und auf dem Gegensatze gegen die moderne Welt. Der Independentismus lebt noch im ungebrochenen Gedanken der Herstellung der christlichen Gesellschaft und kämpft für sie mit dem Einsatz des Menschen und des Lebens, der Pietismus glaubt nicht mehr an die Christianisierung der Welt, sondern zieht sich von ihr auf Sondergemeinschaften zurück und kämpft mit der Heiligkeit der Lebensführung, mit der Feder und der Exaltation des Gefühls. Der erste ist ein aggressives Heldentum der Tat, der zweite kennt nur rigoristische Härte oder schwärmerische Sentimentalität; der erste wirkt auf dem Schlachtfeld und im Parlament, der zweite in der Stube, im Konventikel und in den fürstlichen Kabinetten. Aber wenn auch der kontinentale Pietismus weniger gewaltig und großartig ist, er ist doch eine Erscheinung von der höchsten Bedeutung, und in Wesen und Wirken dem Independentismus verwandt. Das Ganze ist ein neuer Akt in der Geschichte des Christentums, eine Herausarbeitung von Konsequenzen des reformatorischen Gedankens, an die dieser nicht gedacht hatte, eine Wiederauf­ nahme des Werkes, das die Täufer und Spiritualen unternommen hatten. Es ist die Subj ektivierung und Entkirchlichung der Religion, und so ist der Pietismus neben dem Eindringen des modernen politisch-sozialen und wissenschaftlichen Geistes die zweite große Grundtatsache des modernen Protestantismus . [Absatz] Den Anlaß zu seiner Ausbildung gaben die Verhältnisse selbst, der Zusammenbruch der mittelalterlichen Idee in der Erstarrung der Konfessionen und in der Emanzi­ pation von Staat und Gesellschaft. Der Pietismus ist die neue Stellung, die die Religion in diesem Zusammenbruch einnimmt, nach der einen Seite die Belebung des religiösen Gefühls und der Phantasie, nach der anderen die Verselbständigung der kirchlich-religiösen Gemeinschaft gegenüber der bisherigen Mischung von Staat und Kirche und schließlich die Durchführung der strengen christlich-ethischen Maßstäbe in dem so verengten, aber auch lebendiger und eifriger gewordenen Kreise. Dadurch wird die Askese freilich oft strenger I und ausschließlicher, als sie A 409 bei den Reformatoren gewesen war; sie glaubt nicht mehr an die Verchristlichung der Gesellschaft und zieht sich von ihr zurück; aber sie bleibt innerweltliche Asa

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Der moderne Protestantismus (18. und 1 9. Jahrhundert)

gen landes kirchlichen Verhältnisse des Kontinents, wo nicht an die Aufrich­ tung eines Reiches der Heiligen innerhalb einer allgemeinen Revolution des Staates, sondern nur an Konventikel innerhalb der landes kirchlichen Erstar-

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kese und rechtfertigt ihren Verzicht auf die Welt nicht als prinzipiell notwendigen, sondern als durch die Lage geforderten; sie glaubt in den Endzeiten des großen Abfalls vor der Wiederkunft Christi zu leben. Den Anstoß zu diesen Bildungen gab der in dem reformierten Kirchentum enthaltene Trieb zur Bildung heiliger und reiner Gemeinden, die bei der reformierten Verfassung und Laienbeteiligung alsobald auf den Fuß der Korporation gesetzt werden können, wenn der Staat und die Gesellschaft versagt. Von hier verpflanzte sich die Bewegung in das Luther­ tum. Ein zweites in dieser Emanzipation der religiösen Selbständigkeit benütztes Moment ist die religiöse Mystik. Sowie der religiöse Gedanke individualisiert und auf rein persönliche Erfahrung gestellt wird, bieten sich auch hier wie seinerzeit bei den Täufern und in den Anfangen Luthers die Mittel der neuplatonisch-mysti­ schen Religionspsychologie dar, die in der christlichen Umbildung den pantheisti­ schen Hintergrund ja genügend abgestreift hatte und nur mehr eine Anleitung zur Analyse und Beschreibung des religiösen Aufstieges und der in ihm sich herstel­ lenden Einheit mit Gott ist. Wenn dabei diese Einigung in Ausdrücken der schließ­ lich sich ergebenden Substanzeinheit geschildert wird und als Mittel vor allem die Vereinigung mit dem verklärten Christus behandelt wird, so ist damit freilich oft eine Zurückstellung des Willenscharakters Gottes verbunden, wie ihn die reforma­ torische Erlösungslehre verstanden hatte. Allein Willenseinigung und Substanzei­ nigung sind überhaupt nicht so leicht auseinander zu halten, und den Ü bergang hatte Luther selbst und das Luthertum oft genug vollzogen, während er freilich für die Reformierten etwas Neues ist. Es ist nur natürlich, daß in der weitgehenden Gemeinsamkeit der Literatur der drei Konfessionen die ältere, diese Mittel darbie­ tende, asketische Literatur benützt wurde. Das sich wieder belebende religiöse Ge­ fühl und die Phantasie fanden in der verstandesmäßigen Schultheologie keinen Stoff. So wird augustinische, bernhardinische, täuferische und spiritualistische Li­ teratur für diese Zwecke reichlich benutzt. Das stellt aber keinen Rückfall in katho­ lische Ideen dar, sondern ganz im Gegenteil die Benützung dieser Mittel zur Er­ reichung der vollen Verselbständigung der persönlichen religiösen Erfahrung und Ü berzeugung. Bildet der Deismus die Moralpsychologie zur Grundlage einer indi­ vidualistischen Religionspsychologie aus, so werden hier die alten mystischen und neuplatonischen Mittel zu dem gleichen Zwecke verwendet, zur Herausstellung der Autonomie der persönlichen religiösen und sittlichen Ü berzeugung. So ver­ schieden daher in beiden Fällen der Inhalt der Religion ist, so wirken doch beide begreiflicherweise in derselben Richtung, in der Richtung auf Individualisierung und Entkirchlichung, und es ist kein Wunder, wenn sie schließlich mehrfach inein­ ander übergehen und sich gegenseitig befruchten. Die beiden Strömungen kreuzen, I mischen und entmischen sich seitdem fortwährend im modernen Protestan­ tismus , und der Pietismus ist um deswillen oft als ein Stück der Aufklärung gelobt oder gescholten worden. Aber in Wahrheit ist er eine durchaus selbständige Er-

VII. Neue religi öse Bewegungen innerhalb des Protestantismus

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rung und Zwangs herrschaft zu denken war. Aber die Analogien gehen noch weiter. Die ganze Bewegung zur Verinnerlichung ist interkonfessionell. Wie seinerzeit neben dem Abschluß des gregorianischen Papsttums die Sekten sich erhoben, wie sie dann später neben der Verkirchlichung der Reforma­ tion emporschossen, so geschieht das auch j etzt. Auch in der katholischen Kirche reagiert die religiöse Innerlichkeit gegen das zentralisierte und objek­ tivierte Kirchenturn. Hier treibt die katholische Mystik ihre neuen, teils fei­ nen, teils wunderlichen Blüten, und ein Pascal schafft mitten aus dem schroffsten kirchlichen Dualismus heraus das zarte Wunder seiner ganz in­ dividuell persönlichen Religionsanalyse. Freilich wurden dort diese Bewe­ gungen unterdrückt. Sie hatten die Möglichkeit tiefer Wurzelung nur auf pro­ testantischem Boden, wo der ursprüngliche religiöse Individualismus und Biblizismus ihnen eine starke Nahrung gab. Bei den Reformierten war es im wesentlichen zunächst nur die Fortsetzung der Grundtendenzen Calvins auf eine heilige Gemeinde. Daraus entstanden die konventikelmäßigen Rück­ züge auf die reine Abendmahlsgemeinschaft der wahrhaften Christen über­ all, wo das öffentliche Gesamtleben diesen Ansprüchen nicht entsprach; erst, nachdem so neue Bahnen betreten waren, strömten die mystischen und katholischen Devotionsmotive zur Verlebendigung der Frömmigkeit ein und regten sich die eigentlichen Separationsgedanken. Indem die Bewegung von hier zum Luthertum übersprang, gewann sie hier in den Jahren von ungefähr 1 675177 bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen ihre wichtigste hischeinung und mit jener nur durch die Gemeinsamkeit des Individualismus ver­ bunden, der aber in beiden Fällen verschiedenen Sinn und Grund hat. [Absatz, als Randkolumne: Französische Analogie des Pietismus.] Es ist im ganzen eine inter­ konfessionelle Bewegung. In Frankreich reagirt die Mystik Fenelons, der Guyon, der Bourignon und des Jansemismus gegen das starre Kirchentum; Pascal entwirft seine tiefsinnige und fein zergliedernde Religionspsychologie als Grundlage der Apologetik. Aber weitergehende Ergebnisse waren hier ausgeschlossen. Nur auf protestantischem Boden ergab sich eine wirkliche Neubildung.

177 Das Jahr 1 675 markiert, üblichem Verständnis zufolge, das Erscheinungsjahr der Programmschrift des lutherischen Pietismus, der "Pia desideria" von Philipp Jakob Spener, in der dieser eine scharfe Kritik der kirchlichen Zustände und sein kirch­ liches Reformprogramm vorlegte. Speners Schrift lag im Frühj ahr 1 675 als Vorrede zur von ihm herausgegebenen Neuausgabe der Evangelienpostille Johann Arndts und zur Herbstmesse 1 675 als Separatdruck vor, wenngleich die Titelblätter dieses Separatdrucks als Erscheinungsjahr 1 676 verzeichnen. Vgl. Philipp Jakob Spener: Pia desideria oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirchen (1 676) .

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storische Gestalt, die dann durch Vermittelung der Herrnhuter auf die große methodistisch-pietistische Bewegung in England weiterwirkte und nach mehr als einem halben Jahrhundert in den Erweckungsperioden Frankreichs, der Schweiz und Deutschlands eine mächtige und höchst einflußreiche Wie­ derbelebung erfuhr. Der Pietismus, als Ganzes betrachtet, wendet sich den religiösen Tiefen der überlieferten protestantischen Christlichkeit ZU. 1 7 8 Er ist wieder eine ein­ seitig, ja fast ausschließlich religiöse Bewegung ohne alle intellektuellen und kulturellen Nebeninteressen, eine erneute Selbstkonzentration des Prote­ stantismus. Er geht aus der Vertiefung und Sammlung auf den energisch her­ ausgegriffenen Grundgedanken der bisherigen religiösen Gedankenwelt hervor, er entfaltet die Konsequenzen des Gedankens der Erbsünde und der Bekehrung durch die Gnade. Die lutherische Buß- und Bekehrungslehre, die mehr eine theoretische Veranschaulichung des Wesens des Glaubens war, in der Praxis aber auf die Taufe, die immer wiederholten Bekehrungsbußen und die Beichtabsolutionen sich verteilte, wird zum praktischen Zentrum, zum einmaligen I Gnaden- und Bekehrungsdurchbruch beim Erwachsenen oder doch zur Gestaltung des Lebens als zusammenhängende, wachsende und in einem fortschreitenden sittlichen Lebensstand offenbare Bekehrungstat. An diesen einen Punkt heftet sich alle Macht des Religiösen, alle Empfindung ei­ ner wirksamen Gottesgemeinschaft, und von da aus wächst diesem Punkte dann eine Kraft der unmittelbar lebendigen, den Menschen im Innersten er­ greifenden Wirkung zu, die er bisher nicht auszuüben vermochte und die sich vor allem in der Vergleichgültigung aller damit nicht unmittelbar zusam­ menhängenden Lehren, d. h. aber der ganzen sogenannten Theologie, äu­ ßerte. Um so stärker zeigt sich dafür seine Wirkung auf das praktische Leben, das nun als der einzige Prüfstein wirklicher Religiosität gilt, und um so durchgreifender stellen sich von ihm aus die Beziehungen zu allen einzelnen Fragen des praktischen Lebens her. Die dogmatische Gleichgültigkeit, die das vornehmste Merkmal aller frisch aufstrebenden religiösen Bewegungen ist, eignet dem Pietismus in hohem Grade. Er kennt keinen Unterschied zwi­ schen den Gläubigen und Theologen, er hebt das Laienchristentum auf den Schild und verlangt von den Theologen nichts als eine besonders starke reli­ giöse Kraft, die sie zur Leitung der Seelen befähigt. Damit ist aber von selbst auch schon der Gegensatz gegen die kirchlichen Lebens formen der Fröm­ migkeit gegeben, die vor allem an der dogmatischen Ü bereinstimmung erkannt werden und in deren Wahrung durch die Macht des Klerus ihre Hauptkraft besitzen. Der Pietismus schont zwar in seinen Hauptführern die

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Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 528.

VII. Neue religi öse Bewegungen innerhalb des Protestantismus

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konfessionellen Besonderheiten und Symbole, aber er ist doch tatsächlich konfessionell indifferent, glaubt an die Seligkeit von Reformierten und Lu­ therischen, Katholiken und Arminianern und läßt sie unter Umständen so­ gar zu gemeinsamer Religionsübung zu. Er übt jene rein religiös begründete Toleranz, die alle Äußerungen der Frömmigkeit ohne umständliche dogma­ tische Kontrolle anerkennt, wenn man in ihnen den verwandten Zug leben­ dig erregter persönlicher Frömmigkeit empfindet und wenn sie auf den einen Hauptpunkt, die sündenüberwindende Gottesgemeinschaft, sich beziehen lassen. So läßt er die alten deutschen Mystiker wieder zu Wirkung kommen, fühlt sich von Weigel, Schwenkfeld und Böhme angezogen, eröffnet der französischen, niederländischen und englischen Erbauungsliteratur einen breiten Einfluß auf das steif und tot gewordene Luthertum. Insbesondere ist er indifferent gegen die kirchlichen Handlungen, in denen der Klerus eine nur ihm zukommende und nur an seinem Amt hängende Einwirkung auf die Kirchenglieder ausübt, gegen die Sakramente. Ihm bedeutet der bloß tat­ sächliche Vollzug der Kindertaufe nichts, er dringt auf die wirkliche Her­ zensbekehrung, die der heilige Geist dem Gefühl versiegelt und die in der Lebensänderung sich kund tut. Als Wirkung dieses Gedankens ist die Kon­ firmation übrig geblieben. Ihm ist die bloße Beichte und Absolution ohne Gewißheit wirklicher Reue und Erneuerung ein Gewissen beschwerendes Spiel mit Worten. Er hält das I Abendmahl nur mit denen, bei denen er wirklich die Liebe zum Heiland im Herzen brennen fühlt. Er hält den Geistlichen, der es nur ist durch Amt und Theologie, für die Fleisch gewordene Lüge. An Stelle der aufgehäuften Schlacken der bisherigen Religion, die er als abstruse Theologie, als kirchliches Gewohnheitswesen, als Amtswürde und bürgerliche Reputation vor sich liegen sah, setzt er wieder das Feuer frischer und lebendiger Empfindung des Göttlichen, die sich nicht an der Religion anderer genügen lassen, sondern selbst den Verkehr mit Gott fühlen und schmecken will. Er fordert, daß ein jeder selbst an seiner Person den Schrekken und die Angst vor dem Unerforschlichen, sowie die Gnade und Güte der Gottesoffenbarung erlebe. Er kämpft gegen die sichere Meinung, als besitze man die fertige Wahrheit, und will jeden in die Höhen und Tiefen des eigenen Ringens um den Gewinn des Heils hineinführen, das ein jeder selber erst für seine Person erwerben muß. An Stelle des "historischen Glaubens", der auf anderer Rechnung glaubt und darum so sicher ist, soll der lebendige "Heilsglaube" treten, der auf eigene Erfahrung baut und niemals völlig fertig ist. Gott ist ihm gegenwärtig und nicht beschlossen in einer längst vollendeten Offenbarung, die die Kirche verwaltet. Die ganze eigentliche Theologie, insbesondere die Dogmatik und die Kontroverstheologie, verschwinden ihm darum völlig. Er will nur die Bibel vor dem Angesicht Gottes lesen lehren mit beständiger Hoffnung des Herzens für die in diesem Lesen fühlbar wer-

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dende göttliche Wirkung. Er lehrt das eigene Selbst beobachten und zerglie­ dern und führt nicht zur Analyse theologischer Begriffe, sondern zu der des Innenlebens. Er hebt alles in die Sphäre unmittelbarer, fühlbarer Gegenwart und zeigt die Wirkungen dieser göttlichen Gegenwart auf Gemütszustand und Willen. Eben deshalb dringt er auch auf Scheidung aller Erweckten und Gläubigen von dem Treiben der Welt und von der Zerstreuung, in der nicht jener eine Gedanke alles beherrscht. Darum strebt er danach, die erweckten Persönlichkeiten, die gleichgestimmten Seelen zu sammeln, und zwar ohne alle die Rücksichten auf bürgerliche Scheidungen, die bisher durch die Ver­ mischung der offiziellen Kirche mit dem Staat und dem Gesellschaftsauf­ bau so störend in das geistliche Leben eingegriffen hatten. Er schafft neue Gemeinschaften auf rein religiöser Grundlage und überwindet damit die schroffen Trennungen des bürgerlichen Lebens. Er pflegt einen Verkehr mündlichen und brieflichen Austausches, rührender Bruderliebe und christ­ licher Gastfreundschaft, wie ihn die älteste Christenheit und die beginnende reformatorische Bewegung gezeigt hatten. Er gibt der Frau in der religiösen Gemeinde Recht und Stellung des gleichberechtigten Individuums. Und in­ dem er so alles auf die religiöse Erneuerung abstellt, überfliegt er, wie alle großen christlichen Bewegungen, die Trennungen des Weltlebens, die mit ihren tausend weltlichen Aufgaben die Seelen vom Ziel der Vollkommenheit scheiden, in der Vergegenwärtigung des Endes und des Sieges Gottes. Er vertieft sich in das Ende der Dinge und malt sich die kommende I Herrlich­ keit, darin das Ende seiner eigenen unruhigen Herzenskämpfe wie die Ü ber­ windung der hemmenden Weltinteressen vorausnehmend. Mit alledem ist aber dann bei ihm, wie bei allen religiösen Bewegungen, auch die Schwärme­ rei gegeben, die bei phantasiereicheren und begehrlichen Naturen aus der beständigen Selbstkonzentration und Gefühlsspannung Visionen, Träume und Weissagungen hervorgehen läßt. Bald mit rührender Kindlichkeit und zaghaftem Ernst, bald mit raffinierter Genußsucht grübelt und schwelgt er in apokalyptischen Bildern, in Gesichten des Heilands und in persönlichen Erleuchtungen. Es sind Menschen von geringer Weltkenntnis und engem Horizont, aber von starker Phantasie und erregtem Gefühlsleben, die alles unter dem Gesichtspunkte ihrer religiösen Grundidee und in der Abzwek­ kung auf eine Gemeinde wahrer Christen auffassen. Daraus erklärt sich diese merkwürdige Aufwallung schwärmerischer Erleuchtungen, bei denen sich ja auch, wie es zu geschehen pflegt, Verworrenheit, Schwindel und Verbrechen gelegentlich einschlichen, gerade an der Schwelle der kühl rationalistischen modernen Welt. Und wo man sich schließlich von solchen Entzückungen, Prophetieen und Inspirationen abwandte oder wenigstens sich bedenklich abwartend verhielt, da hat die mächtig erregte Phantasie die Gegenwart des göttlichen Wirkens sich in anderer Weise gegenständlich gemacht und den

VII. Neue religi öse Bewegungen innerhalb des Protestantismus

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Wunderglauben, der allen religiösen Bewegungen eigen ist, auf ihre Weise erneuert. Der eigentümliche pietistische Vorsehungsglaube ist nur eine andere Form des Wunderglaubens, den man durch diesen Namen vom Wunder­ glauben der Urgemeinde zu unterscheiden suchte. Ü berall vernahm der Wie­ dergeborene göttliche Zeichen und Weisungen. Jedes harmlose Ereignis konnte, namentlich wenn es etwa mehreren Personen zugleich unabhängig voneinander begegnete, als eine besondere göttliche Weisung anerkannt werden. Zufällig aufgeschlagene Bibelsprüche, ungewöhnliche Rührungen und Ergriffenheiten des Herzens, ungewöhnliche Leiden und Freuden sind jedesmal unmittelbare Wirkungen Gottes. Die besonderen "Führungen" der "Finger Gottes" werden dem erleuchteten Auge verständlich. Die Errichtung des Hallenser Waisenhauses, wo der Glaube aus nichts eine neue kleine Welt schuf, war das große Hauptwunder, um dessen Wundercharakter man mit den es natürlich erklärenden Gegnern erbittert stritt. 1 79 Wer dieses Wunder als Wunder anerkannte, schied sich damit von der Welt, die es nicht zu verstehen vermochte. Dieselbe Rolle, die für das Ganze des Pietismus die Errichtung des Waisenhauses spielt, spielten für das Einzelleben wunderbare Gebetserhörungen, die nachdrücklich verzeichnet und gesammelt wurden. Ja die Bekehrung selbst war das Wunder, das im Mittelpunkt stand, und das nur Vorspiel und Unterpfand aller weiteren Wunder war. Gab es aber so eine Gemeinde, die besondere Kräfte und Erkenntnisse besaß, so war damit von selbst die Aufgabe der Ausbreitung und Mission gegeben, wozu die neue Be­ rührung mit dem in seinem ursprünglichen Sinne wieder gelesenen Neuen Testa l ment noch verstärkende Antriebe hinzufügte. In einer sich wandelnden Welt stehend und die religiöse Ermattung empfindend, werden die Pie­ tistengemeinden von selbst Missionsgemeinden, die Seelen aus der Welt erretten und dabei sich ganz von selbst an die Individuen halten müssen, ähnlich, wie das in der Urzeit der Fall war. Sie treiben bereits das, was man später bei noch größerer Deutlichkeit der Kluft innere Mission genannt hat, und sind die Väter dieses Werkes. Sie denken aber auch wieder an die Aufgabe der allgemeinen Weltrnission. Der nicht mehr staatskirchlich gebun179

Zu den Hintergründen im Streit um das Hallenser Waisenhaus vgl. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 1 7. und 1 8. Jahrhunderts, Band 2, Erste Abteilung (1 884), S. 276-278. Als Hauptkontrahent des Hallenser Pie­ tismus tritt Valentin Ernst Löscher hervor. Löscher bestreitet 1 707, "daß in dem trotz aller Schwierigkeiten erfolgreichen Unternehmen Francke's die Bewährung einer besondern Vorsehung Gottes erkannt werde, deren Begriff er mit dem streng­ sten Begriff des Wunders gleich setzt." (S. 278.) Die Kontroverse zieht sich über mehrere Jahre hin. Von 1 707 bis 1 7 1 1 erscheinen zahlreiche Kritiken und Antikritiken.

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< 1. Der pieti­ stische Sünden­ und Erlösungs­ begrifF

D. Der moderne Protestantismus (18. und 1 9. J a h rhund ert)

dene Blick denkt sich die Bekehrung und das Bekenntnis nicht mehr als Sa­ che der Fürsten und Staaten, sondern als Rettung und Gewinnung einzelner Seelen. So geht vom Pietismus wieder, im vollen Gegensatz zu dem leidsa­ men lutherischen Berufs- und Staatschristentum, aber in Ü bereinstimmung mit dem Geiste des Urchristentums, die Mission hinaus in die sich gleichzei­ tig immer weiter erschließende Welt, und die Missionsberichte lauten wieder wie die der urchristlichen Missionäre voll von Weisungen und wunderbaren Fügungen, von Prüfungen und herrlichen Gnadentaten. So hat der Pietismus kein Dogma. Er ist die Auflösung des Dogmas aus rein religiösen Motiven vor der Auflösung aus wissenschaftlichen. Aber er hat zwei zentrale Gedanken, um die seine lebendig bewegte, wenn auch enge Gedankenwelt schwingt, und die er der Phantasie immer neu vergegenwär­ tigt. Sie sind durch seine Einwirkung die Grundgedanken des ganzen moder­ nen konservativen Protestantismus geworden und ersetzen diesem den Halt an einem korrekten kirchlichen Dogma. Mit diesen Grundgedanken verbin­ det sich zugleich eine Wandlung der Ethik. Das erste ist der alte Kerngedanke des Luthertums, die Sündenüberwin­ dung durch die Glaubensgerechtigkeit und im Herzensverkehr mit dem Gottmenschen Jesus. Für den Pietismus ist j edoch die Sünde nicht schon we­ sentlich durch die Taufe gebrochen und der Christenstand nicht ein bestän­ diges Zurückgreifen in allen Gewissenschrecken auf den Tauftrost, sondern eine erst in bewußter und reifer Bekehrung zu brechende Weltmacht. Die Beseitigung des katholischen Sakramentsgedankens kommt erst so zu ihrer vollen Wirkung. Er dringt auf die tiefste Empfindung des Sündenelends und der Ohnmacht des natürlichen Menschen, auf innere Gewißheit der Gna­ denannahme bei Gott, die jeder selbst ohne Priester und kirchliche Vermit­ telung aus eigener Lebensberührung mit Gott in Christo gewinnen muß. Er empfindet die Gnadenannahme als unmittelbare Nähe und Gegenwart Got­ tes in Christus, der in seinem Sünden sühnenden und Liebe offenbarenden Leiden unmittelbar gegenwärtig vor dem Gemüt des Frommen ist, ähnlich wie Luther von dem Einswerden mit Christo, von der Welt in Christo und von der Welt außer Christo gesprochen hatte, nur daß die Sentimentalität des Zeitalters der "fruchtbringenden Gesellschaft" und der "Pegnitzschäfer" 1 8o 1 80

Die ,Fruchtbringende Gesellschaft' und die ,Pegnitzschäfer' zählen zu den Sprach­ gesellschaften, die in Deutschland im 1 7. Jahrhundert in größerer Zahl entstanden und die sich die Förderung der deutschen Sprache zum Ziel gesetzt hatten. Ihr Pro­ gramm umfaßte etwa die Opposition zu modischer und grobianischer Literatur, die Lösung der deutschen Sprache von Fremdsprachen- und Dialekteinflüssen sowie das Bemühen um Vereinheitlichung der Orthographie. Erblickte die 1 6 1 7 gegründete ,Fruchtbringende Gesellschaft', die älteste, größte und angesehenste der Sprachge-

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diesen Gedanken nicht mit der männlichen Kraft und Keuschheit Luthers, sondern mit allerhand tändelnden Bildern I ausmalte. Der Sündengedanke ist nicht mehr die Folie der kirchlichen Rettungsanstalt und die Erlösung nicht mehr das Vertrauen auf das in der Kirche objektivierte Wort, sondern der erstere ist die Grundlage eines persönlichen Bußkampfes und die letztere ist ein unmittelbares mystisches Erlebnis. Hierin liegt das Wesen der pietistischen Frömmigkeit, die Art, wie sie das Göttliche vergegenwärtigt; und an der Betonung dieses Zentrums, sowie an dem Grade der Ausbildung der hierin liegenden Konsequenzen lassen sich die verschiedenen Gruppen des Pietismus unterscheiden. Vor allem ist von ihm aus ein sehr verschiedenes Verhältnis der Frömmigkeit zur Kirche möglich: entweder bloße Befruchtung und Verlebendigung der kirchlichen Frömmigkeit oder die Unterscheidung einer höheren wirklich lebendigen Frömmigkeit von einer unvollkommenen gemeinkirchlichen und damit die Konventikelbildung oder strenge Individualisierung der Frömmigkeit mit prinzipiellem Separatismus oder bloße Gleichgültigkeit gegen die Kirche oder gar der Kirchenhaß, der in der Aufrichtung der Kirche den Untergang der ersten Liebe der Christen und in dem von Konstantin begründeten Verhältnis zum Staat das Reich des Antichrist erkennt. Hierin ist ferner die verschiedenste Auffassung des Heils selbst gegeben: ein quietistisches Ausruhen in der erreichten Sündenvergebung mit Verzicht auf alles eigene Wollen und Können oder ein eifriger Beweis des Erlösungsstandes in Abschließung von der Welt und Aufrichtung reiner heiliger Gemeinschaften, gesetzliche Peinlichkeit und Angst um die Bewährung der Gnade oder selige Sicherheit bis zur Ü berhebung und zum Libertinismus, schwankende Unsicherheit über den wirklichen Besitz der Rechtfertigung und felsenfeste Ü berzeugung von einem ein für allemal ge-

seilschaften, ihre erste Aufgabe in der Hebung des gesellschaftlichen Ansehens der deutschen Sprache, so verband sich die Sprachpflege bei den 1 644 gegründeten ,Pegnitzschäfern' (auch: ,Pegnesicher Blumenorden' oder ,Gekrönter Blumen­ orden') mit religiösen Interessen: Alle Mitglieder soilten, einer Selbsterklärung zu­ folge, "nichts eitles" suchen, sondern "bey ihrem Vorhaben vornehmlich auf die Beförderung der Göttlichen Ehre" bedacht sein und "dahin trachten, ihrem Seelen­ Hirten Jesu Christo zu seinem Preiß, geistliche Lieder anzustimmen". Zitiert nach Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer (1 986), S. 25. In Anlehnung an die Bezeichnung der ,Fruchtbringenden Gesellschaft' entsteht im frühen Pietis­ mus die Idee der ,Fruchtbringenden Jesusgesellschaft'. Vgl. dazu etwa Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus, Band 2, Erste Abtheilung (1 884) , S. 1 4 1 f. Die von Ritschl gegebenen Beispiele für erotische Metaphorisierungen der Jesusfrömmigkeit (S. 79-8 1 ) mag Troeltsch vor Augen gehabt haben, wenn er unten von den " tändeln­ den Bildern" dieses Frömmigkeitstypus spricht.

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schehenen Durchbruch der Gnade. Nicht minder nimmt die einmal erregte Phantasie von hier aus die verschiedensten Wege: sie schwelgt in Ausmalung des Sündenelendes und des Gnadentrostes, oder sie wagt sich mit strenger Festhaltung an der Bibel über den einzig sicheren Punkt nicht hinaus, oder sie versenkt sich in Vergangenheit und Zukunft der Christenheit, den Abfall und die Rückkehr erklärend, oder sie vergegenwärtigt sich die Ideale heiligen Wandels erweckter Gemeinden, frommer Seelen, seliger Sterbestunden und wirksamer Bekehrungen; sie rückt das Leiden Christi an sich heran, dabei alle ähnlichen Betrachtungen katholischer und mystischer Erbauung herbeizie­ hend, oder sie löst die befreiende gegenwärtige Gotteskraft ganz von dem geschichtlichen Jesus und betrachtet ebendiesen Jesus vielmehr als die über­ all gegenwärtige, überirdische Macht der Erleuchtung und Heiligung, die auch bei den frommen Heiden wirkte. Aber bei all diesen verschiedenen Fas­ sungen ist es doch immer der Kerngedanke Luthers, von dem nur angesichts der geringen Leistung der Kirche und angesichts der wachsenden Unverein­ barkeit von Bekehrung und Welt die kräftige Zuversicht auf eine erneuernde Umgestaltung des Gesamtlebens abgefallen ist und der von der späteren en­ gen Verbindung mit einem sakralen Kircheninstitut bald mehr bald I weni­ ger klar wieder gelöst ist, weshalb die radikalen Pietisten auch gerne den frü­ heren gegen den späteren Luther ausspielten und selbst die Vorsichtigen von einer Erneuerung der Reformation sprachen. 181 Das zweite ist der reformatorische Grundgedanke von der Gebundenheit an die Bibel. Erst der Pietismus hat vollen Ernst mit ihr gemacht. Er ist Bi­ belchristentum im eigentlichen Sinne des Wortes und verbannt den Aristo­ teles, die Scholastik, die Schullogik und die Kontroversweisheit aus der Theologie, die natürliche Vernunft lediglich auf die praktischen Einzelfragen des Weltlebens einschränkend. Erst er macht mit der ausschließlichen Näh­ rung des religiösen Lebens und Denkens aus der Bibel wirklichen Ernst und gerät dadurch in den Bannkreis der ursprünglichen biblischen Ideen, die er nicht mehr ausschließlich in dem Sinne des die kirchliche Lehre übrigens schonenden Paulinismus der Reformatoren liest. Er ist der Erweckungsver­ kehr mit der Bibel, die wie ein lebendiges Wesen ihm auf alle Fragen Antwort 181 Hinsichtlich der "radikalen Pietisten" mag Troeltsch etwa an Gottfried Arnold ge­ dacht haben, dessen Präferenz dem frühen Luther gilt. Seiner Auffassung zu folge hat Melanchthon mit seiner judizialen Rechtfertigungslehre, seiner Wiedereinfüh­ rung der Vernunft und der aristotelischen Philosophie in die Theologie, mit seinem Eintreten für Staatskirchentum und Bekenntniszwang den Protestantismus und den älteren Luther ins Verderben gestürzt. Mit den ,Vorsichtigen' dürfte insbesondere Philipp Jakob Spener und seine These von der Erneuerung der Reformation durch den Pietismus gemeint sein.

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geben muß und die er mit der Sehnsucht des geistlichen Entdeckers liest. Die Bibel ist nicht der Inbegriff der Kirche und die Kraft des Amtes, sondern die gleichsam unmittelbar an j eden herantretende Inkarnation Gottes. Natürlich wird dadurch die religiöse Phantasie aufs mannigfachste angeregt und treten eine Menge bisher zurückgestellter biblischer Ideen und älterer, kirchlich nicht anerkannter Auslegungen in den Vordergrund. Denn gerade wie die Bekehrung und Rechtfertigung eine unmittelbare, von der Kirche unabhän­ gige Berührung mit Gott ist, so wird diese Berührung eben durch die von der Kirche unabhängige Bibel bewirkt, die nichts anderes ist, als die immer ge­ genwärtige Gottheit selbst. Damit ist dann auch eine von aller weltlichen Wissenschaft und aller theologischen Weisheit unabhängige Gewißheit und neue Art des Wahrheitsbeweises gegeben. Durch ihre innerlich bekehrende Wirkung allein erweist sich die Bibel als Gottes Wort, und jeder einzelne re­ ligiöse Satz aus der Bibel beweist sich allein für das Gefühl durch seinen Zu­ sammenhang mit der Bekehrung, ein Beweis, der freilich der Selbstquälerei und dem Pharisäerturn weite Türen öffnete, der aber doch auf dem echt re­ formatorischen und religiösen Gedanken von dem alleinigen Werte persön­ licher Heilserfahrung ruhte. Bei dieser Vergöttlichung der Bibel ist die Trieb­ feder der Verlegung des Göttlichen in die Gegenwart das Entscheidende. Daher stammen denn auch die verschiedenen Fassungen dieses Biblizismus. Die Bibel ist entweder Vergegenwärtigung der vergangenen ehemaligen Heilsbegründung und Mittel ihrer Zueignung, wobei verschiedene Grade der Annäherung an die traditionell-kirchliche Behandlung der Bibel möglich sind, oder sie ist das bisher vom Schleier der Traditions- und Staats theologie verhüllte Buch der seligen Geheimnisse, die es erst zu ergründen gilt, oder sie ist nur Symbol und Einzelfall des überall wirkenden gegenwärtigen gött­ lichen Geistes, bei dem es Buchstaben und Geist zu unterscheiden gilt und dessen Geist das allgemeine Prinzip aller göttlichen Offenbarungen ist. Im­ mer aber handelt es sich I letztlich um die protestantische Schätzung der Bi­ bel und ihre Ablösung von Kirche und Tradition, ihre Umgestaltung zum al­ leinigen und allgenugsamen Heilsmittel. Freilich ist dabei die gelegentliche Nüchternheit und Ruhe Lutherischen Urteils verloren gegangen. Aber dafür ist auch das reformatorische Prinzip des Bibelchristentums hier zu seiner vollen Konsequenz gebracht, sind damit die Kräfte der Bibel in einer der Or­ thodoxie unzugänglichen Weise ins Volksleben geleitet und die Antriebe eines unabhängigen originellen Bibelstudiums gegeben, das bald auch für das historische Verständnis des Christentums seine Früchte tragen wird, das aber vorläufig ausschließlich der Erbauung und Heilsgewinnung dient. Aus der so verstandenen Bibel las man drittens die Forderung einer stren­ geren Scheidung von der Welt und von der weltlichen Kultur, welche die bis­ herige Rechtgläubigkeit als eine Folge der staatlichen und gesellschaftlichen

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Ordnung angesehen, mit dem Staate selbst als göttliche Schöpfungsordnung und Gebot hingenommen hatte. Demgegenüber forderte der Pietismus ge­ rade als Ergebnis der Lutherischen Lehre von der erb sündigen Welt, dem Ernst der Bekehrung und dem eigentümlichen neuen Leben des Wiederge­ borenen eine geschlossene rein christliche und biblische Moral, die mit den Gewohnheiten und Sitten der Welt bricht, sich auch durch die Ableitung der­ selben aus der Lex naturae nicht über deren Unchristlichkeit verblenden und durch den Hinweis auf die bleibende Unvollkommenheit des Wiedergebore­ nen oder auf den alleinigen Grund des Heils in der Rechtfertigung nicht be­ schwichtigen läßt, vielmehr ein rein christliches Leben aufrichten will, sei es auch nur in dem kleinen Kreise von Kernchristen. Hier ist freilich der deut­ sche Pietismus sehr kleinlich und ängstlich geblieben. Er wagt sich in deut­ scher Untertanenhaftigkeit nur an das Privatleben und die Einzelpersonen. Er verzagt an der Umwandlung der Welt, er meidet den derben Volkshumor und enthält sich der neumodischen Gesellschaftssitten. Ihm fehlt der Glaube an die Wirksamkeit der objektiven kirchlichen Institutionen, in de­ nen Luther den göttlichen Geist trotz alles Gegenscheines immer wirksam dachte und von denen aus er eine Verchristlichung des Gesamtlebens hoffte, ihm fehlt der großgesinnte Mut, es mit der Welt, die trotz aller Sünde doch auch von Gott ist, zu wagen. Und entbehrte er hierfür in der Tat Luther ge­ genüber dessen Voraussetzungen in der Wirksamkeit der objektiven Gna­ denmittel und in der Gottverordnetheit der naturgesetzlichen Gesellschafts­ ordnung, so fehlte ihm doch auch der Mut und die Kraft Cromwells, die pietistischen Maßstäbe in einer neuen Ordnung der Dinge rein durch die Kraft des Geistes und der Erleuchtung durchzuführen. Die Reform der Kir­ che und der Gesellschaft, die er fordert, ist daher nicht eine grundlegende Erneuerung des Ganzen, sondern die Bildung von Konventikeln, in denen das heilige Leben geführt wird, während über das Elend der verweltlichten und verstaatlichten Kirche eschatologische und geschichtsphilosophische Betrachtungen hinweg l heben. In alledem ist der Pietismus zweifellos eine Verengerung der reformatorischen Sittlichkeit, die in der Enge der deut­ schen Verhältnisse und den bei aller entschiedenen Frömmigkeit doch stark hervortretenden Kleinlichkeiten seiner Führer zunächst äußerlich ihren Grund hat. Der tiefste und innerlichste Grund aber ist der Umstand, daß in ihm der Sektentypus wieder hervortritt, vermöge dessen j ede aus der Bibel geschöpfte Verinnerlichung und Subjektivierung der Religion zugleich die biblische Moral der Weltindifferenz und der Herabdrückung aller weltlichen Ordnungen und Bedürfnisse auf ein Mindestmaß mit sich bringt. Daher kehrt sich der Pietismus nicht bloß gegen die verweltlichte Kirche, sondern auch gegen die von dem reformatorischen Kirchenturn ererbte Akzeptie­ rung der politisch-sozialen Ordnung. Das vom Mittelalter her übernom-

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mene Verhältnis von Staat und Kirche und damit die Hinnahme des Staates und seiner zünftig-ständischen Ordnung als einer gegebenen gottgesetzten Voraussetzung alles Handelns beginnt sich aufzulösen. Ein neuer weltlicher Staat erschien als menschliche Schöpfung, über deren Annehmbarkeit für den Christen man oft bedenklich werden mußte, und nicht mehr als rein göttliche Ordnung, in die man sich zu fügen hatte wie in Wind und Sonne und die man bloß nicht zugunsten selbsterwählten Mönchtums verlassen sollte. Damit ist die Grundvoraussetzung der reformatorischen Moral dahin. So galt es nun demgegenüber die christliche Moral in ihrer selbständigen Be­ sonderheit aufzurichten und deren Einhaltung von der religiösen Gemeinschaft und ohne Staatshilfe zu erwirken. Die reformatorische Moral war von Hause aus nicht einheitlich, sondern hatte zwei Quellen, deren Doppelheit sich unter dem beibehaltenen katholischen Begriff des sittlichen Naturgesetzes und seiner Erneuerung durch Moses und Christus verbarg. Nun sollte es nur mehr eine Quelle geben. Es konnte nicht mehr genügen, Staat, Polizei, römisches Recht und aristotelische Ethik als Ausfluß der Schöpfungsordnung zu betrachten und diese Ordnungen lediglich mit christlicher Glau­ bensgesinnung zu beseelen, sondern es galt, diese letztere selbständig als Grundlage einer eigentlich christlich-biblischen Moral und Lebensführung zu entwickeln. So hat der Pietismus bei aller Beschränktheit und Kleinheit das Grundproblem der christlichen Sittlichkeit von neuem gestellt und trotz aller Ängstlichkeit und Sentimentalität in seiner praktischen Lösung doch die ersten Versuche einer praktisch selbständigen, neuen christlichen Sittlichkeit unternommen. Er hat dieser praktischen Aufgabe mit höchstem Ernst ob­ gelegen und durfte sich sowohl auf die spiritualistischen Äußerungen Luthers wie auf das Neue Testament dabei berufen, die beide den Grundbegriff der eben jetzt sich erhebenden neuen Ethik, die Selbstzwecklichkeit inner­ weltlicher Güter und Zwecke, nicht gekannt hatten. Daher behandelt der Pietismus die weltlichen Zwecke und Güter rein utilitarisch als Mittel der Existenz ohne jeden inneren eigenen Wert, aber auch ohne Bindung an eine angebliche göttliche Ordnung des I Naturgesetzes mit freier Wahl des Zweckmäßigen, bevorzugt die realistisch-technische Bildung vor der schola­ stisch-humanistischen, befördert ähnlich wie der Calvinismus die asketische Arbeitsgesinnung und die ökonomische Prosperität und bildet überall Gruppen weltabgewandter, aber arbeitsamer, sich gegenseitig unterstützender Kommunitäten, die der Merkantilismus und das Populationsbedürfnis der Landesherren wohl zu schätzen wußte. Der methodistische und baptistische Pietismus späterer Zeiten wendet sich dann dem Freikirchenprinzip zu und schafft die großen freien Kirchen, die für die Heiligungsethik kämpfen und Staat und Wissenschaft lediglich als Mittel weltlicher Wohlfahrt ansehen, sie nach freier Zweckmäßigkeitseinsicht gestalten und übrigens ihren Heilig-

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Reformierter Pietismus.

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keitsforderungen durch populären Einfluß zu unterwerfen wissen. Demge­ genüber haben die verschiedenen Einzelfragen seiner Moral, ob und wieviel das Gesetz für den Bekehrten gelte oder evangelische Freiheit walten müsse, wann und wie in der Bekehrung und Heiligung die natürlichen von den übernatürlichen Kräften sich scheiden, ob Stufen der Heiligung oder gar Vollkommenheit in Aussicht zu nehmen sei, ob es einen Termin der noch möglichen Bekehrung gäbe, und Ähnliches verhältnismäßig sehr geringe Be­ deutung. Aus ihnen ergeben sich nur verschiedene Gruppenbildungen und Sondermeinungen, die von möglichstem Anschluß an die Kirchenlehre bis zur radikalen Folgerung hin und her spielen, immer aber von dem Bedürfnis einer neuen und einheitlicheren Gestaltung der protestantischen Moral aus­ gehen. In dem letzteren liegt die Bekämpfung der lutherischen Lehre von einem immer wieder abreißenden Gnadenstand und die Annäherung an die calvinistische von einer wachsenden und zusammenhängenden Moralität des Wiedergeborenen.d Der Pietismus setzte in Holland, dem am wenigsten streng calvinistisch durchregierten der calvinistischen Länder, ein als Präzisismus. Es ist die hol­ ländische Parallele zum englischen Puritanismus, der im Gegensatz gegen eine fremdgläubige Staatsgewalt seine Strenge und seinen Individualismus entwickelt hat. Sein Führer warb Gisbert Voet ct 1 676) , das berühmte und gelehrte Haupt der nach-dordrechtischen Orthodoxie. Er kämpftee gegen das weltliche Leben, gegen Tanz, Theater, Luxus, Patronatsrecht und für die Reinheit derd Abendmahlsgemeinschaft, an der Unheilige nicht teilnehmen dürfen. Als Mittel hierfür schiene ihm bei der Laxheit der Staatsgewalt das in­ nerkirchliche Konventikel, die ecclesiola in ecclesia1 82, sich darzubieten, halböffentliche, nach Geschlechtern getrennte Zusammenkünfte und erwei­ terte Hausandachten der strengen Christen, wo für gegenseitige Kontrolle und Belehrung gesorgt werden konntef, und von wo aus auch Einwir-

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A: setzt A: ist A: kämpft A: des A: scheint A: kann

182 Philipp Jakob Spener verwendet diesen Begriff seit 1 676 als Formel zur Bezeich­ nung der Idee einer Freiwilligkeitsgemeinde innerhalb der volks kirchlichen Ge­ meinde; vgl. etwa Philipp Jakob Spener: Consilia et Iudicia theologica latina (1 709) , Band III, S. 1 38.

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kung auf die Reinheit der Abendmahlsgemeinschaft oder im schlimmsten Fall adie Ausschließunga vom kirchlichen Abendmahl bewirktb werden konnteC; in diesen Konventikeln konntend auch Laien, sogar auch Frauen, den Vorsitz führen. Diesem Konventikelgedanken gab dann einen weiteren Impuls I Coccejus Ct 1 669) , der zweite führende Theologe der Niederlande von antischolastischer und biblizistischer Richtung, der an die Stelle der Kirche den Begriff des Reiches Gottes setzte, d. h. der allgemeinen christlichen Gemeinschaft, die unabhängig von den besonderen kirchlichen Verfassungen alle Gesinnungschristen vereinigt und die ihr Wesen in den Früchten praktischer christlicher Gesinnung hat; freilich ist die Christenheit von diesem Ideal weit entfernt, und so belebtee Coccejus mit dem biblischen Reich­ Gottes-Gedanken zugleich die biblische Eschatologie, die Erwartung eines großen göttlichen Wundereingriffes, der das Reich Gottes in der verderbten und laxen Welt herstellen werde. Selbst am Konventikelwesen unbeteiligt, hat er damit doch den Konventikeln die Ideen gegeben, vermöge deren sie sich als Organe und Darstellungen des reinen Gottesreiches und als Vorbereiter der großen Weltwende ansehen konnten. Den entscheidenden Charakterzug aber gab diesen Konventikeln die Wiederaufnahme spiritualistischer und mystischer Gedanken, die Phantasie­ belebung I durch den Verkehr und die Einigung mit Christus, wie sie nach dem Vorgang von W Teellinck und Francis Rous der Schüler von Voet und Coccejus, Jodocus von Lodensteyn, vornahm; er verlangtef eine Reform Zions, die sich auf wahre Heiligmachung und Selbstverleugnung richteg, und schilderteh diese Selbstverleugnung mit den Farben der mystischen Gottei­ nigkeit, Gelassenheit, Entwerdung als Höhepunkt der Rechtfertigung, ohne damit die strenge Sittlichkeit im Kreis der wiedergeborenen Gemeinschaft zu beeinträchtigen. Zur vollen Konsequenz aller dieser Gedanken, zur Separation, kam es aber erst durch Jean de Labadie Ct 1 674), einen früheren fran­ zösischen Priester, der, zum Calvinismus übertretend, das kirchliche Gefühl desselben sich nicht voll aneignete und, von katholischen Ordensideen er-

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A: Enthaltung A: organisiert A: kann A: können A: belebt A: verlangt A: richtet A: schildert

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Lutherischer Pietismus.

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füllt, schließlich eine separierte Gemeinde von wechselreichen Wander­ schicksalen schuf. Die Landeskirche aber verwarf diese Separation und blieb beim Konventikelwesen, das nach und nach alle in solchen exaltierten Krei­ sen üblichen Erscheinungen hervorbrachte. Erst im Jahre 1 839 kam es zur Konstitution einer separierten, pietistischen holländischen Kirche. Lange zuvor aber hatte dieser Pietismus seine Wirkungen auf die deutschen refor­ mierten Gebiete, auf Nordwestdeutschland, das Wuppertal, Westfalen, die Schweiz ausgeübt. Auch hier entstanden schließlich mehrfach separierte Kirchen. Vom Boden des Calvinismus übertrug sich die Bewegung auf den des Lu­ thertums, das bei dem Doktrinarismus seiner Theologie und der territorialisti­ schen Verweltlichung des Staatskirchenturns ja noch dringenderen Anlaß da­ zua hatte als die reformierte Welt. Hier ist sein Vater und Patriarch Phil­ ipp Jakob Spener (t 1 705) geworden, der trotz seines streng betonten Lu­ thertums die reformierte Lebensstrenge und die Beteiligung des status oeco­ nomicus an der Kirche bewunderte und in weltlich-politischen I Dingen ein Verehrer des Hugo Grotius war. Sein Lebensweg führte ihn durch das reichsstädtische und gräfliche Deutschland, dann an den sächsischen und schließlich den brandenburgischen Hof und hat ihm in all diesen hervorra­ genden Stellungen tiefe Einwirkungen vergönnt, freilich auch, zumal in Sachsen, ihn heftigen Widerstand finden lassen. Einwirkung und Wider­ stand beruhtenb auf Speners Einrichtung des Konventikelwesens auch in der lutherischen Kirche. Er empfand die Lage der Kirche als eine kritische, fühlte das Bevorstehen einer großen Reform und hoffte auf die Ankunft des Gottesreiches, das durch ein göttliches Wunder die neue Kirche schaffen werde. Das Mittel zur Anbahnung dieser Reform sollten die Konventikel mit ihrer Beteiligung der Laien, der Strenge der gegenseitigen Kontrolle und der Kraft gegenseitiger Belebung des religiösen Gefühls sein. Theologisch be­ hauptete er stets seine lutherische Orthodoxie; er forderte nur die Begrün­ dung aller Theologie auf wirkliche Erfahrung des wiedergeborenen Chri­ sten, auf die Lebendigkeit des Geistes statt auf den bloßen Buchstaben, die Wiederbelebung der eschatologischen Gedanken, die ihm die Voraussetzung seiner Reformidee waren, und die ernstliche praktische I Bewährung, die Unterscheidung der Wiedergeborenen und Nicht-Wiedergeborenen in der praktischen Lebensführung, die Ergänzung der lutherischen Gnadenethik durch eine der reformierten ähnliche asketische Bewährungsethik. Er

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A: hierzu A: beruhen

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rühmte die Taufe und forderte das kirchliche Abendmahl, hat aber die Be­ kehrung nach Verlust der Taufgnade für das eigentliche Heilserlebnis ange­ sehen und die Opposition seiner Anhänger gegen den kirchlichen Sakra­ mentsgebrauch Unbekehrter nur allzuwohl verstanden und lediglich zu mildern versucht. So ist es gekommen, daß er in den Konventikeln ein Ventil öffnete, durch das nun allerhand lebhafte, strenge und individualistische Geister a auch allerhand Bizarrerienb und Exzentrizitäten ausströmten. Er hat hier überall zu mildern, aber auch zu tolerieren und die günstigste Seite abzugewinnen gesucht: auch Visionen und Wunder hielt er wenigstens für möglich. Dadurch aber hatte er eine Saat ausgestreut, die ihm weit über den Kopf wuchs und das ganze protestantische Deutschland, vor allem die Kir­ chen des kleinen reichsfreien Adels, mit kleinen Kreisen eines mehr oder minder heftigen Enthusiasmus durchsetzte. Gegenüber diesem irrlichtelie­ renden Treiben nahm dann der zweite Führer des Pietismus August Her­ mann Francke ct 1 727) Speners Werk in die Hand, der Prophet des Buß­ kampfes und der großartige Organisator, der selbst in seinem ganzen Werk gegenüber Spener bereits eine stark erhöhte Temperatur des religiösen Ge­ fühls und der Phantasie zeigt. Für ihn wird die Grundlage aller Religion und Theologie die von jedem zu erfahrende Erneuerung der persönlichen Erleb­ nisse Luthers, von einer modern leidenschaftlichen und individualistischen Stimmung gefärbt, das stürmische Erlebnis des Durchbruches der Bekeh­ rung und der Gnadengewißheit nach tiefer Qual des Zweifels, der Sünden­ angst und Gottesferne. Von hier aus hat er weniger auf Konventikelbildung als auf Umgestaltung des gesamten I Theologenstandes durch diese Bekehrungslehre gedrängt, jedoch selbst in cseinem Hallenser Waisenhaus und dessen Freundeskreise& den großartigsten und umfassendsten Konventikel bekehrter Laien und Theologen geschaffen. Dadurch organisierte er den ganzen Pietismus um ein Zentrum und brachte durch Presse und Schulwesen des Waisenhauses, das moderne praktisch-realistische Bildung vorzog, auch den Lehrerstand und die Schule unter seinen Einfluß. Ebendadurch erstickte er dann freilich den Pietismus als populäre Bewegung, er einigte und schablo­ nisierte ihn und machte ihn zu einer Sache der Theologen und Schulmänner. Der populäre Pietismus dagegen liegt vor in zahllosen Liedern, Erbau­ ungsbüchern und Selbstbiographiend, in der alles ausschnüffelnden Streit­ literatur und Skandalchronik der Zeit. Hier sind die Grenzen des konserva-

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A: Geister, A: Bizarrerieen A: der Schaffung des Hallenser Waisenhauses und seines Freundeskreises A: Selbstbiographieen

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Radikaler Pietismus und Ü ber­ gang in moderne religiöse Bewegungen.

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tiven und radikalen Pietismus viel mehr verwischt als in den Erklärungen der Führer. Denn hier spricht Gefühl, Grübelei, Leidenschaft, Erkenntnistrieb, Weisheitsdünkel, sittliche Strenge und selige Ergebung, Phantasie und Stim­ mung sich unbefangen aus, und Kern und Tragweite der Bewegung wird hier am deutlichsten erkennbar. Aus dieser zum Teil rohen und I hysterischen Massenbewegung ragen einige als besonders bedeutend und charakteristisch hervor. Sie empfangen sämtlich ihre Anregungen von dem Spenerschen oder Halleschen Kreise, gehorchen aber, das kirchliche Interesse mehr zu­ rücksetzend, zugleich in stärkerem Maße den radikalen und phantasiereichen Ideen der Mystik und geraten in zunehmenden bewußten Gegensatz zu den Führern des konservativen und theologischen Pietismus. Sie leben als wan­ dernde Abenteurer, als Einsiedler, als Schützlinge der freien Grafenhöfe. An erster Stelle steht der Führer der Frankfurter Separation, der Rechtskonsu­ lent Johann Jakob Schütz, ein langjähriger vertrauter Freund Speners, der aus Speners Anleitung die Konsequenz eines völligen und prinzipiellen Wider­ spruchs zwischen subjektiv-persönlicher Frömmigkeit und kirchlicher Insti­ tution zog. Ein anderer Typus ist in dem Ehepaar Petersen ausgebildet, in dem der Glaube an göttliche Erleuchtung und Visionen, die eschatologische Erklärung des gegenwärtigen Verfalls der Kirche und die Hoffnung auf die Nähe des Endes und Sieges eine ansteckende Wirkung gewannen3• Weit be­ deutender ist Gottfried Arnold, an Reinheit des Charakters den Führern ebenbürtig, an Geist und Phantasie sie weit übertreffend. Er vertiefte sich in die christliche Urzeit, die er nicht wie die herrschende Kirche für ein fernes unerreichbares Ideal, sondern für das immer geltende Vorbild der Christen­ heit hielt. Diese Urzeit warb ihm das Christentum der lebendigen Inspira­ tion, der feurigen Liebe und strengen Weltentsagung, und von hier aus ent­ deckteC er den prinzipiellen Gegensatz zwischen Religion und Kirche, wandted er seine Sympathie allen Sektenbewegungene zu und fandf er das Wesen der Frömmigkeit in dem unmittelbaren Erlebnis, in der Gegenwart Gottes in Christo, der alles gewirkt hat, was irgendwo, auch bei Heiden, Türken und Juden von lebendiger I Frömmigkeit vorhanden ist, wenn er auch der Christenheit allein sich voll offenbart hat. Er brachteg die Schwärmer,

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A: gewinnt A: ist A: entdeckt A: wendet A: lebendig religiösen Bewegungen A: findet A: bringt

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Enthusiasten, Radikalen und Originale zu Ehren und maltea die Religion als die Empfindung der Gegenwart des Göttlichen, die nur von dem Babel der Staats- und Amtskirche dem Gläubigen entzogen wird. Für seine Person hat er freilich die Staatskirche als der unreifen Zeit entsprechend und politisch zu Recht bestehend anerkannt und sich nur das Recht der Sondermeinung erweckter Kreise vorbehalten. Die Verinnerlichung der Religion hat hier nicht bloß die Grenzen der Konfessionen, sondern die des theologischen Supranaturalismus überhaupt durchbrochen; indem sie nur auf innerer Ge­ wißheit und nicht auf Sakramenten und objektiven Autoritäten beruht, er­ kennt sich alle Religion als wahlverwandt; des modernen Entwickelungsbe­ griffs entbehrend hat Arnold für diese Begriffe, wie seinerzeit die Gnosis, den Logos oder den überall in der Menschheit gegenwärtigen Christus ver­ wendet, so auch den vielgeschmähten Gnostizismus in seinem Recht erken­ nend und seine Spekulationen benutzend. In der großen Gärung kommt alles Neue und Alte zutage, was dem Supranaturalismus der Amts l kirchen entgegen ist, und aus dem eigensten Herd des religiösen Gefühls selbst heraus erhebt sich hier die gleiche Opposition gegen die Einengung der Religion auf das Christentum, die der Deismus rationalistisch und von der Wissen­ schaft her begründete. Noch weiter geht in dieser Richtung Arnolds Schüler Dippel, der den Pietismus von Hause aus polemisch auffaßte und mit allen Mitteln einer geistreichen und witzigen Sprache gegen das protestantische, vom römischen sich wenig unterscheidende Papsttum und vor allem auch gegen die Halbheit, Inkonsequenz und Heuchelei seiner pietistischen Ge­ nossen kämpfte. Die christliche Urzeit und die gegenwärtige Erweckung hielt er der gesamten mittelalterlichen Idee einer kirchlich-staatlichen Kultur entgegen. Die Religion ist Sache Gottes und der gläubigen Seele; überall, wo Gott sie persönlich ergreift, da ist der ewige allgegenwärtige Christus. Von da aus kritisierteb er auch einschneidend die kirchlichen Dogmen, vor allem das Satisfaktionsdogma, das dem sittlichen Gefühl widerspricht und die ge­ genwärtige Wirkung Christi in den Schatten stellt. Kleinere Geister dieser Art blieben nicht aus; sie trieben mitunter einen seltsamen Spuk in den kleinen frommen Ländern, deren Herren teils aus Mangel an anderen Interessen, teils aus Populationsgründen die Pietisten an sich zogen. Den Ü bergang in die Regionen des klaren Gedankens vollzog dagegen Johann Christian Edelmann, der nach abenteuernden quäkerhaften Fahrten als stiller Schüler Spinozas und der Deisten endigte, ein bedeutsamer Hinweis auf den Weg, den nachmals viele gingen.

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A: malt A: kritisiert

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410 Herrnhuter .

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Spiritualisten.

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Eine separatistische Kirchenbildung hat sich innerhalb Deutschlands nur in der Herrnhutergemeinde vollzogen, deren lutherischer Geist sich in der Ab­ wesenheit der sonst üblichen pietistischen Gesetzlichkeit zeigt,a die im übrigen die I Entwickelung solcher kleiner christlicher Sozialgebilde ähnlich wie die Mennoniten erlebt hat. In ihren, schließlich erfolgreichen, Kämpfen um Zulassung hat sie von Anfang an Amerika als Zuflucht in Aussicht genommen; in der Tat haben Zinzen­ dorf ct 1 760) und Nitschmann dort eine blühende Herrnhuterkirche gestif­ tet. Ohne separatistische Kirchengründung ist der Pietismus dauernd auf den Boden der Bevölkerung nur in Württemberg gedrungen, wo das Konventikelwesen neben und in der Landeskirche sich lebendig behaup­ tete und die gefühlswarmen und doch praktisch-nüchternen Schwabenväter, Bengel und Ö tinger, auf Generationen hinaus dem Pietismus den lutheri­ schen Charakter der Geduld, der weltlichen Berufstreue und des in die Lage sich fügenden Vorsehungsglaubens zu erhalten wußten, zugleich aber auch die Rechte des Volkes gegen fürstlichen Absolutismus vertraten. Neben den eigentlichen Pietisten sind aber auch die verschiedenen Spiri­ tualisten nicht zu übersehen, die teils von den täuferischen und Schwenkfeld­ schen Kreisen, teils von der fortwirkenden Naturphilosophie der Renais­ sance, von Paracelsus und verwandten Geistern, ausgingen. 1 83 Bisher von den Kirchen unterdrückt, empfingenb sie durch den Pietismus I Bewegungs­ freiheit und CAnschluß. Abere, von seinen dogmatischen Grundlagen ver­ schieden, entwickeltend sie den Subjektivismus neuer religiöser Bewegun­ gen. Im radikalen Pietismus trate oft genug eine völlige Vermischung mit ihnen ein, und diese Vermischung warf für die Befestigung des religiösen In­ dividualismus nicht ohne Bedeutung. Hier ist in erster Linie Jakob Böhmes Ct 1 624) zu gedenken und der Gruppen, die von ihm ausgehend einen neuen Gnostizismus pflegteng, der Gichtelianer, der von Jane Leade gestifteten philadelphischen Gesellschaft mit Pordage und Poiret, Giftheils, Brecklings und verwandter Geister, die meist in Holland eine Zuflucht fanden; sodann a

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A: zeigt und A: empfangen A: Anschluß und A: entwickeln A: tritt A: ist A: pflegen

Vgl. Troeltschs Literaturhinweise, S. 528.

VII. Neue religiöse Bewegungen innerhalb des Protestantismus

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der Swedenborgianer, die der Lehre ihres Meisters ct 1 772) eine neue Offen­ barung verdankten, die Religion im Verkehr mit den Geistern der Verstorbe­ nen bestehen ließen und dadurch das Jenseits aufschlossen als die Voll­ endung und Vergeistigung der aus der Natur sich befreienden Wesen; Jesus ist das Haupt der aus dem Jenseits wirkenden Geister und die Bibel, geistig gedeutet, die Botschaft von dieser Erlösung; auch für diese Kirche wurde erst Amerika der Boden freier Entfaltung. Hierher gehört auch aus den Krei­ sen der mährischen Brüder deren letzter Bischof Amos Comenius Ct 1 670) , der hervorragendste unter den Reformatoren der ganz scholastischen oder äußerlichen Pädagogik; ihn zeichnete eine tiefe Innerlichkeit des religiösen Lebens und eine die konfessionellen Schranken überwindende, das Christen­ tum an der praktischen Ethik messende Weitherzigkeit aus; in dem Elend seines Wanderlebens haben ihn die apokalyptischen Weissagungen mysti­ scher Schwärmer getröstet, die er als Lux in tenebris veröffentlichte;1 84 seine Reform der Erziehung sollte einen auf vollkommener menschlicher, sittli­ cher und religiöser Bildung beruhenden Zustand der Gemeinwohlfahrt her­ beiführen helfen. Durch die I Spiritualisten ist dann auch die paracelsische Literatur neu belebt b worden. Ihr wandteb sich das Interesse an der Bildung einer enthusiastisch religiösen Weltanschauung und an ihrer Verknüpfung mit Physik und Seelenlehre Czu. Hier beherrschte vor allem Robert Fludd ct 1 637) das Interesse, ein englischer Arzt und Chemiker, der paracelsische und kabbalistische Lehren zu einer in religiöser Mystik gipfelnden Naturphi­ losophie vereinigte, und die beiden van Helmont, Vater und Sohn, gleichfalls Ä rzte und Chemiker von verwandter Richtung. Schließlich ist hier das ge­ samte Rosenkreuzer-Wesen zu erwähnen. In modernen Zeiten wird diese Li­ nie fortgesetzt durch Spiritismus und Okkultismus, Kräfte, die, nach der nie versiegenden und immer neu aufgelegten Literatur zu urteilen, auf breite Schichten der modernen Welt einen größeren Einfluß ausüben, als die auf­ geklärte Bildungswelt anzunehmen geneigt ist. Auf dem Kontinent

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sich die besten Kräfte zurückzogen, damit freilich die Dogmatik teils in im­ mer neue Nöte, teils in scholastische Verengung treibend. Sie hielt mit den liberalen Theologen fest an der Einheitlichkeit des Geschehens, an der Un­ möglichkeit besonderer christlicher Erkenntnismethoden, an der Erfassung alles religiösen Lebens unter einen einheitlichen Begriff und einer einheitli­ chen Methode. Darin zeigt sich der Anschluß an die wesentlichste Position des modernen Denkens. Aber sie beseitigte den dialektisch-begrifflichen Charakter, versenkte sich ohne alle dialektische Konstruktion in die Quellen und Urkunden, in die Tatsachen selbst und lehrte die Religion in ihrer prin­ zipiellen Unabhängigkeit von dem logischen Einheitsbedürfnis, in dem bun­ ten und unableitbaren Reichtum des Mannigfaltigen, in dem Auf und Nieder, den Höhepunkten und Depressionen, in dem schwankenden Kampf der emporziehenden großen und der niederziehenden kleinlichen Kräfte verste­ hen. Man faßte sie nicht mehr auf nach einem zum voraus konstruierten Be­ griff, sondern studierte sie wie ein selbständiges, an Geheimnissen und Ü berraschungen reiches Gebilde der Wirklichkeit. Das gab bei Beibehaltung der bisherigen Erkenntnisse dem Ganzen mehr Farbe und Leben, ließ den jähen Wechsel und die Kontraste, die irrationalen Widersprüche des Lebens, die Bedeutung des Individuellen mehr hervortreten. Vor allem lernte man die Bedeutung der produktiven großen Epochen, der führenden Persönlich­ keiten und Stifter, ganz anders verstehen. Nicht Gedankensysteme, sondern Personen mit dem keiner Analyse ganz zugänglichen und niemals in eine volle Einheit aufgehenden Zauber des rein Persönlichen sind die Knoten­ punkte und Zentren aller Religionsgeschichte. Aber diese Personen stehen j edesmal im Konvergenzpunkt der reichsten auf sie hinführenden Entwicke­ lungslinien und sind Ausgangspunkte neuer Entwickelungen, die teils wei­ tergreifende Konsequenzen entfalten, teils neue Elemente in sich aufneh­ men. Das Christentum wurde so eingetaucht in den Zusammenhang der allgemeinen Religionsgeschichte, und seine Helden und Propheten treten aus ihm hervor als echt historische Erscheinungen, um die der Glaube ihrer Anhänger die Glorie des Wunders webt, um von diesen ganz konkret per­ sönlichen Urbildern zu leben. Die Religionen sind nicht freischwebende Gedankensysteme, oder göttliche Mitteilungen, oder gemütvoll erwärmte philosophische Systeme oder ins eigene Herz blickende Beschaulichkeit, sondern Glaube an Propheten und Offenbarungen, und ihre Macht über das Leben hängt an der Energie dieses Glaubens. Aber die Entstehung dieses Glaubens selbst ist jedesmal ein Gegenstand historischer Forschung und psychologischer Analyse, und so bietet die Historie zwar den Reichtum des Lebens, an dem sich Leben entzündet, aber zugleich die Eingliederung und Relati l vierung alles Lebens innerhalb eines großen Gesamtzusammenhangs, die Unsicherheiten über das wirklich Gewesene und die Erkenntnis der

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Die Theologie des Neuprotestantismus

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Fremdartigkeit und zeitlichen Bedingtheit alles Vergangenen. Damit nährt sie einerseits die religiöse Anschauung und gibt ihr in den Bildern der großen Persönlichkeiten allerhand Impulse und Antriebe, aber sie macht wiederum andererseits alles Normative und Absolute und damit alle Dogmatik überaus unsicher und sie stürzt sämtliche dogmatische Schulen in die schwersten neuen Probleme, die zu überwinden sie noch nicht gelernt haben. Sie müs­ sen alle ihre Begriffe, vor allem die der religiösen Entwickelung, des Stu­ fenbaus der Offenbarungen und Erlösungen, der kommenden Zukunfts­ möglichkeiten neu bilden und von neuem versuchen, dem historischen Relativismus einen Unterbau zu geben, der in die Richtung des Absoluten und Gültigen weist, ohne darum doch wieder die religiöse Ideenwelt in die Banden einer intellektualistischen Metaphysik zu schlagen. So wird alle Dog­ matik des auf die moderne Ideenwelt eingehenden Protestantismus zuneh­ mend genötigt sein, bei allem Anschluß an die geschichtlichen Kräfte doch eigene und selbständige Gegenwartspositionen zu entwickeln, in denen sich die christliche Ü berlieferung mit den, von den modernen Erkenntnissen und praktischen Aufgaben ausgehenden religiösen Impulsen zu einem eigenen und selbständigen Ganzen verwebt. Sie wird die Selbständigkeit der Religion gegen alle Wissenschaft und ihre Produktionskraft gegen alle Kirchlichkeit behaupten und doch das Historisch-Konkrete in eine allgemeine Entwicke­ lungsrichtung einstellen müssen. Damit wird sie von der spekulativ-evolutio­ nistischen Theologie wieder auf die Anfangspositionen Schleiermachers zu­ rückgeworfen. All das gehört freilich wesentlich der deutschen Theologie an. Allein die deutsche Theologie ist in der Tat auf Grund des besonderen Wesens ihrer theologischen Fakultäten die führende Theologie des Protestantismus geworden. SieQ hat I darin nach und nach in Holland, Frankreich, England und allmählich auch in Amerika ebenbürtige Nachfolger gefunden. aAuch dort ist nun überall nach dem methodistisch-evangelikalen Interregnum die wis-

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In Afolgt: Eine Religion des Glaubens und der persönlichen Ü berzeugung muß na­ turgemäß allen Wert legen auf den Gedanken, und so ist die Arbeit an der Theo­ logie und der Kampf um die Theologie ein Hauptlebensinhalt des Protestantismus geworden, während der Katholizismus seine großen Dogmen als unantastbare Kircheninstitutionen außerhalb jeder Diskussion hält und praktisch sich den ver­ schiedensten, von ihnen ganz unabhängigen Interessen hingeben kann. Der be­ ständige Kampf um das Dogma aber hat für den Protestantismus wie etwas Bele­ bendes so auch etwas Aufreibendes, und es ist sein Hauptinteresse, diesen Kampf, sei es durch Kirchenspaltungen, sei es durch Verträglichkeit verschiedener Rich­ tungen unter einem Kirchendach, zu beenden. Neben dieser wissenschaftlichen verbleibt

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senschaftliche Theologie wieder aufgenommen worden und finden sich all die in der deutschen Theologie geschilderten Richtungen, damit auch der Kampf um das Dogma. Neben diesen von der deutschen Neologie ange­ steckten Richtungen bleibt aber dort in sehr hohem Maßea die spezifisch pie­ tistische Theologie, die lediglich im erbaulichen Bibelstudium besteht und um die Ideen der Bekehrung, Genugtuung und Heiligung mit fast techni­ scher Ausbildung einer bestimmten religiösen Psychologie sich bewegt, im übrigen die Wissenschaft mit zu der Welt rechnet, die den Weltkindern zu überlassen ist. Davona wieder unterschieden ist die rein traditionalistische Theologie der englischen und besonders amerikanischen Kirchen, die die Kontroversen des 1 7. Jahrhunderts fortsetzt und sich nur als effektvolle Rhetorik modernisiert hat, im übrigen aber hinter der praktischen Betriebsamkeit und dem äußeren Konkurrenzkampfe der Denominationen I zu­ rücktritt. Die Flucht ins Praktische ist das Mittel, den eindringenden moder­ nen Ideen zu entgehen, während man über das unfruchtbare Theoretisieren der deutschen Theologie sich erhaben fühlt. b Der Blick auf die Kämpfe der Theologie erneuert den Eindruck der Zerklüftung, den der moderne Protestantismus auch von an­ deren Seiten her darbot. Und es ist kein Zweifel, daß diese Zerklüftung ein kritischer Zustand ist, der so nicht ewig dauern kann. a Große Veränderungen liegen in der Luft. Allein die Zukunft zu prophezeien, ist nicht Aufgabe des Historikers; es ist Aufgabe des Willens und der Ü berzeugung, sie zu machen. Was eine unbefangene Geschichtsforschung bfür diese Arbeit allein wirken kannb, das ist eden funda­ mentalenC Unterschied zwischen Alt- und Neu-Protestantismus . Die religiöse Geisteseinheit, die religiöse Volkskultur und ihre Be­ gründung auf die zusammenwirkenden Institutionen der Kirchenanstalt und des aus dem sittlichen Naturgesetz hervorgegangenen Staates sind nicht bloß als Wirklichkeit, sondern auch als Forderungen verschwunden. Der Geist der Independenz und der freien Ü berzeugungsgemeinschaft, die Aus­ gleichung der Religion mit einer neuen Wissenschaft, wie sie seit Bildung der Kirche nie vorhanden war, sind ddie charakteristischend Züge . Auf dieser neuen Basis erzeugt er die beiden Haupter­ scheinungen des asketischen Pietismus und der mit der Welt sich ausglei­ chenden Bildungsreligion. Die fortdauerndene Kirchen i organisationen und die weiter neu gebildeten stehen I unter den Einflüssen beider Strömungen und haben ein erträglichesf Verhältnis beider bis j etzt nicht gefunden, obwohl beide unverkennbar tief in der menschlichen Natur wurzeln und sich ir­ gendwie miteinander einrichten und vertragen müssen. Sie können sich bei­ derseitig befruchten und stehen beide einem außerordentlichen Verfall des religiösen Gedankens und Lebens in der modernen Welt kämpfend gegenüber. Das ist die Lage der Gegenwart. Das Ideal, das die Alten und das Mittelalter vor sich hatten, der Gedanke einer einheitlichen, von religiösem Geist erfüllten Kultur, ist vorläufig in weiter blauer Ferne der Vergangenheit, und seine Erneuerung auf dem Boden der freien geistigen Ü bereinstimmung ist etwas, wonach sich der ermüdende Individualismus allmählich immer stärker sehnen wird, aber vorläufig in mindestens ebenso blauer Ferne der Zukunft.

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Literatur.

Eine wissenschaftliche Erforschung des Protestantismus unter religions­ und kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten gibt es, wie überhaupt eine wis­ senschaftliche Geschichte des Christentums, erst seit den Arbeiten der Tü­ binger Schule. Unter ihren Vorgängern sind nur die heute noch wertvollen Arbeiten Plancks (Geschichte des protestantischen Lehrbegriffes, 1 78 1 f.) hervorzuheben, alles übrige hat nur Materialwert. Die Gesichtspunkte der Tübinger (Baur, Zeller, Schneckenburger, Weingarten, auch Alex. Schweizer .

Abschätzung der Quellen durch die historische Vernunft" "aus den Wundern und der Auferstehung auf ein göttliches Mandat Christi" (S. 9 1 ) . Weitere Vertreter dieser Entwicklung seien Drusius, de Dieu und Capellus, Ledere, J. A. Turretin und Wet­ stein, die "im Keim alle Bestrebungen der grammatisch-historischen Methode" kannten (S. 94) und die "biblischen Schriftsteller [ . . . ] aus den Begriffen der Zeit zu interpretieren" versuchten (S. 94) . Aus der Apologie entspringe hier auch die Dog­ menkritik: "Die Dogmenkritik der Arminianer und Sozinianer ist der Audruck der Mündigkeit der menschlichen Vernunft, welche sich vorbereitet, alle Tradition der Prüfung zu unterwerfen." (S. 96) So "reichten diese Hilfsmittel der ersten rationa­ listischen Periode aus, die Dogmen von der Trinität und der Gottheit Christi, die Satisfaktions- und Opferlehre und das Dogma von der Gnadenwahl aufzulösen" (S. 88).

Literatur

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S. 436a• Renaissance: K Neumann, "Rembrandt" (Stuttgart, 1 905b) und "Byzantinische Kultur und Renaissancekultur" (Stuttgart, 1 903< .» . S. 437c• Verhältnis des Paulinismus zur Reformation; Wernie, "Der Christ und die Sünde bei Paulus" (Freiburg, 1 897) < ; Gottschick, "Paulinismus u. Ref." (Z. f. Theol u. Kirche VII» . S. 439d• medicina unde favor: Corpus Reformatorum XII 1 58 (Braun­ schweig, 1 854) ;246 Luthers Petschaft: De Wette, "Luthers Briefe" IV (Berlin, 1 827) 79 f.; Rechtfertigung: "Ideo justificamur, ut justi bene operari et obe­ dire legi Dei incipiamus" (Symbolische Bücher der evang.-luther. Kirche, herausgeg. von] T. Müiier 6 [Gütersloh, 1 886] , S. 1 46). S. 443f. Lex naturae: Troeitsch, "Joh. Gerhard und Melanchthon" und An­ zeige von Seebergs "Dogmengeschichte" (Gött. Gel. Anz. 1 900).251 S. 505a• Unterschied der Lex naturae im Naturstand und im Sündenstand: Zwingli, "Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit" (Werke, hgg. v. Schuler u. Sehulthess Bd. I [Zürich, 1 828] S. 428 ff.) , und Hooker, "The laws of ecclesiastical polity" 1 594 (Morleys Universal Library, London, 1 888) S. 94 "Howbeit the corruption of our nature being presupposed, we may not deny but that the law of nature doth now require of necessity some kind of regi­ ment; so that to bring things into bthefirst courseb they were in, and utterly to take away all kind of public government in the world, were apparently to overturn the whole world"252. Ähnlich S. 1 0 1 . S. 5 1 1 c. Holländische Spiritualen und Täufer: Hylkema, "Reformateurs" (Haarlem, 1 900/02) < Ü bergang des Täufertums zum Independentismus: ten Cate, "Gemeente of Oudsten Souverein?" (Doopgez. Bijdr 46, 1 41-1 5 1 u. Theol. Jahresb. :XXVI, 621f. 2 53 S. 5 1 2 d• Analyse der Geistlehre und der Spiritualisten bei R. Criitzmaeher, "Wort und Geist" (Leipzig, 1 902) . S. 5 1 7e. Calvin: Kampschulte, "Calvin, sein Staat und seine Kirche" (Leip­ zig, 1 869/99) , Cornelius, "Historische Arbeiten" (Leipzig, 1 899)254, Choisy, La theocratie a Geneve (Genf, o. J.) ChristI. Welt

1 90 5 S. 602 ff. u. 630 ff. "Studien u. Kritiken" 1 868Preuß. Jahrbücher 1 903 S.

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Entstehung des Liberalismus:

Leslie Stephen,

"English thought in the

1 8th cent." (London, 1 88 1 ) ; H Michel, "L'idee de l'etat" (pariser These, Paris, 1 895) ; Glajry, "Gesch. des Rechts der Vernunft" (Leipzig, 1 739)