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German Pages 826 Year 2014
Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe III. Abt. Band 5
Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenczka
Dritte Abteilung Predigten Band 5
De Gruyter
Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher Predigten 1816⫺1819
Herausgegeben von Katja Kretschmar unter Mitwirkung von Michael Pietsch
De Gruyter
ISBN 978-3-11-026547-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-026682-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038542-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach 앝 Printed on acid-free paper 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Einleitung der Bandherausgeber . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schleiermachers Predigttätigkeit in den Jahren 1816–1819 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Liederblätter und Gesangbuchkommission . . . . . 3. Stadtverordnetenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Totenfest und Totensonntag . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Berlinische Kreissynode . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Reformationsjubiläum 1817 . . . . . . . . . . . 7. Schleiermachers Predigtdrucke und ihre literarische Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XII XIV XXX XXXV XXXVII XLIII XLVIII LVI
II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXIII 1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXIII A. Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXIII B. Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . . LXIV C. Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . LXVII D. Sachapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXVIII E. Editorischer Kopftext . . . . . . . . . . . . . . . . . LXVIII 2. Druckgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXIX A. Seitenaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXIX B. Gestaltungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXX 3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen . . . . . . . . . . . LXXI A. Schleiermacher-Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXI B. Andrae-Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXII C. Balan-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXIII D. Crayen-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . LXXIV E. Gemberg-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . LXXV F. Jonas-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXVII G. König-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXXI H. Maquet-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . LXXXIII I. Schirmer-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . LXXXIII J. Woltersdorff-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . LXXXIV
VI
Inhaltsverzeichnis
Predigten 1816 Am 12.05.1816 nachm. (Cantate) Joh 20,24–29 . . . . . . Am 19.05.1816 vorm. (Rogate) Joh 21,17 . . . . . . . . . . Am 23.05.1816 vorm. (Himmelfahrt) Mt 28,16–20 . . . . Am 26.05.1816 nachm. (Exaudi) Joh 16,1–4 . . . . . . . . Am 02.06.1816 vorm. (Pfingstsonntag) 1Kor 12,4. . . . . Am 03.06.1816 nachm. (Pfingstmontag) 1Kor 12,12–13 Am 09.06.1816 nachm. (Trinitatis) Gal 1,1–5 . . . . . . . Am 16.06.1816 vorm. (1. SnT) Lk 5,18–26 . . . . . . . . . Am 23.06.1816 nachm. (2. SnT) Eph 6,10–13 . . . . . . . Am 30.06.1816 vorm. (3. SnT) Lk 5,27–32 . . . . . . . . . Am 04.07.1816 (Donnerstag) Trauertag, 1Makk 9,10; Jak 5,11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 07.07.1816 nachm. (4. SnT) Gal 1,6–10 . . . . . . . . Am 14.07.1816 vorm. (5. SnT) Mk 2,18–22 . . . . . . . . Am 21.07.1816 nachm. (6. SnT) Gal 1,11–24 . . . . . . . Am 28.07.1816 vorm. (7. SnT) Mk 3,1–7 . . . . . . . . . . Am 04.08.1816 nachm. (8. SnT) Gal 2,1–10 . . . . . . . . Am 11.08.1816 vorm. (9. SnT) 1Kor 6,19–20 . . . . . . . Am 29.12.1816 vorm. (SnW) 2Petr 3,3–9 . . . . . . . . . .
3 7 11 16 20 25 30 34 39 44 50 56 62 68 73 79 84 91
Predigten 1817 Am 01.01.1817 vorm. (Neujahrstag) 2Petr 3,13–14* . . . Am 12.01.1817 vorm. (1. SnE) Joh 1,35–40*. . . . . . . . Am 26.01.1817 vorm. (3. SnE) Lk 5,1–11; Apg 22,1–16* Am 09.02.1817 vorm. (Sexagesimae) Lk 5,27–29; Joh 1,45–51* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 04.04.1817 nachm. (Karfreitag) Lk 23,44.46 . . . . . Am 06.04.1817 vorm. (Ostersonntag) Lk 24,1–6*. . . . . Am 07.04.1817 nachm. (Ostermontag) Lk 24,22–26 . . . Am 20.04.1817 vorm. (Misericordias Domini) Lk 24,44–48* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 01.06.1817 vorm. (Trinitatis) vermutet, Joh 14,6.22 Am 08.06.1817 nachm. (1. SnT) Phil 1,1–11 . . . . . . . . Am 15.06.1817 vorm. (2. SnT) Joh 2,16* . . . . . . . . . . Am 18.06.1817 (Mittwoch) Stadtverordnetenwahl, Spr 16,13–14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 22.06.1817 nachm. (3. SnT) Phil 1,12–20 . . . . . . . Am 29.06.1817 vorm. (4. SnT) Lk 7,28* . . . . . . . . . . Am 06.07.1817 nachm. (5. SnT) Phil 1,21–27 . . . . . . .
101 111 116 121 126 132 140 144 151 153 155 163 165 170 178
Inhaltsverzeichnis
VII
Am 13.07.1817 vorm. (6. SnT) Mt 5,17.19* . . . . . . . . Am 20.07.1817 nachm. (7. SnT) Phil 1,27–30 . . . . . . . Am 27.07.1817 vorm. (8. SnT) Lk 9,50; 11,23* . . . . . . Am 10.08.1817 vorm. (10. SnT) Lk 9,57–62* . . . . . . . Am 14.09.1817 nachm. (15. SnT) Phil 2,5–11 . . . . . . . Am 28.09.1817 nachm. (17. SnT) Phil 2,12–18 . . . . . . Am 12.10.1817 nachm. (19. SnT) Phil 2,19–30 . . . . . . Am 19.10.1817 vorm. (20. SnT) Lk 10,13–14* . . . . . . Am 26.10.1817 nachm. (21. SnT) Phil 3,1–11 . . . . . . . Am 01.11.1817 vorm. (Samstag) Reformationsjubiläum, Mt 18,5–6* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 02.11.1817 vorm. (22. SnT) Lk 10,21–24* . . . . . . Am 11.11.1817 vorm. (Dienstag) Synodeneröffnung, Phil 3,12* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 16.11.1817 vorm. (24. SnT) Lk 17,3–4* . . . . . . . . Am 23.11.1817 nachm. (25. SnT / Totensonntag) Phil 3,12–14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 30.11.1817 vorm. (1. SiA) Lk 2,30–32* . . . . . . . . Am 14.12.1817 vorm. (3. SiA) Lk 2,34* . . . . . . . . . . . Am 21.12.1817 nachm. (4. SiA) Phil 3,15–21. . . . . . . . Am 25.12.1817 nachm. (1. Weihnachtstag) Phil 4,4 . . . Am 26.12.1817 vorm. (2. Weihnachtstag) Kol 1,16–17* . Am 28.12.1817 vorm. (SnW) Hebr 3,8–11*. . . . . . . . .
184 192 198 206 213 219 224 229 236 241 260 268 274 281 287 294 301 306 313 321
Predigten 1818 Am 01.01.1818 vorm. (Neujahrstag) Hebr 3,12–14* . Am 04.01.1818 nachm. (SnN) Phil 4,6–7 . . . . . . . . Am 11.01.1818 vorm. (1. SnE) Gal 3,13–14* . . . . . Am 25.01.1818 vorm. (Sexagesimae) 1Kor 15,8–10 . . Am 28.01.1818 (Mittwoch) Begräbnis Weber . . . . . . Am 01.02.1818 nachm. (Estomihi) Phil 4,8–23 . . . . Am 08.02.1818 vorm. (Invocavit) Hebr 12,1–3* . . . . Am 15.02.1818 nachm. (Reminiscere) Lk 22,51 . . . . Am 22.02.1818 vorm. (Oculi) Joh 12,24* . . . . . . . . Am 01.03.1818 nachm. (Laetare) Mt 26,63–66 . . . . Am 08.03.1818 vorm. (Judica) Röm 8,31–34* . . . . . Am 20.03.1818 nachm. (Karfreitag) Lk 23,35.46–48 . Am 22.03.1818 vorm. (Ostersonntag) vermutet Röm 8,33–34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 23.03.1818 nachm. (Ostermontag) vermutet Joh20,17. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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333 341 348 357 365 369 374 383 389 397 404 412
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418
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420
VIII
Inhaltsverzeichnis
Am 05.04.1818 vorm. (Misericordias Domini) Joh 10,14–16* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 30.04.1818 nachm. (Himmelfahrt) Apg 1,6–8 . . . . . Am 10.05.1818 nachm. (Pfingstsonntag) 1Kor 12,4 . . . . Am 11.05.1818 vorm. (Pfingstmontag) vermutet Joh 16,7 Am 17.05.1818 vorm. (Trinitatis) Joh 14,23–27* . . . . . Am 31.05.1818 vorm. (2. SnT) Eph 5,22–31* . . . . . . . Am 14.06.1818 vorm. (4. SnT) Mt 19,8* . . . . . . . . . . Am 28.06.1818 vorm. (6. SnT) Kol 3,21* . . . . . . . . . . Am 05.07.1818 nachm. (7. SnT) vermutet Mt 19,14 . . . Am 12.07.1818 vorm. (8. SnT) Eph 6,4* . . . . . . . . . . Am 26.07.1818 vorm. (10. SnT) Eph 6,1–3* . . . . . . . . Am 09.08.1818 vorm. (12. SnT) 1Kor 7,20–23* . . . . . . Am 23.08.1818 vorm. (14. SnT) Kol 3,22; 4,1* . . . . . . Am 18.10.1818 vorm. (22. SnT) Ps 68,3–4 . . . . . . . . . Am 01.11.1818 vorm. (24. SnT) Hebr 13,2 . . . . . . . . . Am 15.11.1818 vorm. (26. SnT) Eph 4,28. . . . . . . . . . Vor dem 21.11.1818 Nr. 1 Joh 21,24 . . . . . . . . . . . . . Vor dem 21.11.1818 Nr. 2 1Joh 4,19 . . . . . . . . . . . . . Am 29.11.1818 vorm. (1. SiA) Lk 2,34–35* . . . . . . . . Am 13.12.1818 vorm (3. SiA) Joh 15,15–16*. . . . . . . . Am 25.12.1818 nachm. (1. Weihnachtstag) Gal 4,4 . . . .
421 429 431 438 440 443 451 457 465 470 479 486 493 503 514 522 531 532 533 535 538
Predigten 1819 Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am
04.01.1819 10.01.1819 24.01.1819 07.02.1819 21.02.1819 07.03.1819 21.03.1819 04.04.1819 09.04.1819 11.04.1819 12.04.1819 18.04.1819 02.05.1819 05.05.1819 16.05.1819 20.05.1819
nachm. (Montag) Begräbnis Hermes . . . vorm. (1. SnE) Lk 2,46–47* . . . . . . . . vorm. (3. SnE) Joh 1,32–34*. . . . . . . . vorm. (Septuagesimae) Mt 4,1–11* . . . . vorm. (Estomihi) Mt 4,18–22* . . . . . . vorm. (Reminiscere) 1Petr 2,19–23* . . . vorm. (Laetare) 1Petr 2,24* . . . . . . . . vorm. (Palmarum) 1Petr 2,24–25* . . . . vorm. (Karfreitag) Lk 24,25–26* . . . . . nachm. (Ostersonntag) 1Kor 5,6–8 . . . . vorm. (Ostermontag) Lk 24,44–48* . . . vorm. (Quasimodogeniti) Mt 28,11–15* vorm. (Jubilate) Joh 20,24–29* . . . . . . vorm. (Bußtag) Joh 13,35* . . . . . . . . . vorm. (Rogate) Joh 21,1–8* . . . . . . . . vorm. (Himmelfahrt) Mk 16,15–19* . . .
543 553 556 561 569 572 581 589 592 595 597 604 611 613 621 624
Inhaltsverzeichnis
IX
Am 31.05.1819 nachm. (Pfingstmontag) vermutet Joh 17,18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 09.06.1819 nachm. (Mittwoch) Betstunde (St. Gertraudten-Kirche) Hebr 4,12 . . . . . . . . . . . . Am 13.06.1819 vorm. (1. SnT) Lk 4,16–30* . . . . . . . Am 27.06.1819 vorm. (3. SnT) Lk 4,31–35* . . . . . . . Am 11.07.1819 vorm. (5. SnT) Lk 5,16–25* . . . . . . . Am 25.07.1819 vorm. (7. SnT) Lk 5,27–35* . . . . . . . Am 31.10.1819 vorm. (21. SnT) Lk 9,57–62* . . . . . . Am 07.11.1819 nachm. (22. SnT) 1Petr 4,1–4 . . . . . . Am 14.11.1819 vorm. (23. SnT) Mt 16,21–23* . . . . . Am 21.11.1819 nachm. (24. SnT / Totensonntag) 1Petr 4,5–8a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 28.11.1819 vorm. (1. SiA) Mt 16,13–19* . . . . . . Am 05.12.1819 nachm. (2. SiA) 1Petr 4,8–11 . . . . . . Am 12.12.1819 vorm. (3. SiA) Mt 17,20* . . . . . . . . . Am 25.12.1819 nachm. (1. Weihnachtstag) Gal 4,4–5 . Am 26.12.1819 vorm. (2. Weihnachtstag) Lk 2,13–14*
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628
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630 631 639 642 645 654 660 662
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670 675 689 693 696 700
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713 718 725 727
Verzeichnisse Editionszeichen Literatur . . . . Namen . . . . . Bibelstellen . . .
und ... ... ...
Abkürzungen . .......... .......... ..........
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* Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Einleitung der Bandherausgeber Die Kritische Gesamtausgabe der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Friedrich Schleiermachers1, die seit 1980 erscheint, ist gemäß den Allgemeinen Editionsgrundsätzen in die folgenden Abteilungen gegliedert: I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente. Die III. Abteilung dokumentiert Schleiermachers gesamte Predigttätigkeit von seinem Ersten Examen 1790 an bis zu seinem Tod 1834. Die Predigten werden chronologisch nach ihrem Vortragstermin angeordnet. Nur die von Schleiermacher absichtsvoll geordneten sieben „Sammlungen“, alle im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung bzw. im Verlag von G. Reimer erschienen (Berlin 1801–1833), bleiben in dieser Anordnung erhalten und stehen am Anfang der Abteilung. Demnach ergibt sich für die Abteilung „Predigten“ folgende Gliederung: 1. Predigten. Erste bis Vierte Sammlung (1801–1820) 2. Predigten. Fünfte bis Siebente Sammlung (1826–1833) 3. Predigten 1790–1808 4. Predigten 1809–1815 5. Predigten 1816–1819 6. Predigten 1820–1821 7. Predigten 1822–1823 8. Predigten 1824 9. Predigten 1825 10. Predigten 1826–1827 11. Predigten 1828–1829 12. Predigten 1830–1831 13. Predigten 1832 14. Predigten 1833–1834 sowie Gesamtregister Für die Jahre 1816 bis 1819 sind insgesamt 211 Predigttermine Schleiermachers belegt2, von denen mehr als die Hälfte im vorliegen1
2
Sofern sich aus dem Zusammenhang nicht etwas anderes ergibt, beziehen sich im Folgenden Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Vgl. KGA III/1, S. 857–880. Die im Kalendarium fehlenden Termine vom 18. (nachm.) und 25. August 1816 (vorm.) können durch briefliche Zeugnisse nachgewiesen werden (vgl. Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe, ed. H. Meisner, Bd. 2, Gotha 1923, S. 235.237). Zwei Predigtnachschriften, die hier ediert werden, konnten bislang keinem Predigttermin zugewiesen werden (vgl. unten S. 531–532).
XII
Einleitung der Bandherausgeber
den Band dokumentiert werden. Unter den 120 edierten Predigten befinden sich vier von Schleiermacher selbst autorisierte Drucktexte3 und vier gedruckte Nachschriften4. Von den restlichen 112 Predigten waren 93 bisher unbekannt. Die Homilienreihe zum Philipperbrief aus den Jahren 1817/18 wird erstmals in Form zeitgenössischer Nachschriften von Ludwig Jonas erschlossen.5 Darüber hinaus werden Schleiermachers Predigten über den christlichen Hausstand, die er in der Trinitatiszeit des Jahres 1818 gehalten und zwei Jahre später als „Vierte Sammlung“ seiner Predigten veröffentlicht hat6, zum ersten Mal in Gestalt zeitgenössischer Nachschriften von Jonas ediert. Die bedeutende Predigt Schleiermachers zum dritten Jubelfest der Reformation am 1. November 1817 wird sowohl in der Druckfassung als auch anhand einer Hörernachschrift geboten.7 Des weiteren werden 59 datierte Liederblätter, die Schleiermacher für seine Hauptgottesdienste angefertigt hat, als Anhang zur jeweiligen Predigt abgedruckt.8
I. Historische Einführung Schleiermachers Predigten der Jahre 1816–1819 fallen in eine Zeit tief greifender kirchlicher und politischer Reformbestrebungen, die sein öffentliches Wirken in Kirche, Akademie und Universität entscheidend bestimmten. Er ergriff in den kontroversen politischen Debatten stets Partei für die Reformbewegung, die nach dem siegreichen Abschluss der Kriege gegen das napoleonische Frankreich die Zeit für eine politische Neuordnung in Preußen gekommen sah, der sich jedoch spätestens seit der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress verstärkt restaurative Kräfte entgegen stellten. Die Streitigkeiten um die Reform der Kirchenverfassung und die Vereinigung der beiden 3
4 5
6 7 8
Dabei handelt es sich um die Predigten vom 1. November 1817, vom 18. Oktober 1818 und vom 28. November 1819 sowie um die Grabrede auf Justus Gottfried Hermes vom 4. Januar 1819. Vgl. Schleiermachers Predigten zum Philipperbrief am 14. und 28. September 1817, am 12. Oktober 1817 und am 4. Januar 1818 Schleiermachers Predigten über den Philipperbrief waren bisher nur in der von Adolf Sydow besorgten Ausgabe in den „Sämmtlichen Werken“ zugänglich (vgl. SW II/10). Die dort edierten Predigten haben sich jedoch als Textkompilationen verschiedener Nachschriften der Homilien von 1817/18 und 1822/23 erwiesen (vgl. unten S. LXXXI–LXXXIII). Vgl. KGA III/1, S. 625–766 Vgl. unten S. LVI–LVIII Vgl. unten S. XXX–XXXIV
I. Historische Einführung
XIII
protestantischen Kirchen in Preußen nahmen Schleiermachers ganze Kraft in Anspruch. Dies belegen nicht nur die literarischen Arbeiten, die er in diesen Jahren unternahm, und sein Briefwechsel. Seine Gottesdienste und Predigten durchziehen ebenfalls Spuren dieser Kontroversen, wie nicht zuletzt die zahlreichen Sondergottesdienste und Gedenktage erkennen lassen, an denen er in dieser Zeit gepredigt hat.9 Die Überlieferungslage für Schleiermachers Predigten in den Jahren 1816 bis 1819 ist oft lückenhaft. Im Jahr 1816 setzt sie erst mit dem Sonntag Cantate am 12. Mai ein und bricht bereits am 11. August (9. SnT), kurz vor seiner Reise nach Norddeutschland, wieder ab.10 Die Beleglage bessert sich zwar in den folgenden Jahren, doch bestehen vor allem bei den Nachmittagspredigten erhebliche Lükken.11 Die Kasualpraxis Schleiermachers, die in diesem Zeitraum nur durch zwei Begräbnisreden dokumentiert wird12, zeigt über die vier Jahre hinweg eine relativ gleichmäßige Verteilung. Schleiermacher hat im Jahr durchschnittlich 35 Taufen und neun Trauungen durchgeführt.13 Darüber hinaus hat er etwa alle zwei Monate samstags um 9
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Zwar steht für Schleiermacher die Darstellung des religiösen Selbstbewusstseins des Predigers im Mittelpunkt der Kanzelrede, doch geschieht dies stets in Anbetracht des religiösen Empfindens der Gemeinde, das er vor allem in der Predigteinleitung aufgreift. Weder der Prediger noch die Gemeinde bleiben jedoch von den politischen Ereignissen unberührt, so dass die zeitgenössischen Kontroversen explizit oder implizit in den Predigten immer wieder anklingen und hörbar werden. Dies mögen zwei kurze Äußerungen belegen. Gegenüber Joachim Christian Gaß (1766– 1831) bemerkte Schleiermacher über seine Predigt zum Gedenktag der Völkerschlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1818: „Ich kann nicht sagen, daß ich besonders damit zufrieden wäre, und erst, als ich sie gedrukkt sah, fiel mir ein, daß eigentlich jede Zeile ein Stich auf unsern allergnädigsten Herrn ist: allein ich habe wirklich vorher nicht besonders an ihn gedacht.“ (Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852, S. 166) In einem Brief vom 29. April 1819 berichtet ein gewisser von Lindenberg an Ludwig von Mühlenfels (1793–1861) mit Blick auf die politische Ausrichtung von Schleiermachers Predigten: „Schleiermacher hat schon muthig für unsere Sache gepredigt. Sehr bescheiden und wahr schildert er unter Pilatus den König.“ (Dankfried Reetz: Schleiermacher im Horizont preussischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002, S. 364). Die Äußerung bezieht sich auf die Predigt vom 18. April (vgl. unten S. 606,7–607,39). Vgl. KGA III/1, S. 857–861 Vgl. KGA III/1, S. 862–880 Vgl. unten S. 365–368.543–552 Vgl. KGA III/1, S. 857.861–862.867–868.873. Die Zahlenangaben liegen etwas über den statistischen Werten, die Andreas Reich: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Schleiermacher-Archiv 12, Berlin / New York 1992, S. 410–411, für die Zeit vor der Gemeindeunion ermittelt hat. Über die Bestattungspraxis können keine näheren Angaben gemacht werden, weil der Name des Predigers, der die Beisetzung durchgeführt hat, in den Kirchenbüchern nicht verzeichnet ist.
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Einleitung der Bandherausgeber
13 Uhr Vorbereitungsgottesdienste zum Abendmahl am darauf folgenden Sonntag gehalten.14
1. Schleiermachers Predigttätigkeit in den Jahren 1816–1819 Schleiermacher war mit Wirkung vom 1. Juni 1809 zum Seelsorger, Lehrer und Prediger bei der reformierten Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche bestellt worden und blieb dort bis zu seinem Tod am 12. Februar 1834 tätig. Er bezog mit seiner Familie zunächst das reformierte Pfarrhaus in der Kanonierstraße 4, bevor er im Herbst 1817 in das von seinem Freund und Verleger Georg Andreas Reimer (1776– 1842) angekaufte Palais in der Wilhelmstraße 73 übersiedelte. Nachdem Friedrich August Pischon (1785–1857) am 28. Mai 1815 in einem feierlichen Gottesdienst verabschiedet worden war, hatte Schleiermacher wieder im wöchentlichen Wechsel mit seinen lutherischen Amtskollegen Andreas Jakob Hecker (1746–1819) und David Georg Friedrich Herzberg (1763–1822) vormittags und nachmittags in der Dreifaltigkeitskirche zu predigen.15 Neben die regelmäßige Predigttätigkeit treten vor allem in den Jahren 1816 und 1817 mehrere Sondergottesdienste zu staatlich angeordneten Gedenkfeiern.16 Als reformierter Prediger war Schleiermacher nicht an die Perikopenordnung gebunden. Diese Freiheit nutzte er zu regelmäßigen Predigtreihen, die sich entweder am Kirchenjahr oder an frei gewählten Themen oder Textzusammenhängen (Homilie) orientierten. Dieses Vorgehen, das eine umsichtige und weit vorausblickende Gottesdienstplanung voraussetzt, kann bis in die Anfänge seiner Predigttätigkeit an der Dreifaltigkeitskirche zurückverfolgt werden17 und ist für seine Predigtpraxis in den Jahren 1816–1819 breit belegt. Es darf 14
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Die Angaben über die Abendmahlsvorbereitung können für die Jahre 1818 und 1819 der Ordnung der Gottesdiensttermine an der Dreifaltigkeitskirche entnommen werden, die seit dem Jahr 1818 gedruckt erschien (vgl. KGA III/1, S. 783). Pischon war seit dem 9. Dezember 1810 als Adjunkt an der Dreifaltigkeitskirche tätig gewesen, um Schleiermacher von kleineren pfarramtlichen Aufgaben zu entlasten, nachdem dieser im Juni 1810 im Nebenamt in die Sektion für den öffentlichen Unterricht im Ministerium des Inneren eingetreten war, aus der er im Frühjahr 1815 wieder ausschied. Pischon hatte die Nachmittagspredigten, die Beichtreden und die Mehrzahl der Taufhandlungen, sowie den Unterricht der Katechumenen und die Aufsicht über die Armenkasse zu übernehmen (vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 42–45). Diese Aufgaben fielen nach Pischons Weggang wieder an Schleiermacher zurück. Vgl. unten S. XXXV–LVI Vgl. KGA III/4, S. XIV–XV
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mit Recht als Wesensmerkmal für Schleiermachers Predigttätigkeit an der Dreifaltigkeitskirche angesehen werden. Im Jahr 1816 hat Schleiermacher zwar im regelmäßigen Wechsel vor- und nachmittags in der Dreifaltigkeitskirche gepredigt, seine Predigten können jedoch nur für die Zeit zwischen dem 12. Mai und dem 11. August 1816 dokumentiert werden. In der Trinitatiszeit begann er zwei parallel laufende Predigtreihen: In den Nachmittagspredigten legte er den Brief des Paulus an die Galater in fortlaufenden Betrachtungen aus, wie er es zuvor mit johanneischen Texten getan hatte.18 Die Homilienreihe zum Galaterbrief, die Schleiermacher nur am 23. Juni 1816 aus Anlass des Gedenktags der Schlacht bei Belle Alliance vom 18. Juni 1815 unterbrach, ist bis zur Auslegung von Gal 2,1– 10 am 4. August (8. SnT) durch Nachschriften von L. Jonas vollständig belegt. Ihr Abschluss kann aufgrund der fragmentarischen Überlieferungslage nicht mehr sicher bestimmt werden.19 In den Hauptgottesdiensten hat Schleiermacher dagegen eine Predigtreihe über „den Erlöser in seinem Streite gegen die, welche ihm entgegen waren“, gehalten20, die an vier Terminen vom 16. Juni bis zum 28. Juli 1816 nachgewiesen werden kann. Dass Schleiermacher die Reihe fortzusetzen gedachte, bestätigt ein Hinweis in der Predigt vom 11. August, in der er angibt, „die Reihe von Vorstellungen, in denen wir begriffen sind“, um eines Gegenstands willen zu unterbrechen, der ihn bereits seit längerem beschäftigt.21 Es steht daher zu vermuten, dass er die Reihe am folgenden Sonntag (11. SnT) weitergeführt hat.22 Das Ende 18
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„Ehe die festlichen Zeiten eintraten, die jetzt schnell aufeinander gefolgt sind, hatten wir einen besondern Theil des Neuen Testaments zum fortwährenden Gebrauch unserer Betrachtung gemacht, um den Gedanken der heiligen Schriftsteller mit den unsrigen zu folgen. Dies gedenke ich jetzt wieder zu thun. [...] Ich habe dazu den Brief des Apostels Paulus an die Galater gewählt, worin er sich am bestimmtesten über dieses oder jenes Einzelne ausdrückt, womit uns sein Glaube auf eine sehr bestimmte und zusammenhängende Weise klar wird. Früher habe ich den Johannes dazu genommen und so wird dies, indem wir vom Johannes zum Paulus übergehen, uns auch Gelegenheit geben, von diesem auf jenen zurückzugehen.“ (vgl. unten S. 30,3–17). Vgl. KGA III/1, S. L. Vermutlich hat Schleiermacher die Homilienreihe am 18. August mit der Auslegung von Gal 2,11–21 fortgesetzt (vgl. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 235). Der Abschluss der Reihe wird vermutlich mit dem Ende der Trinitatiszeit 1816 oder spätestens mit dem Beginn der Passionszeit 1817 zu verbinden sein. Unten S. 34,15–16 Unten S. 84,2–5. Gemeint ist damit „eine Gleichgültigkeit gegen das Leben, welche oft dahin ausartet, daß der Mensch selbst Hand an sich legt, und schon seit einiger Zeit hat man bemerkt, anderwärts sowohl, als hier in unserer Stadt, daß diese traurigen Beispiele sich ungewöhnlich häufen.“ (84,9–12) Vgl. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 237
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der Predigtreihe ist nicht bekannt, jedoch nach seiner Gewohnheit am ehesten mit dem Ende der Trinitatiszeit zu verbinden. Vom 28. August bis zum 8. Oktober hat Schleiermacher eine Reise über Hamburg, Kiel, Lübeck, Rostock und Stralsund nach Rügen unternommen, wohin seine Frau mit den Kindern bereits vorgefahren war. In diesem Zeitraum hat er sich in der Dreifaltigkeitskirche vertreten lassen, wie eine Stelle aus einem Brief an seine Frau vom 27. August belegt: „Die Predigten sind untergebracht, die Papiere aber in der größten Confusion zurückgeblieben und der Platon nicht fertig geworden.“23 Ansonsten hat Schleiermacher nach eigener Aussage trotz seiner angeschlagenen Gesundheit weder Predigten noch Katechisationen versäumt24, lediglich am letzten Sonntag im Advent musste er sich krankheitshalber vertreten lassen25. Im gemeinsamen Kirchenvorstand der Dreifaltigkeitskirche widmete er sich in diesen Jahren besonders zwei Langzeitprojekten. Bereits im Jahr 1811 waren erhebliche Schäden am Kuppeldach der Dreifaltigkeitskirche entdeckt worden. Die Instandsetzung verzögerte sich jedoch erheblich, weil zunächst ungeklärt blieb, wer die Kosten für die Reparatur und die nötigen Umbauarbeiten übernehmen würde. Nach langwierigen Verhandlungen wurde im Frühjahr 1815 mit der Instandsetzung der Dachkuppel begonnen, die jedoch bald ins Stocken geriet. Erst nachdem im Kirchenvorstand nach intensiven Beratungen Einverständnis über die Vermauerung der Kuppelfenster erzielt werden konnte, gingen die Arbeiten im Herbst 1816 wieder voran, ihr Abschluss zog sich jedoch bis ins Jahr 1819 hin. Schleiermacher hat sich in diesen Auseinandersetzungen sehr engagiert und mehrere Eingaben an die staatlichen Behörden verfasst. Es dürfte nicht zuletzt sein Verdienst gewesen sein, dass die Kosten für die aufwändige Instandsetzung des Kuppeldachs letztlich von der Regierung getragen wurden.26 23 24
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Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1860, S. 316 Vgl. Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, edd. L. Jonas/W. Dilthey, Berlin 1863, S. 212. Ob Schleiermacher am 25. Februar sowie am 13. und 27. Oktober in der Dreifaltigkeitskirche gepredigt hat, kann aufgrund von Eintragungen im Taufbuch der reformierten Gemeinde an diesen Tagen nur vermutet werden (vgl. KGA III/1, S. 857.860–861). Dies geht aus einem Brief Schleiermachers vom 29. Dezember 1816 an J. Chr. Gaß hervor: „Leider nur bin ich, vorzüglich seit der Reise, von einer vorher nie gekannten Empfindlichkeit gegen schlechte Luft. Noch neuerlich verfiel ich, wahrscheinlich bloß aus Erkältung, in einen höchst schmerzhaften entzündlichen Zustand, der mich nöthigte, für mich predigen zu lassen, und deshalb auch den ganzen Kreis meiner Freunde in Schrekken sezte.“ (Briefwechsel mit Gaß, S. 129) Die Andeutung bezieht sich vermutlich auf den letzten Adventssonntag, für den im Kalendarium keine Predigt nachgewiesen werden kann (vgl. KGA III/1, S. 861). Vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 107–118
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Im Frühjahr 1816 übernahm Schleiermacher dauerhaft die Aufsicht über die Vermietung der Kirchenstühle, die eine wichtige Einnahmequelle der Kirchengemeinde darstellte. Es gelang ihm, im Laufe der nächsten drei Jahre die vorhandenen 1125 Sitzplätze nahezu vollständig zu vermieten und die Einnahmen um mehr als das Dreifache zu steigern.27 Im akademischen Jahr 1815/16 bekleidete Schleiermacher zusätzlich das Amt des Rektors der Berliner Universität, das ihn viel Zeit und Mühe kostete.28 Neben Gemeinde und Universität beanspruchten ihn die Geschäfte der Berliner Akademie der Wissenschaften, der er seit dem 7. April 1810 als ordentliches Mitglied in der Philosophischen Klasse angehörte29, in dieser Zeit stark. Als Sekretar der Philosophischen Klasse30 wirkte er seit 1818 federführend an der Strukturreform der Akademie mit, deren erste Phase 1820 abgeschlossen war.31 Die Akademievorträge, die er in diesen Jahren las, stehen im Zusammenhang mit seiner Arbeit an der Ethik, die er parallel zur Vorlesung über das „System der Sittenlehre“ ausarbeiten wollte, die er im Sommer 1816 in der Philosophischen Fakultät hielt.32 27 28
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Vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 119–121 Vgl. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 231. Am 27. August 1816 schrieb er an seine Frau: „Heute habe ich nun mein Rectorat niedergelegt und die lezten Stunden desselben noch an ein Verhör gewendet.“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 316). Das Ansinnen, das Rektorat im Jahr 1817/18 wieder zu übernehmen, hat Schleiermacher abgelehnt: „[...] die Rectoratsgeschäfte habe ich mit Nicolovius Bewilligung auf Schmalzens Nacken liegen lassen, der sich damit ergözt, da sie mir sehr lästig würden geworden sein.“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 223) Seit dem 23. November 1812 war Schleiermacher zugleich ordentliches Mitglied der Historisch-Philologischen Klasse (vgl. KGA I/11, S. XII). Die Wahl erfolgte bereits im Oktober 1814, wurde jedoch erst nach Schleiermachers Ausscheiden aus der Abteilung für den öffentlichen Unterricht des Ministeriums des Inneren im Frühjahr 1815 vom damaligen Innenminister Kaspar Friedrich von Schuckmann (1755–1834) bestätigt (vgl. KGA I/11, S. XII–XIV). Vgl. KGA I/11, S. XVI–XVII Vgl. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Schleiermacher-Archiv 11, Berlin/New York 1992, S. 312. Schleiermacher las 1816 in der Akademie zwei Abhandlungen „Ueber die Aechtheit der Aristotelischen Ethiken“ (vgl. KGA I/11, S. XXX) und „Ueber die griechischen Scholien zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles“ (vgl. KGA I/11, S. XXXVI–XXXVIII). Das Vorhaben, die Ethik neben der Vorlesung fertigzustellen, konnte er nicht realisieren. „Ich dachte neben dem Collegio meine Ethik fertig zu schreiben, aber daraus ist nun, ohnerachtet ich einen guten Anfang gemacht hatte, nichts geworden.“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 212) Gegen Ende des Jahres hat er die Arbeit an der Ethik zwar kurzfristig wieder aufgenommen, doch äußerte er bereits am 26. Mai 1817 gegenüber Ludwig Gottfried Blanc (1781–1861), dass ihm die Ethik über die vielen Abbrüche und Wiederaufnahmen „fast schon zuwider geworden“ sei (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 217), und in einem Brief an August Twesten vom 14. März 1819 schrieb er: „Die Dogmatik liegt mir jetzt wirklich mehr am Herzen als die Ethik.“ (Georg Heinrici: D. August Twesten nach Tage-
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Einleitung der Bandherausgeber
Schleiermachers literarische Produktivität blieb angesichts der vielfältigen anderweitigen Verpflichtungen und seines anhaltend schlechten Gesundheitszustands in diesem Jahr gering. Er redigierte den ersten Band seiner Predigten, die 1816 in dritter Auflage erschienen33, und bereitete die Neuauflage des ersten Bandes seiner Platonübersetzung vor34. Nach der Rückkehr von Rügen begann er mit der Ausarbeitung seiner Liturgieschrift, in der er sich kritisch mit der vom König inaugurierten neuen Liturgie auseinandersetzte.35 Die Schrift rief ein geteiltes Echo hervor. Schleiermacher selbst erwartete „einen harten Strauß“36 und zog sich den Unwillen des königlichen Hofes zu.37 Parallel zu seiner Vorlesung „Das Evangelium und die Apostelgeschichte des Lucas“ im Wintersemester 1816/1738 arbeitete Schleiermacher sein Werk „Ueber die Schriften des Lukas, ein kritischer Versuch“ aus, das zur Ostermesse 1817 im Verlag G. Reimer erschien.39
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büchern und Briefen, Berlin 1889, S. 342) Die Ethik blieb unvollendet und Schleiermacher nutzte stattdessen die Akademievorträge, um Grundprobleme der philosophischen Ethik zu behandeln. Predigten. Erste Sammlung, 3. Aufl., Berlin 1816 (vgl. KGA III/1, S. XCII–XCIII) Platons Werke. Ersten Theiles Erster Band, 2. Aufl., Berlin 1817 Ueber die neue Liturgie für die Hof- und Garnison-Gemeinde zu Potsdam und für die Garnisonkirche in Berlin, Berlin 1816 (vgl. KGA I/9, S. 79–105). An Gaß schrieb Schleiermacher unter dem 29. Dezember 1816: „Die Leute finden alle das Werk schlecht und die Verfahrensart unerhört: aber keiner, wie es scheint, will den Mund aufthun, und so habe ich mich denn wieder entschlossen, die Kastanien aus dem Feuer zu holen.“ (Briefwechsel mit Gaß, S. 127) Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 214. Der König hatte die neue Liturgie durch Kabinettsorder vom 14. November 1816 für alle Militärkirchen dekretiert und durch den Feldprobst Friedrich Wilhelm Offelsmeyer (1761–1834) in der Berliner Garnisonkirche einführen lassen, ohne sie vorher dem Ministerium oder dem Konsistorium vorzulegen. Schleiermacher bestritt dem König das Recht, in die liturgische Praxis der Kirche einzugreifen (ius liturgicum), das sich nicht aus dem landesherrlichen Kirchenregiment herleiten lasse. Am 11. Mai 1817 berichtete er gegenüber Twesten, er sei „gewissermaßen in die Acht erklärt, wenigstens gehen seitdem die königlichen Geschwister und Kinder nicht mehr in meine Kirche.“ (Heinrici: August Twesten, S. 290) Vgl. Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 312 Ueber die Schriften des Lukas, ein kritischer Versuch. Erster Theil, Berlin 1817 (vgl. KGA I/8, S. VIII–XXXV). Ursprünglich hatte Schleiermacher das Werk dreibändig geplant, wie er gegenüber Gaß am 5. Juli 1817 brieflich erläutert. „Ich will jetzt, so bald ich kann, an die Bearbeitung der Apostelgeschichte gehen und wünsche sehr, da ich doch wegen Synode und Hochzeit nicht zum Reisen kommen werde, sie vor Anfang des nächsten Semesters zu vollenden. Dann soll noch ein drittes Heft folgen, welches besonders untersuchen wird, wie viel oder wenig sich aus der Sprache über die Entstehung der Bücher entscheiden ließe; und das zusammen wird nun wol mein Hauptwerk in der biblischen Kritik bleiben.“ (Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 256) Das Vorhaben ist jedoch nicht zur Ausführung gekommen.
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Schleiermacher ist seinen gottesdienstlichen Verpflichtungen auch im folgenden Jahr regelmäßig nachgekommen. Das Kalendarium führt 56 Predigttermine auf.40 Nur für die Zeit von Mitte August bis Anfang September, in der er zusammen mit L. Blanc eine Fußreise durch den Thüringer Wald unternahm, ließ er sich durch befreundete Prediger und Kandidaten vertreten. Dabei beauftragte er mit der Vertretungspredigt in den Nachmittagsgottesdiensten in der Regel einen Kandidaten, die Hauptgottesdienste wurden dagegen von Amtskollegen Schleiermachers übernommen.41 Seine Predigttätigkeit im Jahr 1817 ist besonders mit Beginn der Trinitatiszeit durch Nachschriften von L. Jonas gut dokumentiert. Über seine Kanzelreden in der ersten Jahreshälfte räsoniert er brieflich gegenüber L. Blanc am 26. Mai: „Kanzel und Katheder gehen auch noch ihren Gang, natürlich nicht immer gleich, manchmal bin ich besser im Zuge und spüre mehr Segen, dann kommen wieder dürftigere Zeiten, aber ich denke, das geht wol jedem so.“42 Bei der Auswahl der Predigttexte folgte Schleiermacher dem bewährten Verfahren, mehrere Ansprachen zu kleineren oder größeren Reihen zusammenzustellen. Dies ist für die Trinitatispredigten zweifelsfrei nachweisbar. In den Hauptgottesdiensten um 9 Uhr begann er am 15. Juni (2. SnT) eine neue Reihe über „eigene Worte des Erlösers, die in den gewöhnlichen Abschnitten nicht enthalten sind und besonders auf die Zeit, in der wir leben, bezogen werden können“43, die bis zum 10. August (10. SnT) nachweisbar ist. Ob er die Reihe nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub wieder aufgenommen hat, ist unsicher. Für die Predigten vom 21. September und 5. Oktober fehlen Nachschriften. Der Gottesdienst am 19. Oktober war gemäß königlicher Kabinettsorder vom 17. November 1816 dem Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig gewidmet.44 Die Predigt am 2. November steht noch ganz unter dem Eindruck des Reformationsjubiläums, die Wahl des Textes könnte jedoch der geplanten Predigtreihe geschuldet sein, zumal Schleiermacher in der Woche zuvor seine Auslegung des Briefes Pauli an die Philipper fortsetzte, diese jedoch in eine nähere 40 41
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Vgl. KGA III/1, S. 862–867. Nur für den 27. April (Jubilate) und den 3. August (9. SnT) ist kein Predigttermin nachweisbar. Vgl. KGA III/1, S. 865. Darüber hinaus ließ Schleiermacher sich am 9. November und 7. Dezember nachmittags vertreten, ohne dass die näheren Umstände dafür bekannt wären. Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 216 Unten S. 155,21–23 Vgl. Erich Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenbildung im deutschen Protestantismus, Bd.1, Tübingen 1905, S. 248
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Beziehung zum Reformationsfest rückte.45 Dann wäre der Abschluss der Reihe vielleicht erst zum Ende der festlosen Zeit am 16. November erfolgt. Angesichts der nur losen Verbindung der einzelnen Predigten miteinander und der bereits eingangs von Schleiermacher in Aussicht gestellten Unterbrechungen der Reihe46, die vermutlich auf die angesprochenen staatlichen Gedenkfeiern anspielen, scheint diese Vermutung keineswegs abwegig. In den Nachmittagsgottesdiensten hat Schleiermacher am 8. Juni mit der fortlaufenden Auslegung des Philipperbriefes begonnen, die er bis zum Beginn der Passionszeit des Jahres 1818 fortsetzte.47 Neben diesen beiden Reihen gibt es Hinweise darauf, dass Schleiermacher bereits in der Epiphaniaszeit mehrere Predigten zu einer kleinen Reihe zusammengefasst hat. Trotz gewisser Einschränkungen, die der lückenhaften Überlieferungslage in diesem Zeitraum geschuldet sind, ist erkennbar, dass er beginnend am 12. Januar (1. SnE) an drei Terminen eine kleine Reihe über die Berufung der ersten Jünger gehalten hat: „Wir wollen uns einige Zeit damit beschäftigen; daß wir den Erlöser betrachten nicht im Streit mit den Menschen, sondern wie er diese zu sich lockt und um sich her versammelt und also in dem ersten Theil der Stiftung seines Reiches.“48 Nur noch rudimentär ist dagegen eine Reihe von Auferstehungsandachten nachweisbar. Am Ostermontag kündigte Schleiermacher eine Reihe von Predigten an, die „die Aehnlichkeit, welche statt findet zwischen der Auferstehung des Herrn und dem geistigen Leben, das wir schon hier mit ihm führen sollen“, zum Gegenstand hat. „Auf diese Aehnlichkeit also laßt uns hinsehen und in dieser Beziehung wollen wir heute und an den folgenden Sonntagen betrachten, was uns von der Auferstehung des Herrn gemeldet wird.“49 Aus dem Zeitraum bis zum Sonntag Trinitatis ist jedoch nur die Predigt über Lk 24,44–48 vom 20. April 1817 dokumentiert, die fraglos der angekündigten Reihe zugerechnet werden muss.50 Hier tritt ein Phänomen zutage, dass häufiger in den Zeiten der großen kirchlichen Jahresfeste bei Schleiermacher beobachtet werden kann, dass er nämlich das vom Kirchenjahr vorgegebene 45 46 47 48
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Vgl. unten S. 236,3–6 Vgl. unten S. 155,18–20 Vgl. unten S. LXXXI–LXXXIII Unten S. 111,2–5. Schleiermacher knüpft damit an eine Predigtreihe über den Streit des Erlösers mit seinen Gegnern an, die er in der Trinitatiszeit 1816 gehalten hatte (vgl. oben S. XV). Unten S. 140,17–141,1 Vgl. unten S. 144,18–145,2. Das Ende der kleinen Reihe kann nicht mehr genau eruiert werden.
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Thema aufnimmt und unter einem bestimmten Gesichtspunkt in mehreren Predigten entfaltet. Unter den Kasualhandlungen Schleiermachers im Jahr 1817 treten zwei biographisch besonders hervor. Am Abend des 15. September taufte er seine dritte Tochter, Hildegard Maria Schleiermacher, die am 12. Juli geboren worden war.51 Nur drei Tage später, am 18. September, traute er in seinem Haus seine Halbschwester Anna Maria Louise Schleiermacher (1786–1869) und Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Schleiermachers literarische Tätigkeit blieb eng mit den kontroversen Debatten über die kirchliche Verfassung und die Union der beiden protestantischen Kirchen verknüpft. Nach seiner öffentlichen Kritik an der neuen Gottesdienstordnung für die Militärkirchen, die jedoch ohne nachhaltige Wirkung blieb52, griff er im Sommer 1817 erneut zur Feder und legte die Prinzipien dar, die bei der Neuordnung der kirchlichen Verfassung zu beachten wären.53 Unter dem 11. Mai schrieb er an Twesten: „Jetzt sitze ich über einer ähnlichen [sc. Kleinigkeit], die Synodalverfassung betreffend, die aber noch nicht flott werden kann, weil ich auf die versprochene Mittheilung gewisser interessanter officieller Papiere warte.“ Gemeint war der „Entwurf der Synodalordnung für den Kirchenverein beider evangelischer Confessionen im Preußischen Staate“, den der Berliner Hofprediger Friedrich Ehrenberg (1776–1852) im Auftrag des Ministeriums erstellt hatte und der vom Konsistorium der Provinz Brandenburg am 12. Juni an die Superintendenten verschickt wurde. Schleiermacher fügte seiner bereits abgeschlossenen Schrift nach der Lektüre des Entwurfs einen Anhang bei, in dem er das Verhältnis der Synoden zu den Konsistorien und die Stellung der Superintendenten und Generalsuperintendenten, wie sie im Entwurf bestimmt wurden, heftig kritisierte.54 51
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Die Taufe fand vermutlich im Hause Schleiermachers statt. Ein entsprechender Vermerk im Taufbuch der reformierten Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche fehlt jedoch (vgl. KGA III/1, S. 865). Daran war zum einen der Umstand schuld, dass Schleiermachers Schrift erst nach der Kabinettsorder vom 14. November 1816, mit der die neue Liturgie dekretiert worden war, erschienen ist (vgl. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 254). Andererseits äußerte er gegenüber A. Twesten am 11. Mai 1817 seinen Unmut darüber, dass er die Schrift auf Anraten zweier Freunde vor der geplanten Veröffentlichung wieder umgearbeitet und ihre Schärfe gemildert habe, „wodurch denn zweierlei erreicht worden ist, einmal daß sie aller Welt gefallen, und dann daß sie nicht das geringste wirklich ausgerichtet hat.“ (Heinrici: August Twesten, S. 290) Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung. Einige Bemerkungen vorzüglich der protestantischen Geistlichkeit des Landes gewidmet, Berlin 1817 (vgl. KGA I/9, S. XLIX–LIV) An Graf Alexander zu Dohna (1771–1831) schrieb Schleiermacher am 4. Juli 1817: „Jetzt habe ich nun in der andern Schrift über die Synodalverfassung einen neuen Kampf begonnen gegen den mir ganz unbekannten Verfasser des Entwurfs der Synodalordnung. Dies, hoffe ich, wird mich wenigstens in der königlichen Ungnade
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Angesichts der kirchenpolitischen Debatten blieben andere literarische Vorhaben liegen. Dies gilt auch für die seit längerer Zeit geplante Ausgabe von Festpredigten Schleiermachers, die er im Laufe des Jahres fertigstellen wollte, wie er zu Jahresbeginn an L. Blanc nach Halle schrieb: „Es liegen schon sechs oder acht [sc. Festpredigten] fertig da, aber es fehlen noch eben so viele, und ich kann dabei wenig thun, wenn es nicht Leute giebt, die nachschreiben. Ich denke aber doch im Laufe dieses Kirchenjahres soll das fehlende hinzukommen.“55 Die hier von Schleiermacher angeführte Klage über den Mangel an Nachschreibern wirft ein beredtes Licht auf die lückenhafte Predigtdokumentation in den Jahren 1816/17, für die nahezu ausschließlich Nachschriften von Jonas zur Verfügung stehen. Das Jahr 1818 findet Schleiermacher sogleich in einer heftigen literarischen Fehde mit dem sächsischen Oberhofprediger Christoph Friedrich von Ammon (1766–1850), der sich der antirationalistischen und unionskritischen Thesen des Archidiakons an der Kieler Nikolaikirche Claus Harms (1778–1855) bedient hatte, um gegen die Vereinigung der beiden protestantischen Kirchen in Preußen zu polemisieren.56 Von einer anderen Warte her bearbeitete Schleiermacher die Unionsfrage in seinem Beitrag „Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher“, mit dessen Ausarbeitung er im Mai 1818 begonnen hat.57 Er erkannte darin die Notwendigkeit der Bekenntnisschriften der protestantischen Kirchen insoweit an, als sie der Abgrenzung gegenüber dem Katholizismus dienten, bestritt jedoch ihre kirchentrennende Funktion innerhalb des Protestantismus selbst. Damit nahm er einen Gedanken auf, der bereits in der Kontroverse mit Ammon eine Rolle spielte, dass nämlich der Union der beiden protestantischen Kirchen keine gemeinsame Bekenntnisbildung vorausgehen müsse, sondern die Lehrdifferenzen mittels wissenschaftlich-theologischer Reflexion zu bearbeiten wären. Schleiermachers Predigten des Jahres 1818 sind bis zum Osterfest beinahe lückenlos dokumentiert.58 Abgesehen von einer längeren Reise nach Salzburg und München im Herbst hat er sich nur im Nachmittagsgottesdienst am 18. Januar durch einen Kandidaten vertreten
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nicht weiter bringen, indem ich die ursprüngliche Idee des Königs vertheidige gegen die schlechte Umgestaltung, welche das Ministerium ihr gegeben hat. Herr v. Schuckmann aber wird mir sehr gram werden über die wiederholte Hinweisung darauf, daß die Synodalverfassung nicht ohne ein vom Staatsrath berathenes Gesetz in sichere Wirksamkeit treten kann.“ (Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 254) Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 214. Der Band mit Festpredigten erschien erst im Jahr 1826 (vgl. KGA III/1, S. L). Vgl. KGA I/10, S. XV–XXXVI Vgl. KGA I/10, S. XXXVI–XLV Lediglich die Predigt vom 15. März (Palmarum) ist nicht überliefert.
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lassen.59 Bei der Auswahl der Predigttexte bieten die Invokavitpredigten ein schönes Beispiel für seine Gewohnheit, die kirchlichen Jahresfeste jeweils unter wechselnden Betrachtungsweisen zum Gegenstand seiner gottesdienstlichen Ansprachen zu machen: „Wie ich mir vorgesetzt habe, in den Vormittagsbetrachtungen mehr im Allgemeinen auf den großen Einfluß aufmerksam zu machen, den das Leiden des Erlösers auf uns alle hat und wie nothwendig es mit zum göttlichen Rathschluss der Erlösung gehört, so denke ich in unsern Nachmittagszusammenkünften mehr das Einzelne und Geschichtliche dieser letzten Begebenheiten unserer Andacht vorzubehalten.“60 Damit ergibt sich für die Passionsandachten des Jahres 1818 eine Doppelreihe von je drei Predigten über das Leiden Christi.61 Die drei Nachmittagspredigten folgen dabei der Dreiteilung der Leidensgeschichte in den Evangelien: „Es läßt sich aber das Leiden des Erlösers in 3 Abschnitte theilen, nemlich von seinem ersten Anfange an, als er zum letzten Male die Stadt verließ bis dahin, wo er sich völlig in der Gewalt seiner Feinde befand; weiter das, was sich mit ihm ereignete bis dahin, wo sein Schicksal völlig entschieden war d.h. wo das Urtheil seines Todes gefällt war, und endlich was sich mit ihm ereignete, bis er seinen Geist aufgab. Bei der großen Mannigfaltigkeit der Gegenstände und der großen Beschränkung der Zeit wird es nur möglich seyn, aus jedem der einzelnen Abschnitte dasjenige, was das Entscheidendste ist, herauszuheben.“62 In der Trinitatiszeit hielt Schleiermacher dann seine bekannten Predigten über den christlichen Hausstand, die er auf Wunsch seiner Hörerschaft zwei Jahre später als „Vierte Sammlung“ seiner Predigten im Verlag G. Reimer veröffentlichte. Die im vorliegenden Band erstmals publizierten Nachschriften dieser Predigtreihe von L. Jonas gewähren einen Blick auf den unmittelbaren Eindruck, den die Predigten bei Schleiermachers Hörern hinterlassen haben, und in den Vorgang ihrer redaktionellen Überarbeitung zum Zweck der Veröffentlichung.63 Schleiermacher hielt die Predigtreihe an neun Sonnta59
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Vgl. KGA III/1, S. 868. Schleiermacher brach am 2. September, unmittelbar nach dem Abschluss der Synodalverhandlungen, gemeinsam mit seinem Freund und Verleger G. Reimer auf und kehrte vermutlich Mitte Oktober zurück. Unten S. 383,3–8 Die Reihe der Vormittagspredigten erstreckt sich über drei Termine vom 8. Februar bis zum 8. März; zur Reihe der Nachmittagspredigten zählen die Gottesdienste am 15. Februar sowie am 1. und 15. März, von denen jedoch nur die ersten beiden durch Nachschriften belegt werden können. Unten S. 383,8–16; zur Dreiteilung der Vormittagspredigten vgl. 374,3–375,14 Über den Unterschied zwischen dem gesprochenen Wort und dem gelesenen Text hat sich Schleiermacher in diesen Jahren mehrfach geäußert (vgl. unten S. LVIII– LIX.LXI und Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 240–241).
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gen vom 31. Mai bis zum 15. November und unterbrach sie lediglich am 18. Oktober aus Anlass des Gedenkens an die Völkerschlacht bei Leipzig. – Ob Schleiermacher in den Nachmittaggottesdiensten der Trinitatiszeit wie in den Jahren zuvor eine Homilienreihe gehalten hat, kann nicht mehr festgestellt werden, da zu diesen Terminen keine Predigtnachschriften bekannt sind.64 Unter den Kasualreden des Jahres 1818 ist Schleiermachers Grabrede bei der Trauerfeier für den Theologiestudenten Johann Gottlieb Wilhelm Weber überliefert, die er am 18. Januar in seiner Funktion als Dekan der Theologischen Fakultät gehalten hat. Weber wurde als Sohn des lutherischen Predigers Kaspar Friedrich Weber (gest. 1827) in Suckow/Hinterpommern geboren und studierte seit April 1814 Evangelische Theologie an der Berliner Universität. Er beteiligte sich 1815 an den Kämpfen gegen Napoleon und nahm als Abgesandter der Studentenschaft am Wartburgfest im Oktober 1817 teil.65 Schleiermacher schildert ihn in seiner Ansprache als einen stillen und zurückgezogenen jungen Mann, erfüllt von einer tiefen vaterländischen Gesinnung, wissenschaftlichem Ernst und christlicher Frömmigkeit. Er starb am 25. Januar im Alter von 22 Jahren an Schwindsucht. Die Beisetzung fand auf dem Jakobsfriedhof der St. Petri-Kirche statt.66 Am 21. November feierte Schleiermacher im großen Kreis seinen 50. Geburtstag, zu dem ihm die Studenten einen silbernen Pokal überreichten.67 Kurz zuvor hatte er den Entschluss gefasst, mit der Ausarbeitung seiner Dogmatik zu beginnen, die er 1818 über zwei Semester hinweg las. An Gaß schrieb er am 28. Dezember: „Du hast mich so getriezt, lieber Freund, daß ich nun wirklich meine Dogmatik schreibe, aber freilich auf eine etwas närrische Art und so, daß noch eine ganze Weile darüber hingehn kann. Als ich im Sommer die Einleitung las, dachte ich noch an nichts, und erst im November, in der Aussicht auf meinen Geburtstag, dachte ich, er solle mich in einem tüchtigen Werk finden. Ich fing also an, im ersten Theil nachzuarbeiten und zugleich an die Einleitung Hand anlegen. Als ich aber den zweiten Theil anfing, war ich im ersten bedeutend zurück, ließ ihn 64
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Die einzige Ausnahme ist die sehr knappe Nachschrift einer Predigt über Mt 19,14 vom 5. Juli, die jedoch keine Hinweise auf eine Predigtreihe bietet und deren Datierung unsicher ist (vgl. unten S. LXXV). Vgl. Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. II/1. Ministerium Altenstein, Halle 1910, S. 37 Anm. 1 Vgl. KGA III/1, S. 868 „Die Studenten beschenkten mich an meinem Geburtstage mit einem schönen silbernen Pocal, der nun an jedem festlichen Tage rundgeht, und auch schon an jenem Abend selbst und am Sylvester seine Schuldigkeit gethan hat.“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 244)
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liegen und machte mich an den zweiten. Vom zweiten habe ich nun die erste Hälfte von der Sünde ausgelesen und habe auch im Schreiben nur so viel zurück, daß ich in dieser Ferienwoche nachkomme. Vom ersten Theil ist aber nur die Lehre von der Schöpfung ausgearbeitet und von der Einleitung nur die Einleitung, so daß, wenn ich also auch wirklich im Schreiben mit der Vorlesung gleichen Schritt halte, ich doch noch entsetzlich viel nachzuholen habe, und, da ich im Sommer zwei neue Collegien lesen will, nicht weiß, wie das Ding werden soll. Was ich bis jetzt gemacht habe, gefällt mir nicht übel: aber es sticht doch gar wunderlich gegen alle andern Dogmatiken ab, und ich glaube, die Leute werden sagen, ich hätte etwas Absonderliches machen wollen, worin sie mir doch sehr Unrecht thun werden; denn ich kann nun eben nicht anders.“68 Die Vorbereitung der Dogmatik sollte in der Folgezeit den Gegenstand der kleineren literarischen Arbeiten Schleiermachers bestimmen, und die Vermutung wird kaum fehlgehen, dass der Entschluss zu ihrer Ausarbeitung von den kirchenpolitischen Diskursen jener Zeit einen entscheidenden Anstoß erhielt. Die Abfassung der Glaubenslehre kann als dogmatisches Gegenstück zu Schleiermachers kirchenpolitischer Arbeit für die Union begriffen werden. Spätestens seit dem Ausbruch der Turnfehde verschärfte sich das politische Klima in Preußen spürbar und Schleiermacher klagte zu Beginn des Jahres 1819 gegenüber Graf A. zu Dohna über eine Woge von Missgunst und Argwohn: „[...] der unsinnige Argwohn von oben herab und die Intriguen, die auf diesem Grund gegen einzelne Menschen gespielt werden, dies alles nimmt täglich zu, und man ist des unschuldigsten Wortes nicht mehr sicher, daß es nicht verdreht und herumgetragen wird. Ja bis in die Vorlesungen, sogar die theologischen, geht das Spionieren, wie einer meiner Kollegen noch kürzlich erfahren hat. Aus diesem unwürdigen Zustande sieht man noch gar keine Erlösung.“69 Auch Schleiermacher geriet in das Visier der Geheimpolizei, wie er am 2. Juni an Gaß berichtete: „Ich stehe übrigens mit der Regierung ganz auf dem alten Fuß. Denn auch Altenstein sieht mich nicht und fragt mich um nichts; vielmehr hat mir noch neulich ein guter Freund geschrieben, er wisse bestimmt, daß die in’s Geheim neuerdings sehr verstärkte geheime Polizei auch mich ganz besonders 68
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Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 289. Schleiermacher hatte im Sommer „Einleitung in die dogmatische Theologie“ und in der Philosophischen Fakultät erstmals „Psychologie“ gelesen – vermutlich als Seitenstück zur religionsphilosophischen Grundlegung der Dogmatik. Im Winter schloss sich dann die „Dogmatik“ an (vgl. Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 313–314). Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 294
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in Obhut genommen.“70 Nach der Ermordung des Schriftstellers und russischen Generalkonsuls August Friedrich Ferdinand von Kotzebue (1761–1819) durch den Burschenschafter und Theologiestudenten Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 stand sogar für kurze Zeit die Aufhebung der Universitäten im Raum.71 Dazu kam es zwar nicht, doch unterstanden die preußischen Universitäten seit den Karlsbader Beschlüssen einer strengen Überwachung durch die staatlichen Behörden. Im Laufe des Jahres geriet auch Schleiermacher stärker in den Gesichtskreis der Demagogenverfolgung, blieb jedoch zunächst unbehelligt. Vor allem seine Beteiligung an einer Petition für Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), den arretierten Begründer der Turnbewegung, die Schleiermacher sehr am Herzen lag, ließ ihn mit Sanktionen gegen seine Person rechnen. Am 30. September schrieb er aus dem Urlaub an A. Twesten: „Der König hat nemlich auch denen, welche das günstige Zeugniß für Jahn abgelegt haben, die Absetzung angedroht, ja nach einer, wiewol unsicheren Nachricht soll sie an einigen schon vollzogen sein. Sobald ich es gehört, eilte ich, mich in einem Schreiben an den Staatskanzler als Rathgeber und in einem gewissen Sinne Autor in dieser Sache anzugeben, und dies ist noch so neu, daß ich nicht weiß, was meiner wartet, wenn ich nach Berlin komme.“72 Die geheime Staatspolizei ließ auch Schleiermachers Gottesdienste ausspionieren, um seine Predigten auf staatsfeindliche Äußerungen zu überprüfen. Der Bericht eines Spitzels über die Predigt vom 17. Oktober 1819 gibt den Aufriss der Predigt Schleiermachers wieder, für die kein anderes Zeugnis überliefert ist: „Heute trat S. vor einem außerordentlich zahlreichen Auditorio nach seiner Abwesenheit wieder auf und predigte über Lucae Cap. VII, V. 18 und folgende, als Johannes Christus fragen ließ: bist du, der da kommen soll? Und er seine Wunden zeigt, Sich darauf beruft und mit den Worten endet: Selig ist, der sich nicht ärgert an mir. // 1. Enthalten diese Worte eine freudige Aeußerung. 2. Ein ernstes Wort. // 1. Eine freudige Aeußerung. Christus verweist nicht die Jünger Johannis auf eine ferne Zukunft, sondern auf eine segenreiche Gegenwart. Sehet, sagt er, die Blinden, die da sehen, die Tauben, die da hören, die Aussätzigen, die zur menschlichen Gesellschaft zurückkehren, das Evangelium, was den Armen gepredigt wird, und so zeigt auch noch unser Herr und Meister jetzt die Göttlichkeit seiner Sendung durch die Befreiung aller geistigen Kräfte der Menschen, die wir seiner Lehre verdanken. Wenn diese Freiheit aber von den Menschen miß70 71 72
Briefwechsel mit Gaß, S. 172–173 Vgl. Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 357 Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 308
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braucht wird, so zeigt sich sofort die Strafe dadurch, daß diese geistigen Kräfte wieder Beschränkungen ausgesetzt sein müssen, die wir aber nicht der Lehre Christi zuschreiben können. // 2. Ein ernstes Wort. Seelig, der sich nicht an mir ärgert, das heißt: Seelig derjenige, der nicht durch das, was er in der Welt in Absicht der Wirkungen des Christenthums sieht, bewogen wird, zu irrigen Ansichten oder einem falschen Verfahren. Es giebt zwei Klippen, für die wir uns hüten müssen: a) trotziger Uebermuth, wenn wir die Wirkungen des christlichen Glaubens zur Befreiung der geistlichen Kräfte deutlich sehen, und nun glauben, es könne nie in der Welt anders sein und diese Kraft müsse sich immer mehr und mehr offenbaren, ohne daß sie etwas hemmen könne – und b) die Zaghaftigkeit, die, wenn wir sehen, daß das Reich der Finsterniß über das Reich der Wahrheit sieget und wähnen, es sei alles verloren und nichts von dem Muth des wahren Anhängers Christi begreifen, der demungeachtet immer felsenfest auf Gott und Christus hofft und überzeugt ist: das Rechte müsse doch einst allein siegen, und es werde das Gute nur durch die Prüfungen wie durch Feuer geläutert.“73 Schleiermachers pfarramtliche Tätigkeit ging trotz der starken Belastungen weiter ihren gewohnten Gang. Am 17. Januar 1820 berichtet er rückblickend: „An meinem Geburtstag ließ sich freilich das Gewicht dieser Zeit nicht ganz abschütteln; aber ich bin damit ganz zufrieden, denn es trägt sich am leichtesten, wenn man es beständig fühlt. Wenigstens wird man dann in einzelnen Augenblicken, wo es wieder etwas Neues giebt, nicht so heftig erschüttert. Daß es aber die Thätigkeit nicht störe, wage ich von mir nicht zu behaupten; ich hoffe ja wenigstens, daß ich mehr vor mich bringen würde, als wirklich geschieht, wenn Kopf und Herz ganz frei wären. Kanzel und Katheder leiden aber keinen merklichen Schaden, aber die Arbeit am Schreibtisch geht sehr flau [...]. Die mechanischen Geschäfte, davon ich in Kirchen- und Facultäts-, auch akademischen Sachen seit meiner Rückkunft übermäßig viel gehabt habe, sind mir insofern willkommen, denn die gehn immer gleich gut“.74 Am 23. April 1819 feierte er sein 25jähriges Amtsjubiläum: „Ich feiere heute meine silberne Kirchenhochzeit und habe mir dazu meine theologischen Freunde gebeten. Viel Ursache habe ich Gott zu danken für diese 25jährige Amtsfüh73
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Heinrich von Treitschke: Aus der Zeit der Demagogenverfolgung, in: ders., Historische und Politische Aufsätze, Bd. 4. Biographische und Historische Abhandlungen vornehmlich aus der neueren deutschen Geschichte, Leipzig 1897, S. 365–373, hier S. 366–367. Die Hervorhebungen bezeichnen solche Aussagen, die dem Berichterstatter als besonders staatsgefährdend erschienen. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 311
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Einleitung der Bandherausgeber
rung, und ein Stück möchte ich in die zweite Hälfte auch noch hineinleben; vollenden werde ich sie nicht; es werden sich unterdessen auch schon andre finden, die meine Stelle einnehmen.“75 Am 25. Juli 1819 verstarb Schleiermachers lutherischer Amtskollege Andreas Jakob Hecker, der drei Tage später auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitskirche Hallesches Thor im Gewölbe bestattet wurde. Die Predigt zum Gedächtnis Heckers hielt am 8. August der lutherische Superintendent Samuel Christian Gottfried Küster (1762–1838). Als Nachfolger wurde bereits am 6. August Schleiermachers Fakultätskollege Philipp Konrad Marheineke (1780–1864) ernannt. Den Zeitpunkt für die von ihm lange gewünschte Union der beiden Gemeinden der Dreifaltigkeitskirche sah Schleiermacher jedoch erst nach dem Ableben des zweiten lutherischen Predigers David Friedrich Herzberg gekommen. „Hecker ist plötzlich gestorben, und heute schon ist Marheineke zu seinem Nachfolger an der Kirche ernannt; aber die Accidentien sind schon so zwischen ihm und Herzberg getheilt, daß alle Hoffnung auf die Union der beiden Gemeinen wieder verschwunden ist, wenigstens bis einmal Herzberg abgeht.“76 Für Schleiermachers Predigten in der Trinitatiszeit 1819 können zwei Predigtreihen erschlossen werden. In den Nachmittagsgottesdiensten hat er eine Homilienreihe zum 1. Petrusbrief gehalten, von der jedoch nur drei Termine durch Nachschriften bekannt sind.77 Das Ende der Reihe ist vermutlich für den 26. März 1820 (Palmarum) anzusetzen. Der Beginn der Homilie liegt dagegen im Dunkeln, da die Nachmittagsgottesdienste, abgesehen von den hohen Kirchenfesten, nicht durch Predigtnachschriften dokumentiert werden können.78 Besser belegt ist die zweite Reihe, die Schleiermacher im Hauptgottesdienst am 13. Juni begonnen und bis zum 14. November fortgeführt hat. In seinen Vormittagspredigten will er „das Bestreben des Herrn, zu suchen, was verloren war, zu verkündigen das Evangelium den Armen, einzuladen die Mühseligen und Beladenen aller Art, damit sie sich von ihm erquicken ließen“, betrachten. „Wenn wir ihm in diesen 75
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Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 356–357. Am 18. April 1794 hielt Schleiermacher seine Antrittspredigt als Adjunkt des reformierten Predigers Johann Lorenz Schumann (1719–1795) in Landsberg/Warthe (vgl. KGA III/1, S. XXVII). Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 303 7. November, 21. November und 5. Dezember 1819 (vgl. KGA III/1, S. 879) Aufgrund fehlender Zeugen für die Nachmittagspredigten in diesem Zeitraum kann der Anfang der Reihe nicht mehr genau bestimmt werden. Die Vormittagspredigten der Passionszeit über 1Petr 2,19–25 (vgl. die Predigten vom 7. und 21. März sowie vom 4. April) lassen keinen Bezug zur Homilienreihe in den Nachmittagsgottesdiensten erkennen. In KGA III/1 ist der 25. April als vermutlicher Beginn der Predigtreihe angegeben (vgl. KGA III/1, S. LI).
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Bemühungen folgen und untersuchen, welches die Ursachen des Gelingens und Mißlingens derselben waren, so werden wir davon eine heilsame Anwendung auf unser eigenes Leben machen können.“79 Darüber hinaus können neben den „Betrachtungen des Leidens Christi aus der Sicht Petri“ in den Passionsandachten80 zwei weitere, kürzere Reihen zusammenhängender Predigten identifiziert werden. In der Epiphaniaszeit hat Schleiermacher vom 10. Januar bis zum 21. Februar vier Predigten über das Leben Christi vor Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit gehalten.81 In den Auferstehungsandachten hingegen betrachtete Schleiermacher „die Umgebungen des Erlösers, welche ihm den Tod brachten [...], um zu erforschen, wie es denn geschehen konnte, daß die Gemüther derer, welche um ihn und mit ihm lebten und dadurch berufen waren, unmittelbar Theil zu nehmen an dem großen Werk der Erlösung, dennoch sich verschlossen der mächtigen Stimme, welche ihnen rief, uns daran ein warnendes Beispiel zu nehmen, daß auch wir nicht dem göttlichen Rufe, wenn er an uns ergeht, unser Ohr versagen und der göttlichen Gnade, die uns überströmt, unser Herz verschließen.“82 Die laufenden Geschäfte in der Synode, der Akademie und der Universität ließen Schleiermacher kaum Zeit für literarische Vorhaben. Vor allem das neue Kolleg zur Ästhetik, das er im Sommer zum ersten Mal las, die Arbeit der Gesangbuchkommission, die seit Anfang des Jahres regelmäßig tagte, und die Vorbereitung der Provinzialsynode, die vom 4. bis zum 22. Juni nach Berlin einberufen worden war, beanspruchten ihn sehr. Daher überrascht es nicht, dass er in diesem Jahr nur eine Abhandlung über die Erwählungslehre für die von ihm gemeinsam mit Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) und Friedrich Lücke (1791–1855) herausgegebene „Theologische Zeitschrift“ zum Druck brachte, deren erster Band im Herbst 1819 erschien.83 Dabei war die Wahl des Gegenstands der Arbeit an der Dogmatik geschuldet.84 Die verschiedenen Ansichten von der Lehre über 79 80 81 82 83
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Unten S. 631,17–632,4 Vgl. KGA III/1, S. LI Vgl. unten S. 569,3–6 Unten S. 604,10–17 Ueber die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen, in: Theologische Zeitschrift, Erstes Heft, Berlin 1819, S. 1–119 (vgl. KGA I/10, S. XLV–LXI) “Der Rationalismus ist ausgesetzt, dagegen will ich mich künftige Woche an eine Abhandlung über die Gnadenwahl geben, die vorläufig die Stelle von jener einnehmen soll. Schelten Sie mich nicht, die kleinen Sachen müssen sich nach den großen strecken und daraus ist dieser Wechsel entstanden. Kurz vor meinem Geburtstag nämlich fiel es mir recht schwer auf’s Herz, daß, wenn ich ihn recht vergnügt und ohne geheime Pein begehen wolle, er mich in einem tüchtigen Werk finden müßte, und aufgeregt durch die vorigen Beschäftigungen und mancherlei Ereignisse, gab
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die Gnadenwahl stellten einen fortwährenden Streitpunkt zwischen reformierten und lutherischen Theologen dar, den Schleiermacher mit Blick auf sein Unionsprogramm zu relativieren versuchte.
2. Liederblätter und Gesangbuchkommission Schleiermacher hat seit dem Jahr 1812 eigene Liederblätter für seine Hauptgottesdienste in der Dreifaltigkeitskirche drucken lassen.85 Die Liederblätter wurden zuerst gegen eine freiwillige Spende an die Gottesdienstbesucher ausgegeben, später dann zu einem festen Preis verkauft. „An den Kirchtüren wurden die Gesangbuchlieder, die gesungen werden sollten, auf Zetteln verkauft, wie die Textbücher am Opernhause.“86 Schleiermachers Tageskalender belegen, dass er eine eigene „Liederkasse“ führte, aus deren Einnahmen er die Drucklegung der Liederblätter finanzierte. Die Bezahlung konnte für einen vollständigen Jahrgang im Voraus erfolgen, und es bestand die Möglichkeit, ältere Jahrgänge nachträglich zu erwerben.87 Dieser Umstand belegt zum einen, dass es sich bei den Liederblättern um ein jährliches Periodikum handelte, und zum andern ihre Funktion als Vorarbeiten zu einem neuen Gesangbuch, das sowohl gottesdienstlichen Zwecken als auch der privaten Andacht dienen sollte.88
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ich mich daran, meine Dogmatik zu schreiben, die ich eben lese. Allein ich begann zugleich beim ersten Anfange und beim Anfange des ersten Theils und beim Anfang des zweiten – wo ich eben im Lesen stand, und dachte nun den Rationalismus einzuflicken, wenn ich in der Ausarbeitung der Einleitung an diese Stelle käme. Allein ich mußte das dreifache Arbeiten bald aufgeben und mich nur daran halten, das Lesen mit dem Schreiben zu begleiten. Ach das habe ich nur fortsetzen können eben bis an die Lehre von der Gnadenwahl, und da nun durch Bretschneider und Schultheß die Sache wieder aufgeregt ist an sich und in Bezug auf mich und die Union, so will ich erst diesen Gegenstand für sich behandeln“ (Heinrici: August Twesten, S. 341–342). Schleiermacher hatte bereits früher vereinzelt Liederzettel für seine Gottesdienste drucken lassen, als regelmäßige Praxis ist dies jedoch erst seit 1812 nachweisbar (vgl. Wolfgang Virmond: Liederblätter – ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers, in: Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposium on Schleiermacher at Herrnhut, ed. R. D. Richardson u.a., Lewiston u.a. 1991, S. 275–293, hier S. 278–280). Der erste vollständige Jahrgang erschien vermutlich 1813 (vgl. Bernhard Schmidt: Schleiermachers Liederblätter 1817. Edition, Analyse und Kommentar eines einzigartigen Phänomens, Schleiermacher-Archiv 23, Berlin/New York 2008, S. 25–26 Anm. 117). Virmond: Liederblätter, S. 277 Vgl. Virmond: Liederblätter, S. 279–281 Dieses Konzept hatte Schleiermacher bereits in seinem Entwurf für den Gottesdienst an der Berliner Universität vom 25. Mai 1810 vorgestellt: „Da kein bekanntes Gesangbuch, noch weniger ein hier eingeführtes den Bedürfnissen des Universitäts-Gottesdienstes völlig entsprechen dürfte, so müßte die wenig kostspielige
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Der Druck der Liederblätter, den Schleiermacher im Verlag G. Reimer besorgen ließ, erfolgte vermutlich nicht einzeln, sondern schloss stets mehrere Ausgaben ein, die gleichzeitig gedruckt wurden, so dass die Liederblätter bereits mehrere Wochen oder Monate im Voraus fertiggestellt werden mussten. Das hat zur Voraussetzung, dass die Planung der Gottesdienste einen langen Vorlauf gehabt haben muss, sofern die Auswahl und Bearbeitung der Lieder auf das Thema des Gottesdienstes abgestimmt werden sollte. Diese Beobachtungen konvergieren mit Schleiermachers Vorliebe, mehrere Predigten zu thematischen Reihen zusammenzustellen, so dass man annehmen muss, er habe Thema und Textwahl weit im Voraus festgelegt. Die Liederblätter waren zunächst undatiert und enthielten nur die Angabe des jeweiligen Sonn- oder Festtages, erst mit Beginn des Jahres 1817 ist ihnen ein Datum beigegeben, so dass sie den einzelnen Predigtterminen zugeordnet werden können.89 Daher werden die Liederblätter von 1817 an den edierten Predigten jeweils als Anhang beigefügt, so dass die Verknüpfungen zwischen Predigt und Liedgut leichter nachvollzogen werden können.90 Gleichzeitig spiegelt der Aufbau der Liederblätter das liturgische Gerüst des Gottesdienstes wider. Die Einzel- oder Doppelblätter enthalten nach der Bezeichnung des Sonntags die Liedtexte, jeweils verbunden mit einem Hinweis auf die Melodie, nach der sie zu singen sind, sowie der Angabe ihres liturgischen Ortes: vor dem Gebet – nach dem Gebet – unter der Predigt – nach der Predigt. Der Gottesdienst wird nach dem Orgelvorspiel durch einen Gesang der Gemeinde eröffnet, der die religiöse Stimmung der Gottesdienstbesucher aufnehmen und ihre Andacht befördern soll. Daran schließt sich die Liturgie an, in der besonders die Verbindung der gottesdienstlichen Versammlung mit der Gesamtkirche zum Ausdruck kommt. Nach dem Gebet, mit dem der agendarische Teil des Gottesdienstes endet, folgt das Hauptlied, das auf die Predigt hinführt, die im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht. Der Kanzelvers, dem oft das Herrengebet vorausgeht, tritt zwischen die Predigteinleitung und die Verlesung des Predigttextes.91
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Veranstaltung getroffen werden, daß die Gesänge jedesmahl auf einem besondern Blatte gedruckt und an den Kirchenthüren ausgegeben würden, bis man auf diese Weise allmählig und ohne etwas zu übereilen zu einem zweckmäßigen Gesangbuch gelangte.“ (Virmond: Liederblätter, S. 280) Die einzige Ausnahme ist ein Liederblatt vom 20. Oktober 1816 (19. SnT), das in KGA III/4 ediert worden ist (vgl. KGA III/4, S. 766–767, Nr. 62). Zu diesem Termin liegt keine Predigtnachschrift vor. Die undatierten Liederblätter der Jahre 1812–1816 wurden als Anhang in KGA III/4 ediert. Liederblätter der Jahre 1817–1828, zu denen keine Predigtüberlieferung vorliegt, werden im Anhang zu KGA III/11 abgedruckt. Das Lied ‚unter der Predigt‘ (der Kanzelvers) fiel seit dem Jahr 1819 häufiger weg.
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Die Predigt selbst mündet in das Schlussgebet und der Gottesdienst endet mit einem Gesang der Gemeinde, der auf die Predigt antwortet, und dem aaronitischen Segen. „Das Schema der Anordnung [sc. des Gottesdienstes] wird sein, daß die religiöse Rede von Gesang eingefaßt ist, daß sie in dessen Mitte hervortritt [...]. Es muß also vorher die Selbstthätigkeit der Gemeine auftreten, damit ihre Passivität nicht zu sehr vorherrsche: ebenso muß der Kleriker vorher sich als Repräsentant der Gemeine bewährt haben und als Organ der Kirche zeigen ehe er mit seiner individuellen Selbstthätigkeit auftritt [...]. Nun haben wir außerdem noch das Gebet, und da fragt sich, wie wir dies stellen wollen. Offenbar wird es nicht können vor dem Anfangsgesang oder nach dem Schlußgesang stattfinden, sondern wird zwischen Gesang und Rede oder Rede und Gesang gestellt werden müssen, und daraus erklärt sich bei jedem vollständigen Gottesdienst die Duplicität des Gebetes. Daß der Gottesdienst mit Gesang schließt wie er damit anfängt, und die Gemeine so mit dem Bewußtsein ihrer Gemeinsamkeit entlassen wird, scheint sich fast von selbst zu verstehen. Das ungeregelte Untereinanderwerfen dieser Elemente erscheint immer als ungehörig.“92 Liegt die enge Verknüpfung von Lied und Predigt bei Schleiermacher bereits von diesen Überlegungen her nahe, so bestätigt sich dies angesichts seiner Gottesdiensttheorie.93 Diese ist von der Vorstellung des Kultus als eines Organismus bestimmt, in dem jedes Element auf die gemeinsame Idee des Ganzen hin geordnet ist und von ihm her seinen Ort und seine Gestalt erhält. „Indem wir unsere organische Betrachtung des Cultus anstellen, müssen wir ihn als ein Ganzes betrachten in welchem alle Theile nach einer innern Nothwendigkeit, die hier freilich nur die der Freiheit sein kann, zusammengehören. Ein solches ganzes ist ein Organismus, wo die Selbständigkeit des einzelnen und die Einheit des ganzen in solchem Wechselverhältniß stehen daß jedes das andere bedingt und voraussetzt.“94 Dieses Wechselverhältnis, in dem alle einzelnen Elemente des Gottesdienstes zu einem Gesamteindruck zusammenwirken, kann als Schlüssel für das Verständnis der Liederblätter herangezogen werden. Der evangelische Gottesdienst, der durch den relativen Gegensatz von Liturg und Gemeinde konstituiert wird, dient der Darstellung des religiösen Be92 93
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Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, ed. J. Frerichs, SW I/13, Berlin 1850, S. 140 Vgl. Christoph Albrecht: Schleiermachers Liturgik. Theorie und Praxis des Gottesdienstes bei Schleiermacher und ihre geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, Veröffentlichungen der Evangelischen Gesellschaft für Liturgieforschung 13, Göttingen 1963, S. 59–66 Praktische Theologie, S. 126
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wusstseins als eines gemeinsamen. „Nur in dem Wechsel und Zusammensein solcher Elemente in denen der Gegensaz auftritt, und solcher in denen die allgemeine Selbstthätigkeit ihn vermittelt, kann der Gottesdienst bestehen.“95 Dieser Gegensatz manifestiert sich im Gegenüber von Lied und Predigt und wird in der beiden übergeordneten, gemeinsamen Idee des Gottesdienstes, seinem Thema, aufgehoben. Der Gottesdienst wird durch den Gesang der Gemeinde eröffnet, der die religiöse Stimmung der Gottesdienstbesucher aufnimmt und ihr Gemeinschaftsgefühl stärkt. Hierzu empfiehlt Schleiermacher vor allem „symbolische Lieder“, die den Gedanken der Einheit der christlichen Kirche hervorheben.96 Das Predigtlied dagegen, das Schleiermacher dem Liturgen besonders ans Herz legt, trägt stärker individuelle Züge und ist eng auf die Predigt und die dem Gottesdienst zugrunde liegende gemeinsame Idee bezogen. Die religiöse Stimmung des Liedes greift auf den Gehalt der Ansprache voraus und bereitet ihn vor. Die Darstellung des religiösen Selbstbewusstseins des Liturgen erhebt sich so aus der gemeinsamen religiösen Erfahrung, in die es mit dem Lied nach der Predigt wieder zurückkehrt. Schleiermacher unterteilt die Lieder in zwei Kategorien, solche, in denen mehr ein erhebendes Gefühl vorherrscht, und solche, in denen mehr ein niederschlagendes Gefühl dominiert. Die Verknüpfung dieser beiden Rubriken mit Schleiermachers Unterscheidung zwischen allgemeinen („symbolischen“) und individuellen („mystischen“) Dichtungen ergibt ein vierfaches typologisches Schema, mit dessen Hilfe sich leicht die passenden Lieder für den jeweiligen Gottesdienst auswählen lassen.97 Bei der Auswahl der Lieder hat Schleiermacher oft auf neuere Gesangbücher zurückgegriffen, was seiner Vorliebe für „neue Lieder“ entspricht.98 Da die Quellen, aus denen Schleiermacher die Lieder für den Gottesdienst ausgewählt hat, auf den Liederblättern häufig angegeben sind, kann der Vorgang der redaktionellen Bearbeitung der Lieder recht präzise beschrieben werden.99 Er hat die Lieder nicht nur gemäß seiner Typologie der Gottesdienste ausgewählt, sondern vielfach aus stilistischen, dogmatischen oder liturgischen Gründen in den Wortlaut und Textbestand eingegriffen. Nicht selten hat er für seine Bearbeitung mehrere Versionen desselben Liedes aus unterschiedlichen Gesangbüchern herangezogen und einen Mischtext hergestellt oder Strophen verschiedener Lieder gleichen 95 96 97 98 99
Praktische Theologie, S. 132 Zu Schleiermachers Liedertypologie vgl. Albrecht: Schleiermachers Liturgik, S. 45–46 Vgl. Schmidt: Schleiermachers Liederblätter, S. 12–13 Vgl. Schmidt: Schleiermachers Liederblätter, S. 16–17 Vgl. Schmidt: Schleiermachers Liederblätter (für den Jahrgang 1817)
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Versmaßes zu einer neuen Liedkomposition verbunden. Der Anstoß zur redaktionellen Bearbeitung der Lieder ist der gleiche, der Schleiermacher zur Herstellung der Liederblätter überhaupt veranlasste, nämlich die Erbauung der gottesdienstlichen Gemeinde. Dazu bedarf es einer liturgischen Praxis, die mögliche Verständnisprobleme, seien sie dogmatischer oder sprachlicher Natur, eliminiert, damit die Erbauung der Gemeinde nicht gestört werde. Der gleiche Grundsatz, der ihn bei der Bearbeitung der Liederblätter leitete, hat später die Arbeit am neuen Berliner Gesangbuch bestimmt. „Es kommt also alles darauf an, nicht wer die Veränderungen gemacht hat, noch woran sie gemacht sind, sondern ob sie gut sind, das heißt ob sie Störungen der Erbauung hinwegnehmen. [...] Denn die Erbaulichkeit ist das einzige worauf es ankommt.“100 Wie eng das Phänomen der Liederblätter mit Schleiermachers Unmut über die zu seiner Zeit eingeführten Gesangbücher zusammenhängt, ist offenkundig. Daher verwundert es nicht, dass er federführend an der Herausgabe eines neuen Berliner Gesangbuchs beteiligt war, das im Jahr 1830 offiziell in den Berliner Gemeinden eingeführt wurde. Zu diesem Zweck hatte die Vereinigte Berliner Kreissynode in ihrer Sitzung am 10. Dezember 1817 eine sechsköpfige Kommission eingesetzt, zu der auch Schleiermacher gehörte. Nachdem das Konsistorium die Wahl am 16. April 1818 bestätigt hatte, trafen sich die Kommissionsmitglieder unter dem Vorsitz Gottfried August Ludwig Hansteins (1761–1821) am 24. Juli 1818, um über die Grundsätze der Bearbeitung eines künftigen Gesangbuchs zu beraten und diese der Synode vorzulegen. Nach Abschluss der zweiten Sitzungsperiode der Synode, die vom 18. August bis zum 1. September tagte, nahm die Kommission ihre Arbeit am 22. Oktober wieder auf. Auf dieser Sitzung wurden die alten, vorrationalistischen Gesangbücher aufgeteilt, aus denen jedes Mitglied diejenigen Lieder benennen sollte, die ihm für die Aufnahme in das neue Gesangbuch geeignet erschienen.101 Aus den Vorschlägen wurde zunächst eine alphabetisch geord100 101
KGA I/9, S. 488 Schleiermacher übernahm in dieser Phase die Durchsicht des Stettinischen und des Stralsunder Gesangbuchs sowie des Gesangbuchs der Herrnhuter Brüdergemeine. In der zweiten Phase, die 1823 begann und in der die neuen Liederbücher gesichtet wurden, wählte er das Jauersche, das Bremer und das Rigaer Gesangbuch sowie die Liedersammlungen von Garve und Döring. Insgesamt hat Schleiermacher für das Berliner Gesangbuch mindestens 144 Lieder bearbeitet, mehr als die Hälfte davon entstammten den neuen Gesangbüchern. Dabei zeigt sich eine Vorliebe Schleiermachers für die herrnhutische und baltische Liedtradition, die bereits bei seinen Liederblättern festgestellt werden kann (vgl. Bernhard Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, Schleiermacher-Archiv 20, Berlin/New York 2002, S. 225–229).
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nete Liste erstellt. Am 11. Februar 1819 begann die Kommission dann mit der redaktionellen Bearbeitung der in Vorschlag gebrachten Lieder. Dazu traf man sich zunächst vierzehntäglich Donnerstag abends von 18 bis 22 Uhr umschichtig in den Wohnungen der Mitglieder. Die einzelnen Lieder durchliefen dabei einen mehrstufigen Redaktionsprozess: nachdem ein Lied vorgeschlagen und angenommen worden war, wurde es einem Mitglied zur Bearbeitung übertragen. Dieses stellte dann seine Bearbeitung in der Kommission vor, die kollegial darüber beriet und über die Annahme abstimmte. Daraufhin redigierte der jeweilige Revisor seine Version gemäß den Vorgaben der Kommission und übergab sie in das Archiv. Konnte die Kommission sich nicht auf ein gemeinsames Votum einigen, wurde das Lied vorerst zurückgestellt und konnte zu einem späteren Zeitpunkt erneut beraten werden. Zwischen Juni und Oktober 1819 unterbrach die Kommission ihre Arbeit, vermutlich wegen der Provinzialsynode, die vom 4. bis zum 22. Juni in Berlin zusammentrat und an der mehrere Kommissionsmitglieder teilnahmen.102 Erst am 11. November trat die Kommission wieder zusammen und setzte ihre Arbeit ohne weitere Unterbrechungen bis zum Frühjahr 1827 fort. Das fertige Manuskript wurde am 19. April 1827 dem Konsistorium übergeben und erschien noch im November 1829 im Verlag G. Reimer, nachdem der König am 16. November seine Einführung genehmigt hatte. Mit dem Abschluss der Arbeit der Gesangbuchkommission kam der Druck eigener Liederblätter Schleiermachers zu einem organischen Ende. Ihr Zweck war mit der Einführung eines den religiösen Empfindungen und Bedürfnissen der Gemeinde entsprechenden neuen Gesangbuchs erfüllt.103
3. Stadtverordnetenwahl Die im Jahr 1809 eingeführte Städteordnung, die auf die reformpolitischen Ideen des Ministers Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757–1831) zurückgeht, der „eine umfangreiche politische, admini102
103
Schleiermacher hatte noch am 2. Juni gegenüber Gaß über die hohe Arbeitsbelastung geklagt: „Nun wünsche uns vor allen Dingen nur Gottes Segen zu unserer Provinzialsynode. Berichten will ich Dir dann schon, was sich ergeben hat. Wie ich aber in der Zeit fertig werden will, – von 6 bis 9 Uhr lesen, von 9 bis 3 Uhr in der Synode, dann gehen noch Akademie, Gesangbuchs-Commission und Seminarium ihren Gang, und nichts vorgearbeitet für die Collegia, – nun man muß durch!“ (Briefwechsel mit Gaß, S. 174) Über die vielfältigen Querverbindungen zwischen den Liederblättern und der Arbeit der Kommission informiert Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 253– 260.
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strative und soziale Umgestaltung nach der Leitidee der Selbstverwaltung“ anstrebte104, sah eine stärkere Beteiligung der Bürger an der kommunalen Selbstverwaltung vor. Dazu waren jährlich Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung abzuhalten, die erstmals vom 18. bis zum 22. April 1809 durchgeführt wurden.105 Gewählt wurde in 102 Wahlbezirken. Als Wahllokale dienten die Berliner Stadtkirchen. Der Bürgermeister ersuchte die Gemeinden, Tische und Stühle bereit zu stellen und die Kirchendiener mit den notwendigen Vorbereitungen zu beauftragen. Stimmberechtigt waren alle männlichen Bürger der Stadt, sofern sie über ein Mindesteinkommen von 200 Talern verfügten. Mit dem Stimmrecht war die Wahlpflicht verbunden. Eine weitere Einschränkung bestand darin, dass von den Stadtverordneten eines Bezirks und ihren Stellvertretern mindestens zwei Drittel über Wohneigentum in der Stadt verfügen mussten.106 Die Wahl wurde mit einer gottesdienstlichen Handlung eröffnet, deren liturgischer Ablauf in Verhandlungen zwischen den Superintendenten, dem Magistrat der Stadt und Vertretern des Hofes festgelegt wurde. Um 8.30 Uhr wurde geläutet, und das Orgelvorspiel setzte um 9 Uhr ein. Zu Beginn des Gottesdienstes sang die Gemeinde das Lied „Es wolle uns Gott gnädig seyn“, darauf folgte die Ansprache mit anschließendem Gebet. Die gottesdienstliche Feier schloss mit einem erneuten Gesang der Gemeinde („Nun danket alle Gott“). Dieses liturgische Formular ist über längere Zeit hin in Geltung geblieben und darf auch für den Gottesdienst am 18. Juni 1817 vorausgesetzt werden. Die Kollektengelder, die eingesammelt wurden, wurden anteilig unter die Bedürftigen und die Kirchendiener aufgeteilt.107 Schleiermacher hat regelmäßig Gottesdienste zur Stadtverordnetenwahl gehalten. Für den Zeitraum der Jahre 1816–1819 sind zwei Predigttermine belegt. Die Predigt vom 27. Juni 1816 ist leider nicht durch eine Nachschrift dokumentiert, aber für den 18. Juni 1817 ist ein Manuskript von L. Jonas überliefert. Schleiermacher hat in diesem Gottesdienst über einen alttestamentlichen Text gesprochen, wie er es bei staatlichen Gedenkfeiern häufig tat. Der Predigttext aus Spr 16,13–14 reflektiert das Verhältnis zwischen dem König und seinen politischen Ratgebern, das Schleiermacher auf die politische Verant104
105 106 107
Vgl. KGA I/9, S. XIII. Schleiermacher hatte zur Einführung der Städteordnung am 15. Januar 1809 über Röm 13,1–5 gepredigt und darin seine Hörer ganz im Sinne der Steinschen Reform zu einer engagierten Mitwirkung für das städtische Gemeinwesen aufgefordert (vgl. KGA III/4, S. 3–15). Schleiermacher hielt zu diesem Anlass die Wahlrede in der Dreifaltigkeitskirche (vgl. KGA III/1, S. 833). Vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 66–67 Vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 68
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wortung der Bürger im preußischen Staat überträgt. Menschengefälligkeit und Menschenfurcht können das gegenseitige Vertrauen zwischen Oberen und Unteren stören, so dass die Gefahr besteht, dass die Bürger ihre Überzeugung nicht mehr frei äußern, sondern der Obrigkeit nach dem Munde reden. Dagegen setzt Schleiermacher das Vertrauen, dass der König den liebt, der ihm geradezu rät, wie es seiner aufrichtigen Überzeugung in der Sache entspricht: „Dahin führt uns überdies auch das eigenthümlich Christliche. Da ist keine Furcht, sondern da ist Liebe, Bruderliebe und auf dieser Bruderliebe, die auf keinen Unterschied der Person sieht, ruht wieder das Vertrauen, daß auch alle andern nichts anderes wollen als nur die Förderung der Sache, und daß sie diejenigen lieben, die geradezu reden.“108 In diesem Sinn rät Schleiermacher seinen Hörern abschließend, ihre Stimme keinem anderen zu geben, „als nur dem, der nach Ihrer Ueberzeugung für das Ganze am besten wirken kann“.109 Das Bild der bürgerlichen Partizipation an den politischen Diskursen, das er hier zeichnet und das er in der Städteordnung partiell realisiert sieht, entspricht ganz seinem eigenen staatsbürgerlichen Selbstverständnis, wie es seine vielfältigen öffentlichen Stellungnahmen in dieser Zeit widerspiegeln. Nicht zuletzt die Anspielung auf eine künftige konstitutionelle Verfassung in der abschließenden Segensbitte unterstreicht die politische Stoßrichtung seiner Ansprache. „[...] so bitten wir Gott, daß er das Geschäft, was heute in den Kirchen unsrer Hauptstadt vorgenommen wird, wolle gesegnet seyn lassen, daß er diese wahrhaft zweckmäßige Anstalt zum Wohle des Ganzen gedeihen lasse und daß darauf sich bald noch etwas Größeres gründe noch mehr das wahre Wohl des ganzen Befestigendes“.110
4. Totenfest und Totensonntag Am 23. November 1817 wurde in den evangelischen Kirchen Preußens erstmals ein allgemeines Kirchenfest zum Gedächtnis der Verstorbenen (Totensonntag) gefeiert. Vorausgegangen war dieser liturgischen Einrichtung eine Totenfeier zum Gedenken der in den Befreiungskriegen Gefallenen, die Friedrich Wilhelm III. für den 4. Juli 1816, den Jahrestag der Kapitulation von Paris und des Waffenstillstands, befohlen hatte. Das Verhältnis beider Gedenkfeiern zueinander ist unterschiedlich bestimmt worden. Schleiermacher selbst hat 108 109 110
Unten S. 164,8–13 Unten S. 164,32–33 Unten S. 164,33–37
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in der Vorrede zum ersten Band seiner „Christlichen Festpredigten“ beide Feiern eng aufeinander bezogen. „Eine ähnliche Bewandniß [sc. eines staatlich angeordneten Festes] hat es mit dem Todtenfest, von welchem ich – besonders bei seinem denkwürdigen Ursprunge, indem es aus der Gedächtnißfeier für die in den lezten Kriegen Gebliebenen entstanden ist – beklage, daß es sich meines Wissens nicht über den preußischen Staat hinaus verbreitet hat.“111 Die behördlichen Verlautbarungen korrigieren zwar den Eindruck einer unmittelbaren Genese des allgemeinen Kirchenfestes zum Gedächtnis der Verstorbenen aus der einmaligen Gedenkfeier für die Gefallenen, ihr mentalitätsgeschichtlicher Zusammenhang, der auch hinter der Äußerung Schleiermachers zu vermuten ist, sollte jedoch nicht bestritten werden.112 Bereits am 5. Mai 1813 hatte Friedrich Wilhelm III. eine Totenfeier für die in den Kriegen gegen das napoleonische Frankreich Gefallenen angekündigt, diese Ankündigung jedoch erst auf verschiedene Anfragen von außen hin 1816 wieder aufgegriffen.113 Er kam damit einem weit verbreiteten Bedürfnis entgegen, das schon früher an mehreren Orten Anlass zur Abhaltung von Totenfeiern gegeben hatte.114 In einer Kabinettsorder vom 24. März 1816 setzte er den Jahrestag der Kapitulation von Paris als Termin für eine einmalige kirchliche Totenfeier zum Gedächtnis der im Krieg Gefallenen fest. Die Anordnung wurde den Konsistorien vom Ministerium gemeinsam mit der Auswahl der Predigttexte und den liturgischen Formularen am 21. Mai zugeleitet. Das Konsistorium der Provinz Brandenburg machte die Verfügung den Superintendenten in einem Zirkularschreiben vom 6. Juni bekannt: „Des Königs Majestät haben eine kirchliche Todtenfeier zum Gedächtnis der im Felde gefallenen Krieger in dem Umfange der ganzen Monarchie anzuordnen geruhet. Diese soll am 4ten Juli, als dem Tage, an welchem im Jahr 1815 gleich nach dem letzten entscheidenden Gefechte der Waffenstillstand und die Kapitulation von Paris geschlossen wurde, gehalten und sowohl am Vorabend als in 111 112
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Christliche Festpredigten. Erster Band, Berlin 1826, S. V Vgl. Richard Franke: Zur Geschichte und Beurteilung des Totensonntags. Mit Berücksichtigung heidnischer Totenfeste und des katholischen Allerseelentages, in: „Halte was du hast.“ Zeitschrift für Pastoral-Theologie, Jg. 12, Berlin 1899, S. 14– 28.66–81, hier S. 69 Vgl. Heinz Hoffmann: Totengedächtnis und Totenfeier am Anfang des 19. Jahrhunderts. Quellen und Dokumente im Zusammenhang mit der Einführung des Totenfestes in Preußen 1816 (Typoskript), o. O. 1976, S. 33 Vgl. Paul Graff: Beiträge zur Geschichte des Totenfestes, in: Monatschrift für Pastoraltheologie zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens, Jg. 1, Berlin 1905, S. 62–76, hier S. 63
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der Frühe des Tages der Feier selbst durch das Läuten mit allen Glokken jedes Orts angekündigt werden. Wo die Aerarien der Kirchen die Ausgabe gestatten oder die Gemeinden solche übernehmen wollen, wird es schicklich seyn, den Altar – nicht die Kanzel – schwarz zu behängen, und Wachskerzen auf selbigem anzuzünden. Die Schulkinder können in Prozession, auch unter Absingen eines passenden Liedes zur Kirche geführt, und denjenigen Gemeindegliedern, welche mit Trauerkleidern versehen sind, kann es empfohlen werden, in solchen bei dem Gottesdienste zu erscheinen. Dagegen ist bei der Feier alles unangemessene und namentlich alles mit der Würde eines christlichen Gottesdienstes unverträgliche, die wahre Andacht und Erbauung störende Gepränge gänzlich zu vermeiden. // Die Predigt über die Worte der heiligen Schrift // I. Makkab. 9,10. Ist unsre Zeit gekommen: so wollen wir ritterlich sterben, um unsrer Brüder willen, und unsre Ehre nicht lassen zu Schanden werden; // verbunden mit // Jakobi 5,11. Siehe wir preisen seelig, welche erduldet haben, zu halten und werden die Prediger nach geschehener Erwähnung des Anlasses der Feier im Allgemeinen und der in Beziehung auf die aus jeder einzelnen Gemeinde im Kampfe für das Vaterland gefallenen Krieger anzuführenden besonderen Umstände den zum Grunde gelegten Text tröstend und ermahnend benutzen, um den Sinn der Hingebung für das allgemeine Beste, womit die Söhne des Vaterlandes in den heiligen Kampf zogen und ihn bestanden, als ächt christlich, den Tod fürs Vaterland, den Viele von ihnen starben, in seiner hohen Würde und Verdienstlichkeit darzustellen, und dabei auf die christliche Hoffnung unvergänglicher Fortdauer und Vergeltung hinzuweisen, damit diese vaterländische Feier nicht sowohl schmerzliche Gefühle von neuem anrege und nähre, als viel mehr ermutigend und erhebend auf die Erhaltung und Belebung des wahrhaft religiösen Patriotismus, welcher auch das Leben für die Brüder zu lassen freudig bereit ist, hinzuwirken.“115 Schleiermacher verbindet in seiner Ansprache auf die ihm eigene Weise vaterländische Gesinnung und staatsbürgerliche Verantwortung. In der Einleitung nimmt er das allgemein empfundene Bedürfnis nach einer öffentlichen Gedenkfeier für die im Krieg Gefallenen auf und knüpft daran den Gedanken der Seligpreisung an. Die Bereitschaft zum Kampf für das Vaterland bis zur Hingabe des eigenen Lebens, die jene antrieb, war das allgemeine Gefühl jener großen Zeit, „daß die Stunde nun geschlagen habe zu entscheiden über wahres Seyn oder Nichtseyn, über Freiheit oder Knechtschaft über alle edlen 115
Rudolf Jungklaus: Wie die Ereignisse der Freiheitskriege zu ihrer Zeit in Berlin kirchlich gefeiert worden sind, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte, Jg. 11/12, Berlin 1914, S. 304–330, hier S. 327–328
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und hohen Güter, die theils schon entrissen, theils in jedem Augenblicke entrissen zu werden in Gefahr standen und in diesem Gefühl, daß die Stunde gekommen sey, wollten sie alle ritterlich sterben für ihre Brüder.“116 In der Bereitschaft, das Leben für etwas Größeres hinzugeben, spreche sich die höchste Freiheit und der reinste, geistige Genuss desselben zugleich aus. Darum soll neben den tief empfundenen Schmerz über den Verlust das Gefühl des preisenden Gedenkens treten. Indem Schleiermacher jedoch den vaterländischen Gedanken mit dem Schutz der höchsten geistigen Güter gleichsetzt, schlägt er eine Brücke vom rückblickenden Andenken an die Verstorbenen zu ihrer Mahnung an die Lebenden, sich jederzeit für den Erhalt dieser Güter einzusetzen. „[...] ja auch da fliehe keiner von dem Orte, der ihm angewiesen ist, auch da wisse jeder ritterlich auszustehen alles, was zu dulden ist für das Wohl der Brüder und so oft einer nach reiner Prüfung vor Gott gewiß ist, die Stunde sey gekommen, wo für dieses oder jenes Gut gekämpft werden müsse, da stehe auch jedem vor Augen das Vorbild der Tapferkeit, das uns die Vollendeten gegeben haben!“117 Eine echt vaterländische Gesinnung zeigte sich für Schleiermacher gerade in der Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit den staatlichen Behörden, wenn der Schutz der höchsten geistigen Güter in Gefahr geriet, wie er es selbst gerade zu dieser Zeit empfand. Stehen die vaterländische Gesinnung und die Einmaligkeit der Gedenkfeier für die in den Befreiungskriegen Gefallenen außer Frage, so zielte die Einrichtung eines Kirchenfestes zum Gedächtnis der Verstorbenen von Beginn an auf eine jährlich wiederkehrende Feier, die einem allgemeinen Totengedenken gewidmet war. Das Bedürfnis einer kirchlichen Totenfeier war oft geäußert worden und die Durchführung kirchlicher Gedenkfeiern für die Verstorbenen in vielen Gemeinden bereits eingerichtet.118 Schleiermacher hatte bereits 1804 eine öffentliche Gedenkfeier für die verstorbenen Gemeindeglieder angeregt: „Eben so sollte anstatt der mit Recht immer mehr aus dem Gebrauch kommenden Leichenreden von Zeit zu Zeit ein öffentliches Andenken der verstorbenen Mitglieder der Gemeine gefeiert werden. Mit Rührung erinnert sich der Verfasser an den schönen Eindruck, den es bei einer der angesehensten Gemeinen einer großen Stadt machte als vor wenigen Jahren ein würdiger allgemein verehrter Religionslehrer gele116
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Unten S. 52,14–19 „Die aber so vollendet haben im Kampf für das Heilige und Rechte in einem Kriege, dem das ganze Herz entgegenbrannte, die sind seelig zu preisen.“ (52,41–43) Unten S. 54,22–27 Vgl. Graff: Geschichte des Totenfestes, S. 64–66
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gentlich diese Idee ausführte.“119 Dagegen hatte sich das Gutachten der vom König eingesetzten „Geistlichen Kommission“ vom 6. Januar 1815 zurückhaltend gegenüber der Einführung neuer kirchlicher Feste wie des Totenfestes geäußert und darin die Zustimmung des Ministeriums und des Königs gefunden.120 Nur ein knappes Jahr später hatte sich die Ansicht des Königs jedoch grundlegend geändert, wozu nicht zuletzt die große Anteilnahme an der Totenfeier vom 4. Juli 1816 beigetragen haben wird. In einer Kabinettsorder vom 29. September 1816 beauftragte er den zuständigen Minister von Schuckmann mit der Einholung von Gutachten bezüglich der Einrichtung eines allgemeinen Kirchenfestes zum Gedächtnis der Verstorbenen: „Die Erinnerung an verstorbene theure Personen durch die Religion zu heiligen und ihr Andenken an heiliger Stätte in Andacht zu feiern spricht den frommen Sinn des edleren Menschen so innig an, daß es Mir angemeßen zu seyn scheint, eine jährliche allgemeine Todtenfeier, als ein Kirchenfest, anzuordnen. Bevor Ich Mich indeßen hierüber entscheide, will ich das Gutachten der beyden Bischöfe und der geistlichen Comißion, von Ihrem darüber zu erstattenden Bericht begleitet, erwarten, und alsdann das Weitere beschließen.“121 Ein Bezug auf die Gedenkfeier vom 4. Juli findet sich in diesem Dokument nicht. Stattdessen ist hier von einem allgemeinen Totengedenken die Rede. Ein Verständnis der Feier als Gedächtnis der im zurückliegenden Jahr verstorbenen Gemeindeglieder, wie es in den Gutachten zum Ausdruck kam, widersprach der Absicht des Königs und wurde später ausdrücklich zurückgewiesen. Der Termin des Festes, der zunächst unbestimmt geblieben war, wurde auf Vorschlag der „Geistlichen Kommission“ auf den letzten Sonntag des Kirchenjahres gelegt. Nachdem der Minister dem König am 9. November seinen Bericht vorgelegt hatte, verfügte Friedrich Wilhelm III. mit Kabinettsorder vom 17. November 1816 die Einrichtung eines allgemeinen Kirchenfestes zur Erinnerung an die Verstorbenen. „Das jährliche allgemeine Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen [...] soll nicht gerade auf die im Lauf des Jahres Verstorbenen beschränkt seyn, sondern überhaupt das Andenken an die Hingeschiedenen erneuern, die jeder nach seinen individuellen Verhältnißen ehrt, und welches in religiöser Andacht zu feiern, er gern veranlaßt ist. [...] Es soll demnach ein jährliches allgemeines Kirchen119 120
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KGA I/4, S. 438,8–14 Vgl. Foerster: Entstehung der Preußischen Landeskirche, Bd. 1, S. 341. Der König hatte zum Bericht des Ministers über das Gutachten am Rand notiert: „Keine neuen Feste“ (402). Hoffmann: Totengedächtnis (Urkundenteil), S. 23
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fest zum Andenken und Erinnerung an die Verstorbenen, am letzten Sonntage des Kirchenjahres in allen evangelischen Kirchen Meiner Staaten beider Confessionen gefeiert, dasselbe jedesmal 8 Tage zuvor von den Kanzeln abgekündigt und am Vorabend eingeläutet werden, der Gottesdienst durch eine eigene angemeßene Liturgie ausgezeichnet, der Altar schwarz behangen und mit zwey brennenden Kerzen besetzt, sonst aber aller dem evangelischen Gottesdienste fremder Prunk untersagt seyn. Die Wahl des Textes zur Predigt ist den Predigern überlaßen und die namentliche Anführung von Verstorbenen unterbleibt, wie sich von selbst versteht gänzlich.“122 Den Konsistorien wurde die Einrichtung des neuen Festes in einer ministeriellen Verfügung vom 25. November bekannt gemacht verbunden mit der Aufforderung, sie den Superintendenten ihrer Parochien zur Kenntnis zu bringen. Das Konsistorium der Provinz Brandenburg kam der Anordnung in einem Zirkular vom 21. Dezember 1816 nach. Die öffentliche Bekanntmachung erfolgte am 17. Januar 1817 im Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam.123 Das Fest wurde in Preußen erstmals am 23. November 1817 gefeiert. Schleiermacher hat an diesem Sonntag seine Homilienreihe über den Philipperbrief mit der Auslegung von Phil 3,12–14 fortgesetzt und die Worte des Textes kunstfertig mit dem neuen Kasus verknüpft. Was von den Toten zurückbleibt, „ist das lebendige Bild seines geistigen Werthes, das ist es [...], was, nachdem der Mensch selbst hinweg ist, noch einen dauernden Einfluß auf unser Leben ausübt.“124 Dieses Bild, das im Einzelnen sehr unterschiedlich sein kann, stimmt doch darin stets überein, das in jedem Christus selbst sichtbar wird, „der den Einen schnell, den Andern langsam, den Einen bewußt, den Andern unbewußt, den Einen heller, den Andern dunkler zu demselben Ziele hintrieb, welches auf der Erde keiner erreichen soll.“125 Das Andenken der Verstorbenen wird von Schleiermacher mithin konsequent christologisch interpretiert. Darin liegt der tiefe Trost, dass die Gemeinde in Christus mit den Verstorbenen für immer verbunden ist. „Wir sind ergriffen von Christo Jesu. Diejenigen, die uns auf diesem Schauplatze verließen, sind auch von ihm ergriffen gewesen und so haben wir in 122
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Hoffmann: Totengedächtnis (Urkundenteil), S. 31–32. Schleiermacher hat sich später kritisch zu diesem Vorgang geäußert, insofern der König ohne vorherige Beauftragung durch die Gemeinden in das liturgische Recht der Kirche eingegriffen habe (vgl. KGA I/9, S. 250,18–251,21). Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam, Jg. 2, Nr. 3, 17. Januar 1817, S. 32–33 Unten S. 282,27–30 Unten S. 283,27–30
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dem Erlöser mit ihnen immer noch ein gemeinsames Leben, in ihm finden wir sie alle, finden wir unsre Gemeinschaft wieder.“126
5. Die Berlinische Kreissynode Schleiermacher hatte bereits im Spätjahr 1808 einen „Vorschlag zu einer neuen Verfaßung der protestantischen Kirche für den preußischen Staat“ ausgearbeitet.127 Der Entwurf, der vermutlich auf eine Anregung des Ministers vom und zum Stein zurückgeht, der eine tiefgreifende Reform der Staatsverwaltung beabsichtigte, die auf eine stärkere Partizipation der Bürger abzielte, blieb jedoch im Begutachtungsverfahren stecken.128 Schleiermacher war darin für eine weitgehende Loslösung der Kirche vom Staat eingetreten. An die Stelle der Konsistorien sollte eine Synodalverfassung treten und dem Staat lediglich ein Aufsichtsrecht verbleiben. Der Widerstand gegen ein solches konstitutionelles Verfassungskonzept kam bereits in dem Votum Johann Wilhelm Süverns (1775–1829) zum Ausdruck129 und sollte mit Beginn der Restauration jeden Reformansatz im Keim ersticken. Ein zweiter Entwurf zu einer „Synodal Ordnung für die protestantische Geistlichkeit in sämmtlichen Provinzen“ vom 2. Januar 1813 blieb ebenfalls wirkungslos.130 Erst nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich erhielt die Verfassungsdiskussion neuen Auftrieb. Friedrich Wilhelm III. setzte am 15. September 1814 eine „Commission zur Prüfung der Vorschläge zur Verbesserung des protestantischen Kirchenwesens“ ein, deren Aufgabe im Publikandum vom 17. September jedoch dahin eingeschränkt wurde, „Vorschläge über die zweckmäßigsten Verbesserungen des Gottesdienstes durch die obere geistliche Behörde“ zu unterbreiten, damit eine „Gleichförmigkeit der kirchlichen Gebräuche“ 126
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Unten S. 285,15–19. In der Predigt vom 21. November 1819, Schleiermachers Geburtstag, über 1Petr 4,5–8a bedenkt er die Vergänglichkeit alles Irdischen und die Verantwortung, die daraus für das irdische Leben vor Gott erwächst. Vgl. KGA I/9, S. XXV–XXX Am 17. Dezember 1809 schrieb Schleiermacher an Karl Gustav von Brinckmann: „Es sah einen Augenblick aus als sollte ich noch auf eine andere Weise wirksam werden. Ich hatte zum Theil auf Steins Veranlassung einen Entwurf gemacht zu einer ganz neuen Kirchenordnung für unsern Staat; er war auch zu meiner großen Freude im Ganzen angenommen worden, scheint aber jezt auch zu dem zu gehören was bei Seite gelegt wird.“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 173) Vgl. KGA I/9, S. XXVII–XIX Vgl. KGA I/9, S. XXXII–XXXVII
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erzielt werden könne.131 Damit war die Arbeit der Kommission auf eine Liturgiereform beschränkt, was Schleiermacher zu einer scharfen Replik veranlasste.132 Er kritisierte, dass Verbesserungen in Sachen der Religion und des Gottesdienstes nur als Folge einer kirchlichen Verfassungsreform erreicht werden könnten. Der Auftrag der Kommission sei daher dringend zu erweitern. Aber nicht nur Schleiermacher vertrat diese Ansicht; die Kommissionsmitglieder selbst interpretierten ihre Aufgabe ganz in diesem Sinne und legten in ihrem umfangreichen Bericht vom 6. Juni 1815 unter anderem Vorschläge zu einer Reform der Kirchenverfassung vor133, die zwar auf eine stärkere Selbstverwaltung der Kirche hinzielten, das landesherrliche Kirchenregiment jedoch nicht in Abrede stellten. Nach einer längeren Begutachtung seitens der Behörden verfügte der König in der Kabinettsorder vom 27. Mai 1816 die Bildung von Presbyterien in den Gemeinden und die Einrichtung von Synoden auf Kreis- und Provinzebene. Die geistlichen Konsistorien, die erst am 30. April 1815 in allen Provinzen Preußens neu eingerichtet worden waren, wurden dagegen belassen.134 Die Aufgaben der Synoden sollten in der Beratung und Unterstützung der Behörden bestehen. In einer weiteren Kabinettsorder vom 26. November 1816 wurde nach Ablauf von fünf Jahren die Einberufung einer Generalsynode in Aussicht gestellt. Am 2. Januar 1817 teilte das Ministerium den Provinzialkonsistorien die königlichen Beschlüsse mit, die das Berliner Konsistorium am 13. März im Amts-Blatt öffentlich bekannt gab: „Des Königs Majestät haben, auf die Vorschläge der Allerhöchst angeordneten geistlichen Commission, und den darauf erstatteten Bericht des Staatsministeriums, in Betreff der Verbesserung des protestantischen Kirchenwesens, Allerhöchste Bestimmungen, zu erlassen geruhet, von denen vorläufig nachstehende, vorzüglich die Kirchenverfassung betreffende, zur allgemeinen Kenntniß gebracht werden. // 1) Soll da, wo solches noch nicht statt findet, in jedem Kirchenspiele ein Presbyterium oder Kirchenkollegium aus dem Geistlichen und dem Patrone, bei Patro131
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KGA I/9, S. XXXIX. Das Publikandum hatte der Minister von Schuckmann verfasst, der bereits in seinem Bericht über die Eingabe der kurmärkischen Superintendenten an den König vom 9. September 1814 das Anliegen einer Verfassungsreform zugunsten einer Agendenreform modifiziert hatte (vgl. XVII–XVIII Anm. 21). Glückwünschungsschreiben an die Hochwürdigen Mitglieder der von Sr. Majestät dem König von Preußen zur Aufstellung neuer liturgischer Formen ernannten Kommission, Berlin 1814 (vgl. KGA I/9, S. XXXVIII–XLVI) Vgl. Foerster: Entstehung der Preußischen Landeskirche, Bd. 1, S. 360–381 Schleiermacher hatte bereits am 6. Januar 1816 brieflich gegenüber A. Twesten die Befürchtung geäußert, dass die neue Einrichtung der geistlichen Staatsbehörden der Reform der Kirchenverfassung schaden würde (vgl. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 227).
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natskirchen, auch einigen Gemeindegliedern bestellt werden, welche das Wohl und die Gerechtsame der Kirche wahrzunehmen haben. // 2) Die protestantische Geistlichkeit jedes Superintendentur-Sprengels soll unter dem Vorsitze des Superintendenten eine Kreissynode bilden. Wenn die Geistlichen beider protestantischen Confessionen sich in eine Synode vereinigen, so wird solches Sr. Majestät dem Könige zum Wohlgefallen gereichen, jedoch sollen sie hiezu keineswegs gezwungen werden. // Die Bestimmung dieser Synoden ist: Beförderung fortzuschreitender Ausbildung der Geistlichkeit und eines würdigen Betragens derselben, weshalb ihnen auch die Handhabung der Disciplin über Geistliche und Candidaten des Predigtamtes durch Ermahnung, Zurechtweisung und, wo dieses nicht genügt, Anzeige an die geistliche Behörde zustehen soll; ferner, Berathung der innern Angelegenheiten der Kirche zur Erhaltung der Einigkeit in der Lehre und Lithurgie, desgleichen die Aufsicht auf die Ausbildung der Candidaten und auf die Volksschulen und ins besondere auf den Religionsunterricht in allen Schulen. – // Aenderungen, welche die Kreissynoden in den innern Angelegenheiten der Kirche nach ihrer Berathung für nöthig erachten, müssen durch die Superintendenten // 3) in der Provinzialsynode zur Prüfung gebracht werden, welche in jeder Provinz aus sämmtlichen Superintendenten unter dem Vorsitze eines General-Superintendenten gebildet werden, und sich, nachdem es nöthig ist, ein oder zweimal im Jahre versammeln und die innern Angelegenheiten der Kirche der ganzen Provinz, berathen soll. Ihre Beschlüsse sollen dem Consistorium der Provinz vorgelegt, von diesem geprüft, und mit dessen Gutachten dem königl. Ministerium des Inneren eingesendet werden. Eine noch zu erwartende Synodalordnung wird die weiteren und specielleren Bestimmungen, in Betreff der zu bildenden Presbyterien und Synoden festsetzen. [...] // 5) Um alle diese Vorbereitungen eines besseren Zustandes der evangelischen Kirche zu einem festen und großen Ziele zu führen, soll nach Verlauf von fünf Jahren über die Vorschläge der Kreis- und Provinzialsynoden zur Verbesserung des Kirchenwesens eine Generalsynode hier in der Residenz zusammen berufen, und es sollen deren Beschlüsse Sr. Majestät Allerhöchst Selbst vorgelegt werden.“135 In einem Schreiben vom 12. Juni 1817, dem der von dem Berliner Hofprediger Friedrich Ehrenberg angefertigte „Entwurf der SynodalOrdnung für den Kirchenverein beider evangelischer Confessionen im Preußischen Staate“ beilag, der auf ministerielle Verfügung den Kreissynoden als Grundlage ihrer Beratungen dienen sollte, trug das Kon135
Amts-Blatt der Königlich-Preußischen Regierung zu Berlin, Jg. 2, Nr. 11, 19. März 1817, S. 76–77
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sistorium der Provinz Brandenburg den reformierten Superintendenten an, ob die reformierten Prediger sich mit ihren lutherischen Amtskollegen zu einer gemeinsamen Kreissynode vereinigen wollten. Samuel Marot (1770–1865), Superintendent der reformierten Inspektion Berlin, lud daraufhin alle reformierten Geistlichen Berlins am 8. Juli zu einer beratenden Versammlung ein, auf der beschlossen wurde, eine gemeinsame Synode mit den lutherischen Predigern zu bilden, sofern diese ebenfalls dazu befragt würden und ihre Zustimmung gäben. Außerdem sollte der Präses der Synode entweder gewählt werden oder der Vorsitz alternierend zwischen lutherischem und reformiertem Superintendenten wechseln.136 Unter dem Vorsitz des lutherischen Oberkonsistorialrats Hecker versammelten sich alle reformierten und lutherischen Geistlichen Berlins am 1. Oktober zu einer „Vorsynode“, auf der mit großer Mehrheit beschlossen wurde, die drei lutherischen Superintendenturen Berlin-Stadt, Cölln-Stadt und Friedrichswerder sowie die reformierte Inspektion Berlin zu einer Berliner Kreissynode zu vereinigen, und Schleiermacher, der gegen die Vereinigung gestimmt hatte, zum Präses gewählt wurde.137 Das Konsistorium bestätigte die Wahl mit Schreiben vom 16. Oktober und beauftragte Schleiermacher sogleich mit der Einberufung der Synode. Als Präses hatte Schleiermacher die Predigt zur Eröffnung der Synode am 11. November 1817 zu halten. Im Konvokationsschreiben vom 5. November hieß es: „Eine unterm 16. October – eingegangen den 27. – an mich erlassene Verfügung des Hochwürdigen Consistorii enthält die Bestätigung unserer Verhandlungen am 1. vorigen Monats, und giebt mir auf Meine Herren Brüder nun definitiv auf den 11. huius zur Abhaltung der ersten Synode einzuladen, welches ich hiermit schuldigermaßen thue, und Sie ergebenst ersuche sich um 9 Uhr zu der von mir zu haltenden Synodalpredigt in der Dreifaltigkeitskirche einzufinden, um 10 Uhr aber zu der Versammlung selbst im Saale des Friedrich Wilhelms Gymnasiums. Es scheint mir der Würde der Sache angemessen, daß wir auch in der 136 137
Vgl. Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 220–221 Vgl. Albrecht Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzungen um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen (1799–1823), Unio und Confessio 20, Bielefeld 1997, S. 174–176. Schleiermacher hatte bereits vorab am 15. September in einem Schreiben an L. Blanc räsoniert: „Es scheint übrigens entschieden zu sein, daß nur Eine Synode in Berlin gebildet wird; ob der Präses derselben aber gewählt oder vom Ministerio ernannt werden wird, weiß ich noch nicht. Einige sagen auch, Ribbeck und Hanstein als Generalsuperintendenten wollten sich selbst vom Präsidio der Kreissynoden ausschließen; doch weiß ich das nur als Gerücht. Dann würden wol die Wahlen zwischen Hecker und Küster schwanken; beide werden zu schwach sein, um die Versammlung wenn sie lebendig wird zu regieren.“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 223)
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Versammlung jedesmal in unserer vollen Amtskleidung erscheinen, und ich sehe voraus, daß Meine Herren Brüder hierin mit mir übereinstimmen werden.“ Als Gegenstand der Verhandlungen benannte Schleiermacher einzig „die Berathung des Entwurfs zur Synodalordnung“, alle weiteren Gegenstände, allen voran der Unionsaufruf des Königs, der am 9. Oktober veröffentlicht worden war, seien dagegen auf künftige Beratungen zu verschieben.138 Sein Ansinnen, in der Frage der Union nichts zu übereilen, das er mehrfach ausgesprochen hat, blieb jedoch ohne Erfolg. In einem Schreiben des Konsistoriums vom 7. November wurde die Synode angehalten, „alles, was die Vereinigung der beiden Konfessionen betreffen mochte, ihren Berathungen zu unterwerfen“.139 So kam es, dass die Beratungen über den Entwurf der Synodalordnung zwar bereits nach drei Sitzungen, am 13. November, abgeschlossen werden konnten140, die Angelegenheit der Union dagegen fünf weitere Sitzungstermine erforderte und wegen des Streits über die Akzedentien beinahe gescheitert wäre.141 Schleiermacher wählte als Predigttext für den Gottesdienst zur Eröffnung der Synode Phil 3,12. Der Vers, den er wenige Tage später innerhalb seiner Homilienreihe zum Philipperbrief erneut behandelte, bot mit der Rede vom Ziel, nach dem sich der Apostel ausstreckt, einen Anknüpfungspunkt für die Wirksamkeit der Geistlichen. Die Predigt ist dreigeteilt und bedenkt das Verhältnis der Prediger zu ihrer Gemeinde, zueinander und zur Kirche. In jeder der drei Beziehungen stellt Schleiermacher die Synodalverfassung als ein geeignetes Mittel dar, das Ziel der Kirchenverbesserung zu erreichen. Beim Verhältnis der Geistlichen zu ihren Gemeinden hebt er besonders auf die Einrichtung der Presbyterien ab, die das Band zwischen den Predigern und ihren Gemeindegliedern noch inniger knüpfen, und spricht hier sogar die Gemeinde selbst an: „Hört es denn auch ihr Christen, die ihr hier versammlet seyd [...]. Durch Aeltesten aus eurer Mitte sollen unsre Gemeinen mit uns enger verbunden werden. Sie werden uns eure Wünsche darbringen, ihre Besorgnisse und Bekümmernisse mittheilen, sie werden uns mit der genaueren Bekanntschaft eures Lebens viel Freudiges zeigen, das sich in euch gestaltet und das wir sonst nicht erblicken würden und unsre Wünsche werden sie euch darbringen; wie unsre christlichen Erbauungen noch eindringlicher und das ganze Band noch mehr und mehr ins Leben geflochten werden könne, werden sie euch mittheilen.“142 138 139 140 141 142
Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 292 Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 182 Vgl. Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 182–186 Vgl. Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 191–193 Unten S. 269,24–33
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Im zweiten Abschnitt betrachtet Schleiermacher das Verhältnis der Geistlichkeit zueinander, das von dem Band der brüderlichen Liebe und des gemeinsamen Wirkens aufeinander bestimmt sein soll. Dies war bisher nur vereinzelt möglich, hat jedoch in den Synodalversammlungen eine neue Gestalt gewonnen, so „daß jeder in höherem Maaße, als bisher möglich war, wolthätig auf den andern wirken muß, daß jede Kraft, die sich in dem Einzelnen offenbart, nun für alle gesegnet seyn wird, wie müssen wir es fühlen, daß nicht nur die Starken die Schwachen tragen, sondern daß wir uns alle, durch die Kraft der Liebe beseelt, gegenseitig fördern und heben werden zu einer bisher nicht gekannten Stufe gemeinsamer Wirksamkeit?! So umschlingt uns von nun an alle ein heiliges Band.“143 Der bisherige Zusammenhalt „durch geliebte und geehrte Oberen“, die Superintendenten und geistlichen Konsistorien, vermochte „das unmittelbare Leben der gegenseitigen Einwirkung, was nicht durch den todten Buchstaben der Schrift und des Gesetzes bewirkt werden kann, sondern aus der gegenseitigen Berührung der Geister hervorgeht“, nicht zu gewähren.144 Schließlich ermögliche die Synodalverfassung eine fortwährende Erneuerung der Kirche, auf die der Dienst der Geistlichen gerichtet ist und „deren Jubelfest wir in diesen Tagen mit so inniger Rührung und Theilnahme gefeiert haben. [...] Aber wie könnten wir glauben, kräftig zu wirken, als nur im Vertrauen auf diese Vereinigung, die, indem sie den Christen vor Augen legt unsern Glauben, unsre Ueberzeugung, worauf es ankommt, auch wird Seegen und Gedeihen im Kleinen entstehen lassen, die sonst nicht möglich wären“.145 Schleiermacher wiederholt hier den Grundgedanken seiner kirchenpolitischen Schriften, dass Kirchenverbesserung nur auf dem Boden der Synodalverfassung möglich ist und dass gerade darin das reformatorische Erbe fortwirkt.
6. Das Reformationsjubiläum 1817 Bereits im Gutachten der „Geistlichen Kommission“ vom 6. Juni 1815 findet sich ein Hinweis auf das Bedürfnis einer kirchlichen Feier zum Reformationsgedächtnis in Preußen. „Wir [...] müssen übrigens wünschen, daß, wo andere als die gewöhnlichen Kirchenfeste durch ein altes Herkommen gebräuchlich sind [...], solche festliche Tage, an welche die Gemeinden gewöhnt sind, ohne Noth nicht abgeschafft 143 144 145
Unten S. 270,25–31 Unten S. 270,8–13 Unten S. 271,3–28
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werden, daß namentlich das Reformationsfest, dessen Feier in der protestantischen Kirche von besonderer Wichtigkeit ist und von sehr Vielen gewünscht wird, überall in denjenigen Provinzen des königlichen Staats, in welchen nicht überwiegende Gründe das Gegentheil anrathen möchten, mit würdiger Auszeichnung begangen werde.“146 Das Ansinnen der Kommission, das auf eine jährliche Feier gerichtet war, wurde jedoch unter Verweis auf die gemischtkonfessionellen Territorien zurückgewiesen. Der zuständige Minister von Schuckmann bemerkte dazu in seinem gutachterlichen Bericht an den König: „Auch die allgemeine Feier eines Reformationsfestes kann ich nicht ratsam finden, wenn gleich die Commission darauf anträgt, da jetzt so viele teils ganz katholische, teils gemischte Provinzen Ew. Maj. Zepter unterworfen sind, auch die ganz katholischen unter denselben, mehr und mehr mit Protestanten sich mischen werden, und die Reformationspredigten natürlich meistens den Charakter der Controverspredigten annehmen, welche von den Katholiken in gleichem Geiste erwidert werden würden. So würde dies Fest kein Fest zur Beförderung der christlichen Liebe und Einigkeit.“147 Der König notierte dazu am Rand: „Keine neuen Feste, auch nicht das Reformationsfest.“148 Nach diesem abschlägigen Bescheid griff Friedrich Samuel Gottlieb Sack (1738–1817), eines der Mitglieder der Kommission, den Gedanken im Oktober 1816 wieder auf. Er regte dieses Mal eine Feier zum 300jährigen Reformationsjubiläum in Preußen an. Dazu verwies er zum einen auf das Vorbild Sachsens und zum anderen auf Friedrich Wilhelm I., der im Jahr 1739 aus Anlass der 200jährigen Wiederkehr der Einführung der Reformation in Brandenburg eine Säkularfeier angeordnet hatte.149 Der König gab dem Antrag statt und bestimmte in einer Kabinettsorder vom 17. November 1816, „daß das Reformationsfest eine Säcularfeier bleiben und selbige auf das Jahr 1839 ausgesetzt werden oder im nächsten Jahre, ganz nach der Anordnung vom 22. April 1739, statthaben soll, je nachdem das ReformationsJahr von 1517 in allen evangelischen Kirchen Deutschlands allgemein oder nur in einigen evangelischen Ländern von Deutschland gefeiert werden wird.“150 Wann und wie genau es zur Festlegung des Termins gekommen ist, bleibt unklar.151 Am 7. Februar 1817 ordnete Friedrich Wil146 147 148 149 150 151
Foerster: Entstehung der Preußischen Landeskirche, Bd. 1, S. 341 Foerster: Entstehung der Preußischen Landeskirche, Bd. 1, S. 398–399 Foerster: Entstehung der Preußischen Landeskirche, Bd. 1, S. 402 Vgl. Hoffmann: Totengedächtnis (Urkundenteil), S. 27 Hoffmann: Totengedächtnis (Urkundenteil), S. 32 Nicht nur Schleiermacher sprach sich in seiner Rede beim akademischen Festakt der Berliner Universität zum Reformationsjubiläum für den 10. Dezember 1820,
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helm III. die Feier des Reformationsjubiläums für den 31. Oktober und 1. November des Jahres 1817 an und erließ Instruktionen für ihre Durchführung. Die Anordnung wurde den Konsistorien durch das Ministerium in einem Reskript vom 3. Juni mitgeteilt. Die öffentliche Bekanntmachung durch das Konsistorium der Provinz Brandenburg erfolgte am 7. Juni und erschien am 4. Juli im Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam: „Die Segnungen, welche Gottes Vorsehung den Völkern durch die Kirchenreformation zugewandt hat, sind so groß und wichtig, daß es für heilige Pflicht erkannt werden muß, den in diesem Jahre eintretenden Sekulartag des ersten Anfangs dieses im frommen Gottvertrauen begonnenen und durch den göttlichen Beistand herrlich gelungenen Werkes eben so, wie solches vor Zweihundert und vor hundert Jahren geschehen ist, als ein hohes Fest der evangelischen Kirche mit Dank und Lobpreisung Gottes feierlich zu begehen. // In Erwägung dessen hat des Königs Majestät mittelst Allerhöchster Kabinettsordre vom 7ten Februar d. J. die gottesdienstliche Feier des dritten Reformations-Jubiläums in den Kirchen und Gemeinden beider evangelischen Konfessionen der Monarchie anzuordnen geruhet, und soll solche in allen Provinzen des Staats ohne Unterschied völlig gleichmäßig statt haben. Ueber die Art dieser Feier ist von Seiner Majestät folgendes festgesetzt worden: // 1) das Fest soll am Vorabend, Donnerstags den 30sten Oktober d. J., bei Sonnenuntergang mit allen Glocken eingeläutet werden; // 2) der Haupttag des Festes, Freitag der 31ste Oktober c. soll Vor- und Nachmittags gottesdienstlich gefeiert, der Gottesdienst nach einer besonders vorgeschriebenen Liturgie gehalten, und dabei ein besonders vorgeschriebenes Gebet gesprochen werden. Jedem Prediger ist unter sechs bezeichneten Bibeltexten die Wahl überlassen, welchen er bei seinem Kanzelvortrag zum Grunde legen will 152; // 3) am zweiten Tage der Feier, Sonnabends den 1sten November, soll wiederum Vormittags in allen evangelischen Kirchen Gottesdienst sein, zu welchem die Schuljugend des Orts oder der Parochie in feierlicher Prozession in die Kirche zu führen, und, in Bezug auf den Gegenstand des Festes, eine Schulpredigt zu halten ist, um dadurch dem aufblühenden Geschlecht Anlaß und Stoff zu erwecklichen Erinnerungen für das ganze Leben zu geben; // 4) die Anordnung der zu veranstaltenden akademi-
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den Jahrestag der Verbrennung der Bannandrohungsbulle durch Luther, als bevorzugtes Datum für die Feierlichkeiten aus (vgl. KGA I/10, S. 4,21–5,16; Wichmann von Meding: Kirchenverbesserung. Die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817, Unio und Confessio 11, Bielefeld 1986, S. 24–25). In Preußen standen folgende Texte zur Auswahl: Joh 8,12.31–32, Röm 13,12, 1Kor 15,57–58, 1Kor 16,13–14, Eph 5,8ff und Offb 3,11 (vgl. von Meding: Kirchenverbesserung, S. 26–28).
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schen und Schulfeierlichkeiten bleibt den Universitäten und Gymnasien selbst überlassen. // Indem wir nun hiermit die Anordnung des gedachten wichtigen Festes zur allgemeinen Kenntniß bringen, fordern wir zugleich alle Ortsobrigkeiten und Patrone auf, zu demjenigen, was ihrer Seits zur würdigen Feier des Festes geschehen kann, willig und bereit die Hand zu biethen.“153 Von einer Union der beiden evangelischen Kirchen am Reformationsjubiläum war in den amtlichen Bekanntmachungen keine Rede. Der Anstoß dazu scheint vielmehr von außen gekommen zu sein. In einer Kabinettsorder vom 26. Februar 1817 hatte der König dem Beschluss der lutherischen und reformierten Synode der Grafschaft Mark, aus Anlass des Reformationsjubiläums „eine gemeinschaftliche Synodal-Versammlung in der evangelischen Stadtkirche zu Hagen zu begehen“, wohlwollend zugestimmt.154 In der Kabinettsorder vom 1. Mai an den zuständigen Minister von Schuckmann begegnet dann erstmals der Gedanke einer Union der beiden protestantischen Kirchen am Reformationsfest: „Die Vereinigung beyder Confessionen der evangelischen Kirche, ist so oft als wünschenswerth ausgesprochen; würdiger könnte das Säcularfest der Reformation nicht gefeiert werden, als durch diese Vereinigung.“155 Vermutlich ließ das Votum Sacks und Hansteins vom 31. Mai, die vor obrigkeitlichen Übergriffen warnten und die Beratungen über die Union an die Synoden verwiesen, den König von seinem Vorhaben wieder abrücken. Nachdem jedoch auf der Synode in Idstein beschlossen worden war, die Union der beiden protestantischen Kirchen in Nassau am Reformationsfest zu vollziehen, beauftragte Friedrich Wilhelm III. den reformierten Hofprediger Rulemann Friedrich Eylert (1770–1852) umgehend mit 153
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Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam, Jg. 2, Nr. 27, 4. Juli 1817, S. 233–234. Am 30. Juni gab das Ministerium in einer Zirkularverfügung an die evangelische Geistlichkeit im preußischen Staat die inzwischen genehmigte Liturgie und das Altargebet bekannt und erläuterte nochmals sein Verständnis der Reformation und ihrer Gedächtnisfeier (vgl. KGA I/9, S. LVI–LVII Anm. 152). Vgl. Klaus Wappler: Reformationsjubiläum und Kirchenunion (1817), in: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1. Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), ed. J. F. G. Goeters / R. Mau, Leipzig 1992, S. 93–115, hier S. 99 Wappler, ebd. Im Entwurf des Textes vom 21. April hatte der König bereits Überlegungen zur liturgischen Form einer gemeinsamen Abendmahlsfeier angestellt: „Wäre es, ohne Gewissenszwang, möglich, Brod oder Oblaten bey der Feyer des Abendmahls in beiden Kirchen evangelischer Confeßion, unter übereinstimmenden Einsetzungsworten, auszutheilen, so wäre die Vereinigung vielleicht bewürkt“ (111). Der Passus wurde jedoch gestrichen und die Anordnung mit der Aufforderung verbunden, Sack und Hanstein um Vorschläge zu ersuchen, „wie diese Vereinigung beyder so sehr wenig abweichenden evangelischen Confeßionen am leichtesten und zweckmäßigsten zu bewürken seyn möchte“ (100).
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der Vorbereitung einer Erklärung, in der er zur Union der beiden evangelischen Kirchen am Reformationsjubelfest aufrief. Die Erklärung erging in der Kabinettsorder vom 27. September 1817 und wurde den Provinzialbehörden durch ministerielle Verfügung vom 8. Oktober bekannt gemacht. „Schon Meine in Gott ruhende erleuchtete Vorfahren, der Kurfürst Johann Sigismund, der Kurfürst Georg Wilhelm, der große Kurfürst, König Friedrich I. und König Friedrich Wilhelm I. haben, wie die Geschichte ihrer Regierung und ihres Lebens beweiset, mit frommem Ernst es sich angelegen seyn lassen, die beiden getrennten protestantischen Kirchen, die reformirte und lutherische, zu Einer evangelisch-christlichen in Ihrem Lande zu vereinigen. Ihr Andenken und Ihre heilsame Absicht ehrend, schließe Ich Mich gerne an Sie an, und wünsche ein Gott wohlgefälliges Werk, welches in dem damaligen unglücklichen Sekten-Geiste unüberwindliche Schwierigkeiten fand, unter dem Einflusse eines bessern Geistes, welcher das Außerwesentliche beseitiget und die Hauptsache im Christenthum, worin beide Confessionen Eins sind, festhält, zur Ehre Gottes und zum Heil der christlichen Kirche, in Meinen Staaten zu Stande gebracht und bei der bevorstehenden Säcular-Feyer der Reformation, damit den Anfang gemacht zu sehn! Eine solche wahrhaft religiöse Vereinigung der beiden, nur noch durch äußere Unterschiede getrennten protestantischen Kirchen ist den großen Zwecken des Christenthums gemäß; sie entspricht den ersten Absichten der Reformatoren; sie liegt im Geiste des Protestantismus; sie befördert den kirchlichen Sinn; sie ist heilsam in der häuslichen Frömmigkeit; sie wird die Quelle vieler nützlicher, oft nur durch den Unterschied der Confession bisher gehemmter Verbesserungen in Kirchen und Schulen. // Dieser heilsamen, schon so lange und auch jetzt wieder so laut gewünschten und so oft vergeblich versuchten Vereinigung, in welcher die reformirte Kirche nicht zur lutherischen und diese nicht zu jener übergehet, sondern beide Eine neu belebte, evangelisch-christliche Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters werden, steht kein in der Natur der Sache liegendes Hinderniß mehr entgegen, sobald beide Theile nur ernstlich und redlich in wahrhaft christlichem Sinne sie wollen, und von diesem erzeugt, würde sie würdig den Dank aussprechen, welchen wir der göttlichen Vorsehung für den unschätzbaren Segen der Reformation schuldig sind, und das Andenken ihrer großen Stifter, in der Fortsetzung ihres großen Werks, durch die That ehren. // Aber so sehr Ich wünschen muß, daß die reformirte und lutherische Kirche in Meinen Staaten diese Meine wohlgeprüfte Ueberzeugung mit Mir theilen möge, so weit bin Ich, ihre Rechte und Freiheit achtend, davon entfernt, sie aufdringen und in dieser Angelegenheit etwas verfügen und bestimmen zu wollen. Auch hat diese Union nur dann einen wahren
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Werth, wenn weder Ueberredung noch Indifferentismus an ihr Theil haben, wenn sie aus der Freiheit eigener Ueberzeugung rein hervorgehet, und sie nicht nur eine Vereinigung mit der äußeren Form ist, sondern in der Einigkeit der Herzen, nach ächt biblischen Grundsätzen, ihre Wurzeln und Lebenskräfte hat. // So wie Ich selbst in diesem Geiste das bevorstehende Säcularfest der Reformation, in der Vereinigung der bisherigen reformirten und lutherischen Hof- und GarnisonGemeine zu Potsdam, zu Einer evangelisch-christlichen Gemeine feyern, und mit derselben das heilige Abendmahl genießen werde: so hoffe Ich, daß dies Mein Eigenes Beispiel wohlthuend auf alle protestantischen Gemeinen in meinem Lande wirken, und eine allgemeine Nachfolge im Geiste und in der Wahrheit finden möge. Der weisen Leitung der Consistorien, dem frommen Eifer der Geistlichen und ihrer Synoden überlasse Ich die äußere übereinstimmende Form der Vereinigung, überzeugt, daß die Gemeinen in ächt-christlichem Sinn dem gern folgen werden, und daß überall, wo der Blick nur ernst und aufrichtig, ohne alle unlautere Neben-Absichten auf das Wesentliche und die große heilige Sache selbst gerichtet ist, auch leicht die Form sich finden, und so das Aeußere aus dem Innern, einfach, würdevoll, und wahr von selbst hervorgehen wird. Mögte der verheißene Zeitpunkt nicht mehr ferne seyn, wo unter Einem gemeinschaftlichen Hirten, Alles in Einem Glauben, in Einer Liebe und in Einer Hoffnung sich zu Einer Heerde bilden wird!“156 Die evangelische Geistlichkeit Berlins hatte ohne Kenntnis des königlichen Aufrufs am 1. Oktober auf Antrag des lutherischen Propstes Hanstein eine gemeinsame Abendmahlsfeier für den zweiten Tag des Reformationsjubiläums beschlossen. Der Ritus wurde von Propst Konrad Gottlieb Ribbeck (1757–1826) entworfen. Nachdem Hanstein den König über das Vorhaben in Kenntnis gesetzt hatte, machte dieser ihm als Zeichen seines Wohlwollens den Unionsaufruf bekannt mit der Bitte, ihn an die Synode weiterzuleiten. Zu diesem Zweck lud Schleiermacher im Namen des Moderamens die Synodalen zu einer außerordentlichen Sitzung am 7. Oktober ein, auf der das Unionsstatut beraten und auf Wunsch des Königs eine Vorverlegung der gemeinsamen Abendmahlsfeier auf den Vorabend des Reformationsfestes beschlossen wurde.157 Darüber hinaus wurde Schleiermacher damit beauftragt, eine Erklärung zu verfertigen, um den Beschluss der Synode zu erläutern und öffentlich bekannt zu machen. Seinen Entwurf legte er den Synodalen am 29. Oktober zur Prüfung und Billi156 157
Annalen der Preußischen innern Staats-Verwaltung, Bd. 1, 1817, H. 3, S. 64–66 (vgl. KGA I/9, S. 178–179) Vgl. Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 178–179
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gung vor. Der gedruckte Text erschien am 31. Oktober im Verlag G. Reimer.158 Der Festgottesdienst fand im Beisein des Königs und des Berliner Oberbürgermeisters am 30. Oktober um 9 Uhr in der wieder eröffneten Nikolaikirche statt.159 Am folgenden Tag wurde auf königlichen Befehl in allen evangelischen Kirchen Berlins das Abendmahl nach dem neuen Ritus gefeiert.160 Schleiermacher hat am zweiten Tag des Reformationsfestes eine Schulpredigt gehalten, die zum Jahreswechsel als Neujahrsgabe für seine Gemeinde im Druck erschien.161 Es entsprach dem Kasus und Schleiermachers Reformationsverständnis162, dass er in seiner An158
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Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30sten October von ihr zu haltende Abendmahlsfeier, Berlin 1817 (vgl. KGA I/9, S. 173–188). Schleiermacher hat in der Erklärung den Versuch unternommen, dem Eindruck einer von oben verordneten Kirchenvereinigung entgegen zu wirken, indem er einerseits die Gewissensfreiheit des Einzelnen und das liturgische Recht der Gemeinden herausstellte und andererseits betonte, dass den verschiedenen liturgischen Formen keine kirchentrennende Wirkung zukomme. Damit hoffte er, „der ärgsten Uebereilung [sc. in der Unionsfrage] einen kleinen Damm“ vorgelegt zu haben (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 334). Bereits früher hatte er sich besorgt darüber geäußert, der König könne die Kirchenvereinigung zu erzwingen versuchen (vgl. Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 223). Der König nahm nicht am Abendmahl teil, sondern empfing die Kommunion wie im Unionsaufruf angekündigt am folgenden Tag in der Hof- und Garnisonkirche zu Potsdam (vgl. Wappler: Reformationsjubiläum, S. 112). Das Konsistorium hatte in einer Zirkularverfügung an die Superintendenten vom 16. Oktober bekannt gegeben: „Die gesammte Geistlichkeit von beiden evangelischen Confessionen in hiesiger Residenz hat bereits beschlossen, am 30sten dieses Monats in einer der hiesigen lutherischen Kirchen das heilige Abendmahl gemeinschaftlich zu genießen, und dabei den in der bisherigen reformirten Kirche üblichen Ritus des Brodbrechens zu beobachten, das ungesäuerte Brod aber und den Kelch mit den Worten darzureichen: // Christus unser Herr sprach: ‚nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der etc.; solches thut etc.‘ // Christus unser Herr sprach: ‚nehmet hin und trinket, das ist etc.; solches thut etc.‘ // Des Königs Majestät haben über diese Verabredung nicht nur Höchst Ihre vollkommene Billigung und besonderes Wohlgefallen zu erkennen gegeben, sondern auch zu bestimmen geruhet, daß in sämmtlichen hiesigen Kirchen für alle diejenigen, welche das heilige Abendmahl auf jene neue Weise als evangelische Christen begehen wollen, am ersten ReformationsJubeltage, als am 31sten dieses Monats, die Abendmahlfeier nur nach dem neu angenommenen Ritus, für diejenigen aber, welche das heilige Abendmahl in der hergebrachten Art genießen wollen, dasselbe nach dieser alten Art am 2ten November, als am Sonntage, gehalten werden soll.“ (Amts-Blatt der Königlich-Preußischen Regierung zu Berlin, Jg. 2, Nr. 41, 22. Oktober 1817, S. 300–301) Vgl. unten S. LVI–LVIII Schleiermachers dynamisches Reformationsverständnis tritt besonders in seiner Predigt über Lk 10,21–24 am Sonntag nach dem Reformationsjubiläum (2. November) hervor. Er entfaltet hier das Gesetz des Wechsels, des Fortschreitens und Zurückgehens, das die gesamte Geschichte der christlichen Kirche durchzieht, in der „jede neue Entfaltung der göttlichen Offenbarung, eine jede Vervollkommnung des Reiches Gottes auf Erden, auf der einen Seite mit den vorhergegangenen Zeiten vergli-
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sprache das Gedächtnis der Reformatoren nur flüchtig berührte und den Ton auf die Verantwortung der Eltern und Lehrer legte, so auf die Jugend zu wirken, dass in ihr die Güter und Segnungen der Reformation Aufnahme finden können.163 Unter die Güter, „welche uns durch die Verbesserung der Kirche anvertraut worden sind“, rechnet er zuvörderst „den wiedergewonnenen freien Gebrauch des göttlichen Wortes, und darauf, daß die große Lehre des Christenthums von der Vergeblichkeit aller äußern Werke und von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben aufs neue unter uns ist festgestellt worden.“164 Mit Blick auf die Wiederentdeckung des göttlichen Wortes durch Luthers Übersetzung der heiligen Schrift in die deutsche Volkssprache mahnt Schleiermacher seine Hörerschaft, den Kindern das Wort Gottes nicht vorzuenthalten. Gegen die irrige Ansicht, Kinder könnten das Wort Gottes noch nicht verstehen, wendet er ein: „Viel eher gewiß als diejenigen glauben mögen, die am meisten jenen Bedenklichkeiten Gehör geben, entwickelt sich in unsern Kindern das Bedürfniß des höheren und göttlichen, und mit dem Bedürfniß auch die Fähigkeit es zu befriedigen.“165 Diesem Bedürfnis sollten die Eltern Raum geben und ihre Kinder zu einem rechten Gebrauch des göttlichen Wortes anleiten, damit diese es immer tiefer verstehen lernen. An die anwesende Jugend gerichtet betont Schleiermacher, dass das Wort Gottes nicht wie andere Literatur zur Unterhaltung oder Belehrung gegeben sei, sondern das Herz bewegen will. Der zweite Hauptteil der Predigt behandelt die Lehre von der Rechtfertigung, doch nicht so, dass Schleiermacher das Verständnis
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chen etwas Neues ist und Höheres, auf der andern Seite in einem genauen Zusammenhange mit dem früher Angeregten und Geahneten steht“ (unten S. 261,36– 262,1). Auch „die evangelische Kirche war [...] etwas ganz Neues und wesentlich Verschiedenes von demjenigen, von welchem sie sich losriß, aber auch nicht zurückkehrend zu der ursprünglichen Christlichen Kirche, sondern ein neues Werk des göttlichen Geistes. Aber auch sie war eine unvollkommene, der Hülfe späterer Zeiten und der Erneuerung von manchen Seiten bedürftige“ (262,17–23). Eine solche Erneuerung sei die gegenwärtige Vereinigung der beiden protestantischen Kirchen, „gut zu machen mancherlei Irrthümer, mancherlei Spaltungen, die bald in den ersten Zeiten der Kirchenverbesserung hervortraten als eine Folge der Standhaftigkeit, des festen Muthes und des Beharrens auf dem Erkannten, welches denn oftmals in Hartnäckigkeit ausartete“ (263,18–22). Mit Blick auf die Zukunft erinnert Schleiermacher seine Gemeinde, „daß auch wir zu wachen haben auf mancherlei Hindernisse, welche dem Weitergestalten in der evangelischen Kirche werden entgegentreten können“ (265,5–7), um das Werk der Kirchenverbesserung gegen alle Widerstände fortzuführen und zu vervollkommnen. Der Gedanke der Verantwortung für die Jugend bestimmte die Wahl des Predigttextes aus Mt 18,5–6. Unten S. 243,37–244,1 Unten S. 246,2–6
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dieser Lehre erläutern will166, sondern er fragt, „was es heiße die Kinder dazu zu erziehen“.167 Dazu sei es nötig, „Lohn und Strafe nur als etwas äußeres anzusehn“168, das die Liebe zu den Kindern nicht affiziert. „Denn müssen sie nicht verleitet werden, wenn auch nicht der Furcht vor der Strafe und einem beschränkten Ehrtriebe allein zu folgen, wenigstens doch den natürlichen Sinn für Recht und Ordnung und für äußere Gesetzlichkeit als das höchste anzusehn? und sind sie dann nicht durch unsere Schuld auf dem Wege zu einer falschen und verkehrten Gerechtigkeit?“169 Nicht Lehrvortrag, sondern Herzensbildung ist das reformatorische Erbe, dem Schleiermacher sich verpflichtet fühlte.
7. Schleiermachers Predigtdrucke und ihre literarische Rezeption Schleiermacher hat in den Jahren 1816–1819 vier Einzelpredigten zum Druck gegeben. Die neun Predigten über den christlichen Hausstand wurden erst 1820 als „Vierte Sammlung“ publiziert.170 Die Rede zum Reformationsjubiläum erschien vermutlich zum Jahreswechsel 1817/18.171 Das früheste Zeugnis ihrer Veröffentlichung findet sich zwar erst in einer brieflichen Äußerung Schleiermachers gegenüber J. Chr. Gaß, dem er am 11. Mai 1818 nebst seiner lateinischen Rede zum Reformationsjubiläum ein Exemplar der Predigt übersandte.172 Dem Predigtdruck war jedoch die „Ordnung, 166
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Die Lehre von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben hat Schleiermacher in seiner Predigt über Phil 3,1–11 am Sonntag vor dem Reformationsfest breiter entfaltet. Er setzt hier die paulinische Kritik am Vertrauen auf das Fleisch mit dem Vertrauen auf äußere Werke gleich. Die Gerechtigkeit aus dem Glauben gründe dagegen in der Gemeinschaft mit Christus, in der der Mensch eine neue Kreatur geworden sei. „Der Mensch, der sich auf sich selbst und auf das Gesetz verläßt, der verläßt sich auf Fleisch, der dient Gott nicht im Geist. Wer Gott im Geist dient, der rühmt sich nur mit Christo Jesu, der weiß, daß nichts an ihm Werth habe, als was von Christo Jesu ist. Wer nun nichts andres sucht, als im Glauben und in der Liebe mit Christo Eins zu werden, der ist es, welcher Gott im Geiste dient. Zu diesem Dienst Gottes im Geist sind wir auf eine unmittelbare Weise berufen, wir die wir Antheil haben an dieser großen Reinigung der Lehre, welche durch Gottes Gnade deutschem Volke gemacht wurde.“ (Unten S. 240,3–11) Unten S. 248,14–15 Unten S. 249,4 Unten S. 249,12–17 Vgl. KGA III/1, S. CVI–CXI Predigt am zweitenTage des Reformations-Jubelfestes in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen, Berlin 1818 „Hoffentlich sind Winterfelds noch hier, dann sollen sie nicht nur diesen Brief mitnehmen, sondern auch zur Büßung meiner Sünden nachträglich die Rede und die
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nach welcher der Gottesdienst von beiden evangelischen Gemeinen in unsrer Dreifaltigkeitskirche in dem 1818ten Jahre, geliebt es Gott, gehalten wird“, beigegeben, die 1818 erstmals gedruckt erschien.173 Dieser Umstand und die Beobachtung, dass Schleiermacher in den folgenden Jahren auf Wunsch des Küsters der Dreifaltigkeitskirche Carl Friedrich Grahl (1765–1834) regelmäßig Einzeldrucke als Neujahrsgabe für seine Gemeinde erstellen ließ, die gemeinsam mit dem Gottesdienstplan des kommenden Jahres verteilt wurden, spricht mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür, dass Schleiermacher diese Praxis mit der „Predigt am zweiten Tage des Reformationsjubelfestes“ begonnen hat. Zu der Predigt liegen zwei kurze Besprechungen vor, bei denen es sich jeweils um eine Sammelrezension handelt, die neben der Reformationspredigt noch die beiden Predigten vom 18. Weinmond 1818 und vom ersten Adventssonntag 1819 behandeln. Die Rezension von Christian Daniel Beck im „Allgemeinen Repertorium der neuesten inund ausländischen Literatur für das Jahr 1820“ benennt lediglich knapp die beiden Hauptgedanken der Predigt: „In der ersten dieser lesenswerthen Predigten sind zwey Vorsätze genau betrachtet und erläutert (nach Matth. 18,5.6.); daß wir der Jugend wollen behülflich seyn zum freyen Gebrauche des göttlichen Wortes und, daß wir sie erziehen wollen zu der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt“.174 Die anonyme Besprechung in den Ergänzungsblättern der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ vom Juli 1820 rühmt eingangs die tiefe Empfindsamkeit und Erbaulichkeit aller drei angezeigten Predigten: „Im Ideenreichthum wüßte Rec. dem mit so hellem als tiefem Blicke in die Gemüthswelt schauenden Vf. dieser Predigten keinen deutschen Kanzelredner an die Seite zu setzen; er zweifelt zwar, ob die Masse des Volkes seine Gedanken immer zu fassen, und dem Zusammenhange derselben anhaltend zu folgen vermöge; wer aber zu denken und Gehörtem nachzudenken vermag, in dessen Seele wird durch jede solcher Predigten etwas aufgebaut werden; es wird in ihm zum Bewußtseyn kommen, daß er durch solche Vorträge jedesmal an sittlichen und religiösen Erkenntnissen zugenommen hat, die, wenn es ihm nur mit seiner Vervollkommnung ernst ist, nicht
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Predigt und meine lezten academischen Sachen, und meinen Kupferstich, der doch auf jeden Fall weit besser ist als der frühere, von vielen Menschen höchst ähnlich gefunden wird und fast nur meiner Frau nicht gefällt.“ (Briefwechsel mit Gaß, S. 147) Vgl. Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1820, herausgegeben von einer Gesellschaft Gelehrter und besorgt von Christian Daniel Beck, Erster Band, 5. Stück, Leipzig 1820, S. 384 Allgemeines Repertorium, ebd.
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ohne wohlthuenden Einfluß auf sein inneres Leben bleiben können.“175 Im Anschluss referiert der anonyme Rezensent kurz die beiden Leitgedanken der Predigt: „Nr. 1 faßt die, der Jubelfeyer wegen, in der Kirche versammelte Jugend ins Auge, um in den ältern Zuhörern den Vorsatz hervorzubringen und zu befestigen, der Jugend zum freyen Gebrauche des göttlichen Wortes behülflich zu seyn, und sie zu der allein vor Gott geltenden Gerechtigkeit zu erziehen. In dem ersten Theile dieser Rede wird besonders der Irrthum bestritten, in welchem Viele befangen sind, daß es besser sey, die Jugend eine längere Zeit von der Schrift entfernt zu halten, als sie ihnen frühzeitig darzubieten; in dem zweyten Abschnitte werden Aeltern und Lehrer erinnert, die Jugend aufmerksam zu machen, daß zu Hause und in den Schulen Belohnung und Strafe nur als etwas Aeußeres für etwas Aeußeres ausgetheilt werde und daß das bestrafte Kind mehr, das belohnte weniger geliebt werden könne, daß es also etwas Höheres für uns gebe als diese äußern Tugenden.“176 Im „Jahrbüchlein der deutschen theologischen Literatur“ findet sich lediglich ein Hinweis auf das Erscheinen von Schleiermachers Reformationspredigt.177 Die Predigt zum Gedenktag der Völkerschlacht bei Leipzig vom 18. Oktober 1818 hat Schleiermacher auf Wunsch des Küsters der Dreifaltigkeitskirche als Neujahrsgabe für seine Gemeinde drucken lassen.178 Sie ist daher vermutlich zum Jahreswechsel 1818/19 im Verlag von Georg Reimer erschienen. An die Gräfin Luise von Voß schrieb er am 2. Januar 1819: „Damit Sie sehen, gnädigste Freundin, daß Sie Ihre Kerze (denn bei Lampenschein schreiben Sie doch nicht) und Ihre Tinte nicht ganz an mir verlieren, so sende ich Ihnen die gedruckte Predigt die ich dem Küster geschenkt habe. Meinen Saz muß ich aber doch verfechten, wenigstens in dem Maß, daß ich nicht wünsche, daß diejenigen, welche eine Predigt gehört, sie hernach noch lesen – und dies will ich auch von der gegenwärtigen gesagt haben.“179 Bei der Auswahl der Predigt für den Druck blieb Schleierma175 176 177
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Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1820, Vierter Band. Die Ergänzungsblätter dieses Jahrgangs enthaltend, Halle/Leipzig 1820, S. 591–592, hier S. 591 Allgemeine Literatur-Zeitung, S. 591–592 Jahrbüchlein der deutschen theologischen Literatur, verfaßt und herausgegeben von J. M. D. L. Deegen, Pastor der evangelischen Gemeinde zu Kettwig, Drittes Bändchen, Essen 1821, S. 203 Predigt am 18ten Weinmond 1818 in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen, Berlin 1819. Schleiermacher ließ der Predigt als Anhang die Lieder beigeben, die im Gottesdienst gesungen wurden. Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 355. Gegenüber A. Twesten urteilte er, dass die Predigt „gewiß auch besser zu hören gewesen ist als zu lesen“ (Heinrici: August Twesten, S. 341).
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cher angesichts seiner sonstigen literarischen Pläne nicht viel Auswahl, wie er gegenüber Gaß am 10. Januar bekennt: „Nur in der Geschwindigkeit, lieber Freund, kann ich Dir mit dem zurükkehrenden Steffens ein Paar Zeilen schreiben, als Hülle für die einliegende Predigt, die ich dem Küster zu Neujahr geschenkt. Ich kann nicht sagen, daß ich besonders damit zufrieden wäre, und erst, als ich sie gedrukkt sah, fiel mir ein, daß eigentlich jede Zeile ein Stich auf unsern allergnädigsten Herrn ist: allein ich habe wirklich vorher nicht besonders an ihn gedacht. Die Predigt ist nicht recht sonderlich ausgeführt: allein sie hatte den Leuten doch gefallen und mag auch immer ein Wort zu seiner Zeit sein. Auch hatte ich nicht viel Wahl, da meine Predigten über die christliche Haustafel besonders sollen gedrukkt werden, und ich eine Festpredigt der künftigen Sammlung wegen auch nicht nehmen wollte.“180 Die beiden Rezensenten beschränken sich jeweils auf eine flüchtige Skizze des Aufbaus der Predigt, ohne näher auf deren Inhalt einzugehen. Der anonyme Rezensent in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ bemerkt knapp: „Nr. 2 zeigt vortrefflich, daß die Freude über den Sieg der Deutschen von Falschheit, von Trägheit und von Eitelkeit frey seyn müsse, um den Namen einer Freude vor Gott zu verdienen. Die Worte der Weisen, heißt es hier, sind Spieße und Nägel.“181 Am 4. Januar 1819 hielt Schleiermacher die Grabrede auf Dr. Justus Gottfried Hermes (1740–1818)182, der seit 1797 Prediger an der lutherischen St. Gertraudts-Kirche (Spittelkirche) in Berlin gewesen war und nach kurzer Krankheit am 30. Dezember 1818 an Leberentzündung verstarb. Nach der Trauerfeier, die unter großer Anteilnahme der Geistlichkeit Berlins um 14 Uhr in der St. GertraudtsKirche stattfand, zog die Trauergemeinde zum St. Jakobs-Friedhof, auf dem der Verstorbene neben seiner Frau beigesetzt wurde. Hermes stand dem lutherischen Pietismus nahe und unterstützte den Unionsgedanken. Schleiermacher betont in seiner Ansprache vor allem den 180
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Briefwechsel mit Gaß, S. 166–167. Tags zuvor schrieb Schleiermacher an L. Blanc: „Sie erhalten hiebei eine Predigt, welche mein Küster bei meiner Gemeine zum Neujahr überreicht. Ich hatte nicht viel Auswahl, sonst hätte ich wol eine bessere nehmen können. Zum Theil habe ich sie auch deshalb gewählt, weil solche Gelegenheitspredigten sonst gar nicht bekannt werden. Die besten, die ich im Kriege gehalten sind leider untergegangen.“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 243) Allgemeine Literatur-Zeitung, S. 592. – Mit dem abschließenden Zitat aus Pred 11,12 könnte ein Hinweis auf die politischen Obertöne intendiert sein, die der Predigt eignen (vgl. Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit. Teil II, Arbeiten zur Kirchengeschichte 85/II, Berlin/New York 2004, S. 128–131). Angaben zu Hermes’ Biographie finden sich im Sachapparat zur Predigt (vgl. unten S. 543–552).
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einfachen Lebensstil und die treue Amtsführung des Verstorbenen, der sich darin als ein Vorbild für seine Amtsbrüder erwiesen habe. Beides hatte die Theologische Fakultät der Universität Berlin ein Jahr zuvor bewogen, Hermes den Ehrendoktor zu verleihen. Als Dekan der Theologischen Fakultät hielt Schleiermacher die Festrede auf der akademischen Feierstunde zum 300jährigen Reformationsjubiläum am 3. November 1817, an deren Ende die Ehrenpromotionen verlesen wurden. Die Begründung für die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Hermes lautete: „Secundum, Justum Godofredum Hermes, in urbe nostra ad aedem Gertrudis ministrum non coetui suo sed nobis omnibus propter evangelicum candorem, doctrinae puritatem et simplicitatem, disciplinae vitaeque sanctitatem maxime colendum.“183 Die Grabrede Schleiermachers erschien zusammen mit einer Beschreibung der Trauerfeier 1819 im Verlag G. Reimer.184 Über die Veranlassung zur Drucklegung heißt es im Vorwort: „Bei einigen der ehemaligen Zuhörer und Beichtkinder des seeligen Herrn Predigers Dr. Hermes entstand am Tage seiner feierlichen Bestattung der Wunsch, daß eine kurze Beschreibung derselben nebst der an seinem Sarge gehaltenen Rede des Herrn Professors Dr. Schleiermacher abgedruckt, und zugleich mit einem, in Kupfer zu stechenden Bildnisse des Entschlafenen (von Herrn W. Hensel gezeichnet) zum Besten der verwaiseten Familie verkauft werden mögte. Die Ausführung dieses Gedankens hat von mehreren Seiten eine gütige, dankbar anzuerkennende Unterstützung gefunden. So konnten jetzt diese Blätter erscheinen, welche dem göttlichen Seegen und der christlichen Liebe empfohlen werden.“185 Die einzige Rezension, die ermittelt werden konnte, hebt besonders den einfühlsamen Stil der Ansprache Schleiermachers hervor: „Die Sargrede des Hrn. Dr. Schl. beweist, daß der Redner sehr faßlich sprechen kann, und sein Vortrag ward gewiß mit allgemeiner Erbauung von den Anwesenden gehört. Unmittelbar vor der Einsenkung der Leiche sprach Hr. Sup. Küster auch noch einige Worte. Das gute Zeugniß beider Redner von der Frömmigkeit und Amtstreue des Verewigten mußte für die Seinigen sehr tröstlich seyn.“186 Nach Hermes’ Tod unternahm der zuständige lutherische Superintendent Pelkmann die Organisation der Vakanzvertretung und be183 184
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KGA I/10, S. 14,8–11 Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin Dr. Hermes nebst der an seinem Sarge von dem Professor Dr. Schleiermacher gehaltenen Rede, Berlin 1819 Nachricht von der Leichenbestattung, S. 2 Neue Theologische Annalen 1820, Bd. 1. Januar, ed. J. F. L. Wachler, Frankfurt am Main 1820, S. 113
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zog darin auch die reformierten Prediger mit ein. Auf eine diesbezügliche Anfrage des reformierten Superintendenten Marot vom 2. Januar 1819 antwortete Schleiermacher am 6. Januar: „Ich bin völlig einverstanden und war ohnhin gesonnen den ersten Vorschlag zu einer solchen Vereinigung zu machen zumal der sel. Hermes ganz im Sinne der Union gehandelt hat, und die neue Einrichtung also bei dieser Gelegenheit am besten beginnen kann, und hoffe, daß sich keiner von uns ausschließen wird.“187 Ein analoges Schreiben Pelkmanns an die lutherischen Geistlichen, in dem er über den konkreten Einzelfall hinaus nach der grundsätzlichen Bereitschaft zur Übernahme konfessionsübergreifender Vakanzvertretungen fragte, erfuhr dagegen ein geteiltes Echo. Daher kam es auf Anordnung des Konsistoriums am 27. Januar zu einer außerordentlichen Sitzung der Berliner Kreissynode, die nach kontroverser Debatte am Ende „die Vereinigung zu gemeinsamen Vacanz-Predigten in dem vorliegenden u[nd] jedem künftigen Fall“ beschloss.188 Für Schleiermacher hatte dies zur Folge, dass er im Gnadenjahr für Hermes dreimal Vertretungspredigten in der St. Gertraudts-Kirche übernahm.189 Auch die Predigt vom ersten Advent 1819 ließ Schleiermacher als Neujahrsgabe für seine Gemeinde drucken.190 Am 17. Januar 1820 schrieb er an L. Blanc: „[...] ich will Ihnen [...] nur die einzelnen Predigten, die mein Küster hat drucken lassen, und die ich Ihnen hier beizulegen gedenke, zur freundschaftlichen Nachsicht empfehlen. Denn es kommt mir wirklich vor, als ob ich, was gedruckte Predigten betrifft, nicht eben im Vorschreiten wäre, sondern meine Predigten sich je länger je mehr zum bloßen Hören eigneten; mit dem sind die Leute noch immer leidlich genug zufrieden. Sie werden in der einzelnen Predigt auch einige Beziehung auf die dumme Art finden, mit der jetzt die vornehmen Leute sich in die theologischen Dinge mischen, wie denn der Herzog von Cumberland zum Beispiel von De Wette gesagt hat, solch abscheulicher Mensch, der nicht an die Gottheit Christi glaube, müsse ja cassirt werden.“191 Gemäß der Preußischen Zensur-Verordnung vom 18. Oktober 1819 mussten alle Schriften vor ihrer Drucklegung den Behörden zur Genehmigung vorgelegt werden. 187 188 189
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Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 149–150 Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 211 Schleiermacher predigte am 9. Juni (Betstunde), 11. Juli und 19. Dezember in der St. Gertraudts-Kirche (vgl. KGA III/1, S. 877.879). Die Vertretung am 23. Mai, für die Schleiermacher zunächst vorgesehen war, übernahm Hanstein (vgl. 876). Predigt am ersten Adventsonntag 1819, Berlin 1820. Der Predigt war der Jahresplan der Gottesdienste an der Dreifaltigkeitskirche für das Jahr 1820 beigegeben (vgl. Allgemeines Repertorium, S. 384). Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 311
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Einleitung der Bandherausgeber
Der reaktionäre Geist, der sich darin aussprach, beunruhigte Schleiermacher und weckte schmerzhafte Erinnerungen: „Diese Predigt hat mir übrigens noch eine schmerzhafte Empfindung gemacht, indem ich, als ich sie zur Correctur bekam, zum ersten Mal wieder ein imprimatur erblickte.“192 Die Rezension im „Allgemeinen Repertorium der neuesten inund ausländischen Literatur“ teilt nur die Disposition der Predigt mit: „Die dritte über Matth. 16,13–19 beweiset, daß der Glaube, den Petrus bekannte, Jesus sey Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der rechte sey, weil 1. es der Glaube ist, den nicht Fleisch und Blut, sondern der Vater im Himmel offenbart, 2. es allein der Glaube ist, auf den der Herr seine Gemeine bauen kann, und zwar so, daß wie in ihr und durch sie, eben so auch im Himmel alles gebunden bleibe und gelöset.“193 Der Rezensent der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ greift dagegen Schleiermachers Darlegungen über das Verständnis Jesu als Sohn Gottes heraus: „Nr. 3 giebt eine neue Ansicht von Matth. XVI. 13–19. Hier kann nur Folgendes davon angeführt werden: Der Redner sagt, es sey von jeher in der Christenheit viel Streit darüber gewesen, was der Ausdruck: Sohn Gottes bedeute; wenn es nun eine für alle Christen allgemein wichtige Sache wäre, hierüber eine richtige Erkenntniß zu haben, so sollte man denken, daß Christus Petrum erst müßte gefragt haben in welchem Sinne er ihn den Sohn Gottes nenne; darnach habe er aber nicht gefragt, weil es ihm weniger darauf angekommen sey, und damit nicht etwa Streitsüchtige sich auf ihn berufen könnten, daß er haarscharf darnach gefragt habe, damit auch Petrus nicht etwa meyne, wenn er darüber eine genügende Antwort hätte geben können, daß eben diese genauern und fast spitzfindigen Bestimmungen es seyen, was Christus an seinem Glauben rühme. Petrus, heißt es, meinte es mit seiner Erklärung so, Christus sey nicht bloß gesandt, ein nahes Reich Gottes zu verkünden, sondern um es selbst zu begründen und auf seinen Namen zu bauen, nicht bloß um an das vergessene Gesetz zu erinnern, sondern um das Unvollkommne durch Vollkommeneres zu verdrängen und nach Maaßgabe dessen, was Gott, um die Welt mit sich zu versöhnen, durch ihn offenbaren würde, den Erdkreis zu richten, nicht bloß, um eine bessere Zukunft zu verheißen, sondern er sey die ewig kräftige Blüthe der ganzen Menschheit, und in ihm sey aller geistige Trost der Menschheit für alles gegeben. Dieß war das in Petri Glauben Beseligende, das einen höhern Ursprung haben mußte, als der von Fleisch und Blut abzuleiten wäre.“194 192 193 194
Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, ebd. Allgemeines Repertorium, S. 384 Allgemeine Literatur-Zeitung, S. 592
II. Editorischer Bericht
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II. Editorischer Bericht Der editorische Bericht informiert über die einheitlich für alle Bände der III. Abteilung geltenden Grundsätze195 zur Textgestaltung (1.) und zur Druckgestaltung (2.), außerdem über die Quellentexte des vorliegenden Bandes und die spezifischen Verfahrensweisen angesichts der jeweiligen Textbeschaffenheit (3.).
1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen Die allgemeinen Regeln der Textgestaltung für alle Textzeugen werden für Manuskripte spezifiziert, und zwar in einem abgestuften Verfahren. Die von Schleiermachers Hand geschriebenen Predigtentwürfe und Predigtverschriftungen werden mit ausführlichen Nachweisen zum Entstehungsprozess versehen. Die Nachschriften von fremder Hand erhalten in einem vereinfachten Editionsverfahren nur knappe Apparatbelege. A. Allgemeine Regeln Für die Edition aller Gattungen von Textzeugen (Drucke und Manuskripte) gelten folgende Regeln: a. Alle Textzeugen werden in ihrer letztgültigen Gestalt wiedergegeben. b. Wortlaut, Schreibweise und Zeichensetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise und Zeichensetzung, wo häufig nicht entschieden werden kann, ob eine Eigentümlichkeit oder ein Irrtum vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung und Abfolge von Zeichen (z.B. für Abkürzungen oder Ordnungsangaben), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, in der Regel stillschweigend vereinheitlicht. Verweiszeichen für Anmerkungen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben. Nach Ziffern und Buchstaben, die in einer Aufzählung die Reihenfolge markieren, wird immer ein Punkt gesetzt. Sekundäre Bibelstellennachweise, editorische Notizen und Anweisungen an den Setzer werden stillschweigend übergangen. Dasselbe gilt für Kustoden, es sei denn, dass sie für die Textkonstitution unverzichtbar sind. 195
Vgl. KGA III/1, S. IX–XX
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c. Offenkundige Druck- oder Schreibfehler und Versehen werden im Text korrigiert. Im textkritischen Apparat wird – ohne weitere Angabe – der Textbestand des Originals angeführt. Die Anweisungen von Druckfehlerverzeichnissen werden bei der Textkonstitution berücksichtigt und am Ort im textkritischen Apparat mitgeteilt. Bei den Predigtnachschriften fremder Hand gilt generell die Regel C.g. d. Wo der Zustand des Textes eine Konjektur nahelegt, wird diese mit der Angabe „Kj ...“ im textkritischen Apparat vorgeschlagen. Liegt in anderen Texteditionen bereits eine Konjektur vor, so werden deren Urheber und die Seitenzahl seiner Ausgabe genannt. e. Sofern beim Leittext ein Überlieferungsverlust vorliegt, wird nach Möglichkeit ein sekundärer Textzeuge (Edition, Wiederabdruck) oder zusätzlich ein weiterer Zeuge unter Mitteilung der Verfahrensweise herangezogen. f. Liegt ein gedruckter Quellentext in zwei oder mehr von Schleiermacher autorisierten Fassungen (Auflagen) vor, so werden die Textabweichungen in einem Variantenapparat mitgeteilt. Dessen Mitteilungen sollen in der Regel allein aus sich heraus ohne Augenkontakt mit dem Text verständlich sein. Zusammengehörige Textveränderungen sollen möglichst in einer Notiz erfasst werden. Genaue Ersichtlichkeit der einzelnen Textveränderungen und deutliche Verständlichkeit von neuen Sinnprofilierungen sind für den Zuschnitt der Notizen maßgeblich. Der Variantenapparat wird technisch wie der textkritische Apparat gestaltet und möglichst markant mit dem Text verknüpft. g. Hat Schleiermacher für die Ausarbeitung eines Drucktextes eine Predigtnachschrift genutzt, so wird diese Nachschrift, falls sie im Textbestand deutlich abweicht, zusätzlich geboten. Für die beiden Textzeugen gelten die jeweiligen Editionsregeln. B. Manuskripte Schleiermachers Für die Edition der eigenhändigen Manuskripte Schleiermachers gelten folgende Regeln: a. Abbreviaturen (Kontraktionen, Kürzel, Chiffren, Ziffern für Silben), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) in der üblichen Schreibweise ausgeschrieben. Die Abbreviaturen mit ihren Auflösungen werden im textkritischen Apparat oder im Editorischen Bericht mitgeteilt. Die durch Überstreichung bezeichnete Ver-
II. Editorischer Bericht
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doppelung von m und n, auch wenn diese Überstreichung mit einem U-Bogen zusammenfällt, wird stillschweigend vorgenommen. Abbreviaturen, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird gegebenenfalls im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. In allen Fällen, wo (z.B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei verkürzten Endsilben) aufgrund von Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abbreviatur zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. b. Geläufige Abkürzungen einschließlich der unterschiedlichen Abkürzungen für die biblischen Bücher werden im Text belassen und im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. Für die Abkürzungen in Predigtüberschriften (zu Ort und Zeit) erfolgt die Auflösung im editorischen Kopftext der Predigt, in den Apparaten oder im Abkürzungsverzeichnis. Der oftmals fehlende Punkt nach Abkürzungen wird einheitlich immer gesetzt. c. Unsichere Lesarten werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: PnochS) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: PauchS] oder PnochS) vorgeschlagen. d. Ein nicht entziffertes Wort wird durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. e. Überlieferungslücken. Weist ein Manuskript Lücken im Text oder im Überlieferungsbestand auf und kann die Überlieferungslücke nicht durch einen sekundären Textzeugen gefüllt werden (vgl. oben A.e.), so wird die Lücke innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Eine größere Lücke wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. f. Auffällige Textgestaltung wird im Editorischen Bericht oder bei Bedarf im textkritischen Apparat beschrieben (beispielsweise Lücken in einem fortlaufenden Satz oder Absatz). g. Belege für den Entstehungsprozess (wie Zusätze, Umstellungen, Streichungen, Wortkorrekturen, Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. Wortkorrekturen, Streichungen und Hinzufügungen werden, wenn sie
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zusammen eine komplexe Textänderung ausmachen, durch die Formel „geändert aus“ zusammengefasst. h. Zusätze, die Schleiermacher eindeutig in den ursprünglichen Text eingewiesen hat, werden im Text platziert und im textkritischen Apparat unter Angabe des ursprünglichen Ortes und der Formel „mit Einfügungszeichen“ nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der ursprüngliche Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. i. Sind im Manuskript Umstellungen von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen und Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. j. Streichungen. Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern mitgeteilt und dabei der Ort im Manuskript relativ zum Bezugswort angegeben (z.B. durch die Formel „folgt“). Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen. k. Korrekturen Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). l. Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare Entstehungsstufen vor, so werden sie in der Regel jeweils vollständig aufgeführt. m. Fehlende Wörter und Zeichen werden in der Regel im Text nicht ergänzt. Fehlende Wörter, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im textkritischen Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ vorgeschlagen. Fehlende Satzzeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern hinzugefügt. Sofern das besonders gestaltete Wortende, das Zeilenende, das Absatzende oder ein Spatium innerhalb der Wortfolge ein bestimmtes
II. Editorischer Bericht
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Interpunktionszeichen (Punkt, Komma, Semikolon, Gedankenstrich, Doppelpunkt) vertritt, werden solche Zeichen stillschweigend ergänzt. Genauso ergänzt werden fehlende Umlautzeichen sowie bei vorhandener Anfangsklammer die fehlende Schlussklammer. n. Sofern Schleiermacher bei seiner Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand vereinzelt offenkundige Schreibfehler und Versehen der Nachschrift nicht korrigiert oder irrtümlich eine Streichung falsch vorgenommen hat, wird stillschweigend der intendierte Textbestand geboten. Anweisungen zur Textgestaltung, die Schleiermacher bei der Überarbeitung notiert hat, werden stillschweigend berücksichtigt. C. Predigtnachschriften Für die Edition der nicht von Schleiermacher stammenden Predigtnachschriften gelten folgende Regeln: a.–f. Die vorangehend unter Nr. B. a.–f. genannten Editionsregeln gelten unverändert. g. Offenkundige Schreibfehler und Versehen werden im Text stillschweigend im Sinne der üblichen Schreibweise und ohne Apparatnachweis korrigiert, entweder wenn die Korrektur durch einen zuverlässigen Paralleltext bestätigt wird oder wenn es sich, falls kein Paralleltext überliefert ist, um Verdoppelung von Silben, Worten oder Wortgruppen, um falsche Singular- bzw. Pluralbildung, falsche Kleinschreibung oder Großschreibung von Wörtern, falsches Setzen oder Fehlen von Umlautzeichen, falsche graphische Trennung von Wortbestandteilen oder Verknüpfung von Wörtern, Fehlen des Konsonantenverdoppelungsstrichs, um unvollständige Zitationszeichen (fehlende Markierung des Zitatanfangs oder Zitatendes), unvollständige Einklammerung und Ähnliches handelt. Sind offenkundig bei Streichungen und Korrekturen versehentlich Fehler unterlaufen, so wird der intendierte Textbestand stillschweigend geboten. h. Einzelheiten des Entstehungsprozesses (Streichungen, Zusätze, Korrekturen, Umstellungen und Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat nicht nachgewiesen, auch nicht der Wechsel von Schreiberhänden und die Unterschiede in der graphischen Gestaltungspraxis. Nicht einweisbare Zusätze oder Anmerkungen auf dem Rand werden in Fußnoten mitgeteilt. i. Fehlende Wörter und Zeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern ergänzt.
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j. Hervorhebungen bleiben unberücksichtigt. Die thematische Gliederungsübersicht innerhalb einer Predigt wird in der Regel als Block eingerückt. k. Textüberarbeitungen Schleiermachers. Bei einer von Schleiermacher markant und ausführlich bearbeiteten Nachschrift wird sowohl der von Schleiermacher hergestellte Text als auch der zugrunde liegende Text der Nachschrift ediert. Hat Schleiermacher in einer Nachschrift nur vereinzelt Korrekturen, Ergänzungen oder Kommentierungen vorgenommen, so werden diese möglichst gebündelt als Fußnoten mitgeteilt. D. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen. a. Zitate und Verweise werden im Sachapparat nachgewiesen. Für die von Schleiermacher benutzten Ausgaben werden vorrangig die seiner Bibliothek zugehörigen Titel berücksichtigt.196 b. Zu Anspielungen Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist. c. Bei Bibelstellen wird ein Nachweis nur gegeben, wenn ein wortgetreues bzw. Worttreue intendierendes Zitat gegeben wird, eine paraphrasierende Anführung von biblischen Aussagen vorliegt oder auf biblische Textstellen förmlich (z.B. „Johannes sagt in seinem Bericht …“) Bezug genommen wird. Geläufige biblische Wendungen werden nicht nachgewiesen. Für den einer Predigt zugrunde liegenden Bibelabschnitt werden in dieser Predigt keine Einzelnachweise gegeben. Andere Bibelstellen, auf die in einer Predigt häufiger Bezug genommen wird, werden nach Möglichkeit gebündelt nachgewiesen. Weicht ein ausgewiesenes Bibelzitat vom üblichen Wortlaut ab, so wird auf diesen Sachverhalt durch die Nachweisformel „vgl.“ hingewiesen. E. Editorischer Kopftext Jeder Predigt − ausgenommen sind die gedruckten ‚Sammlungen‘ (vgl. KGA III/1–2) und die Manuskripthefte ‚Entwürfe‘ (vgl. KGA III/3) − wird ein editorischer Kopftext vorangestellt. 196
Vgl. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, Zweite Auflage, in: Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 15, S. 637–912
II. Editorischer Bericht
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a. Bestandteile. Der editorische Kopftext informiert über den Termin, den Ort, die ausgelegten Bibelverse, den Textzeugen sowie gegebenenfalls über Parallelzeugen und Besonderheiten. Die Textzeugen werden durch das Genus, die Archivalienangabe und gegebenenfalls den Namen der Autoren/Tradenten von Nachschriften charakterisiert. Sind Autoren und Tradenten verschiedene Personen und namentlich bekannt, werden beide mitgeteilt. b. Verfahrenshinweise. Bei Nachschriften wird gegebenenfalls über vorhandene Editionen des vorliegenden Textzeugen, bei Drucktexten gegebenenfalls über Wiederabdrucke Auskunft gegeben. Bei Wiederabdrucken von Druckpredigten werden keine Auszüge oder Referate berücksichtigt, sondern nur vollständige Textwiedergaben bibliographisch mitgeteilt. Wenn von einer in der jetzigen Publikation als Textzeuge genutzten Predigtnachschrift bereits eine leicht abweichende Version desselben Tradenten ediert worden ist, so wird diese frühere Publikation unter dem Stichwort „Texteditionen“ aufgeführt und als „Textzeugenparallele“ charakterisiert. Wird zu einem Drucktext Schleiermachers eine vorhandene Predigtnachschrift nicht als Textzeuge ediert, so wird diese Nachschrift unter dem Stichwort „Andere Zeugen“ genannt. Die Angaben zum editorisch ermittelten Bibelabschnitt können von den Angaben des Textzeugen abweichen.
2. Druckgestaltung Die Druckgestaltung soll die editorische Sachlage bei den unterschiedlichen Gattungen von Textzeugen möglichst augenfällig machen. A. Seitenaufbau a. Satzspiegel. Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals gegebenenfalls mit Fußnoten, gegebenenfalls Variantenapparat, textkritischer Apparat, Sachapparat. Text, Fußnoten und Variantenapparat erhalten eine Zeilenzählung auf dem Rand. b. Die Beziehung der Apparate auf den Text erfolgt beim textkritischen Apparat und beim Variantenapparat dadurch, dass unter Angabe der Seitenzeile die Bezugswörter aufgeführt und durch eine eckige Klammer (Lemmazeichen) von der folgenden Mitteilung abgegrenzt werden. Beim Sachapparat wird die Bezugsstelle durch Zeilenangabe bezeichnet; der editorische Kopftext samt vorangestellter Überschrift wird als Zeile Null gezählt.
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Einleitung der Bandherausgeber
B. Gestaltungsregeln a. Schrift. Um die Predigtnachschriften graphisch von den Drucktexten Schleiermachers sowie von seinen eigenhändigen Manuskripten abzuheben, werden erstere in einer serifenlosen Schrift (Myriad) mitgeteilt. Dies gilt auch für die Fälle, in denen eine Predigtnachschrift nur in Gestalt eines nicht von Schleiermacher autorisierten Drucktextes als sekundärer Quelle vorliegt. Der Text des Originals wird einheitlich recte wiedergegeben. Bei der Wiedergabe von Manuskripten wird deutsche und lateinische Schrift nicht unterschieden. Graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ordinalzahlen, die durch Ziffern und zumeist hochgestellten Schnörkel oder Endung „ter“ (samt Flexionen) geschrieben sind, werden einheitlich durch Ziffern und folgenden Punkt wiedergegeben. Sämtliche Zutaten des Herausgebers werden kursiv gesetzt. b. Die Seitenzählung des Textzeugen wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich (|) markiert; im Lemma des textkritischen Apparats und des Variantenapparats wird diese Markierung nicht ausgewiesen. Müssen bei Textzeugenvarianten zu derselben Zeile zwei oder mehr Seitenzahlen notiert werden, so werden sie nach der Position der Markierungsstriche gereiht. Wenn bei poetischen Texten die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im fortlaufenden Zitat. c. Unterschiedliche Kennzeichnung von Absätzen (Leerzeile, Einrücken, großer Abstand in der Zeile) wird einheitlich durch Einrücken der ersten Zeile eines neuen Absatzes wiedergegeben. Abgrenzungsstriche werden – außer bei den gedruckten ‚Sammlungen‘ – nur wiedergegeben, wenn sie den Schluss markieren; versehentlich fehlende Schlussstriche werden ergänzt. Die Gestaltung der Titelblätter wird nicht reproduziert. d. Hervorhebungen Schleiermachers (in Manuskripten zumeist durch Unterstreichung, in Drucktexten zumeist durch Sperrung oder Kursivierung) werden einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht. e. Der zitierte Bibelabschnitt einer Predigt, der samt Stellenangabe in den Drucken und Manuskripten vielfältig und unterschiedlich gestaltet ist, wird einheitlich als eingerückter Block mitgeteilt, wobei die Bibelstellenangabe mittig darüber gesetzt und in derselben Zeile
II. Editorischer Bericht
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das Wort „Text“, falls vorhanden, gesperrt und mit Punkt versehen wird. Ist die Predigt verbunden mit Gebet, Kanzelgruß oder Eingangsvotum, so werden diese Begleittexte als Block eingerückt wiedergegeben. f. In Predigtentwürfen Schleiermachers und Dispositionen fremder Hand werden die Gliederungsstufen, die optisch unterschiedlich ausgewiesen sind, einheitlich durch Zeileneinrückung kenntlich gemacht.
3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen A. Schleiermacher-Texte Im vorliegenden Band werden vier von Schleiermacher selbst autorisierte Predigtdrucke ediert. Zur „Predigt am 18ten Weinmond 1818“ existieren handschriftliche Notizen Schleiermachers, die bereits in KGA I/14 ediert worden sind.197 Dabei handelt es sich um eine Disposition der Predigt sowie um Vorüberlegungen zur Ausgestaltung des ersten Hauptteils, die Schleiermacher in einem Gedankenheft festgehalten hat, das Notate aus den Jahren 1817–1819 enthält.198 Das Manuskript bietet darüber hinaus die Disposition einer bislang unbekannten Predigt199, die ver197
198
199
Vgl. KGA I/14, S. 298–299. Die Zuordnung der zweiten Notiz zur selben Predigt ist in KGA I/14 noch nicht vorgenommen worden, legt sich jedoch aus inhaltlichen Gründen nahe. Das Manuskript befindet sich im Schleiermacher-Nachlass der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Nachlassnummer SN 147 (vgl. KGA I/14, S. LXXXII–XCI). Der Text der Notate lautet: „Am 18. October Wovon frommes Andenken an große Thaten frei sein muß. 1. Von Falschheit. Die jezt nicht mehr dieselben Kräfte wollen. Was sie damals hatten sagen sollen. Solche vielleicht nicht hier. Aber an dem Gefühl die Reinheit unsers ganzen Wollens prüfen. 2. Von Trägheit. 3. Von Eitelkeit. Schluß Ueber das Abendmahl an diesem Tage.“ (vgl. SN 147, Bl. 3r) „Predigt I Es gab damals welche die Krieg nicht wollten doch aber Thaten, ehrenwerte – die aber wollten hielten das unwürdige für überstiegen. Wenn nun solche jezt das unwürdige ertragen und doch jenes rühmen sind sie falsch. Ist die hervorbringende Gesinnung nicht in uns so sind wir falsch. II P S konnten damals was sie hernach nicht wieder konnten: P S besser. – Wenn die Beharrlichkeit nicht in uns ist, dann P S Freude in Gott nur vorübergehend.“ (vgl. SN 147, Bl. 3v) Nachdem Schleiermacher die Predigt gehalten hatte, hat er beide Notizen durchgestrichen. „Text. Alles Große leidet die Halbheit nicht. Nothwendige PWahlS. I. Kein Zweifel. Paulus Gerechtigkeit und Sünde. wir fühlen uns nicht frei, wenn wir denken wir hätten noch so handeln können, wie schlecht in diesem keinem und beide wären sündlicher als andere. Der einzelne Mensch ist zu wenig um frei zu sein. //
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Einleitung der Bandherausgeber
mutlich aus der Trinitatiszeit 1818 herrührt.200 Das Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers für diesen Zeitraum legt die Annahme nahe, dass es sich um eine Nachmittagspredigt handelt, ohne dass bislang nähere Angaben zu ihrem homiletischen oder liturgischen Zusammenhang gemacht werden können.201 An folgenden Terminen beruht die Edition auf einem Drucktext Schleiermachers: 01.11.1817 vorm. 18.10.1818 vorm.
04.01.1819 nachm. 28.11.1819 vorm.
B. Andrae-Tradition An einem Termin liegt der Edition eine Predigtnachschrift der Andrae-Tradition zugrunde, die im Schleiermacher-Nachlass der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Signatur SN 596 aufbewahrt wird. SN 596: Der Bestand enthält 49 Blatt im Quartformat mit fünf Nachschriften unterschiedlicher Nachschreiber von Predigten über
200
201
II. Wie ist diese Nothwendigkeit? 1. höchstes Glük. a. Bei uns Keiner würde stark genug sein; die Welt hat nur eine PWirklichkeitS. b. für die andern Gott hassen und verachten kann keiner. Der Läugner zittert, der Teufel zittert. Das ist das Zeichen: sie sind nur entlaufen. Er holt sie wieder. 2. Heilige Pflicht. Alles Dienst Gottes. Keine Theilung.“ (vgl. KGA I/14, S. 296–297) Die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der ursprünglichen Reihenfolge der Blätter des Gedankenheftes erlauben mit Sicherheit nur die Bestimmung des terminus ante quem des Predigttermins. Er muss vor dem 18. Oktober 1818 gelegen haben. Da Schleiermacher von Anfang September bis Mitte Oktober verreist war und nicht gepredigt hat (vgl. KGA III/1, S. 872), käme als spätester Termin der 30. August 1818 infrage. Ein terminus a quo lässt sich dagegen nicht sicher angeben. Die übrigen Einträge im Gedankenheft legen jedoch die Vermutung nahe, dass ungeachtet mancher Unsicherheiten in der Anordnung der Einzelblätter die Notate auf Blatt 3r dem Zeitraum von Juli bis Mitte Oktober 1818 zugewiesen werden können. Der Aufriss der Predigt kann mit keiner der überlieferten Predigten über den christlichen Hausstand, die Schleiermacher in den Hauptgottesdiensten der Trinitatiszeit 1818 gehalten hat, in Verbindung gebracht werden (vgl. KGA III/1, S. 870–872). Die Nachmittagspredigten dieses Zeitraums können bislang nicht dokumentiert werden (die terminliche Einordnung der Predigt vom 5. Juli 1818 über Mt 19,14 ist unsicher), so dass unklar bleibt, ob die Predigt zu einer zusammenhängenden Reihe gehört. Der Anfang der Disposition, der nur das Stichwort „Text“ ohne nähere Angaben zum Bibeltext bietet, könnte dafür sprechen, dass die Predigt Bestandteil einer Homilienreihe gewesen ist, wie sie Schleiermacher häufig in den Nachmittagsgottesdiensten gehalten hat, doch bleibt dies unsicher.
II. Editorischer Bericht
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das Lukasevangelium aus den Jahren 1819202 bis 1832. Die Nachschrift SN 596/1, die zur Andrae-Tradition gehört203, umfasst 12 Blatt. Die Paginierung beginnt mit Seite zwei; die ersten beiden Seiten sind vertauscht und irrtümlich als Blatt 12 gezählt worden. Die Gestaltung des Manuskripts zeigt einige Unregelmäßigkeiten: statt ck wird häufig einfaches k geschrieben, z und tz sowie ß und ss wechseln in der Schreibung unregelmäßig. Fehlende Verdoppelungsstriche über dem Buchstaben wurden stillschweigend ergänzt, versehentliche Zusammenschreibungen wurden korrigiert. Bei der Verwendung des Demonstrativpronomens im Dativ wurde die Form angeglichen. Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): menschlich und
menschl. u.
An folgenden Terminen beruht die Edition auf einem Text der Andrae-Tradition: 26.12.1819 vorm. C. Balan-Nachschriften Die Predigtnachschriften der Sammlung Jenny Balan, die für die Edition herangezogen wurden, gehören zur Jonas-Tradition und befinden sich im Schleiermacher-Archiv der Staatsbibliothek Berlin (Depositum 42a). SAr 42 (Balan A): Die Archivalie enthält sechs Predigten des Jahres 1816 auf 20 gezeichneten Seiten. Die Einzel- und Doppelblätter sind lose ineinandergelegt. Die Predigten sind nicht in chronologischer Reihenfolge angeordnet. SAr 43 (Balan B): In der Mappe befinden sich Abschriften von vier Predigten des Jahres 1816. Das Konvolut besteht aus 48 gezeichneten Seiten in Fadenheftung. Das Vorsatzblatt, das römisch paginiert ist, trägt die Aufschrift „Nachmittagspredigt gehalten von dem Professor Herrn Schleiermacher im Jahr 1816. Kopiert im Jahr 1819 von Jenny Balan.“ Die Predigten sind nicht in chronologischer Folge geordnet. 202 203
Auf dem Archivdeckblatt ist irrtümlich 1815 angegeben. Für den Zeitraum von 1816 bis Pfingsten 1820 hat Andrae vermutlich keine eigenen Predigtnachschriften erstellt, sondern aus der Jonasüberlieferung geschöpft, so dass die Predigt vom 26. Dezember 1819 der Jonas-Tradition zuzuweisen ist (vgl. KGA III/1, S. LXXII).
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Einleitung der Bandherausgeber
SAr 44 (Balan C): Das Archivstück dokumentiert zwei Predigten vom 30. Juni 1816 und 28. Dezember 1817 auf 16 Seiten. Die Doppelblätter sind aus ihrer ehemaligen Fadenheftung gelöst und lose ineinandergelegt worden. Auf der ersten Seite findet sich der Hinweis „Fr. Balan Jäg[er]str. 49“. SAr 45 (Balan D): Die Mappe enthält auf 16 gezeichneten Seiten drei nicht chronologisch geordnete Predigten aus dem Sommer 1816. Die Doppelblätter wurden aus ihrer ursprünglichen Fadenheftung gelöst und lose ineinandergelegt. SAr 46 (Balan E): Das Archivstück beinhaltet zwei Predigten vom 21. Juli 1816 und 26. Dezember 1817. Die letzte der 25 gezeichneten Seiten liegt nur in Kopie vor. Die 13 Blätter sind zu sechs losen Doppelblättern und einem Einzelblatt zusammengelegt. SAr 47 (Balan F): Der Nachlass besteht aus vier Predigten des Jahres 1817 und zeichnet 59 Seiten. Die Seite 35 ist doppelt gezeichnet. Die 30 Doppelblätter sind lose ineinandergelegt. SAr 48 (Balan G): Die Mappe enthält eine Predigt unbekannter Handschrift vom 26. Oktober 1817 auf vier lose ineinandergelegten Doppelblättern. SAr 49 (Balan H): Die Archivalie dokumentiert eine Predigt vom 16. November 1817. Die 14 gezeichneten Seiten bestehen aus fünf Einzelblättern und einem Doppelblatt. SAr 50 (Balan I): Der Nachlass umfasst zwei Predigten vom 1. Januar und 18. Oktober 1818. Von den 15 fadengehefteten Blättern sind die ersten vier als Seite eins bis sieben fortlaufend paginiert. Vor dem ersten Blatt, zwischen den Blättern fünf und sechs sowie nach Blatt 15 sind Blätter aus dem Falz geschnitten worden. Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): und
u./ud.
An folgenden Terminen beruht die Edition auf einer Nachschrift Balans: 11.08.1816 vorm. D. Crayen-Nachschriften Die auf Caroline Crayen zurückgehenden Nachschriften, die bei der Edition berücksichtigt worden sind, gehören zum Bestand des Schleiermacher-Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
II. Editorischer Bericht
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SN 605: Das Archivstück enthält fünf Predigtnachschriften unterschiedlicher Nachschreiber. Die Nachschrift SN 605/4 von Crayens Hand umfasst zwei Seiten. SN 622: Bei diesem Nachlass handelt es sich um ein Heft von neun Seiten im Querformat mit einem festen Einband, in dem sich fünf Predigtnachschriften Crayens finden. SN 623: Die Archivalie enthält acht Blätter im Querformat mit 11 teils sehr knappen Predigtnachschriften. Der Sammlung ist ein Widmungsschreiben Crayens an Schleiermacher beigegeben, in dem sie ihm die Nachschriften als Geburtstagsgeschenk zueignet. Das Schreiben datiert vermutlich aus dem Jahr 1818.204 Die Nachschriften zeigen einige ungewöhnliche Schreibungen wie die Verdoppelung des f (z.B. „Krafft“, „gestiffteten“ etc.) oder die Ersetzung eines einfachen k durch ck (z.B. „dencken“, „Volck“, „gewirckt“ etc.). Daneben fällt eine eigenwillige Interpunktion auf: Doppelpunkte werden in der Funktion von Kommata, Semikola oder einfachen Punkten gebraucht, vielfach dienen Gedankenstriche zur Abgrenzung inhaltlicher wie syntaktischer Einheiten. Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): heil. Hlg. himml.
heilig Heiligung himmlisch
An folgenden Terminen beruht die Edition auf einer Nachschrift Crayens: 11.05.1818 vorm. 05.07.1818 nachm.
22.03.1818 vorm. 23.03.1818 nachm.
Hinzu kommen zwei undatierte Predigtnachschriften, die vermutlich vor Schleiermachers 50. Geburtstag, am 21. November 1818, entstanden sind. E. Gemberg-Nachschriften Die Nachschriften August Friedrich Leopold Gembergs (1797–1850), die für die vorliegende Edition benutzt wurden, werden im Schleier204
Vgl. KGA III/1, S. LXIII–LXIV
LXXVI
Einleitung der Bandherausgeber
macher-Archiv der Staatsbibliothek Berlin (Depositum 42a) aufbewahrt. Eine weitere Nachschrift befand sich im Archiv der Schleiermacher-Forschungsstelle an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.205 SAr 52 (Gemberg A): Die Mappe umfasst 185 Predigtdispositionen aus den Jahren 1818–1824. Das Konvolut besteht aus 168 kleinformatigen Einzel- und Doppelblättern, die zumeist in Lagen zu vier oder acht Blättern lose ineinandergelegt wurden. Die einzelnen Predigtdispositionen sind nicht immer in chronologischer Folge geordnet und teilweise mit Aufzeichnungen von anderen Predigern und eigenen Notizen versetzt. SAr 53 (Gemberg B): Der Nachlass enthält Nachschriften zu acht Predigten, die Schleiermacher im Zeitraum von 1818 bis 1821 gehalten hat. Insgesamt handelt es sich um 78 Blätter, teils lose Einzelund Doppelblätter, die in Lagen zu vier, fünf oder sechs Doppelblättern ineinandergelegt wurden (Bll. 1–32), teils fadengeheftet (Bll. 32– 78) mit eingebundenen Liederblättern (vgl. Bll. 33.58.69). Die Blätter sind in der Handschrift Gembergs und einer weiteren, unbekannten Handschrift geschrieben. SFK 9: Das Archivstück besteht aus fünf ineinandergelegten Doppelblättern. Das äußere Deckblatt trägt die Aufschrift „Zweite Passions-Predigt von Dr. Schleiermacher fürs J. 1819 über 1. Petr. 2,24“. Weiter unten auf der Seite ist von gleicher Hand der Name „Gemberg“ notiert. Eine eigentümliche Schreibung liegt in der gelegentlichen Ersetzung von f durch v (z.B. „vesten“) vor. Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): allgemeine Apostel Augenblick aus Bewußtseyn Christenthum christlich Christus Empfänglichkeit
205
allgem. Ap. Augbl./Augenbl. s. Bewußts. Xthum chrl./chr./christl. Chr./xtus/Xtus Empfängl./ Empfänglichk.
Erkenntnis Gemeinschaft Gott heilige Schrift jähriger Jahr Johannes -lich Menschen Neues Testament
Erk. Gemeinsch. G. h. Schr. jähr. J. Joh. M. / M. N. T.
Das Archivstück ist zusammen mit anderen Archivalien im Oktober 2014 unrechtmäßig entwendet worden.
II. Editorischer Bericht
nicht Pauli Schleiermacher seine
o ˙ P. Schleierm. s.
LXXVII
und Verschiedenheit von
u. Verschiedenh. v.
An folgenden Terminen basiert die Edition auf Nachschriften Gembergs: 30.04.1818 10.05.1818 17.05.1818 29.11.1818 13.12.1818 25.12.1818 10.01.1819 21.02.1819 07.03.1819 21.03.1819
nachm. nachm. vorm. vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. vorm.
04.04.1819 09.04.1819 11.04.1819 02.05.1819 16.05.1819 20.05.1819 09.06.1819 27.06.1819 11.07.1819 12.12.1819
vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm.
F. Jonas-Nachschriften Die Sammlungen von Ludwig Jonas (1797–1857), dem langjährigen Freund und Nachlassverwalter Schleiermachers, auf dessen Nachschriften die vorliegende Edition für die Jahre 1816 bis 1818 vorrangig beruht, befinden sich im Nachlass 481 (Predigten) und im Schleiermacher-Archiv der Staatsbibliothek Berlin (Depositum 42a). SAr 37 (Jonas A): Die Mappe enthält 16 Predigten aus den Monaten Mai bis August des Jahres 1816 und eine Predigt vom 18. Juni 1817. Das Konvolut umfasst 92 Blätter, fadengeheftet und broschiert. Auf dem Einbanddeckel befindet sich ein aufgeklebter Zettel, der in rotbrauner Tinte von Jonas den Vermerk trägt: „Enthält 16 ungedruckte Pred. aus 1816 v. Jonas nachgeschrieben.“ Darunter ist in Bleistift von anderer Hand notiert: „Predigten 1816 von Jonas nachgeschrieben“. Darauf folgt in schwarzer Tinte von Adolf Sydow (1800–1882), dem Jonas die Nachschriften zur Drucklegung der Predigten Schleiermachers in den „Sämmtlichen Werken“ übergeben hatte, die Notiz: „No. 1. 24 Febr. 35 mir v. Jonas übergeben. S.“ Das Titelblatt trägt die Überschrift „XVI. Predigten von Dr. Fr. Schleiermacher nachgeschrieben von Jonas. Sommer 1816“ (Bl. 1r). Die sekundäre Nummerierung der Predigten vom 3. Juni bis zum 4. August 1816 mit römischen Ziffern (VI.–XVI.) oberhalb der ersten Zeile geht vermutlich auf Jonas zurück. Sie ist bei der Edition nicht berücksichtigt worden.
LXXVIII
Einleitung der Bandherausgeber
Sydow hat die Predigten, die noch nicht gedruckt vorlagen, jeweils mit einem Kreuz in der rechten oberen Ecke auf der ersten Seite markiert und auf dem Titelblatt einen entsprechenden Vermerk gemacht: „Die Kreuze bedeuten, [da]ß d[ie] Pred[igt] noch n[icht] gedruckt ist“. Auf der Rückseite des Titelblatts hat er eine Inhaltsübersicht des Heftes erstellt. SAr 38 (Jonas B): Die Archivalie dokumentiert 44 Predigtnachschriften aus den Jahren 1816–1819 auf 516 fadengehefteten Seiten. Der broschierte Buchblock ist mehrfach gebrochen und die ersten acht Seiten haben sich aus der Heftung gelöst. Vor dem Nachsatzblatt findet sich eine Einlage von 12 losen Blättern, die zu Lagen von vier Blättern ineinandergelegt sind (vgl. S. 493–516). Die sekundäre Paginierung springt (1, 3, 5 usw.). Auf dem Umschlagblatt hat Sydow einen Übergabevermerk notiert: „No. 2. 24ter Febr. 35 mir v. Jonas übergeben. S.“ (Bl. Ir) Die römische Zählung der ersten vier „Predigten über eigene Worte des Erlösers, die in den gewöhnlichen Abschnitten nicht enthalten sind und besonders auf die Zeit, in der wir leben, bezogen werden können“, die von Jonas vorgenommen wurde, ist bei der Edition unberücksichtigt geblieben. SAr 39 (Jonas C): Das Archivstück enthält zwei Reinschiften der Predigten vom 29. Dezember 1816 und 1. Januar 1817, zu denen sich auch in SAr 38 Nachschriften finden. Es umfasst 24 fadengeheftete Blätter. Auf Blatt 1r steht am Rand in rotbrauner Tinte der Vermerk von Sydow „(Nachschrift von Jonas?) 29. Dez. 1816 Neujahr 1817“. SAr 40 (Jonas D): In der Mappe befinden sich fünf Blätter, ein Einzelblatt und zwei Doppelblätter, mit Auszügen aus acht Predigtnachschriften von Jonas. Auf dem Einzelblatt stehen auf der Vorderseite Auszüge aus den Predigten vom 9. Februar und 4. April 1817 sowie auf der Rückseite zwei Abschnitte aus der Predigt vom 26. Januar 1817 und dazwischen geschoben ein Auszug vom 1. Januar 1818. Das erste Doppelblatt enthält Auszüge der Predigten vom 23. November und 21. Dezember 1817, vom 1. und 25. Januar 1818 sowie vom 28. Dezember 1817. Der Auszug der Predigt vom 28. Dezember 1817 wird auf der Vorderseite des zweiten Doppelblattes im oberen Drittel fortgeführt. SAr 41 (Jonas E): Die Archivalie besteht aus 60 Blättern, die als lose Doppelblätter in Lagen zu je vier Blättern ineinandergelegt wurden, und dokumentiert neun Predigten des Jahres 1818. Nl. 481 (Predigten): Bei dem Nachlass handelt es sich um ein in Leder gebundenes Heft von 122 Blatt mit 11 Predigtnachschriften unterschiedlicher Schreiberhände sowie zwei Drucktexten und einer gesonderten Einlage, die zehn Blätter umfasst.
II. Editorischer Bericht
LXXIX
Jonas hat das Datum der Predigt meist auf dem rechten oberen Seitenrand notiert. Es wurde in der Edition regelmäßig mittig über die Zeile gesetzt. Fehlerhafte Datumsangaben wurden stillschweigend korrigiert. Die Unterscheidung zwischen einfachem k und ck ist bisweilen unsicher, da sie sich graphisch lediglich im Anstrich unterscheiden. Daneben kommen öfter unregelmäßige Schreibungen vor (z.B. „Irrthum“ und „Irthum“ oder „selig“ und „seelig“). Häufig verwendet Jonas die Abkürzung cet., um den Fortgang des Textes anzudeuten. Dies geschieht beispielsweise bei regelmäßig wiederkehrenden liturgischen Überleitungen (z.B. bei der Einführung zum Herrengebet) oder bei der Anführung biblischer Texte. Gelegentlich schreibt er diese Passagen aber auch aus. Im Text ist die Abkürzung, wo sie verwendet wird, beibehalten worden. An einigen Stellen finden sich längere, ausgepunktete Zeilenabschnitte, bei denen fraglich ist, ob sie eine textliche oder gedankliche Lücke anzeigen, oder im Gegenteil einen textlichen Anschluss herstellen sollen. Diese Stellen werden in der Edition einheitlich durch die zweimalige Setzung von je drei Auslassungspunkten wiedergegeben. Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): äußeres allgemein andächtig Anschuldigung als antwortete Apostel auch auf aus Bedürfnis befriedigen Befriedigung betrachten Brief Christen christlich Christus der, die, das der-, die-, dasjenige
äuß. allgem. andächt. Ansch. l. antw. Apost. â. f. / f. s. Bedürfn. befried./befr. Befried. betr. Br. Chr. chr. Chr. d. / d der-, die-, dasj.
dieser, diese, dieses durch ein -en Eitelkeit entstehen Epiphanias Erden Erlöser Erkenntniß Erzählung Evangelist Evangelium Fertigkeit Förderung Forderungen Galater Gelegenheit gekommen gemeinsam
dsr, dse, dss d. / d 1
Eitelk. entst. epiph./epiphan. E. Erl./Erlös. Erkenntn. Erzähl. Evangel. Evang. Fertigk. Frdrung Forder. Galat. Gelegenh. gek. gem.
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Einleitung der Bandherausgeber
Geschichte geschrieben gewesen Glaube glauben Gleichniß Gott große Handlung heilig heiliger Geist Herrlichkeit heutigen Himmel irdisch Jacobus Jahr Jesus Kirche König Kraft letzter -lich man Matthäus Mensch/Menschen merkwürdig mit
Gesch. geschr. gew. Gl./gl. gl. Gleichn. G. gr. Handlg. heil./hl. heil. G. Herrlichk. heut. H. ird. Jacob. J. J. K. Kön. Kr. letzt. m. Matt. M. merkw. t. / t
Nathanael Neues Testament nicht niedergedrückt post richtig sein scheint Schrift sich Thomas und -ung Unglaube Unterschied Veränderungen verderblich versammelte verschiedene vollständig von vorigen Zeit zu Grunde zusammengenommen zweierlei zwischen
N. N. T. n. / t. / o ˙ / –˙ niedergedr. p. richt. s. sch. Schr. s. / s Thom. u. g. / Ungl. Untersch. Veränd. verdbl. vers. versch. vollst. v. v. Zt. z. Gr. zusgenommen
2lei zw.
An folgenden Terminen beruht die Edition auf einer Nachschrift von Jonas: 12.05.1816 19.05.1816 23.05.1816 26.05.1816 02.06.1816 03.06.1816 09.06.1816 16.06.1816 23.06.1816 30.06.1816
nachm. vorm. vorm. nachm. vorm. nachm. nachm. vorm. nachm. vorm.
04.07.1816 07.07.1816 14.07.1816 21.07.1816 28.07.1816 04.08.1816 29.12.1816 01.01.1817 12.01.1817 26.01.1817
nachm. vorm. nachm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. vorm.
II. Editorischer Bericht
09.02.1817 04.04.1817 06.04.1817 07.04.1817 20.04.1817 08.06.1817 18.06.1817 22.06.1817 29.06.1817 06.07.1817 13.07.1817 20.07.1817 27.07.1817 10.08.1817 19.10.1817 26.10.1817 02.11.1817 11.11.1817 16.11.1817 30.11.1817 14.12.1817 21.12.1817 26.12.1817
vorm. nachm. vorm. nachm. vorm. nachm. nachm. vorm. nachm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. nachm. vorm.
28.12.1817 01.01.1818 11.01.1818 25.01.1818 01.02.1818 08.02.1818 15.02.1818 22.02.1818 01.03.1818 08.03.1818 20.03.1818 31.05.1818 14.06.1818 28.06.1818 12.07.1818 26.07.1818 09.08.1818 23.08.1818 01.11.1818 15.11.1818 24.01.1819 07.02.1819 25.07.1819
LXXXI
vorm. vorm. vorm. vorm. nachm. vorm. nachm. vorm. nachm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.
G. König-Nachschriften August Friedrich Wilhelm König (1796–1855) war von Oktober 1817 bis März 1822 als Theologiestudent an der Berliner Universität eingeschrieben.206 Von seinen Predigtnachschriften haben sich keine Originale erhalten. Eine Notiz im Hauptbuch des Verlags G. Reimer belegt jedoch den Ankauf von 30 Predigtnachschriften Königs zum Philipperbrief, die vermutlich von Adolf Sydow für dessen Edition von Schleiermachers Homilienreihe zum Philipperbrief in SW II/10 herangezogen worden sind.207 Sydow behauptet zwar im Vorwort, die von ihm bearbeiteten Nachschriften würden eine vollständige und zusammenhängende Auslegung des Briefes an die Philipper bieten, die Schleiermacher in den Frühgottesdiensten der Jahre 1822 und 1823 gehalten hat208, ein detaillierter Textvergleich belegt jedoch, dass es 206 207 208
Vgl. KGA III/1, S. LXVI Vgl. KGA III/7, S. LI Vgl. Friedrich Schleiermacher’s literarischer Nachlaß. Predigten. Sechster Band, ed. A. Sydow, SW II/10, Berlin 1856, S. VI–X
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Einleitung der Bandherausgeber
sich bei den von Sydow edierten Texten häufig um eine Kompilation verschiedener Nachschriften handelt, die er teils erheblich gekürzt, erweitert und umgestellt hat.209 Ein Vergleich der Textkompositionen in SW II/10 mit den Nachschriften von L. Jonas zu Schleiermachers Philipperhomilien von 1817/18 legt die Vermutung nahe, dass Sydow neben den Nachschriften Königs zu den Philipperpredigten der Jahre 1822/23 auch solche der Jahre 1817/18 zur Verfügung standen. Ob diese unter die 30 Manuskripte zu rechnen sind, die der Verlag im Februar 1846 von König erworben hat, kann nur vermutet werden.210 Angesichts der unsicheren textlichen Grundlage der von Sydow bearbeiteten Predigten ist bei der Edition den zeitgenössischen Nachschriften von Jonas der Vorrang eingeräumt worden. Nur zu den Predigtterminen, für die keine Nachschrift der Jahre 1817/18 vorliegt und bei denen die kritische Analyse des von Sydow edierten Materials eine Kompilation mehrerer Nachschriften wahrscheinlich macht, ist der Edition die rekonstruierte Fassung des Textes aus SW II/10 zugrunde gelegt worden. Es ist jedoch zu betonen, dass in diesen Fällen sowohl die Textrekonstruktion selbst als auch die Zuweisung zu den Philipperhomilien der Jahre 1817/18 mangels Paralleltexten methodischen Vorbehalten unterliegt. In Anbetracht der teils gravierenden Eingriffe in das Material, die Sydow bei der Vorbereitung seiner Ausgabe unternommen hat, ist es nicht mehr möglich den Gedankengang der Predigten aus den Textvorlagen in SW II/10 vollständig zu rekonstruieren. Sydow hat die Texte nicht nur teils stark gekürzt und durch selbst formulierte Abschnitte ergänzt, sondern auch Predigtteile getrennt und zu neuen Textkompositionen zusammengefügt. Die verschiedenen Textanschlüsse und -übergänge wurden in der Edition durch Hinweise auf die Textkomposition in SW II/10 ausgewiesen. Die Nachschrift zu Phil 2,5–11 vom 14. September 1817 ist von Sydow auf zwei Predigten aufgeteilt worden, wobei die Abfolge der Predigtteile vertauscht wurde. Hier ist bei der Edition der Versuch unternommen worden, den ursprünglichen Gedankengang durch Umstellung wiederherzustellen. Zur vermuteten Predigt über Phil 2,1–4 am 3. August 1817 hat sich keine Textüberlieferung erhalten.211 209 210
211
Vgl. die Übersicht über die kritische Analyse der Texte in KGA III/7, S. LIII–LXIV Hier ist wenigstens darauf hinzuweisen, dass Sydow zumindest die Nachschriften von Jonas zu den Philipperpredigten der Jahre 1817/18 bei seiner Edition ebenfalls zur Verfügung standen (vgl. oben S. LXXVII–LXXVIII), obgleich diese häufig einen kürzeren Text bieten. Die Predigt über Phil 2,1–4 (vgl. SW II/10, S. 480–491) ist vermutlich der Homilienreihe des Jahres 1822 zuzuweisen (vgl. KGA III/7, S. LVIII), ohne dass diese Annahme bislang durch Parallelzeugen gestützt werden kann.
II. Editorischer Bericht
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An folgenden Terminen beruht die Edition auf einer gedruckten Nachschrift Königs: 12.10.1817 nachm. 04.01.1818 nachm.
14.09.1817 nachm. 28.09.1817 nachm.
H. Maquet-Nachschriften Die Predigtnachschriften der Sammlung von Betty Maquet212, die für die Edition herangezogen wurden, befinden sich im SchleiermacherArchiv der Staatsbibliothek Berlin (Depositum 42a). SAr 51: Die Mappe enthält 15 nicht chronologisch geordnete Predigten aus den Jahren 1817–1822. Das Konvolut besteht aus 91 Blättern, die teils fadengeheftet sind (Bll. 1–40.47–58.71–91), teils als lose Doppelblätter ineinandergelegt wurden (Bll. 41–46.59–70). Die Nachschrift vom 5. April 1818 umfasst sechs fadengeheftete Blätter und gehört vermutlich zur Jonas-Überlieferung. Die Predigtnachschrift vom 18. April 1819 ist von fremder Hand geschrieben. Die acht Blätter wurden als lose Doppelblätter ineinandergelegt und werden der Andrae-Tradition zugewiesen, die jedoch für den Zeitraum vor Pfingsten 1820 vermutlich aus der Jonas-Überlieferung geschöpft hat. Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): ausflossen ausfl. heilige Schrift h. S. und u. An folgenden Terminen basiert die Edition auf einer Nachschrift Maquets: 05.04.1818 vorm. 18.04.1819 vorm. I. Schirmer-Nachschriften Die Predigtnachschriften des Prenzlauer Predigers Karl Friedrich August Schirmer (1799–1858), die für die Edition bearbeitet wurden, befinden sich im Schleiermacher-Archiv der Staatsbibliothek Berlin (Depositum 42a). 212
Vgl. KGA III/1, S. LXVI
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Einleitung der Bandherausgeber
SAr 54 (Schirmer A): Die Archivalie beinhaltet auf 187 Blatt 18 Nachschriften aus den Jahren 1818–1831 mit einem Anhang (vgl. Bll. 181–187). Die einzelnen Predigten wurden überwiegend fadengeheftet und haben einen geklebten Falz; nur Bll. 109–116 und 117–124 wurden auf anderem Papier geschrieben und liegen geheftet vor. Die in Reinschrift abgefassten Texte wurden im Zusammenhang der Vorbereitung der Edition der Predigten Schleiermachers in den „Sämmtlichen Werken“ von L. Jonas an A. Sydow übergeben, wie aus einem Vermerk Sydows auf dem Umschlagblatt hervorgeht: „18 Predigten Schl’s. 1819–1831 [sic!] No. XVI (18 Predigtabschriften v. Schirmer an Jonas gesandt, u. mir übergeben Anfang März 1835) Sydow“ (Bl. Ir). Auf der Rückseite befindet sich eine Inhaltsübersicht von Sydows Hand. Die Nachschrift der Grabrede auf den Theologiestudenten Johann Gottlieb Wilhelm Weber (vgl. Bll. 1–5) nennt als Datum irrtümlich den 18. Januar 1818. Weber verstarb am 25. Januar, die Beisetzung fand drei Tage später, am 28. Januar, statt.213 Die Dublette dieser Nachschrift im Anhang (vgl. Bll. 181–187) trägt den Besitzvermerk „Jonas“. An folgenden Terminen beruht die Edition auf einer Nachschrift Schirmers: 28.01.1818 05.05.1819 vorm.
13.06.1819 vorm. 14.11.1819 vorm. J. Woltersdorff-Nachschriften
Die dem „Fräulein“ Woltersdorff als Tradentin zugeordneten Nachschriften, die im vorliegenden Band berücksichtigt worden sind, befinden sich im Bestand des Schleiermacher-Archivs der Staatsbibliothek Berlin (Depositum 42a). SAr 58 (Woltersdorff A): Die Mappe dokumentiert sieben Predigten des Jahres 1819. Die 18 losen Doppelblätter sind in Woltersdorffs Handschrift abgefasst; vereinzelt finden sich Korrekturen und Randbemerkungen von fremder Hand. An den Nachschriften der Woltersdorff-Tradition haben ausweislich der verschiedenen Schreiberhände, die sich in den Manuskripten identifizieren lassen, mehrere Personen mitgewirkt. Vor allem die Zu213
Vgl. oben S. XXIV
II. Editorischer Bericht
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sammenarbeit mit Caroline Crayen kann häufig beobachtet werden.214 Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): Andenken Anweisungen Apostel Auferstehung Beantwortung Betrachtung Capitel Christen christlich Christus der Erlöser Ermahnungen Evangelium Fortsetzung Gastfreiheit
And. Anw. Apst. Auferst. Beantw. Betr. Cap. Chr. christl. Chr. d. Erl. Erm. Ev. Fortsetz. Gastf.
Gesetz göttlich Gott Herr Johannes Mensch menschlich Predigt Reich Gottes und Vater Verstorbenen von Vorstellung Wahrheit
Ges. göttl. G. H. Joh. M. mensch./ menschl. Pr. R. G. u. V. Verst. v. Vorst. Wahrh.
An folgenden Terminen beruht die Edition auf einer Nachschrift von Woltersdorff: 12.04.1819 vorm. 31.10.1819 vorm. 07.11.1819 nachm.
21.11.1819 nachm. 05.12.1819 nachm. 25.12.1819 nachm.
Die Liederblätter zu den Hauptgottesdiensten sind in der vorliegenden Edition den einzelnen Predigtnachschriften jeweils als Anhang beigegeben worden. Katja Kretschmar Michael Pietsch
214
Vgl. KGA III/1, LXIX–LXX
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Einleitung der Bandherausgeber
Ich war vier Jahre als Editorin an der Schleiermacher-Forschungsstelle in Kiel tätig. Kurz vor der geplanten Fertigstellung des Bandes änderte sich meine familiäre Situation. Nach der Frühgeburt unserer Tochter Leonore im November 2010 konnte ich die Arbeiten an diesem Band nicht wie geplant zu Ende führen. Mit den familiären Veränderungen gingen berufliche einher. Ich kehrte im Anschluss an die Elternzeit nicht an die Schleiermacher-Forschungsstelle zurück, sondern trat mein Vikariat in der Thomaskirche in Schulensee bei Kiel an. Die Umstellungen haben die kontinuierliche Arbeit an der Edition erheblich erschwert und den Abschluss des Manuskripts deutlich verzögert. Nach dem Vikariat übernahm ich eine Pfarrstelle in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Eine erneute Schwangerschaft und die Geburt der Zwillinge Theresa und Theodor im Juni 2014 machte die Weiterarbeit an der Edition unmöglich. Dass der Band trotz der zahlreichen Abbrüche und Unterbrechungen erscheinen kann, ist vor allem der tatkräftigen und kollegialen Unterstützung der Mitarbeiter der Schleiermacher-Forschungsstelle an der Universität Kiel zu verdanken. Allen voran ist hier Prof. Dr. Dr. Günter Meckenstock zu nennen, der Leiter der Schleiermacher-Forschungsstelle. Seine fachliche Beratung, stete Ermutigung und humorvolle Gelassenheit haben entscheidend dazu beigetragen, dass der Band in dieser Form erscheinen kann. Darüber hinaus möchte ich den Kolleginnen und Kollegen an der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle für die gute Zusammenarbeit danken: Elisabeth Blumrich für zahlreiche Hinweise, Kirsten Kunz für die intensiven Beratungen vor allem in der Anfangsphase der Editionsarbeit und Patrick Weiland für die verlässliche Unterstützung auch nach meinem Ausscheiden aus der Forschungsstelle. Dr. Michael Pietsch ist ab Mai 2014 in die Arbeit an der Edition eingestiegen und hat eine abschließende Sichtung des Textteils sowie die Abfassung der Historischen Einleitung und des Editorischen Berichts übernommen. Dr. Dirk Schmid und Dr. Ralph Brucker haben den Text und die Apparate einer letzten Durchsicht unterzogen und die Einleitung Korrektur gelesen. Für zahlreiche Verbesserungsvorschläge sei ihnen herzlich gedankt. Dr. Dirk Schmid hat darüber hinaus die Koordination der Schlussredaktion des Manuskripts übernommen. Der Band hätte jedoch nicht fertiggestellt werden können ohne die beständige Unterstützung der studentischen Hilfskräfte Merten Biehl, Tobias Götze, Ronja Hallemann, Judith Ibrügger, Christian Müller und Kirsten Reinfeld, die den Text mehrfach Korrektur gelesen und die Erstellung der Register und Verzeichnisse übernommen haben. Merten Biehl hat zudem die zeitgenössische Literatur auf Rezensionen und Anzeigen durchgesehen. Ihnen allen sei von Herzen ge-
II. Editorischer Bericht
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dankt. Ein besonderer Dank gilt schließlich Herrn Rolf Langfeldt, dem Leiter der Fachbibliothek der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Kiel, der stets mit unermüdlichem Eifer und Rat bei der Herbeischaffung selbst entlegenster Literatur behilflich war. Der größte Dank gebührt meinem Mann, Joachim Kretschmar, der mich in all den Jahren stets liebevoll unterstützt und mir im Alltag immer wieder den Rücken freigehalten hat, damit ich gemeinsam mit Schleiermacher am Schreibtisch sitzen konnte. Kiel, im November 2014
Katja Kretschmar
Predigten 1816
Am 12. Mai 1816 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Cantate, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,24–29 Nachschrift; SAr 37, Bl. 2r–4v; Jonas Keine Keine Keine
Am 12. May 1816.
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Ueber die ersten Bekenner des Erlösers und die ersten Zeiten der christlichen Gemeinden herrschen verschiedene ja entgegengesetzte Ansichten. Bald erheben wir die Christen jener Zeit und alles, was wir von ihnen wissen, bald legen wir den ersten Jüngern des Herrn menschliche Schwächen und Fehler mit einer Härte aus, die sie nicht verdienen. Das erste ist in vieler Hinsicht unrichtig; denn es wäre ja übel, wenn der menschliche Geist durch so lange Zeiten nicht höher gekommen wäre und die Vorarbeiten aller großen Meister unter den früheren Christen nichts bewirkt hätten. Das zweite ist gewiß eben so unrichtig; denn wenn die Jünger im Einzelnen sich das hätten zu Schulden kommen lassen, was man ihnen aufbürdet, so wären sie gewiß nicht im Stande gewesen, so für die Lehre des Erlösers zu wirken. Es ist daher unverantwortlich, dem Petrus und Thomas, das, was sie gethan, auf eine übermäßig harte Art auszulegen und letztern noch jetzt mit dem Schimpfnamen des Ungläubigen zu belegen. Dieser sey der Gegenstand der Betrachtung. Evang. Johannis. 20. 24–29. Thomas aber, der Zwölfen Einer, der da heißt Zwilling, war nicht bei ihnen, da Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Es sey denn, daß ich in seinen Händen sehe die Nägelmaale und lege meine Finger in die Nägelmaale und lege die Hand in seine Seite, will ich es nicht glauben. Und über 8 Tage waren abermal seine Jünger darinnen und Thomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Thüren verschlossen waren und tritt mitten ein und spricht: Friede sey mit euch! | 1 12.] 11.
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Am 12. Mai 1816 nachmittags
Darnach spricht er zu Thoma: Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Hände; und sey nicht ungläubig, sondern gläubig. Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Dieweil du mich gesehen hast, Thoma, so glaubest du. Seelig sind, die nicht sehen und doch glauben. Anders wollen wir das, was Thomas zu erkennen gab, auch nicht nehmen, als der Erlöser es nimmt, indem er sagte: sey nicht ungläubig, sondern gläubig. Aber wir müssen doch einen Unterschied machen zwischen dem Unglauben an Gott und an dessen Verheißungen und dem Unglauben dieses Jüngers an die Wahrheit der Auferstehung des Herrn. Es war dies der Unglaube eines Gläubigen. Und so kann es jetzt noch denen gehen, die ungläubig sind, wenn von der Erfüllung einer göttlichen Verheißung die Rede ist. Wir wollen nun lernen 1. woher dieser Unglaube komme und 2. wie wir ihn zu behandeln haben, wenn wir dem Beispiele des Erlösers folgen wollen.
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1. Was den ersten Punct betrifft, so haben wir folgendes zu bedenken: Thomas hatte dasselbe Recht, welches die andern hatten, auf dem unmittelbaren Wege zur Erkennung der Auferstehung des Herrn zu kommen; denn jene hatten ihn selbst gesehen. Es ist ihm also schon deswegen zu verzeihen, daß er seinen Glauben aufschieben wollte, bis er ihn selbst gesehen, wie sie. Auch gaben ihm | die Jünger durchaus keine näheren Gründe und Umstände an, sondern sie sagten bloß: der Herr ist uns erschienen. Nicht, das und das hat er geredet. Wenn sie ihm das mitgetheilt hätten, was der Erlöser dem gesagt hatte, welcher ihm auf dem Wege nach Emmahus begegnet war, so würde er ihnen anders geantwortet und sich mit ihnen auf die Gründe und die nähern Umstände eingelassen haben. Sie haben ihm also nur eine sinnliche Gewißheit mitgetheilt. Auch wissen wir ja sehr gut aus Erfahrung, wie leicht die Menschen, wenn sie darniedergedrückt sind, bei dem kleinsten Strahle von Hoffnung sich gleich fortreißen lassen auch den Schein als Gewißheit anzunehmen. Thomas hatte gewiß an sich selbst und andern diese Erfahrung gemacht und wenn ihm vorschwebte, wie tief die Jünger gebeugt, in welcher Gemüthsbewegung sie gewesen und wie durch die Nachricht der Frauen ihr Gemüth plötzlich erheitert war, so konnte er wol glauben, daß sie durch einen falschen Schein betrogen seyen. Und er konnte wahrlich nachher 26–28 Vgl. Lk 24,25–27
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Predigt über Joh 20,24–29
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nicht mit Unrecht sagen, daß sein Zweifel nothwendig gewesen sey, um uns, den spätern Jüngern des Herrn, desto mehr Gewißheit zu geben. Dies auf uns angewandt, müssen wir sagen, daß ein Unglaube, wenn auch der Gegenstand mit unsern Hoffnungen zusammenhängt, nicht zu tadeln ist, zumal wenn wir wissen, daß er aus einem liebenden Gemüthe gekommen. | Da wir nun so wenig ungünstig denken über den Zustand des Thomas, so wollen wir lernen 2. wie ein solcher Unglaube zu behandeln sey. Dies können wir lernen a. von den Jüngern[.] Denn wir sehen ja, wie sie den Zweifel des Thomas aufgenommen haben, und zwar daraus, daß sie gegen denselben nichts darüber äußerten. Es kommt ja so oft im menschlichen Leben vor, daß der Eine schon glaubt, wenn der Andre noch schwankt und von der Zukunft Sicherheit erwartet. Ersterer ist sich ganz gewiß seines Vertrauens auf Gott bewußt und es ärgert ihn, wenn er dies bei andern nicht findet. Aber niemals möge uns das eine Veranlassung werden, die Liebe in uns zu hemmen und bitter zu werden, gegen die, welche unsern Glauben noch nicht theilen. Und weil ein aufgeregtes Gemüth nicht immer das Wahre vom Falschen unterscheiden kann, so ist dazu ein kalter Geist äußerst nothwendig. Dies wußte der Erlöser sehr wol, weßhalb er auch beide Extreme um sich versammelte. – Die Jünger wurden also nicht bitter gegen den Thomas, sondern warteten den Erlöser ruhig ab | damit dieser ihn selbst überzeuge, weil sie einsahen, daß er doch nicht anders würde überzeugt werden können. b. von dem Erlöser. Er war es allein, der den Thomas überzeugen konnte, wie er es verlangte. Weit also entfernt, ihn zu strafen, eilte er sogar, ihn zu überzeugen, wie er die andern überzeugt hatte, bloß aus dem Gefühle, daß Thomas das Recht habe, dieselben Gründe zu verlangen, die jenen geworden waren. Wollen wir dies auf uns anwenden, so dringt sich natürlich die Frage auf: „aber können wir erfüllen, was ein ungläubiges Gemüth verlangt?“ Nicht immer, aber zuweilen. Wir können nemlich die Nichtgläubigen durch unser eigenes Beispiel beruhigen und sie zum Glauben führen, wenn jeder nach seinem Glauben handelt und immer deutlicher ans Licht bringt, was er für wahr hält. Wer also einen Glauben hat, der handle nach demselben; dann wird er diesen Glauben auch andern verschaffen, wie Christus dem Thomas. Warum wartete aber Jesus 8 Tage? An seiner Liebe lag es gewiß nicht. Sey es nun, daß die Jünger gerade nur immer an diesem | Tage zusammenkamen, weil sie, wie von ihnen 40–1 Vgl. Joh 21,1–14
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Am 12. Mai 1816 nachmittags
geschrieben stehet jeder nach seinem Berufe sich öfters zerstreuten, oder irgend etwas anderes, so kam er doch gewiß so früh, als möglich. Aber so sehr er auch wünschen mußte, den Thomas sobald es sich nur thun ließe, zu überzeugen, so wartete er doch ruhig den schicklichen Zeitpunct ab, wo seine Belehrung am besten würde wirken können. So sollen im Kleinen auch wir handeln. Wir sollen alles mit der nöthigen Ruhe und Sicherheit thun und, Rücksicht nehmend auf unsre Pflicht und die Lage der Dinge, den Augenblick abwarten, wo wir den Glauben mittheilen können. Die Nachsicht Jesu übrigens ist uns ein sicherer Beweis, daß der Glaube, wie der Zweifel gleich nützlich ist. Aber zuweilen ist jener nothwendiger, als dieser. Wo Großes geschehen soll, da ist die Zweifelsucht nicht an ihrer Stelle, da muß man weniger kalt untersuchen und es giebt Zeiten, wie auch wir sie kennen, wo wir mehr auf innere Andeutungen, als auf äußere Zeichen warten sollen, um selbst dasjenige hervorzubringen, wodurch sich unser Glaube bestätigt. Christus sprach: dieweil du mich gesehen hast, Thomas, glaubest du, aber seelig sind, die nicht sehen und doch glauben. Aber auch den Ungläubigen, die es aus wahrem Herzen sind, laßt uns mit Liebe und Sanftmuth entgegen kommen!
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Am 19. Mai 1816 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Rogate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,17 Nachschrift; SAr 37, Bl. 6r–9v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 42, S. 1–4; Jonas, in: Balan Keine
Den 19. May. 1816.
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Die theuren Stunden, die der Erlöser nach seinem Tode mit seinen Jüngern verlebte, bestimmte er, 1. ihnen alle Zweifel zu nehmen, sie eindringen zu lassen in die göttlichen Ordnungen und sie aufs Neue zu beleben, besonders aber 2. sie vorzubereiten auf den großen Beruf, der ihrer nun wartete. Was das 1. betrifft, haben wir bisher auf manches gemerkt, was dahin zielt. Jetzt wollen wir sehen, was der Erlöser in Beziehung auf [das] 2. vorzüglich zu seinen Jüngern geredet hat, damit wir erkennen, wie wir auch diesen Theil unsers Berufs erfüllen sollen.
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Joh. 21. 17. Spricht er zum drittenmale zu ihm: Simon Johannes, hast du mich lieb? Petrus ward traurig, daß er zum dritten Male zu ihm sagte: hast du mich lieb, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, daß ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schaafe.
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Diese Worte sind aus der Erzählung des Evangelisten von der letzten Zusammenkunft des Erlösers mit seinen Jüngern. Die Frage, die der Erlöser zu wiederholten Malen that und zuletzt die Worte: „so weide meine Schaafe“ zeigen uns wol deutlich genug, wie er eben in Beziehung auf diesen großen Auftrag jene Frage an ihn richtete. Wir sehen, wie ernst es der Erlöser damit nahm und können daraus schließen, daß für alle leidende Wirksamkeit im Großen und im Kleinen das die Hauptsache ist, daß man ihn lieb habe. Um aber zu erkennen, wie sehr die Liebe zu Christo bei aller Wirksamkeit in seinem Reiche die Hauptsache ist, laßt uns sehen | 1. auf das Ziel, welches wir unserer Thätigkeit vorstecken müssen 2. auf die Art, wie wir zu Werke gehen müssen, es zu erreichen.
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Am 19. Mai 1816 vormittags
[1.] Ueberall, wo es auf Wirksamkeit im Reiche Christi ankommt, ist die Liebe zu ihm deswegen die Hauptsache, weil sonst keine Sicherheit da ist, daß der Mensch seiner Thätigkeit das rechte Ziel vorstecke. Wenn in menschlichen Dingen sich etwas Bedeutendes ereignet, wenn wir zb. eine Stimme haben bei der Wahl eines Mannes, der das Ganze leiten und von dem das Wohl Vieler abhangen soll, sehen wir freilich sehr auf seine geistigen Kräfte. Aber wenn wir nicht über die Gesinnung des Menschen einig sind, der uns regieren soll, o wie zittern wir, daß nicht gerade seine große Geisteskraft, in je höherem Maaße sie ihm ertheilt ist, desto mehr von ihm gemißbraucht werde. Nur darin finden wir Sicherheit vor diesen aus dem Mißbrauch jener Kräfte nothwendig entstehenden Uebeln, daß wir wissen, es wohne in ihm eine reine und wahrhafte Liebe zu dem Ganzen, welches er leiten soll, daß wir überzeugt sind, er wolle für sich nichts, für uns alles. Wenn wir nun auf die leidende Wirksamkeit in dem Reiche des Erlösers sehen, worauf kann es dann mehr oder vielmehr worauf kann es dann sonst noch ankommen, als auf die reine Liebe des Herzens zu ihm? Suchen wir nichts anders, als | ihn, nur dann wird sein Geist und seine Liebe uns vor Eigenliebe, Ehrgeiz und überhaupt vor all dem, was uns das rechte Ziel aus den Augen rücken kann, bewahren. Und so wird auch gewiß durch nichts anderes das Auge des Geistes geschärft werden, um zu erkennen, was jedesmal Noth thue. Denn lieben wir ihn, wie sollten wir nicht ein feines Gefühl haben, das zu bemerken, was sich mit seiner Lehre nicht verträgt? wie sollten wir alles dieses nicht auszurotten suchen? wie könnten wir dann das rechte Ziel nicht aufstecken? und was könnten wir Anderen besseres mittheilen, als dasselbe Gefühl der Liebe, was uns beseelt? Nehmen wir aber diese Liebe hinweg, was wird dann die Wirksamkeit des Menschen? wie kann sie in Uebereinstimmung stehen mit der Gewalt des Erlösers? Und wenn der Mensch von dieser Liebe nicht beseelt ist, dann kann er es nur von einem eitlen selbstsüchtigen Bestreben seyn, dann können nur Blendwerke seinen Augen vorschweben, sobald er für die Menschheit wirken will und was er bewirkt, muß erst von andern wieder weggeräumt werden. 2. Was die Art, wie wir zu Werke gehen müssen, dieses Ziel zu erreichen betrifft, so scheint es freilich weit mehr auf die andern Gaben anzukommen. Wolan! (werden wir sagen) wenn der Mensch nun auch das | Gute will, wie viel gehört dazu, es zu erreichen, so lange es nur ankommt auf das Vorwurfsfreie und Reine in seinem Leben? O dann sehen wir wol von selbst (werden wir sagen), daß er an dieser Liebe genug hat. Aber sobald seine Thätigkeit aus diesen Grenzen heraustritt, dann fühlen wir auch, daß es auf mehr ankommt, als auf die reine Gesinnung des Menschen. Warum dies aber und worauf beruht es, daß wir mehr vom Menschen verlangen?
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Wenn wir die Geschichte unseres Textes vor Augen haben, so finden wir gleich Aufschluß darüber. Der Mensch fehlt mannigfaltig. Fehlt ihm daher Selbstvertrauen und das Vertrauen andrer zu ihm, so ist die Erreichung des Ziels nicht möglich. Dies war der Fall bei Petrus. Wie sollte man ihm vertrauen, da man seine Schwachheit nur allzu sehr kannte. Wir müssen auch glauben, daß der Erlöser gerade in Beziehung auf diesen Fehler dies Gespräch mit ihm anfing und das Vertrauen seiner Mitjünger auf ihn zurückrufen wollte. Er läßt es aber bei dem Einen bewenden: hast du mich lieb? Giebt es denn nun wirklich nichts anderes und nichts besseres, was uns Zuversicht zu den Menschen geben könnte ungeachtet ihrer Schwachheiten, die wir an ihnen kennen, als eben dieses, daß sie den Erlöser lieben? | Daß jeder dem Fehlen unterworfen ist, wissen wir. Aber je mehr in einem Menschen das ist, was ihn warnen kann, wenn er im Begriff ist zu fehlen, welches ihm keine Ruhe läßt, wenn er gefehlt hat, um desto mehr können wir ihm vertrauen. Und was ist dies anders und was kann er in Beziehung auf das Reich Christi anders seyn, als die wahre und reine Liebe des Herzens zu ihm? Haben wir gefehlt, so haben wir immer gegen ihn gefehlt. Je mehr wir ihn lieben, desto mehr wird uns jeder Fehltritt schmerzen und desto treuer werden wir seyn, wieder gut zu machen, was wir in menschlicher Schwachheit gefehlt haben. Wo dies aber nicht ist, wo statt der Liebe zum Erlöser nur die Liebe zu sich selbst getreten ist, da kann leicht jeder Fehler eine tiefere Wurzel haben, aus welcher immer neue und neue hervorschießen, da kann vielleicht ein Bestreben entstehen, das Unrecht unter dem Scheine des Rechten zu verbergen und Fehler auf Fehler zu häufen, damit man weniger scheine gefehlt zu haben. Und was anders kann den Menschen vor Fehlern schützen, die aus seiner Lage entstehen, als die Liebe zu dem göttlichen Erlöser? Je mehr wir ihn lieben, desto mehr wird er uns vor Augen stehen und je mehr wir schon wie | Petrus Thränen der Reue geweint haben, um desto mehr wird sein Bild in uns hervortreten, wenn wir wieder im Begriffe sind zu fehlen. Daher der Erlöser Recht hatte, in Beziehung auf den Fehltritt nach nichts anderem zu fragen, als: hast du mich lieb? Nirgends ist eine leidende Wirksamkeit eine geschlossene, sondern alle Thätigkeit, je weiter sie eingreift, (und wo könnte dies mehr geschehen als im Reiche Christi?) ist eine allgemeine. Dazu glauben wir denn gehöre große Weisheit. Wie leicht tritt der Eine dem Andern entgegen, wie leicht vernichtet der Eine, was der andre gebaut hat. Da gilt es, denken wir, mit beständiger Aufmerksamkeit auf das gerichtet zu seyn, was jeder Einzelne thut und wieder gut zu machen, was andre verdorben haben. Dies alles scheint mehr zu fordern, als jene Liebe, nach der dennoch der Erlöser allein 4–5 Vgl. Mt 26,69–75; Mk 14,66–72; Lk 22,54–62; Joh 18,25–27 Mt 26,75; Mk 14,72; Lk 22,62
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fragte. Aber was nennen wir Geschicklichkeit und Einsicht? woher kommt es anders, als aus der Liebe, dieses zu leiten und zu fördern? und wo es darauf ankommt, alle Menschen zu einem großen Zwecke zu verbinden, wie geschieht dies anders, als aus Liebe und Eifer für die Sache, die zu fördern ist? Was setzt uns darüber hinweg, wenn wir gekränkt werden in unserm Thun, | als immer nur die Liebe und der Eifer für die Sache? In der Liebe sollen wir uns selbst vergessen und Eins unter einander seyn, wie er Eins ist mit seinem Vater. Welche größere Sicherheit kann es geben, daß das große Werk gefördert werde, als nur die Liebe zu dem Einen? Was kann hervorbringen, die Fehler des Andern als die unsrigen anzusehen, als die Liebe zu ihm und durch ihn zu uns untereinander? – Kurz vor dem Tode des Erlösers hatten die Jünger wol noch manche unrichtige Vorstellung so wol vom Zweck als von den Mitteln desselben. Sie hatten immer noch unter der Gründung seines Reichs das Reich Israels und sich eine weltliche Herrlichkeit gedacht. Durch seinen Tod und das was er an den Tagen nach seiner Auferstehung mit ihnen redete, waren ihnen die Augen aufgegangen und ihr Reich war nun ein andres, daher wir wol sagen können, daß er ihnen auch ein andrer geworden war. Wenn wir dies bedenken, werden wir der Frage des Erlösers noch einen höhern Sinn beilegen: habt ihr mich lieb? auch jetzt noch, wo ich gesagt habe, daß ich leiblich von euch scheide? daß ihr werdet verfolgt werden? habt ihr mich nun noch lieb, so weidet meine Schaafe. | Und so ergeht denn diese Frage auch an uns: „hast du mich lieb, da noch so manches aufgeopfert werden muß?“ und nur wenn wir immer wieder mit Ja antworten können, wenn wir uns dabei auf ihn selbst berufen können, nur in dem Maaße sind wir fähig, unsre Stelle in seinem Reiche auszufüllen. So laßt uns denn alle Kräfte unseres Geistes und unseres Willens hierauf richten! laßt uns nur fragen: kennen wir ihn und lieben wir ihn? Darnach laßt uns nur prüfen und darnach auch nur bei andern fragen, wenn es darauf ankommt, andern unser Vertrauen zu schenken! Ja, in allem was uns wichtig ist, laßt uns nur hiernach allein fragen! Amen.
7–8 Vgl. Joh 10,30
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Am 23. Mai 1816 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Himmelfahrt, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche Mt 28,16–20 Nachschrift; SAr 37, Bl. 10r–13v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 42, S. 4–7; Jonas, in: Balan Keine
Am Himmelfahrtstage, den 23. May. 16.
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Wunderbar und prophetisch ist der Anfang der Geschichte unsers Erlösers. Lange geahnet von denjenigen, welche auf eine höhere Weise, obgleich nur vorübergehend, vom Geiste Gottes erfüllt, betritt er innig gewünscht, als die Zeit und Stunde sich nahet, den Schauplatz der Welt, von allen Söhnen der Erde schon durch sein wunderbares Entstehen verschieden. Eben so wunderbar ist sein Wegscheiden. Mit diesem aber hebt sich der Glaube an seine Macht und seine Gewalt. Von seiner bevorstehenden Wiederkunft reden alle, die an ihn glauben und der heutige Tag ist der Gedächtnißtag dieser letzten wunderbaren Erhöhung unsers Erlösers von der Erde. Wie wenig wir nun vermögen, das, was die heiligen Bücher hierüber enthalten, aufzulösen, so verweilen wir am besten bei demjenigen, wovon wir das klarste Bewußtseyn erlangen können, was wir lebendig fühlen und was uns immer mehr mit ihm, dem wir angehören, verbindet. Matth. 28,16–20 Aber die eilf Jünger gingen in Galliläam auf einen Berg, dahin sie Jesus beschieden hatte. Und da sie ihn sahen fielen sie vor ihm nieder; etliche aber zweifelten. Und Jesus trat zu ihnen, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Und lehret sie alles halten, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende. | Dies ist das Ende der Beschreibung des Matthäus von dem Leben unsers Herrn. Er erzählt über die Art, wie er hinweggenommen eben so wenig, wie
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Johannes, etwas Bestimmtes, aber das fühlt jeder, daß er die vorgelesenen Worte aufgezeichnet hat als die letzten des Erlösers, da er von ihnen schied. „Mir ist gegeben, spricht er, alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Der Himmel ist uns unerreichbar. Nur unser Glaube kann sich an diese Worte des Erlösers halten, unser Verstand kann sie nicht weiter auslegen. Aber wie die Erde voll ist seiner Gewalt und Herrlichkeit, das wissen wir, das sollten wir immer fühlen. Und darum geziemt es sich wol ihn zu preisen in dieser Stunde der Andacht. Laßt uns reden von der Macht, die dem Erlöser gegeben ist auf Erden 1. worin sie sich zeigt. 2. wie sie entstanden und gewachsen ist und noch immer wachsen soll.
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[1.] Wie es die Ursach der Sendung des Erlösers war, das Geschlecht der Menschen aus dem Elende und der Herrschaft der Sünde zu erretten, so zeigt sich auch seine Macht in dem innersten Gemüth. Ja es giebt nichts Größeres darin, als was der Erlöser darin schafft. Wie er bald nach seiner Erhebung von der Erde einen der eifrigsten Verfolger seiner Lehre durch die Worte, die er zu ihm redete, plötzlich umwandelte in den eifrigsten Verbreiter seines Reiches und seiner Lehre, wie noch früher, als zuerst Petrus öffentlich auftrat und ihn als den, der da kommen sollte sich und seine Brüder aber | als seine Diener verkündigte, wie dies damals schon Tausenden durchs Herz ging und [er] sie zum neuen Leben umwandelte, so ist eben diese Umwandlung des Menschen der größte Beweis der Macht und Gewalt, die ihm auf Erden gegeben ist. Wie es unvollkommene Geschöpfe giebt, die erst auf der Erde herumkriechen, dann aber, verwandelt in Schönheit und Pracht aufstehen, o wie viele Menschen sind schon eben so verwandelt worden durch seine Macht! Vorher niedergedrückt zur Erde, niedergedrückt die Kraft in ihrem Innern, erstanden sie plötzlich, wenn wirksam seine Worte in ihre Seele drangen, zu einem leichten, geflügelten, dem Himmel angehörigen Leben, nicht mehr das Irdische suchend, sondern zeugend von dem himmlischen Lichte, das sie durchdringt. Und wenn wir sagen wollen, dies sey freilich die Macht und Gewalt des Erlösers aber nicht seine allein, weil der Gottverwandten Natur des Menschen vieles zuzuschreiben sey, wol! so müssen wir doch bezeugen, daß die Macht des Erlösers jede andre überwindet und eben dadurch etwas Höheres und Herrlicheres im Menschen hervorgehen läßt. Was ist wol stärker im Menschen, als seine Anhänglichkeit an das Recht, den Glauben und die hergebrachten Sitten der Väter und wie hat sich ungeachtet dieser Kraft die Lehre und das Reich Christi ausgebreitet unter den Menschen, so verschieden auch ihr 17–20 Vgl. Apg 9,1–19
20–23 Vgl. Apg 2,14–41
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Glaube war und so fest sie auch daran hingen? Wenn zuerst in kleinen Haufen der Glaube an den | Erlöser Platz gewonnen hatte, mogten sie verfolgt oder verachtet werden von den Ihrigen und der Erduldung aller Qualen ausgesetzt seyn, mit welcher Gewalt hat sich immer das neu in ihnen gegründete Leben erhalten, wie hat es sich unter allen Hindernissen verbreitet vom geringsten Anfange bis zur größten Ausdehnung? Und eben so, wenn wir auf die Früchte dieses Glaubens und dieses Lebens sehen, müssen wir sagen, daß ihm Macht gegeben ist über alles auf Erden; denn alles Andre offenbart sich nur als Schwachheit und Thorheit. Was zeugt nicht davon in der Geschichte, daß die höchste Vollkommenheit, zu der der Mensch sich erheben kann diejenige ist, zu welcher er durch den Sohn Gottes gelangte? Wir können nicht umhin zu gestehen, daß aller Glanz gegen das Höchste verlischt, wozu uns das Reich und das Ebenbild des Erlösers führen. Wir müssen gestehen, daß in allem Andern dasjenige fehlt, was uns mit diesem tiefen Gefühl durchdringt von der Nichtigkeit des Menschen in sich und der Herrlichkeit, wenn ein göttliches Leben in ihm aufgegangen ist. Dies ist ein Gefühl, dem kein anderes gleicht; dies führt nur auf denjenigen zurück, von dem allein wahres Leben herrührt, auf den, der alle Gewalt hat auf Erden. So zeigt sich seine Gewalt und Herrschaft in dem Innern der Menschen. Aber sie zeigt sich auch in dem Zustande und | den Thaten derselben. Wenn wir die Zeiten vor der Erscheinung des Christenthums mit den Zeiten seit der Verbreitung desselben vergleichen, welchen gewaltigen Unterschied müssen wir anerkennen in der Ausbildung der Kräfte, in der Unterwerfung der Natur unter den Willen der Menschen, in der Stiftung einer Gemeinschaft unter den Menschen, die in dem ganzen Umfange der Geschichte ihres Gleichen nie hatte und auch jetzt außerhalb des Christenthums nicht gefunden wird! Wie waren vorher nur die Menschen in kleine Häuflein gesammlet! (und nur in stürmischen Bewegungen zeigen sich vorübergehend große Massen) Wie wenig konnten sie in diesem getrennten Zustande zur Bruderliebe gelangen und wie wenig entwickelten sie sich nach den Seiten hin, durch welche eine Verbindung so verschiedener Völker entstehen konnte. Seitdem das Christenthum sich festgesetzt in Europa gelangen dem Menschen plötzlich Entdeckungen in der Natur und den Wissenschaften, die er vorher nicht ahnen konnte. Plötzlich kann er die stürmischen Meere durchkreuzen und seine Brüder aufsuchen in fernen Welttheilen. Und so wie er sie aufgefunden, eilt er, das Wort des Herrn ihnen zu verkündigen, den Glauben und die Liebe unter sie zu verpflanzen. Plötzlich sieht er sich im Stande die Werke der Kunst, die Aussprüche alter Weisen, das Wort seines eigenen Mundes weit zu verbreiten und zugänglich zu machen denen, die durch weite | Räume von ihm getrennt sind. Und kaum ist dies geschehen, so werden auch die heiligen Schriften von der Lehre und dem Leben Jesu für alle Geschlechter der Menschen verbreitet.
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Welche Früchte sind nicht so theils in ruhigen Zeiten der Verbreitung, theils im Sturme der Verfolgung gereift! welcher Reichthum preiswürdiger Thaten hat sich nicht immer unter den Christen entfaltet! O welche Beispiele der innigsten Liebe, welche Beispiele, wie der Mensch sein Inneres heiligen kann zu einem Tempel der Wahrheit, welche Beispiele, wie die Kraft Gottes, die der Erlöser verheißt, sich herrlich und mächtig gezeigt in dem Schwachen! Nein das finden wir nirgends, das ist die eigenthümliche Gewalt des Erlösers! Solches wirkte er in den Gemüthern der Menschen und leicht zu erkennen ist diese Gewalt, die er mit vollem Rechte für die seinige erklärt. Bei diesen wenigen Zügen laßt uns stehen bleiben und
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2. unsre Aufmerksamkeit auf die Frage richten: wie entsteht denn diese Macht und Gewalt des Erlösers? O sie giebt sich dadurch am meisten als eine göttliche zu erkennen, daß sie, um hervorgebracht zu werden in den menschlichen Gemüthern, keines andern Mittels bedarf als desjenigen, wodurch alles entstanden ist, des Worts. So wie der alte fromme Sänger die Allmacht Gottes nicht trefflicher ausdrücken kann, als wenn er sagt: „Er spricht, es geschieht, Er gebeut, | es steht da“ so ist auch dieses der allein richtige Ausdruck für die Art, wodurch die Macht des Erlösers sich äußert. Und woher kommt aller Glaube? durch die Rede, durch das stumme Wort des Beispiels, wiewol in schwachen Falten ausgebildet, verkündend seine Liebe und seine Kraft in den menschlichen Gemüthern, so daß der Eitle, von sich Eingenommene, in sich geht und schwört abzulegen das, wovon er vorher eingenommen war. So und nicht anders ist ursprünglich entstanden und entsteht immer aufs Neue die Macht des Erlösers. „Seht das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt“, so ruft sein Vorgänger, der seine Ankunft vorbereitete und seine Jünger fallen von ihm ab und gehen mit Jesu. „Kommt ich will euch zu Menschenfischern machen“, ruft Christus, und sie folgen ihm nach. Und wir selbst, so viele wir uns erinnern, daß es einmal anders mit uns stand in unserm Glauben, was war er anders, als ein fruchtbares Senfkorn, das in unsre Seele fiel, welches uns zu seinen Dienern machte? Und wenn wir unsre Brüder lehren, so laßt uns sie nicht zum Glauben führen wollen durch die Lockschrift der verheißenen Belohnungen, so laßt es uns ja nicht anders thun, als es die Jünger des Herrn thaten auf sein Geheiß, die da unter allen Völkern der Erde seine Panniere aufpflanzten, unter allen seinen Namen verkündigten | und sein Reich bildeten, ohne daß sie etwas anders gethan, als geredet hatten, durchdrungen von ihm, der ihnen solches Gebot gegeben hatte. Wolan denn! fühlen wir es, daß unser geistiges Daseyn ein Werk ist seiner Macht und seiner Herrlichkeit, so sey auch uns das Wort gesagt: 5–7 Vgl. 2Kor 12,9
16–17 Ps 33,9
25–26 Joh 1,29
27–28 Mt 4,19; Mk 1,17
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gehet hin und lehret! So weit ist jetzt verbreitet das Reich des Herrn, daß nur wenige nöthig sind, die noch ferne Völker aufsuchen, um den Namen des Herrn zu verkündigen. Aber ist es nicht überall wie bekannt und verbreitet auch unbekannt und verkannt? Führen nicht viele seinen Namen, die denselben durchaus nicht verdienen? Auf! laßt uns nicht müde werden, das Wort des Herrn hineinzureden in diese verstockten Ohren! laßt uns nicht müde werden in die nichtigen Bestrebungen der Menschen immer wieder hineinzureden: „es ist kein andrer Name, durch den ihr könnt seelig werden, als der seinige.“ Das laßt uns lehren, davon laßt uns reden mit Mund und Herz! Davon zeuge unsre Rede, unser ganzes Leben und Thun! Dann werden wir ihm nicht nur Genossen seyn, sondern auch Werkzeuge und geben wir uns so hin, so wird auch das letzte Wort wahr werden, daß er unter uns ist, bis ans Ende der Welt. Amen!
8–9 Vgl. Apg 4,12
Am 26. Mai 1816 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Exaudi, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 16,1–4 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 37, Bl. 14r–17v; Jonas Keine Keine Keine
Den 26. May 1816.
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Seitdem der Erlöser sich ganz von diesem Schauplatze entfernte, waren seine Jünger sich selbst überlassen. Ein ungewohnter und sehr von dem vorigen verschiedener Zustand, wo sie über weniges selbst zu bestimmen hatten, sondern sich ganz der Unbefangenheit eines kindlichen Daseyns erfreuten. Oft redete er auch schon vorher von dieser Zeit. Und was hatte er vorher zu sagen? Große Thaten und auch große Leiden. Der Endzweck alles seines Unterrichts war, sie mit Würde ertragen zu lehren, was sie würden zu leiden haben. Dies muß uns von mancherlei Seiten wichtig seyn, wenn wir den Grund hievon erklären.
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Joh. 16, 1–4 Dies ist eine von den Reden, in welchen unser Erlöser seine Jünger für die Leiden vorbereitet, die ihnen und ihrem Berufe bevorstanden. Zweierlei ist dabei zu bemerken: 1. wie er sich erklärt über die Absicht, weshalb er ihnen vorher sage, was da kommen solle 2. wie er sich bei ihnen rechtfertigt, warum er es nicht eher gethan. | 14v
1. Was ich jetzt sage, so fängt seine Rede an, das sage ich euch, damit ihr euch nicht ärgert. Der Ausdruck „ärgern“ ist uns schon aus andern Beispielen bekannt und bedeutet „sich an etwas stoßen, das einem im Wege liegt.“ Und dies war die Absicht, warum er ihnen die Zukunft enthüllte, damit sie sich nicht ablenken ließen von dem Wege, den er ihnen angedeu7–9 Vgl. Joh 15,18–21
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tet hatte, und von demselben nicht abwichen. Dem konnten sie sehr ausgesetzt seyn. Es hatten ihre eigenen Leiden sie schon erschüttert und sie wußten recht wol, daß durch seinen Tod sie noch mehr erschüttert werden würden. Sie lernten erst so verstehen, daß Christus leiden mußte, um in seine Herrlichkeit einzugehen. Aber was sie nicht begreifen konnten war, daß diese Herrlichkeit erst anfangen sollte, nachdem sie seine Lehre verbreitet hätten und daß er dann mitten unter sie kommen würde. Denn sie sahen ein, daß sie diesen großen Zweck nur gemeinschaftlich würden erreichen können und wie sehr es sie stören und erschüttern würde, wenn erst an dem | Einen oder dem Andern die verheißenen Leiden in Erfüllung gingen und dadurch mehrere mitten in ihrem Wirkungskreise aus ihrer Mitte gerissen würden. Dies konnte ihnen um so mehr begegnen, je mehr das ganze große Geschäft von ihrem Daseyn abhing und deshalb sagt ihnen der Erlöser, daß sie sich nicht ärgern mögten. Dies ist auch unser Schicksal. Keiner kann freilich sich so für wichtig halten, wie sie, aber jeder, je mehr er fühlt, wie seine Thätigkeit doch in das Ganze eingreift, um desto mehr kann jeder in Versuchung seyn, wenn Leiden sich seiner Wirksamkeit entgegenstellen, sich zu ärgern. Dies gilt auch vom sogenannten Zufall. Auch darin sehen wir nur allzu oft eine üble Vorbedeutung und werden aufgehalten. Deshalb sagt der Erlöser seinen Jüngern vorher, was da kommen sollte. Kann denn das im Allgemeinen helfen? Werden wir uns weniger ärgern? Den Jüngern des Erlösers mußte das ja wohl begegnen. Denn wenn sie nachher bedachten: Er | hat es gesagt zu der Zeit, wo er alles andre sagte, wo er seine himmlischen Lehren verkündigte, dann mußten sie sich selbst sagen: also er wußte das und fand doch darin kein Zeichen, daß die Sache minder fortschreiten würde. Wenn sie das bedachten, so mußten sie mit einer Zuversicht daran denken, die sie vorher nicht hatten. Bei uns aber ist nun nicht die Rede davon, daß der Erlöser uns mit solcher Bestimmtheit vorhergesagt habe; aber ist es nicht, was wir vermutheten und was wir sahen, daß er andern begegnete, ist es nicht ganz dasselbe? Wenn andre, von Widerwärtigkeiten gedrückt, feig verzweifeln am guten Fortgange ihrer Sache; so theilen wir ihre Meinung nicht und indem wir ihnen zurufen, es als etwas Vorübergehendes anzusehen, so rufen wir ihnen auch zu, sie sollen sich durch das, was sie zu leiden haben nicht ärgern lassen. Wolan, wenn uns Aehnliches trifft | und wir uns daran erinnern, wie wir früher gedacht haben, so müssen wir unsre Empfindungen mäßigen. Und gewiß, wir können und sollen uns dann sagen, daß es der Erlöser uns gesagt habe. Nur in dieser und keiner andern Absicht, als damit sie sich nicht ärgern mögten, sagt der Erlöser seinen Jüngern vorher, was da kommen sollte. Wenn uns also eine andre Absicht vorschwebt, so han4–5 Vgl. Lk 24,26
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deln wir nicht in seinem Sinne. Wir sollen als Christen nicht glauben, daß wir einer großen Vorbereitung bedürfen, um die Uebel, wenn sie kommen, mit der nöthigen Fassung zu ertragen. ... ... Demjenigen, der nach der Ewigkeit strebt, soll alles Vorübergehende auch so erscheinen. Er sucht das Angenehme nicht, weil es angenehm ist und er soll sich auch nicht vor dem Unangenehmen fürchten. In dieser Ansicht, welche die natürliche ist, liegt der Grund einer solchen Gleichgültigkeit, denn unsre Thätigkeit soll ein andres Ziel haben, als das Angenehme zu befördern, | das Unangenehme zu verhindern zu suchen. ... ... Kommt das Unangenehme, müssen wir denken so wird es sich denn schon finden, wenn wir uns nur nicht ärgern. Und in dieser Beziehung laßt uns auch mit einander betrachten 2. wie er sich bei ihnen rechtfertigt, warum er es ihnen nicht eher gesagt. So lange er bei ihnen war, wollte er ihr Gemüth gar nicht beschweren. Erst als er im Begriff war von ihnen zu scheiden, glaubte er ihnen sagen zu müssen, was ihnen bevorstand, damit sie sich nicht ärgerten. ... ... Wenn er ihnen nicht vorher verkündete, welche Leiden ihrer warteten, so geschah es, weil er die Unbefangenheit ihres Lebens nicht ehe es Noth that stören wollte und es that noch nicht Noth, weil er bei ihnen war. In fröhlicher Stimmung genügt dem Menschen die Gegenwart, er begehrt nicht darüber hinaus zu gehen. So lange wir uns unserer ganzen Kraft bewußt sind, d. h. so lange er bei uns ist, haben wir kein Bedürfniß, in die Zukunft | hineinzusehen. O was können wir Besseres sagen und uns Besseres wünschen, als immer in diesem Zustande zu seyn und die Zukunft nicht zu wissen? Fühlen wir diese Neigung, so ist das ein Zeichen, daß uns schon irgend ein Mangel drückt und daß wir uns nicht finden werden in den Stunden der Noth. Dann wird es Zeit, unser Daseyn auf eine künstliche Weise zu regieren, dann müssen wir uns die Zukunft vorstellen, damit wir uns nicht ärgern. In Beziehung auf diesen mangelhaften Zustand sagt der Erlöser seinen Jüngern, was er in den Worten seines Textes redet. So laßt uns, wo wir es fühlen, in uns gehen und uns fragen: ist es eine gegründete und von uns unverschuldete Mangelhaftigkeit unsers Daseyns, die diesen Wunsch erregt? Ist dies, wolan! so sind wir eben so unschuldig, als die Jünger es waren. Können wir dies aber nicht bejahen, ja dann ist es unsre eigene Krankheit und dann müssen wir zuerst streben, uns von dieser Mangelhaftigkeit wieder los zu machen. Und nur, wenn wir uns untüchtig fühlen, dieses gleich zu thun, | und doch ein dringendes Bedürfniß in uns ist, in die Zukunft zu sehen, dann laßt uns die Worte auch gesagt seyn, bloß damit wir uns nicht ärgern! Laßt uns trachten nach einer solchen heitern und ungestörten Gemeinschaft mit dem Erlöser, daran sich die Jünger er-
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freuten, da sie noch ein freudenvolles Leben neben ihm verbrachten. Und auf wie vielerlei Weise kommt er uns nicht entgegen?! ... ... Laßt uns trachten nach der Gerechtigkeit, so wird uns alles andre zufallen! Amen.
3–4 Vgl. Mt 6,33
Am 2. Juni 1816 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Pfingstsonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 12,4 Nachschrift; SAr 37, Bl. 18r–21v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 42, S. 7–10; Jonas, in: Balan Keine
Am Pfingstfeste 1816. den 2. Juny. Das Fest, welches wir heute begehen, ist der große Jahrestag der christlichen Kirche. An diesem Tage nahm sie zuerst ihre Stelle in der Welt ein. Was vorher verschlossen war in wenigen Herzen, ein stilles Band weniger Seelen, das trat nun öffentlich hervor und fing an, eine sich immer weiter verbreitende Gemeinschaft zu werden, derer, welche fähig waren, erleuchtet zu werden in dem Lichte des Herrn. Wie weit die christliche Kirche sich verbreitet hat bis jetzt, wie viele seitdem bekannt haben den Namen des Herrn, der an diesem Tage zuerst verkündigt wurde, liegt am Tage und Dank soll vor allem unsre Seelen erfüllen. Aber unverkennbar läßt sich mitten in der Freude eine Stimme vernehmen der Wehmuth und des Schmerzes: weit verbreitet sey die Kirche des Herrn, weit verkündiget sey freilich sein Name, aber der Geist, der damals ausgegossen ward, wo sey der zu merken unter den Menschen? Aber wie wir das freilich wissen, daß nicht überall, wo der äußere Schein des Christenthums war, auch seine Kraft und sein Geist waltete, so ist doch das gewiß: es giebt eine Kirche Christi auf Erden und sie kann nur bestehen durch die Fortwirkung desselben Geistes und dadurch, daß er immer mächtig ist, auch in dem Schwachen. Daß uns dies also nicht niederdrücke und den Geist der Freude in uns dämpfe. Laßt uns unsre Herzen dem Bewußtseyn aufschließen, daß er immer noch wirkt und durch die Gnade Gottes in uns wachse. |
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1. Brief Pauli an die Corinther 12. 4. Es sind mancherlei Gaben, aber es ist Ein Geist. Der Apostel hatte bei diesen Worten unmittelbar nur den damaligen Zustand der christlichen Kirche in Gedanken. Er spricht von der Mannigfaltig-
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keit der Gaben, welche sich entwickeln mußten und führt darum die Christen dahin zurück, daß diese Aeußerungen alle doch nur von dem Einen Geiste herrührten. Aber wenn es zu einer Zeit verschiedene Bedürfnisse giebt, zu deren Befriedigung verschiedene Gaben nöthig sind, so unterscheidet sich auch dadurch eine Zeit von der andern und wenn eine Gabe sich herrlicher darstellt, als die andre, so ist dies auch der Grund, warum der eine uns reicher zu seyn scheint an den Erweisungen des Geistes, der andre dürftiger. Laßt uns daher, bei den Worten des Apostels bleibend, erwägen, wie eben in der Verschiedenheit der Gaben, die alle aus einem Geiste herrühren, dieser Schein gegründet sey. Und wenn wir uns den Einen Geist recht vergegenwärtigen wollen, worauf sollten wir anders sehen, als auf seine erste Ergießung in die Herzen der Jünger? So laßt uns denn in den vom Apostel angedeuteten Beziehungen auf diese bekannte Geschichte 1. sehen, was der Geist des Herrn ausgerichtet und 2. auf welche Weise er dieses bewirkt hat, in beidem aber die Zeit der Gründung der Kirche damit vergleichen, was wir noch immer sehen und wahrnehmen | wenn uns die Augen geöffnet sind. Wenn wir uns fragen 1. was der Geist des Herrn ausrichtete? so finden wir in der Erzählung der Apostelgeschichte die Antwort darauf, wenn sie uns sagen, daß diejenigen, welche die Jünger hörten, sich wunderten und entsetzten, wie jeder auf eine andre Weise die großen Thaten Gottes preise und verherrliche, wenn sie uns hernach erzählen, wie Petrus davon geredet, daß Gott sein Kind auferwecket zu einem neuen Leben und seinen Geist über sie ausgegossen hat. Das ist es, das war es damals und ist es noch. Dieser Geist redet in den Menschen und aus den Menschen von den großen Thaten des Herrn, von dem neuen Leben seines Sohnes, in welches Lebens Gemeinschaft wir alle aufgenommen sind und so gewiß er nur Ein Geist ist, der solches redet, so gewiß ist es auch Eines und dasselbe. Als Petrus davon redet, daß Gott sein Kind auferwecket, stellt er uns das nicht dar, als die herrlichste unter allen Thaten Gottes, wovon immer die Propheten geredet hatten? Und das geschieht noch immer und ist noch immer das Werk des göttlichen Geistes im Herzen der Gläubigen. Dies ist aber leider nicht überall, wo es zu seyn scheint. Viele sagen freilich Herr! Herr! und nahen sich dem Herrn mit ihren 28 Sohnes] Sohne 21–23 Vgl. Apg 2,7.12 35 Mt 7,21; Lk 6,46
24–26 Vgl. Apg 2,32–33
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Lippen, aber ihr Herz ist fern von ihm und dann giebt es allerdings eine Trennung zwischen ihnen, worin wir nicht mehr erkennen können den Einen Geist. Wenn die Menschen, indem sie sich rühmen, die großen Thaten Gottes zu verherrlichen, sich nicht rühmen | des neuen Lebens, das Gott durch Christum ans Licht gebracht hat, sondern indem sie den Vater verkündigen, den Sohn verleugnen, dann freilich erkennen wir nicht mehr diesen Einen Geist. Alles andre aber, wie verschieden sich auch dieses Verkündigen Gottes und seines Sohnes gestalte, es ist nur die Mannigfaltigkeit der Gaben, die aus dem Einem Geiste hervorgeht und diese Mannigfaltigkeit gründet sich in den menschlichen Bedürfnissen. Wenn dann dem einem der Sohn mehr als der Weg erscheint, der uns alle zum Vater führen soll, dem andern mehr [als] die Liebe und die Macht des Vaters, der sich am meisten durch den Sohn offenbaret hat, wenn der eine mehr den heiligen Namen in seinem Innern verschließt, der andre nicht laut und nicht oft genug ihn hinein donnern zu können glaubt in die Herzen der Menschen, was ist das anders, als die Mannigfaltigkeit der Gaben, die alle hervorgehen aus dem Einen Geiste? Wenn der eine mehr hinweiset auf die Thaten des Erlösers, die er vollbracht hat in seinem Leben und nach seinem Leben, der andre hingegen mehr davon redet, wie er ein stilles Leben geführt, in das Innere der Menschen hineinwirkend und eben deswegen die Menschen aufmerksam zu machen sucht auf dasjenige, was er Gutes gewirkt, der andre hingegen mehr in allen auch in den Besten die Spur der Sünden | und des Verderbens ausweiset, o was ist das anders, als die Mannigfaltigkeit der Gaben bei Einem und demselben Geiste? Jeder wird gewiß Einen haben, dessen Worte durch sein Herz gehen und die hätten ja nicht geäußert werden können, ohne diesen Geist. Dasselbe werden wir erkennen müssen, wenn wir untersuchen 2. auf welche Weise der Geist Gottes dieses Verkündigen der großen Thaten und des neuen Lebens, das sein Sohn ans Licht gebracht, bewirkt habe? Wir finden die Antwort davon in derselben Erzählung, wo wir zuerst darauf hingewiesen werden, daß dieser Geist sich erwies als ein Geist des Muthes und einer liebevollen Gemeinschaft. Vorher waren die Jünger versammelt bei verschlossenen Thüren. Nun sie aber angethan wurden mit der Kraft aus der Höhe, da sprengten sie selbst die Riegel und Schlösser, hinter welchen sie sich verborgen gehalten hatten aus Furcht. So war gleich in seiner ersten Aeußerung der Geist des Herrn ein muthiger Geist. 11 Vgl. Joh 14,6
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34 Vgl. Joh 20,19
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Als nun aber die Gemüther vieler zugethan wurden denen die da glaubten, da blieben sie unzertrennlich zusammen in liebevoller Gemeinschaft im Brodbrechen, im Gebet und in der Lehre der Apostel. Keiner wollte vor dem andern etwas voraus haben, alles war gemeinschaftlich und dieser Geist der Liebe und der Gemeinschaft war Einer und derselbige. Einer redete für alle und alle für einen | und die Erzählung sagt: es kam Furcht an alle Welt. Ist denn jemals in der christlichen Kirche ein andrer gewesen der Geist des Herrn, als eben der Geist des Muthes, der Liebe und der Gemeinschaft? Freilich ist dies nicht überall, wo der Name des Christenthums ist, und wo Menschenfurcht eingewurzelt ist, da dürfen wir freilich nicht sagen, daß dieser Geist herrsche, der da befiehlt: du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen. Und eben so wenig dürfen wir sagen, daß dieser Geist herrsche, wo beide, der Geist des Muthes vom Geiste der liebevollen Gemeinschaft, verschieden und von einander getrennt sind, wo herrliche Tapferkeit und Ausdauer der Geist des Muthes ist, der sich nachher nicht zurückzieht in den Geist der Gemeinschaft und Liebe, sondern die Menschen so weit verblendet, daß sie glauben, sie können als Einzelne etwas seyn, oder umgekehrt, wo Gemeinschaft ist, aber der Muth fehlt und wo man glaubt, es gezieme den Heiligen nicht, zum Kampf in die Welt hinauszutreten. Wie selten sind aber diese Auswüchse. Und besonders wir, wie undankbar müßten wir seyn, wenn wir nicht erkennen wollten, wie im Kampfe für das Heilige der Geist des Muthes und der Gemeinschaft Einer und derselbige war? Und was wir Verschiedenes dabei bemerken mit dem ersten Geiste, da ist es eben die nothwendige Verschiedenheit der Gaben. Wenn in der Gemeinschaft | der Gemüther der eine entzündet, wo der andre entzündet wird, wenn der eine treulich herrscht, der andre kindlich folgt, wenn der eine mehr Demuth hat, wo es Noth thut, hingegen wo der Geist Gottes es befiehlt, trotzend aller menschlichen Gewalt sich hinstellt und sagt: „man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen“ und dies den Mächtigen der Erde selbst ins Ohr sagt, der andre aber still im Leiden und im Handeln bleibt, o was ist dies alles anders, als die Mannigfaltigkeit der Gaben, deren keine fehlen darf, wenn das große Werk bestehen und das Reich Gottes auf Erden gefördert werden soll? Und fehlt denn etwa dem Geiste Gottes wie er noch itzt waltet, fehlt ihm etwa das Zeugniß der Welt, welches damals gegeben wurde von seinem Daseyn und von seinen Wirkungen? Diejenigen, welche die großen Thaten des Herrn hörten von den Jüngern, waren theils verwundert, theils spotteten sie und sagten: sie sind voll Weins. Fehlt etwa dieses Zeugniß noch dem Geist Gottes? Wie 25 entzündet] entzündet wird 2–3 Vgl. Apg 2,42; 4,32 6–7 Vgl. Apg 2,43 29 Apg 5,29 36–38 Vgl. Apg 2,12–13
11–12 Vgl. Apg 5,29
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viele giebt es noch, die wenn sie die Gewalt Gottes hören und sehen sich wundern in der Verkehrtheit ihres Sinnes? Ist diese Verwunderung nicht noch eben so laut, als damals? Und die Lieder dieser Welt, wenn sie die heilige Begeisterung eines frommen Herzens und die Töne der Liebe zum Herrn vernehmen, hören wir sie nicht wie damals sagen, daß dies alles nur ein Rausch sey? Daraus erkennen wir, daß dieselbe | Welt noch da ist, die dem Reiche Gottes widerstrebt. Aber in eben dieser Verwirrung, in eben diesen Werken der Verfinsterung im Menschen erkennen wir auch die Macht des Herrn. Und als der kräftige Geist des Herrn hervorkam, um vor aller Welt zu zeugen von Jesu von Nazareth, da sprachen die Männer, was sollen wir thun, um seelig zu werden? Da zerknirschte die Rede ihr Herz und sie gingen in sich. Solches Zeugniß fehlt auch in unsern Tagen nicht, und so fühlen wir ja eben desto deutlicher, daß der Geist Gottes nur in dem Menschen und durch den Menschen wirkt und desto mehr mögen wir vertrauen der Mannigfaltigkeit der Gaben. Was jetzt noch nicht ergriffen ist von seiner Liebe, dessen wartet noch eine andre Gabe. Es war an einem festlichen Tage, wo die Jünger versammelt waren, um den Herrn zu loben und von ihm und seinen Thaten unter sich zu reden, als diese Ergießung des Geistes und die Stiftung der christlichen Kirche statt fand. Dazu sind nun auch diese Versammlungen, daß der Geist der Gemeinschaft in uns sich stärke, daß er sich in Gemeinschaft mittheile und in Gemeinschaft wirke. Aus dieser stillen Vereinigung der Herzen der Christen, in dankbarer Liebe zum Herrn, der sie frei gemacht, daraus ist immer hervorgegangen die schönste Wirkung in der Welt. Hier sollen wir die Kraft in uns nehmen, auch denen die draußen sind, Zeugniß abzulegen von seinen großen Thaten. O möge dazu diese Versammlung im Hause des Herrn allen und immer gesegnet seyn! Hier möge man zu der Einsicht gelangen, daß jeder, der etwas andres sucht, als den Geist des Muthes und der Gemeinschaft, etwas Vergebliches sucht! Amen!
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Pfingstmontag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 12,12–13 Nachschrift; SAr 37, Bl. 22r–25v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 43, S. 1–9; Jonas, in: Balan Keine
Am 2. Pfingsttage 1816. am 3. Juny
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Wenn das Fest Pfingsten das Gedächtnißfest der ersten Stiftung der christlichen Kirche ist, so müssen wir doch gestehen, was an den Tagen der Pfingsten selbst geschah, das war nur ein kleiner Theil desjenigen, was geschehen ist. Die damals sich zum Christenthum bekannten, waren nur Juden und das Christenthum mußte doch nothwendig sich über das Judenthum hinaus verbreiten. Viele glaubten dies damals noch nicht, selbst Petrus sagte deutlich: Euer und eurer Kinder ist diese Verheißung, sich noch nicht weiter auslassen wollend. Darum gehört noch hieher, was sich freilich erst später ereignete, wie auch zuerst diejenigen, die nicht zum Judenthum gehörten, zum Christenthum übertraten. Nicht mit Unrecht also, indem wir bedenken, wie auch diese alle der göttliche Geist verband, müssen wir es als seine Wirkung ansehen, daß er die kleinlichen Unterschiede unter den Menschen aufhebt. Darauf laßt uns in Beziehung auf jene Geschichte unsre Aufmerksamkeit richten. 1. Brief Pauli an die Corinther 12, 12.13.
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Wir sehen ganz deutlich, wie der Apostel Paulus von der Vereinigung der Juden und Heiden zu einem Ganzen spricht, in dem Sinne wie wir vorher davon gesprochen haben. Das Nächste nach diesem ist nun der Unterschied zwischen Freien und Knechten. Wolan! ist es der Geist Gottes, der diesen Unterschied so weit abgestumpft hat, daß Juden und Griechen, Freie und Knechte sich nicht mehr scheuten Gemeinschaft zu haben, so | mögen wir den Geist Gottes als dasjenige ansehen, was diesen Unterschied immer abstumpft. Laßt uns sehen 8 Vgl. Apg 2,39
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1. was es mit dieser Aufhebung für ein Bewandniß gehabt 2. wie denn bei der ersten Aufnahme der Heiden der heilige Geist zu Werke gegangen ist.
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Wenn wir uns 1. fragen: was hat es mit dieser Aufhebung der Unterschiede vermöge des Einen Geistes für ein Bewandniß? so hat es auch hier von Zeit zu Zeit wohlmeinende Menschen gegeben, die weit über das hinweggingen, was eben die Absicht Gottes war und unter diese haben sich auch viele nicht Wohlmeinende gemischt. Es hat freilich einen gewissen Schein, wenn man sagt: ist doch das Verhältniß, in welchem die Menschen zu Gott und ihrem Erlöser stehen, sollen sie also dem auch alles unterordnen, oder ist es wahr, daß in diesem Sinne alle jene Unterschiede nicht sind? Soll sich der Christ nicht schämen, ein äußeres Zeichen vor den andern voraus zu haben, da er wol weiß, daß in dem, was ihm das Wichtigste ist, gar kein Unterschied statt findet? Allein so deutlich sich auch der Apostel ausdrückt, daß Juden und Griechen, Freie und Knechte aufs genaueste verbunden seyn sollten, so war es doch gewiß nicht seine Absicht, daß Juden keine Juden mehr seyn sollten und Knechte keine Knechte mehr. Im Gegentheil, er erklärt sich auf eine entgegengesetzte | Weise. Das Eigenthümliche, was der Vereinigungspunct seines Volkes war, sollte jeder beibehalten. Und eben so finden wir in seinen Briefen Vorschriften, wie sich in der christlichen Kirche selbst die Knechte gegen die Freien und umgekehrt betragen sollten, woraus nicht hervorgeht, daß es seine Absicht war, dieses Verhältniß aufzuheben. Nun werden wir aber fragen: wenn also der äußere Unterschied unter den Menschen bestehen sollte, was hat es denn mit dem Geist Gottes, der den Unterschied aufhob für ein Bewandniß? Wenn wir uns fragen: was diese Unterschiede für einen Einfluß auf uns haben? so müssen wir sagen: sie sind zweierlei Art. Einige sind von der Art, daß sie zwar als verschieden aber nicht als besser oder schlechter angesehen werden, und dies geht auf den Unterschied der Völker. Andre sind von der Art, daß wo wir sie sehen, wir die Einen für besser halten, die Andern geringer und solchen Unterschied machen wir zwischen den Freien und Knechten. So wirken also diese Unterschiede auf uns, daß der eine uns bloß fremder, der andre aber über oder unter uns und der welcher in der Mitte zwischen beiden ist, uns gleich erscheint. Diese Wirkungen sollen aber aufhören, die verschiedenen | Völker sollen uns nicht mehr fremd erscheinen, wenn wir sie in der Gemeinschaft Christi betrachten, und diejenigen, welche unterschieden sind nach Art jenes Unterschiedes der Stände, diese sollen auch in der Gemeinschaft Christi zwar diesen Unterschied nicht ganz aufgeben, aber das Gefühl sollen sie haben, daß der eine um dieses Unterschiedes willen, nicht besser oder schlechter ist als der andre, sondern daß ihr Werth 17–20 Vgl. 1Kor 7,17–24
20–23 Vgl. Eph 6,5–6; Kol 3,22; 4,1; Phlm 15–16
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nur durch das Maaß bestimmt ist, in welchem sie größere oder kleinere Glieder des Leibes Christi sind, daß alle Menschen nur nach dem Maaße ihres Geistes geschätzt werden sollen. Aber dessenungeachtet wirken diese Unterschiede in der christlichen Kirche noch immer fort. Auch sie ist ja so getheilt; und es kann nicht anders seyn, als daß die, welche zu einem Volke gehören, sich weniger fremd sind und so ist es auch in den Verhältnissen des engern Lebens, wo immer diejenigen, welche sich gleich sind, sich auch am wenigsten fremd sind. Was bleibt also noch übrig von den Worten, worauf der Apostel ein so großes Gewicht legte? Dieses. Wir können die Gestalt der Welt nicht ändern und sollen es auch nicht wollen, wir können uns nicht aus dieser Gestalt herausreißen und sollen es auch nicht. | Aber in den Angelegenheiten des Herzens sollen wir diesen Unterschied nur als etwas Beschränkendes ansehen, und als etwas, wodurch die Verbindung der Gemüther nicht aufgehoben werden darf. Wenn wir in irgend einem Menschen Gelegenheit haben den Geist Gottes zu beobachten, wenn in ihm die Kraft wirksam erscheint, die allein den Werth giebt, was kann anders in unserm Herzen seyn, als der lebendige Wunsch, in die Gemeinschaft mit einem solchen zu treten und von ihm zu empfangen, was er uns von seiner geistigen Kraft mittheilen kann, oder dasjenige zu ergänzen, was ihm fehlt? Davon finden wir uns aber durch die äußern Umstände oft zurückgehalten, wir glauben den Anstand zu verletzen, wenn wir uns mit denen verbinden wollen, die wir über uns halten. Dies ist das Verderben und hievon sollen wir uns los zu machen suchen. Fühlen wir uns also zu dem einen oder dem andern hingezogen, wolan! so sollen wir uns auch nicht gehalten fühlen, uns durch irgend ein äußerliches Band davon abhalten zu lassen. Es wäre auch ein unnützes Besorgniß, wenn wir glauben wollten, diesem Trieb des Herzens freien Raum zu geben könne der bürgerlichen Gesellschaft Schaden thun; aber auf der andern Seite ist es ein großer Fehler, wenn man glaubt, daß nun die bürgerliche Gesellschaft ohne allen diesen Unterschied bestehen könne. Damit die Ausbreitung des Christenthums nicht durch den Unterschied der Stände aufgehalten würde, waren | eben die Jünger aus den niedrigsten Ständen, so daß auch keiner Bedenken tragen konnte, sich ihnen zu nahen. Wie können wir also, wenn wir dies wissen, verfehlen einzusehen, daß es der Geist des Christenthums sey, diese Unterschiede (in so fern sie die geistige Mittheilung finden) gänzlich aufzuheben? Und wahrlich! eher können wir uns auch nicht bewußt seyn, daß dieser Geist die höchste beseelende Kraft in uns ist. Eher können wir nicht sagen, daß wir durch den Sohn frei gemacht sind von allen Banden der Welt, bis wir fühlen, daß alles was die Menschen trennt und scheidet es dahin nicht bringen kann und darf, daß diese Mittheilung verhindert werde. 2–3 Vgl. 1Kor 12,27
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Wir sehen also, daß es etwas Schweres sey, daß der göttliche Geist alle diese Schranken überwinde. Laßt uns also sehen
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2. wie der heilige Geist, den Unterschied auszugleichen, zu Werke gegangen sey. Der Apostel Petrus war von Geburt ein Jude und zwar ein ächter und im hohen Grade durchdrungen von den Vorzügen seines Volks. Aber als solcher mußte er auch ein Werkzeug werden, die verachteten Heiden zu bekehren. Was mußte aber erst geschehen? Es mußte ihm erst eine Erscheinung kommen, welche ihn in das Haus eines Nichtjuden gehen hieß, und ihn antrieb, auch hier dem Triebe seines Herzens Raum zu geben, das Reich Gottes ihm zu verkündigen. Aber noch mehr. An jenem ersten Pfingsttage, als er dem Volk | vorwarf, sie hätten den Heiligen verdammt und als ihnen diese Rede durch das Herz ging und sie fragten: ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun? sagte er ihnen: thut Buße und lasse sich ein jeder taufen auf den Namen Jesu Christi, zur Vergebung der Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes. Und an einer andern Stelle, wo davon geredet wird, daß auf alle die ihn hörten, auf Juden und Heiden, der heilige Geist ausgegossen ward und die Juden sich wunderten, daß auch auf die Heiden der heilige Geist gefallen sey, rief er aus: Mag auch jemand das Wasser wehren, daß diese nicht getaufet werden, die den heiligen Geist empfangen haben, gleich wie wir? Hier eben kommt der göttliche Geist der menschlichen Schwachheit entgegen, hier offenbart sich der göttliche Geist auf eine ursprüngliche Weise und nachdem dieses vorangegangen war, so konnte Petrus, so konnten die Apostel nicht anders, als auch die Heiden nach ihren Rechten aufnehmen in ihre Gemeinschaft. Wenn es damals so vieler Vorbereitung bedurfte, so können wir daraus erkennen, daß es auch bei uns noch so ist. Von denjenigen nemlich, welche im Uebrigen nicht von uns getrennt sind, setzen wir voraus, daß sie das Recht haben, in eine geistige Gemeinschaft mit uns zu treten. Aber so bereitwillig zeigen wir uns denen nicht, welche auf irgend eine bestimmte Weise von uns getrennt sind. Da bedarf es besonderer | Zeichen des Höchsten, daß wir diese Schranken übertreten und uns mit ihnen einlassen sollen. Das soll und muß uns nicht befremden und darin findet sich eben, daß einem jeden sein Wirkungskreis vorgeschrieben wird. Denn kommen wir durch außerordentliche Umstände des Lebens in ein näheres Verhältniß mit solchen Menschen, die auf eine bestimmte Weise von uns getrennt sind, fühlen wir einen Trieb, sie zu lehren, oder sehen wir, daß wir von ihnen etwas empfangen können, was uns belehrt, – dann sollen wir diesen Un9–12 Vgl. Apg 10
14–17 Apg 2,37–38
20–22 Apg 10,47
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terschied nicht achten und uns nicht das schöne Gefühl versagen, entweder Gutes zu wirken, oder gut auf uns wirken zu lassen! Da muß alles Weltliche weichen, da muß uns alles eine höhere Ordnung Gottes erscheinen, wie Petrus an jenem Tage, obgleich ganz Jude, doch ausrief: nun sehe ich in Wahrheit, daß Gott nicht auf die Person sieht. Ja das ist die höchste Kraft des göttlichen Geistes, daß er über alle Ungleichheit hinaus erkennen läßt diejenige Gleichheit, welche hervorgeht aus dem Einen Glauben, aus der Einen Liebe, und daß er, wo dieser Ruf erschallt, uns auch hingehen heißt, damit so in der That jeder auch mit dem eigenthümlichen Geschick, welches ihm ist, ein großes immer gleich kräftiges Glied sey an dem Einen Leibe. Das ist die brüderliche Gemeinschaft der Christen, die kaum weltlichen Einrichtungen vorgreift, aber uns allen das Gefühl giebt, daß sie alle verschwinden müssen, weil wir nicht auf etwas Vergängliches, sondern auf etwas Ewiges hinzielen. Amen!
4–5 Apg 10,34
Am 9. Juni 1816 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 1,1–5 Nachschrift; SAr 37, Bl. 26r–29v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 43, S. 21–30; Jonas, in: Balan Beginn der wohl in der Trinitatiszeit 1816 (Nachmittagsgottesdienste) gehaltenen Homilienreihe zum Galaterbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Ueber den Brief Pauli an die Galater. 1. Predigt. den 9. Juny. 1816. Ehe die festlichen Zeiten eintraten, die jetzt schnell auf einander gefolgt sind, hatten wir einen besondern Theil des Neuen Testaments zum fortwährenden Gebrauch unserer Betrachtung gemacht, um den Gedanken der heiligen Schriftsteller mit den unsrigen zu folgen. Dies gedenke ich jetzt wieder zu thun. Freilich läßt sich nicht voraussetzen, daß viele unter uns zusammenhängend diesen Vorträgen beiwohnen können, dessenungeachtet werden aber doch auch diejenigen, welche nicht immer hier seyn können, jedes mal ihre Erbauung finden und ihre Aufmerksamkeit wird doch zusammenhängender auf die heiligen Schriften gerichtet. Ich habe dazu den Brief des Apostels Paulus an die Galater gewählt, worin er sich am bestimmtesten über dieses oder jenes Einzelne ausdrückt, womit uns sein Glaube auf eine sehr bestimmte und zusammenhängende Weise klar wird. Früher habe ich den Johannes dazu genommen und so wird dies, indem wir vom Johannes zum Paulus übergehen, uns auch Gelegenheit geben, von diesem auf jenen zurückzugehen. Dazu gebe Gott seinen Seegen!
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v. 1–5. Paulus, ein Apostel (nicht von Menschen auch nicht durch Menschen, sondern durch | Jesum Christum und Gott den Vater, der ihn auferwekket hat von den Todten:) Und alle Brüder, die bei mir sind: den Gemeinen in Gallatäa. Gnade sey mit euch und Friede von Gott, dem Vater
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4–6 Anspielung vermutlich auf eine Homilienreihe, die Schleiermacher in den Nachmittagsgottesdiensten in der Trinitatiszeit 1815 über Johannes gehalten hat.
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und unserm Herrn Jesu Christo, der sich selbst für unsre Sünden gegeben hat, daß er uns errettete von dieser gegenwärtigen argen Welt, nach dem Willen Gottes und unsers Vaters, welchem sey Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. 5
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Die Worte enthalten eigentlich nur den anfänglichen Gruß des Apostels, wie er alle seine Briefe beginnt. Aber die Worte, in denen man auf den ersten Anblick nur etwas ganz Allgemeines enthalten glaubt, stehen doch in genauer Verbindung mit dem Inhalt des Briefes. Wir haben darin auf zweierlei zu merken: 1. auf dasjenige, was der Apostel von sich selbst und seinem Amte sagt 2. auf die Art, wie er sich über den Zweck der Sendung unsers Erlösers und seiner Hingebung für uns erklärt. [1.] Er setzt einander entgegen, daß er ein | Apostel sey nicht von Menschen, sondern von Christo und Gott dem Vater. Er will wol damit andeuten a. wie er das Evangelium, das er verkündigt nicht von Menschen empfangen habe, sondern vom Herrn. b. daß er auch das Amt nicht von Menschen überkommen habe, sondern ebenfalls von Gott dem Vater, und die Absicht, die er zu haben scheint, indem er dies ausdrücklich sagt, ist wol diese: sich zu vertheidigen gegen die, welche, indem sie anders lehrten, als er, sein Ansehn dadurch verringern wollten, daß sie sagten, sie hätten die Lehren vom Erlöser selbst, Paulus hingegen gehöre nicht zu dieser Zahl. Aber gewiß haben wir nicht irgend eine Eitelkeit zu suchen, daß er sich etwa erheben wollte über die andern; denn die Theilnahme an ihnen, die er überall zu erkennen giebt, überzeugt uns hinlänglich, daß ein solcher Gedanke fern von ihm war: Er war es aber dem Vertrauen derjenigen | schuldig, welchen er das Wort Gottes verkündigt hatte, das Bekenntniß abzulegen, daß auch seine Lehre von Gott sey. Aber könnte man nicht eben diese Behauptung in Zweifel ziehen? Wie könnte denn der Apostel sagen, er sey, was er sey und habe, was er habe nicht durch Menschen, sondern durch Christum und Gott den Vater? Giebt es denn etwas in unserm Leben, woran die Menschen nicht Antheil hätten? Dies könnte man also auch wol vom Apostel sagen, was er auch selbst nachweiset. So lange unser Heiland auf Erden lebte, gehörte er nicht zu dessen Jüngern, allein wo uns der Apostel das erzählt, da sagt er: der Herr 10 Apostel] Aposter 38–1 Vgl. Apg 22,10–13
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habe ihn an einen andern gewiesen. Und dies erkennen wir aus der Erzählung von der Erscheinung, die er auf dem Wege nach Damaskus hatte. Er scheint also Unrecht zu haben, nicht, daß er sagt, er habe seine Lehre von Gott, sondern daß er sagt, er habe sie nicht auch von Menschen. | Wenn er damit etwas von sich hätte sagen wollen, was nicht auch von den andern gesagt werden konnte, so wäre es freilich zu tadeln gewesen; aber er wollte nur sagen, daß die Einsicht in das Evangelium, der Beruf eines Apostels überhaupt nie könne von Menschen gegeben werden, sondern dazu sey nur Christus und Gott der Vater die Quelle, auf welche alles zurückgeführt werden müsse. Dies haben wir auch auf uns anzuwenden. Unsern Glauben sollen wir nur auf das Wort des Erlösers gründen. Was das Evangelium in uns allen gewirkt und was wir noch von demselbigen erlangen, das ist so groß, daß wir es Menschen nicht zuschreiben können, und was Menschen dabei gethan haben, kann gar nicht weiter in Betrachtung kommen, denn sie sind ja nur Werkzeuge Gottes. Daß wir immer weiter fortschreiten in der Erkenntniß des Guten, das sollen wir nicht den Menschen zuschreiben, sondern Gott und dem Erlöser, das ist die Kraft, die von oben kommt. | So werden wir gewiß, ohne uns über andre zu erheben, feststehen in der wahren Freiheit, uns unmittelbar, wo es uns um Einsicht und Kraft zu thun ist, an den Erlöser und Gott den Vater zu wenden, dessen Wort ja immer bei uns ist, und in so fern wir alle Lust zum Guten aus dem Worte entsprungen denken, müssen wir überall Gott die Ehre geben. 2. Haben wir zu merken auf die Art, wie der Apostel sich erklärt über den Zweck der Sendung des Erlösers und seiner Hingebung, indem er sagt: der sich selbst für unsre Sünden gegeben hat, daß er uns errettete von dieser gegenwärtigen argen Welt, nach dem Willen Gottes und unsers Vaters, welchem sey Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Auf eine ähnliche Weise schließt der Apostel diesen Brief, indem er sagt: in Christo Jesu gilt nichts, denn eine neue Creatur und wie viele nach dieser Regel einhergehen, über die sey Friede und Barmherzigkeit. Die neue Creatur hängt genau zusammen mit der neuen Welt. Eine neue Creatur geworden zu seyn und in eine neue Welt aus einer argen versetzt seyn, ist ganz dasselbe. Dies ist also der Endzweck des Erlösers, uns zu retten von der gegenwärtigen argen Welt und uns zu einer neuen Creatur | umzuschaffen. Wie läßt sich wol größer und erhabener reden über die großen Werke des Erlösers, als in diesen einfachen Worten? Wenn aber nur über diejenigen Gnade und Friede kommen soll, die eine neue Creatur geworden sind, auch indem sie noch hier leben, worin besteht denn die Errettung von der argen Welt? Der Apostel sagt in einer andern Stelle, der Erlöser sey gekommen, damit er uns erlöse vom Gesetz. Dies und die arge Welt scheint also zusammenzuhängen und 1–2 Vgl. Apg 9,1–19
28–30 Vgl. Gal 6,15–16
39–40 Vgl. Gal 4,4–5
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das eine wird durch das andre erklärt. Eine wahre Beruhigung konnte aus dem Gesetz nicht entstehen und der Mangel hieran, meint der Apostel, macht diese Welt zur argen Welt, das Befreitseyn hievon, die neue Creatur. Aber wie vielen auch frommen Menschen erscheint nicht auch jetzt noch die Welt, als eine arge Welt, wenn sie daran denken, daß noch so vieles übrig geblieben ist, was dem Frommen Kummer machen kann? Indeß nur durch das Böse in uns, dadurch wird die Welt wirklich zu einer argen Welt, durch alles andre nur scheinbar. Und wenn wir erkennen, daß der Herr sich hingegeben hat | für unsre Sünden, sollten wir dann noch so undankbar seyn, uns das Leben durch dasjenige, was noch übrig geblieben, verkümmern zu lassen? Seine Gnade ist ja nur eben darin erkenntlich, wie allmählig das Böse abnimmt, das Gute zunimmt, nur darin liegt die neue Welt, die Kraft des Blutes, das der Heiland vergossen hat für unsre Sünden. Wenn wir das erkennen, dann sind wir würdig, Gnade und Friede von Gott und unserm Herrn Jesu Christo zu erlangen; wenn wir in dem Glauben feststehen, daß nur eine solche Welt zu gründen er sich für uns hingegeben hat, dann sind wir errettet von der gegenwärtigen argen Welt: ohne das aber bleibt sie in uns, denn ein nicht mit sich versöhntes Gemüth muß überall Verwirrung sehen, weil es sich selbst nicht klar ist. Und wir dürfen keinesweges sagen, diese Einrichtung Gottes sey nicht gerecht, daß von der Erkenntniß des Menschen seine ganze Ruhe abhängt; denn diese hängt selbst ab von der Lust auf Gott zu sehen, in allen Dingen, und wenn es also unter uns noch welche giebt, die nicht wissen, worauf es ankommt, so ist es nur ihre eigene Schuld, nur ein Befangenseyn von der argen Welt, von der sie längst hätten befreit seyn können, wenn sie nicht ihre Ohren verstopft hätten. ... ... Amen!
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Am 16. Juni 1816 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
1. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 5,18–26 Nachschrift; SAr 37, Bl. 30r–36v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 42, S. 17–19; Jonas, in: Balan Beginn der Predigtreihe (Vormittagsgottesdienste) in der Trinitatiszeit 1816 zu den Streitigkeiten Jesu mit seinen Widersachern (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Predigt am 16. Juni 1816.
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Wir haben abermals den Kreis unserer christlichen Feste vollendet, wir haben den Erlöser begleitet durch sein irdisches Leben, wir sind ihm freudig und glaubensvoll gefolgt zu seiner Erhebung, wir haben uns gefreut, daß er statt seiner herniedergesandt hat seinen Geist, der uns in alle Wahrheit leitet. Wenn er nun enthoben ist unsern Augen zum Vater befreit von allen Widerwärtigkeiten, so fühlen wir doch und wissen es, daß sein Leben in uns und mit uns ist, daß es aber noch nicht diese seine Herrlichkeit theilt, sondern nur wächst in dieser Welt im Streite mit denen, die seinem Reiche zu wider sind. In der treuen Liebe also zu ihm, in dem freudigen Gefühle, daß auch über uns ausgegossen ist sein Geist, wie muß es uns da wichtig seyn, daß wir in seinem Sinne und gemäß seinem Geiste den Streit für sein Reich führen? Dazu führen uns viele Erzählungen von seinem Leben, welche uns die heiligen Schriftsteller aufbewahrt haben und es wird uns allen sehr heilsam seyn, den Erlöser in seinem Streite gegen die, welche ihm entgegen waren, in einer Reihe von Betrachtungen zu begleiten, | und für uns daraus etwas zu lernen. Diese neue Reihe unserer Betrachtungen wollen wir also jetzt anfangen und Gott dazu um seinen gnädigen Beistand bitten.
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Lucas 5. 18–26. Wenn wir den Erlöser, wie er handelt im Auftrage seines himmlischen Vaters als Befreier der Menschen von den drückendsten Uebeln, wenn wir ihn da 14 Schriftsteller] Schrifsteller 5–6 Vgl. Joh 16,13
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hören einer Gotteslästerung beschuldigt, so werden wir freilich mit dem bittersten Unwillen erfüllt. Aber laßt uns nicht gegen die Feinde des Guten und Göttlichen parteiisch und ungerecht verfahren, wozu wir nur zu geneigt sind! Laßt uns eine recht gelinde Ansicht davon haben so, daß wir ihnen bloß zuschreiben, daß sie das Göttliche und Große verdächtig machen wollten! Laßt uns sehen, 1. wie sich diese Absicht in ihnen äußerte und 2. wie der Erlöser sie deswegen behandelte und wie wir beides auf uns anwenden müssen. [1.] Das Volk Israel hatte sich schon lange unglücklich und elend gefühlt. Alle Zeiten der Herrlichkeit und des Glanzes waren vorüber | und eine Zeit der Verwirrung und Unterdrückung war an deren Stelle getreten. Aber sie waren nicht ohne Hoffnung, die sich, durch alte Verheißungen genährt, um so mehr zu erkennen gab an den Tagen der Erscheinung Jesu, als Johannes der Täufer dieselbe vorzüglich geweckt hatte, indem er lange vorher sagte, das Reich Gottes sey nahe, und mitten unter ihnen derjenige, den sie erwarteten. – Es sitzt der Erlöser in einer so großen Versammlung, daß ein Kranker, der ihm vorgestellt werden sollte, nur durch das Dach zu ihm gebracht werden konnte, ein Beweis, daß man sehr aufmerksam auf ihn war und, wenn man ihn auch nicht allgemein für den Verheißenen hielt, doch auf alle Fälle etwas Großes von ihm erwartete. Diese Erwartung, dieser Glaube, eines Theils auf seine Lehren gerichtet, andern Theils auf seine Wunderkräfte, die er an Unglücklichen bewiesen hatte, zeigt sich auch hier wieder auf eine eindringende Weise. Hätten aber seine Worte: „stehe auf und wandle“ nicht die Gemüther der Pharisäer und Schriftge|lehrten in eine andre Stimmung versetzen müssen? hätte diese nicht eine Ahnung in ihnen erregen müssen, daß er etwas Höheres zu bringen gekommen sey? wie konnten sie ihn deshalb einer Gotteslästerung beschuldigen? Sie hätten [es] doch auf alle Fälle erst prüfen müssen. Und wenn sie auch so weit nicht gegangen wären, so hätten sie doch, da er selbst darauf hindeutete, daß er ein Lehrer sey kräftig in Worten und Werken und auch schon viele an ihn als einen solchen glaubten, denken sollen, es sey doch wol möglich, daß er, wenn auch nicht der verheißene Erlöser selbst, doch der Vorgänger desselben sey und eben als solcher dergleichen Wunder verrichten könne. So hätten sie urtheilen müssen oder sich ganz des Urtheils enthalten sollen, wenn sie reinen Sinnes gewesen wären. Aber woher denn statt der Prüfung diese absprechende Neigung das, was doch göttlich seyn konnte, im Voraus gleich herabzuwürdigen und als Gotteslästerung zu verdammen? Was sol1 beschuldigt] beschuldigen 16 Vgl. Mt 3,2–3
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len wir anders sagen, als daß sie | zu den schwachen Seelen gehörten, welche die Entstehung einer neuen, kräftigen Zeit fürchteten, welche an nichts anderem sich festhalten wollten, als an den hergebrachten Stützen, wie morsch sie auch seyn mögten, denen alles Neue schreckhaft war, weil es sie aus dem trägen Fortschreiten einer trägen Zeit herausreißen mußte, was anders, als daß sie von den eitlen und selbstgefälligen Seelen waren, wie sie denn zu den Weisen und Geachteten des Volks gehörten, die alles Neue darum verachteten, weil sie dadurch vielleicht eben so tief zu stehen gekommen wären, als sie damals hoch standen? Wol! laßt uns auf uns und um uns sehen, und wir können die Aehnlichkeit unserer Lage hiemit unmöglich verkennen. Auf eine Zeit, wo wir, in trügerischer Selbstgefälligkeit befangen, uns in unserm äußeren Wohlstande gefielen und nichts Höheres verlangten, auf eine solche Zeit folgte auch für uns eine Zeit des Elendes und der Herabwürdigung. | Diese ward auch uns die Quelle der Erkenntniß Gottes, wir fingen an zu ahnen, daß alles anders werden müsse und als das Unglück aufs Höchste gestiegen ist, erhebt sich auf einmal die lange unterdrückte Kraft des Glaubens, da wird das Bedürfniß der Versöhnung mit Gott erregt, das Bedürfniß der Einführung eines neuen Lebens und indem es sich erhebt als der Wunsch, daß eine ganze andre Welt hervorgehen müsse, erheben sich dann auch viele Stimmen, die dies für nichts anderes erklären, als für Lästerung gegen Gott, Lästerung, daß der Mensch Vertrauen zu Gott hat, zu seinen Ordnungen, wie sie sich seit so langer Zeit bewährt haben, Lästerung, daß der Mensch verwerfen will, was eine alte Zeit laut genug und selbstgefällig genug erkannt hat, Lästerung Gottes, wenn der Mensch glaubt, nichts mit irdischer Geschicklichkeit ausrichten zu können, sondern etwas Höheres fordert, dem er vertraut. Was können wir anders, als denen, die sich so ver|nehmen ließen und noch vernehmen lassen, zu Gemüthe zu führen, ob sie nicht angehören jenem Trosse der Selbstsüchtigen und Eitlen, die den Erlöser der Gotteslästerung beschuldigten, ob in ihnen nicht auch die Furcht sey vor einer neueren kräftigeren Zeit, vor dem Umsturz der Lage der Dinge, daß sie mögten hinabgestürzt werden von ihrer scheinbaren Höhe, ob auch sie nicht fürchten, da wo sie geglänzt haben, nun im Dunkeln zu stehen und aus dem Kreise, wo sie der Mittelpunct waren, gestört, aus dem Mittelpuncte hinausgeworfen und in die Ecke geschoben zu werden. O ja wohl! das wollen wir, das müssen wir ihnen zu Gemüthe führen, daß sie aus Liebe zum Alten geneigt waren, das Göttliche herabzuwürdigen und zu unterdrücken und daß dies die gelindeste Ansicht ist, die wir von ihren Grundsätzen haben können. In dieser gelinden Voraussetzung laßt uns auch sehen 2. wie der Erlöser sie behandelte[.] | Wenn wir auf die Thaten des Erlösers in dem erzählten Falle sehen, so können wir die große Milde desselben nicht verkennen. Wie oft hören wir
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ihn anderswo Pharisäer und Schriftgelehrte weit härter angreifen, wie oft hören wir ihn Wehe! über sie ausrufen und das Volk warnen vor ihnen, als solchen, die den Weg zum Himmel versperrten. Aber gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, die ihn nach unserm Texte der Gotteslästerung beschuldigten, indem er die Sünden vergab, wie schonend ging er mit ihnen zu Werke. Er zeigt ihnen, wie sie nur einem flüchtigen Eindrucke gefolgt wären, ohne gründlich zu untersuchen; er fragt sie nur: warum denkt ihr so Arges in eurem Herzen? und anstatt sich stören zu lassen, vollführt er, was er sich von Anfang an vorgenommen hatte, zu thun und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf das Folgende. Was meint ihr wol, sagt er, das leichter sey zu sagen: dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: stehe auf und wandle? was haltet ihr für leichter, jemanden moralisch oder physisch herzustellen? Wenn ihr | nun sehet, daß ich das zweite thue und das erste zu thun behaupte, das ihr gar nicht beurtheilen könnet, werdet ihr mir dann das Recht und die Macht zugestehen, die Sünden zu vergeben? In diesem Sinne und Geiste, nicht milder und nicht härter, behandelte sie der Erlöser. Gewiß milde, indem er, ob er sie etwa gewönne, ihnen jene Beschämung vor den Augen des Volks ersparte, weil sie es nur in ihrem Herzen gedacht und unter einander geredet hatten; aber wahrlich auch ernst und strenge, daß er sie nicht der Mühe werth achtete, in das Tiefere mit ihnen einzugehen, erwartend, ob der äußere Eindruck sie vielleicht zur Veränderung ihrer Gesinnung veranlassen könnte. Was können wir wol Besseres thun, als eben hierin dem Erlöser in seinem Betragen gegen seine Gegner zu folgen. Wahrlich es ist zu viel Gewicht legen auf das flüchtige Wort, auf das veränderliche Urtheil veränderlicher Menschen, wenn man diejenigen, | die sich auf diese Weise äußern, zum Gegenstand eines ausdrücklich gegen sie gerichteten Verfahrens machen will und von der andern Seite ist zu wenig Gewicht gelegt auf das Wort, welches wie eine belebende, so auch eine tödtende Kraft hat, wenn wir nicht erwägen, wie wir dadurch die Menschen bitter verwunden und niederschlagen. Daher laßt uns dem Erlöser nachahmen, diejenigen das Schwert des Wortes fühlen zu lassen, die auch ihr Wort gerade heraussagen, denn so vielleicht können sie noch zur Besinnung und zur Besserung gebracht werden; aber gegen diejenigen milder zu verfahren, die nur unter sich und in ihrem Herzen lästern. Die sinnlichen Menschen vernehmen nun einmal nichts vom Geiste Gottes, was wir sagen von der höheren Kraft, das vernehmen sie nicht, und so mögen sie es denn auch lästern im Kreise unter sich. 12 jemanden] jemandem 1–3 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52
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Aber wolan! wie es die Absicht des Erlö|sers war, als der Kranke zu ihm gebracht wurde, auch die äußern Zeichen der Sünde aufzuheben, so können wir ja nicht anders sagen, als seitdem eben dieses Gefühl in uns mächtig geworden ist, ist es auch unser Streben, nicht nur unser inneres Leben zu reinigen und zu heiligen, sondern es ist eben so auch von Anbeginn an unsre Absicht dahin gerichtet gewesen, auch das Aeußere zu befördern, und zurückkehren zu lassen statt des Alten ein neues Wohlbefinden. Wolan! ohne uns an diejenigen zu kehren, die wie sie den neuen Geist nicht fühlen, auch nicht achten können, laßt uns, nachdem wir ihnen zu erkennen gegeben, daß wir ihre Gedanken wol kennen, laßt uns getrost unseres Weges fortgehen, ob dann vielleicht, wenn wir uns erheben zu neuer Würde und mit recht ernstem Sinne auf sie wirken, ob sie dann vielleicht erkennen werden, ob das Werk | von Gott ist oder von Menschen und ob sie dann aufhören mögten zu lästern, was von Gott kommt und anzuerkennen die Kraft seines Geistes. Was uns die Erzählung von dem Erfolge sagt, den diese Handlung auf die Gegner des Erlösers hatte, ist zwar nicht viel: „denn sie entsetzten sich und es kam sie Furcht an“ aber doch etwas; denn ehe die Kraft des Geistes in den Menschen wirken kann, giebt es nichts anders als die Furcht, die sie im Zaume halten kann. Nun wol! so ist es ja doch besser, sie fürchten sich vor der Kraft des Erlösers, als vor etwas anderem. Und wenn wir nur das erreichen, daß sie sagen: sie erleben doch seltsame Dinge und es komme sie Furcht an, dann wollen wir doch glauben, daß wir etwas gewonnen haben. Aber es giebt noch andre Dinge, die von dem kleinsten Scheine bis auf die höchste Stufe steigen, | und so steigt auch das Werk Gottes. Ein andrer Apostel sagt, indem er dieselbe Geschichte erzählt, daß sie fortgegangen wären und gesagt hätten: so etwas hätten sie nie gesehen und daß sie Gott gepriesen hätten. O wenn die Menschen das nur erst verstehen, daß etwas da ist, was sie noch nicht gesehen haben, so muß ja dies schon ihre Aufmerksamkeit erregen und wenn sie Gott preisen über das, was sie gesehen haben, so ist schon viel gewonnen. Und ein dritter Apostel sagt, indem er dieselbe Geschichte erzählt, daß sich das Volk verwundert und Gott gepriesen habe, der solche Macht den Menschen gegeben. Ja dahin laßt uns streben, daß die große Menge merke es sey eine Kraft in den Menschen höher als bisher, dann werden wir den Grund gelegt haben zum Siege über jene und alle andern | Gegner des Guten, dann werden wir dahin kommen können, daß wir von allem, das geschieht, dem allein die Ehre geben, der so Großes vollführt. Amen!
26–27 Vgl. Mk 2,12
32–34 Vgl. Mt 9,8
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Am 23. Juni 1816 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
2. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 6,10–13 Nachschrift; SAr 37, Bl. 38r–43r; Jonas Keine Nachschrift; SAr 43, S. 9–20; Jonas, in: Balan Keine
Am 23. Juni 1816.
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Die Reihe von Betrachtungen, die ich neulich vorzunehmen andeutete, sind wir genöthigt, schon heute zu unterbrechen, indem der Befehl an uns ergangen ist, heute besonders des großen Sieges zu gedenken, den Gott am 18. Juni vorigen Jahres den verbündeten Heeren verlieh. Wir haben schon damals, als wir zuerst die Nachricht von diesem Siege bekamen, das Opfer des Lobes und des Dankes dargebracht. Wenn wir jetzt dazu aufs Neue angeregt werden, so mögen wir uns nicht wundern, als ob zu viel von blutigen Ereignissen an dieser heiligen, Gott geweihten Stätte die Rede sey; sondern laßt uns bedenken, daß wir, da wir jetzt genauer, als damals, den Hergang der ganzen Sache wissen, weil gleich nach dem großen Ereignisse die Nachrichten nicht so vollkommen seyn konnten, auch genauere Betrachtungen anstellen können. – Der Streit des Guten mit dem Bösen ist immer derselbe, es sind dieselben Waffen, derselbe Feind, und so gewiß dies ist, so haben wir auch immer nur dieselben Grundsätze und Regeln zu beobachten. Wenn wir also sehen, wie die Vertheidiger des Vaterlandes in jenem großen Kampfe zu Werke gingen, so mögen wir, indem wir damit eine dankbare Erinnerung verbinden, daraus lernen | was jeder von uns in seiner besondern Lage thun müsse und auf diese Weise laßt uns denn die gegenwärtige Stunde ausfüllen. Epheser 6, 10–13 21 Epheser 6, 10–13] Epheser 6, 10. 13 2 Vgl. 9. Juni 1816 nachm. 4–5 Am 18. Juni 1815 fand die Schlacht von Waterloo statt, in der Napoleon nach seiner Rückkehr aus dem Exil, nicht zuletzt durch das Eingreifen der Preußen, endgültig vernichtend geschlagen wurde.
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Am 23. Juni 1816 nachmittags
Diese Worte erinnern uns aufs kräftigste, wie unser ganzes Leben, in wie fern es dem Dienste Gottes gewidmet ist, durchaus das Gepräge desselben Kampfes (dessen Paulus hier erwähnt) an sich trägt. Wir wissen es wol, es sind noch dieselben Geister, die sich dem Guten widersetzen, es ist noch dieselbe Gewalt des Fleisches im Menschen, die gegen die Kraft des Geistes sich auflehnt, und wir alle, wie jeder in seinem besondern Kreise seine Erfahrung hat, wir alle haben nichts mehr zu wünschen, als daß wir glücklichen Widerstand leisten und das Feld behaupten. Dieses Gefühl beseelte auch diejenigen, die für uns und das Wohl der Völker gestritten und glücklichen und herrlichen Widerstand geleistet haben. So laßt uns denn sehen, wie damals gehandelt ist, damit wir, wo es darauf ankommt, erkennen, wie auch wir handeln und gleichen Widerstand leisten sollen! Die Regeln, die wir vor allem hieraus nehmen müssen, sind: | 39r
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1. wie nothwendig es sey, um in dem Kampfe gegen das Böse zu bestehen, daß sich der Mensch niemals in seinem Glauben an das Gute und den Beistand, welchen Gott dem Guten giebt, durch augenblicklich üblen Erfolg irre machen lasse. Wir wissen es jetzt sehr gut und weit besser, als damals, da wir die erste Nachricht von dem am 18. Juni vorigen Jahres erkämpften Siege erhielten, daß unser tapferes Heer wenige Tage zuvor, am 16. Juni, ziemlich war geschlagen worden, daß dieser Tag eine große Anstrengung erforderte und daß eine herrliche Kraft und ein großer Muth dazu gehörte, einen so großen Kampf zu erneuern. Wenn man nun durch den augenblicklich üblen Erfolg sich hätte wollen davon abschrecken lassen, wenn man geglaubt hätte, Gott habe gerade durch diesen Nachtheil zu erkennen gegeben, daß er die Erneuerung des Kampfes mißbillige, wolan! so wäre dieser herrliche Sieg nicht erfochten worden und wir können nicht sagen, in welcher Lage sich jetzt die Welt befinden würde. Dasselbe muß uns eben so augenscheinlich werden, wenn wir sehen, wie es sich auf Seiten der Feinde verhielt. Derjenige, welcher die Feinde so lange beherrscht | hatte, war besiegt worden, genöthigt zu entsagen und verbannt, so, daß es jeder für eine Unmöglichkeit hielt, daß er noch einmal auf dem Schauplatz erscheinen könne, und wenn man auch die Möglichkeit zugab, so war man doch weit entfernt zu glauben, daß er wieder eine Macht würde zusammenbringen können, durch die er etwas auszurichten im Stande sey. Aber er befreit sich. Er landet in dem Lande, über welches er so lange geherrscht hatte. Alles gesellt sich zu ihm. Wohin er kommt, wird er als Herrscher anerkannt und bald hat er wieder ein Heer gesammelt, das seinen Befehlen zu gehorchen 20–29 In der Schlacht am 16. Juni 1815 bei Ligny war Napoleon zum letzten Mal siegreich und konnte die Preußen unter Blücher schlagen, jedoch nicht vernichten. Sie konnten so zur Entscheidung bei Waterloo beitragen. 30–38 Gemeint ist Napoleon.
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bereit ist. Gleichgültig ist der größte Theil des Volks gegen den König, den rechtmäßigen Beherrscher, der kurz vorher mit so großer Freude war aufgenommen worden. O! wenn der Mensch berechtigt ist, nur nach dem augenblicklichen Erfolge zu urtheilen, wie könnten wir uns da wundern, wenn sich alle wieder an das alte Gestirn angeschlossen hätten, das ihnen so lange geleuchtet hatte. Aber so ist es nicht und so soll es nicht seyn, weil der Mensch gar wenig beurtheilen kann, was eigentlich in dem Erfolge liege und worauf er | hinziele. Zwar ist es gewiß, daß wir das, was nicht geschieht, nicht für Gottes Willen ansehen und was geschieht allerdings für seinen Willen anerkennen müssen, aber wie vermag der Mensch von demjenigen, was vor seinen Augen geschieht, bestimmen zu wollen, zu welchem Ende es Gott geschehen lasse? Jene glänzenden Siege des Feindes waren von Gott zugelassen, aber sie waren nicht dazu, uns wieder unter seine Geißel zu bringen. Hätten nun aber die Menschen ein Recht, nach dem augenblicklichen Erfolge zu handeln, so hätte man es keinem verdenken können, wenn er gerade dieses angenommen hätte. Da dies nun aber nicht seyn soll, so hätten sie den König, wenn sie ihn nicht für treu und gut hielten, gar nicht zurückrufen müssen. Hielten sie ihn aber für treu und gut, so hätten sie ihm auch sollen treu bleiben, ohne sich, durch den augenblicklichen für den Tyrannen günstigen Erfolg geschreckt, von ihm abwenden zu lassen. O dies, das mit dem heutigen Tage so genau zusammenhängt, laßt uns zu einer festen Regel unsers Betragens machen, nemlich daß wir niemals wanken wollen in demjenigen, was wir für recht | und gut gehalten haben, wozu uns heilige Pflichten rufen, geschreckt durch augenblicklichen Nachtheil. Das allein kann uns schützen, nicht wankelmüthig hin und her zu irren, und nicht wieder zusammenzustürzen, was wir erbaut haben. Aber eben sowol kann es uns auch schützen gegen den Uebermuth, der durch einen scheinbar günstigen Erfolg hervorgebracht wird; denn auch das begegnet dem Menschen sehr leicht, daß er sich einen Wahn in seinem Herzen bildet, der viele ins Verderben stürzt. 2. Eine andre Regel, die wir uns aus der Erinnerung dieser denkwürdigen Tage abnehmen können, ist diese: daß diejenigen, welche es treu und gut meinen, fest vereinigt bleiben in Liebe und Gemeinschaft und sich eben dieser treuen Liebe wegen vieles nach- und übersehen. Denn ohne daß wir uns ein Urtheil anmaaßen wollen, über die Begebenheiten des Tages, wozu eine genaue Kenntniß aller damaligen Umstände erfordert wird, so können 1–3.19 Gemeint ist Ludwig XVIII. von Frankreich.
22 Gemeint ist Napoleon.
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Am 23. Juni 1816 nachmittags
wir es doch nicht läugnen, daß unsre Bundesgenossen, frisch und nicht geschlagen, uns hätten am 16. Juni eher können zu Hülfe kommen, als wir ihnen nach so vielen und so großen Anstrengungen und Unglücksfällen am 18. Hätten | wir gethan, was so oft gethan ist, was sich auch in unserer Lage und von unserer Seite hätte entschuldigen lassen, hätten wir dieselbe Denkungsart, als unsre Bundesgenossen gehabt, so wäre dieser herrliche Sieg nicht erfochten. Ja laßt uns diese Regel uns tief einprägen, um über die Kunstgriffe der Bösen zu siegen; denn es ist einer von den gewöhnlichen, daß sie suchen zu entzweien, welche sich für das Gute gegen das Böse verbunden haben. Wie leicht fehlt der Mensch in wichtigen Augenblikken und wie leicht ist es, jemanden dahin zu bringen, daß er nicht im vollkommenen Umfange erfüllt, was er wol erfüllen könnte. Denn derjenige soll noch aufstehen, welcher der vollkommene Mann wäre, dem im Verhältnisse zu andern kein Vorwurf könne gemacht werden und noch weniger ist derjenige zu finden, der auch im gerechten Zorne nicht über das Maaß hinaus ginge und nicht thäte, was vor Gott nicht Recht ist. So kann es also nicht anders seyn. Wollen wir ihnen das besonders zurechnen, daß sie fehlen in der Rücksicht, die sie auf uns nehmen sollen, dann stehen wir einzeln und getrennt da | und was das Wichtigste und Heiligste ist, kann nicht geschützt werden. Aber solches sollen wir ihnen übersehen und wahrlich! wir müssen es ja dann wissen und fühlen, wie sie selbst ihre Fehler bereuen und wie sie sich allein alles zurechnen werden, was für die gemeinsame Sache Nachtheiliges geschehen ist. Wenn nun aber ein nachtheiliger Zufall uns nicht hindern soll, zu thun, was Noth ist, so soll es auch dies nicht, was in der That für nichts anderes zu halten ist. 3. Was das Dritte ist, worauf uns die Begebenheit besonders führt, ist dies, daß wir überall im Streit gegen das Böse uns hüten müssen, irgend etwas Falsches zu thun, vielmehr daß wir unermüdlich und ohne zu rasten gegen die Feinde des Guten fortwirken. Denn das wissen wir alle, wenn man nach jenem Siege geruht und das Heer, wenn auch noch so ermüdet, nicht rastlos den Feind verfolgt hätte, so wären die Folgen des Sieges nicht halb so groß gewesen; auch die Feinde hätten sich wieder gesammelt und das Blutvergießen hätte von Neuem den Anfang genommen. | Wichtig ist diese Regel allen und wir müssen uns das Beispiel unserer Brüder vor Augen stellen, da der Mensch nur allzu leicht sich Ruhe nimmt, wenn auch nur erst ein kleiner Theil dessen, was da bewirkt werden soll, vollbracht ist, denn Ausdauer und Beharrlichkeit können nicht genug gerühmt und anempfohlen werden, die leider! den meisten Menschen fehlen. Denn so wie sie gleich verzagen bei den geringsten Nachtheilen, so glauben sie auch, nichts mehr 1 Gemeint ist hier die alliierte Armee unter Wellington.
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zu thun zu haben und ruhen zu können, wenn auch nur erst ein kleiner Vortheil errungen ist. Wenn wir nun fragen, woher denn dieser gewöhnliche Fehler? und woher denn, daß wir sagen können, diejenigen, welche auf der Seite des Guten sind, sind eher mit diesem Fehler behaftet, als die Feinde? (denn wenn es auf beiden Seiten gleich wäre, so könnten die Feinde keinen Vortheil daraus ziehen.) Es ist ein nachtheiliger Auswuchs des Vertrauens auf Gott bei der Vertheidigung des Guten, wenn man glaubt, daß Gott die gute Sache, auch ohne unser rastloses Fortstreben nach einem einzelnen | Vortheile von selbst fördern werde, oder wenn man aus diesem Vortheile, den man sich angeeignet hat, gleich ein Bestreben hat, etwas Gutes zu bilden, wozu man ruhen zu müssen glaubt, aber jenes ist weder das rechte Vertrauen auf Gott, noch dieses das rechte Verfahren. Denn nicht bloß siegen wollen wir, sondern den Kampf gegen das Böse gänzlich vollenden, nicht eher ruhend, als bis alle Gegner der Förderung des Reiches Gottes entweder über die Seite gebracht oder unfähig gemacht sind, zu schaden und so wie wir daher uns durch den augenblicklich schlechten Erfolg nicht sollen irre machen lassen, so sollen wir uns auch in der Freude über einen einzelnen guten Erfolg nicht gleich für sicher halten. Darum sollen wir rastlos fortstreben im Kampfe, bis wir zu gleich mit der Grenze der Anstrengung auch die Grenze des Vorsatzes finden. Mit einer solchen rastlosen Anstrengung sind uns unsre Brüder vorangegangen. Wir, denen eine andre Art des Kampfes beschieden ist, geringer, wenn wir ihn nach | demjenigen betrachten, was der Erfolg ist, leichter, wenn wir auf den Widerstand sehen, wir sollen nicht weniger thun, als sie, wir sollen es ansehen als eine Pflicht, die wir ihnen und dem Vaterlande schuldig sind, das Gute was sie mit so großer Anstrengung bewirkt haben, nicht durch Nachlässigkeit wieder umzustürzen. So laßt uns denn Widerstand thun an bösen Tagen, dann werden wir auch in unserm Beruf die Feinde besiegen, die uns entgegentreten, wie unsre Brüder damals den Sieg davon trugen! Amen.
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Am 30. Juni 1816 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Predigt am 30. Juni 1816.
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3. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 5,27–32 Nachschrift; SAr 37, Bl. 44r–50v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 44, S. 1–6; Jonas, in: Balan Teil der am 16. Juni 1816 begonnenen Predigtreihe (Vormittagsgottesdienste) zu den Streitigkeiten Jesu mit seinen Widersachern (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Es ist eine alte, sehr alte Erfahrung, daß, wo etwas streitig ist, da pflegt auf beiden Seiten gefehlt zu werden, indem nur selten dem Menschen vergönnt ist, diesen Zustand lange zu ertragen, ohne aus dem Gleichgewichte gebracht zu werden. So geht es auch uns im Streite des Guten gegen das Böse. Hat diesen Kampf der Mensch zu führen, so nimmt ihn gleich menschliche Schwachheit ein und allerdings kann das nicht geschehen, ohne daß es der Sache, für die gestritten wird, irgend wie nachtheilig werde. Darin sehen wir billig auf denjenigen, der doch in dem Streite gegen die Widersacher der Anführer geworden ist und der Vollender unserer Laufbahn. Aber wie er uns zeigt, wie wir ausweichen müssen dem Einflusse menschlicher Schwachheiten, so ist auch etwas anderes in eben dieser Beziehung, das uns Trost und Beruhigung bringen kann. Eben weil es durch die Erfahrung bestätigt ist, daß im Streite von beiden Seiten leicht gefehlt wird, so ist es nun hauptsächlich eigenthümlich den Kindern der Finsterniß, daß sie, indem sie sich selbst zu rechtfertigen bemüht sind, alle Schuld auf ihre Gegner, die Kinder des Lichts schieben. Und derjenige soll noch gefunden werden, der dem ausweichen könnte, der den Schein des Bösen bei einer auch noch so guten | Handlung jemals sollte vermeiden können. Und darin beruhigt uns nun das Beispiel des Erlösers. Auch er ist so gewesen, daß sie zuweilen einen Schein des Unrechts auf ihn werfen konnten, und daß auch dieser Schein jetzt noch auf ihn gebracht werden kann, wenn wir es so ansehen. Darüber kann uns beruhigen eine der Geschichten, die ganz in der Reihe der angefangenen Betrachtungen liegt. Luc. V. 27–32. 25 Luc. V. 27–32] Luc. V. 27–33
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Oft und gewiß jedesmal mit dankbarer Rührung hat sich die Aufmerksamkeit der Christen in der Stille sowol, wie in gemeinsamer Andacht auf die letzten Worte des Textes gelegt, um zu erkennen, daß wir wirklich krank waren und mit welcher Milde der erhabene Herr gekommen ist, um zu retten, was verloren war und gewiß geblieben seyn würde, ohne ihn. Es liegt in unserm Zwecke, diese Worte mehr im Zusammenhange und so zu betrachten, wie sie in den Streit gehören, in welchem der Erlöser begriffen war und sich auf diesen beziehen. Und da können wir nicht läugnen, es ist einer von den Fällen, worauf ich vorher schon aufmerksam gemacht habe. Es kann gar leicht das Ansehn gewinnen, als ob die Gegner des Erlösers einigermaßen Recht hätten | und es ist ihnen leicht geworden, auf ihn den Schein des Unrechtes zu bringen. Laßt uns daher die Sache 1. von dieser scheinbaren Seite betrachten und 2. dasjenige erwägen, was uns in einem entgegengesetzten Lichte erscheint. [1.] Zuerst könnte man denken, die Gegner hätten Recht in dem Vorwurf, wie sie ihn machten und der Erlöser Unrecht in der Art, wie er ihn von sich ablehnt. Die Zöllner standen allgemein in einem üblen Rufe und zwar von 2 verschiedenen Seiten. Die Abgaben wurden gegeben der fremden Obrigkeit, die sich auf das aller unrechtmäßigste in den Besitz des Landes gesetzt hatte. Mit diesen Unterdrückern des Volkes also standen diese Zöllner in einem engern Zusammenhange und schienen ihre Werkzeuge zu seyn. Sollte man dies nicht für löblich halten, daß die, welche sich dazu hergaben, tief verachtet und entfernt wurden aus allen Gesellschaften, in denen noch Liebe für Freiheit und Selbstständigkeit herrschte? Hatten sie also nicht Recht, dem Erlöser einen Vorwurf zu machen, daß er allein gegen dieses edlere Gefühl handelte und ein Beispiel gebe, was nicht nachzuahmen sey? | Aber es giebt noch eine andre Seite. Die Zöllner waren durch ihr Geschäft außer Stand gesetzt, den Sitten, Gebräuchen und Gesetzen so nachzukommen, wie die andern. Das ganze Geschäft war ein solches, welches nur gar zu leicht reitzte zu manchen kleinen und großen Ungerechtigkeiten. In beiden Hinsichten konnte es nicht demjenigen, der da sagte, er sey nicht gekommen das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen, konnte es nicht dem zum Vorwurf gemacht werden, daß er mit denen umging, die nicht allein alles Aeußere nicht beobachteten, sondern auch in das Innere gar nicht eindrangen? 36–37 Vgl. Mt 5,17
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Am 30. Juni 1816 vormittags
Wenn wir nun sehen, wie der Erlöser den Vorwurf ablehnt: „die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken; ich bin gekommen, die Sünder, nicht die Gerechten zur Buße zu führen;“ so kann niemand darin eine Behandlung verkennen, die wir oft mit dem Namen des Spottes belegen. Denn Ernst konnte es dem Erlöser nicht seyn, daß die Schriftgelehrten die Gesunden seyen, denn er hielt sie bei allem | Schein der äußern Erfüllung des Gesetzes, für eben so weit vom Göttlichen entfernt, für eben so schlecht, als die Zöllner. Warum sagt er nicht schlicht und ehrlich seine Meinung? warum ahndet er es nicht, wie in so vielen Stellen, daß sie sich anders stellten, als sie waren? Ferner: die Schriftgelehrten standen im größten Ansehn beim Volke; wenn er daher auf sie wirkte, so konnte er eben dadurch auf viele andre mitwirken; hatte er also schon hinreichenden Grund, sich ganz außer allem Zusammenhange mit ihnen zu setzen? Mußte nicht aus seinen Worten Bitterkeit entstehen? oder sollen wir glauben, sie seyen so gewesen, daß er hätte voraussetzen können, sie würden die Verbindung auch nach dem bittern Spotte noch fortsetzen? So kann man die Sache ansehen und so werden sie auch nicht verfehlt haben, dieselbe anzusehen. Denn zu andrer Zeit hören wir den Erlöser sagen: Johannes sey gekommen fastend und betend und da habe man ihn trübsinnig genannt; er, der Erlöser habe gegessen und getrunken und da habe man gesagt, er sey ein Gesell der Sünder. | So ist es und der Erlöser konnte dem Scheine des Unrechts nicht entgehen. Aber das hatten sie nur aus einer oberflächlichen Ansicht her, denn diese Ansicht ist durchaus keine andre, als eine oberflächliche. Daher laßt uns 2. die andre Seite betrachten, die uns nothwendig alles in einem entgegengesetzten Lichte zeigen muß. Zuerst wenn wir auf jene ungünstige Meinung sehen, welche man im Allgemeinen von den Zöllnern hatte, so ist es zwar wahr, was ich oben gesagt habe; aber diejenigen, welche gegen den Erlöser auftraten, diese hatten das wenigste Recht, diese Meinung unter sich aufzuregen und laut werden zu lassen. Denn es gab unter den Pharisäern genug, die es mit den Feinden und Unterdrückern des Vaterlandes hielten, nicht etwa aus verrätherischen Absichten, sondern theils aus Liebe zur äußerlichen Ruhe, theils aus Parteigeist gegen diejenigen, die andrer Meinung waren im Volke, denen sie hätten unterliegen müssen, wenn sie es nicht mit den Fremdlingen gehalten hätten. Wenn sie diesen dann ihr Anliegen vortragen wollten und sie hätten dies nur vermittelst der Zöllner thun können, sie | würden dieselben nicht verschmäht haben. Sie waren es ja gerade, welche dem Volke auflegten die großen Lasten, welche nur immer Ausnahmen für sich zu machen strebten, hatten sie also ein Recht, eine allgemeine ungünstige Meinung von den Zöllnern zu verbreiten? Sie waren 9–10 Vgl. z. B. Lk 18,9–14
19–21 Vgl. Mt 11,18–19; Lk 7,33–34
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es gerade, von denen der Erlöser sagte, daß sie sich nur an den größten, äußeren Kleinigkeiten in der Erfüllung des Gesetzes hielten, aber den Geist desselben nicht kannten, das Innere nicht durchdrängen. Hatten sie also ein Recht aufzutreten gegen diese, denen sie weit vorangingen an innerer Ungerechtigkeit und Unlauterkeit des Gemüthes? Der Erlöser schien auch gar nicht gegen jene allgemeine Meinung aufgetreten zu seyn, er schien gar nicht die Verhältnisse der Zöllner zu den Gesetzen in Schutz genommen zu haben. Wir können auch nicht glauben, daß sie gerade seine Gesellschafter geworden wären. Er hatte nur einige kennen gelernt. Sie waren ihm als Jünger gefolgt. Er rief sie zu sich, wie den Levis, der auch gleich alles verließ, ihm nachging und ihm ein | großes Mahl zurichtete. Da waren nun viele Zöllner zugegen, wie die Verhältnisse des Mannes es mit sich brachten. Viele derselben waren dem Erlöser gefolgt. Hätte er diese fähigen Gemüther ihrer äußeren Verhältnisse wegen von sich stoßen können? Und so gut die Pharisäer es wußten, daß Er in Gesellschaft mit ihnen saß, so mußten sie auch wissen, wie jene alle dazu kamen. Nun erscheint dies von einer ganz andern Seite, wenn wir mehr eindringen in das, was sie sagten: „warum ißt und trinkt er mit den Zöllnern?“ Was können wir anders sagen, als daß sie die ersten waren, die diesen Vorwand ergriffen, um sich gänzlich vom Erlöser loszureißen? Wir haben sie gesehen als seine aufmerksamen Zuhörer (bei einigen mag es Neugierde, bei andern Wißbegierde oder was sonst noch gewesen seyn) aber was sie ihm nun sagten, aus welchem andern Grunde konnten sie dies, als sich gänzlich von ihm loszureißen? Denn wenn sie jene Worte sprachen, was wollten sie anders damit andeuten, als: wenn er mit solchen Menschen | umgeht, so können wir forthin nicht mehr Gemeinschaft mit ihm haben? Das war es, was sie meinten und was der Erlöser sehr wol verstand. Können wir nun noch dem Erlöser einen Vorwurf machen in der Art und Weise, wie er zu jenen redete? Was sagt er ihnen denn anders, als: ihr seyd doch einmal im Eigendünkel und wähnt die Gesunden zu seyn, was kann ich euch helfen? Daß dies seine Meinung war, wußten sie sehr wol; sie wußten sehr wol, daß er nur sagen wolle: „ihr haltet euch für gesund, aber ihr seyd nichts weniger, als dies.“ Und dies war allerdings die kürzeste Weise, wie er sich ausdrücken konnte. Er sagt also: ihr glaubt euch wol mit Gott abzufinden, und eine solche Heilung, wie ich hervorbringe ist für euch nichts. So laßt mich denn mich zu denen halten, auf die ich wirken kann, die ein völliges Bewußtseyn ihrer Schwäche haben, sie mögen nun seyn weß Standes sie wollen. Das ist, wenn wir auf das Innere gehen, die natürliche und einzige Auslegung der Worte. Und wir können | nicht anders sagen, als daß er vollkommen Recht habe. Wenn die Gegner des Guten erst so weit sind, daß sie von demjenigen sich losreißen wollen, der das Gute bewirken will, wolan! was konnte der Erlöser, was sollen wir 1–3 Vgl. Mt 23,23; Lk 11,42
17–18 Schleiermacher folgt hier Mk 2,16.
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anders thun, als sie gehen lassen und ihnen nur sagen, daß man ihre Meinung verstehe? Und weiter hat doch der Erlöser nichts gesagt. Er schloß sie auch deshalb nicht aus, sondern predigte immer noch öffentlich fort; sie konnten immer noch theilnehmen an seiner göttlichen Lehre und gerade in demjenigen, was sie an ihm tadelten, daß er sich zu den Sündern herablasse, fanden sie ja auch etwas für sich; sie konnten ja, wenn sie von der Meinung der übrigen abtreten wollten, immer hoffen, daß er mit derselben Güte und Herablassung auch mit ihnen in Verbindung treten werde, wie er es mit den bußfertigen Zöllnern that. Aber wie in dieser Hinsicht es unvermeidlich ist (wie auch das Beispiel des Erlösers zeigt) so zu handeln im Streite gegen diejenigen, welche das Böse wollen, daß es ihnen nicht möglich | seyn sollte, einen Schein des Unrechts auf uns zu werfen, so sollen wir auch von dem Erlöser lernen, uns nie durch die Besorgniß und Furcht vor diesem Scheine bestimmen und von der betretenen Bahn des Rechten abbringen zu lassen. Offenbar ist, daß der Erlöser so gehandelt hat. Wir finden nicht, daß er darüber nachgedacht, wie er den Schein des Bösen vermiede, denn sonst hätte er sich anders ausdrücken können; aber wie er sich auch ausgedrückt hätte, es würde demselben nicht entgangen seyn und darum handelte er aus dem reinen Triebe seines Herzens, ohne darauf zu sehen, was die Welt sagen würde. Eine gottgefälligere Weisheit kann es nicht geben. Wir dürfen aber gar nicht erst den Erlöser anführen. Es liegt in der Natur der Sache: Mißdeutung ist in allen menschlichen Worten möglich, wie viel mehr in einem Verhältnisse des Streites und des Zwiespalts. Wer darauf sieht, dies zu vermeiden, der unternimmt etwas Unmögliches, der verliert seine Zeit, die er lieber zur Ausführung des Guten gebrauchen kann, der unternimmt ein vergebliches Werk, welches | noch den besondern Nachtheil nach sich zieht, daß es ihn schüchtern macht und zaghaft, wenn er sieht, daß, aller Bemühungen ungeachtet[,] der böse Schein nicht vermieden werden kann. So laßt uns deswegen, weil nach dieser oder jenen falschen Auslegung uns könnte etwas zum Vorwurf gemacht werden, so laßt uns deshalb nicht weichen von unserem Wege! Aber nur derjenige kann sich einer solchen Sorglosigkeit überlassen in Rücksicht dessen was er sagt, der sich edler Handlungen und eines reinen Gewissens bewußt ist, der fest überzeugt ist, daß sein Gefühl von der Sache ausgeht, nicht von der Person; denn dieses ist das wahrhaft Gott gefällige. Wer hingegen, was ihm im Streite mit den Menschen begegnet, auf etwas Persönliches bezieht, der hat schon gefehlt und er darf nicht erst vermeiden, wie man ihm einen Schein des Unrechts zuschiebe, sondern er sehe nur darauf, wie er sein Herz bessere. Gehört das nicht zu demjenigen, was den größten Eindruck von Erhabenheit in dem Betragen des | Erlösers auf uns alle macht, daß er, in dem festen Vorsatze, nicht abzuweichen von dem Wege, den er sich genommen
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und den Gott ihm vorgezeichnet hatte, daß er jedesmal dem Gefühle seines Herzens folgte? Was also auch Größeres konnte er, sollten wir zum Gegenstande unserer Nachahmung machen, als eben dieses? Darum laßt uns unser Herz rein erhalten; denn nur derjenige ist fähig das Reich Gottes zu fördern, der reines Herzens ist. Je mehr wir solche werden, um desto mehr wird es uns auch überflüssig scheinen, uns erst auf das Urtheil der Welt zu berufen; unser Herz ist rein und wir haben nichts nach der Welt zu fragen. Das ist die Einfalt des Herzens, die der Erlöser den Seinigen zur Pflicht machte und die sie auch fest brauchten, wenn sie sein Wort verbreiten und fördern sollten. Darum laßt auch uns daran festhalten, dann werden auch wir sein Reich fördern! Auf ihn laßt uns sehen, daß wir ihm nachfolgen in Rücksicht der | Erfüllung des göttlichen Willens! Folgen wir ihm hierin nach, dann werden auch wir zu der Reinheit gelangen, die aus allen seinen Thaten und Worten hervorleuchtet! Amen.
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Am 4. Juli 1816 Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Donnerstag, Trauertag Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Makk 9,10 u. Jak 5,11 Nachschrift; SAr 37, Bl. 52r–58r; Jonas Keine Nachschrift; SAr 42, S. 14–16; Jonas, in: Balan Preußischer Trauertag zum Gedächtnis für die in den Befreiungskriegen 1813–1815 Gefallenen (vgl. Einleitung, Punkt I.4.)
Am 4. Jul. 1816. dem Trauertage über die im Kriege Gefallenen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sey gelobet!
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Wer unter uns hätte nicht oft schmerzlich gedacht aller der Theuren, die den Tod für das Vaterland gestorben sind in dem heiligen Kampfe für dessen Freiheit! O, wann hätten wir uns gefreut hier vor dem Herrn eines jener Tage des Sieges, daß nicht ein Bestandtheil unserer Freude gewesen wäre der Schmerz über diejenigen, die da fielen! Wann hätten wir gesehen mitten unter der allgemeinen Freude auf diejenigen, welche mit dem Flor der Trauer bedeckt waren, daß nicht unser Herz bewegt gewesen wäre! – daß ich schweige von dem Zustande derer selbst, die vielleicht das Theuerste geopfert haben auf dem Altare des Vaterlandes. Und wer von uns wäre wol frei geblieben, (sey es nun im engeren oder weiteren Kreise seiner Freunde) von persönlichem Antheil an diesem heiligen Schmerze? Aber ungeachtet aller auch frommen Thränen und Seufzer, ungeachtet des nie ganz erlöschenden Mitgefühls, haben wir doch alle verlangt, zu feiern ein allgemeines und öffentliches | Fest der Trauer und des Andenkens, in der innigen Dankbarkeit treuer Bürger des Vaterlands und in der hoffnungsvollen Ergebung gläubiger Christen. So hat uns denn heute alle versammelt das Wort 15 frommen] fromnern 2–3 Hiob 1,21 als Kanzelgruß 19–1 Veranlasst durch die zahlreichen Toten der Befreiungskriege, hatte König Friedrich Wilhelm III. durch Kabinettsorder vom 24. März 1816 in Preußen eine kirchliche Totenfeier zum Gedächnis der im Krieg Gefallenen eingeführt.
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unsers Königs in den Tempeln der Andacht, an dem Tage, wo durch den Vertrag, der geschlossen ward mit der wortbrüchigen Hauptstadt, dem Blutvergießen im Großen ein Ende gemacht war. So laßt denn unsre Herzen bereit seyn wie in schmerzlicher Trauer, so auch in dankbarer Rührung gegen Gott! lasset uns ein würdiges Opfer bringen, denen, die da gefallen sind! Dazu bitten wir Gott durch das Gebet des Herrn. – Zwei Worte sind uns bestimmt, unsre Betrachtungen daran zu knüpfen. Das erste: 1. Buch der Maccabäer 9. 10. Das sey ferne, daß wir fliehen sollten. Ist unsre Zeit gekommen, so wollen wir ritterlich sterben um unsrer Brüder willen und unsre Ehre nicht lassen zu Schanden werden. Das zweite: Jacob. 5. 11. Siehe wir preisen seelig, die erduldet haben.
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Ganz von selbst und ohne, daß es einer weitern Erklärung bedürfte, sind wir durch diese Worte daran gewiesen, wozu schon unser Herz am heutigen | Tage aufgeregt ist, seelig zu preisen diejenigen, die so erduldet haben und wir werden es am besten thun, indem wir 1. bedenken, wie wir es auf der einen Seite ansehen können, als den Wahlspruch derer, deren Gedächtniß wir heute feiern; aber auch 2. als das Wort der Ermahnung, welches sie allen, auch uns zurufen[.] Das Volk Israel war lange schon gequält und gedrückt von einem fremden, gottvergessenen Volke und dessen tyrannischem Herrn, von einem Volke, mit dem es lebte in einem Zustande, der nicht Krieg war und nicht Frieden, in welchem sich eben am meisten gedrückt fanden, die am Hause des Herrn und seinem Gesetz fest hielten, die Frevelhaften aber noch mehr gewannen und befördert wurden, welche die Schmach des Volkes wollten. Da war aufgestanden ein Held, der die Treuen und Tapfern versammelt hatte und aufgerichtet, und ausgerichtet hatte herrliche Thaten. Aber es war an einem unglücklichen Tage, wo vor der Uebermacht der Feinde erschrocken ein großer Theil seines kleinen Heeres ihn vor dem Streite verließ, wo er zu den übrigen | diese Worte redete. Aber daß sie an einem solchen Tage gesprochen wurden, kann uns nicht hindern, sie anzuwenden an dem heutigen; denn sie waren der Wahlspruch eines für das Vaterland durchdrungenen Herzens und auch sie, die zur Rettung unsers Vaterlandes dahin zogen, sie konnten nicht wissen, welchen Ausgang der Herr verordnet hatte; aber sie zogen allesammt aus diesen Wahlspruch im Herzen: „Das sey ferne, daß wir fliehen. Ist unsre Zeit gekommen, so wollen wir ritterlich sterben um unserer 20–2 Am 4. Juli 1815 wurde die Kapitulation von Paris vertraglich besiegelt. 28 Vgl. 1Makk 3,1–9 28–31 Vgl. 1Makk 9,6–10
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Brüder willen und unsre Ehre nicht lassen zu Schanden werden.“ Ja so können und müssen wir diese Worte ansehen und die Wahrheit derselben, wie tief alle Gemüther davon durchdrungen waren, das haben alle die Wechsel des Glücks und des Unglücks jenes großen und herrlichen Kampfes bewiesen. Unter denen, die da schlafen ist mancher Edle und Gute, dem es vielleicht der letzte Schmerz war, daß er die tödlichen Wunden nicht empfangen durfte in der Brust, sondern sie hinnehmen mußte in den Rücken; aber das haben sie | alle gehalten, daß keiner fliehen wollte und auch da, wo sie zurückgehen mußten auf den weisen Befehl des tapferen Feldherrn, fehlte der heldenmuthige Sinn nicht, auch da verlor keiner den Muth und auch im Zurückgehen harrte jeder sehnensvoll, ob nicht der Ort käme, wo ihm vergönnt sey, zu stehen und zu kämpfen aufs Neue. Und nichts anderes war ja, wofür sie ritterlich kämpfen und sterben wollten, als ihre Brüder und deren Wohl. Das war das allgemeine Gefühl jener großen Zeit, daß die Stunde nun geschlagen habe zu entscheiden über wahres Seyn oder Nichtseyn, über Freiheit oder Knechtschaft über alle edlen und hohen Güter, die theils schon entrissen, theils in jedem Augenblicke entrissen zu werden in Gefahr standen und in diesem Gefühl, daß die Stunde gekommen sey, wollten sie alle ritterlich sterben für ihre Brüder. O diese Brüder schienen anfangs ein kleines Häuflein zu seyn außer denen, die schon selbst mit fortgerissen waren durch den mächtigen Strom der Begeisterung für das Vaterland zum Kampfe; denn viele waren bedenklich und furchtsam und hatten nicht recht | gehorcht auf den Klang der Stunde, die da gekommen war und manche waren nach den ersten nicht ganz glücklichen Versuchen zurückgekehrt in den Zustand, vor dem uns jetzt schaudert. Aber ihr Herz, das Herz der Edlen umfaßte mehr. Es waren auch die Verblendeten, die noch seufzten unter den Banden der Gewalt und für dieselbe kämpften, auch diese waren es, die ihnen würdig erschienen, daß sie für dieselben das Leben opferten und so mögen wir denn sagen, daß ihnen eine große Schaar zum Lohne geworden sind, die Theil haben an der Rettung und aufgenommen sind in den herrlichen Bund der Brüder. Wol mögen wir also sagen: sieh, wir preisen seelig, die so erduldet haben! O gewiß, man kann das nicht im allgemeinen sagen von allen, die das Loos trifft, in einer blutigen Zeit der Kriege zu fallen. Wir fühlen es ja wol, wie ganz entgegengesetzt es seyn würde dem Gefühl, wenn wir oder die unsrigen auf der entgegengesetzten Seite gestanden hätten. Und | wer noch in dieser Zeit nicht ganz das Gedächtniß verloren hat für eine frühere, wo oft die Menschen um nichtswürdiger Kleinigkeiten willen in den Krieg geführt wurden, der muß gestehen, auch die sind nicht so seelig gestorben, die da fielen, freilich im Gehorsam, der aber nicht im Herzen waltete, nicht die freiste That der Hingebung war. Die aber so vollendet haben im Kampf für das Heilige und Rechte in einem Kriege, dem das ganze Herz entgegenbrannte, die sind seelig zu preisen. Laßt uns nun fragen diejenigen, die mit
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ihnen gekämpft haben, ob sie nicht alle sagen, das sey eine Zeit gewesen, wie sie nie mehr zu hoffen sey, wie sie sie nicht noch einmal erleben würden, nie sey mehr die ganze Seele durchdrungen gewesen von dem Gefühl der Liebe, der Freiheit, der gänzlichen Hingebung, unabhängig vom Irdischen und Vergänglichen, nie sey ihnen das Leben werther gewesen und größer erschienen, als eben in der Bereitwilligkeit es hinzugeben für etwas Größeres? ob sie nicht alle gestehen, es sey dies nicht nur das kalte, ruhige Gefühl der Pflicht gewesen, sondern in Wahrheit die höchste Freiheit und | Seeligkeit des Herzens, die der Mensch nur zu genießen fähig ist? Wie sollten wir also nicht seelig preisen, die so vollendet haben, die dahin gegangen sind in der schönsten Blüthe ihres Lebens, im reinsten, geistigsten Genuß desselben? O so weiche denn das Bild aller Leiden und alles Jammers, welche vielleicht die letzten Stunden derer, die für uns bluteten, umgaben, so weiche der eigene Schmerz, den jeder fühlt, dem Gefühl, in welchem wir seelig preisen die Vollendeten! Freilich auch sie waren, (warum sollten wir uns das in dieser Stunde verbergen?) auch sie waren nicht alle gleich; solche, denen schon viel das Vaterland verdankte und solche, die zuerst ihm die Kräfte darbringen wollten, welche das Vaterland in ihnen entwickelt hatte; solche, in denen das Gefühl lebte, das wir geschildert haben und damit die andern entzündeten und solche, die nur von ihnen entzündet wurden, solche, die ohne recht zu wissen, was, wie und warum sie dem Strome folgten, dem sie nicht widerstehen konnten, | in denen vielleicht die freudige Theilnahme wechselte mit solchen Gefühlen, die nicht in das Bild des Tages dürfen gemischt werden. Aber das ist das Wesen der christlichen Liebe und Gemeinschaft, daß sie diesen Unterschied aufhebt und es ist nicht nur Ein Verdienst, das sie alle haben, sondern es ist auch Ein Geist, der sie alle regierte und so geben wir ihnen in demselben gläubigen Sinne, mit welchem wir alle uns einen Theil zuschreiben an Christi Lehre, so geben wir ihnen Theil aus seeligem Herzen an der Seeligpreisung, die wir heut aussprechen. Aber wir können und dürfen das nur, wenn wir zugleich jenes Wort, das ihr Wahlspruch gewesen ist, betrachten als das Wort der Ermahnung, welches sie uns allen zurufen. Wie könnten wir im Geist und in der Wahrheit seelig preisen diejenigen, welche so erduldet haben, wenn nicht die Gesinnung, wie damals, so jetzt in uns lebte, wenn wir nicht wiederum, wenn das Vaterland in gleiche Gefahr geriethe, sey es durch Verschuldung oder durch unvermeidliche Verwickelung | eines Volks in das andere, denn eben so bereit seyn würden, auch, wenn das Vaterland uns riefe, dann nicht zu fliehen, sondern ritterlich zu sterben, und die wir dies selbst nicht können, wenn wir nicht auch bereit wären, hinzugeben das Theuerste, was wir haben, damit unsre Ehre nicht zu Schanden werde? O mögten sie es hören, 33–34 Vgl. Joh 4,23–24
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alle die Brüder und Kampfgenossen derer, welche gefallen sind[,] das Gelübde der Vaterlandsliebe und vernehmt es alle, die ihr zugegen seyd und auch ein theures Opfer gebracht habt, vernehmt das Gelübde, daß wenn sie auch gestorben sind, die Liebe zum Vaterland nicht mit ihnen gestorben ist, nicht mit unter die Erde verscharrt ist, sondern tief eingeprägt in unsere Herzen, immer neu zu erblühen zu ähnlichen großen und herrlichen Thaten! Möge sie es mit uns ablegen die theure Jugend, auf die wir freilich am meisten sehen müssen in den Tagen der Gefahr! Aber wir haben ihre Bürgschaft besonders in den theuren Opfern, die gefallen sind, in den heldenmuthi|gen Jünglingen, die Alles auch den theuren Beruf verließen, um das Gemeinsame zu erfüllen. Indem wir zu Herzen nehmen dies Wort der Ermahnung, laßt uns nicht vergessen, daß nur diejenigen können seelig gepriesen werden, die vollendet haben. Wir sollen es jetzt noch nicht seyn. Wir müssen uns aufrichten im Kampfe, in welchem man auch unmittelbar wieder seelig seyn kann, als in jenem Vollendetseyn. Denn wahrlich, das ist nicht das einzige Gelübde, daß wir eben so bereit seyn wollen, für das Vaterland zu sterben, als sie, sondern auch erhalten wollen wir, was sie erkämpften, denn sie fielen ja nicht für den Ruhm, sondern für die höchsten geistigen Güter. Darum auch in diesem Zustande, in welchem wir lebten und noch nicht eher seelig seyn können, als bis auch wir vollendet haben, wenn es uns Ernst ist, festzuhalten die Güter, für die sie ihr Leben gelassen haben, ja auch da fliehe keiner von dem Orte, der ihm angewiesen ist, auch da wisse jeder ritterlich auszustehen alles, was zu dulden ist für das Wohl der Brüder und so oft einer nach reiner Prüfung vor Gott gewiß ist, die Stunde sey gekommen, wo für dieses | oder jenes Gut gekämpft werden müsse, da stehe auch jedem vor Augen das Vorbild der Tapferkeit, das uns die Vollendeten gegeben haben! Da kämpfe jeder Hand in Hand mit ihnen; denn ihre Hand ist eine mächtig schützende Hand! So haltet fest im Auge das Ziel, was sie im Auge hatten, so wandelt den gleichen Gang nicht zitternden Fußes, sondern ernsten, sichern Trittes! So entzündet von derselben Liebe und von demselben Glauben, so allein sind wir, können wir würdig seyn, seelig zu preisen, die da vollendet haben! Aber könnten wir wol mit würdigeren Herzen ihnen ein Gelübde, ein Opfer bringen, als mit einem vor Gott wohlgefälligen und vor denen, die eingegangen sind in das Reich, das allen beschieden ist? Wolan! so laßt uns aufstellen, wie einst die Tafeln in den Tempeln, ein Gedächtniß der Gebliebenen in frommen Herzen! Sie sind eingegangen in das verborgene, höhere Leben, das unser aller wartet; sie haben uns zurückgelassen, um zu fördern und zu vollenden das Werk, das sie begonnen und dessen Beginn | ihnen Blut und Leben gekostet hat. Wenn es für uns den vielfältig getheilten Bewohnern der großen Hauptstadt nicht möglich ist, wie für die, der kleinen Ortschaften, die darum wahrlich zu beneiden sind, wenn es für uns nicht möglich ist, namentlich
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zu erwähnen, die das Opfer des Vaterlandes aus der Gemeine geworden sind, wolan! so wissen wir doch, es giebt keinen unter uns, in welchem nicht ein theures, vielbeweintes Andenken lebte und jeder wird wieder hervortreten sehen die Bilder vor das innere Auge des Geistes, jeder wird sich bewegt fühlen vom Schmerz, aber auch von der Liebe! So seyen denn unsre Herzen selbst das schönste Denkmahl der Gefallenen, die Worte, die wir da hierin schreiben mit unvergänglichen Schriftzügen, die seyen das schönste Andenken, das wahrhaft geistigste Grabmahl, das ihnen kann gesetzt werden! Laßt uns froh bekennen, die Wirkung ihres Glaubens und unsers Glaubens in der Liebe, die sey die schönste Unsterblichkeit ihres Namens! Amen.
Am 7. Juli 1816 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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4. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 1,6–10 Nachschrift; SAr 37, Bl. 60r–65v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 43, S. 31–48; Jonas, in: Balan Teil der am 9. Juni 1816 begonnenen Homilienreihe (Nachmittagsgottesdienste) zum Galaterbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
2. Predigt über den Brief Pauli an die Galater. den 7. July 1816. In solchen Zeiten besonders, wo Gott den Menschen auf die eine oder die andre Weise ein Licht des Lebens aufgehen läßt, wo neue Hoffnungen ihnen mitgetheilt, mit diesen aber auch neue Forderungen an sie gemacht werden, da sieht man, wie verschieden die Wahrheit auf die Gemüther wirkt; da sieht man viele, die alles festhalten, an das sie von jeher gewöhnt waren und alle Sinne gleichsam verstopfen gegen das, was sich ihnen Neues aufdringt; andre hingegen sieht man plötzlich hingerissen ganz und gar zu dem Neuen mit aller Kraft, die ihnen Gott gegeben und allem Alten Lebewohl sagen. Zwischen beiden ist aber auch ein unbeständiges Geschlecht, bald hierhin gezogen, bald dorthin und die, wie es ihr Vortheil verlangt hin und herschwanken. Eine solche Zeit war die, als die Lehre Jesu zuerst gegründet wurde unter den Menschen und auch da wurde die Erfahrung gemacht, daß gar viele, welche sich anfangs sehr bereitwillig zeigten, die neue Lehre anzunehmen, sich auch bald bewiesen, als die Unbeständigen und wieder hinübergezogen wurden zu den andern. Dies war auch der Fall bei der Gemeine, an die der Apostel Paulus hier schrieb, was wir hier näher betrachten wollen. Bereitwillig wurde das Evangelium von ihnen aufgenommen. | Aber nicht lange, da wurden viele wankend und ohne den Glauben aufzuheben verloren sie doch die Reinheit desselben. Darauf bezieht sich der ganze Brief des Apostels auf verschiedene Weise. Was wir aber heut zu betrachten haben, führt uns auf das, was ich schon gesagt habe, nemlich wie verschieden sich die Kraft der Wahrheit dem Menschen erweise. Wie das geschieht, davon zu reden wollen wir jetzt Gelegenheit nehmen. Gal. 1. 6–10.
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Alles was wir hier lesen, das bezieht sich auf verschiedene Weise auf die Treue der Menschen gegen die erkannte Wahrheit und laßt uns, was der Apostel sagt näher betrachten.
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I. Zuerst redet er von der Unbeständigkeit: mich wundert, daß ihr euch so bald abwenden lasset von dem, der euch berufen hat in die Gnade Christi auf ein anderes Evangelium. Es verhielt sich nemlich dort so. Der Apostel sagt, daß es, um Gott wohlgefällig zu werden auf nichts weiter ankomme, als daß die Menschen Jesum Christum, dem von Gott gesandten, so anerkennen, daß sie nun auch gern und willig alles thun, was sie können, um das Reich Gottes zu fördern. Und indem er sagt, daß nichts weiter dazu gehöre, so wollte er auch alles | entfernt wissen, was nicht dazu führe, Gott im Geist und in der Wahrheit zu erkennen. Andre waren gekommen neben diesem reinen Gottesdienste auch die Werke des Gesetzes, gegen die er so sehr eiferte, anzupreisen und dies nennt der Apostel ein andres Evangelium. Viele hatten diesem Gehör gegeben, deshalb sagt der Apostel: mich wundert cet. Der Apostel läßt sich hier nicht weiter über die Ursachen aus, aber indem er sich wundert, so müssen wir uns doch Rechenschaft darüber nehmen, und wir finden nur zweierlei, was die Menschen von der erkannten Wahrheit ableitet. 1. wenn wir weniger unserer eigenen Ueberlegung folgen, als demjenigen, woran wir glauben, daß es andre für Recht und wahr halten. So gingen diejenigen zu Werke, die anders lehrten, als die Apostel, indem sie den Christen zu Gemüthe führten, das Christenthum sey ja zuerst bei den Juden entstanden, die Werke des Gesetzes hätten keinesweges ihren Werth verloren und selbst die Apostel lebten darnach, und so dieselben von ihrem Glauben abwendig zu machen suchten. Freilich können wir nicht läugnen, wenn der Mensch seinen Glauben von einem andern erhalten hat, so ist es | dann wol möglich, daß diese Ueberzeugung kann wankend gemacht werden. Hierin läge nun freilich wol, daß man nichts von andern annehmen müsse, was nicht durch seine innere Wahrheit uns zwinge, es anzunehmen und uns fest überzeuge. Hat die Sache so erst Wurzel gefaßt in unserem Herzen, dann freilich kommt es nicht mehr darauf an, wer es gesagt hat und wer es nachher bestreiten mag, denn man hat die Wahrheit fest und unumstößlich in sich. Aber es ist nun so, daß wir alle die Ueberzeugung von andern empfangen haben. Darum kommt es überall, sowol in göttlichen als andern Dingen, darauf an, daß, wo wir reine Ueberzeugung haben wollen, wir die Ueberzeugung sobald als möglich zu unserer eigenen machen, damit der Saame des göttlichen Wortes bald Wurzel schlage in unserm Gemüthe. So lange unser Glaube auf 11–12 Vgl. Joh 4,23–24
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diese Weise noch nicht unser eigenes Werk und Gut geworden ist, so gehört er auch noch nicht uns, sondern denen, die ihn uns eingepflanzt haben und so wie er einem anderen gehört, kann ihn auch ein andrer uns leicht nehmen. 2. Aber es giebt noch eine andre Art und diese bezieht sich auf den Inhalt der Lehre, welche die Apostel gepre|digt haben. Die Lehre der Apostel war nemlich diese: Es komme um Gott wohlgefällig zu werden auf nichts anderes an, als auf den Glauben. Wenn nun der Mensch gleich die Erfahrung macht, daß er so durch die Kraft des Glaubens seelig ist, so könnte wol nicht leicht etwas in der Welt seyn, dessen er noch bedürfe. Aber nun kann es nicht fehlen, daß er manchmal seinem eigenen Glauben und seiner Ueberzeugung zuwider handelt, und daher schleicht es sich so leicht ein, daß der Mensch dann noch etwas anders nöthig hat, um sich die Gnade Gottes zu sichern, als den Glauben und das ist eben die Ursach aller solchen falschen Zusätze der reinen Lehre des Evangelii, die zu allen Zeiten entstanden sind, Eingang gefunden und sich einen Glauben verschafft haben neben dem Glauben an den Erlöser. Woher kommt das? Daher, weil das Herz des Menschen ein trotziges und ein verzagtes ist, weil der Mensch weder die rechte Geduld, noch die rechte Zuversicht auf sich selbst hat und eben deshalb auch auf Gott nicht haben kann. Wenn der Mensch nur immer das reine Bewußtseyn hätte, daß seine richtige Gesinnung | im Wachsen ist und im Zunehmen, dann würde er im Voraus sich der Zukunft erfreuen und dann würde er auch keines Zusatzes zu seinem Glauben, seinem Vertrauen und seiner Hoffnung aus andern Quellen geschöpft, bedürfen. Aber wenn noch ein wirklicher Kampf des Fleisches und des Geistes da ist, wenn sein Herz noch auf der einen Seite eben so sehr an der Welt hängt, als an Gott, dann ist er freilich noch nicht so weit, daß er sich an Gott wenden kann, er ist dann noch keiner, der den Glauben schon hat; er muß ihn erst suchen, er ist noch nicht anzusehen, als einer, der schon bekehrt ist, sondern als einer, der erst bekehrt werden muß. Und das sollte doch jeder fest halten, daß es nichts anderes geben kann in der Welt, was dies ersetzen könnte, wenn es fehlt, oder was an dessen Stelle gesetzt werden könnte! Und wenn diese Unreinheit des menschlichen Herzens nicht wäre, dann würde der Mensch auch nicht so leicht von der erkannten Wahrheit abgeleitet werden, dann würde der rechte Glaube bald der Glaube seines Herzens werden. Aber dann fühlt er, daß er etwas andern bedarf, wenn | er den Glauben nicht als den seinigen fühlt und dann kann er auf Irrwege geleitet werden. Und wenn wir bedenken, welchen Schatz der Erfahrungen von der Seeligkeit, die allein aus dem Glauben hervorgeht, jeder von uns hat, so müssen wir je länger je mehr uns wundern, daß der Mensch sich noch abwenden lasse. Am meisten mußte freilich Paulus sich darüber wundern, in welchem 7–8 Vgl. Röm 3,28; Gal 2,16; Eph 2,8–9
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die Kraft des Glaubens so groß war, daß er, der früher der größte Verfolger des Christenthums gewesen war, nachdem er sich überzeugt hatte, der eifrigste Lehrer und Vertheidiger desselben wurde. Und dies geht
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II. hervor aus den Worten: „So jemand ein andres Evangelium predigt cet.“ Das kann nun wol auf den ersten Augenblick zu viel gesagt scheinen, oder wir können sagen: das konnte wol ein Apostel des Herrn sagen, aber wir doch nicht; wir können ja nicht dafür einstehen, daß unsre Meinung die wahre sey, und man könnte wol sagen, der Apostel hätte doch auf seinen frühern Zustand zurücksehen müssen, der auch damals gewiß, als der | neue Glaube ihn noch nicht ergriffen hatte, sagte: verflucht ist, der anders lehrt. Aber es ist doch in der That nichts anderes und soll nichts anderes seyn. Und er sagt auch nur: wer euch einen andern Weg aufdringen will, Gott wohlgefällig zu werden, als diesen Einen, der sey verflucht. Aber auch das spricht er nur aus gegen diejenigen, die selbst Christen waren, also nicht etwa gegen diejenigen, die noch nicht zu der Ueberzeugung gekommen waren, oder die noch ganz entgegengesetzt dachten, sondern wenn einer das Wesentliche der göttlichen Wahrheit verfälscht, und dem etwas anderes gleich stellen will, der sey verflucht. Wir aber müssen uns demüthigen, wenn wir es redlich meinen; denn wer diese Gesinnung nicht hat, der kann sich keine Ueberzeugung verschaffen. Hat der Mensch eine Ueberzeugung, so muß er auch ein Gefühl haben, was derselben gemäß oder ihr zuwider ist. Kann er aber Gegensätze in sich reimen, dann hat er gar keinen Glauben, dann ist er, wo er etwas zu glauben vorgiebt, von etwas anderem, als von der Wahrheit geleitet | und darauf legt der Apostel den Fluch, darauf müssen wir ihn auch legen jetzt und immerdar und so muß ein jeder denken, ein jeder reden, dem die Wahrheit selbst heilig ist und der ihre Kraft kennt. Was der Mensch glaubt, daß muß er fest halten. Wem das noch fehlt, der ist noch in dem Zustand der Verwirrung. Nun wol! solche muß es auch geben; diese aber sollen dürsten nach der Wahrheit und sich umsehen, wie sie sie finden. Aber wenn sie thun, als seyen sie schon im Besitz der Wahrheit, wenn sie, anstatt in dieser Verwirrung sich andern hinzugeben, sich zu Mustern und Lehrern andrer aufwerfen wollen, ja dann muß die Verwirrung immer größer werden und solchen können wir nicht anders als mit der größten Kraft entgegen arbeiten. Das ist es, was der Apostel thut mit diesen Worten und das ist, was die Liebe zur Wahrheit uns allen auflegt. Ja, nichts ist betrübter, als wenn Menschen, die mit sich selbst noch nicht einig sind, die Meister und Lehrer anderer seyn und diejenigen tadeln wollen, die aus 1–2 Vgl. Apg 9,1–2; Gal 1,13–14
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Ueberzeugung handeln. | So hat es sich damals gezeigt; so zeigt es sich noch, so wird es sich leider! immer noch zeigen, so lange es noch solche Menschen giebt. Endlich laßt uns erwägen, was der Apostel damit sagt: „wenn ich den Menschen noch gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht.“ Der Zusammenhang ist der: diejenigen, welche lehrten, daß man noch das Gesetz fest halten müsse, suchten die Menschen zu überzeugen, Paulus sey selbst übergetreten zu dieser Meinung und abgegangen von dem, was er früher aufgestellt hatte. Darum ereifert sich der Apostel und sagt: wenn er dies thäte, so könnte er es nur thun, um den Menschen gefällig zu seyn; wer aber den Menschen gefällig sey, der sey Christi Knecht nicht. – O dies laßt uns bedenken: wer Menschen gefällig seyn will, d. h. wer Ueberzeugungen annimmt von andren, die seinen Gefühlen zuwider sind, wer so die Fortpflanzung des Guten hindert, wer statt die Fehler andrer zu bestreiten, sie nur zu beschönigen sucht, um sie nicht zu erzürnen, weil es vielleicht solche sind, mit denen er es nicht gern verderben mögte, | weil es vielleicht Mächtige sind, der kann nicht Christi Knecht seyn; denn Christus ist die Wahrheit und nur, wer der Wahrheit dient, der dient ihm. Christus will die Menschen frei machen, also nur der selbst frei ist, kann ihm darin helfen. Wer aber der Menschen Knecht ist, kann nicht Christi Knecht seyn. Das ist leider! auch noch bei vielen der Fall, die des Namens Christi nicht ganz unwürdig sind und unstreitig wird viel Schade dadurch angerichtet. Wir klügeln nur gar zu leicht: was wird es helfen, wenn du jeden zu überzeugen suchst, der andrer Meinung ist, als du? wenn du dich jedesmal darin mischest, so oft jemand andre verführen will? Was du dir gewiß damit anrichtest, das ist eine beständige Reihe von Verdruß und Verwirrung, ohne daß du irgend für den Erfolg oder den Nutzen stehen kannst. Mit den Aposteln war es ein ander Ding, die waren dazu bestimmt, aber deine Verhältnisse sind ganz andre. Das ist freilich wahr, aber in andrer Beziehung, in so fern jemandem ein bestimmter Punct besonders aufgetragen ist in seinem Kreise, in welchem er für die Wahrheit wirken soll. Außer diesem | Kreise ist ja unser gemeinsames Leben nichts, als eine Mittheilung der Gedanken. Die Wahrheit aber ist ein Gemeingut aller Menschen und ihr muß ein jeder dienen. Und darum ladet jeder Verantwortung auf sich, der, um nur dem Streite mit andern auszuweichen, seine Meinung nicht sagt, der ein Knecht der Menschen ist. Wir aber sollen Knechte seyn Christi und der Wahrheit und weder durch Menschenfurcht noch Menschengefälligkeit sollen wir uns dahin bringen lassen, dieser Knechtschaft Christi und der Wahrheit etwas zu vergeben, und in je höherem Maaße der Einfluß der Ueberzeugung auf das Rechte wächst, in desto größerem Maaße liegt uns die Pflicht ob, Christi Knecht zu 17–18 Vgl. z. B. Joh 14,6
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seyn und niemanden zu scheuen. So führt uns der Apostel stufenweise von der Art, wie man sich dem Wankelmuthe zu entziehen habe zum Dienste Christi und der Wahrheit und je mehr wir alle fühlen, welchen Werth das Christenthum für uns alle hat, um so mehr müssen wir auch von dieser Wahrheit durchdrungen seyn; denn wenn es nicht Knechte Christi gegeben hätte und der Wahrheit, entfernt von Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, wie würden die schönen Schätze des Evangeliums auf uns gekommen seyn? Wolan denn! indem wir denjenigen danken, die so der Wahrheit gedient haben, wollen wir uns eben diesem Dienste widmen, in welchem allein wir Christi Knechte seyn können! Amen.
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Am 14. Juli 1816 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
5. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 2,18–22 Nachschrift; SAr 37, Bl. 66r–73r; Jonas Keine Nachschrift; SAr 45, S. 10–16; Jonas, in: Balan Teil der am 16. Juni 1816 begonnenen Predigtreihe (Vormittagsgottesdienste) zu den Streitigkeiten Jesu mit seinen Widersachern (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Den 14. Jul. 1816.
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Wie unser Herr und Erlöser, so sind auch wir in dieser Welt in einem mannigfaltigem Streite. Es war eine große Sache, die er zu führen und zu vertheidigen hatte. Wir, deren Leben in mannigfaltige Thätigkeiten zerspalten ist, wir haben auch einen kleinen Theil davon zu führen und auch uns kommt der Streit auf vielfältige Weise entgegen. Bald stärker, bald weniger trennen sich die Meinungen andrer von den unsrigen und jede Meinung führt auf etwas Entgegengesetztes. Man könnte sagen, so groß die Verschiedenheit menschlicher Meinungen überhaupt ist, so groß ist auch das entgegengesetzte Streben. Wir finden eine Härte in den Meinungen, eine Sehnsucht, den Streit herbeizuführen, die entgegengesetztesten Regeln, was natürlich überall zu tadeln ist. Aber wie vieles zwischen beiden, worüber das Urtheil sich nicht so leicht fällen läßt und wie vieles, wo man sagen könnte: was dem einen Recht ist, ist dem andern billig? Dies ist wahr: Aber auch das ist wahr, daß wir als Nachfolger des Erlösers alle Ein Vorbild haben und daß die Verschiedenheit nur in den Schwachheiten der Einzelnen liegt. | So laßt uns auf den Erlöser sehen, und aus den einfachen Vorschriften schöpfen, die wir dann gewiß je länger je mehr beobachten werden.
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Marc. 2. 18–22. Es ist nicht der Gegenstand, über welchen damals zwischen dem Erlöser und den Schriftgelehrten Streit war, was wir daraus nehmen wollen, sondern nur die Art, wie der Erlöser sich nimmt. Es ist eine zwiefache Antwort, die er gab. Er hätte es können bewenden lassen bei der ersten. Indem er das Zusammenseyn seiner Jünger mit ihm mit einem hohen Feste verglich, führt er sie darauf zurück, daß sie es für ein Verbot hielten, an solchen 19 Marc. 2. 18–22] Marc. 2. 18–23
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Tagen zu fasten und daß er würde einen Anstoß gegeben haben, wenn er gefastet hätte. Sie hätten sich also beruhigen müssen. Der Tadel war von seinen Jüngern hinweggenommen. Aber nun wußten sie noch nicht, was der Erlöser meinte. Nach der zweiten Antwort aber waren sie nicht mehr im Zweifel. Er sagt sehr verständlich, obgleich in Bildern: daß seiner Meinung nach für die neue Gemeinschaft der Menschen, für das neue Reich die äußeren Formen der Zucht gar | nicht passend wären, daß sie den Geist des von ihm ausgehenden Lebens schwächen würden und daß es nothwendig sey, das neue Leben in eine neue Gestalt zu bringen. Nun war ihnen deutlich: er würde seinen Jüngern nie so etwas Aeußerliches vorschreiben. Was wir daraus lernen, ist: wie es ihm ganz nothwendig schien, denjenigen, die andrer Meinung sind über wichtige Gegenstände, als wir, die unsrige nicht zu verhehlen und darüber keinen Zweifel zu lassen, sondern ehrlich zu sagen, wie wir es meinen. Wo wir aber noch keine bestimmte Ueberzeugung haben, da können wir aber diese Befriedigung noch nicht gewähren. Aber wir dürfen es auch nicht auslegen, als ob wir einem jeden Einzelnen offenbaren müßten, was wir thun, gethan haben und thun werden; sondern das war hier nur ein allgemeiner Fall, wo ein Mißbrauch statt fand. Wir sollen auch nicht daraus nehmen, daß wir einem jeden unsre Meinung, ohne daß er uns fragt, aufdringen müßten; denn der Erlöser antwortete nur, als er gefragt wurde. So laßt uns sehen: | 1. auf die Gründe die uns bestimmen sollen, so wie der Erlöser zu handeln und 2. was wol die Menschen gewöhnlich von solcher Handlungsweise abbringt. [1.] Wir pflegen in Fällen ähnlicher Art, wo man uns um unsre Meinung fragt, einen großen Unterschied zu machen, ob diejenigen welche fragen, Belehrung von uns suchen, oder ob sie solche sind, von denen wir gewiß wissen, daß sie ihre Partei schon genommen haben und entgegengesetzter Meinung von uns sind. Obgleich wir nicht wissen, von welcher Art diejenigen sind, die den Erlöser fragen in unserem Texte, so gehören sie doch aller Wahrscheinlichkeit nach zur letzteren Art. Auch diesen Fall angenommen, muß es uns Pflicht seyn, eben so zu handeln, als der Erlöser, wenn wir bedenken, daß das Wort, welches wir solchen sagen, nie ihnen allein gesagt ist, sondern daß es durch sie auch auf andre kommt und gewiß auch auf solche, denen es um Belehrung wirklich zu thun ist oder die gar schon derselben Meinung zugethan sind und nur noch gleichgesinnte Gemüther suchen. Und was ist uns allen denn ein | theureres Gut, als eben die Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen? wornach streben wir mehr, als Werkzeuge zu werden, wodurch die Ueberzeugung sich wieder stärkt in schon wankenden Gemüthern, wodurch vielleicht der schon verglimmende Funke wieder zu einem hellen Feuer angefacht wird? Und das ist ein so köstliches
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Gut, daß wir keine Gelegenheit sollten vorbeigehen lassen, wo wir es uns verschaffen könnten. Wenn wir darauf sehen, was der weitere Erfolg solcher Handlung ist, oder wenn wir bedenken, daß wir dadurch nemlich wenn wir die Gelegenheit vorbeigehen lassen etwas Gutes vernachlässigen, dessen Erfolg wir gar nicht berechnen können, so dürfen wir uns ja nicht verhehlen, daß es etwas Schlechtes ist, unsre Ueberzeugung, wo sie von uns gefordert wird zurückzuhalten, daß wir dadurch den Geist der Wahrheit und der Liebe dämpfen und wenn uns dazu Gelegenheit gegeben wird, dann sollten wir zurückhalten, dann sollten wir in uns verschließen das heilige Feuer? O wahrlich! da müßten wir gestehen, daß wir nicht würdig wären der Ueberzeugung! Je wichtiger uns der Gegenstand ist, je lebendiger die Ueberzeugung ist, um | desto mehr, wenn wir einfältig handeln wollen, werden wir aufgeregt seyn, Rede zu stehen auch denen, die nicht, um von uns zu lernen gefragt haben. Dürfen wir es uns aber anmaßen zu beurtheilen, wie weit auf dem Wege der Verstockung ein menschliches Gemüth gegangen sey, wie weit es sich schon darin befestigt habe, daß es nicht mehr davon werde lassen können? Müssen wir es uns nicht gestehen, jeder Mensch ist ein Gegenstand der göttlichen Fürsorge, ein Gegenstand der Bearbeitung des göttlichen Geistes? Gott wirkt ja auf die unscheinbarste Weise. Gehen wir nur in unser eigenes Leben zurück; wie vielfach bestätigt es sich nicht, daß uns aus einem einzigen Worte der Wahrheit sehr oft etwas deutlich wird, was schon auf tausendfach andre Weise an unser Ohr geschlagen hat, ohne Wurzel zu fassen in unserem Herzen? Gehört das nicht zu der Art und Weise zu seyn des Menschen in dieser Welt? Gehört es nicht auch zu den Wegen der verborgenen Weisheit Gottes, gehört es nicht zu seinen großen Einrichtungen, daß aus dem Größten manchmal nichts und aus dem Kleinsten das Größte hervorgeht? und wie wollten wir es uns nun anmaßen, zu beurtheilen, wie viel oder wie wenig unser Wort vermögen werde? und wie also wollten wir es verantworten, wenn wir unsern Mund verschließen, wo er sich öffnen sollte zur Wahrheit? | Aber was uns immer und in allen Fällen zu einer dem Erlöser ähnlichen Handlungsweise bewegen soll, ist: daß wenn wir anders verfahren, wir immer ungewiß, furchtsam und zweifelnd erscheinen werden. Denn das ist gewiß, sobald jemand, der um seine Meinung gefragt wird über einen wichtigen Gegenstand, eine Gelegenheit sucht, seine Meinung und Ueberzeugung in seinem Innern zu verbergen, von dem werden viele noch immer glauben, entweder er sey seiner Ueberzeugung doch noch nicht so sicher, als er wol scheine, da jeder wol weiß, daß, je sichrer wir in unserer Ueberzeugung sind, desto sichrer wir dieselbe auch aussprechen, oder sie werden glauben, er fürchte das Ansehn derer, die ihn fragen und von denen er nicht gern wolle abweichender Meinung erscheinen; Menschenfurcht und Menschengefälligkeit gehe ihm über die Wahrheit und Menschengunst ziehe er vor der Verkündigung der Wahrheit. Und sollten wir nicht alle die Verpflichtung fühlen, diesen eines Christen ganz
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unwürdigen Schein zu vermeiden? – Aber (werden wir sagen) diejenigen, die da bestimmt sind, | andre zu leiten, die mögen auch dafür alles thun, was in ihren Kräften steht; aber der Einzelne, der sich dazu nicht berufen fühlt, der mehr die Wahrheit selbst aufnimmt, als sie unter andre verbreitet, der kann auch eine solche Verpflichtung nicht haben. Das ist aber nach der Voraussetzung, von der wir ausgegangen sind, nur eine leere Entschuldigung; denn hier ist ja nur die Rede von Gegenständen, von denen wir fest überzeugt sind. Wolan denn! jeder, der eine solche feste Ueberzeugung hat, wie bescheiden er auch seyn und wie niedrig er sich auch im Vergleiche mit andern stellen möge, jeder Einzelne ist ein solcher, der viele leiten kann und soll; denn woran sollen sich die Schwankenden halten, als an diejenigen, die Ueberzeugung haben und sich bereitwillig fühlen, sie zu belehren? Nein! Das wäre für denjenigen, der es fühlt, daß er in der That ein Jünger und Nachfolger Christi ist, das wäre eine falsche Bescheidenheit, wenn er mit der Wahrheit, die er doch auch allein dem verdankt, von dem er alles | hat, zurückhielte, wenn er in dem Wahn stände, damit nicht wirken zu können. Der möge doch ja zusehen, daß er nicht einen Fund in sich vergrabe, wovon er vielleicht zu spät einsehen wird, daß er viel dadurch geschadet hat. So gewiß ein jeder solche hat, die auf ihn sehen und ihm vertrauen, so gewiß ein jeder eine Wahrheit hat, die dem andern fehlt, so gewiß halte sich ein jeder verpflichtet, hierin dem Beispiele seines Herrn und Erlösers zu folgen und nicht anders zu handeln, sondern gern Rede zu stehen von demjenigen, was seine feste und unwandelbare Ueberzeugung ist. Und so starke und einleuchtende Gründe, was mag es wol seyn, daß auch gute und fromme Menschen (denn auch solcher giebt es viele, die nicht so handeln, als der Erlöser) denselben widerstreben? Das laßt uns noch 2. sehen. Ich meine: wenn wir uns selbst fragen, wenn wir auf die Handlungsweise anderer | achten, die, ohne daß wir ihnen das Zeugniß versagen können, daß sie gut handeln, doch anders handeln, als der Erlöser gehandelt hat: wir werden finden, wie wenig fast immer durch das Streiten ausgerichtet werde, wie selten einmal der Fall eintritt, daß man überzeugt und wie oft dagegen betrübende und das Gemüth mit Unwillen erfüllende Folgen entstehen, wie oft die Wahrheit unterdrückt wird, wodurch das Reich des Bösen immer mehr zunimmt und wodurch die von Wahrheit Beseelten nicht selten auf die entgegengesetzte Seite gezogen werden. So sehen wir es gar häufig im Leben und das ist es gewiß, was viele, was uns alle antreibt zu verschließen dasjenige, dessen das Herz voll und übervoll ist. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen den beiden: ein Bekenntniß | abzulegen von seiner Ueberzeugung und einen Streit darüber führen. Das Eine kann geschehen ohne das andre und gewiß kann das
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letzte nicht so zur Regel gemacht werden. Was kann uns zwingen, wenn wir unsre Meinung ehrlich gesagt haben, nun noch mit jemandem einen Streit darüber zu führen? Was aber vom allgemeinen Bekenntnisse so oft zum Streite lockt, das ist, wenn zur Wahrheitsliebe sich noch etwas anderes gesellt, wenn wir glänzen und uns mit der Gewalt der Wahrheit Ruhm und Gunst machen wollen. Aber so arg ist freilich nicht ihr Werk und der verkennt ihre Wege, der so glaubt zum Ziele zu gelangen. Wer streiten will, der muß schon weit mehr Licht haben und Zutrauen zu sich selbst. Aber auch davon kann keiner sich ganz los machen. Es hat ja ein jeder die Pflicht, in einem gemeinschaftlichen Leben, wo eine | gemeinschaftliche Meinung hervorgebracht werden soll, nicht blos seine Meinung zu sagen, sondern er muß auch auf andre wirken und der Wahrheit die Bahn brechen. Und wer ist nicht in solchen Verhältnissen? Sie finden ja sogar in häuslichen Angelegenheiten statt, wo wir auch im Stillen wirken müssen und so ist denn auch dies ein Beruf, den wir üben müssen; denn ohne Uebung hat Gott nichts gegeben. Daher wo wir den Streit wagen, wo wir ihn führen müssen, darin leitet einen jeden sein Gefühl, aber das rein auf die Sache gerichtete. Ein andres, was uns verhindert für die Wahrheit zu kämpfen ist wol dieses, daß wir meinen: die Wahrheit zu verbreiten, auf die Ueberzeugung andrer einzuwirken, das sey in Beziehung auf jeden einzelnen Gegenstand die Sache einzelner Menschen; wo es daher unsre Pflicht sey, da wollten | wir es dann wol thun, obgleich mit geringem Erfolge und schwachen Kräften, wo aber diese Pflicht nicht obwalte, da sey es Vorwitz, sich in Weitläufigkeiten hineinzustürzen. Das ist wahr, wenn es überall auf einzelne Gegenstände ankäme, wahr, wenn die Grenzen des Berufs so abgemessen wären, wenn es solche Lager gäbe, die so bestimmt abgetheilt wären, daß nicht die eine in die andre griffe. Fragen wir uns nur: wie viel Einfluß hat nicht auf die öffentlichen Angelegenheiten, die nach göttlichen und menschlichen Bestimmungen nicht anders als durch Einen oder doch nur wenige geleitet werden können, wie viel Einfluß hat auf diese nicht die öffentliche Meinung, wie werden diejenigen, die zu entscheiden haben nicht dadurch geleitet und bestimmt? Welche Kraft gehört nicht dazu, sich einer Kraft entgegenzustellen, wie die öffentliche Meinung ist? und was | ist die öffentliche Meinung anders, als die Stimme derer, die nicht eigentlich zu handeln und mitzureden haben? Und sollten wir alles dies nicht überall auf das Höhere anwenden? Zu handeln haben wir zwar nicht alle auf einerlei Weise, aber was giebt es, was uns nichts anginge, was gebe es, wo wir nicht eben den Einfluß ausüben sollten und müßten, den die Kraft der Wahrheit ausübt und der der bei weitem größere und herrschendere ist? O auch in dieser Hinsicht laßt nur ja nicht uns selbst zu gering ansehen und den Werth der Worte, die aus unserem Munde gehen durch den heiligen Geist! (Denn niemand vermag etwas, der nicht von diesem geleitet wird.) So laßt uns
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getrost den Weg wandeln, den uns der Erlöser vorangegangen ist! o laßt es uns noch einmal ins Gemüth rufen, wie sehr wir sündigen, wenn wir die Wahrheit in uns unterdrücken! Laßt | uns nicht immer auf den Erfolg sehen! Laßt uns nicht müde werden, wenn wir auch oft tauben Ohren predigen! O wie oft hat der Erlöser tauben Ohren gepredigt und wie Großes ist aus dem Wenigen entstanden, was Wurzel gefaßt hat! Das Große entsteht immer aus dem Geringen. So laßt uns denn nicht das scheinbar Geringe verachten, laßt uns die göttliche Kraft des Wortes nicht zu gering ansetzen! Denn was ist größer, als daß der Mensch von einem widrigen Leben zu einem höheren Geiste hingerissen werde? Darum laßt uns rastlos streben, die feste, reine Ueberzeugung, den kräftigen Glauben andern mitzutheilen; denn aus dem Glauben kommt der Geist, und der Glaube aus dem Worte! Amen.
12–13 Vgl. Röm 10,17
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Dritte Predigt über den Brief Pauli an die Galater. den 21. Juli 1816.
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6. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 1,11–24 Nachschrift; SAr 37, Bl. 74r–79v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 46, S. 1–12; Jonas, in: Balan Teil der am 9. Juni 1816 begonnenen Homilienreihe (Nachmittagsgottesdienste) zum Galaterbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Es ist jetzt fast überall Gewohnheit, daß in unsern christlichen Predigten irgend ein einzelner zum Wesen der christlichen Religion gehöriger Gedanke auf eine zusammenhangende Weise durchgeführt wird. Es muß auch wol so gut seyn, weil es sich seit langer Zeit so gestaltet hat. Aber bei unserer Absicht, nemlich ein ganzes Buch durchzugehen, kann das nicht immer statt finden, nicht als ob nicht überall Zusammenhang wäre in der heiligen Schrift, sondern weil wir mehr auf das Einzelne zu sehen haben. Wir müssen uns also damit trösten, daß es auch nicht immer so gewesen ist, als jetzt, viel mehr, daß dies die älteste Weise der christlichen Kirchenlehrer gewesen ist. Es wird nun auch in der heutigen Betrachtung der Fall seyn, daß wir uns bei unserer Stelle nicht an den eigentlichen fortlaufenden Faden der Gedanken halten werden, sondern nur an das Einzelne, was wir der Erwägung würdig finden. | Wir bitten daher zu dieser Betrachtung, wie immer, Gott durch das Gebet des Herrn.
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Galater I. v. 11 bis zum Ende des Capitels. Was der Apostel hier und in den ersten Versen des folgenden Capitels beabsichtigt, ist: durch eine Erzählung seiner Begebenheiten deutlich zu machen, daß er die christliche Lehre nicht etwa von den frühern Aposteln des Herrn bekommen habe, sondern daß sie ihm auf einem unmittelbaren Wege zugekommen, und daß er erst später den andern Aposteln bekannt 18 zum] zu
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geworden sey. Aber in dieser Erzählung ist mancherlei, was wir, wie es auf einander folgt, betrachten wollen.
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Das 1. was wir daraus nehmen wollen ist der Anfang: ich thue euch aber kund, liebe Brüder, daß das Evangelium, was von mir gepredigt ist, nicht menschlich ist; denn ich habe es von keinem Menschen empfangen, noch gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi. Es giebt einen gewissen Sinn, in dem jeder, der die christliche Lehre verkündigt, jetzt | wie damals, dasselbe sagen kann. Ein jeder muß sich im Innern seines Gemüthes bewußt seyn, daß er die Lehre nicht von Menschen, sondern von Gott habe. Der Glaube kommt zwar durch die Predigt, aber nur in so fern sie ein Mittel ist, ihn zu erwecken; es muß also noch etwas Höheres hinzukommen, was im Innern des Menschen wirkt. Aber es giebt einen andern Sinn, wie der Apostel das wol gemeint haben kann, wenn er sagt: ich habe das Evangelium von keinem Menschen empfangen, sondern durch die Offenbarung Christi. Nemlich er zielt hiemit offenbar auf die Begebenheit, die uns allen aus der Apostelgeschichte bekannt ist, wie freilich ohne Zuthun eines Menschen der Apostel überzeugt wurde. Er selbst erklärt das immer für eine Offenbarung Christi selbst, aber es war nur ein kurzer Augenblick, in welchem ihm der Zusammenhang der christlichen Lehre unmöglich ganz auseinandergesetzt seyn kann. Da ihm jedoch der Keim und die Grundlage | derselben dadurch entstanden ist, so schrieb er das Ganze der Offenbarung Christi zu. Darin liegt: alles was er gelehrt habe, sey nur die reine natürliche Entwicklung desjenigen, was sich damals in seinem Gemüthe gestaltete. Aber wir werden uns wundern, wie er das sagen konnte; denn wenn wir uns selbst betrachten, werden wir das nicht von uns sagen können, weil in alles sich nur zu leicht das Menschliche mischt. Aber der Apostel sagt dieses von sich und gewiß mit derselben Gewißheit, mit der er nachher hinzufügt: „was ich euch aber schreibe, siehe, Gott weiß, ich lüge nicht.“ Es ist also seine volle Ueberzeugung gewesen und der müssen wir bei einem solchen Manne doch trauen. Seht da, meine Freunde, dazu gehört eine Reinheit des Herzens, die keiner von uns in dem Grade hat, auch keiner der frühern Kirchenlehrer haben mogte und sollte. Aber Eines sollen wir doch alle lernen vom Apostel, nemlich: wenn | wir auch nicht sagen können, es sey nichts von unserem eigenen hinzugekommen, alles was sich im Herzen an die göttliche Offenbarung anschließe, sey nicht menschlich, sondern göttlich: so sollte doch ein jeder sagen können: das Evangelium, was ich predige ist nicht menschlich, sondern göttlich; alles was wir andern mittheilen in der Absicht, sie mehr zur Einsicht dessen zu führen, was vor Gott wohlgefällig und mißfällig ist, alles was wir zu diesem Ende andern mittheilen, das ist nicht menschlich, 10 Vgl. Röm 10,17
16–18 Vgl. Apg 9,1–19
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sondern göttlich. Und wenn wir das wollen, und dies sollen nicht bloß diejenigen, von denen es schon ihr Beruf fordert, sondern alle, und wenn wir das wollen, so sollen wir es mit derselben Gewißheit sagen können, als der Apostel. Nun noch eine Bemerkung hieraus. Was der Apostel immer einzuschärfen sucht, was in seinen Büchern am deutlichsten hervor|leuchtet, ist die Lehre: daß der Mensch nur allein durch den wahren Glauben vor Gott gerecht wird und nur durch die Kraft dieses Glaubens, welcher Christum als den Stifter des göttlichen Reichs annimmt, alles vollbringen muß, ohne Rücksicht auf die äußeren, wenn auch nicht zu tadelnden Einrichtungen, auf das Gesetz. Aber wie damals schon manche dagegen waren, so hat es auch noch jetzt viele gegeben, welche gemeint haben: Dies sey eben dasjenige, was Paulus erfunden und aus sich selbst hinzugesetzt, und was Christus nicht gelehrt habe. Wie kann dies wol bestehen bei der Art, wie der Apostel hier betheuert, er habe das Evangelium von Christo selbst? Ja, wenn wir bedenken, wie viel Mühe er sich giebt, dies zu zeigen, daß er das Evangelium nicht von Menschen, sondern von dem Erlöser selbst habe und wie leicht es den Menschen gewesen wäre, sich von ihm loszureißen und von seiner Lehre, wenn sie an der Göttlichkeit | seines Evangelii hätten zweifeln können, so wollen wir uns denn auch nicht irre machen lassen und daran festhalten, daß dies nicht nur der Apostel Paulus, sondern aller Apostel Meinung gewesen und daß gerade dieses die Grundlage des ganzen Christenthums sey und alles dessen, was daraus Großes und Schönes hervorgeht. Das zweite, was uns merkwürdig seyn kann ist die Art, wie der Apostel redet von seinen früheren Verhältnissen: ihr habt ja wol gehört meinen Wandel weiland im Judenthum, wie ich über die Maaßen die Gemeine Gottes verfolgte und verstörete sie und nahm zu im Judenthum über viele meines Gleichen in meinem Geschlecht und eiferte über die Maaßen um das väterliche Gesetz. Es muß uns auffallen, wie hier der Apostel mit einer großen Gleichgültigkeit redet von demjenigen, dessen Erinnerung ihn hätte mit Schmerz und Demuth erfüllen sollen. Davon fin|den wir aber hier keine Spur. Woher kommt das? Es ist offenbar hier das gute Gewissen der Ueberzeugung; er konnte sich damals nichts anderes nachsagen, als daß es nur die feste innere Ueberzeugung gewesen, der er gefolgt war. Und wir können wol nicht anders, als sagen, daß ein großer Unterschied ist zwischen demjenigen, der von dem, was er that, nun das Gegentheil thut und herzlich wünscht es nicht gethan zu haben und demjenigen, der aus voller Ueberzeugung gehandelt hat, in welchem Fall er nie so unzufrieden mit sich seyn kann, als 7–8 Vgl. Röm 3,28; Gal 2,16
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derjenige, welcher verkehrte Leidenschaften oder fremde Meinungen und Ueberzeugungen hatte; denn reiner kann der Mensch nicht seyn, als wenn er an demjenigen festhält, was seine innerste Ueberzeugung ist. Ist diese von Anfang an irrig, nun so ist es ein Werk der göttlichen Gnade, daß er erleuchtet werde und zur bessern Einsicht gelange. Wir können weiter nichts dabei thun, denn | wie können wir uns ändern, wenn kein widersprechendes Gefühl in uns ist? Das einzige, was wir thun können ist dieses: daß wir, wenn wir eine Ueberzeugung anderer in uns sehen[,] die gut und redlich sind, wir alsdann prüfen und uns ihnen hingeben, die solche Gewalt über uns haben; dann werden wir den Irthum erkennen durch die Gnade Gottes. Aber mehr als dieses kann der Christ nicht, und wenn der Apostel sagt, daß alles dieses bei ihm der Fall gewesen ist, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn er nicht unruhig ist. Eins kann uns nur auffallen, wenn er ruhig erzählt, daß er ein Verfolger des Christenthums gewesen ist und die Gemeine verstöret hat. Ist das auch Recht? kann das jemandes Zweck seyn? Nur wir werden nicht wollen, daß diejenigen gebilligt werden, die andre wegen abweichender Meinungen verfolgen. Aber damals war die Lage eine andere. Im Judenthum waren die bürgerlichen Verhältnisse von den religieusen nicht getrennt. Die bürgerlichen und religieusen Gesetze hatten einerlei Gestalt und waren vermischt[.] | Diejenigen, welche über das Göttliche gesetzt waren, hatten auch ein obrigkeitliches Ansehn, und auch in den letzten Zeiten, wenn sie es nicht mehr geltend machen konnten, wenigstens doch noch ein äußerliches. Daher konnten sie Gesetze geben und Strafen verhängen und indem also der Apostel für das Judenthum eiferte, eiferte er auch für die Verfassung, daß diejenigen, welche das Recht dazu hatten, Strafen auflegten. Gott sey gedankt, daß es nicht mehr so ist. Denn wir wissen es, daß wenn der Wahrheit solche gewaltsame Mittel in die Hände gegeben werden; sie nie gewinnen, sondern nur verlieren kann und daß sie nur durch die Liebe auf die Menschen wirken kann. So konnte also auch in dieser Rücksicht der Apostel eine Ruhe haben, die kein andrer haben kann. Das dritte, was wir zu bemerken haben, ist die Art, wie der Apostel v. 15.16. von seiner Bekehrung redet. Wir sehen hier, der Apostel stellt das dar als einen ewigen Rathschluß Gottes, daß er ihn ausersehen habe von Anfang an zu einem solchen Werkzeuge, als er geworden ist und daß also ein solcher Augenblick hatte kommen müssen, der ihn von einem Gegner und Verfolger zum eifrigsten | Bekenner und Verbreiter der christlichen Lehre umstaltete. Wenn wir nun aber einen solchen Augenblick nicht kennen, wenn sich in uns auf eine unmerkliche und allmähliche Art das ganze Christenthum gestaltete, haben wir deßwegen weniger Recht, es eben so als einen Rathschluß der göttlichen Gnade anzusehen, daß wir des Erlösers
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theilhaftig geworden sind? Gewiß nicht. – Wir müssen einen Unterschied machen zwischen den damaligen Zeiten und den heutigen. Nemlich wenn wir auf die Zahl der damaligen Christen sehen und auf die jetzige, so muß es ja jedem einleuchten, daß es sich beinahe eben so verhält, als sich der einzelne Mensch zu ganzen Völkern verhält, und so können wir also auch das Verhältniß zwischen uns und dem Apostel aufstellen. Vielleicht könnte jemand sagen: es liege etwas Anmaßendes darin, daß man sich mit einem so großen Apostel vergleiche und unsre Thaten mit den seinigen. Aber jeder einzelne Mensch hat ja Anspruch auf die Gnade Gottes, jeder Einzelne ist bei Gott ein Theil des Ganzen und so wie der Apostel alles was ihm begegnete der göttlichen Gnade zuschreibt, so können auch wir dasselbe. Wir stehen also alle gleich in Hinsicht des göttlichen Rathschlußes und können uns also auch dem Apostel gleich stellen. Und wenn wir auf das Verhältniß sehen, so bedarf es ja nicht mehr einer so wunderbaren Thätigkeit Gottes | daß einem Einzelnen das Licht des Evangelii besonders aufgehe; es strömt ja von allen Seiten ganz von selbst auf ihn ein und dies ist wahrlich eben so göttlicher Rathschluß und göttliche Gnade. Wenn wir aber fragen, wie dieser Zustand entstanden sey, daß jeder auf eine anscheinend so natürliche Weise zu der Kraft des Glaubens gelangt, so müssen wir freilich in frühere Zeiten hineingehen, in welchen der göttliche Geist eben so in ganze Völker gegangen ist, wie noch früher in die Einzelnen und darin gründet sich ja unser aller Bekehrung, darin ist ja eben so deutlich die göttliche Gnade und Vorherbestimmung. Wolan! so wollen wir alle vertrauen, weil wir alle auf demselben Wege zur Erkenntniß gekommen sind, als der Apostel; wenn wir auch erst in andre Zeiten zurücksteigen müssen, so wollen wir doch glauben, daß wir Gott eben so werth sind. Aber wir wollen auch mit gleicher Gewissenhaftigkeit und Treue für die Wahrheit kämpfen, das Gute festhalten und immer vollkommener gestalten, was sich durch die göttliche Kraft seit langen Jahrhunderten immer vollkommener gestaltet hat. Und darum leuchte uns allen das Beispiel der ersten Jünger des Herrn vor. Ja mögen wir alle mit derselben Treue dem anhangen, was die Quelle alles Glaubens ist, mögen wir alle dem anhangen, der unser Herr und Meister ist und es allein zu seyn verdient! Amen.
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7. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 3,1–7 Nachschrift; SAr 37, Bl. 84r–91v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 42, S. 10–13; Jonas, in: Balan Teil der am 16. Juni 1816 begonnenen Predigtreihe (Vormittagsgottesdienste) zu den Streitigkeiten Jesu mit seinen Widersachern (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Den 28. July 1816.
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Wir alle halten gewiß ein ruhiges Gemüth für eine vorzüglich große Gabe Gottes oder der Natur. Jeder, der zu heftigen Bewegungen geneigt ist, wenn er eines Ruhigen, sich selbst unter den verschiedensten Verhältnissen des menschlichen Lebens immer Gleichen gewahr wird, fühlt sich von Achtung und Ehrfurcht durchdrungen; jeder, welcher glaubt, es sey ihm von der Natur aufgegeben, heftigeren Bewegungen folgen zu müssen, ist in Versuchung denjenigen zu beneiden, dem das Gegentheil geworden ist. Aber auf der andern Seite, wenn wir einen Menschen sehen, von dem wir glauben, er sey durch nichts aus der unerschütterlichen Ruhe seines Gemüthes herauszubringen, den das Große nicht bewegt und nicht das Kleine, so sehen wir in ihm nicht mehr diese große und herrliche Gabe, sondern eine mangelhafte Natur oder ein abgestumpftes Gemüth. Und das wird unser aller Ueberzeugung seyn, wie die Gestalt der Welt ist, in die uns Gott gesetzt hat, so ist uns unerschütterliche Ruhe nicht beschieden, denn wir sind ja nicht solche, denen nicht | fehlte, was Noth thut, sondern wir sind ja solche, die immer begehren müssen und streben, denen dann immer Eifer und Sehnsucht brennen im Gemüthe, welches alles der ungestörten Ruhe nicht ähnlich ist. Und eben so, weil wir das Gute in uns und außer uns nicht schaffen können, weil wir das Reich Gottes nicht fördern können, außer denn im Kampfe, o so müssen wir auch mehr oder minder gegen die Feinde des Guten bewegt werden, so muß die Liebe oft die Gestalt annehmen des Mißmuthes und des Unwillens. Aber dann wird es darauf ankommen, daß auch hierin sich der göttliche Geist auszeichnet, der in uns wohnet, darauf 24 Vgl. Röm 8,9.11; 1Kor 3,16
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wird es dann ankommen, daß uns nichts anderes bewegt, als die Liebe zu Gott und zum Guten und kein andrer Haß, als der Haß gegen das Böse. Wolan! auch hierin auf wen könnten wir sehen, als auf den, der in allem versucht ist, nur nicht in der Sünde und der uns in allem vorangegangen ist, als auf den Erlöser?! So laßt uns also sehen, wie sich in ihm solche Bewegungen des Gemüthes gestalteten. | 85r
Marcus III. 1–7. Es muß uns merkwürdig seyn, daß hier der Evangelist von dem Erlöser erzählt, er habe sie umher angesehen mit Zorn und sey betrübt und ergrimmt gewesen über ihrem verstockten Herzen. Laßt uns, damit wir auch hierin dem Erlöser folgen, laßt uns sehen 1. worüber er ergrimmt war und 2. mit was für einem Betragen diese Bewegung seines Gemüthes endigte.
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[1.] Der Evangelist fängt damit an: daß, als sich in der Versammlung vor Gott auch der Mann mit der verdorreten Hand eingefunden hatte, die Pharisäer auf Jesum gehalten hätten, ob er auch am Sabbath heilen würde, auf daß sie eine Sache zu ihm hätten, wodurch sie ihre persönliche Abneigung zu erkennen geben. Sollen wir aber glauben, er habe nur darüber gezürnt? Sollen wir glauben, er würde nicht eben so gezürnt haben, wenn es einem andern begegnet wäre? Wahrlich! alles was seine Persönlichkeit betraf, hielt er nie für werth, | daß er darüber zürnte, er suchte niemals sich, sondern nur das Werk seines Vaters im Himmel. Und so wird auch das das erste seyn, was wir uns fragen müssen bei der Erregung unsers Unwillens: ist es auch wol nur Erregung des Persönlichen oder Eigenthümlichen? o dann beschwichtige sich doch diese und werde zum Schweigen gebracht durch das Vorbild des Erlösers, durch das Hinsehen auf ihn, dessen Kreuz wir geduldig und langmüthig tragen müssen, ohne welches wir seine Jünger nicht sind. Wolan denn! dies bei Seite gesetzt, was war es denn, was die heilige Seele des Erlösers mit Zorn erfüllte? Ein Unglücklicher war da, eines wesentlichen Gliedes seines Körpers beraubt; auch Er war da, der sich schon oft bewiesen hatte, als den, der da helfen konnte und wollte. Was hätte da in jedem menschlichen Gemüthe anders seyn müssen, als innige Freude, daß durch eine himmlische Fügung dieser Unglückliche, der gewiß schon alle gewöhnlichen Mittel zu seiner Heilung gebraucht hatte, gerade den traf | der ihm allein helfen konnte. Statt dessen waren die anwesenden Feinde des Erlösers gänzlich verstockt in ihrem Herzen gegen das Mitgefühl des menschlichen Leidens, und auch gegen denjenigen, den sie hätten preisen sollen, weil er solche Macht den 27–29 Vgl. Mt 10,38; Lk 14,27
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Menschen gegeben hat, und dieses ganze Ereigniß, wodurch einer ihrer Mitbrüder befreit werden konnte vom drückenden Leiden, dieses wurde in ihnen nichts anderes, als eine Gelegenheit, eine Sache zu haben an demjenigen, welchen sie verfolgten. Deshalb sah er sie an mit Zorn und war betrübt über ihrem verstockten Herzen. Ueberall und zu allen Zeiten in der Welt, wo wie damals, (nicht so im Großen, aber doch im Einzelnen und Kleinen) Altes seinem Untergange entgegengeht und Neues und Herrliches sich bilden soll, überall werden wir da Aehnlichkeit leider! genug finden. Denn das war es eigentlich, was die Gemüther so vieler Menschen mit Abneigung und Feindschaft gegen den Erlöser erfüllte. | Sie standen, das fühlten sie wol, an den Grenzen zweier verschiedener Zeitalter, aber sie stemmten sich gegen das Neue mit aller Gewalt und suchten das Alte zu erhalten, so viel es ihnen möglich war. Das freilich ist ganz in der menschlichen Ordnung und darüber kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden; denn nicht alle können sich gleich loßreißen von den Fesseln der Gewohnheit, sey es auch Vorurtheil oder die von den Vätern überlieferte Denk- und Lebensweise. Allein wenn nun dieser Streit dahin geht, daß die Menschen in der Verblendung ihres Herzens ganz unfähig werden, die Zeichen der Zeit zu verstehen, (wie auch der Erlöser seinen Zeitgenossen dies oft vorwirft, daß sie dieselben durchaus nicht verstehen wollten, obgleich sie für andre Sachen Verstand genug hätten) wenn die Vorliebe für das Alte vorzüglich in denjenigen sich äußert, die in demselben die Quelle suchen, die ihnen Macht und Einfluß aller Art sichert, welche sie in Gefahr sind zu verlieren, wenn das Neue herein|bräche, o dann trägt das alte Verderben den Sieg davon über das neue Gute, dann unterliegt das Bessere dem Schlechteren und darüber mag denn und soll jedes gottgeweihte Herz mit Unwillen erfüllt werden und mit heiligem Zorn. Ja wo uns das entgegenkommt, ohne Ansehn der Person, o da mögen wir uns selbst fürchten, ob es nicht Gleichgültigkeit sey gegen dasjenige wovon unser Herz brennen soll, da mögen wir uns nur überlassen, wie der Erlöser, dem Unwillen, der das Zeichen Gottes in uns ist! o da mögen auch wir betrübt seyn über den verstockten Herzen der Menschen, und weil sie sich selbst verstockt haben, sie auch fühlen lassen den gerechten Zorn! So laßt uns sehen, 2. in welches Betragen diese Gemüthsbewegung des Erlösers sich endigte. Zuerst werden wir nicht übersehen, indem er sie ansah mit Zorn, eben weil er in seinem Innern wirklich ergrimmt war, so war das nichts anderes | als jene heilige Wahrheitsleibe, die das, was das Gemüth in Bewegung setzt, nicht unterdrückt, wenn es auch möglich wäre; aber es war dies auch nur 11 verschiedener] verschiedenen
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der natürliche Ausdruck dieser Bewegung und wir finden keine Spur von Härte in der Behandlungsweise des Erlösers. Dadurch zuerst unterscheidet sich der heilige Unwille von dem selbstsüchtigen, gewöhnlichen Zorn der Menschen, der niemals zu unterscheiden weiß, was Recht ist vor Gott und eben dadurch zu leicht das Unrechte sucht. So wenig wir in unserm Innern, was darin vorgeht, verbergen sollen und verhindern, daß es sich äußere, so soll auch unsere That und unser Wort nur geleitet werden durch den reinen und ruhigen Sinn, den wir Gott schuldig sind. Wir sehen aber zweitens: wie, unerachtet der Erlöser wol merkte, daß sie auf ihn hielten und eine Sache zu ihm suchten, er doch auch nicht im mindesten nachgab, auch nicht im mindesten änderte, sondern sich ihnen nur desto kühner entgegenstellte. | Wenn wir bedenken: viele Jahre lang hatte der Unglückliche schon so gelitten, die lange Gewohnheit hatte gewiß seine Schmerzen schon sehr gemildert, was wäre denn darauf angekommen, wenn er ihrem Vorurtheile nachgegeben, und dem Kranken gesagt hätte, er solle an einem andern Tage kommen, als am Sabbath, wenn es Zeit dazu wäre? Der Unglückliche selbst würde gewiß mit Freuden gegangen seyn, wenn er nur die Versicherung hatte, daß er morgen geheilt werden sollte. Und so hätte ja der Erlöser mit leichter Mühe zu Schanden machen können, was seine Gegner gegen ihn schmiedeten und sie hätten nichts gegen ihn aufbringen können. Aber nicht so that Er, also sollen auch wir nicht so thun, wenn wir in einen ähnlichen Fall kommen. Das ist eine leichte Rede, überall wo es darauf ankommt, das Unglück der Menschen zu lindern | oder sie frei zu machen aus unwürdigen Fesseln zu einem höhern Leben, das ist eine leichte Rede: sind sie schon so lange in diesem Zustande gewesen, sind die Fesseln so lange getragen worden, warum soll man mit Gewalt auftreten gegen diejenigen, welche es noch nicht wollen, warum soll man sie sich zu Feinden machen und sich wol gar in Gefahr begeben? ja das ist eine leichte Rede und unter allen Umständen eine feigherzige Rede, es ist eine Denkart, die der menschlichen Trägheit immer neuen Vorschub giebt, die den Bösen immer die Oberhand sichert über diejenigen, die zwar das Gute wollen, aber nicht Kraft genug haben, dafür zu kämpfen. Wie dem Erlöser in einer dem Anscheine nach so geringfügigen Sache auch nur der Aufschub einer Stunde, um einem Nachtheile dadurch zu entgehen, etwas Unwürdiges geschienen hätte, so sollen auch wir in ähnlichen Fällen und noch viel mehr | bei größeren Angelegenheiten dasselbe thun und auch das soll uns noch dazu antreiben, daß auch der Erlöser in den größten Dingen so handelte. Er hätte ja seinen Tod noch lange hinaus schieben noch lange wirken können, er hätte ja auch einmal nicht hingehen können in die Stadt zum heiligen Feste; aber weil er wußte, daß man ihn dort erwartete und man gewohnt war ihn zu solchen Zeiten im Tempel lehren zu sehen und Wohlthaten um sich her verbreiten, so ging er hin, wiewol er wußte, daß er seinem Tode entgegenging. Wolan! so muß es eben dieses seyn, was uns
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gegen die Gegner des Guten begeistert, ihnen auch nicht einen Augenblick nachzugeben, ihnen auf keine Weise zu Gefallen zu handeln, um etwa nicht ihre Feindschaft auf uns zu laden! Aber indem nun der Erlöser nicht auslassen wollte, das Gute zu thun, was ihm sein Vater in den Weg legte, wie handelte er gegen seine Feinde? | Wir können es nicht läugnen, mit solcher Ruhe, daß der heilige Unwille ihn keinen Augenblick unfähig machte, sein Verhältniß zu ihnen deutlich zu durchschauen. Er nöthigte sie, daß sie es nicht wagen durften, die Grundsätze öffentlich zu bekennen, wodurch sie ihn stürzen wollten. Sie suchten eine Sache zu ihm und brachten ihm am Sabbath einen Kranken, daß er ihn heilen sollte, damit sie nachher sagen könnten, er habe gegen das Gesetz gehandelt, und wenn er dies auch nicht gewerbsmäßig sondern aus reiner Menschenliebe gethan habe, so sey es doch geschehen, um die Menschen für sich zu gewinnen und das dürfe man am Sabbath nicht. Das war es, was sie suchten und weil er nun auch das gute Werk vor ihnen verrichten wollte, stellte er sie auch öffentlich zur Rede und wollte sie nöthigen, ihre Grundsätze auszusprechen, sie fragend: soll man am Sabbath Gutes thun, oder Böses? Das Leben erhalten, oder tödten? Denn da hatte er Recht, daß, wer etwas Gutes thun kann | und thut es nicht, der thut das Böse selbst, und indem er nun die Frage so stellte, so ergriffen sie das, was Boshafte und Feige immer zu thun pflegen, sie schwiegen still, sie, die sich doch herausnahmen, Richter zu seyn über Recht und Unrecht im Volke Israel, sie schwiegen still bei dieser klaren und deutlichen Frage. Das ist das Vorbild, das ist der Weg den wir einschlagen müssen, das ist es, was wir auch dem Erlöser nachmachen sollen, wenn wir mit den Freunden des Bösen zusammenkommen, so sollen wir unsre Fragen stellen, daß sie schweigen und sich schämen. Aber freilich, eine jede Frage über neue Verbesserungen so zu stellen, daß sich die Feinde derselben schämen und schweigen müssen, dazu gehört, daß wir alles mit so reinem Herzen angreifen, als der Erlöser es that und wenn wir das thun, so wird sich uns von selbst darbieten dasjenige, womit wir die Feinde des Guten beschämen sollen. Ist aber nicht die | reine Liebe des Guten in uns, ist neben derselben auch Eigennutz und Persönlichkeit, dann wird es uns schwer werden, so zu fragen, als der Erlöser; denn nur ein reines Gemüth löst alles auf, macht alles klar; dies wohnt nicht im Verstande, sondern ist das alles erleuchtende Licht. Wolan! sind wir unserer Sache so gewiß, steht alles so klar vor uns, als unser Herz rein ist vor Gott, dann laßt uns auch mit derselben Festigkeit dem Bösen entgegentreten, dann ist es unsre Pflicht, uns der Uebermacht zu bedienen gegen diejenigen, die uns im Trüben zu gewinnen suchen, dann laßt uns sie beschämen, denn das ist Recht vor Gott. Dann sichern wir uns eine lange Zeit hindurch eine freie Bahn unsers Lebens und räumen manche Hindernisse glücklich hinweg. O wäre es so mit allen denjenigen, die sich selbst der guten Sache hingegeben haben, wären sie alle so rein vor Gott, wie der
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Erlöser, wahrlich sehr schwach würden bald | alle menschlichen Künste, alle vermeinte Weisheit der Kinder der Finsterniß dastehen. Aber was können wir anders, als ihnen zurufen: daß sie doch immer mehr hinabsteigen mögten in die Tiefen ihres Herzens, damit sie eben so, wie der Erlöser, keinen andern Willen in sich tragen, als den ihres himmlischen Vaters, eben so Gott dienen mit allen ihren Kräften; dann werden auch alle gottwohlgefällige Werke vollbringen und keiner wird zweifelhaft seyn des Sieges. Bleiben wir aber darin, daß wir in uns selbst immer mehr eingehen, o dann werden wir ihm auch darin gleich werden daß, als die Pharisäer sofort hinausgingen und einen Rath hielten, wie sie ihn umbrächten (und wir können voraussetzen, daß er es wußte) daß wir, gleich ihm, durch solche Besorgnisse nicht gehemmt und gehindert werden in der treuen Erfüllung unserer Pflicht. Suchen wir nicht uns selbst, sehen wir uns wirklich nur als Werkzeuge Gottes an, o so werden wir auch gern zerbrechen wollen in seinem Dienst, des festen Glaubens, | daß wenn Ein Werkzeug zerbrochen ist, schon wieder andre da sind im Vorrathe des Herrn. Dann wird uns nicht bange seyn, dann fühlen wir uns im Schutze der seeligen Vaterliebe Gottes, die uns hier wie dort und dort wie hier antreiben muß, nichts zu suchen, als seinen Willen und sein Reich. Ja wer durch alle die verschiedenen Zustände des menschlichen Lebens, im ruhigen sowol, als in den Stürmen der Zeit, wer so immer den Einen vor Augen hat und im Herzen, der uns allen vorleuchtet, der uns überall zeigt, was Recht und wohlgefällig ist vor Gott, der wird auch in den unruhigsten Zeiten, wo so manches Gewissen sich verwirrt, den Seegen des Evangeliums empfangen, der wird sich immer klar bleiben, den wird selbst der heilige Unwille und der Zorn nicht ablenken von dem Willen des Herrn, der wird immer den Namen seines Jüngers verdienen. Das gebe Er denn auch in dieser Zeit uns allen! Amen.
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8. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 2,1–10 Nachschrift; SAr 37, Bl. 80r–83v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 45, S. 6–10; Jonas, in: Balan Teil der am 9. Juni 1816 begonnenen Homilienreihe (Nachmittagsgottesdienste) zum Galaterbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Den 4. August.
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Zu allen Zeiten, seitdem der Glaube Christi steht, hat es eine große Verschiedenheit der Meinungen gegeben. Wenn zu gewissen Zeiten die sich fremd gewesenen Gemüther sich wieder vereinigen, so zeigt sich eine Verschiedenheit in demjenigen, worin man vorher gleich dachte. Und diese Streitigkeiten gehen durch die ganze christliche Kirchengeschichte. Es ist auch wol von je her der Wunsch gewesen, daß es anders werden mögte, weil die Verschiedenheit im Glauben viele verwirre und so in Verlegenheit bringe, daß sie gar nicht glauben, indem sie denn sagen: es kann doch nur eine Wahrheit über denselben Gegenstand seyn und diese muß allen einleuchten. So ist es aber doch wol nicht ganz, sondern wie Gott den Menschen überall Verschiedenheiten angeeignet hat, so auch in den Meinungen und wenn diese Verschiedenheiten nun allgemeine sind, wie sollten sie nicht auch in Glaubenssachen seyn? Es ist daher sehr beruhigend, wenn wir wissen, so ist es schon von jeher gewesen, so ist es schon bei denen gewesen, welche das Wort aus dem Munde des Erlösers gehört haben. Und indem wir uns so trösten, werden wir uns die ersten Verkündiger und Anhänger der christlichen Lehre zum Muster nehmen und von ihnen lernen, wie wir uns zu betragen haben. Darauf bezieht sich die heutige Stelle aus dem Brief Pauli an die Galater. | Galat. II. 1–10.
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Es ist einleuchtend, daß hier ebenfalls die Rede ist von Verschiedenheit der Meinungen in Sachen des Evangeliums. Indem wir also darauf aus den verlesenen Worten genauer merken, werden wir auch das Rechte daraus für uns nehmen.
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Das erste, was sich in unserm Texte ausspricht, ist dieses; daß Paulus und die andern sich nicht scheuten, darüber, worin sie glaubten verschiedener Meinung zu seyn, sich mit einander zu besprechen und Paulus sagt, daß er gerade deswegen aus fernem Lande nach Jerusalem gereist sey. Laßt uns nun sehen, wie sich in den Worten des Apostels von v. 1. 2. 3. zuerst der Geist der christlichen Gemeinschaft ausspricht. Was meint er also, in welchem Falle seine Bemühungen wirklich vergebens gewesen wären? In dem Falle, wenn er mit seiner Lehre von der Gemeinschaft mit den übrigen Christen sollte getrennt seyn, was allerdings hätte statt finden müssen, wenn verschiedene Meinungen über wichtige Dinge in den Glaubenssachen gewesen wären. Also auch er wollte es nicht wagen, für sich allein eine christliche Gemeinschaft zu stiften, sondern erst nach Berathschlagung mit den andern, und wenn nun der Apostel sich nicht für weise genug hielt, etwas Wichtiges, ohne sich mit andern darüber besprochen zu haben zu thun, so sollen wir es gewiß nicht. Und doch ist dies so häufig. Je mehr der Mensch von andern abweichend glaubt, desto mehr zieht er sich in sich selbst zurück, | desto mehr glaubt er seiner Sache gewiß zu seyn, desto mehr steht er in dem Wahne, daß er wenig oder gar nichts durch die Mittheilung seiner Meinung nützen könne. Wir sehen, das ist nicht die Lebensart des Apostels, sondern so bald er nur den Verdacht schöpfte, daß Verschiedenheit in den Meinungen sey, so eilte er sogleich nach Jerusalem, um sich mit den andern Aposteln über das Evangelium zu besprechen. Es würde Unrecht seyn, wenn wir sagen wollten, dies sey nur eine gute Lehre für Lehrer. Allerdings, aber diese Lehre ist auch für jeden, für den die Wahrheit als solche einen Werth hat, und der über dasjenige, was er in seinem Herzen empfindet, im Verstande nachdenkt und einem solchen muß sie eben so sehr am Herzen liegen. Wir werden darüber einig seyn, daß es ein Zeichen sey, dieser Geist sey gesunken, wenn darüber nicht mehr geredet wird. Wir sollen freilich nicht denen unser Heiligthum vorwerfen, die es nicht fassen können und auf die es also keinen Eindruck machen kann, aber christliche Menschen sollen sich doch einander mittheilen; dazu fühlt gewiß jedes Gemüth herzliche Sehnsucht. Wenn wir nun fragen: warum geschieht dies nicht, warum schütten die Menschen ihre Herzen nicht aus? Wir werden gewiß keine Antwort finden, wenn es nicht diese ist, daß es noch gar zu viele Gleichgültige giebt. Diejenigen welche in ihren Meinungen übereinstimmen, | bleiben einander freilich nicht fern und theilen sich mit aus dem Schatze ihres Herzens. Das ist gut und löblich, aber wir sollten doch auch dem Apostel folgen und uns mit denen besprechen, die andrer Meinung sind. Es kann Menschen geben, die wol überzeugt sind von der Wichtigkeit des Evangeliums, die überzeugt sind, daß ihre ganze Seeligkeit darauf beruht und doch sind sie verschiedener Meinung über wichtige Glaubenssachen. Dies liegt in nichts anderem als in der Unvollkommenheit und Einseitigkeit der Menschen, welche großen Nachtheil bringt; denn wenn sich nur
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solche verbinden, die Gleiches glauben, so können sie denjenigen Gewinn nicht haben, der nothwendig daraus hervorgeht, wenn sie sich auch mit solchen verbinden, denen zwar das Gute sehr am Herzen liegt, die aber doch andrer Meinung mit ihnen sind. Aber freilich, es liegt eine gewisse Gleichgültigkeit zum Grunde, denn wir wissen, daß wir das Gute des Glaubens und des Evangeliums nur dann recht genießen können, wenn wir Frieden haben. Den Frieden haben wir, wenn wir uns in uns selbst verschließen, wenn wir uns nur denen mittheilen, die gleicher Meinung mit uns sind. Aber wir sollen bedenken, daß nicht immer Ruhe auf unserm Wege ist, und daß wir häufig durch Zwietracht gehen müssen, daß wir aber darauf zu sehen haben, wie auch hierin der Grund der Liebe und die Kraft der Liebe nicht gestört werde. Und worauf | es dann ankommt, daß hierdurch der wahre Friede nicht gestört werde, wird uns deutlich werden, wenn wir in der Erzählung unsers Textes weiter gehen. Der Apostel sagt v. 4. 5. daß er den falschen Brüdern auch nicht eine Stunde gewichen sey, unterthan zu seyn, damit die Wahrheit des Evangelii bestimmt. Dies scheint nun auf den ersten Anblick gar nicht zum Frieden zu führen, vielmehr zum Streit; aber es ist doch wahr, daß nur auf diese Weise wir den Frieden erhalten können; denn, in der That, was wagen wir anders, als den Frieden zu verlieren, wenn wir andern nachgeben in Dingen, worauf die Wahrheit des Evangeliums und das Feststehen desselben in uns und denen die mit uns einerlei Meinung sind, beruht! So laßt uns denn den Gegnern keine Stunde weichen und wenn wir sie dahin bringen, daß sie Achtung haben vor uns und unserm Glauben, daß sie fühlen, unser Glaube sey fest und unser Widerstand ernst, so werden wir uns den Frieden sichern. Wer also glaubt, daß er durch Nachgiebigkeit in Glaubenssachen den Frieden behaupten könne, der irrt, denn er muß ja dadurch mit sich selbst uneinig werden. Jeder hat ja nicht etwa nur einen, der mit ihm verschiedener Meinung wäre, sondern er findet viele Gegner, die vielfach von ihm verschieden denken und hat er dem einen nachgegeben, so hat der andre das Recht, dasselbe zu verlangen und so ist es unmöglich, den Frieden zu erhalten. Das ist es, daß wir allein für die Wahrheit | leben müssen und für dasjenige, was unsre reine Ueberzeugung ist, damit die Wahrheit bestehe. So der Apostel. Er glaubte sich nicht verpflichtet, den falschen Brüdern auch nur im geringsten nachzugeben, weil er der Wahrheit nichts vergeben wollte. Was entstand denn nun aus dem Versuche des Apostels Gutes? Es entstand wirklich eine herzliche Eintracht zwischen ihm und denen, zu welchen er gekommen war; denn er erzählt: da sie sahen, daß mir vertraut war das Evangelium an die Heiden, wie Petro das Evangelium an die Juden und erkannten die Gnade, die mir gegeben war, gaben sie mir und Barnabä die rechte Hand und wurden mit uns eins. Dies will wol so viel sagen: Wenn eine Verschiedenheit der Meinungen statt findet über wichtige Gegenstände, so kann es seyn, daß eine wahr ist und alle übrigen falsch. Aber es kann auch seyn, daß die Wahrheit
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getheilt ist, daß jeder etwas davon hat und jeder dabei auch etwas Schlechtes. Das liegt in den verschiedenen Anlagen, die Gott in die Menschen gelegt hat. Der eine hat mehr dieses, der andre jenes und so muß natürlicher Weise Verschiedenheit entstehen. Wenn es nun eine so verschiedene Bewandniß haben kann mit den Meinungen, woran können wir denn unterscheiden, ob es so sey, oder so? Nur an der Gnade Gottes, die den Menschen gegeben ist. Wenn wir eine Rechenschaft ablegen, so muß es nicht bloß Rechenschaft der Worte, sondern des ganzen Lebens seyn. Der Apostel sagte nicht nur: das und das glaube ich, sondern so und so lehre ich, so und so richte ich es ein und indem er nun sagte, was er gewirkt habe für das Reich Gottes auf Erden, so erkannten sie, daß der Geist Gottes sich kräftig an ihm bewiesen habe | daß seine Gnade groß an ihm gewesen sey und so wurden sie eins, zwar nicht eins in denselben Ausdrücken, aber eins im Geiste und das ist es, worauf sich unsre Eintracht gründen soll, was der Apostel dadurch andeutet, wenn er sagt: sie wurden mit uns eins, daß Wir unter die Heiden, Sie aber unter die Beschneidung predigten. Das ist unmöglich, daß alle dieselben Worte haben können für denselben Glauben und so wenig wir glauben, daß dies möglich sey, so wenig sollen wir es auch wünschen. Nur wo Verschiedenheit im Geiste statt findet, da sollen wir uns entgegenstellen und da werden wir es leicht dahin bringen zu erkennen mit welchen die Gnade Gottes sey und mit denen sollen wir dann eins seyn. Denken sie anders, wolan! so haben sie gewiß einen andern Beruf, wie die Vorstellungen des Paulus auch mehr geeignet waren, die Heiden zu bekehren, die des Petrus und der übrigen hingegen, die Juden zu lehren. Und so ist [es] auch wol immer und überall. Wenn Gott einem verleiht, daß er Gutes thut, wenn Gottes Gnade mit ihm ist, so mag er anders denken. Unser Knecht ist er ja nicht. Er ist ein Knecht desselben Gottes mit uns und arbeitet in demselben Weinberge, als wir, nur daß ihm eine andre Arbeit aufgetragen ist. O da war gewiß das Herz aller Apostel entflammt von einer heiligen Liebe, als sie sich so die Hand gaben und absteckten das Gebiet, in dem sie wirken wollten, nicht um sich zu trennen, sondern zu thun, wie Gott einem jeden geboten hatte. Wenn wir nur darauf sehen, sehen auf das Leben eines jeden, wie in dem einen dasjenige kräftig ist, was in dem andern, weil es seiner Natur nicht so angemessen ist, auch nicht | dasselbe Gute hervorbringt, wenn wir darauf sehen, wie seine Werke aus der Liebe hervorgebracht werden, wie leicht können und müssen wir uns dann trösten über die Verschiedenheit der Meinungen und indem ein jeder festhält an seiner Meinung, kann das feste Band wahrer Liebe und Einigkeit uns alle umschlingen, wie es beim Paulus und den andern Aposteln immer gewesen ist. Warum sollten wir uns denn auch der göttlichen Ordnung entgegensetzen, da es, so wie es verschiedene Zungen und Sprachen, auch 28 Vgl. Mt 20,1–16
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verschiedene Meinungen geben muß nicht nur unter den Menschen überhaupt, sondern auch unter den Christen? Sollen wir uns nicht freuen, daß Christus auf viele Weise verherrlicht wird? Darum sey ein jeder fern von der Anmaaßung, andre messen zu wollen nach seinem Maaße. Ein Maaß giebt es für alle, das ist der Geist und die Gnade Gottes, der schafft ja in uns allen alles und weiß auch die von den unsrigen abweichenden Meinungen zur Beförderung seines Reichs zu gebrauchen und durch sie das zu bewirken, was wir nicht bewirken können. Aber zu diesem herrlichen Glauben, zu diesem Umfange der christlichen Liebe können wir nicht gelangen, wenn wir uns gegen diejenigen verschließen, von denen wir glauben, daß sie anders denken, als wir. Wer Christum verherrlichen will, der muß ja überall darauf achten, wie er sich zeigt in seinem ganzen Wirkungskreise, er muß ihn ja aufsuchen auch bei denen, von denen er noch nicht weiß, was sie glauben. Das Bestreben ihn kennen zu lernen und ihm ähnlich zu werden, möge uns auch dazu führen, daß wir uns immer mehr und mehr an einander anschließen, alles im Namen desjenigen, den wir verherrlichen und durch den wir alles haben! Amen.
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9. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 6,19–20 Nachschrift; SAr 45, S. 1–6; vermutl. Jonas, in: Balan Keine Keine Keine
Vormittagspredigt den 11. August 1816. Ich unterbreche heut’ die Reihe von Vorstellungen, in denen wir begriffen sind, um eines Gegenstandes willen, von dem zu reden, ich schon seit längerer Zeit, einen Drang fühle, dem Gegentheil von demjenigen, was wir eben gesungen haben. Wir haben gesungen, von welcher Art unser Leben sein soll, wie wichtig es ist, was es bezweckt und wie wir zuletzt diesen Zweck erreichen sollen, durch den Uebergang in ein besseres Leben. Wie sehr sollten wir doch dafür mit innigem Dank gegen Gott erfüllt sein! Dennoch giebt es eine Gleichgültigkeit gegen das Leben, welche oft dahin ausartet, daß der Mensch selbst Hand an sich legt, und schon seit einiger Zeit hat man bemerkt, anderwärts sowohl, als hier in unserer Stadt, daß diese traurigen Beispiele sich ungewöhnlich häufen. Nicht eigentlich dagegen zu warnen ist meine Absicht, das würde diesem Orte nicht angemessen sein; denn sollte auch wirklich ein Unglücklicher der Art unter uns sein, hier wenigstens wird er es sich nicht als möglich denken, hier wird jeder Gedanke daran fern von ihm sein. Aber wenn dergleichen öfter und öfter vorkommt, so müssen wir doch fragen: Thun wir denn auch dagegen was wir sollen? wer fühlt dieses Uebel recht tief? wer macht es wohl zum Gegenstande seines Nachdenkens; warum sich dieses eben jetzt so sehr häufe? und ich denke, wenn das nicht so geschieht, wie es wohl geschehen sollte, so kommt es doch wohl daher, daß wir auch darüber nicht denken wie wir denken sollten. Und dies wollen wir uns ans Herz legen. 3–4 längerer] längere
7 besseres] besser
15 wenigstens] wenigsten
2–3 Gemeint ist die am 16. Juni 1816 vorm. begonnene Predigtreihe zu den Streitigkeiten Jesu mit seinen Widersachern.
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Gewiß wir denken nicht alle über diesen Gegenstand, wie wir sollten, sonst würde nicht so viel Gleichgültigkeit bei Dingen dieser Art sein; wir haben uns zu sehr gewöhnt dieses anzusehen, als Folgen einer gänzlichen Zerrüttung des Gemüths wo das Höhere, das den Menschen führen soll, schon den Zügel verlohren hat. Wenn das aber auch wäre, so müssen wir doch gestehen, die Krankheiten des Geistes sind nur dann unverschuldet, wenn sie ausgehen von den körperlichen Zerrüttungen. Wir sind auf der andern Seite auch wohl vielleicht geneigt, die Gewalt, die der Mensch sich anmaßt über sein Leben in manchen Fällen für eine rechtmäßige zu halten, und gewiß ist dies ein eben so gefährlicher Gedanke, als der vorige, ein Gedanke, welcher der Heiligkeit des Lebens, auf die bedenklichste Weise Abbruch thut. So laßt uns diese Stunde dazu anwenden, wie allein der Christ über diesen Gegenstand urtheilen kann. 1 Corinth. 6. 19–20. 19. Oder wisset ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist, welchen ihr habt von Gott und seid nicht euer selbst? 20. Denn ihr seid theuer erkauft. Darum so preiset Gott an euerm Leibe und in eurem Geist, welche sind Gottes. Meine Freunde, die Schriften des Bundes, in denen nur ein Beispiel erwähnt ist, in welchem ein Unglücklicher und Verworfener, Hand an sein Leben legte, ist so weit entfernt, daß mir kein Ausspruch näher lag, meine Betrachtungen daran [zu] knüpfen, als dieser. Wenn wir uns diese Worte zu Herzen nehmen, so müssen wir wohl fühlen, daß es uns nicht zukomme den Tempel Gottes zu zerstören. Was man bald zur Entschuldigung, bald zur Rechtfertigung gesagt hat, das werden wir aus diesen Worten beurtheilen können, wenn wir das Ende, was der Mensch sich selbst giebt, mit der andern Art, wie er sein Ziel erreicht, vergleichen, um so der Wahrheit Unterschied zwischen beiden, von allen Seiten zu betrachten. | Der erste Ausgang aus dem Leben, meine Freunde, ist der gewöhnliche, der natürliche, sei es, daß durch die Länge der Zeit, und weil das vorgeschriebene Ziel erreicht ist, die Kräfte des Lebens abnehmen und die zerstörenden Gewalten Herr über sie wurden, oder durch eine plötzlich eingetretene Störung, welche alle menschliche Kunst ihren Zweck verfehlen läßt. Wohlan! dann zerfällt der Leib, der der Tempel des göttlichen Geistes gewesen ist, aber bis auf den letzten Hauch kann dieser Geist sich in ihm verherr8 vielleicht] villeicht 20–22 Vgl. Mt 27,3–5
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licht haben. Er zerfällt nach den Gesetzen Gottes, in denen sich seine verborgene Weisheit und die Grenze der menschlichen Kunst offenbart. Wohlan! wird man sagen, wenn einmal die Zerstörung des menschlichen Leibes eingeleitet ist, wenn man dieses selbst fühlt und dies selbst Kunstverständige sagen, daß der Rest nichts mehr sein kann, als eine Kette von Schmerzen und Leiden, warum soll der Mensch nicht den langsamen Gewalten der Natur zu Hülfe kommen, warum soll er nicht das angefangene Werk fördern, da doch des Menschen ganze Thätigkeit darin besteht, daß er an dasjenige seine Handlungen knüpft, was die Natur eingeleitet hat? warum soll er sich nicht des Schmerzes und andern des Mitleids und der mancherley Beschwerden seinetwegen überheben, da er doch kein thatenreiches Leben mehr zu hoffen hat? Kann man das sagen, wenn man bedenkt, daß unser Leib ein Tempel des göttlichen Geistes ist, den Gott uns gegeben hat? Kann der Unglückliche je zu sich sagen, es sei der Geist, der seine Hand gegen sein eignes Leben bewaffnet, eben derselbe, welcher in ihm, als in einem Tempel, sich wie einem göttlichen offenbart? O diese Ueberzeugung wird keiner fest und sicher in sich halten können, und ist es denn nicht der Geist Gottes, der sich in uns verherrlichen kann, als Geist der Geduld, auch in einem Willen Gottes, worin uns nichts anders bestimmt ist als Leiden? Und wenn wir denken, an die letzten Worte, an die letzten Ermahnungen die wir den Zurückbleibenden hinterlassen können, wird der Geist Gottes noch reden können aus dem, der sich selbst entleibt? wird er die letzte Stunde noch genießen können, wenn er sie selbst, als die letzte herbeigeführt hat? Wird ihn nicht die Ueberzeugung überwältigen, daß, sei es auch nur eine Ahnung seines Vergehens, eben diese Ahnung schon in dem Menschen erregen, und ihn in ihren Augen zum Gegenstande des Wiederwillens machen wird? Was ist die Kraft des Lebens (wird man sagen können!) ohne die Lust des Lebens? In ihr kann sich dann nicht mehr dasjenige, was der Geist denkt was den eigentlichen Werth des Lebens ausmacht offenbaren. Sei der Mensch gesund und kräftig, wenn die Lust des Lebens einmal verlohren gegangen ist, offenbar kann er dann nicht mehr dazu dienen, daß sich menschliche Würde in ihm kund thue und sich in ihm verherrliche. Hat ihn Gott die Lust unwiederbringlich genommen, warum sollten wir es nicht auch ansehen, als hätte er ihm die Kraft genommen? warum sollte er nicht entgegen eilen, einer ungewissen Zukunft freilich, aber in der er es doch für möglich hält, daß er mit einem neuen Leben, auch neue Lust bekommen kann? Meine Freunde, der Geist Gottes, der in uns wohnt, ist der nicht ein Geist der Freude? ist das nicht das höchste Ziel, wozu er uns führen will, daß wir uns freuen sollen, in dem Herrn alle Wege? In dem also der Geist 9 Handlungen] Handlunglen 40 Vgl. Phil 4,4
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Gottes wohnt, wie kann der gekommen sein, zu der Gleichgültigkeit, zu diesem Ueberdruß? Freilich drückt manchem Menschen schwer das Leben, es scheint freilich manchem Menschen nichts anders zu sein, als eine Kette von Unglücksfällen und Wiederwärtigkeiten aller Art, ja sogar ein Mißlingen alles dessen, was er sich gutes vornimmt. Aber wenn der Mensch reinen und frommen Sinnes ist, so kann | auch der übelste Ausgang ihm den Frieden, das Gute, die Gemeinschaft mit Gott nicht rauben. Wie anders als verschuldet kann sie also sein; diese Gleichgültigkeit des Lebens? Wohl kann sie anwandeln diejenigen, die sich abgestumpft haben, durch sinnliche Lust, aber so kann es demjenigen nie ergehen, in welchem ein Werk des göttlichen Geistes begonnen ist, das einmal begonnen auch weiter gehen muß. Habe er auch nichts ausgerichtet für die Welt, für ihn selbst werden seine Handlungen doch nicht verlohren sein, und ausgeschmückt damit, den Tempel des Herrn[,] wird er dastehen, und was ihm auch die Welt versage, was ihm auch begegne die Freude im Herrn kann ihm nicht fehlen. Wem diese Freude fehlt, wer jene Rede spricht, er wende sein Auge weg, von denen die er zu beneiden gewohnt ist, der sehe auf diejenigen hin, deren Bild ihm, das vorstellt, was er am meisten scheut, und er glaube gewonnen zu haben, wenn nur das Bild seines Lebens, jenem Bilde nicht gleicht. Wie viel, ich will nicht nur sagen Rechtschaffenheit und Gottesfurcht, nicht nur treue Erfüllung der geringfügigen Pflichten, sondern was mehr ist, wie viel stille Freuden und Seeligkeiten wird er dann finden, wenn er sie nur erst suchen kann, und wenn er sie aufgesucht und erkannt hat, müßen sie ihn denn nicht erinnern, daß er kein Recht habe, den Tempel des Herrn zu zerstören, muß es denn nicht nur an ihm liegen, umzukehren, und, wenn der Tempel des göttlichen Geistes bisher noch unbewohnt geblieben ist, von demselben zu ihm zu flehen, um ihn herein zu rufen? Können wir also solche Handlungen, für Recht und erlaubt halten? Darum, meine Freunde, ist es gewiß gleichgültig, ob es die Leiden des Lebens sind, oder ob es der Mangel an Freude ist, denn wenn eines von beiden [jemanden] dahin bringen kann, Hand an sich selbst zu legen, o der muß doch, ein Tempel des göttlichen Geistes nicht gewesen sein! Und nichts ist gewiß einem wahrhaft christlichen Gemüthe feindseeliger, nichts störender, als wenn wir von solchen Handlungen hören, und die deutlichen Spuren finden, daß der Mensch, mit dieser That beschäftiget, doch noch beruhigende Gedanken an das höchste Wesen gehabt hat. O da müssen wir es bejammern daß die Hülfe, die dem Bruder so nahe lag, nicht von ihm ergriffen ist, daß der Gedanke an Gott ihn nicht davon abgewandt hat. Aber es giebt einen zweiten Ausgang aus dem Leben, den nicht die Natur herbeigeführt hat, sondern die Pflicht, wenn um die Angriffe der Gewalt und Ruchlosigkeit, heilige Güter zu vertheidigen, wenn um den Kindern der Finsterniß und der Lüge ein Zeugniß Gottes abzulegen, der Mensch sein Leben willig zum Opfer darbringt, und wir das ehren und prei-
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sen, als einen heldenmüthigen Tod des Glaubens. Wohlan, sagen wir dann, wenn der Mensch doch, in einzelnen, traurigen Fällen, die Ueberzeugung von sich haben kann, daß eben durch seinen Tod, weit entfernt, daß die größere Gesellschaft etwas verlöhre, wenigstens aber der kleine Kreis der Seinigen und Nahen, nur gewinnen kann, wenn er die Ueberzeugung hat, daß er selbst nichts ausrichten kann, daß er ihnen nur ein Gegenstand der Sorge und der Last ist, wodurch sie gehindert werden, würdigen Gegenständen ihre Kräfte zu widmen und ihre Pflicht gegen die große Gesellschaft zu erfüllen, kann er dann nicht eben so mit der Freudigkeit, wie die, welche in jenem hohen Berufe sterben, sein Leben selbst und freiwillig verkürzen? So viel Schein das auch haben mag, so müssen wir doch wohl bedenken, es ist nicht der einzelne Mensch selbst frei, in irgend einem Augenblicke seines Lebens wo er über sich selbst zum allgemeinen Wohl gebiethen kann. Wenn die Menschen schaarenweise hingeführt werden, um für die größten Zwecke ihr Leben | zu wagen, dann werden freilich die einzelnen Tempel des göttlichen Geistes zerstört, aber nur um den größten zu erhalten, den sich der Herr im Ganzen erbaut hat, dann kann man sagen, es sind nur einzelne Theile des großen Tempels, die zur Erhaltung des Ganzen aufgeopfert werden. Wenn der Mensch das Leben wagt, um nicht von seiner Pflicht zu weichen, so hat er sich dieser Pflicht längst hingegeben, so sind es in Gott gethane Werke, die er ungeschehen machen müßte, wenn er weichen wollte, so ist er es auch nicht selbst, der den Tempel Gottes bricht, sondern es sind andere. O der kann handeln und leiden, in dem lebendigen Gefühl des Geistes, das seinen Tempel bewohnt. Aber wenn wir selbst uns das Leben verkürzen, ohne einen bestimmten Beruf nur mit willkührlichen Gedanken, wie könnte dabei dasselbe Gefühl sein, aus dem Geiste Gottes gehandelt zu haben? Wenn freilich, das dürfen wir uns nicht verbergen, wenn das menschliche Leben so reichlich ist vergossen worden, für eine große Sache, und dadurch entstanden ist der Schein, als ob an dem Einzelnen weniger gelegen ist, sollte dies wohl dahin ausarten, daß diese Gleichgültigkeit zurückbleibt, wenn jene Zeiten großer Bewegungen vorüber sind; o müßte das nicht viel mehr einen starken Schatten werfen, auf dasjenige, was Großes geschehen ist, müßte das nicht erscheinen als etwas, was bloß als Nebensache getrieben sei, und was uns gar nicht beseelt habe, wenn es in solche Gefühle ausarten kann? Das sei also fern, daß wir jemals diese That rechtfertigen, sagend: wenn das Vaterland, wenn die ganze Menschheit so gleichgültig sein kann, gegen das Leben der Menschen, erscheint dann nicht auch unser Leben das geringfügigste, können wir da wohl den Gedanken festhalten daß unser Leben Bekümmernisse erregen sollte? O da muß das PgesundeS und richtige Ge18 Theile] Theile,
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fühl, welches zu unterscheiden weiß, den Geist Gottes, von dem willkührlichen, wie muß es da abgestumpft sein? Aber endlich, es giebt noch einen dritten Ausgang aus dem Leben, an den wir freilich alle nicht ohne Schaudern denken können, es ist der, den die Gerechtigkeit, dem Uebelthäter bereitet. Oft werden wir unschlüssig, ob das Recht der Menschen soweit gehen könne; oft denken wir es sei noch ein Ueberbleibsel einer alten barbarischen Sitte, unwürdig der jezigen Zeit, und dann erscheint es uns wieder wohlthätig, als eine Hand, die den bis zu einer Tiefe gesunkenen, dem Anblicke anderer und seiner selbst entzieht. Und so sagt man; wenn das wohlthätig ist an demjenigen der unwürdig ist seiner selbst, warum soll sich der Mensch nicht selbst in den Schutze des Todes begeben, der in demselben Falle ist, aber ohne, daß die Gerechtigkeit ihm dabei etwas anhaben könnte, ohne daß die Menschen ihm dabei zu Hülfe kämen, der sich eben so, vor sich selbst erniedrigt? O meine Freunde, nur desto übler sieht es aus um den Zustand der menschlichen Gesellschaft, um desto mehr müssen wir helfen und uns annehmen des Unglücklichen, der aus diesem Gesichtspunkt, Hand an sich selbst legt. Sollte der Mensch | wenn ihm auch nur das Gefühl übrig ist, daß er bestimmt ist, ein Tempel des göttlichen Geistes zu sein, neben dem freilich, daß er es nicht ist, sollte er nicht dankbar sein, daß er mit allen seinen Schwächen und Fehlern in die Hand Gottes gefallen ist, und nicht in die Hand der Menschen? Sollte er nicht fühlen, wenn er jemals ein Tempel des göttlichen Geistes gewesen ist, (denn wer kann es läugnen, es giebt Stunden der Vergessenheit und der gewaltigen Leidenschaft, wo auch, der sonst nicht tadelnswerthe, dennoch wunderbar genug herabsinken kann, die ihn unwürdig machen in seinen eignen Augen) sollte ihm dann nicht das Gefühl übrig sein, daß es für einen Tempel Gottes heilige Reinigungen giebt, durch die alles was ihn schändet, hinweggenommen werde, daß er auch dennoch in neuer Herrlichkeit hervorgehen kann. Ja wir dürfen es sagen, es ist ja das eigene Wort Christi, daß mehr Freude ist im Himmel über einen Sünder der da Buße thut als über neun und neunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen, o dann können wir ja sagen, es giebt keine größere Freude, als einen Tempel zu reinigen. Ja gewiß, so sollen wir denken, mit solchen Gefühlen sollen wir erfüllt sein, wenn wir Kunde erhalten, über einen Menschen, der schon tief gesunken war und sich wieder erhebt. Und wenn nun dieses Werk der Erneuerung eben so preiswürdig ist, als wenn Gott ihn macht zu seinem Tempel, dann sollte er sagen können, du kannst nicht wieder aufgerichtet, wieder gereinigt werden, dann sollte er den Tempel brechen mit frevelnder Hand, sollte es seinem Gefühl zutrauen, daß er die Grenzen bestimmen könnte der göttlichen Gnade? O gewiß, am Ende wird das doch der sagen 30–31 Vgl. Lk 15,7
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können, bei dem die sinnlichen Gefühle, die Begriffe menschlicher Ehre überwiegen, das geheimnißvolle Wort. Ja selbst in diesem Falle mögen wir die That nicht entschuldigen, so wenig der Mensch über andere richten soll, so wenig soll er es auch über sich selbst; über sich auch soll er den Herrn walten lassen, aber auch nie aufhören, an die Gnade zu glauben, die Gott gewährt. Ja meine Freunde von welcher Seite wir es auch betrachten mögen, in dem Gefühle, daß der Leib ein Tempel des Herrn ist, muß die Kraft liegen, die den Menschen von jeder That dieser Art abhält, und die ihn antreibt, sie immer zu mißbilligen. Darum wollen wir uns befestigen darin, es ist dies die einzige Ansicht die das Christenthum gestattet, und je mehr wir fühlen, daß wir das Reich Gottes fördern müssen, und dafür hingeben müssen unser Leben auf den Ruf Gottes, o um desto höher müssen wir es schätzen, wenn es einen so hohen Zweck hat, desto freudiger müssen wir es für die höchsten Güter hingeben. Aber auch fühlen müssen wir, daß alle menschliche Gewalt hier Grenzen hat, müssen es, als ein Heiligthum fühlen, über das nur der Herr schalten kann, müssen es fühlen, daß wir nun immer hoffen und davon überzeugt sein, daß in jedem Augenblick der Geist Gottes seinen Tempel bewohnt, und sich zu erkennen geben kann, wie und wo er will, und daß wir ja freventlich gegen ihn handelten, wenn wir das Werkzeug aus seinen Händen winden wollten, daß er zu seiner Verherrlichung bereitet hat. Wohlan! in dem Gefühl dieser Heiligkeit, und dem frohen | Gefühl daß jemehr wir würdig sind Christi Jünger zu heißen, jemehr wir in allen Augenblicken unsers Lebens verkündigen sollen, den Geist Gottes, um so mehr müssen wir ja tief empfinden, daß es unsere Pflicht sei, daß wenn der Mensch, den heiligsten Tempel, das Werkzeug Gottes zerstören will, diesen zu hemmen, aus allen unsern Kräften. Haben wir eine reine Ueberzeugung davon, daß wir, wie leben oder sterben, des Herrn sind, und daß wenn wir sterben, immer nur ihm sterben, können wir nicht anders, als diese That, für einen verderblichen Frevel ansehen. O so laßt uns ein Herz voll Liebe denen entgegentragen, die ein unglückliches Geschick zu solchen Stunden der Versuchung führt. Wir sind alle theuer erkauft durch das Blut des Sohnes Gottes und jetzt aufs Neue, durch das Blut der Brüder, das hineingeflossen ist in den großen Strom alles versöhnenden Blutes. O sollten wir dich Gott, immerdar preisen, mit unserm Geiste und mit unserm Leibe! Amen.
26 Werkzeug] Wergzeug 27–29 Vgl. Röm 14,8
26 hemmen] stemmen
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Sonntag nach Weihnachten, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 3,3–9 Nachschrift; SAr 39, Bl. 1r–10v; Jonas Keine Nachschrift; SAr 38, S. 1–8; Jonas Keine
Vormittagspredigt, gehalten am 29. Dec. 1816.
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Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes, des himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sey mit uns allen jetzt und immerdar! Amen. – 5
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Tex t. 2. Pet. III, 3–9. M. a. F. Es ist aus mehreren Stellen der heiligen Schrift deutlich zu ersehen, daß die meisten der ersten Jünger unsers Herrn noch in den Tagen ihres irdischen Lebens seine Wiederkunft vom Himmel erwarteten, die er ihnen bei seinem Hinscheiden und vor demselben oft verheißen. Als das nun nicht, sobald sie es erwarteten, geschah, so fing bei einigen der Glaube an zu wanken, bei andern wurde er wenigstens auf mancherlei Weise geschwächt und die Freudigkeit getrübt und darauf gehen die Worte des Apostels. Dies können wir nun sehr wol auf unsern eigenen Zustand anwenden. Alles was der Christ mit Ernst erwartet und wünscht, (und von dem man nicht gleich sagen würde, daß er mit flüchtigen Gedanken spiele, indem er es äußert) das alles muß von jener großen Veränderung der Dinge, die von der Zukunft des Herrn erwartet wird, ein Theil seyn oder eine Aehnlichkeit damit an sich haben. Denn was anders könnte das Herz des Christen mit sehnlichen Erwartungen, mit | eifrigen Wünschen erfüllen, was anders könnte das Gemüth eines solchen erfüllen, der für das Reich Gottes entflammt ist und alles für Schaden hält, was darauf nicht geht, damit er nur das Eine gewinne? Wolan denn, M. A. F. an solchen Zeitabschnitten, wie wir jetzt stehen, wo wieder ein Jahr unsers Lebens verlaufen ist, sind wir geneigt, auf die 2–4 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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Wünsche und Erwartungen, die wir beim Beginnen desselben davon hatten, zurückzusehen; denn wer könnte sich wol sagen, daß ein neuer Abschnitt seines Lebens ihm, ohne etwas zu wünschen und zu erwarten, beginne? Wer machte nicht seine Rechnung sowol auf dasjenige, was er thun will, (jedoch davon wollen wir nicht reden) als auch vielmehr auf dasjenige, was nicht von ihm ausgehen kann und was er eben deßhalb nur von der Leitung und Regierung Gottes erwarten muß? Sey es, daß der Eine mehr die Leitung des Vaterlandes, der Andre mehr die christliche Gemeinschaft, ein Andrer die Bedürfnisse des frommen und christlichen Lebens, ein Andrer das Wohl der Einzelnen und Mancher nur den Einfluß, den die äußeren Geschäfte auf das Leben | haben, zu seinem Augenmerk mache, Manches wird das vergangene Jahr erfüllt haben, Vieles und der größte Theil ist unerfüllt geblieben. So sind denn auch wir solche, zu welchen der Apostel redet und wir werden wol thun, sein Wort zu unserer Erbauung und Beherzigung zu betrachten. Wir erbitten uns dazu den Beistand Gottes, in dem Gebet, das Jesus uns lehrte. Zweierlei, M. A. F., ist es, worauf der Apostel in Beziehung auf die unerfüllten Erwartungen der bisherigen Zeit uns in den Worten unsers Textes hinweiset. Das Eine ist der Unglaube der Spötter, daß uns der nicht irre machen solle, das Andre ist der Unglaube der Ungeduldigen, daß uns der nicht beschleichen möge. Laßt uns auf beides und auf die Art, wie der Apostel es darstellt mit einander merken. I. Zuerst sagt der Apostel in den Worten unsers Textes: „das eben sollt ihr wissen, daß in den letzten Tagen kommen werden Spötter, die nach ihren eigenen | Lüsten wandeln und sagen: wo ist die Verheißung seiner Zukunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es vom Anfange der Creatur gewesen ist.“ Das, M. A. F. das ist der freche Unglaube, welcher aller Hoffnungen und aller frommen Wünsche der Wohlgesinnten spottet. Zu unserm Troste giebt uns der Apostel zu bedenken, daß das immer nur Menschen sind, die nach ihren eigenen Lüsten wandeln und allerdings hängt dieser Wandel und jener Spott sehr genau zusammen; denn, M. A. F., von zweierlei haben alle Menschen, auch die, welche nach ihren eigenen Lüsten wandeln, wenigstens eine dunkle Ahnung im Gemüth. Das erste ist, daß wir nicht anders, als durch Trübsale in das Reich Gottes eingehen mögen, das zweite, daß jede wichtige Veränderung, die das Reich Gottes fördert, auch eine größere Scheidung der Guten und Bösen hervorbringt, so, daß die Werke und der Sinn offenbar werden; wie wir uns denn die Zukunft des Herrn und das 16–17 Hiermit ist das Vaterunser gemeint
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Reich der Seeligkeit nicht anders, | als nach solcher Scheidung, denken können und beides ist das, was sie nicht wünschen können und wovor sie sich fürchten müssen. Wenn also eine Zeit vergangen ist, ohne daß etwas Großes und Wichtiges geschehen ist, so sind sie dann diejenigen, welche sich freuen und dies für eine Bürgschaft ansehen, daß auch künftig alles beim Alten bleiben werde, bei dem Alten, welches entweder ihren Wünschen entspricht, indem es ihnen Gelegenheit giebt, die Lüste des Fleisches zu befriedigen, oder wobei sie wenigstens, wenn gleich auch ihren Wünschen noch vieles übrig gelassen ist, sich doch leicht beruhigen, wenn es nur nicht schlimmer kommt und eine Zeit eintritt, wo das äußere Wohlseyn und Ansehn nur errungen werden kann mehr nach Maaßgabe des innern Werthes und dessen, was jeder für das gemeine Wohl gethan hat und erduldet. Und so, M. A. F., können wir uns denn über ihren ungläubigen Spott leicht beruhigen. Wie sollten wir uns auch durch denselben | anfechten lassen? Es ist natürlich, daß wir mit ihnen wenig oder gar nichts gemein haben können, weder mit ihrer Art, die Vergangenheit zu betrachten, noch mit ihrer Art auf die Zukunft zu schließen. Wir, M. A. F., wir haben eine andre Bürgschaft für die Hoffnung, die uns beseelt, für das, was wir Gutes von der Gnade Gottes für uns und unsre Brüder und für das künftige Geschlecht erwarten. Diese Bürgschaft ist in dem, was wir in unserm eigenen Herzen und Leben finden. Gewährt uns in dieser Hinsicht die vergangene Zeit eine Beruhigung, so mögen wir auch mit unerschütterlicher Zuversicht in die Zukunft hineinsehen. Ich meine das nemlich so, M. A. F.: Allerdings sollten wir eigentlich nicht nöthig haben, in dieser Beziehung auf die einzelnen Erfahrungen des Lebens und des Herzens zurückzugehen. O wenn das Gemüth erfüllt ist von dem lebendigen Glauben, daß es einen Vater des Lebens giebt und von dem noch herzlicheren Vertrauen, daß der den Sohn gesandt hat, | uns auch alles andre schenken werde, wenn es erfüllt ist von der erhebenden und beruhigenden Anschauung, daß, seitdem der Sohn geschenkt ist, sein Geist auch nicht aufgehört hat zu walten über diejenigen, welche sein Heil angenommen haben; dann M. A. F., dürfen wir ja nicht zweifeln, dieser Geist des Lebens, der Kraft, der Liebe, der Freudigkeit werde auch ferner walten und alle herrlichen Früchte desselben werden sich mehren, dann können wir ja nicht zweifeln, die waltende Sorge Gottes, des himmlischen Vaters, könne nicht vergeblich seyn über die Welt und wie ganz ohne alle Wirkung muß dann der freche und leichtsinnige Spott an uns vorübergehen! Denn wenn sie sagen: „wo bleibt denn die Verheißung seiner Zukunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es vom Anfange der Creatur gewesen ist“ auf welchem Grunde beruht dann ihre Behauptung und ganze Ansicht? Sie will nichts sagen, als daß es kein wahres Besserwerden | für das menschliche Geschlecht gebe, daß es sich nur im Kreise herumbewege, ohne daß sich das Edle, Herrliche, Göttliche in demselben mehr entfalte. Das ist der Hauptpunct, worauf der ganze
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Gegensatz zwischen unsrer Zuversicht und ihrer Hoffnung und Ansicht zurückkommt und beruht. Sie wollen ihr Wohlbefinden ungestört sehen, sie wollen es nicht, daß der Geist sich trenne vom Fleisch, dessen Befriedigung sie allein suchen und deßhalb wünschen sie denn, daß der Geist nicht mehr Macht gewinne als nöthig ist, damit das Fleisch sich nicht selbst zerstören könne. Deßhalb können wir ihnen aber auch zuversichtlich entgegentreten, wenn wir zurücksehen auf die Vergangenheit, wenn wir nicht nur achten auf das, was in derselben in Beziehung auf größere oder kleinere Verhältnisse unerfüllt geblieben ist, sondern auch auf das, was durch die Gnade Gottes an uns selbst geschehen und erfüllt ist. O können wir Christen seyn, können wir des Namens, den wir führen, würdig seyn, | und auf ein vergangenes Jahr zurücksehen ohne freudige Beweise der stärkenden, heiligenden Gnade Gottes zu finden? Können wir darauf zurücksehen, ohne uns bewußt zu werden, daß, wenn gleich nach harten Kämpfen und Unfällen, es auch manchen herrlichen Sieg des Geistes über das Fleisch gegeben habe, daß wir immer mehr und mehr zugenommen haben an Aehnlichkeit mit unserm Herrn? Wolan! so ist er ja zu uns gekommen, so ist ja die Verheißung seiner Zukunft theilweise in Erfüllung gegangen, so ist ja keine Uebertreibung in seinem Versprechen gewesen, daß er unter den Seinen seyn wolle bis ans Ende ihrer Tage und wenn wir durch seine Gnade zugenommen haben an Kraft, wenn das Verderben mehr in uns besiegt ist, so muß ja auch durch unser gottgefälliges Thun außer uns etwas seyn geschaffen worden und wenn wir es auch noch nicht sehen, so können wir nicht anders, als hoffen, daß wir es einst wiederfinden und erkennen werden, wenn bei großen Veränderungen das Zerstreute sich sammelt und | das Verborgene ans Licht tritt. Und, M. A. F., können wir in eine weitere Vergangenheit zurücksehen, ohne daß uns solche Veränderungen häufig entgegenkommen? Ist nicht die Geschichte voll von Begebenheiten, die von der Gnade Gottes zeugen, in der ganzen Zeit unsers Lebens und besonders in der kurzvergangenen Zeit? Sie aber die ungläubigen Spötter, sie freuen sich allerdings, daß aus dem Großen, was geschehen ist, nicht noch mehr hervorgegangen ist, was sie noch mehr erschüttert haben würde. Aber sie wollen nur muthwillig nicht sehen, wie es auch ehedem geschehen ist, wie auch ehedem nach langem Zögern der Herr seinen Stuhl aufgestellt hat zum Gericht, wie auch ehedem schon große Scheidungen gewesen sind der Guten und der Bösen und aller Menschen Gedanken offenbar worden sind vor der Welt und vor Gott. Wolan denn! verblenden sie sich muthwillig gegen die großen Erfahrungen vergangener Zeit, so, daß sie in demjenigen, was geschehen ist und sich still verbreitet, | muthwillig nicht sehen wollen, was geschehen wird, o was kann uns anders in Beziehung auf sie übrig bleiben, als anstatt etwa 19–20 Vgl. Mt 28,20
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schüchtern zu verstummen vor ihrem frechen Unglauben, als anstatt wankend gemacht und von ihnen angesteckt zu werden, vielmehr immer zu einem Zeugniß über sie laut und beharrlich zu reden von unsern Wünschen und Hoffnungen, unsre Zuversicht auf die Gnade Gottes nicht zu verheimlichen, damit sie, wo möglich, aufmerksam gemacht werden und in sich gehen, damit wir wenigstens alles thun, was in unsern Kräften steht, um sie zu retten vor dem Tage der Entscheidung, der dann über sie kommen würde als ein Tag des Verderbens, wie ein Dieb in der Nacht? II. Eben deßwegen aber, damit es uns dazu nie fehle an zuversichtlicher Beharrlichkeit, niemals aber auch am ungestörten Gleichgewichte des Gemüths, an der | sichern Ruhe des Gläubigen, so laßt uns auch auf das zweite Wort des Apostels merken, auf die Warnung, daß nicht der ungeduldige Unglaube auch uns beschleiche. So spricht der Apostel: „der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern er hat Geduld mit uns und will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre.“ Diese Worte des Apostels beruhen darauf: daß eine jede große und wichtige Verbesserung in dem Leben und den Angelegenheiten des Menschen auch in allen einen höhern Grad von Reinigkeit des Herzens und von Kraft der Gottseeligkeit in jeder Hinsicht unnachläßlich fordern. Dies, M. A. F., muß uns allen deutlich seyn, sonst werden auch unsre Hoffnungen und Erwartungen leer und nichtig, und nicht würdig, daß wir sie hegten und pflegten und auf ein wahres und richtiges Vertrauen auf Gott zu begrün|den suchten. Aber es ist auch dies etwas, woran der Gläubige und Fromme niemals zweifeln kann. Wer unter uns mögte Wolbefinden, Zufriedenheit, Seeligkeit in sich trennen von dem Bewußtseyn seiner Kraft, von dem einfältigen Zeugniß seines guten Gewissens vor Gott, es auf einen andern Grund bauen, als auf den eines gottgefälligen Lebens? Und, M. A. F., was anders ist denn auch, das uns die ganze Geschichte, wenn wir sie nur aufmerksam betrachten, so deutlich und ohne Widerspruch lehrt, was soll denn und kann der Erfolg seyn aller großen und wichtigen Veränderungen in menschlichen Dingen, als daß, was Recht, Ordnung, Gesetz ist, in jedem Theile des menschliches Daseyns etwas Besseres, Edleres, mehr aus der innersten Tiefe des Herzens Geschöpftes werde, als es vorher gewesen ist? Woher kann das anders kommen, als eben daher, wenn die Herzen der Menschen reiner werden, | wenn dies ohne alle Beimischung das unverfälschte Werk des göttlichen Geistes ist, welcher das Ziel aufsteckt, dem alle entgegenstreben sollen? 7–8 Vgl. 1Thess 5,2; 2Petr 3,10
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Und eben so auf der andern Seite, wenn wir uns denken, es könnte auf einmal uns unbegreiflich der größte Theil der Mängel der menschlichen Gesellschaft abgestellt werden, wir könnten von allem befreit werden, was uns drückt und in unsern guten Bestrebungen zurückhält, aber es wäre die Kraft des Guten im Vergleich mit der Kraft des Bösen nicht stärker geworden, es glänzte das Licht der Wahrheit nicht heller hervor über die Finsterniß der Selbstsucht, der Versunkenheit in die irdischen Dinge, als bisher, was würde dann und könnte dann aus solchen großen Veränderungen werden? Ein weiteres Fortschreiten zum Besseren? unmöglich, nur ein allmähliges Zurücktreten auf den Punct, auf welchem alles vorher stand, weil die Kraft fehlt, es zu erhalten. | Darum, M. A. F., ist es so wahr, was der Apostel sagt: wenn unsre im Wort Gottes, wie es vor uns liegt und im Herzen steht, gegründeten Erwartungen, wenn sie bisher noch nicht in Erfüllung gegangen sind, o laßt uns dann nicht glauben, daß der Herr seine Verheißung verziehe, laßt uns nicht ungeduldig werden, laßt uns, wenn gleich günstige Gelegenheiten immer da gewesen sind, die Umstände zum Ziele zu führen, nicht glauben, was unter so günstigen Umständen nicht erfolgt sey, das werde nun gar nicht erfolgen! Nein, der Herr verzieht nicht seine Verheißung, sondern bleibt immer treu dem ewigen, unwandelbaren Gesetz: nicht eher große Veränderungen eintreten zu lassen, als bis die Menschen reif dazu sind, sie zu benutzen; nicht äußerlich etwas herbeizuführen, wenn es innerlich am wahren Grunde fehlt und also doch nicht bestehen könnte. Er verzieht seine Verheißung nicht, sondern folget nur diesem Gesetz, in welchem wir eben so sehr seine Liebe und Barmherzigkeit, als seine Weisheit anerkennen müssen: Liebe und Barm|herzigkeit, denn was wären wir, würde nicht unsre Verantwortlichkeit desto schwerer werden, wenn wir auf einen Punkt hingestellt würden, auf dem wir uns nicht erhalten könnten aus Mangel an reiner Gesinnung? Darum führt uns dies auf eine andre Weise in die Vergangenheit zurück. Wenn der Herr nicht verzieht, wenn seine Langsamkeit nur Weisheit und Barmherzigkeit ist, wenn die unerfüllten Erwartungen nur davon zeugen, daß wir nicht sind, wie wir seyn müssen, wenn sie erfüllt werden können, o so laßt uns ihm danken, daß, indem er seine Verheißung zu verziehen scheint, er uns alle zur Buße ruft, damit keiner verloren gehe! Laßt uns aber auch sehen, daß uns deutlich werde, wo es in unserem gemeinschaftlichen Leben den Gesinnungen eines jeden noch fehlt, daß wenn wir noch zurückbleiben an Reinheit des Herzens und Einsicht, wir uns durch seine Geduld zu dem führen lassen, was Noth thut, damit | die Zeit des Verzugs nicht verloren sey, sondern wir bereit seyen, wenn der Tag seiner Zukunft und Offenbarung erscheint! Ja, M. A. F., das sey es vorzüglich, wozu das abermalige Ende eines Jahres unsers Lebens uns auffordert! Ist manches von dem noch nicht ge-
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schehen, was wir für uns selbst, für die unsrigen und für die großen, gemeinschaftlichen Angelegenheiten von der Liebe Gottes erwarteten, o laßt uns fragen, ob alles geschehen ist, was wir von uns selbst forderten, als wir in dieses Jahr eintraten, oder was wir hätten fordern sollen, wenn wir mit der rechten Klarheit eines geläuterten Gewissens in unser Inneres hineingesehen hätten! Aller Verzug hat nur darin seinen Grund, daß die Menschen noch nicht reif sind, daß sie noch nicht innerlich frei gemacht sind durch den, der sie allein frei machen kann. Darum prüfe sich jeder selbst, ob er die Langmuth Gottes auch dazu benutzt | habe, sich von dem loszureißen mit aller Kraft, was der inneren Freiheit entgegensteht, damit er sein eignes Herz zu einem Tempel des Herrn ausrüste und zu einem tauglichen und edlen Werkzeuge desselben. Und wenn das noch nicht geschehen ist, wie es geschehen müßte, o dann, M. F., bedürfen wir alle der Buße. Dann erst wird neben der freudigen Zuversicht, mit welcher wir dem frechen Unglauben der Spötter entgegentreten, unsre Ungeduld beschwichtigt werden durch eine tiefe, aber heilsame Beschämung. Je tiefer die Buße, M. A. F., desto heilsamer; je größer, desto mehr die Heiligung des Gemüths. Und je mehr wir damit das verflossene Jahr anschauen, desto ruhiger werden wir dem folgenden entgegensehen. Amen. Gebet. Gott, Herr unsers Lebens! was ist der Mensch, daß er mit dir rechten wolle und der Staub, daß er dich zur Rechen|schaft zöge? Du bist nichts, als Erbarmung und Liebe und deine Werke sind nur Güte. Mit uns gehe dein Geist zu Gericht in der Tiefe unsers Herzens, damit wir bestehen können vor dir in Zerknirschung und in Demuth, wenn du deinen Stuhl aufrichtest zum Gericht. O laß uns erkennen, wie viel von deiner Gnade wir unbenutzt gelassen haben im vergangenen Jahr, damit wir weiser werden, damit rein und dir wolgefällig werden unsre Vorstellungen von deiner Zukunft, von deiner Verherrlichung, von deinem immer wachsenden Reich auf Erden, damit wir auf dich immer sehen als treue Diener, die jederzeit bereit seyn können, in Frieden dahin zu fahren. Ja reinige unsre Herzen immer in jedem Augenblicke, wo wir unsre Fürbitten dir empfehlen und wenn wir dich bitten, dich auch nicht unbezeugt zu lassen im folgenden Jahre, so segne den König, seine Räthe und sein ganzes Haus, so segne uns alle, daß wir dir wohlgefällig | werden und würdig ein Volk des christlichen Namens und daß sich unter uns immer mehr erbaue das geheime Reich deines Sohnes im Herzen der Menschen. Laßt uns gestärkt werden im wahren Vertrauen zu dir, daß allen die dich lieben, alles zum Besten gereichen 10–12 Vgl. 1Kor 3,16; 6,19
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müsse und so laß uns fester werden im Glauben, den die Welt und die Pforten der Hölle nicht erschüttern können und so auf das Eine gerichtet seyn, was Noth ist vor dir. Amen.
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Am 1. Januar 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Neujahrstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 3,13–14 Nachschrift; SAr 39, Bl. 11r–24r; Jonas Keine Nachschrift; SAr 38, S. 9–23; Jonas Nachschrift; SAr 47, Bl. 1r–10r; Jonas, in: Balan Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Berliner Intelligenz-Blatt: Vor der Predigt Vokalmusik
Vormittagspredigt, gehalten am Neujahrstage 1817.
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M. A. F. Nur in einem Theil des Gott besonders geheiligten Gebietes der Christenheit wird heut ein neues Jahr begonnen und so besonders Ein Tag von Wünschen und Entschließungen gefeiert. Aber auch in diesem Gebiete, wie viele unerwünschte Wünsche mögen sich heut in den Gemüthern der Menschen bewegen? wie viele theils die ihnen leid thun werden, wenn sie einmal in Erfüllung gehen, wie viele theils deren sie sich schämen müßten, wenn sie sie offen, ja hier im Angesicht Gottes bekennen sollten? wie viele Entschließungen, die nichts aussprechen, als die Mühseligkeiten des irdischen Lebens, in denen man nichts erkennen kann, als die zum Theil schweren Bande, mit denen der Geist an die Erde gefesselt ist? Doch, M. A. F., dies sollte wol nur auf einen flüchtigen Augenblick unsre Aufmerksamkeit auf sich ziehen; aber uns doch darauf führen, weil alles Verderbliche, Eitele | und Irdische auch in unserm Gemüthe wohnt, uns zu prüfen, ob unsre Entschließungen und Wünsche Gott wolgefällig sind, ob wir sie auszusprechen und ihm vorzutragen wagen, ob wir das thun können, indem wir uns unseres Verhältnisses zu ihm, unserer Kurzsichtigkeit und seiner Weisheit, indem wir uns unsers ungeduldigen und trotzigen Sinnes und seiner langmüthigen Liebe und Güte bewußt sind. O diese Ueberzeugung ist es, die uns wol vorzüglich beschäftigen soll in dieser feierlichen Stunde gemeinsamer Andacht. Laßt uns den Herrn bitten um Seegen dazu in dem Gebet seines Sohnes. 2–3 Ps 143,10 als Kanzelgruß
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Tex t. 2. Petr. III, 13. 14.
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Diese Worte, M. A. F., sind noch in genauem Zusammenhange mit denen, welche wir am letzten Sonntag des nun vergangenen Jahres betrachtet haben. Sie verhalten sich zu ihnen eben so, wie unser Blick rückwärts in die Vergangenheit und unser Blick hinaus in die Zukunft. Wie wir durch die damals | erwogenen Worte am besten in den Stand gesetzt wurden, auf eine gottgefällige Weise in die Vergangenheit zurückzusehen, so mögen diese Worte am heutigen Tage das Maaß seyn unserer Wünsche und unserer Entschließungen und wie sie von selbst beides uns vor Augen halten, so laßt uns beides miteinander näher betrachten.
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I. „Wir warten aber eines neuen Himmels und einer neuen Erde, nach seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnet.“
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Diese Worte, M. A. F., beziehen sich sehr deutlich ebenfalls auf die damals unter den Christen allgemein verbreitete Erwartung der baldigen Wiederkunft des Herrn, um sein Reich von allem, was ihm fremd und feindselig war, zu sondern und dasselbe, so wie diejenigen, welche demselben anhingen, aufs Neue in eine nähere, engere Verbindung mit ihm selbst zu bringen. Aber auch unsre | Wünsche und Erwartungen von der Zukunft sollen eben ganz und gar in diesen Worten beschrieben und beschränkt seyn. Wenn wir verdienen, Jünger des Erlösers genannt zu werden, so sollen wir auch nichts anderes wünschen, als die Zukunft seines Reichs, und alles, was wir von der Zukunft erwarten auch schon in der gegenwärtigen Ordnung der Dinge, soll nichts anderes seyn, als eine immer nähere Verbindung mit ihm und eine immer neue Verherrlichung seiner. Neues, M. A. F., erwarten wir alle von der Zukunft; mögen wir es uns auch auf das bestimmteste sagen, daß von der einen Seite angesehen nichts Neues unter der Sonne geschieht, so erwarten wir doch, daß eine Gestalt menschlicher Dinge mit der andern wechsele, Altes vergehen und Neues an die Stelle treten solle, freilich weniger in einer ganz ruhigen und sich still und ohne große Bewegungen abwickelnden Zeit, wie wir sie alle in den früheren Jahren unsers | Lebens genossen haben. Aber wenn wir in solcher Zeit weniger erwarteten, so ist in solcher auch eine kleine Veränderung schon etwas Großes, Bedeutendes, die in bedeutenden Zeiten kaum bemerkt wird, und es ist also doch immer und überall dasselbe. Und auf der einen Seite kommen die Worte des Apostels unserm menschlichen Gefühle so sehr entgegen, indem er sagt: „wir sollen erwarten einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Erwartet der Mensch nur irdisches Neue, ach so ist er auch ganz dem Irdischen, Vergänglichen ergeben und verkauft, so ist seine Seele von dem hohen 2–4 Vgl. 29. Dezember 1816 vorm. (über 2Petr 3,3–9)
27–28 Vgl. Pred 1,9
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Geiste, der von oben kommt, nicht belebt, so kriecht er, seiner selbst unwürdig, im Staube. Aber vergebens würden wir uns auch mit der Vorstellung täuschen, als ob auch der Vollkommenste unter uns nichts Irdisches erwarte, sondern nur etwas Himmlisches. Nein, auch im Himmel sucht der Mensch die Erde wieder. | Wie hoch er sich auch emporschwinge zu nur geistigen Erwartungen, wie bereit er auch sey, jedes niedere, irdische Wolbefinden, wie es jetzt gestaltet ist, hinzugeben: es muß sich doch auch immer an seine geistigsten Wünsche und Erwartungen etwas Irdisches anknüpfen; alles Höhere, alles Himmlische und was er Vortreffliches mit seinen Gedanken erreicht, es hat alles seine irdische Seite und auch der neue Himmel wäre für ihn nicht gemacht, wenn nicht auch in ihm und unter ihm eine neue Erde sich gestaltete. Darum das kann, das darf uns zum Vorwurf nicht gereichen, wenn unsre Wünsche und Erwartungen die vergänglichen und irdischen Verhältnisse im Auge haben, wenn nur die neue Erde, die wir erwarten, die Tochter ist des neuen Himmels, der in uns aufgehen soll, wenn wir nur in unsern Wünschen nicht trennen, was Gott | verbunden und geordnet hat, wenn wir nur seine ewige Ordnung und sein erstes Gesetz nicht umkehren, wenn wir nur das sehen und erkennen, daß unsere Wünsche und Erwartungen, die wir für die neue Erde haben, nur erfüllt werden können, wenn der neue Himmel in uns und für uns ist, wenn wir nur alle Verbesserungen in unserm geselligen Leben von nichts anderem erwarten, als von der Herrschaft des Himmels in unsern Gemüthern, von nichts anderem, als davon, daß sich das ewige Leben, das der Sohn Gottes ans Licht gebracht, und der Himmel, den er in unser Gemüth gepflanzt hat, dieses sich in uns immer mehr pflanze und ausbilde. Auf der andern Seite scheint es aber wieder, als ob die Worte des Apostels, wenn gleich sie unmittelbar auf eine weit größere Veränderung gehen, als alles, was wir in der nächsten oder in der uns überhaupt auf Erden | erreichbaren Zukunft erwarten, dennoch unsern Wünschen und gerade unsern besten Wünschen sich nicht einmal willkommen zeigen. „Einen neuen Himmel und eine neue Erde, worin Gerechtigkeit wohnet.“ Gerechtigkeit ist, wie wir es gewöhnlich gebrauchen, ein strenges und kaltes Wort. Es hängt sich bei uns gewöhnlich an die Vorstellung irgend eines äußerlichen Buchstabens und Gesetzes und wir können uns denken, daß es einen Kreis des irdischen Lebens unter den Menschen gebe, wo Gerechtigkeit wohnt, aber wo wir doch nicht wohnen mögten; denn wenn es außer der Gerechtigkeit an der Liebe, an einem frischen Leben des Geistes fehlt, das den Menschen von innen zu allem Guten und Herrlichen treibt, wozu ihm noch kein äußerer Buchstabe gegeben ist, was mögten wir mit solchem neuen Himmel, mit solcher neuen Erde beginnen? Aber freilich, wenn wir bei dieser Vorstellung stehen blieben, | so würden wir unsre Gedanken auch nur auf die neue 25 und] uns
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Erde richten; vom Himmel wäre nicht die Rede, denn in diesem giebt es kein Reich des todten Buchstabens und des Gesetzes. Aber von welcher Gerechtigkeit ist denn auch die Rede? von solcher, die in dem neuen Himmel und auf der neuen Erde wohnen soll nach seiner Verheißung, nach der Verheißung unsers Herrn und Meisters. Und was ist das für eine Gerechtigkeit? Es ist die Gerechtigkeit Gottes gegen den Erlöser, des ewigen Vaters gegen den Sohn, der sich hingegeben hat für das sündige Geschlecht der Menschen, der nun gekrönt mit Preis und Ehre den Lohn fordert, den ihm der Vater verheißen hat, den Lohn, daß ihm viele werden sollten zur Beute, den Lohn, daß sich vieler Kniee vor ihm beugen sollten, daß da, wo er ist, in derselben Seeligkeit, in derselben Fülle des geistigen Lebens, in derselben Gemeinschaft mit Gott auch alle seine Diener seyn sollten, den Lohn, den er | schon in seinem hohen priesterlichen Gebet vom ewigen Vater fordert: „ich will, daß sie Eines sind, wie wir Eines sind, du in mir und ich in ihnen.“ Ja, M. A. F., einen neuen Himmel in unsern, in aller Christen und aller Brüder Herzen und eine neue Erde um uns her, worin diese Gerechtigkeit wohnt und regiert, o was können wir Größeres wünschen?! Und diesem Wunsche sollen wir uns ergeben, auf diesen Himmel und auf diese Erde sollen wir warten; und was können wir bei solcher Verheißung wol Geringeres thun, als an diesem Tage hier vor Gott und in der Nähe des Erlösers, hier mit einem von lebhaften und der Mühe werthen Wünschen erfüllten Gemüthe uns auch von allen andern Wünschen, die von diesem nicht ein wesentlicher Theil sind, reinigen und sie aus unserm Gemüthe entfernen? Daran soll doch unsre Seele genug haben, wenn solche Gerechtigkeit wohnt auf der neuen Erde und was können wir | mit aller Zuversicht, ja ich mögte sagen mit allem Trotze, jeder für sich und jeder für alle, was können wir für einen neuen, herrlicheren Himmel erwarten, als den, in welchem diese Gerechtigkeit wohnt? Wie viel oder wie wenig jeder von uns gar auszustreichen habe und zu bereuen auch von den ernsteren Bildern der Zukunft, mit denen wir zuerst in dieses Jahr eingetreten sind, das sey dann der stillen Ueberlegung eines jeden überlassen, aber möge nur jeder wissen, je weniger von selbst sich Wünsche und Erwartungen in ihm gestaltet haben, die diesem entgegen sind, um desto näher ist ihm der neue Himmel in seinem Herzen, desto mehr kann er thun, um auch die neue Erde gestalten zu helfen, in welcher Gerechtigkeit wohnt; je mehr wir aber von unsern Gedanken, Wünschen und Erwartungen als dem zuwiderlaufend, als mit dem nicht verbunden erkennen müssen, desto mehr thut uns | Noth, demüthig unser Herz zu reinigen vor Gott, ihm zu bekennen unsern Unglauben und den Seegen des Glaubens, der reinen kindlichen Zuversicht, die nur seinen heiligen Willen zum Gegenstande hat, von ihm zu erbitten. 14 Vgl. Joh 17,22–23
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II. Wolan denn! M. A. F., von dieser Läuterung und Prüfung unserer Wünsche ist [es] nur ein Schritt zu den Entschließungen, mit welchen wir das neue Jahr beginnen sollen, und „weil wir denn darauf warten sollen“ sagt der Apostel, „so thut Fleiß, daß ihr vor ihm unsträflich und unbefleckt im Frieden erfunden werdet.“ Wie jene Worte alle unsre gottgefälligen Wünsche in sich schließen, so diese alle die guten Vorsätze, die wir heute fassen, zu denen wir uns gegenseitig ermuntern und in welchen hier jeden die Gegenwart des andern, die Gegenwart der gleichgesinnten Gemüther | befestigen soll. Es scheint freilich, M. A. F., mit den Vorsätzen des Menschen, mit seinem Thun und Wirken für die Zukunft und demjenigen, dessen er im Voraus gedenket, sehr wenig übereinzustimmen, daß wir warten sollen des neuen Himmels und der neuen Erde; allein wir wissen es wol alle, daß das Warten ein zwiefaches ist: das Eine das Harren, das dem Menschen zur Thorheit gereicht, weil es aus seiner Thorheit und Eitelkeit entspringt; das Andre das Harren, welches keinen zu Schanden werden läßt. Warten sollen wir aber, so daß jeder entschlossen sey, in jedem Augenblicke frisch alles zu thun, was ihm vorkommt, wodurch, wie wenig es auch sey, beigetragen werden kann, daß das Reich der Gerechtigkeit, daß der neue Himmel und die neue Erde uns näher komme, warten, M. A. F., müssen wir dessenungeachtet; denn nur selten sind im menschlichen Leben die großen | Augenblicke, wo auf eine fühlbare und sichtbare Weise vieler Menschen Kräfte vereinigt werden, in kurzer Zeit große Wirkungen hervorzubringen, die aber auch nicht könnten hervorgebracht werden, wenn sie nicht seit langem vorbereitet wären durch stilles unmerkliches Wirken, durch unscheinbares und kaum fühlbares Bilden des göttlichen Geistes. In diesem letzteren sollen und müssen wir immerdar begriffen seyn, dessenungeachtet aber auf das, was das Ziel unserer Wünsche ist, warten, weil wir mit dem Auge des irdischen Verstandes, der nur ein kleines Gebiet zu übersehen vermag, nicht berechnen können, was oder wie viel und für welchen Zeitpunct dasjenige, was wir thun, zur Erfüllung unserer Wünsche wirkt; warten müssen wir in dem lebendigen Gefühl, (und das gilt nicht nur von uns, die wir einen beschränkten | Wirkungskreis haben, sondern auch von denen, die irgendwie an der Spitze der menschlichen Angelegenheiten stehen,) was jeder Einzelne thun kann, ist für sich nichts, gar nichts, und er muß warten, bis Gott ihm das Gedeihen bringt durch eine große Menge von anderen, die ihm fern sind und unerreicht. Ja so ist es, M. A. F. Von oben herab kommen alle gute Gaben vom Vater des Lichts. Er sendet seinen Geist. Der allein kann bewegen, was ohne ihn tod seyn würde, von dem kommt jede Regung nach dem neuen Himmel und der neuen Erde im menschlichen Gemüthe und kein anderes Wirken hat 38–39 Vgl. Jak 1,17
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Gott in dieser Welt, als das Wirken seines Geistes im Herzen der Menschen. Darum kann das Warten kein unthätiges und leeres Harren seyn, denn die Segnungen Gottes kommen nur durch menschliches Thun, mußte doch selbst das große | Werk der Erlösung von Anfang an ein menschliches seyn. Aber warten müssen wir alle, weil jeder Einzelne nichts ist in diesem unübersehbaren Meere von Bewegungen und Wirkungen des Geistes, weil jeder die Kraft von dem, was da werden soll, nicht in sich selbst hat; sondern sie ist nur in dem, der über alles waltet und auf dessen Offenbarung wir harren müssen, weil ohne sie nichts kann erreicht werden, auch nicht das nächste Ziel. So sehen wir also, das Warten auf den neuen Himmel und die neue Erde hebt nicht unsre guten Vorsätze und Entschließungen auf, ja sie können ohne dasselbe nicht einmal statt finden und so sagt der Apostel weiter: „weil ihr darauf warten sollet, so thut Fleiß, daß ihr vor ihm unbefleckt und unsträflich im Frieden erfunden werdet.“ Mit dem Frieden, M. A. F., ist es, wie mit dem Warten. Das müssen wir wol besonders fühlen, denen | in der letzten Zeit so große und ausgezeichnete Gaben und Segnungen Gottes nur nach blutigen Unterbrechungen des Friedens, nur nach bitterm und hartem Kampfe geworden sind. Wir sollen das Gute nicht überwinden lassen vom Bösen, wir sollen Widerstand leisten und kämpfen gegen alles, was sich dem Reiche der Gerechtigkeit entgegensetzt, wir sollen Krieg führen mit der Welt, in welchem der Glaube den Sieg gewinnt. Davon spricht uns nichts in der Welt los. Aber dennoch sollen wir im Frieden erfunden werden. Unter uns, die wir Glieder eines Leibes sind, die wir vereinigt sind zu diesem Kampfe, unter uns, in denen die Keime dessen seyn sollen, was sich immer herrlicher entfalten muß, unter uns sollte ja wol nichts anderes herrschen, als Friede und es entweiche in diesem Augenblicke jeder Wunsch, jede Erwartung, jede Entschließung, die eine Störung dieses Friedens bewirken könnte. Wir, die wir | vereinigt sind in dem Dienste desselben Herrn, seines Wortes und Winkes gewärtig, o wie könnten wir je anders, als immer im Frieden erfunden werden? Und indem wir auf seinen Wink und auf sein Gebot den Kampf gegen das Böse durchfechten, durch die Kraft seines Lichts und seiner Wahrheit die Werke der Finsterniß zerstören, wie wir denn dazu berufen sind, so soll auch das geschehen mit einem Gemüthe, welches sich im Frieden sehnt nach dem Reiche der Gerechtigkeit, welches, wie der Erlöser auch that, selbst diejenigen, welche noch seine Feinde sind und es auch scheinen bleiben zu wollen ungeachtet seiner Liebe, selbst diese mit Liebe umfaßt und durch den Kampf sie nur zu dem Frieden leiten will, dessen wir uns erfreuen. Wenn wir dagegen nichts vorbringen können in unsern Gott wolgefälligen Vorsätzen | und Entschließungen, wenn uns das Wort recht ein18–19 Vgl. Röm 12,21 Lk 6,27–28
23–24 Vgl. 1Kor 12,12–31
35–37 Vgl. Mt 5,44–45;
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geprägt seyn soll, daß wir Fleiß thun wollen, im Frieden erfunden zu werden, so laßt uns denn auch, wie uns das Reich der Gerechtigkeit nicht zu wenig seyn soll für unsre Erwartungen, auch das nicht zu wenig seyn für unsre Entschließungen, daß wir so unsträflich und unbefleckt werden, wie wir es werden sollen, um gerecht vor ihm erfunden zu werden. Aber freilich lassen auch diese Worte einen zwiefachen Sinn zu. Mancher erscheint gut und unsträflich, von dem wir doch nicht sagen mögten, daß er mit zuversichtlichem Gemüthe wartet auf das Reich der Gerechtigkeit, denn unsträflich nennen wir oft den, dem der äußere Buchstabe des Gesetzes nichts anhaben kann in seinem Wandel, in welchem das nach diesem Maaße richtende Auge des Menschen nichts wahrnehmen kann, was nicht rein wäre und licht. Aber das | fühlen wir, das berührt das Gebiet unserer Entschließungen nicht, denn die Welt könnte voll seyn solcher Unsträflichen, ohne daß der neue Himmel näher käme. Aber es ist ja die Unsträflichkeit und Unbeflecktheit vor ihm, von der wir reden. Wer ist unsträflich vor ihm? Der reines Herzens ist und reine Hände aufheben kann. Wer ist unsträflich vor dem Erlöser? o nur der Knecht, den er immer wachend findet, wenn er kommt, der jeden Augenblick mit voller Lust und Liebe des Herzens im Glauben und in der Demuth arbeitet an seinem Weinberge, seiner Geschäfte wahrnehmend, die großen Gaben, die er ihm verliehen hat, benutzend für den heiligen Zweck seines Werkes, sie nicht verscharrend in die Erde, sondern sie anwendend, Frucht damit zu schaffen, so viel er kann. Unsträflich ist nur der, der, wenn er weiß, daß er alles, was er konnte, | gethan hat, dennoch sich schuldig fühlt wegen der Gaben und Kräfte, die ihm von oben gegeben sind, der, wenn er gleich weiß, dies hat er alles gethan, sich dennoch für einen unnützen Knecht hält, keines Ruhmes, keines Lobes, keiner Belohnung weiter würdig, dennoch den, der dieses Wort gesprochen, nicht für einen harten Herrn hält, sondern für einen liebevollen, der uns recht nahe zu sich ziehen will und uns vor Augen hält, wie viel wir ihm schuldig sind. Wer ist unbefleckt vor ihm? Derjenige, M. A. F., in dessen Herz kein Arges mehr kommt, der nicht nur nicht mehr der Sünde und in der Sünde lebt, sondern der sich ganz verhält, als eine Rebe am Weinstock, als ein Glied am Haupte; in dem allein, der sein Leben ganz aus dem Erlöser zieht, der ganz von ihm durchdrungen ist, in dem allein ist kein Flecken der | Stockungen, deren unreine Säfte den Krankheitsstoff verursachen; der nur ist unbefleckt, der, eben weil keiner ein solcher ist, sich immer wieder in Demuth und im Glauben wäscht in jener reinigenden Quelle, die uns allen der Erlöser eröffnet hat, der sich immer wieder zu ihm wendet, um sich von ihm heiligen zu lassen. „Laßt uns Fleiß thun, daß wir vor ihm unsträflich und unbefleckt im Frieden erfunden werden.“ O gewiß, M. F., so betrachtet 15–16 Vgl. Ps 24,4 22 Vgl. Mt 24,18.25
17 Vgl. Mt 26,40–46; Mk 14,37–42; Lk 22,45–46 21– 32 Vgl. Joh 15,5 33 Vgl. 1Kor 12,12–31; Eph 4,15–16
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ist das das Höchste, wozu unsre Vorsätze und Entschließungen sich erheben können. Wir sind hier als Menschen, welche sich beschauen im Spiegel des göttlichen Wortes und nicht vergessen, wie sie gestaltet sind, wir sind hier als Brüder menschlicher Schwachheiten, die nicht Ursach haben, sich zu verheimlichen, wie viel sie werth sind, denn der | Eine, der alles erleuchtet, weiß es ja doch. Was können wir also thun, als im Bewußtseyn unserer Schwachheit uns darauf das Wort geben, Fleiß zu thun, je länger je mehr minder sträflich und befleckt vor ihm erfunden zu werden, uns das Wort darauf geben, uns und die Welt mehr als bisher zu verleugnen und ihm allein leben zu wollen, uns das Wort darauf geben, daß keiner suchen wolle, was sein eigen ist; (denn da finden wir nur das Vergängliche und Ueberflüssige) sondern daß jeder treu arbeiten wolle in dem Reiche des Herrn und für dasselbe. Wolan! M. A. F. so unsre Erwartungen und Entschließungen zu reinigen und zu heiligen vor Gott, das soll für uns alle der Seegen des heutigen Tages seyn. O es mögen verschwinden in dieser frommen Stunde alle nur irdi|schen Bilder aus unserm Gemüthe! Christlich mögen sich unsre Wünsche und unsre Entschließungen gestalten! Auch die Erde wird dabei nicht zu kurz kommen, sie kann vielmehr dadurch nur die neue Erde werden auf der wir wohnen. Und den Bund vor allem laßt uns von Neuem befestigen, seine Diener und seine Werkzeuge zu seyn! Das hebt uns am sichersten in den neuen Himmel, dessen wir harren und eben dadurch wird sich auch die neue Erde unter unsern Füßen unsern besten und heiligsten Wünschen gemäß gestalten. Warten aber sollen wir darauf und, wie der Apostel in den folgenden Worten sagt, die Geduld des Herrn für unsre Seeligkeit achten, der Worte eingedenkt, die wir neulich erwogen haben, daß er seine Verheißung nicht verzieht, sondern daß er alle locken will zur Buße. Amen. – | Gebet. Himmlischer Gott und Vater! Dein Wort hat auch in dieser Stunde unsre Herzen gereinigt und mit geläutertem Gemüth vereinigen wir uns itzt bittend und flehend um deinen Seegen und deine Gnade vor dir. O erhalte du uns vor allem in der wahren und lebendigen Gemeinschaft deines Sohnes, sende du vor allem auch in diesem Jahre unsers Lebens von oben herab deinen Geist in unsre Herzen, daß er allein in uns walte und wirke, was wolgefällig ist vor dir. Der Geist kommt aus dem Glauben, der Glaube aus der Predigt. O so erhalte du uns denn die reine Verkündigung deines Wortes, laß uns immer reichlicher die Segnungen desselben genießen und mit dankbarem Gemüth dich preisen, daß du uns gewürdigt hast deiner großen und herrlichen Offenbarung. Und als ein christliches Volk bringen wir denn | auch Flehen und Gebet vor dich über unsre gemeinsamen Angelegenheiten. Ja fahre fort zu seg26 Vgl. 29. Dezember 1816 vorm.
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nen unser Vaterland, daß es sich erbaue je länger je mehr zu deinem Tempel, daß wir uns gestalten zu einem dir angenehmen Volk, in welchem alle Güter reichlich verbreitet sind, die dem gebühren, den dein Sohn frei gemacht hat. O laß auch in unsern irdischen Verhältnissen das Himmlische walten, daß uns niemals Eines vom Andern getrennt sey. Dazu laß dir gesegnet seyn die Regierung deines Knechtes, unsers Königs. Verleihe ihm weise Gedanken, heilsame Rathschläge, Kraft und Muth, was er erkannt hat in dem Lichte deiner Wahrheit, auszuführen als deinen Befehl. Segne sein ganzes Haus. Für dieses, wie für jedes andre giebt es nur eine Quelle des wahren Wolergehens. Daraus laß es auch in diesem Jahre schöpfen und nehmen aus | dieser Fülle Gnade um Gnade. Segne du, die unter der Leitung des Königs am Wohl des Vaterlandes mitarbeiten. Verleihe ihnen Einsicht, Eifer und Kraft, erleuchte ihre Herzen und ihren Verstand, damit sich das allgemeine Wohl durch sie immer mehr befestige. Aber auch uns alle laß Theil nehmen an deinen Segnungen von oben. Wir die wir im höhern Sinne die Wartenden sind, o laß auch uns ein Weniges beitragen zur Erfüllung der dir wolgefälligen Wünsche und Erwartungen für die zukünftige Zeit. Laß uns alle Fleiß thun, daß wir unsträflich und unbefleckt erfunden werden, erhalte uns harrend in dem Glauben an deine Gnade, damit wir nie zweifeln, denen, die dich lieben, müsse alles zum Besten dienen, daß wir nicht zweifeln, jede deiner gnädigen Verheißungen müsse in Erfüllung gehen. Amen.
[Liederblatt vom 1. Januar 1817:] Am Neujahrstage 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft uns etc. [1.] Heilig ist der Gott der Götter, / Erbebt, erblaßt ihr frechen Spötter, / Die ihr des Herrn Gesez verhöhnt! / Mit gerechtem Abscheu siehet / Er den, der Licht und Wahrheit fliehet, / Und knechtisch nur der Sünde fröhnt. / Fluch und Verderben ruht / Auf dem der Böses thut, / Gott ist heilig! der Frevler Schaar umringt Gefahr / Und Schrecken Gottes immerdar. // [2.] Heilig war sein Sohn auf Erden; / Ihm täglich ähnlicher zu werden, / Ist unser göttlicher Beruf. / Ehren sollen wir im Stillen / Gleich ihm des großen Vaters Willen, / Der zur Vollkommenheit uns schuf. / Wer sagt, er kenne ihn, / Muß alles Böse fliehn. / Gott ist heilig, wie glänzt am Thron des Christen Lohn, / Der heilig lebt, wie Gottes Sohn! // [3.] Heilig ist der Geist der Gnade, / Der auf der Wahrheit lichtem Pfade / Dem höhern Ziel uns näher führt. / Glücklich wer 11–12 Vgl. Joh 1,16
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des Geistes Triebe / Zu Gottesfurcht und Bruderliebe / Und frommen Werken in sich spürt. / Des Herz ist fromm und rein, / Und Jesus nennt ihn sein. / Gott ist heilig! O folge gern dem Geist des Herrn, / Sein Licht, o Mensch, ist dir nicht fern! // [4.] Laßt uns denn als Christen ringen / Den Kampf des Glaubens zu vollbringen, / Wie Christus uns ein Beispiel gab. / Aehnlich ihm sein unsre Herzen, / Vergnügt in Gott, getrost in Schmerzen / Und ausgesöhnt mit Tod und Grab. / Zur besten Welt erhebt / Gott den, der heilig lebt. / Gott ist heilig! ihm ähnlich sein vermag allein / Uns ewig, ewig zu erfreun. // (Mohn.) Nach dem Gebet. Chor. Alle eure Sorgen werft auf den Herrn, denn er sorget für euch. / Treulich Herr auf deinen Wegen laß mich wandeln immerdar, / Sei bei mir mit deinem Seegen, rette Gott mich in Gefahr. // Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hülfe in den / großen Nöthen, die uns troffen haben. Darum fürchten wir / uns nicht; wenn gleich die Welt unterginge, und die Berge / mitten ins Meer sänken. // Gemeine. – Mel. Wie wohl ist mir o Freund. Herr den die Sonnen und die Erden / Durch ihren Bau voll Pracht erhöhn, / Durch dessen Machtwort Welten werden / Und Welten wieder untergehn! / Dein Thron Gott bleibet ewig stehen, / Du bleibst derselbe, wir vergehen; / Wie schnell verströmet unsre Zeit! / Schon wieder ist von unserm Leben / Ein Jahr das deine Huld gegeben, / Im Abgrund der Vergangenheit. // Chor. Kommt, dies sei uns ein Tag des Bundes! / Dem frommen Bunde bleibet treu, / Und den Gelübden eures Mundes / Stimm eure Seele redlich bei. / O Land! gelobe Gott zu dienen, / Und Du wirst wie ein Garten grünen, / Den er sich selbst gepflanzet hat. / Geht, Brüder, geht auf seinen Wegen; / Dann macht sein unerschöpfter Segen / Aus seiner Füll euch täglich satt. // Gemeine. Gott schau herab von deinen Höhen, / Auf uns, als Kinder die Du liebst, / Erhöre, die in Christo flehen, / Gieb, wie Du Deinen Kindern giebst. / Erhalte deiner Kirche Wächter, / Daß noch die spätesten Geschlechter, / Die Predigt deines Worts erfreu. / Durch sie laß Segen auf uns fließen, / Dem Pflanzen Herr und dem Begießen / Gieb Gnade, daß es stets gedeih. // Unter der Predigt. – Mel. Nun laßt uns gehn und etc. Lob Dir, Du schenkst aufs neue / Uns deine Vatertreue! / Lob sei den starken Händen, / Die alles Unglück wenden. // Nach der Predigt. Laß keine Seel ihr Heil verscherzen, / Und mache selbst die Thoren klug, / Gieb deine Kraft den schwachen Herzen, / Den dürftgen Muth und Trost genug! / Für Ihn flehn wir um Heil und Leben, / Den König den Du uns gegeben, / Durch Furcht vor Dir besteh sein Thron! / Laß ihn auf Licht und Wahrheit schauen / Durch Recht des Reiches Wohlfahrt bauen, / Der Herzen Liebe sei sein Lohn. // (J. A. Schlegel.)
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1. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,35–40 Nachschrift; SAr 38, S. 25–30; Jonas Keine Keine Beginn einer Reihe von Predigten über die Berufung der ersten Jünger Jesu vom 12. Januar bis zum 9. Februar 1817 (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am 1. Sonntag p. epiph. 1817 von Schleiermacher.
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Wir wollen uns einige Zeit damit beschäftigen; daß wir den Erlöser betrachten nicht im Streit mit den Menschen, sondern wie er diese zu sich lockt und um sich her versammelt und also in dem ersten Theil der Stiftung seines Reiches. Da sind wir denn ganz in dem Reich der Liebe und der Barmherzigkeit. O daß wir erfüllt seyn mögten von dem Geist desselben und daß wir uns losmachten von aller Beschränkung und den Verhältnissen der irdischen Welt! Tex t. Joh. I, 35–40.
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Der andre dieser beiden war Johannes, der Verfasser unsers Evangelii und [es] geschah dieses am 3. Tage nach der Taufe Christi. Seht da! die ursprünglichste und einfachste Weise ein Jünger Christi zu werden, wird uns dargestellt. Laßt uns I. die Erzählung selbst genauer betrachten und II. auf uns und alle unsre Verhältnisse deren Anwendung machen. I. Um diese Geschichte genau zu verstehen, müssen wir auf Johannes des Täufers Lehre zurückgehen. Er trat auf, die Stimme eines Predigers in der Wüste, der da verkündet, daß das Reich Gottes nahe herbei gekommen sey, der gegen die stritt, welche schon vermöge ihrer Geburt ein Anrecht zu haben vermeinten an der göttlichen Gnade. Er forderte sie auf durch seine | Taufe, sich erst zu reinigen, Buße zu thun und rechtschaffene Früchte der 10 Schleiermacher identifiziert den in Joh 1,40 namentlich nicht genannten Jünger als Johannes den Evangelisten. 18–19 Vgl. Joh 1,19–42 18–19 Mt 3,3; Mk 1,3; Lk 3,4; Joh 1,23 (mit Zitat aus Jes 40,3) 20–5 Vgl. Mk 1,15
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Buße. Wer aber der wahre Messias sey, das wußte er vorher nicht, er wußte nur, daß er nicht auftreten werde als äußerlicher Befreier. Da kam Christus und ließ sich taufen. Da wurde dem Johannes das Zeichen, das ihm Gott gab, dieser sey es, der nicht bloß mit Wasser, sondern mit Feuer taufen werde. Es war ihm nun deutlich, wer es sey und er ruft aus: sehet, das ist Gottes Lamm. Der Unschuldige will die Sünden der Welt tragen. Am andern Tage zeigt er wieder auf ihn, in seiner Demuth von sich weg auf ihn: sehet, das ist Gottes Lamm. Und als jene Jünger ihn so reden hörten, gingen sie Christo nach. Christus aber wartete gleichsam auf die Wirkung des Wortes Johannis. Er wandte sich um und trug ihnen sein Herz entgegen. Wen suchet ihr? und sie wußten nichts anders ihm zu sagen: Meister wo bist du zur Herberge? Was er sprach und wie sie mit ihm gingen, bestimmte das Geschick ihres Lebens. Sie wiesen nun andere zu ihm hin. Das ist das einfache Wesen dieser Geschichte.
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II. Wir wollen darüber einige nahe liegende Betrachtungen machen: a. Es ist gar zu oft wiederholte Meinung, daß wenn der Mensch sein Herz Christo zuwendet und die Verbindung mit ihm angeht, dies nicht etwas | leichtes sey, sondern die Wirkung schweren Kampfes des Gemüths und daß gerade so die Wiedergeburt des Menschen ausgezeichnet sey. Wie wenig dies im allgemeinen könne gesagt werden, sehen wir aus dieser Geschichte deutlich. Vorher waren diese Jünger noch nicht Schüler Christi. Sie waren nur bereit, die den Menschen zerknirschende Lehre des Johannes anzunehmen. Leicht war ihr Uebergang. Es gehört nur dazu, daß wenn der Mensch erst das eingesehen hat, daß äußere Vorzüge der Handlung sein Verhältniß zu Gott nicht bestimmen, wenn er erfüllt ist von dem Verlangen nach Gott, er sich auf den Ruf mit festem Willen entschließe, Christo zu nahen und bei ihm zu bleiben. Und das ist nichts schweres. Denn was anders ist der Wunsch Christi[,] uns zu sich zu ziehen, als der Ruf Christi, kommt her zu mir, cet. wie kann er anders als [als] Brüder sie alle aufnehmen. Sollen wir deshalb sagen, der Mensch könne sein Heil schaffen anders, als unter Furcht und Zittern? Wahrlich nicht. Zuerst schon nicht ohne innern Kampf, denn das Fleisch gelüstet schon gegen die ersten Vorbereitungen des Geistes. Mit Schmerz hielten sie sich zu Johannes. Johannes hatte selbst nicht gewußt, wer der Erwartete wäre, denn niemand kennet den Sohn, außer der Vater und wem es der Vater offenbaret. Als aber Christus erschien zur Taufe, da offenbaret es der Vater | dem Johannes und er erkennet nun 19 Kampfes] Kampes 4–6 Vgl. Mt 3,11; Lk 3,16 5–6 Vgl. Joh 1,29 30 Vgl. Mt 11,28–30 32 Vgl. Phil 2,12 35–36 Vgl. Mt 11,27 36–1 Vgl. Joh 1,29–34
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erst den himmlischen Sinn seines Berufs. Sehet das ist Gottes Lamm. Da offenbaret es auch ihnen der Vater, sie hätten nur ihm zu folgen. Manche Spuren von Schmerz finden wir in unsern Heiligen Schriften. Nicht von Anfang an war im Johannes die klare Liebe; denn einmal ist er nicht ganz durchdrungen von derselben, als er Feuer vom Himmel fordert und ein andermal bittet seine Mutter (welches ihm doch gewiß vorher bekannt war) den Herrn, ihre Söhne den einen zur rechten, den andern zur linken neben sich zu haben im Himmel. Das ist dem Sinne des Erlösers nicht gemäß. Es muß nicht leicht gewesen seyn, bis wir ihn zu jenem einfältigen Sinne umgewandelt sehen. Kämpfe muß es geben. Der Anfang aber kann kommen unter jener einfachen Gestalt. Der Geist hält sein eignes Maaß und der Mensch soll sich nicht einbilden, daß er darüber etwas aufstellen könne. b. Christus sagt: wenn sie euch sagen werden, hier oder da ist Christus, so glaubet ihnen nicht. Thaten die beiden Jünger etwas andres, als daß sie glaubten? Indessen zu andrer Zeit giebt Christus diese Warnung. Er hatte vorher gesagt, daß viele auftreten würden und sich für Gottes Gesandte ausgeben und denen sollten sie nicht glauben, denn das Reich Gottes komme nicht mit äußerlichen Gebehrden. Das müssen wir lernen, wird den Menschen auf diese | einfache Weise zugerufen, werden sie nur auf den heiligen Ruf Christi hingewiesen und Christus sey der, welcher die Sünde der Welt getragen und hinweggenommen, so kann jeder diesem Ruf getrost folgen. Was ihn dazu geneigt macht, ist die Liebe, dieselbe, womit sich Christus umsieht nach Bekennern. Aber wer auf einen andern Ruf hört, wer etwa äußere Erwartungen in seiner Seele nährt, oder wer sich durch das Wunderbare bestechen läßt, der kann nicht sicher seyn seines Zuges, bei dem ist es Glück, wie er das Wahre findet. Darum wollte Christus auch nie, daß die Menschen zu ihm gezogen werden sollten durch die Wunder, die er damals verrichten mußte. Darum muß es uns bedenklich seyn, wenn noch jetzt der Glaube vieler sich mehr zu gründen scheint auf die Wunder, als auf die einfache Stimme des Geistes. Darum ist es bedenklich wenn der Mensch auf irgend etwas Außerordentliches mehr Werth legt, als auf den stillen Zug des Geistes. Prüfe das jeder selbst. Müssen wir nicht dankbar seyn, daß sich Christus der Menschen bedient, ihm die Seelen zuzuführen. Das ist unser aller Beruf, vielmehr noch als es Johannes Beruf war. Wir gehören dem Erlöser an, wir sind ihm verbunden mit aller Liebe und Dankbarkeit. So laßt uns diese nie in der Stille unsers Herzens vergraben, sondern ausrufen: | das ist Gottes Lamm. Bisweilen werden wir sehen, daß die Men1 Joh 1,29 4 Hier bezieht sich Schleiermacher nicht wie zuvor auf Johannes den Täufer, sondern auf Johannes, den Jünger Jesu, auf den bereits oben nach der Bibeltextangabe hingewiesen wurde. 4–5 Vgl. Lk 9,54 6–8 Vgl. Mt 20,20–21 13–14 Vgl. Mt 24,23; Mk 13,23 15–17 Vgl. Mt 24,11.24–26; Mk 13,6.21–23; Lk 21,8 17–18 Vgl. Lk 17,20 20–21 Vgl. Joh 1,29 37 Joh 1,29
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schen auf unsre Stimme hören. Nicht nur das sind wir Christus schuldig, sondern dazu sollen wir von selbst geneigt seyn. Unsre heiterste Pflicht sey, die Menschen von uns wegzuweisen mit den Worten: sehet, das ist Gottes Lamm! So hat das Reich Gottes begonnen und so einfach geht es fort. Hängen wir an Christus aus keinem andern Grunde, als weil er das unschuldige Lamm Gottes ist, dann wird das Reich Gottes auch durch uns gefördert, dann wird auch er unsre Liebe und Streben erkennen hier, und vor seinem und unserm ewigen Vater. Amen.
[Liederblatt vom 12. Januar 1817:] Am ersten Sonntage nach Epiph. 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Was Gott thut, das etc. [1.] Dich Jesum laß ich ewig nicht, / Dir bleibt mein Herz ergeben! / Du kennst dies Herz, das redlich spricht, / Nur Einem will ich leben. / Der Glaubensbund / Hat festen Grund; / Die deiner sich nicht schämen, / Die kann dir niemand nehmen. // [2.] Dich Jesum laß ich ewig nicht! / Aus göttlichem Erbarmen / Gingst du für Sünder ins Gericht, / Und büßtest für mich Armen. / Aus Dankbarkeit / Will ich, erfreut / Um deiner Liebe willen, / Treu mein Gelübd’ erfüllen. // [3.] Dich Jesum laß ich ewig nicht! / Du stärkest mich von oben, / Auf dich steht meine Zuversicht, / Wenn meine Feinde toben. / Ich flieh zu dir, / Du eilst zu mir; / Wenn mich die Feinde hassen, / Wirst du mich nicht verlassen. // [4.] Dich Jesum laß ich ewig nicht; / Das Kreuz soll uns nicht scheiden, / Es bleibet jedes Gliedes Pflicht / Mit seinem Haupt zu leiden. / Doch all mein Leid / Währt kurze Zeit; / Bald ist es überstanden, / Und Ruh ist dann vorhanden. // (Bair. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht etc. [1.] Jesus ist des Höchsten Sohn, / Beugt euch tief vor ihm im Staube! / Er ist Gottes einger Sohn, / Wiederhol’ es laut mein Glaube! / Rühm’s voll Dank, daß Jesus Christ / Seiner Welt Erlöser ist. // [2.] Heil, Er kommt, es öffnen sich / Nun des ewgen Lebens Pforten; / Menschen werden brüderlich, / Ehren Gott an allen Orten; / Nicht mehr Furcht, nicht Sklavensinn, / Liebe treibt zu Gott sie hin. // [3.] Nein, was dieser Mund gelehrt, / Hatte nie ein Ohr vernommen, / Nein, so war des Menschen Werth, / Noch in keines Herz gekommen! / Nur durch Jesum, Gottes Sohn, / Steigt der Mensch zu Gottes Thron. // [4.] Daß mein Herz ihm ganz vertraut, / Daß es nichts auf Erden scheuet, / Daß es weiß auf wen es baut, / Wer ihm, wenn es fehlt, verzeihet, / Ach den Weg zum Licht hinauf, / Dies Geheimniß schloß Er auf. // [5.] Bande, 3–4 Joh 1,29
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die nicht Land und Meer / Die nicht Wahn und Meinung trennen, / Solche Bande knüpfte er, / Hieß sich Alle Brüder nennen. / Brüder, o das Herz wird weit, / Ja, ihr liebt euch, wo ihr seid! // [6.] Hochgelobter Gottessohn, / Dir verdank’ ichs, daß ich glaube; / Du versprichst der Treue Lohn, / Und Verklärung meinem Staube! / Hier wall ich im dunklen Ort, / Ganz Gott kennen werd’ ich dort. // (Jauer. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Seelenbräutigam etc. Deinen Frieden gieb, / Aus barmherzger Lieb! / Uns den deinen, die dich kennen, / Und nach dir sich Christen nennen, / Denen du bist lieb, / Deinen Frieden gieb. // Nach der Predigt. – Mel. Kommt her zu mir etc. [1.] An dich zu glauben, Herr an dich! / Wie sehnt, wie sehnt die Seele sich, / Die Schatten zu verlassen, / Dein Licht, du Quell des Lichts zu sehn, / Vertraulicher zu dir zu flehn, / Dich reiner zu umfassen. // [2.] Sei du mein Vorbild, du mein Licht, / Du Stab mir, Fels und Zuversicht! / Ja, wenn ich steh’ und wanke, / Wenn Glück und Elend mich umgiebt, / Sei du, der ewig ewig liebt, / Mein süßester Gedanke. // Vorausbezahlung wird auf den neuen Jahrgang wie gewöhnlich angenommen.
Am 26. Januar 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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3. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 5,1–11; Apg 22,1–16 Nachschrift; SAr 38‚ S. 30–35; Jonas Keine Nachschrift; SAr 40, Bl. 1v; Jonas Teil der Predigtreihe über die Berufung der ersten Jünger Jesu vom 12. Januar bis zum 9. Februar 1817 (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am 3. Sonntag p. epiphan. Was können wir einem Menschen seeligeres wünschen, als auf solche Weise, wie Andreas und Johannes zum Erlöser zu kommen. Aber bei diesen bildete sich mehr ein freundliches, seeliges Verhältniß des Einzelnen zum Einzelnen. Wären solche allein es gewesen, die zu Christo kamen und fragen wir, ob das Christenthum dann einen solchen Fortgang würde gehabt haben, so müssen wir es billig bezweifeln. Fragen wir, wer dieses befördern helfen, so war es besonders Petrus. Aber neben diesem stellt sich uns noch ein andrer dar. Es ist gestern, was wol nur noch wenige wissen mögen, der Tag gewesen, wo die Kirchen sonst das Gedächtniß Pauli feierten. Diese beide waren | es, die nicht für sich allein zufrieden mit dem Worte der Erlösung dasselbe in die weite Welt trugen. Laßt uns sehen, wie denn diese Christi Jünger geworden sind.
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1. Tex t. Luc. V, 1–11. Wenn wir auf unsern vorigen Text zurücksehen, wo Johannes und Andreas Christum suchen und ihm folgen, so lesen wir gleich darauf, Andreas habe zuerst seinen Bruder Simon gefunden, ihn zu Christo geführt und dieser habe ihm zugerufen: du bist Simon, Jonas Sohn, du sollst Kephas heißen, das ist Fels. Aber erst von unserm heutigen Text an können wir seine Jüngerschaft rechnen. Er erscheint also minder leicht beweglich und nicht auf ein fremdes Zeugniß erkennt er Christum an, aber auch dies nicht einmal im Gespräch mit Christus, sondern es bedarf tieferer Bewegung, auf daß er 9–10 Am 25. Januar wird das Fest der Bekehrung des Paulus gefeiert. Joh 1,35–39 16–19 Vgl. Joh 1,40–42
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Kephas würde, das ist verdollmetschet ein Fels. Worin lag dies? sollen wir ihm einen minder richtigen Blick zutrauen? soll er weniger durchdrungen gewesen seyn in seinem Innern? Es ist dies: er hatte weniger ein auf sein eignes Bedürfniß gerichtetes Gemüth, als ihm eben das allgemeine Bedürfniß im Sinne lag, etwas Großes müsse geschehen. Da mußte er der ersten Regung seines Herzens nicht trauen. Er konnte sich nur dem hingeben, den er für den Heiland der Welt erkannte. So sehn wir ihn in unserm Text. Wir sehen ihn da zu der Ueberzeugung gelangen: wer so die Gemüther treffen | könne, der sey der Mann von Gott gesandt. Dazu kam noch das Zeichen, das er that. Wir würden ihm gewiß Unrecht thun, wenn wir glauben wollten, darauf allein habe sich seine Ueberzeugung gegründet. Das hätte Christo nicht gefallen können. „Herr gehe hinaus von mir, ich bin ein sündiger Mensch[.]“ Das war der Ausdruck des vorher schon erfüllten Gemüths. So läugne ich aber auch nicht, daß dieser Erfolg gar nichts gewirkt hätte. Es war der damaligen Denkungsart angemessen, die Gott ausrüstete, hätten besondre Kraft über die Natur. Von Christo mußte dies gefordert werden. Nun also hat er Christum für den Mann Gottes, für den von Gott ausgerüsteten, erkannt. Und Christus sprach zu ihm: fürchte dich nicht, denn von nun an wirst du Menschen fangen. Er war nun eben so weit gediehen als Johannes und Andreas. Was bei ihnen spätere Wirkung war, das war für Petrus Beweggrund und fester Entschluß. So mag auch dies lehrreich seyn und warnen, daß wir nicht glauben es gäbe nur eine Art, zu Christo zu kommen. Nicht so leicht beweglich war Petrus, und in ein so zartes Verhältniß wie Johannes ist Petrus nie gekommen. Doch war er nicht der geringste unter den Aposteln, sondern er steht an ihrer Spitze. Auch jetzt giebt es Christen, die an Christo mit einer persönlichen, ganz eigenen Liebe hangen. Alle andre menschliche Empfindungen bleiben bei ihnen zurück. Sie wollten ihn mehr zu ihrer Besserung, zu ihrem Genusse haben. Das sind wohlbedürftige Menschen. Es giebt andre, die das Göttliche in Christo weniger erkennen, die aber den Glauben daran haben in der großen Erfahrung | von der Macht, die Christus ausübt in seinem Reich. Wollen wir diese gering achten gegen jene? Das wäre gegen den Sinn unsers Textes, dann vergäßen wir des Jüngers Petrus. O so laßt uns an dem großen Worte festhalten: „wenn nur Christus verkündigt wird“, (Phil. 1.18.) Verschiedene Einsicht kann jeder haben. Was hielt aber den Petrus an Christo? Der Glaube der sich seiner bemächtigte, indem er sprach: Herr gehe hinaus von mir, ich bin ein sündiger Mensch. Und diesen Glauben hat er nie verläugnet. Christus sprach zu seinen Jüngern, was glaubt denn ihr, daß ich sey? Da antwortete Simon Petrus: wir glauben, daß du seyst der Sohn des hochgelobten Gottes; und als Christus darauf sein Leiden verkündet, da 23–24 Vgl. Joh 13,23 40–1 Vgl. Mt 16,21
34 Phil 1,18
36–37 Lk 5,8
38–40 Vgl. Mt 16,15–16
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nahm ihn Petrus zu sich, fuhr ihn an und sprach: Herr schone deiner selbst, das widerfahre dir nur nicht (Matth. 16.22). Solche falsche Ansichten sind natürlich bei einem auf das Große gerichteten Gemüthe. Und wir sollten uns verwirren, wenn solche da sind? Laßt uns auch hiebei auf Christum sehen und ihm vertrauen. Alle diese Fehler haben Christum auch nicht irre gemacht, vielmehr ruft er Petro zu: weide meine Schafe! Irren im Einzelnen, das können auch die Helden des Glaubens. Laßt uns aber seine gänzliche Hingebung in die andre Schaale legen.
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Das war die Anstalt, wie Christus diesen gewann, um den er sich so große Mühe gab. Er war ein Freund gewesen, ein Eiferer um das Gesetz, in welchem er gründlich unterrichtet war. Und darum dachte Christus: wer so eifert für das Gesetz, wie wird der eifern für das Wort der Versöhnung. Er war ein Mann, der besonnen blieb. Er fiel freilich zu Boden, aber als | er die Stimme hörte, welche rief, antwortete er: Herr wer bist du? Es mußte sich das Wunderbare bei ihm zum Natürlichen gestalten. Der war ein auserwähltes Rüstzeug, darum stieg Christus herab, um in seine Seele einzuwohnen. Von einer Reue, Zerknirschung ist nicht die Rede. In der Folge sagt er, er habe gehandelt aus treuer Ueberzeugung. Auch das gewaltthätige Unternehmen schadete ihm bei Christo nichts. Er hatte die Absicht gehabt, das, was er für Irthum hielt, in Schranken zu halten. Nicht etwa das himmlische Licht, nicht etwa das Wort Christi, das wendet ihn nicht um. Er sprach aber: Herr, was soll ich thun? Da wies er ihn an einen gottesfürchtigen Mann, mit diesem redete Saulus, der nun Paulus wurde. Er bewährte nun, daß dieser sey Christus. Es war dies die Wirkung nicht des Wunderbaren, sondern der Gespräche, so daß er bewähren; beweisen konnte. Einen solchen Feind mit so ruhiger Ueberzeugung begehrte Christus an sich zu ziehen. Es fängt an, nicht selten zu werden, daß wir die, welche unseres Glaubens nicht sind, hassen und vor ihnen als Feinde warnen. Lasset uns unterscheiden, aus welchen Gründen diese Menschen Feinde Christi sind! Wenn sie auch hoch daher fahren, lasset uns ihnen mit Liebe und Schonung entgegen kommen. Denkt an Saulus der Paulus wurde. Wenn uns nun auch ein solcher entgegenkommt, so laßt uns denken: was kann der leisten, wenn einst das Licht ihn umblickt am hellen Mittag. Laßt uns warten, bis einst ihre Stunde schlägt. Bis dahin laßt uns ihnen alles zu Gute halten. Ja mannigfaltig sind die Wege des Herrn! ihm ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden! Sanft zieht er den einen zu sich und schnell, den andern langsamer. Manches edle Gemüth muß erst durch die Irrwege hindurch. 3 gerichteten] gerichtetem 1–2 Mt 16,22
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36–37 Vgl. Mt 28,18
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Wie sollten wir | denn auftreten, wenn wir statt der Liebe Verfolgung litten? Könnten wir dann für einen Saulus der Ananias werden? Nur wer mit Ruhe und Liebe verfährt, kann ein Werkzeug des Herrn werden. Darum laßt uns liebevoll seyn gegen die, welche unsers Glaubens nicht sind! Laßt uns nicht das sehen, was sie jetzt sind, sondern was sie seyn werden, wenn das himmlische Licht sie umblickt! Amen.
[Liederblatt vom 26. Januar 1817:] Am dritten Sonntage nach Epiph. 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine Seele etc. [1.] Gott laß uns aus dir gebohren, / Jesu Christi Jünger sein, / Die nur ihn zum Herrn erkohren, / Sich nur seinem Dienste weihn. / Wirke du in unsern Herzen / Wahrer Buße selge Schmerzen, / Mach uns durch den Glauben neu, / Seine Frucht sei Lieb und Treu. // [2.] Mach uns in der Hoffnung sehnlich, / In der Sanftmuth Jesu gleich; / Ihm in Herzens Demuth ähnlich, / Und im Beten andachtsreich, / In Geduld unüberwindlich, / In der Gottesfurcht recht kindlich! / Bilde uns sein Eigenthum, / Ganz zu unsers Königs Ruhm. // [3.] Zeuch uns aus dem Weltgetümmel, / Bring uns seiner Ruhe nah! / Unser Herz sei schon im Himmel, / Denn auch unser Schaz ist da; / Himmlisch hilf uns eingewöhnen, / Uns nach ewgem Leben sehnen; / Denn dein auserwählt Geschlecht, / Hat des Himmels Bürgerrecht. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Jesu, dem die Seraph. etc. [1.] Mein Freund wie dank’ ichs deiner Liebe, / Daß du von deinem Gnadenthron, / Durch deine heilgen Liebestriebe, / Erwärmt mich kalten Erdensohn! / Wie dank’ ichs deinem treuen Herzen, / Daß du mich von dem Fluch befreit, / Und mir die ewge Seligkeit / Erworben hast durch Todesschmerzen? // [2.] Das hab’ ich an mir wahrgenommen, / Zu deiner Stunde ist’s geschehn; / Da bin ich meinem Feind entkommen, / Da hab’ ich in dein Licht gesehn! / Da wurde köstliches Geschmeide, / Das Kleid des Heils, mir zugewandt, / Da ward zugleich der Kindschaft Pfand / Mir mitgetheilt, des Geistes Freude. // [3.] Wär’s etwa, daß mein Herz noch hinge / An einem Faden dieser Welt, / Auf etwas seine Sehnsucht ginge, / Was dir o Heiland nicht gefällt: / Ach wäre dies, mein einig Leben, / So bitt ich deine Liebesgewalt, / Zerreiße diesen Faden bald, / Mein Wille sei dir übergeben! // [4.] Mein ganzes Herz sei dir gegeben, / Zu deiner Wohnung nimm es hin! / Und hauch ihm ein dein selig Leben, / Dein Geist regier allein darin! / Die Liebe, die dich ehmals nieder / In dieses Erdenwesen zog, / Und Mensch zu werden dich bewog, / Die ziehe dich auch izo wieder! // [5.] Zerbrich, vertilge, ja zermalme, / Was dir nicht völlig wohl gefällt! / Ob mich die Welt an Einem Halme, / Ob sie mich an der Kette hält, / Ist alles eins in deinen Augen, / Da nur ein ganz befreiter Geist, / Der alles fremde Schaden heißt, / Und nur die lautre Liebe taugen. // (Gesangb. d. Br. Gem.)
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Am 26. Januar 1817 vormittags
Unter der Predigt. – Mel. Nun ruhen alle etc. Laß deiner Wahrheit Lehren, / Uns unverdrossen hören, / Und deinem Wort uns weihn! / Auf Pflanzen und Begießen / Laß dein Gedeihen fließen, / Des Geistes Erndte reichlich sein. // Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Er führet mich auf rechten Wegen, / Er geht voran, ich folge nach, / Und wenn ich gleich in finstern Stegen / Und Thälern voller Ungemach / Auf rauher Bahn durch Dorn und Hecken / Muß wandern, soll mich doch nichts schrecken, / Denn du bist bei mir stetiglich; / Du bist mein Licht mein Stern mein Führer, / Dein Wort und Wink ist mein Regierer, / Und deine Treue schirmet mich. // Vorausbezahlung wird auf diesen Jahrgang wie gewöhnlich angenommen.
Am 9. Februar 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Sexagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 5,27–29; Joh 1,45–51 Nachschrift; SAr 38, S. 35–40; Jonas Keine Nachschrift, SAr 40, Bl. 1r; Jonas Abschluss der am 12. Januar begonnenen Predigtreihe über die Berufung der ersten Jünger Jesu (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am Sonntag Sexag. 1817.
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Alles was uns von dem irdischen Leben Christi bekannt ist, ist nur Stückwerk, so daß wir es nicht von seinem Anfang bis ans Ende verfolgen können. Da kann leicht bei einem frommen Gemüth die Klage entstehen, daß zu sparsam für seinen Glauben gesorgt sey. Aber auch dies ist anzusehen als Werk göttlicher Weisheit. Wir sind nur allzugeneigt, überall bei dem Aeußeren stehen zu bleiben und vielleicht wären wir dann gehindert, auf das Innere, auf den Kern hinzusehen. Wie könnten wir aber besser diese Klage beseitigen, als wenn wir uns fragen, ob wir dieses wenige, was uns gegeben ist, treu benutzen, ob wir dieses in Saft und Blut unsers Lebens verwandeln. Dieselbe Klage trifft auch den Theil der Geschichte, welchen wir jetzt behandeln. Es war ein Häuflein von 12, welches Christus um sich versammelte und darunter sind die Hälfte, von denen wir gar nicht wissen, wie sie vorher waren und wie sie nachher geworden sind. Außer Johannes, Andreas, Petrus, Paulus sind nur noch 2 übrig von denen etwas erzählt wird. Wolan! es ist unser Bestreben gew., bei jenen in das Innere einzudringen. Wir haben gesehen, wie Christus und was für Menschen er zu sich berufen und haben dann auf uns, insofern wir seine Jünger seyn wollen, Anwendung gemacht. Dasselbe thun wir in Beziehung zu diesen 2, wir müssen daher 2 verschiedene Stellen der heiligen Schrift zu Grunde legen. 1. Tex t. Luc. V, 27–29 2. Tex t. Joh. I, 45–51. | 16 gew.] Abk. wohl für gewesen oder geworden 12–14 Vgl. Mt 10,2–4; Mk 3,16–19; Lk 6,13–16
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Am 9. Februar 1817 vormittags
Diese 2 Erzählungen haben manches mit einander gemein. Von beiden, Matthaeus oder Levis, und Nathanael wissen wir nicht, was sie nachher gewirkt haben, von letzterem nicht einmal genau, ob er zu den 12 gehört habe, wiewol ihn eine alte kirchliche Sage für jenen Bartholomaeus hält. Der eine war aus einer Klasse von Menschen, gegen die Vorurtheil und gewiß nicht mit Unrecht stattfand, der zweite anscheinend mit Vorurteilen behaftete[.] Beide betrachten wir, und zwar den ersteren zuerst, obgleich die erste Erzählung der Zeit nach später ist, als die zweite. I. Christus ging aus und sah einen, Namens Levis, der auch Matthaeus genannt wird, am Zoll sitzen und sprach zu ihm: „folge mir nach“ und er verließ alles, stand auf, und folgte ihm nach. Dieser war ein Mensch, der recht tief in das, was wir weltliche Geschäfte und Sorge zu nennen pflegen, verwickelt war. Er hatte für den richtigen Eingang der Einkünfte zu sorgen. Er war ein Zöllner. Diese hatten vielerlei Gelegenheit zu erwerben mit Recht und mit Unrecht. Ihre Vorgesetzten waren Heiden, mit denen sie daher viel umgehen mußten. Sie waren noch dazu an den großen Straßen des Landes. Das ist recht, was wir unter Welt und Weltleute verstehen. Es ist Erfahrung und Annahme, daß unter ihnen viele sind, die keinen Sinn haben für das, was andern das wichtigste ist und ihr Eifer für das Gute kann nicht leicht so seyn, wie der der andern. So urtheilen die Stillen im Lande, wie damals die Pharisäer und viele andre über die Zöllner urtheilten. Christus war umgeben von einer Menge Menschen, sprach zum Zöllner: folge mir nach und er folgte ihm. Das war gewiß nicht das Werk des Augenblicks, der Wunderkraft Christi. Während er sein verhaßtes Geschäft trieb, wie manches ist ihm da gewiß durch den Sinn gegangen, wie eifrig muß seine Sehnsucht gewesen seyn? Und oft ja naheten sich die Zöllner dem Erlöser. Bedenken wir, daß unter den 12 einer war, der ein Zöllner war, so müssen wir uns eine ganz andre Vorstellung von diesen Leuten bilden. | So laßt uns denn auch hier jede engherzige Vorstellung vermeiden, laßt uns daran denken, daß tausend Fälle, die sich der Erkenntniß entziehen, die Wege sind, wodurch Gott Eingang findet in den Gemüthern. Es kann ein inniges Verhältniß geben, ohne daß der andre etwas davon ahnet. Aber dieser Zöllner verließ alles. Er entzog sich seinem weltlichen Geschäft. Das aber sehen wir nicht an den Leuten dieser Welt. Laßt uns aber 4 Die Tradition, dass Nathanael mit Bartholomäus gleichzusetzen sei, kann im syrischen Raum bis ins 9. Jh. (vgl. Ishodad), im Abendland bis zu Rupert von Deutz (gest. 1129) zurückverfolgt werden. Sie ist darauf begründet, dass Bartholomäus und Philippus im Apostelkatalog Mk 3,17–19 nebeneinander stehen und dass es sich bei ersterem um ein Patronymicum handelt („Sohn des Tolmaj“), das einen anders lautenden Rufnamen erwarten lasse. In altkirchlichen Apostelverzeichnissen werden Nathanael und Bartholomäus dagegen noch unterschieden (vgl. Schnackenburg: Johannesevangelium, S. 313).
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nicht übersehen, daß Christus den Ruf an ihn ergehen ließ, sich zu seiner nächsten Umgebung zu gesellen. Er war schon vorher Verehrer Christi. Laßt uns nicht zu große Forderungen an die machen, die in die Geschäfte des Lebens verwickelt sind, Forderungen, die wir selbst nicht einmal erfüllen. Von manchem lesen wir in unsern heiligen Schriften, daß er Christus zu folgen begehrte und Christus ihm antwortete: bleib bei den Deinen und verkünde, was der Herr an dir gethan hat. Das ist das Loos der meisten Menschen unter uns. Oft scheint uns auch die Gefahr größer, weil wir sie nicht kennen. Mögen aber alle veranlaßt werden, sich selbst scharf zu prüfen, ob es mit ihnen so steht. Das wäre herrlich, wenn unter den Angesehenen so viel Glaube an Christus wäre, als sie unter sich über ihn reden und Worte machen. Da mag viel Schein seyn, so wie unter den vielen Zöllnern viele gewesen seyn mögen, in welche das Höhere nicht tief eindrang und Wurzel faßte. Wo dieses Höhere aber ist, da wollen wir glauben, käme ein so außerordentlicher Ruf, so würden sie alles verlassen und Christus nachfolgen. Aber dieser war auch in die weltlichen Freuden verwickelt. Sollte er da nicht mit der Zollbude auch sein Gastzimmer geschlossen haben? Keinesweges. Und er richtete ein großes Mahl zu – und Christus selbst ist auf dem Mahle. Wie Gott den Menschen geschaffen hat, so ist Geistiges und Sinnliches gar nicht von einander zu trennen. So wird der Mensch auch der PgeistlichenS Veränderung | seines Lebens, der Regungen der göttlichen Gnade froh, wenn die sinnliche Seite gerade so durchdrungen ist, als die geistige. Christus sagt uns dies in einem Gleichniß: Es hat ein Mensch ein Kleinod verloren, er findet es wieder und vor Freude richtet er ein großes Mahl an. Es gehört beides, das Sinnliche und das Geistige zum vollen Bewußtseyn unsrer selbst. Laßt uns daher nicht ängstliche Gedanken und Sünde hineinlegen, wo keine sind. Aber ganz verschieden sind die Gemüther und manche müssen sich hüten vor dem Genuß. Soll sich der Mensch aber dieser Freude entschlagen und in die Wüste gehen? Nein. Christus war auf Hochzeiten, Gastmahlen und auch in der Wüste. Es giebt keine Gestalt, die der Geist nicht zu seinem Werkzeug machen könnte. Keiner lege sich Vorzüge bei vor dem andern, sondern frage sich bei jedem Genuß: ist Christus bei dir oder sein Feind? könnte er auch dabei seyn? II. Wir sehen diesen Menschen in dem ganz gemeinen Vorurtheile befangen, das Ausgezeichnete müsse an ausgezeichneten Orten entstehen. Nathanael spricht zu ihm: woher kennst du mich. Jesus antwortet und spricht zu ihm: ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaume warst, sah ich dich. Nathanael antwortet und spricht zu ihm: du bist Gottes 37 dich] dir 6–7 Vgl. Mk 5,19; Lk 8,39 Lk 15,22–23.
23–25 Schleiermacher verknüpft hier Lk 15,8–9 und
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Sohn, du bist der König von Israel. Dies rief er aus nicht bloß weil er etwas Wunderbares in Jesu Worten sahe. Das durfte kein Grund seyn – sondern weil er unter dem Feigenbaume etwas gethan, woran Christus erkannte, daß er ein Israelit ohne Falsch sey. Beides zusammen vermogte ihn zu dieser Aeußerung. | War er dadurch berechtigt, seine Ueberzeugung schnell umzugestalten? Nein. Nathanaels schnelle Umkehrung ist das allgemeine Zeichen der Zeit. Wie lange ist es her, da er sagte: „was kann denn aus Nazareth Gutes kommen? Diese Lehre von ungebildeten Menschen, aufgestützt durch Wunder, was kann sie Gutes enthalten, was nicht unsre lange Erfahrung, unsre Vernunft sollte besser erfunden haben?“ Das war der herrschende Sinn. Jetzt ist es umgekehrt. Wie aus einem Munde ruft alles: Herr du bist König von Israel, und die wunderbarsten Worte des Glaubens sind gerade die liebsten. Ist jedem etwas begegnet unter dem Feigenbaum? Hat jeder Offenbarungen gehabt? Wir mögen diese Worte, oder diese Regungen – denn ich will nicht sagen, daß es bloß Worte sind – wol näher betrachten, ob sie wol rechter Art sind. Erinnert euch an jene Zeit des Vorurtheils und fraget euch: ist der neue Glaube besser begründet, als jene Scheinweisheit? Immer jedoch ist Göttliches in so großer Veränderung. Das ist Werk von Gott, was jetzt sich regt. Aber jeder sehe nur zu, ob es in seinem Herzen fest begründet ist, jeder frage sich selbst, ob er sich besser Rechenschaft zu geben wisse von seinem Glauben, als vorher von seinem Unglauben, ob sein Herz fester geworden sey. Wie dachte Christus über Nathanael? Er ließ ihn sich gefallen, nicht weil er so schnell von seinem Vorurtheil zurückkam, sondern weil er ein ächter Israelit war, weil er ein redliches einfaches Gemüth hatte. Er sagte: jetzt glaubst du, aber das ist nicht der rechte Glaube. Du wirst Größeres sehen. Das mögen | wir uns zu uns selbst sagen. Sie glauben jetzt. Warum? weil der Unglaube etwas Altes geworden ist. Sie haben zu viel von der alten Weisheit, weil endlich unter dem Schutte sich ein Funke regt. Was es aber eigentlich damit sey, darüber sind sie nicht im Klaren, denn ihr Herz ist nicht fest. Mancher mag in einem Augenblick mit Nathanael gerufen haben: Meister du bist Gottes Sohn, du bist König von Israel. Aber soll ihr Herz fester werden, so müssen sie Größeres sehen. Was denn Größeres? Wunderthaten? Größers in der Art, wie sein Reich auf die Gemüther wirkt, wie es immer mehr durch seinen Diener sich gründet und das Böse überwindet, Größeres – und das ist das Größte – den Himmel offen zu sehen, zu sehen die seelige Gemeinschaft des Himmels und der Erde. Sieht er die Diener Gottes herabsteigen vom Himmel auf die Erde und von der Erde zum Himmel, dann ist sein Glaube wohl gegründet. Ob wir den haben, darauf müssen wir nie aufhören uns zu prüfen, darin müssen wir nie aufhören zu wachsen. Amen.
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[Liederblatt vom 9. Februar 1817:] Am Sonntage Sexagesimä 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht. [1.] Seele, was ermüdst du dich / In den Dingen dieser Erden? / Ach sie sind veränderlich, / Können dir gefährlich werden! / Suche Jesum und sein Licht; / Alles andre hilft dir nicht. // [2.] Sammle den zerstreuten Sinn / Daß er sich zu Gott aufschwinge! / Richt ihn stets zum Himmel hin, / Daß er in die Gnade dringe! / Suche Jesum und sein Licht / Alles andre hilft dir nicht. // [3.] Oft verlangst du süße Ruh / Das betrübte Herz zu laben; / Eile denn der Quelle zu / Wo du reichlich sie kannst haben! / Suche Jesum und sein Licht: / Alles andre hilft dir nicht. // [4.] Geh einfältig stets einher: / Laß dir nicht das Ziel verrücken; / Gott wird aus dem Liebesmeer, / Dich, wenn du bedarfst, erquicken! / Suche Jesum und sein Licht; / Alles andre hilft dir nicht. // [5.] Nahe dich dem lautern Strom, / Der vom Thron des Meisters fließet, / Und auf die so, keusch und fromm, / Sich in reichem Maaß ergießet! / Suche Jesum und sein Licht; / Alles andre hilft dir nicht. // (Jauer. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Kommt her zu mir. [1.] O Gottes erstgeborner Sohn, / Ich wage mich vor deinen Thron, / Lamm Gottes, Heil der Sünder! / Ich unwerth nur zu nennen dich, / Vor deine Hoheit wag’ ich mich / Ich Sterblicher, ich Sünder! // [2.] Mir wird so frisch und leicht ums Herz, / In Ruhe wandelt sich der Schmerz, / So oft ich dir mich nahe. / Ich fühle neu lebendig mich, / Umfaßt mein Geist voll Glauben dich, / Den nie mein Auge sahe. // [3.] Und außer Dir wie todt und matt / Ist alles, was ich thu und that! / Wie giebst du allem Leben! / Wie anders lieb’ und handl’ ich, wenn / Ich an dich glaube, dich erkenn, / Auf dich nur zielt mein Streben! // [4.] Wann hätt es je mein Herz bereut, / Wo es sich glaubend dein gefreut? / Gefreut auch dein im Leiden? / Wann war ich fern von Kraft und Ruh? / Ach, wo ich dich geflohen, Du / Du süßeste der Freuden! // [5.] An dich zu glauben, Herr, an dich, / Wie sehnt, wie sehnt die Seele sich! / Die Schatten zu verlassen, / Dein Licht, du Quell des Lichts, zu sehn, / Vertraulicher zu dir zu flehn, / Dich reiner zu umfassen. // [6.] Sei du mein Vorbild, du mein Licht, / Du Stab mir, Fels und Zuversicht! / Ja, ob ich steh, ob wanke, / Ob Glück, ob Elend mich umgiebt, / Sei du, der ewig ewig liebt, / Mein süßester Gedanke. // (Lavater.) Unter der Predigt. – Mel. Warum sollt ich mich. [1.] Meines Herzens reinste Freude / Ist nur die, / Daß ich nie / Mich von Jesu scheide; / Daß ich ihn durch Glauben ehre, / Jederzeit / Hocherfreut / Seine Stimme höre. // [2.] Freundlich ruft er alle Müden, / Und erfüllt / Sanft und mild / Ihren Geist mit Frieden; / Seine Last ist leicht zu tragen, / Er macht Bahn, / Geht voran, / Tröstet, wenn wir zagen. // Nach der Predigt. – Mel. Valet will ich. Nach dir o Jesu heben / Hier unsre Herzen sich! / In diesem Schattenleben / Verlangen wir nur dich! / Wir hoffen zu genesen / Mit ahnungsvoller Lust, / Drückst du, o heilges Wesen, / Uns an die treue Brust. //
Am 4. April 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Karfreitag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 23,44.46 Nachschrift; SAr 38, S. 41–50; Jonas Keine Nachschrift; SAr 40, Bl. 1r; Jonas Keine
Nachmittagspredigt, gesprochen am Charfreitag 1817. den 4. Apr. Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes, des himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sey mit uns allen jetzt und immerdar. Amen. –
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Nächstdem, M. A. F., daß noch viele, die den Namen von unserm Erlöser führen, gegen alles Eigenthümliche des Christenthums und am meisten gegen das persönliche Verhältniß, das der Erlöser zwischen sich und uns stiften wollte, gleichgültig sind, ist nichts, was unserer gemeinschaftlichen Andacht an diesem heiligen Tage mehr in den Weg fällt, als daß, anstatt daß das Kreuz alle Verehrer Christi in gleicher Liebe vereinigen sollte, im Gegentheil eben dies, worin der Seegen seines Todes besteht, was jeder darüber fühlt und bekennt ein Gegenstand des Streites unter den Christen geworden ist. Viele meinen, sie haben es allein richtig aufgefaßt und dadurch sich auch allein das Gute daraus zugeeignet, als ob irgend ein menschliches Wort es zu erreichen vermögte, als ob nicht alles, was wir darüber sagen, wahr wäre, jedes aber immer nur ein geringer Theil des Ganzen, das wir nie ganz erreichen, der aber doch den großen Zweck völlig erreichen kann. O möge denn von uns allen fern seyn, daß wir hierin in irgend einem menschlichen Wort und Buchstaben hangen, möge fern von uns seyn, daß wir uns verführen lassen, als hätten wir alles, nicht immer tiefer einzudringen in die Erlösung. – Und eben so ist es auch nur ein einzelner Gesichtspunct, von welchem wir in unsrer Betrachtung ausgehen können. Möge sich also jeder das am meisten hinzudenken, was in seinem Herzen und in seinem gegenwärtigen Gefühl | das Wichtigste ist; dann erst werden wir den größten Seegen in dieser Stunde der Andacht haben. Um solchen bitten wir Gott in dem Gebet des Herrn. 2–4 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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Luc. XXIII. 44 und 46.
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Es war Finsterniß von der sechsten Stunde bis zur neunten. Da rief der Erlöser: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ und verschied. Da also nahm auch jene wunderbare Finsterniß ihr Ende. Die Sonne, die ihren Schein verloren hatte, trat wieder hervor und nicht ohne Bedeutung ist das geschehen und uns aufgezeichnet von den Evangelisten. So laßt uns mit einander betrachten den Tod des Erlösers als den Wendepunct von der Finsterniß zum Licht, als den Augenblick, in welchem die große Finsterniß, unter welcher das ganze Geschlecht der Menschen bedeckt lag, ihr Ende nahm und das unvergängliche Licht eines neuen Tages aufging. So erscheint uns der Tod des Erlösers schon, wenn wir ihn I. an und für sich betrachten und II. wenn wir ihn betrachten in seinem Zusammenhang mit der Sünde und wie er ein Werk der Sünde war. I. Schon an und für sich betrachtet ist der Tod des Erlösers der große Punct, von welchem es sich mit dem menschlichen Geschlecht gewandt hat von der Finsterniß zum Licht. Wie? könnte man sagen, wird denn nicht der Erlöser schon während seines Lebens uns bezeichnet als das Licht? war also die Macht der Finsterniß nicht schon zerstört, als er sein irdisches Leben antrat? Ist nicht seine Lehre das Wort der göttlichen Wahrheit, das Licht, das die Finsterniß | vertrieb? Ja, M. A. F., allerdings begann schon mit der Erscheinung des Erlösers auf Erden die Vertreibung der Finsterniß durch das Licht, allerdings ist seine Lehre das himmlische Licht. Aber was sagt der Erlöser selbst von sich? Nicht lange vor seinem Tod sagte er noch seinen Jüngern: er hätte ihnen noch vieles zu sagen, aber sie könnten es noch nicht tragen; der Geist aber, den er ihnen senden werde, der werde noch mehr von dem Seinigen tragen und es verklären. O, M. A. F., diese Wahrheit müssen wir noch immer mehr fühlen in dem Innersten unsers Gemüthes. Allerdings ist seine Lehre das himmlische Licht, aber das sterbliche Auge an und für sich vermag nicht dieses Licht zu tragen, nicht für sich, sondern nur wenn der Geist des Erlösers im Innern des Menschen lebt, der nur kann ihm die Lehre des Erlösers verklären, der nur kann ihn stärken, sie in ihrer ungeschwächten Wahrheit zu fassen und so werden wir noch von dem Geist des Erlösers getrieben. Und woher kommt der Geist? der Geist kommt aus dem Glauben an denjenigen, der alles wiedergebracht hat, durch dessen Daseyn das Alte vergangen ist und alles Neue geworden, durch den jeder von uns ist und immer mehr werden soll eine neue Creatur. Aber dieser Glaube hat seine tiefste Wurzel im Tode des Erlösers. Denn warum, M. A. F., warum kann der 26–28 Vgl. Joh 16,12–14
36–38 Vgl. 2Kor 5,17
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Mensch denn für sich allein die Lehre des Erlösers nicht tragen? warum, wenn er sie auch begreifen kann, sie doch nicht festhalten in dem Innersten seines | Gemüthes, daß sie in ihm lebe und Frucht bringe? Warum nicht? Darum nicht, weil sie göttlich ist und rein; wir aber sind verdorben und unrein, und fern ist jeder unter uns von dem Vertrauen, daß er das reine göttliche Wort in seinem Leben sollte darstellen können. Ja wenn wir vergleichen die frühere und die spätere Zeit unseres Lebens, o ist nicht jeder unter uns fern von dem Vertrauen, daß wir das Wort des Erlösers auch nur rein und ungetrübt aufzufassen vermögen? Darum muß erst ein neuer Geist, ein Geist des Muthes und der Kraft über uns kommen, wenn wir nach dem Unerreichbaren streben – denn nur in diesem Streben ist unser Heil – und dieser Geist ruht eben in diesem Glauben, daß derjenige, der alles wiedergebracht hat, unser Bruder ist, daß das Wort in ihm gewohnt hat, als in einer menschlichen Natur, daß es in ihm Fleisch geworden ist und auch in uns werden soll. Darum mußte der Erlöser uns selbst gleich seyn, darum mußte er in allem versucht werden, gleich wie wir, ausgenommen die Sünde, darum stellt er sich seinen Jüngern am Anfange seines Lehramtes dar als versucht durch die Lust, die Eitelkeit, die Macht. Doch stand das bloß äußerlich vor ihm, nicht in ihm. Aber wir werden auch versucht nicht durch die Lust allein, sondern auch durch die Furcht. Darum mußte auch der Erlöser versucht werden ohne die Sünde von der Furcht. Der Gegenstand aller Furcht aber ist der Tod oder die Annäherung | desselben; denn was der sinnliche Mensch flieht, ist immer nur der Tod. Und in dieser Versuchung konnte der Erlöser sich nicht zeigen als Sieger, als nur indem er dem Tode unterlag und darum ruht auf seinem Tode der Glaube, daß derjenige, der so die Wahrheit in sich trug ein sterblicher Mensch war, wie wir, ohne die Sünde. Und auf diesem Glauben ruht unser Theilnehmen an seinem Geist, denn derselbe Geist, der in ihm, als dem Haupte wohnte, kann in uns, den Gliedern nur ruhen, als wir Eins mit ihm sind, und darauf wieder ruht, aus der Fülle seiner Liebe zu schöpfen Gnad um Gnad. Aber eben weil er uns gleich war, ausgenommen die Sünde, eben deswegen war er auch der Heilige Gottes und eben deshalb war das auch die größte Macht des Todes und seiner finstern Schatten, daß er selbst den Herrn des Lebens überwandt und daraus geht erst ungetrübt die Sonne des andern Lebens hervor. II. Aber, M. A. F., es erscheint uns auch der Tod des Erlösers als der Wendepunct von der Finsterniß zum Licht, in wie fern er in einem vielseitigen Zusammenhange steht mit der Sünde und das Werk der Sünde war. Aller10 Vgl. 2Tim 1,7 13–14 Vgl. Joh 1,14 30 Vgl. Joh 1,16 32 Vgl. Mk 1,24; Lk 4,34
17–18 Vgl. Mt 4,1–11
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dings könnte man sagen: Ist nicht daß eben auch schon vor Christo oft in der Welt geschehen? Sind nicht auch vor ihm schon die meisten | göttlichen Boten der Wahrheit von den Kindern der Finsterniß verfolgt und im Dienste der Wahrheit getödtet? Ist nicht vor dem Erlöser schon so mancher den heiligen Märtyrertod für das Gute und Rechte gestorben? und ist nicht jeder solcher Beweis von der Macht der Sünde? Ist nicht jeder solcher Augenblick, wo sie sich ihrer Feindschaft entlädt, der Beweis der Finsterniß? Aber sind nicht auch darin schon viele dem Erlöser vorangegangen, daß, nachdem sie so verfolgt und getödtet sind von den Kindern der Finsterniß, diese nachher doch die Stimme der Wahrheit gehört und bereut haben, was sie gethan und ausgerufen: Herr, was sollen wir thun, es gut zu machen? Ist nicht der Tod vieler solcher Menschen schon den Menschen ein Leitstern gewesen, um sie auf den rechten Weg zu führen? Freilich dieser Wechsel von Finsterniß und Licht ist oft schon wiedergekehrt, und, was noch mehr ist, er wird noch oft wiederkehren. So wenig der Erlöser der Erste gewesen ist, der[,] ein Gerechter[,] für die Ungerechten starb, so wenig wird er der letzte seyn, da er ja vielmehr alle die Seinigen auffordert, sein Kreuz auf sich zu nehmen und ihm zu folgen. Aber wie? wenn wir sagen, schon oft ist gestorben und wird noch sterben ein Gerechter für die Ungerechten, können wir das sagen in demselben Sinn als von unserm göttlichen Herrn und Meister? Wie? Ist | jedem die Wahrheit so rein gewesen, daß er nur gestorben ist für die Wahrheit? Ist irgend einer gestorben als Gerechter, der da rein wäre? O wenn auch mancher sagen konnte vor den Menschen, man mögte ihn eines Unrechts zeihen, daß man so gegen ihn handeln könne, so war er doch ein Sünder vor Gott, indem er rein dastand vor den Menschen. Darum war auch vor dem Tode des Erlösers alle Aufopferung der Menschen für die Wahrheit und das Recht ein ungenügendes Stückwerk. Was sie wollten und wofür sie starben, es war immer etwas Einzelnes und Halbes, wovon das Heil der Welt nicht hätte hervorgehen können, und auch das redliche Gemüth, womit sie starben, es hatte seine Schatten und Flekken. Konnte nun darauf der Glaube und die Zuversicht der Menschen ruhen? Konnte so etwas dem Menschen das genügende Gefühl geben, daß die Sünde im Kampf gegen das Reine und Gute sich ausgelassen hätte und nun ein für alle mal besiegt wäre in dem Streite? Müssen wir das zugeben, daß jeder Mensch, wie sehr er auch scheine nur fremde Schuld zu büßen, doch immer selbst etwas verschuldet hat und damit kaum vor Gott seine eigne Schuld büßen kann, müssen wir das fühlen und zugeben, so können wir auch keine Zuversicht haben, daß damit schon etwas Entscheidendes geschehen sey im Kampfe des Guten gegen das Böse. | Darum kann auch von dieser Seite unsre Zuversicht nur auf dem Tode des Erlösers ruhen. Hier ist alles, was uns sonst überall fehlt, hier ist in Wahrheit der Gerechte gestor17–18 Vgl. Mt 10,38; 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23; 14,27
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ben für die Ungerechten und eben dadurch auf eine wunderbare Weise der Glaube geweckt und die Zuversicht, daß nun diejenigen, die sich anschließen an den Anfänger und Vollender des Glaubens, auch durch dasjenige, was sie selbst wieder unvollkommen thun und leiden werden im Kampfe des Guten gegen das Böse, daß sie nun doch, da der Sieg fest gegründet ist durch seinen Tod, denselben in Wahrheit vermehren und daß nun nicht mehr statt findet ein Wechsel des Lichts und der Finsterniß. Darum, M. A. F., wie der Bogen des Friedens den Menschen, nachdem die Wasser der Sündfluth sich verlaufen, ein Zeichen war, daß nun die Erde nicht mehr sollte heimgesucht und die Menschen nicht mehr sollten vertilgt werden durch die Fluthen des Wassers, so ist uns die Sonne, die den Schein wiedergewinnt, als der Erlöser seinen Geist in die Hände seines Vaters befiehlt, ein himmlisches Zeichen des Friedens, daß die Macht der Finsterniß gebrochen sey, daß es nun nur an uns liege, ob wir hineinschauen wollen ins Licht, ob wir uns wollen ergreifen lassen vom rettenden Arm dessen, der am Kreuz war. Und so können wir nun mit lebendigem Glauben hineinschauen in die Schicksaale des künftigen Geschlechts; denn immer weiter verbreitete sich das geheimnißvolle Kreuz Christi, das | Wort von der Erlösung. Es strahlt immer heller und deutlicher sein göttliches Bild und tiefer wurzeln die Reben ein in dem einen lebendigen Weinstock und durch seinen Tod ist er uns allen geworden zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit und zur Heiligung. Amen. – Gebet. Ja, heiliger Gott und Vater, dessen ewiger Rathschluß es war, daß der eingeborne Sohn aus der Höhe leben und sterben sollte für das sündige Geschlecht, unter seinem Kreuze beten wir dankbar an in dieser heiligen Stunde und wie das Licht wiederkehrte, als er vollendet hatte und die Finsterniß verschwand, o so fragen wir uns alle, ob auch aus unsern Herzen verschwunden ist die Finsterniß und ob auch in uns leuchtet das himmlische Licht des Glaubens an ihn und der Liebe zu ihm und die Kraft, die allein von ihm kommt. O wir fühlen es, daß sie noch nicht ganz verschwunden ist, daß in uns auch noch kämpfen Finsterniß und Licht, aber wir fühlen es auch dankbar, daß immer reichlicher sein Geist sich ergießt in die Herzen der Gläubigen und daß, wer nur festhält an ihm, dessen Zuversicht nicht zu Schanden wird. O so sey denn immer mehr ihm unser ganzes Leben geweiht! geben wir uns denn ihm in dieser Stunde von Neuem hin, daß wir seiner würdig werden! Und so rufen wir dich an um erneuerten Seegen seines Todes für 3 Hebr 12,2 1Kor 1,30
8–11 Vgl. Gen 9,13–17
19–20 Vgl. Joh 15,5
20–21 Vgl.
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uns und alle Gläubigen auf Erden, daß wir immer mehr werden ein | priesterliches Volk seines Eigenthums und auch durch uns immer mehr gebrochen werde die Finsterniß. Das verleihe uns jetzt und von jetzt an immer mehr! Amen.
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Am 6. April 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Ostersonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,1–6 Nachschrift; SAr 38, S. 50–63; Jonas Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am Ostersonntage 6. Apr. 1817. Preis und Ehre sey dem, der der Erstling ist von den Todten und der uns alle zu sich zieht! Amen. –
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Dieses Fest, M. A. F., das wir heute feiern, ist von jeher unter den Christen ein Tag der Freude gewesen und wie sollte er es auch nicht, da wir uns an demselben ganz versetzen müssen in das Gefühl jener ersten Jünger des Herrn, welche froh waren, daß sie den Herrn sahen? wie sollte er es nicht, da von demselben auch auf uns unmittelbar ein hoher göttlicher Seegen sich ergießt? Das wußten sie wol und auch uns ist es tief in das Herz gegraben, daß weder diejenigen überhaupt, welchen Gott von seinem Odem eingehaucht, noch weniger der, welcher der Heilige Gottes war, ein Raub der Verwesung werde und bleiben könne. Aber warum war es ihnen und muß es uns ein so wohlthätiges Gefühl seyn, daß der erstandene Erlöser sich ihnen zeigte? Darum, weil uns, indem wir uns in ihre Stelle setzen, dies das höchste Gefühl giebt, daß sein höchstes Leben ein unmittelbar nahes und gegenwärtiges ist. Darum, M. A. F., in diesem Gefühl der Gemeinschaft mit dem, der, selbst dem Tode entrissen, ein unvergängliches Leben lebt, genießen auch wir vorzüg|lich in diesen Tagen und erfreuen uns des unvergänglichen und ewigen Lebens, welches, die an ihn glauben, schon hier haben und genießen sollen. In Gemeinschaft mit ihm, dem Unsterblichen und Unvergänglichen stehen, das schließt ja dies auch nothwendig in sich. Darum soll dieses Fest immer seyn ein heiliger Tag, in welchem wir von uns thun, was die Spur des Vergänglichen in sich trägt. Was ist aber das? Ach, alles trägt die Spur des Todes in sich, alles seufzt unter seiner Gewalt, was nicht immer frisch fortlebt im Menschen, alles was allmählig in Gleichgültigkeit übergeht, alles was nicht unmittelbar frischen Lebens sich in leeren 2–3 1Kor 15,20 als Kanzelgruß
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Schein verwandelt. Darum sey es das, was uns an diesem Tage am meisten bewege, daß wir uns dadurch der Gemeinschaft des Erstandenen würdig zeigen und immer mehr werden, indem wir alles der Art von uns thun. Darauf sey unsre jetzige Andacht gerichtet. Wir bitten Gott dazu um seinen Seegen durch das Gebet des Herrn. Lucas XXIV v. 1–6.
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Was suchet ihr den Lebendigen bei den Todten? Das waren die Worte, M. A. F. die plötzlich das Gemüth dieser Frauen mit frohem Erstaunen erfüllen mußten, durch die ihnen das Große, das geschehen war, die Bedeutung des Augenblicks, der die Gnade Gottes herbeigeführt hatte, auf einmal klar wurde in ihrem Innern. „Was suchet ihr den Lebendigen bei | den Todten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ Das sind die Worte, die wir uns zurufen, wenn wir uns von der Freude des Festes durchdringen wollen. Aber da wir keine andre Sehnsucht und Verlangen haben, als ein mit ihm ganz vereinigtes Leben zu führen, er in uns und wir in ihm, so müssen wir das am meisten auf diese innere Weise betrachten und so oft wir als zu unserm Leben gehörig etwas ansehen, was tod ist und erstorben, so muß von Neuem in unserm Herzen ertönen: „was suchet ihr den Lebendigen bei den Todten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden,“ damit unser ganzes Leben ein frisches Leben der Auferstehung sey. Darüber laßt uns mit einander nachdenken: wie bringen wir es dahin, daß wir nie mehr den Lebendigen bei dem Todten suchen, daß alles, was zum Gebiet des Todten gehört aus dem Leben verschwunden sey? Laßt uns auf dasjenige sehen, was die wesentlichen Bestandtheile unsers gemeinschaftlichen Lebens mit ihm ausmacht. Das sind: 1. die heiligen Gebräuche unsrer kirchlichen Gemeinschaft 2. die heiligen Lehren unsers Glaubens 3. die frommen auf ihn hinzielenden, von seinem Geiste erregten inneren Bewegungen unsers Gemüthes. | Auf alles dies laßt uns sehen, wie wir es dahin bringen mögen, daß wir nie das Lebendige suchen bei den Todten. Die Geschichte unsers Textes giebt uns zu diesen 3 Betrachtungen die nächste Anleitung. 1. Die frommen und gläubigen Frauen, die dem Erlöser schon gefolgt waren von Galliläa her, die Zeugen gewesen waren seines Todes und gesehen hatten, wie man ihn ins Grab legte, kamen am Morgen, um seinem Leichnam die letzte Pflicht der Liebe und Ehrerbietung zu beweisen, ihn zu umgeben mit Specereien, damit sie ihn einige Zeit hindurch vor der Verwesung schützten. Das war eine alte ehrwürdige Sitte der damaligen Zeit, aber sie fand in dem vorliegenden Falle keine Anwendung mehr. Sie gingen näher in das Grab hinein, aber sie fanden es leer und der Leib des Herrn Jesu war nicht darin und da traten ihnen die Männer entgegen in weißen
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Kleidern und riefen: Was suchet ihr den Lebendigen bei den Todten? Wenn wir uns fragen: wie entsteht alles, was Gebrauch und Sitte ist, wie sind auch die heiligen Sitten unsrer kirchlichen Gemeinschaft entstanden? so finden wir: alles, was darin wirklich bedeutend ist, das geht auf irgend eine Weise aus einem unmittelbaren Bedürfniß des Herzens und des Lebens hervor. So war damals die Sitte und die Weise, daß die Angehörigen und Lieben eines Verstorbenen einen Genuß davon haben konnten, wenn sie den Leichnam auf | eine längere Zeit vor der Verwesung schützten, weil sie dadurch sich sein Bild länger erhalten konnten. Bei uns würde dieser Gebrauch seinen Werth verlieren. So können auch heilige Gebräuche ihren Werth verlieren und tod werden 1., weil das verschwindet, was dem Gemüth lebendig seyn sollte und 2., wenn das Aeußere aus dem Zusammenhange des menschlichen Lebens sich verliert. Manche Sitten in der ersten Zeit der christlichen Kirche entstanden aus jenen Zeiten der Verfolgung, wo die Christen nur heimlich und bei Nacht sich mit einander zur Anbetung ihres Herrn vereinigen konnten. Als jene Zeiten der Bedrängung aufhörten, nahmen sie manches davon auch in die freie Gottesverehrung hinüber und es hatte seinen Werth, indem es erinnerte an die schweren Zeiten der Verfolgung. Aber wenn nun nach langen Jahrhunderten das Andenken jener Zeiten erloschen, nicht mehr lebendig ist, dann ist es ein Todtes geworden. Eben so auf der andern Seite: wenn die äußere Gestalt des Lebens, woraus die Sitte hervorgegangen ist, sich so geändert hat, daß dasjenige, was noch feststeht, keine Haltung mehr hat im gewöhnlichen Leben, dann verliert es seine Bedeutung, ist tod und eben darum giebt es im Christenthum nur zwei unvergängliche, ewige, heilige Gebräuche, weil sie etwas | bedeuten, was unvergänglich ist und ewig, wie der Glaube selbst, die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft und die Fortsetzung derselben. Und diese sind auch ihrer äußern Seite nach unvergänglich, weil sie sich an solche Bedürfnisse des Menschen anschließen, die nie aufhören – Reinigung und Nahrung. Alles andre aber, was hervorgegangen ist aus dem besondern Bedürfnisse einer besondern Zeit, das muß seine Gestalt verändern, oder es verliert seinen Werth. Darum ist es auch nicht anders gewesen in der Geschichte der christlichen Kirche. Sitten und Gebräuche haben sich geändert und andre sind an ihre Stelle getreten. Aber nicht nur das allein, sondern auch die Zahl der heiligen Gebräuche hat allmählig abgenommen. Weshalb? weil man weniger des Aeußeren bedürftig zu sein schien. Aber freilich giebt es auch Zeiten, wo die Kraft der kirchlichen Gemeinschaft, wo die Liebe und Zuneigung zum Himmlischen auch geringer ist als in andern. Aber wenn wir glauben, das dadurch zu ändern, daß wir erstorbene Gebräuche, deren Bedeutung niemandem mehr einleuchtet, in das Leben der Christen zurückrufen, was heißt das anders, als das Lebendige bei dem Todten suchen? und wie anders kann man da ausrufen als: was suchet ihr den Lebenden bei den Todten? Wenn der Erlöser nicht wandelt auf geistige
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Weise vor unsern Gemüthern und in denselben, wenn daraus sich | nicht von selbst ein frommes Leben bildet, wie es jeder Zeit angemessen ist, o dann wird gewiß durch Hervorrufung des Todten nichts bewirkt. Wer den Lebenden bei den Todten sucht, der verwickelt sich in das Falsche und mindert sein eignes geistiges Leben. Darum, M. A. F., laßt uns nicht suchen den Lebenden bei den Todten, laßt uns nicht in leeren Gebräuchen unsre Gemeinschaft mit ihm auffrischen! Wozu doch? Er ist auferstanden, er wandelt vor uns, wir haben sein Bild. 2. M. A. F. gilt dasselbe auch von der heiligen Lehre unsers Glaubens. Die Lehre ist das Wort. Sie ist nicht der unmittelbare Genuß, nicht die unmittelbare Kraft des Lebens aus Gott, denn diese ist etwas Unaussprechliches. Das Wort ist aber das heilige Mittel, durch welches diese Kraft aus einem gotterleuchteten und gottergebenen Herzen in das andre hinüberschlägt und sich offenbart und so wie es Ausdruck ist des unmittelbaren Gefühls, so ist es das Heiligste und wir dürfen es nicht vergessen, wie der Erlöser selbst das Wort genannt wird. Aber wenn nun das Wort ein todter Buchstabe wird, wenn es bleibt und sich feststellt ohne Zusammenhang mit jenem Gefühl, woraus es gekommen ist, so kann es auch nur gar zu leicht ein todtes und erstorbenes werden und muß es werden, weil Sprache und Gedanken der Menschen in der Zeit auch | allmählig ein ganz andres werden. Wie wenig das Wort an sich vermag, das sehen wir auch aus unserm Texte. Jene Frauen waren dem Erlöser gefolgt von Gallilaea aus, wo er seinen Jüngern schon seinen Tod vorherverkündigt hatte. Aber weil ihre Gedanken auf einem ganz andern Wege schweiften, kamen sie ganz ab von dem Worte und erinnerten sich jetzt nicht einmal desselben. So, M. A. F., verliert sich das Wort, wenn es auch aus dem Innersten des Gemüthes hervorgeht und nicht in ein dafür geöfnetes Herz fällt. Darum hat auch das Wort und die Lehre in der christlichen Kirche beständig gewechselt. Wie viele Worte hat es nicht gegeben in den ersten Jahrhunderten des christlichen Glaubens, an welche sich die Gemüther hefteten und darüber in Streit verwickelten? Damals waren diese Worte lebendig und drückten das Gefühl aller aus, die es aussprachen. Aber wie viele von ihnen sind nicht ganz erstorben? Wenn sie jetzt den Ohren der Christen sich zeigen, so sind sie unverständlich, ein tönendes Erz und eine klingende Schelle, nur noch denen verständlich, deren Beruf es mit sich bringt, auch die frühere Zeit lebendig zu begreifen. Aber, M. A. F., wollen wir recht redlich seyn gegen uns selbst, so müssen wir sagen, nicht nur das menschliche Wort, in welchem sich der Glaube aufregt, ist ein vergängliches, sondern dasselbe gilt auch nur in einem | andern Sinn und in einem andern Maaße von der Schrift 6 in] im 34 Vgl. 1Kor 13,1
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selbst. Die Menschen haben geredet in dem heiligen Geist. Was sie so aussprachen, es kam aus ihrem von Gott erregten Herzen hervor und es fiel auf fruchtbaren Boden. Da war das Wort Kraft und Leben. Es ist es auch jetzt noch für uns, wer wollte es leugnen, aber das ist doch mehr nur wenn wir die Worte der Schrift in ihrem ganzen Zusammenhange uns wieder deutlich machen, nur wenn wir größere Abschnitte der Schrift uns vornehmen und uns vergegenwärtigen, unter welchen Umständen der Erlöser und die Apostel gesprochen. Dann erst wird es bei uns lebendig das Wort und bringt dieselbe Wirkung hervor als damals. Reißen wir aber Einzelnes aus seinem Zusammenhange heraus, ja was erleben wir dann anders hievon, als eben die bittre Frucht und das verderbliche Werk des Todes? Daraus entsteht eben, daß das göttliche Wort gleichsam ein verderblicher Zauber wird, an welchem sich die Menschen festhalten und welches die Gemüther trennt. O wie viel Ursach haben wir, auch in dieser Hinsicht auszurufen: „was sucht ihr den Lebendigen bei den Todten? Sucht ihr ihn so, so ist er nicht mehr. Dahin geht, wo er auferstanden ist, wo er unter den Lebendigen ist, wo er lebendig gesprochen hat, da sucht ihn. Haftet ihr aber an der leeren Hülse, o dann bereitet ihr euch nichts anders als ein Erstarren des geistigen Lebens, ein | Einwurzeln des Todes.“ Wol haben wir Ursach, uns dies zuzurufen am Auferstehungstage des Herrn, damit das unschätzbare Kleinod seines Wortes nicht leer an uns werde, sondern wir daraus saugen die Kraft seines unmittelbaren Lebens. 3. müssen wir uns auch dasselbe zurufen in Beziehung auf die Bewegungen unseres frommen, ihm anhängenden, nach ihm sich sehnenden Herzens. Man hat oft gesagt, das Christenthum sey eine Religion der Wehmuth und des Schmerzes; das sey der eigenthümliche Charakter desselben. Und allerdings, M. A. F., ist der Schmerz über die Sünde die Grundlage aller Freuden an der Erlösung. Wer jenen nicht tief empfunden hat, der kann auch durch diese nicht beseeligt werden; denn wem wenig gegeben ist, der hat auch nicht viel geliebet. Aber der Schmerz, M. A. F., ist nur die Vorbereitung, nur der Vorhof des Christenthums, das Heilige und Allerheiligste ist die Freude. „Freuet euch in dem Herrn alle Wege“, ruft der Apostel, „Eure Trauer soll in Freude verwandelt werden“, so ruft der Erlöser seinen Jüngern zu. Und eben so wie ein für allemal der das ganze Herz des Menschen durchdringende Schmerz über die Sünde vorangehen muß, wenn das Trostwort der Erlösung Freude in ihm erregen soll, eben so auch nachher im Verlaufe des Lebens – denn so lange wir | hier leben, läßt der Sünde Sta32 Wege] Welt (wohl Verwechslung mit Ps 98,4; 100,1) 32 Vgl. Phil 4,4 (vgl. dazu 25. Dezember 1817 nachm.) 1Kor 15,56
33 Vgl. Joh 16,20
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chel nicht von uns – aber nur darin daß immer in uns wiedertöne: „laß dir an meiner Gnade genügen!“ Wer nun dies Verhältniß umkehrt, wer die Freude am Glauben nur ansieht als Erholung vom Schmerze, in diesem aber ruhen will, wie können wir anders, als dem zurufen: was suchst du den Lebenden unter den Todten? Es war eben so bei den Frauen. Sie wollten ihrem Schmerze ein Fest feiern und wollten ihn darum schützen gegen die Verwesung, damit sie sich dieses Fest öfter bereiten könnten. Hinweggerufen aber werden sie davon durch das trostreiche Wort: was suchet ihr den Lebendigen bei den Todten? Eben so sollen wir rufen: „was suchst du die Kraft des Glaubens, der Erlösung in dem Schmerz über die Sünde? Freilich soll sie dir Schmerz machen, aber die Freude über die Gnade Gottes, der die Sünde vergiebt, die Freude über die einwohnende Kraft des Geistes, der immer mehr die Sünde bricht, die soll den Schmerz immer mehr überwältigen und darum kannst du dich allein dessen freuen, der da unter uns seyn will bis ans Ende unsrer Tage; denn der Schmerz, der nichts andres ist als ein Kind des Todes, der ist es nicht, welcher Gott lobt, sondern nur der besiegte Schmerz preiset den Herrn.“ | Wolan denn! so weiche der Schmerz und die Freude allein möge immer reichlicher und göttlicher in uns leben! Wer an mich glaubt, sagt der Erlöser, der hat das ewige Leben. Das ist aber nur da, wo kein Schmerz ist, wo die Spur des Todes verschwunden ist. Zu diesem freudigen Leben wollen wir uns heut ermuntern, das ist die beste Feier dieses Tages und wie der Engel den Frauen sagte, sie sollten sich seines Wortes erinnern, o so laßt auch ihn immer vor uns herwandeln und seinen Fußstapfen wollen wir folgen. Dann wird die Kraft der Auferstehung immer mehr in uns Wurzel fassen, dann werden wir sagen: wer ihn hat, der hat das ewige Leben! Amen. – Gebet. Herr und Vater des Lebens, du, durch den es keinen Tod giebt, du hast auch uns berufen durch deinen Sohn zum ewigen Leben. Laß uns den Glanz seines erhöhten Lebens vorleuchten, daß auch wir ein dem seinigen ähnliches, ein aus seiner Kraft und aus der Fülle seiner Gnade sich immer erneuerndes Leben führen mögen. So erbaue sich die Kirche deines Sohnes, die er selbst seinen Leib nennt, an dem er das beseelende Haupt ist, auch sie schaffe sich immer mehr ein reines und unvergängliches Leben, damit aus ihr dann jeder wieder nehme, was und | wie es ihm Noth thut. Aber eben deswegen rotte auch aus unsern Herzen immer mehr aus, was seiner Natur nach vergänglich ist, damit wir unsre Arme ausstrecken nach den ewigen Gütern und alles Irdische aufhöre einen Werth für uns zu haben. So gütiger Gott und Vater emp1–2 2Kor 12,9 14–15 Vgl. Mt 28,20 19–20 Joh 6,47 32–34 Vgl. Eph 1,22–23; 5,23 34–35 Vgl. Röm 2,7
31 Vgl. Röm 5,17
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fehlen wir uns deiner fortdauernden Gnade und deinem Seegen für unser geistiges Leben und für das äußere, das die Hülle desselben ist. So bringen wir auch unsre gemeinschaftlichen Angelegenheiten vor dich, indem wir dich bitten, zu segnen das Vaterland und den König. Du wollest segnen das ganze königliche Haus, daß es unter uns allen dastehe als nachahmungswürdiges Beispiel eines wahrhaft christlichen innern Wolergehens. Segne alle treuen Diener des Königs, denen das Wohl des Vaterlands am Herzen liegt. Du wollest das Auge ihres Geistes erleuchten, ihr Herz erfüllen mit einem immer regen, nie nachzulassenden Eifer. Und da wir heute zugleich feiern den Gedächtnißtag des Einzuges unserer siegreichen Heere in die feindliche Hauptstadt, o so erfülle darüber alle Herzen mit lebendiger Dankbarkeit und lehre uns alle bedenken, was du uns durch den Seegen jener Tage aufgegeben hast, damit wir immer mehr werden ein dir angenehmes, andern mit gutem Beispiele vorleuchtendes Volk. Dazu wollest du jeden in seinem engen Kreise auch stärken, dazu wollest du segnen die Verkündigung deines Wortes, den Unterricht der | Jugend, damit wahre Frömmigkeit sich verbreite von Geschlecht zu Geschlecht. Amen.
[Liederblatt vom 6. April 1817:] Am Ostersonntage 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel. etc . [1.] Wach auf an seinem Grabe / Mein Psalter, singe Jesu Dank, / Den ich beweinet habe, / Der mit dem Tode rang! / Jetzt Freudenthränen rinnet, / Sein finstres Grab ist leer; / Das Morgenroth beginnet / Und Jesus schläft nicht mehr; / Doch was er uns gegeben / Durch seinen Tod und Pein, / Wird noch in jenem Leben / Uns unerforschlich sein. // [2.] Wie wird beim Osterliede / Die Seele frisch, der Geist erfreut! / Mir haucht sein Odem Friede, / Mich überschattet Seligkeit! / Heil mir, was ich genieße, / Ist das schon jene Ruh? / Strömt mir vom Paradiese / Schon jene Wonne zu? / Ich höre Hochgesänge, / Mein ganzer Geist entzückt / Eilt zu der frohen Menge, / Die Jesum schon erblickt. // [3.] Wir stammeln, ach wir singen / Noch unvollkommen Christus Lob. / Wer kann die Nacht durchdringen / Da Gott dich ließ, und dann erhob? / Lamm Gottes, Preis und Ehre! / Dein Heil und dein Gericht / Erblik10–11 In den Befreiungskriegen griff Preußen 1813 wieder in die Kriegshandlungen ein. Die entscheidende Niederlage erlitt Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober, die ihn zwang, sich nach Frankreich zurückzuziehen. Napoleon dankte am 6. April 1814 ab, nachdem zuvor am 31. März 1814 die alliierten Truppen Paris eingenommen hatten.
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ken jene Chöre / In einem hellern Licht! / Dir jauchzt der Himmel Freude, / Die frohe Erde bebt, / Und dankbar fühlen beide, / Daß ihr Erbarmer lebt. // (Jauer. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Herr Gott dich loben wir. etc . [1.] Dich Sieger loben wir / Wir Christen danken dir, / Jauchzt Himmel, jauchzt erlöste Welt, / Besingt den Lebensfürst, den Held! / Preist Jesum welcher auferstand, / Die Feinde herrlich überwand! / Ihm ist nun alles unterthan; / Fallt nieder, betet Jesum an, / Heilig ist Gottes Sohn! / Heilig ist Gottes Sohn! / Heilig ist Jesus Christ, / Der auferstanden ist. // [2.] Der Sohn verließ des Vaters Thron, / Er kam und ward ein Menschensohn, / Erniedrigt für die Sündenwelt, / Die er durch seine Huld erhält, / Empfand betrübt bis in den Tod / Was Gottes Ernst den Sündern droht, / Vergoß auch für die ganze Welt / Sein Blut das theure Lösegeld, / Und starb mit Thränen und Gebet, / Am Kreuz erwürget und verschmäht, / Er lag im Grabe wo er schlief, / Bis ihn sein Gott ins Leben rief. // [3.] Tag der des Jubels würdig ist, / Der Sohn stand auf, der Herr der Christ, / Sei Ostertag der Christenheit / Ein Tag der Wonn und Heiligkeit! / Das Grab ist leer, Gott ist versöhnt, / Der Mittler ist mit Preis gekrönt, / Er ist entnommen dem Gericht / Und seiner Angst; der Vater spricht / Vom Fluch uns frei. O betet an! / Wer ist der uns verdammen kann? / Er lebt, und den, der an ihn glaubt, / Vertritt er, unser Herr und Haupt. // [4.] Nun ist der Tod, den er bezwang, / Zur Seligkeit ein Uebergang. / Mein Leib wird in dem Grabe Staub, / Doch bleibt er nicht des Todes Raub; / Denn du o Herr verklärst ihn einst / Wenn du zum Weltgericht erscheinst. // [5.] Wieviel o Herr erwarbst du mir! / Herr, ewig ewig dank ich dir! / Du hast das Leben wiederbracht, / Unsterblich hast du uns gemacht. / Der Vater liebt und höret dich, / Vertritt auf deinem Throne mich! / Beschüze deine Christenheit, / Und hilf ihr Herr der Herrlichkeit! / Mach aller Feinde Macht zu Spott, / Erhör uns unser Herr und Gott, Amen! // (Klopstock.) Unter der Predigt. – Eigne Melodie. Christ ist erstanden von der Marter alle, / Des sollen wir alle froh sein, / Christ will unser Trost sein. Erbarm dich Herr. // Nach der Predigt. – Mel. Lobe den Herrn. etc. Preis dem Erstandnen! zum Lohne den Gott ihm beschieden, / Reichet fortan keine Macht seiner Feinde hienieden. / Glorreich erhöht, ob ihr ihn Feinde gleich schmäht, / Lebt er im seligsten Frieden. //
Am 7. April 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Ostermontag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,22–26 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 38, S. 63–70; Jonas Keine Keine Beginn einer Predigtreihe zum Thema der Auferstehung Christi (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Am 2. Osterfeiertage 1817. Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes, des himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sey mit uns allen jetzt und immerdar. Amen. –
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M. A. F. Wie wir alle hoffen eines Lebens, welches diese unsre irdische Wallfahrt beendigt, so sind von jeher die Christen geneigt gewesen die Auferstehung des Herrn als Vorbild und Bürgschaft des künftigen Lebens anzusehen. Aber das letztere ist gewiß nicht die göttliche Absicht gewesen und wir müssen uns da an den Ausspruch des Apostels halten: es ist noch nicht erschienen, was wir seyn werden. Auch könnte es nicht anders seyn; denn wenn die Jünger mit dem Erlöser reden sollten, wie zuvor, und wenn sie, wie es die Absicht des himmlischen Vaters war, vernehmen sollten, was sie früher noch nicht hatten tragen können, so mußte er auch ganz als Mensch mit Menschen reden und darum ist sein Daseyn nach seiner Auferstehung ein rein menschliches. Aber auf etwas andres richten die Apostel unsre Aufmerksamkeit, nemlich auf die Aehnlichkeit, welche statt findet zwischen der Auferstehung des Herrn und dem geistigen Leben, das wir schon hier mit ihm führen sollen. „Wir sind mit ihm begraben in den Tod und wie er ist | auferwecket durch die Kraft des Vaters, so sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln.“ Das ist die Art, wie die Apostel darüber sprechen. Auf diese Aehnlichkeit also laßt uns hinsehen und in dieser Beziehung wollen wir heute und an den folgenden Sonntagen betrachten, was uns von der Auferstehung des 2–4 2Kor 13,13 als Kanzelgruß 9–10 1Joh 3,2 19–20 Röm 6,4 23 Für den Zeitraum von Ostern bis Trinitatis ist nur die Predigt vom 20. April 1817 nachm. über Lk 24,44–48 überliefert.
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Herrn gemeldet wird. Zu der heutigen Betrachtung bitten wir Gott um seinen Beistand cet. Lucas XXIV, 22–26. 5
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M. A. F. Indem es meine Absicht ist, in mehreren Betrachtungen diese Aehnlichkeit zwischen unserm neuen geistigen Leben und dem neuen Leben des Erlösers in den Tagen seiner Auferstehung auszuführen, so wollen wir heute zuerst bei der Aehnlichkeit, welche statt findet zwischen dem Anfange unseres neuen Lebens und dem Anfange des neuen Lebens des Erlösers stehen bleiben und aus diesem Gesichtspuncte wollen wir die verlesenen Worte betrachten. Die Worte enthalten 1. dasjenige, was die Jünger über die Auferstehung des Erlösers wußten, nemlich daß zuerst die Frauen und einige Jünger das Grab leer gefunden und Stimmen gehört hatten, welche gesagt, er lebe. Aus dieser und allen übrigen Erzählungen der Evangelisten über diesen Gegenstand geht hervor, daß niemand den Anfang des neuen Lebens des Erlösers beobachtet hat und | dabei wollen wir zuerst stehen bleiben. Nemlich es ist wol dasselbe bei weitem bei den meisten Menschen auch der Fall in Beziehung auf ihr neues geistiges Leben. Keiner unter uns kann sagen, daß der Anfang seines irdischen Lebens auch der Anfang seines geistigen Lebens, seines Lebens aus Gott gewesen sey, vielmehr hat jeder eine Zeitlang ein sinnliches Leben geführt, nur das Irdische im Auge gehabt. Diejenigen welche doch von sich sagen, oder es der Gnade Gottes nachrühmen können, daß sie das Ziel ihres Lebens gefunden haben, daß ein neues Leben in ihnen aufgegangen ist, wenn sie sich ungläubig fragen wollten: woher weißt du, daß solches Leben in dir ist? wann hat es angefangen? so würden sie sich wol nur antworten können: das verliert sich ins Dunkle und es ist nicht anzugeben, oder doch nur dunkel, wann der Anfang des neuen geistigen Lebens gewesen ist. Aber es hat oft Christen gegeben, die ängstlich gewesen sind und gesagt haben: es könne niemand sicher seyn des neuen Lebens aus Gott, der nicht Tag und Stunde des Entstehens desselben wisse. Wolan, die wollen wir auf Christi neues Leben führen. Die Jünger glaubten anfangs nicht, daß der Herr auferstanden sey und als einige ihn gesehen hatten und die andern glaubten, war doch noch ein Ungläubiger unter ihnen. Aber sein Unglaube ging doch nur so weit, daß er sagte: wenn ich ihn nicht selbst sehe, so glaube ich nicht; nicht sagte er: | wenn nicht einer kommt und sagt: in dieser Stunde, unter den Umständen ist er auferstanden, so glaube ich es nicht. Sollen wir denn nun ungläubige seyn in Beziehung auf uns? Gewiß das hieße nichts anderes, als das Gewissen verwirren und Gott versuchen. Ist auch wol ein Einziger, der sich des höhern Lebens erfreut, der sich dessen beständig bewußt ist? Und so können wir weiter schließen: wenn wir doch nicht ununterbro31–34 Vgl. Joh 20,19–29
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chen dieses höhern Lebens uns bewußt sind, und es doch nicht aufhört, wolan! warum soll uns das wunderbar, fremd, unglaublich vorkommen, daß der erste Anfang unserm Bewußtseyn und unsrer Bemerkung entrann[?] Wie PwolS geht nicht dem neuen Leben Aehnliches vorher? Wie viel Wünsche steigen nicht darnach in uns auf? Aber diese Wünsche sind noch nicht der Anfang des neuen geistigen Lebens und darum ist er den meisten verborgen. Eben so mit dem neuen Leben des Herrn. Wenn es mehreren vergönnt gewesen wäre, in seinem Grabe zu seyn von der Zeit an, wo er in dasselbe hineingelegt ward, bis zu der Zeit, wo er demselben entnommen ward, würden die bestimmt haben angeben können, wann sein neues Leben begonnen habe? würden sie wol mit Gewißheit haben unterscheiden können, | was diesem neuen Leben vorangegangen ist von dem eigentlichen Anfang des Lebens selbst? Gewiß nicht. Und so können wir uns denn auch vollkommen beruhigen über unser eigenes geistiges Leben. Giebt es einige, die sich des Anfangs bewußt sind, so mögen sie sich wol bezeugen, daß auch dies nicht in sie hätte kommen können, wenn der göttliche Geist nicht schon vorher in ihnen gewesen wäre und sie mögen sich nicht darüber freuen als über etwas, das sie vor andern voraus hätten. Denn darin liegt die Sicherheit des neuen geistigen Lebens nicht, sondern die liegt nur darin, worauf sich der Glaube der Jünger an das neue Leben Christi gründete, nemlich darauf, daß er ihnen vollständige Beweise gab von seinem Daseyn. Seht da, M. F., also nicht darauf beruht das neue geistige Leben, daß wir seinen Anfang angeben und bemerken können, sondern darauf, daß wir Beweise davon haben, daß der Geist des Erlösers, der nicht der Geist der Welt ist, in uns waltet und lebt, daß wir ein höheres Ziel ins Auge gefaßt haben und dies auch allein verfolgen. Wahrlich! wer das in sich beweist, wer sich selbst das Zeugniß geben kann, daß er seinen Herrn und Erlöser liebt, daß er ihn bekennt vor der Welt und sein Reich immer weiter verbreiten will, daß er nicht etwa nur eine sinnliche Neigung in sich ertödtet, um | einer andern Raum zu geben, sondern alle ertödtet und sein Fleisch gekreuzigt hat, dem kann wenig daran gelegen seyn, ob er angeben kann, wann dieses Leben in ihm begonnen. Wenn er auch den Anfang nicht weiß, es ist nichts desto weniger das feste und sichre Werk Gottes. Dies führt uns auf den zweiten Punkt unsrer Betrachtung. Wenn wir fragen: wie sollen die Beweise abgelegt werden? so müssen wir sagen, daß auch hiezu nichts Wunderbares gehört. Nein, was that der Erlöser, was waren die ersten Aeußerungen seines neuen Daseyns? Er that nichts anderes, als was er zuvor auch gethan hatte und was gerade am wenigsten vorher ins Auge fiel. Nemlich seine vertrautesten Jünger bildeten eigentlich sein häusliches Leben, auf welche schon früher seine geistige Kraft gewirkt hatte und was that er nun anders, als daß er sich auf dieselbe Weise wieder zu ihnen begnügte, sie stärkte und aufrichtete? Wolan! Damit werden auch die meisten unter uns sich begnügen müssen; denn wenn der Geist das Fleisch
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überwunden hat, so liegt deshalb nicht gleich etwas Großes und Ausgezeichnetes vor ihm zu thun, und wenn er es auch fühlte, daß er Kraft dazu hat, so ist deshalb nicht gleich die Gelegenheit dazu da. Ruhen darf er es zwar nicht lassen, dieses geistige Leben, sobald er sich dessen bewußt | ward, aber nur soll er es äußern, wie er das früher geäußert hat. Das war auch die Wirkung des Erlösers in seinem neuen Leben. Er brachte nur Muth und Einsicht und Kraft in seine Jünger, welche er vorher noch nicht in sie hatte hineinbringen können. Und das ist es, worauf wir alle gewiesen sind. O es ist nicht immer Eifer für das Reich Gottes, daß die Menschen einen größern Wirkungskreis wünschen, ja es ist auch schon vielmehr eine Unreinheit des geistigen Lebens, eine Selbstgefälligkeit. Der Anfang des neuen geistigen Lebens ist auch in jedem Menschen noch schwach und bedürftig, in der Stille gehegt und gepflegt zu werden und darum ist es weise Ordnung Gottes, daß der Mensch nicht gleich aus einem kleinen in einen großen Wirkungskreis gesetzt wird. Ja wir müssen uns bescheiden, daß ein solcher gar nicht einmal für alle möglich ist; wir müssen aber auch beweisen, wie der Erlöser, daß sich das neue Leben auch im engsten Kreise zeigen kann. Jeder hat ja einige Bekannte, die sich ihm anvertrauen. Auf die suche er zu wirken, die suche er zu sich hinaufzuziehen und mit derselben Liebe zu erfüllen. Und hat der Erlöser in diesen Tagen überhaupt nichts anderes gethan, als dieses, warum sollten sich die Menschen nicht daran genügen lassen, daß die Kraft des Geistes, der in ihnen wohnt, auch keinen andern Wirkungskreis hat? | Und ist es denn etwas Geringes, wenn durch jeden mehrere befestigt werden in dem neuen geistigen Leben oder den Weg dazu finden? Sollte man sich noch etwas Größeres wünschen? Aber an dieses Werk gehe auch jeder frisch und gern, so bald er das Bewußtseyn des neuen Lebens hat, auf die, welche sich ihm anvertraut haben, wirke er, ihnen zeige er die Herrlichkeit des neuen Lebens, sie lade er ein, wie der Erlöser seine Jünger, es an ihm zu beobachten. Das ist das Amt und die Pflicht eines jeden unter uns und dazu soll das neue Leben einen jeden auf eine unwiderstehliche Weise drängen. Wolan! so laßt uns dies recht fest unserm Gemüth einprägen, daß dies der wahre Beruf in uns ist, dem sich keiner entziehen kann, in dem das neue geistige Leben ist. Es wohnt ja jedem die Lust ein, sich zu offenbaren. So auch der Geist, der in uns wohnt, er will sich offenbaren in Blicken und Worten, überall will er entzünden, entbrennen und mit sich vereinigen. So vereinigte auch der Erlöser seine Jünger mit sich und so suche ein jeder um sich zu sammeln diejenigen, die Gott ihm nahe gestellt hat. Das ist der erste Anfang des neuen geistigen Lebens in uns. Wer dazu getrieben wird, der kann sicher seyn, daß dies Leben in ihm ist und daß er es weiter werde verbreiten können. Amen.
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Am 20. April 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Misericordias Domini, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,44–48 Nachschrift; SAr 38, S. 73–84; Jonas Keine Keine Teil der am 7. April 1817 begonnenen Predigtreihe zum Thema der Auferstehung Christi (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 20. Apr. 17. Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes unsers himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sey mit uns allen. Amen.
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Wenn wir uns fragen, welcher Mittel sich Gott vorzüglich bedient, um die trostreiche Lehre des Evangelii und allen Seegen des Lebens und der Erlösung Christi auch von dem ursprünglichen Schauplatz seiner Erscheinung so sehr entfernten Gegenden und Zeiten zu bringen, so können wir nicht leugnen, etwas sehr Wichtiges und Hervorragendes ist darin das geschriebene Wort Gottes. Wenn dies nicht auf seinem Willen entstanden wäre, wenn das Andenken des Herrn sich nur mündlich fortgepflanzt hätte, wie sehr entstellt und geschwächt würde es in der allmähligen Verbreitung geworden seyn? Aber gewiß sind wir auch alle darin einig, daß das nicht allein der Gesichtspunct ist, aus dem wir das geschriebene Wort anzusehen haben, nicht nur darum ist es uns werth, weil wir das Leben des Erlösers daraus kennen lernen und seine Lehre, sondern es ist auch die unmittelbarste Art und Weise, wie jeder selbst in der unmittelbaren Erkenntniß wächst und in der innigsten Gemeinschaft mit dem Erlöser. Die | Schrift lesen, in ihr forschen, das ewige Leben darin suchen, den Erlöser darin finden, das ist unser gemeinsames Tagewerk als Christen. Hier in unserer gemeinsamen Gottesverehrung reden wir immer aus der Schrift, aber über die Schrift, ihren richtigen Gebrauch, wie aller Seegen daraus zu genießen sey, darüber besonders zu reden, trifft sich die Gelegenheit selten genug. Die Art, wie 2–4 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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wir diesmal unsre Auferstehungsandachten angefangen haben, giebt uns Gelegenheit dazu und diese wollen wir jetzt ergreifen. Wir stärken uns dazu durch das Gebet des Herrn cet. Luc. XXIV, 44–48 5
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Aus einem solchen Besuche sind diese Worte genommen, wie ihn der Erlöser in den Tagen nach seiner Auferstehung zu machen pflegte und fast in allen Erzählungen aus dieser Zeit finden wir es deutlich gesagt, oder darauf angespielt, wie es hier steht, daß er ihnen das Verständniß geöffnet, wie sie die Schrift verstehen sollten. An Kenntniß der Schrift hatte es den Jüngern auch wol vorher nicht gefehlt, aber das Verständniß, wodurch sie in den Stand gesetzt wurden, seine Zeugen zu seyn, wodurch alle Uebel und Zweifel aus ihrer Seele verschwanden, das wurde ihnen erst in diesen Tagen der Unterredungen mit dem Erlöser [gegeben]. So führt uns dieses darauf, wie wir uns vorgenommen haben | die Spuren von dem Höchsten im Zusammenseyn der Jünger mit dem Erlöser aufzusuchen auch in Beziehung auf unsern Gegenstand. Denn wir werden dasselbe auch von uns sagen müssen, daß ein solches vollkommenes Verständniß der Schrift uns auch nicht in dem gewöhnlichen Laufe unsers Lebens kommt, sondern mit zu den ausgezeichneten Augenblicken desselben gehört. Laßt uns nun sehen 1. auf den Unterschied zwischen dem gewöhnlichen aber unvollkommenen Verstehen und diesem höhern, und 2. woher denn und unter welchen Bedingungen dieses höhere uns komme. 1. Um uns das recht einleuchtend zu machen, wie es auch unter den Christen ein gewöhnliches und denn auch ein höheres Verstehen der Schrift gebe, dürfen wir nur auf unser übriges Leben sehen. Der erste Blick des neugebornen Menschenkindes ist ein Versuch, die Welt zu verstehen, die es umgiebt. Aber welch dunkle Gefühle, welch dunkle Ahnungen gehen da nicht voraus? Das erste mal, wenn es die menschliche Rede vernimmt, ist der Versuch, die Seele des Sprechenden dahinter zu erkennen und das erste Sprechen ist die Freude über das Gelingen dieses Versuchs. Und geht es nicht so immer fort? Unser Auge ist immer geöffnet, die Welt um uns zu verstehen, aber wie unvollkommen verstehen wir im gewöhnlichen Leben die Welt, die uns um|giebt, die Menschen und uns selbst? Wie viele selbst weise Worte kommen als leere Worte in unsre Ohren? Wie viele verstehen wir ihrem allgemeinen Inhalte nach, aber ein lebendiges Bild von demjenigen, der zu uns geredet hat, haben wir nur in den seltensten Fällen und wenn wir fragen nach unsrer Selbsterkenntniß, o M. F., auch der Mensch, 8–9 Vgl. Lk 24,27
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der keinesweges leichtsinnig ist, der sich wol müht und quält, um sich selbst nicht höher zu schätzen, als er ist, wie vieles bleibt auch einem solchen in dem täglichen Laufe seines Lebens dunkel? Wie oft begnügt er sich mit dem halben Verstehen seiner selbst, so, daß er oft erst in später Zukunft den Schlüssel über sich erhält? Dagegen ist jedes vollkommene Verstehen ein seltener aber deshalb auch besonders seeliger Augenblick des Lebens. Wenn uns das Gemüth eines uns nahen Menschen durch That, durch Blick und Rede so recht aufgeschlossen und klar wird, daß wir den Geist in ihm sehen und verstehen, dann fühlen wir uns in einem Zustande, in welchem wir nur selten seyn können, dann wird uns die Kraft des menschlichen Gemüthes erst recht klar, dann fühlen wir die Kraft des göttlichen Geistes. Aber selten, selten sind diese Augenblicke und köstlich. Kann es nun, soll es nun mit dem Verkehr, welches wir mit dem geschriebenen Worte des Herrn haben, anders seyn? Wir alle sind | durch den ersten Unterricht in die Bekanntschaft mit dem göttlichen Worte gekommen, aber wie ist da schon ein volles Verstehen möglich? Aber wenn auch nur einiges davon dem Verstande deutlich oder dem innersten Gefühl und Geist lebendig wird, so muß ja, und das ist ein nicht undeutliches Kenntzeichen von einem regen christlichen Gemüthe, eine Sehnsucht erwachen, immer tiefer einzudringen in das göttliche Wort. Diese zu befriedigen, dazu leitet uns unser Gottesdienst, auf sie bezieht sich alles Lehren in der Kirche, auf sie wird angespielt in allen unsern Gebeten und heiligen Handlungen. Aber freilich das alles wäre immer noch wenig und es ist auch vorauszusehen, daß wahre Christen sich immer allein mit der Bibel beschäftigen, und das ist eine feine christliche Zucht und Uebung nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich. Aber wenn auch der Leser wirklich sucht, darin einzudringen, so müssen den meisten Christen dieselben Schwierigkeiten entgegen kommen, aber doch der Geist Gottes waltet besonders in der Schrift, der Geist kommt aus dem Glauben, der Glaube aus der Predigt, die Predigt aus der Schrift. So kann jeder Gott aus der Schrift verstehen. Trost und Kraft und Rührung des Gemüthes wird gewiß jedem kommen, der fromm die Schrift liest. Aber fragen wir: ist das jedem auch ein vollkommenes, klares Verstehen? so werden wir sagen müssen, das ist es nur in wenigen und seltenen Fällen, auch den Verständigsten, Redlichsten | nur im Einzelnen. Ist schon ein jedes volle Verstehen menschlicher Rede in ihrer vollen Bedeutung etwas besonders Seeliges für einen jeden, der den wahren Werth und innern Zweck des Lebens versteht, wie viel mehr muß es ein volles Verstehen des Wortes Gottes seyn? Genießen wir aber eines solchen seeligen Augenblicks, dann müssen wir auch fühlen, daß das gewöhnliche Verstehen und Auffassen der Schrift weit dahinter zurückbleibt, dann müssen wir fühlen, daß Gott uns 28–29 Vgl. Röm 10,17
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bei diesem Verstehen Geist an Geist stehe. Aber daß es solche Augenblicke giebt, das muß jeder Christ wissen und erfahren haben.
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2. Was können wir dazu thun und wie kommen wir dazu? Die höhern, die seeligen Augenblicke des menschlichen Lebens heben sich durch die Gnade Gottes aus den gewöhnlichen hervor, wer diese verschmähen wollte, der würde auch jene nicht finden. Wer sich einbilden wollte, das gewöhnliche Leben ganz zu verschlagen und bloß den höchsten Gipfel des höchsten Daseyns zu genießen, der würde in einem gefährlichen Irthum seyn. Wer sich überreden wollte, er könne die gewöhnlichen Verrichtungen des Lebens unterlassen und seine Kraft nur für das Außerordentliche aufsparen, der wäre in einer großen Eitelkeit und das Wort wird ihm ein drückendes | schweres werden: wer im Kleinen nicht treu ist, ist es auch nicht im Großen. So auch hier. Wenn wir glauben wollten, wir wollten allen Umgang mit der Schrift versparen auf die Zeit, wo wir glauben, wir könnten nun tiefer eindringen, als gewöhnlich, ja dann würden uns die nothwendigen Bedingungen fehlen zum Verstehen. Wenn die Apostel bei den Besuchen des Herrn die Schrift nicht gekannt hätten, so würde er ihnen das Verständniß des Geistes nicht haben öffnen können. Also das freilich ist die erste Bedingung, daß wir treu das Große, was uns Gott in der Schrift gegeben hat, verwalten, daß wir dem Gefühle, was uns zu ihr treibt, folgen, wenn wir auch nicht gerade eine besondre Heimsuchung der göttlichen Gnade ahnen können. Auf diese Weise werden wir denn bekannt mit dem göttlichen Worte in seinem ganzen Umfange und dann kann es uns nicht fehlen, daß uns manchmal etwas in seiner vollen Kraft vor das Gemüth tritt, so, daß wir das Wort Gottes in seinem tiefsten Umfange verstehen. Aber, M. F., es giebt von diesem gewöhnlichen Gebrauche der Schrift auch eine Beschäftigung, in welcher sich die Verkehrtheit des menschlichen Gemüths offenbart, vor welcher nicht genug zu warnen ist. Das ist das, die gewöhnlichen Beschäftigungen des Lebens, das liebende Zusammenseyn mit unsern Brüdern zurückdrängende | einsame Forschen und Grübeln in der Schrift. Daraus kommt kein Seegen nicht nur in leiblicher, sondern auch in geistiger Rücksicht. Das soll der Mensch nicht glauben, daß man sich nur in Gemeinschaft mit Gott setzen könne durch abgesonderte Betrachtung, gesetzt auch, diese hätte nur das göttliche Wort zur Absicht. Unser ganzes Wirken ist nur im gemeinsamen Leben, in das uns Gott gesetzt hat und wer sich da herausreißt, der betrügt sich bloß selbst. Und sehen wir auf die Früchte solches heimlichen Grübelns, was sehen wir da? 1. daß die Schrift gemißbraucht wird, um dasjenige durch sie zu gewinnen, wozu sie dem Menschen nicht gegeben ist, eine Kenntniß der Zukunft, welche der Mensch 28 das] ein 12–13 Vgl. Lk 16,10
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nicht haben soll und nicht bekommen kann. Zeigt sich darin nicht das thörigte menschliche Herz, welchem auch das Heiligste nicht zu groß ist, es zu mißbrauchen? oder 2. die Menschen forschen in der Schrift, nicht damit sie ihr Leben darin finden, sondern den Tod andrer, um daraus ihre Nebenmenschen zu richten, und zu vergleichen, ob die Worte ihrer Mitmenschen auch dieselben der Schrift sind. Dazu hat Gott sein Wort nicht gegeben, daß man daraus andre richten solle, sondern daß sich jeder daraus erbaue. Das Gericht hat er sich selbst vorbehalten. Und wie sollten wir dies auch, wenn es auch erlaubt wäre, | da so mancherlei in der Schrift enthalten ist. Der Eine hält sich hieran, der Andre daran, der Eine erbaut sich in dem, der Andre in jenem und dadurch, daß der Andre dies oder jenes nicht so hoch hält, wie ich, kann ich daraus schließen, daß er sich nicht auch stärke und erbaue aus der Schrift? „Das Gericht hat er sich allein vorbehalten und wir sollen keinen Theil daran haben.“ Stärkung und Erbauung, das soll jedem die Schrift seyn. Hat er diese, dann gehe er auch muthig in die Welt zu seiner Arbeit und vertiefe sich nicht ins Grübeln. Warnen kann man wol, aber wenn man fragt: wie gelangt man von dem gewöhnlichen Lesen und Verstehen auf das Höhere? dann, M. F., ist wenig zu sagen. Aber es ging ja auch den Jüngern so, als uns. Sie konnten sich den Erlöser nicht bestellen, sondern er kam, wann er wollte. Aber wann kam er? Wenn sie voll waren von ihm, wenn sie beisammen waren frisch und fröhlich in Liebe, dann trat er unter sie. So ist es damals gewesen, so ist es jetzt und so wird es immer seyn. Das menschliche Leben ist ein solcher Wechsel des Höheren und des Niederen, aber wie das Höhere aus dem Geringern hervorgeht, das ist das Geheimniß und von jedem gilt es: Tag und Stunde hat sich der Herr vorbehalten. Lasse sich nur der | Knecht wachend finden, wenn der Herr kommt. Wachen heißt aber nichts anderes, als immer erfüllt seyn von der christlichen Pflicht der Liebe. Thun wir das, dann wird Christus unversehends unter uns treten. Manchmal erscheint uns das in unserm Zusammenseyn wie den Jüngern, wenn uns ein Wort der Schrift zusammentrifft mit einem Bedürfniß des Herzens. Dann ist ein solcher Augenblick da, und es ergreift uns dann in seiner eingenthümlichen Kraft. Mitten im menschlichen Leben, denn damit hängt das göttliche Wort genau zusammen, kommt es uns. Ja von welcher Art auch das Leben sey, wie es damals war, als der Erlöser den Jüngern die Schrift verständigte, so ist es auch jetzt. Jeder solcher Augenblick öffnet uns das Verständniß der Schrift. Was in unsrer Seele ist, wenn wir dies aussprechen können, so ist das schon etwas Höheres, aber noch weit mehr, wenn es sich verbindet mit einem göttlichen Worte. So oft wir irgend einen Augenblick unsers Lebens in Verbindung bringen können mit irgend einem Worte des Erlösers, dann ist es uns erst recht lebendig und daraus erwächst dann das höhere Leben, das ist das Zunehmen im geistigen Leben, wozu uns allen das Mittel gege25–26 Vgl. Apg 1,7
26–27 Vgl. Lk 12,37
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Predigt über Lk 24,44–48
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ben ist, wenn wir es nur treu gebrauchen wollen. Möge uns allen unsre Erfahrung gesagt haben, wie wahr alles dies ist! möge keiner hier | seyn, an dem sich die Schrift nicht so verklärt hat! Dann werden wir auch das zu uns sagen können: „ihr seyd deß alles Zeugen“. Zeugen sollen wir seyn von der Kraft des göttlichen Worts vor der unchristlichen und lauchristlichen Welt, Zeugen vor aller Welt und besonders vor den jungen christlichen Gemüthern, Zeugen sollen wir seyn und Anführer derer, die uns Gott anvertraut hat, lernend, immer fort lernend von dem, der unser Meister ist, nie müde werdend, seine Wege zu wandeln, aus der Quelle seines Lebens zu schöpfen Gnade um Gnade, Verständiß um Verständniß und Tugend, die vor Gott und Menschen gilt. Amen. – Gebet. Barmherziger Gott und Vater! Laß den Seegen deines Worts reichlich unter uns wohnen, laß es dazu dienen, die Menschen zum Himmel immer mehr zu führen, zu ihrem Vaterlande, das oben ist. Dazu segne das Wort in der Kirche, den Unterricht der Jugend, den Gebrauch der Sacramente. Und so sey dir empfohlen die ganze Kirche deines Sohnes. Verschaffe du ihr Pfleger durch alle Regenten und Mächtige der Welt. Ueber alles laß deine Gnade groß seyn über deinem Knecht unsern König. Verleihe du ihm, daß er sein Volk leite zu allem wahren Wolergehen. Segne das ganze königliche Haus, daß es uns sey ein Vorbild deines heiligen Willens. Segne alle, denen | das Wohl des Vaterlandes anvertraut ist. Erfülle sie mit Eifer und Kraft, das Erkannte auszuführen. Segne auch uns alle in dem stillen Kreise, daß es keinem fehle an dem guten Gewissen vor dir und erfülle uns mit dem Glauben, daß das Daseyn desjenigen, der in dir lebt, nie vergeblich sey und daß allen, die dich lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Amen.
[Liederblatt vom 20. April 1817:] Am Sonntage Miser. Dom. 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu meiner Seelen etc. [1.] Stärke, denn oft will er wanken, / Meinen Glauben Gott an dich, / O wie wird mein Herz dir danken! / Wie frohlocken! höre mich! / Laß mich nicht an dir verzagen, / Immer kühnre Blicke wagen, / Sinkt mein Glaube, gieße du / Oel der schwachen Flamme zu. // [2.] Aechten Glauben schenk vor allen / Andern Gnaden, Vater, mir! / Wem er fehlt, muß dir mißfallen; / Wer ihn hat, ist eins mit dir. / Er belebe meine Triebe, / Sei der Stab, die Hand der Liebe, / 10 Vgl. Joh 1,16
26–27 Vgl. Röm 8,28
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Er besiege wie ein Held / Durch mich Satan, Fleisch und Welt. // [3.] Glauben, wie wenn ich dich sähe / Flöße mir mein Heiland ein! / Im Gefühl von deiner Nähe, / Laß mein Herz sich täglich freun! / Jesus willst du dich nicht zeigen? / Hörst du mich, wie kannst du schweigen? / Gieb mir Glauben, nahe dich / Meinem Geist und stärke mich! // [4.] Unaussprechlich schwach und flüchtig / Ist das tief verdorbne Herz, / Heut ist Heiligkeit ihm wichtig / Morgen ihm die Sünd’ ein Scherz. / Ach wär nur mein Glaube fester! / Stärk’ ihn, mehr ihn, Allerbester! / Jesus eile, stärk’ ihn, du! / Ach sonst find’ ich keine Ruh. // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Dir dir Jehova will etc. [1.] Von dir mein Gott strömt Licht und Leben, / Der du des Lichts und Lebens Quelle bist. / Noch hat mich Finsterniß umgeben, / Noch bin ich nicht, wie dirs gefällig ist. / O senk’ in mich der Wahrheit Strahlen ein, / Belebe mich, so leb’ ich dir allein. // [2.] Dein Wort zog aus den Finsternissen / Mit hoher Kraft der Sonne Licht hervor, / Du sprachst, da ward’s dem Nichts entrissen, / Und schwang sich schnell aus tiefer Nacht empor, / Herr, laß dieß Wort in mir auch mächtig sein / Es zeige mir die Wahrheit hell und rein. // [3.] Dich hat noch niemand je gesehen, / Dein Sohn allein hat dich bei uns verklärt, / Doch wie kann ich ihn recht verstehen, / Wenn nicht dein Geist mich durch das Wort belehrt? / Drumm komm o Geist, du Geist der Frömmigkeit / Erleuchte mich in dieser Dunkelheit. // [4.] Dann werd’ ich Herr, dich recht erkennen, / Wenn deinem Willen sich mein Herz ergiebt, / Nur dann erst froh dich Vater nennen / Wenn mir dein Geist der Kindschaft Zeugniß giebt. / So wird mir erst die hohe Weisheit klar, / Die uns durch Jesum offenbaret war. // [5.] O leite mich in deiner Wahrheit / Den Lebensweg durch Irrthum und durch Nacht, / Umgieb dein Wort mit sanfter Klarheit, / Verleih ihm oft auch deines Donners Macht, / Damit erschreckt der Sünder um sich seh’ / Und wehmuthsvoll bei dir um Gnade fleh. // [6.] Verklärt wird alles mir im Bunde / Durch den der Sohn mich ewig dir vereint, / Erhellet selbst die dunkle Stunde, / Wenn ob der Sünde bang das Auge weint, / Dein Wort zeigt mir das Heil in Jesu Blut, / Und giebt zum bessern Wandel neuen Muth. // [7.] So trägt mich frei vom Hang zum Staube / Seit Gott mich höhres Leben finden ließ, / Zu jenem schönren Land der Glaube, / Das durch den Sohn der Liebende verhieß; / Zur Bildung für die Unvergänglichkeit / Führt mich dein Wort, und zur Vollkommenheit. // Unter der Predigt. – Mel. Herzlich thut mich etc. Laß mich dein sein und bleiben, / Du treuer Gott und Herr, / Von dir laß mich nichts treiben / Halt mich bei reiner Lehr. / Herr laß mich ja nicht wanken / Gieb mir Beständigkeit, / Dafür will ich dir danken, / In alle Ewigkeit. // Nach dem Gebet. – Mel. Ich ruf zu dir Herr etc. Freund meiner Seele, du bist mir / Der Weinstock, ich die Rebe, / Zeuch mich dir nach, daß ich zu dir / Mich von der Welt erhebe. / In jeder Noth o Gott laß mich / Bei dir Erbarmung finden, / Trost empfinden, / Und dann zuletzt durch dich / In allem überwinden. //
Am 1. Juni 1817 vormittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 14,6.23 Nachschrift; SN 623, Bl. 6r–6v; Crayen Keine Keine Keine
Tex t : „Niemand kommt zum Vater denn durch mich! Wer mich liebt den wird der Vater lieben: – und wir werden kommen und Wohnung bei ihm machen! 5
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Die Feier des Festes der Hl. Dreieinigkeit wird uns eben dadurch zu Gott dem Vater zurückführen: wenn wir in ihm den Urquell alles deßen erblicken, was durch den Sohn und Hl. Geist, uns an Liebe und Gnade zu Theil geworden ist – als auch, wenn wir es dankvoll erwägen: daß durch die Krafft seines heiligen Odem’s – schon bei unsrer Erschaffung die Empfänglichkeit uns zu Theil geworden: diese Gnadengüter in uns aufnehmen zu können. – „Der Vater ist größer denn ich!“ sprach Jesus: Er ist es welcher Alles erfüllt – und von dem Alles ausgeht! – Da wir aber zu schwach waren: uns seiner Majestät klar zu dencken, so mußte der Sohn Gottes auf Erden erscheinen – er mußte uns ihn offenbaren: „Wer mich siehet – der siehet den Vater“ – wir konnten aber auch nur durch den Sohn in seine Gemeinschaft eintreten. – „Ich und der Vater wir werden Wohnung bei euch machen!“ Nach dieser gnadenreichen Verheißung, dürfen wir uns Gott nicht sowohl: über uns thronend – als vielmehr: | in unsern – von ihm erfüllten – Herzen wohnend, dencken. – Christus hat den Vorhang hinweggenommen welcher, bei dem jüdischen Volke, noch das Allerheiligste bedeckte! – und immer noch eine Kluft zwischen Gott und seinem Volke setzte – so daß nur durch Vermittlung des Hohenpriesters ihm ihr Anliegen vorgetragen werden durfte. – Seitdem aber Jesus uns Gott: als Vater geoffenbart hat – dürfen wir selbst – vertrauensvoll – uns ihm nahen: Denn er wohnt in unsern – ihm geweihten und geheiligten Herzen! – Und wir würden zurücktreten zu der Vorstellung des jüdischen Volckes von Gott: wenn wir uns ihn, in einer Absonderung von uns dächten – oder 7–9 Vgl. Gen 2,7 Mk 15,38; Lk 23,45
10 Joh 14,28
13–14 Joh 14,9
18–20 Vgl. Mt 27,51;
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wenn dieser Gedancke, an die Nähe des höchsten Wesens, uns mit einer knechtischen Furcht erfüllte – und nicht vielmehr die danckvollste Sehnsucht in uns unausgesetzt, erweckte und unterhielte: uns dieser heiligen Gemeinschaft mit Gott, immer reiner theilhaftig zu machen. Die Ansicht: daß Gott unser Vater ist – und als solcher – in uns wohnt, soll uns aber auch ermuntern und verpflichten: in dem Hause des Vaters, in liebevoller Sorge für alle seine Kinder – unsere Brüder – zu walten. Auch würden wir unsere Bestimmung verfehlen, und unser Pfund vergraben wenn wir uns, in Zurückgezogenheit, nur mit dem Anschauen Gottes begnügen – und beschäftigen wollten.
8 Vgl. Mt 25,14–30
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Am 8. Juni 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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1. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,1–11 Nachschrift; SAr 38, S. 423–425; Jonas Keine Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 337–350 und S. 351–368; König (rekonstruiertes Fragment, vgl. KGA III/7, S. LV) Beginn der bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Homilien über den Brief Pauli an die Philipper von Fr. Schleiermacher. Jonas. |
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Den 8. Juny 1817.
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Einleitung Es ist ein großer Beweis der Vortrefflichkeit und Göttlichkeit der heiligen Schrift, daß wir oft, nicht nur an abgerissenen Stellen, sondern selbst in großen Abschnitten, wie sie im natürlichen, geschichtlichen Zusammenhange sind, solche Aehnlichkeit mit dem Zustande derer, für welche und an welche die heiligen Schriften geschrieben sind, und dem unsrigen finden, als ob dieselben für uns gemacht zu seyn schienen. Darum wird es auch erbaulich seyn, einen ganzen Abschnitt in seinem geschichtlichen Zusammenhange in den Nachmittagspredigten, nachdem der Kreis unserer christlichen Feste für dieses Kirchenjahr beschlossen ist, zu betrachten. ich möchte dazu den Brief Pauli an die Gemeine zu Philippi, welche ihm vorzüglich lieb war, nicht nur weil er sie selbst auf jener seiner merkwürdigen Reisen gestiftet hatte, und dabei zuerst für das Evangelium des Herrn litt, sondern auch weil sie alles mögliche that, sowol das Wort des Herrn in seiner Lebendigkeit unter sich zu erhalten, als auch dasselbe immer weiter ausbreiten und befördern zu helfen. Uebrigens schrieb er diesen Brief aus dem Gefängniß zu Rom, worin er wahrscheinlich starb. Philipper I. 1–11. 15–16 Vgl. Apg 16,11–40
19–20 Vgl. Phil 1,12–14
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Der Apostel sagt I. (v.7) Es ist billig, die Hoffnung zu hegen, daß das gute Werk fortbestehen werde. Dies haben wir ebenfalls auf uns anzuwenden. Diese Hoffnung soll auch uns stärken, wenn wir selbst den Zeitpunct nahe sehen, wo wir von dieser Welt und Wirksamkeit abgerufen werden. II. Welchen Grund hatte der Apostel zu dieser Hoffnung? Den, daß alle mit ihm derselben Gnade theilhaftig waren. v. 7. | Denselben Grund haben auch wir, wie verschieden wir auch alle denken mögen. III. Was ist die Vollendung der Hoffnung? v. 9. 10. Daß die Liebe je mehr und mehr reich werde in allerlei Erkenntniß und Erfahrung, daß man prüfe was das beste sey. Die Liebe ist die Grundbedingung des Christenthums. Sie ist der reine Sinn für das Göttliche und Gute, das Gott den Menschen durch Christum gegeben hat. So wie es aber im gewöhnlichen Leben im Zustande der Kindheit eine Liebe giebt, die Liebe zu den Aeltern, die aber nicht mehr ausreicht, wenn man auf einen andern Standpunct kommt, so giebt es auch im Zustande der Kindheit in der Religion eine Liebe, die Liebe zu Gott und Christo, die in solchem Zustand wol genügt, die aber, sobald das Leben zusammengesetzter wird, nicht mehr ausreicht. Da muß denn die Liebe reich werden an allerlei Erkenntniß und Erfahrung, welche das Herz berichtigen könne und alles zum klaren Bewußtseyn bringt, da muß man denn prüfen können, was das beste sey und vorzüglich, wer der beste sey, damit man sich an den halten könne. In dieser Prüfung muß man sich aber nicht leiten lassen von dem großen Haufen, der zu diesem oder jenem sich bekennt, oder der diesen oder jenen verketzert, sondern das eigene Urtheil muß ihn ganz selbstständig wählen. Wenn wir diese Liebe haben, reich an allerlei Erkenntniß und Erfahrung, d. h. die Liebe, verbunden mit der klaren Einsicht, dann werden wir auch (v. 10.11) lauter und unanstößig seyn, erfüllet mit Früchten der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum geschehen zur Ehre und zum | Lobe Gottes. Da aber dies nie im vollkommenen Maaß geschehen kann, da Christus in uns immer noch zu kämpfen hat mit den Früchten der Sünde und diese immer noch neben denen der Gerechtigkeit bestehen, so dauert das freilich bis auf den Tag Christi (v. 10). Aber da soll uns dann wieder jene Hoffnung stärken, daß das Werk auch fortbestehen werde und immer mehr sich seiner Vollkommenheit nähere, wie oft auch scheinbare Rückschritte zu entstehen scheinen.
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Am 15. Juni 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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2. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 2,16 Nachschrift; SAr 38, S. 91–104; Jonas Keine Keine Beginn einer Predigtreihe über eigene Worte des Erlösers (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigten über eigene Worte des Erlösers, die in den gewöhnlichen Abschnitten nicht enthalten sind und besonders auf die Zeit, in der wir leben, bezogen werden können. von Schleiermacher. Jonas. |
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Über Joh. II. 16.
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M. A. F. Schon seit geraumer Zeit seyd ihr es gewohnt, daß ich für einen bestimmten Zeitraum immer eine lose zusammenhangende Reihe von Predigten ankündige, bald verbunden durch die Aehnlichkeit des Inhalts, bald durch den fortlaufenden Zusammenhang der Schriftsteller, die zum Grunde gelegt werden. Das hat gewiß seine großen Vortheile. Es ist sonst nur zu leicht der Gegenstand, worüber geredet werden soll, dem Zufall überlassen, oder er erscheint wenigstens den Anwesenden so, oder sie finden sich auch geneigt, bald in dieser oder jener besondern Absicht den Grund aufzusuchen, warum gerade hievon und davon geredet wird. Das alles fällt ganz fort, wenn der Inhalt schon vorher bestimmt wird. So wollen wir es denn auch jetzt machen, nachdem der Kreislauf der christlichen Feste vollendet ist, indem wir uns jedoch die Freiheit lassen, bei besondrer Gelegenheit abzuweichen. Den Inhalt will ich nicht genauer bestimmen, als daß wir hier eigne Worte des Erlösers zum Grunde legen wollen, | die in den gewöhnlichen Abschnitten nicht enthalten sind und die vorzüglich auf unsre Zeit bezogen werden können. Dazu bitten wir Gott um seinen Beistand. cet.
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Joh. 2. 16. „Traget das von dannen und machet nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus.“
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Es wird euch allen bekannt seyn, in welchem Zusammenhange der Erlöser diese Worte geredet. Es war, als er zum ersten Male seit der Antretung seines öffentlichen Berufs in dem Tempel seines Volks zu Jerusalem auftreten wollte, daß er, über den Mißbrauch, der sich dort eingeschlichen, im Innern seines Gemüthes ergrimmt, diejenigen hinauswarf, die dort weltliche Geschäfte verrichteten. M. A. F. daß unser Gottesdienst immer mehr des christlichen Namens würdig, des heiligen Zweckes, zu welchem andächtige Jünger sich versammeln, angemessen werde, das ist allgemein gefühltes Bedürfniß auch dieser Zeit. Hin und her wird darüber gesprochen, was wol das Zweckmäßigste dabei sey, so, daß wir diese Worte des Erlösers wol geeignet finden können zu unsrer vorliegenden Betrachtung. Es muß uns sehr merkwürdig seyn, daß der | Erlöser sich diesem Mißbrauch mit der größten Kraft entgegensetzte, als er zum ersten Male nach Jerusalem kam, und zu demselben genöthigt war, als er zum letzten Male in die Stadt kam. So wichtig war ihm dieser Gegenstand, so groß sein heiliger Eifer, daß er, wie wenig es auch vorher gefruchtet, es doch wiederholte. Doch kann es scheinen, als ob die damalige Zeit, die damaligen Verhältnisse des Gottesdienstes zu sehr von den unsrigen verschieden waren, als daß die Worte auf unsre Zeit sollten angewandt werden können. Im jüdischen Gottesdienst wurde geopfert, man brauchte Münzen, die sonst nicht galten. Daher Wechseltische im Tempel, und Opferthiere, die verkauft wurden. Von solchen außerwesentlichen Bestandtheilen, von solcher Veranlassung zu weltlichen Geschäften ist unser Gottesdienst als ein geistiger seiner Natur nach frei. Was aber der Erlöser eigentlich meinte, was der allgemeine Inhalt seiner Worte ist, das ist dieses, daß die Zeit und der Ort der allgemeinen Gottesverehrung frei seyn soll und rein von aller Vermischung mit dem Weltlichen. Wo das ist, da ist unseres und seines Vaters Haus ein Kaufhaus. Lasset uns also sehen, wofür auch wir zu sorgen haben, damit | unser Gottesdienst rein sey, was auch wir hinaustragen müssen, ehe wir an andre Verbesserungen denken. Lasset uns 1. sehen auf die Absicht, in welcher das Haus Gottes besucht werden kann und 2. auf dasjenige achten, wobei zwar keine verkehrte Ansicht zum Grunde liegt, was sich aber doch ähnlich als Unreinheit offenbart. Folget mir mit christlicher Andacht! 5–9 Vgl. Joh 2,13–17 17–18 Vgl. Joh 2,13–17 Mk 11,15–19; Lk 19,45–48
18–19 Vgl. Mt 21,12–17;
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Predigt über Joh 2,16
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I. M. A. F. Auch in dem Gottesdienst der Christen, der ein reiner, ein geistiger, eine Verehrung Gottes im Geiste und in der Wahrheit seyn soll, hat es doch immer nicht daran gefehlt, daß sich mehr oder minder allerlei unreine Absichten bei der Theilnahme an demselben und der Einrichtung desselben beimischten. Zuerst, M. F., das ich bloß der Vollständigkeit wegen vorausschicke und wovon wol am wenigsten die Rede seyn sollte, daß wir nöthig hätten uns darüber zu prüfen, zuerst, wenn jemand das Haus der gemeinsamen Andacht besucht, nicht sich zu erbauen, nicht sein Herz zu erheben, sondern wenn es geschieht, weil auf die äußern Beweise der Frömmigkeit in der Welt ein Werth gelegt wird, weil man nicht scheinen will, gering zu | achten und zu verschmähen, was andern heilig ist, weil man den guten Ruf der Frömmigkeit davon tragen will, als etwas, das uns ihre Achtung und ihren Beistand sichert, wenn jemand an der gemeinsamen Andacht Theil nimmt, ja dann, M. F. ist dieser Ausspruch des Erlösers: ihr machet meines Vaters Haus zum Kaufhause nicht stark genug, sondern es muß darauf angewandt werden, was der Erlöser bei einer andern Gelegenheit sagt: meines Vaters Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt es zur Mördergrube gemacht; denn das ist das Scheinverbreiten, das vom Vater der Lügen ausgeht. Aber, M. F., etwas andres schließt sich an dieses zunächst an. Es hat immer unter den Christen viele gegeben, welche geglaubt haben, daß sie des Seegens der allgemeinen und öffentlichen Erbauung entbehren könnten, theils weil ihnen doch nichts gegeben werde, als was sie schon hätten, theils weil sie weit besser für sich die Stunden bestimmen könnten, das Herz zur Andacht zu sammeln, nicht aber im Stande wären, sich zu einer vorgeschriebenen Stunde zur Andacht zu entschließen. Das ist eine Denkungsart, die offenbar auf einem Mißverstande beruht, welche die erhöhte Kraft, die daraus jedem Menschen hervorgeht, verkennt. Wer aber diesen Mißver|stand nicht erkennen kann, der ziehe sich auch wirklich zurück von den Häusern der Andacht. Aber wie viele giebt es nicht, die so denken, aber es doch für Pflicht halten öfters zu erscheinen, damit ihr Beispiel wirke auf diejenigen, denen Noth thut hinzugehen. Ja, M. F., das ist nur eine feilere Art der Heuchelei als jenes, das ist auch ein Sinn, der sich mit der reinen Ehrfurcht vor unserm Vater nicht verträgt, es macht auch das Haus Gottes zum Kaufhaus. Ein gutes Beispiel kann nur das geben, was aus dem Gemüthe des Menschen selbst hervorgeht. Was er erkünstelt, das kann dazu nicht beitragen; und was kann dadurch bewirkt werden? Eine Nachahmung, die auch nicht seegensreicher ist, die gar keinen Werth hat, eine Nachahmung christlicher Gesinnung, nemlich die äußern Wirkungen derselben, eine größere Regelmäßigkeit in dem äußern Leben des großen Haufens, eine grö3 Vgl. Joh 4,23–24 18 Vgl. Jer 7,11
17–18 Mt 21,13; Mk 11,17; Lk 19,46 (Zitat aus Jes 56,7)
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Am 15. Juni 1817 vormittags
ßere Bewahrung desselben vor Verirrungen, das wollen sie erkaufen auf Kosten der innern Wahrheit und so machen auch sie das Haus ihres Vaters zum Kaufhaus. Aber noch weiter. M. F., die Mittheilung der Frömmigkeit, die hier gestiftet ist, sie kann unmöglich rein unmittelbar vom Herzen zum Herzen gehen. Sie bedarf der Rede, des Gesangs, mancherlei Gebräuche und einer | Vereinigung mehrerer zu demselben Zwecke. Ach! wie viel Menschliches, Unreines mischt sich da nicht in die Absichten derer, die Theil nehmen! Wie viele wollen nicht mehr schöne Worte hören, als christlichen Sinn in sich aufregen lassen! Wie viele wollen nicht durch das, was sie beitragen, den Beifall derer, die um sie her sind, sich verschaffen! Wahrlich, M. F., es bedarf nicht, daß unser Gottesdienst ähnlicher Verunreinigungen fähig sey, wie der, gegen welchen der Erlöser entbrannte. Diese sind eben so tadelnswerth und würden eben so sein Mißfallen erregt haben, wenn er sie hätte ahnen können. Menschengefälligkeit da zu suchen, wo das Herz sich erheben soll zu Gott, wo nur derjenige den meisten Seegen davonträgt, der reuig an seine Brust schlägt und sagt: Gott sey mir Sünder gnädig, wer da von solchen Nebenabsichten und Gedanken erfüllt seyn kann, der bringt ja die ganze verderbte irdische Welt mit in das Haus des Vaters, der will ja nicht den reinen Seegen für das Innerste des Herzens, sondern was ihm wohlthut und wol thun soll in seinen weltlichen Geschäften, das will er für sich erhandeln zum Verderben des heiligen Zweckes, zu dem wir da sind. Aber es sind auch und das muß uns besonders wichtig | seyn, es sind immer verschiedene Meinungen gewesen unter den Christen über die Art der Einrichtung des allgemeinen Gottesdienstes. Manches ist in der Zeit von selbst hervorgegangen, manches durch die redliche Bemühung Einzelner und indem eine immerwährende Fortbildung statt findet, so haben die Aeußerungen der meisten Menschen einen bedeutenden Einfluß darauf. Jeder soll also sagen, was er für das Rechte und Gute hält, aber aus seiner reinen Ueberzeugung des Herzens. Wenn aber jeder nur redet, was er von dem andern gehört, wenn viele etwas als das Gute und Rechte für vorzüglicher halten als das Bisherige, nicht weil sie es selbst erwogen haben, sondern nur um diesem oder jenem zu gefallen, der sich für das eine oder das andre verwendet, M. A. F., was treibt uns dann andres, als wiederum die Rücksicht auf weltliche, äußere Verhältnisse? Was anders beseelt das Gemüth dabei, als Menschengefälligkeit oder Menschenfurcht? und auch das ist eine Art von Heuchelei, eine Art von Handel mit dem, was uns eigentlich dazu viel zu heilig seyn sollte. So wird also auch auf diese Weise das Haus des Herrn ein Kaufhaus. 6 einer] eine 17 Lk 18,13
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Dieselbe Verschiedenheit hat auch schon statt gefunden | in Beziehung auf die Lehre. Diese hier vorzutragen nach seiner Ueberzeugung, den Zuhörern eingänglich zu machen, das ist der Zweck der Rede und aller Gebräuche bei unsern religioesen Handlungen. Da hat nun die Ueberzeugung des Einzelnen, in wie fern sie sich nur nicht ganz und gar entgegenstellt der allgemeinen, mehr oder minder ihr freies Spiel. Soll nun Gott angebetet werden im Geist und in der Wahrheit, so muß jeder auch davon reden, was ihm die heiligste Wahrheit ist nach seiner Ueberzeugung, aber gerade nur, wie hier jeder seinen Weg geht, ohne rechts zu sehen oder links. Denn so wie jeder nicht nur seine Ueberzeugung geltend machen will, sondern andre auch in den christlichen Gemüthern mit Treue gegen den Erlöser verbundenen Ueberzeugungen heruntersetzt, als unchristlich darstellt und sie für seine besondre Ansicht will zu gewinnen suchen, so wird doch ein Handel getrieben, Gewinn gesucht und nicht rein auf den großen Zweck der Erbauung hingearbeitet, sondern das Gemüth zerstreut und abgewendet von dem, was Noth thut; denn im Streit der Meinungen ist keine Erbauung, keine unmittelbare Gemeinschaft mit Gott, immer die Einmischung eines Fremden, denn das Reich Gottes ist nicht | das Reich des Streites, sondern des Friedens. Wo der gestört wird, da wird auch das Reich Gottes nicht nur gestört, sondern auch gefährdet. II. Nun laßt uns noch sehen auf dasjenige, wobei zwar eine verkehrte Absicht nicht statt findet, was sich aber im Erfolg nur allzu oft eben so zeigt. Sehen wir auf die ersten Versammlungen der Christen, so finden wir da nur das Allereinfachste, von allem Fremden rein gesondert, nichts, als Erbauung, Preis Gottes, Erklärung. Wenn wir sehen, wie im Laufe der Jahrhunderte der christliche Gottesdienst sich gestaltet hat, wenn wir sehen auf die Pracht der Gebäude, auf die Mannigfaltigkeit der Kunst, auf die schöne Zusammensetzung der Töne, die schönen äußern Gebräuche, wenigstens in manchen Theilen der christlichen Kirche, welche Verwandlung, welcher Abstand! Woher ist das entstanden? Woher, als weil man es je länger je mehr gefühlt hat, wie schwer es ist, im zusammengesetzteren Leben das Herz lange auf einem Puncte festzuhalten, weil man etwas nöthig fühlte, das den umherschweifenden Sinn zurückführte auf den wahren Zweck. Wie zeigt sich aber dieses in seinem Erfolge? Wie oft ersehen wir, daß | es die Andacht gar nicht fördert, oft sogar stört, denn so oft wir uns an das Sinnliche hangen, so ist Zerstörung da und Streit zwischen dem Zustande, in welchem wir seyn wollen und dem, in welchem wir sind. 26 Erklärung] Erkärung 6–7 Vgl. Joh 4,23–24
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Darum, M. A. F., haben unsre Vorfahren auch darauf gedrungen, den christlichen Gottesdienst seiner ursprünglichen Gestalt wieder näher zu bringen, ihm allen äußern Glanz wiederum zu rauben, ausgehend davon, daß er nichts Aeußerliches bedürfe. Aber allmählig ist wieder manches hinzugekommen und oft fragt man, ob nicht der Andacht müsse nachgekommen werden durch das, was auf die Sinne wirkt, ob man dadurch dieselbe nicht dem Ziele nähere. Wie sehr haben wir uns bei diesen Bestrebungen zu hüten, daß nicht das Gegentheil bewirkt werde von dem, was beabsichtigt ist! Wenn wir es fühlen, wie die gemeinsame Andacht mancherlei Unterstützung bedarf, o mögten wir das doch immer mehr in dem Innern als in dem Aeußeren suchen! Sicherer werden wir dann seyn, unsern Gottesdienst rein zu halten von dem, was uns wieder in das Irdische zurückzieht und fremdartig ist und von dem ungestörten Genuß in dem Hause des Vaters zurückführt in die Welt. Aber, redlich, M. F., der Grund hievon verdient noch | sehr unsre Aufmerksamkeit. Wenn wir suchen uns ein lebendiges Bild zu machen von dem Zustande, in welchem sich die Gemeinen versammeln, ja wahrlich, viel Herrliches werden wir gewahr! Kräftige Regungen des göttlichen Geistes, herrliche Entschlüsse, wohlthuende Begeisterung auch in denen, die die größte Zeit ihres Lebens im nüchternen und trockenen Arbeiten hinbringen. Das ist ohne Zweifel das Beste und Edelste. Aber ist so auch die ganze Zeit ausgefüllt? Wenn wir die Gemüther ganz verfolgen könnten, würden wir nie eine Zerstreuung bemerken, würden wir den Geist immer auf Gott gerichtet sehen, würden wir gar keine irdischen Gedanken entstehen sehen? Auch der Frömmste, M. F., wird das nicht leugnen können. Wir werden alle sagen müssen, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Und wir dürfen auch hier nicht zu viel fordern, nicht mehr, als der Mensch leisten kann und wenn wir dem Gottesdienste alles rauben wollten, so würde er seine Lebendigkeit verlieren. Jeder muß sich ja nothwendig auch an seine weltlichen Verhältnisse erinnern. Reden wir von den Pflichten, so ist der Weg dazu eröffnet, danken wir Gott für | seine Wohlthaten und für seinen Schutz, so ist der Weg eröffnet, wie jeder sich selbst an seine Sorge, an das, was er glücklich überstanden, erinnert. So das nur auf die rechte Weise geschieht, so das nur immer zurückgeführt wird auf das Höhere, so wird das, weit entfernt zerstörend zu wirken, vielmehr Lebendigkeit hervorbringen. So wie aber diese Erinnerungen anfangen, selbstständig zu werden in unserm Sinn, ja dann ist die ganze Haltung des Gemüthes geändert, dann hat das Irdische den Sieg davon getragen über das Geistige. Aber zart ist die Grenze und schwer aufzufinden und alle, mehr oder weniger, fehlen darin, und machen das Haus des Vaters zum Sammelplatze irdischer Gefühle und so 26 Mt 26,41; Mk 14,38
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ist auch das Haus des Vaters zu einem Orte geworden, wo irdische Gedanken wechseln. Ja, M. F., so viel fehlt immer und überall dazu, daß unser Gottesdienst dasjenige sey, was er seyn kann, so viel hat jeder selbst zu arbeiten, um nur die Störungen zu verhindern, die aus seiner Gebrechlichkeit entstehen. O mögten wir das erst alles davontragen können, wodurch das Haus unsers Vaters in das Weltliche | hinabgezogen wird! mögten wir die Schuld davon in uns selbst suchen und nicht glauben, daß dem abgeholfen werden würde, wenn dies oder das abgeschafft würde, sondern mögen wir je länger je mehr reines Herzens werden! Gleichgültiger haltend die äußere Gestalt, wie sie wechselt, abgesehen dann und gleichgültig haltend im Vergleich mit dem, was von uns selbst ausgehen muß, laßt uns den Worten des Erlösers fleißig nachdenken und jeder erwäge, was er fortschaffen müsse aus sich selbst, wenn er in das Haus seines Vaters geht! Auf dasjenige laßt uns sinnen, was wir selbst thun müssen, um uns eines lebendigen und vernünftigen Gottesdienstes, in welchem sich die Gemeinschaft mit Gott darstelle, um uns dieses immer würdiger zu machen, damit er so und nicht anders sey. Dann wird vieles Aeußere unnütz werden, dann werden wir auf uns die Worte des Erlösers anwenden können: ihr macht euch viel Sorge, aber Eins ist Noth. Eins, daß das Bild des Erlösers uns immer vor Augen stehe, Eins allein, daß wir nichts anderes begehren, als aus seiner Fülle immer in uns zu saugen, als immer in Gemeinschaft mit ihm zu seyn. Das Eine ist Noth, alles andre vergebene Sorge und Mühe. Amen.
[Liederblatt vom 15. Juni 1817:] Am zweiten Sonntage n. Trin. 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine. [1.] Unerschöpfter Quell des Lebens / Du hast deine Kinder lieb! / Müde nie des frohen Gebens / Reicher Vater Aller, gieb / Gieb uns Allen täglich Gnade! / Sei uns Licht auf unserm Pfade / Höher täglich führ uns hie, / In der Noth verlaß uns nie! // [2.] Vater! Vater dich zu nennen, / Sei der Seele größte Lust; / Höchste Weisheit! so dich kennen / Fülle freudig unsre Brust. / Tröster, Führer! Nein an Deiner / Treu und Milde zweifle keiner; / Jeder sag und jeder denk’ / Gott ist gut und sein Geschenk! // [3.] Jesus Christus, unser Leben, / Send’ uns was dein Gott dir gab, / Dir, dem alles übergeben, / Aus dem Heilig20 daß] daß daß 19–20 Vgl. Lk 10,41–42
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thum herab! / Freuden die uns nie gereuen, / Leiden die uns ewig freuen, / Trieb das beste nur zu thun, / Lust und Kraft in dir zu ruhn. // [4.] Lehr uns dulden, reden, schweigen, / Jetzt mit Heldenglauben flehn, / Dann uns tief in Demuth beugen, / Nun; Dein Wille soll geschehn! / Lehr uns dich im Geist umfaßen, / Gutes lieben, böses hassen; / Mache, brünstig flehen wir, / Heiliger uns ähnlich dir! // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird. [1.] O Tag des Herrn du sollt mir heilig / Ein Festtag meiner Seele sein! / Gleich jenen ersten Christen, heilig / Will ich den Tag der Andacht weihn. / Zum Himmel soll mein Geist sich schwingen, / Zum Himmel, denn ich feire heut / Entfernt von allen eitlen Dingen / Den Festtag wahrer Frömmigkeit. // [2.] Mit allen heiligen Gemeinen, / Die heut vor deinem Antlitz stehn, / Soll meine Seele sich vereinen / Herr deine Liebe zu erhöhn! / Wo sich die Gläubigen versammeln, / Stimm ich in das geweihte Chor, / Dein Lob mit Ehrfurcht hier zu stammeln; / Einst steigt ein beßrer Psalm empor. // [3.] An diesem Gott geweihten Orte / Erschallt der Gnade Stimme mir; / Ich höre, Jesu, deine Worte, / Und stille seufzt mein Herz nach dir. / Da wirst du Lehrer mir und Tröster, / Ich kann mich deiner Liebe freun, / Ich fühle mich als dein Erlöster, / Und lerne dir ergeben sein. // [4.] Und Gottes Wort hier zu erwägen / Ist hohes Glück und heil’ge Pflicht; / Ein Thor verkennet nur den Seegen / Aus diesem theuern Unterricht! / Nein nein mit einfaltvoller Seele / Mit Dank und Demuth als dein Kind / Vernehm ich Vater die Befehle, / Die lauter Licht und Leben sind. // [5.] O Tag des Herrn, o Tag der Wonne / Du Tag des Seegens für mein Herz! / Bestrahle mich o Geist der Sonne / So hebt mein Geist sich himmelwärts. / Gott! Segne meine Andachtsstille! / Erfüll mit deines Lichtes Glanz / Mit deines Geistes selger Fülle / Mich heut o Jesus Christus ganz! // (Lavater.) Unter der Predigt. – Mel. Die Seele Christi. [1.] Schaff du ein reines Herz in mir / Ein Herz voll Lieb und Furcht zu dir, / Ein Herz voll Demuth Preis und Dank, / Ein frommes Herz mein Lebenlang! // [2.] Laß deines Namens mich zu freun / Ihn stets vor meinen Augen sein! / Laß meines Glaubens mich zu freun / Ihn stets durch Liebe thätig sein. // Nach der Predigt. – Mel. Dir dir Jehova. Verkläre dich aus deinem Worte / O du des Lichtes Quell auch heut uns ganz / Nicht hier allein, an jedem Orte / Umstrahl uns deiner ewgen Wahrheit Glanz, / In Lieb und Glauben froh uns dir zu weihn / Dein Tempel, Heilger, überall zu sein. //
Am 18. Juni 1817 Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Mittwoch, Stadtverordnetenwahl Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Spr 16,13–14 Nachschrift; SAr 37, Bl. 92r–92v; Jonas Keine Keine Stadtverordnetenwahl (vgl. Einleitung, Punkt I.3.)
Bei der Wahl der Stadtverordneten am 18. Juni 1817.
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Tex t. Sprüche Salomonis 16. 13.14. Recht rathen gefällt den Königen und wer gleich zu räth, wird geliebt. Des Königs Grimm ist ein Bote des Todes, aber ein weiser Mann wird ihn versöhnen. Es ist ein glückliches Ereigniß, daß dieser Tag gerade zusammenfällt mit jenem so merkwürdigem Tage, an welchem unser Heer, 2 Tage vorher geschlagen, den Feind so herrlich besiegte, was wenige Beispiele hat. Wenn wir fragen, was wol im Stande war, dies hervorzubringen, so müssen wir sagen, daß es das gegenseitige Vertrauen war, das die Oberen und Unteren gegenseitig hatten. Diesem Vertrauen stehen aber entgegen 1. Menschgefälligkeit. Bei jeder gemeinsamen Angelegenheit kann nur gewirkt werden, wenn jeder seinen Rath giebt, wie er ihn seiner reinsten Ueberzeugung nach, ganz auf die Sache gerichtet, geben muß. Wir finden aber das nicht immer so. Wir sehen oft, daß einige nicht auf die Sache sehen, sondern auf die Person, daß sie umhergehen und spähen was wol die Oberen über die zu berathende Sache meinen, damit sie sich dafür erklären können, abgesehen von ihrer wahren Ansicht von der Sache. Das ist Menschengefälligkeit, und dem entgegen strebt unser Text durch die Worte: Recht rathen gefällt den Königen, und wer gleich zu räth, wird geliebt. Dies gründet sich aber eben auf jenes Vertrauen, daß man von seinen Oberen fest überzeugt ist, daß ihr Streben rein auf die Sache gerichtet ist, daß sie also auch nichts verlangen als die reine Ueberzeugung eines jeden zu hören und daß sie jeden lieben, der gerade zu räth. 7–8 In der Schlacht bei Ligny am 16. Juni 1815 wurde die preußische Armee geschlagen, konnte aber einen intakten Rückzug vornehmen. Am 18. Juni 1815 brachte die Schlacht bei Waterloo Napoleons endgültige Niederlage, die zu seiner Abdankung am 22. Juni 1815 führte.
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2. Menschenfurcht. Die gründet sich darauf, daß in den Oberen viel Gewalt ist und daß man glaubt, sie werden diese Gewalt gegen diejenigen gebrauchen | die da etwas andres rathen, als es ihnen gefällt. Das giebt unser Text zu in den Worten: des Königs Grimm ist ein Bote des Todes. Aber setzt er hinzu, ein weiser Mann wird ihn versöhnen. Dieses edle Selbstvertrauen nun, daß man ihn werde versöhnen können, und dieses Vertrauen, daß er sich werde versöhnen lassen, muß immer uns dahin führen, daß wir Recht rathen und schlechthin geradezu. Dahin führt uns überdies auch das eigenthümlich Christliche. Da ist keine Furcht, sondern da ist Liebe, Bruderliebe und auf dieser Bruderliebe, die auf keinen Unterschied der Person sieht, ruht wieder das Vertrauen, daß auch alle andern nichts anderes wollen als nur die Förderung der Sache, und daß sie diejenigen lieben, die geradezu reden. Wie kann es auch mit dem Gewissen desjenigen stehen, der sich in der Ablegung seiner Meinung bestimmen läßt durch Menschengefälligkeit und durch Menschenfurcht, wenn nun dasjenige, wozu er hiedurch getrieben, gerathen hat, sich durch den Erfolg als das Schlechtere beweist und er nun zufällig äußert, er habe es wol besser eingesehen, aber er habe sich durch solche Rücksicht bewogen gefühlt, zu etwas anderem zu rathen, wie kann es mit seinem Gewissen stehen, wenn ihn nun die Oberen selbst zur Rede stellen sagend: warum hast du uns nicht gerathen, was deine wahre Meinung gewesen? Dagegen steht es mit demjenigen immer gut, der ohne Menschgefälligkeit und ohne Menschenfurcht Recht gerathen hat nach seiner innersten Ueberzeugung, denn welche Meinung auch wirklich durchgegangen ist und was auch immer möge der Erfolg gewesen seyn, er wird sich immer entschuldigen können, wenn er zu seinen Oberen sagte: ich habe das feste Vertrauen zu euch gehabt, daß ihr bloß von der Sache geleitet werdet und darum habe ich bloß im Begriff auf die Sache euch Recht gerathen, wie es meine Ueberzeugung war. Sie werden ihn doch immer lieben müssen, weil er geradezu gerathen hat. So möge Sie, meine Mitbürger bei dieser wichtigen Sache denn immer das reine Vertrauen zu ihren Oberen leiten, daß Sie ihre Stimme keinem andern geben, als nur dem, der nach Ihrer Ueberzeugung für das Ganze am besten wirken kann und so bitten wir Gott, daß er das Geschäft, was heute in den Kirchen unsrer Hauptstadt vorgenommen wird, wolle gesegnet seyn lassen, daß er diese wahrhaft zweckmäßige Anstalt zum Wohle des Ganzen gedeihen lasse und daß darauf sich bald noch etwas Größeres gründe noch mehr das wahre Wohl des Ganzen Befestigendes, daß er segnen wolle das Vaterland und den König cet.
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3. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,12–20 Nachschrift; SAr 38, S. 425–434; Jonas Keine Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 369–387 und S. 388–407; König (rekonstruiertes Fragment, vgl. KGA III/7, S. LVI) Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
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Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes, des himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sey mit uns allen jetzt und immerdar. Amen. 5
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M. A. F. Wenn wir die Schicksale des Christenthums im Großen betrachten, so sehen wir auf der einen Seite Ruhe und stille Verbreitung desselben, auf der andern Seite mancherlei Kampf, in dem die Bekenner des Christenthums zwar mancherlei Widerwärtigkeiten leiden mußten, wo aber dennoch die Kraft des Guten den Sieg davon trug. Niemals war die Macht des Bösen so stark, daß es gänzlich den Fortgang des Guten hätte hindern können. Wenn wir nun mehr in der Zeit leben, wo die ruhige Verbreitung die Hauptsache zu seyn scheint, so braucht uns keinesweges dasjenige in der heiligen Schrift fremd zu seyn, was sich auf die Widerwärtigkeit | bezieht, die einige zu bekämpfen hatten, denn auch Streit und Widerwärtigkeit ist heilsam zur Förderung des Evangelii. Darauf führt uns die fromme Betrachtung dessen, was Paulus in den folgenden Worten unseres Briefes sagt und darauf wollen wir unsre Gedanken hinwenden. Laßt uns Gott um seinen Beistand und Seegen zu dieser Betrachtung bitten. Philip. I, 12–20.
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Der Apostel, M. A. F., legt hier den Christen seinen Zustand vor, nemlich den Zustand seiner Gefangenschaft zu Rom. Er wußte wol, daß diejenigen, 2–4 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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die er selbst zum Evangelio geführt hatte, seinetwegen sehr betrübt waren. Er sucht sie zu beruhigen, indem er ihnen seinen Zustand als einen Zustand der Freudigkeit darstellt. Wir können also hieraus lernen, wie der Apostel die Widerwärtigkeiten, die er litt, betrachtete und worauf er die Aufmerksamkeit der Christen am meisten hinlenken wollte. Wenn wir im allgemeinen das Benehmen des Apostels betrachten, so finden wir, daß er gar nicht auf sich selbst gesehen [hat], nicht auf den Ausgang, den diese seine Widerwärtigkeiten für ihn selbst haben könnten, viel mehr giebt er zu erkennen, daß er nicht wisse, wie | dies für ihn ablaufen werde. Er selbst war immer gewiß, daß, ob er nun aus seiner Gefangenschaft befreit, oder in seiner Gefangenschaft unterdrückt würde, daß der Erlöser dennoch hoch gepriesen werde an seinem Leibe, es sey nun durch Leben oder durch Tod. Für diejenigen, die nur auf sich selbst sehen, hätte dieser Zustand kein andrer seyn können, als der Zustand der Unzufriedenheit. Hingegen der Apostel war in heitrer Zuversicht und Freudigkeit, er handelt aus der edelsten Selbstverleugnung, die besonders da hervortritt, wo wir bei allem, was uns trifft, nicht auf uns selbst sehen, sondern auf den Erfolg, den dies auf das Gottesreich im Ganzen sowol, wie im Einzelnen haben kann. Wer dabei auf den Erfolg für sich selbst sieht, der gehört zu denen, die ihr Leben und ihre Seele suchen und nicht finden, wer aber dabei nur auf die Förderungen des Guten hinsieht und sich selbst verleugnet, der wird sein Leben finden und behalten. Dies sehen wir an dem Apostel. Er ist uns ein deutliches Beispiel von den Worten des Erlösers. Er war in aller Freudigkeit und Zuversicht. Aber diejenigen können nur freudig seyn, die nicht mit Angst und Zittern auf den Ausgang hinsehen, ob sich wol ihr Zustand zum | Guten oder Schlimmen hinneigen mögte, nur diejenigen, die ihren Zustand als im Zusammenhange stehend mit den göttlichen Absichten und Willen betrachten. Es war auch ferner bei dem Apostel keine versteckte Selbstliebe, sondern in der ganzen Stelle findet sich auch nicht die geringste Rücksicht auf ihn selbst. Und dies, M. A. F. ist das besonders Tröstende. Unter was für Umständen auch der Mensch sey, im Unglück oder im Glücke, alles ist Veranlassung zur Erfüllung des göttlichen Willens, so, daß der Mensch in Freud’ und Leid das Gute wollen kann. Läßt der Mensch nach im Guten, wenn es ihm übel geht, so zeigt dies an, daß auch vorher sein Innerstes nicht mit dem Eifer, wie er seyn sollte, auf das Gute gerichtet war. Fährt er aber fort auch im Unglück sein Innerstes auf das Gute gerichtet zu erhalten, so ist dies Beweis des reinen ungetrübten Eifers für das Gute. Sehen wir nun auf das Einzelne und laßt uns betrachten, wie es geschehen, daß die Bande des Apostels zur Förderung des Evangelii dienten! Er sagt: Viele Brüder in dem Herrn haben aus meinen Banden Zuversicht ge20–22 Vgl. Mt 16,24–25; Mk 8,34–35; Lk 9,23–24
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wonnen und sind desto durstiger geworden, | das Wort zu reden ohne Scheu. Nicht die Gefangenschaft an und für sich war es, welche diesen Eifer und diese Zuversicht erregte; sondern die muthige Art, wie der Apostel seine Gefangenschaft ertrug, entzündete jenen lebendigen Eifer in den Brüdern, das Wort zu reden ohne Scheu; aus dem in der Gefangenschaft bewiesenen Muth ging der gute Erfolg für das Evangelium hervor. Wir haben häufig Gelegenheit uns hievon zu überzeugen. Wenn wir solche sehen, die schwach sind, so ist es das Geschäft des Starken, die Schwachen mit seiner hohen Kraft zu durchdringen. Dies kann nun auch im äußern Wohlergehen geschehen, aber bei weitem vortheilhafter zeigt sich der Erfolg in Widerwärtigkeiten, die um des Guten willen gekommen sind. Da wird der Schwache aus dem Beispiele des muthig Leidenden Kraft und Muth ziehen, er wird dürsten nach dem, was er für gut erkennt und das Wort reden ohne Scheu, und so kann es denn nicht fehlen, daß ein guter Erfolg jedem Guten, der um des Guten willen leidet zu erwarten steht und so konnte auch unser Apostel mit Zuversicht hoffen, daß auch in seinen | Banden etwas zur Förderung des Evangelii geschehen werde. – Der Apostel verbirgt es sich nicht, daß, wie ihm bei Gelegenheit in seiner Gefangenschaft bekannt geworden, nicht allen die sein Muth entzündet, mit reinem Eifer zur Förderung des Evangelii arbeiteten. Er sagt: „etliche zwar predigen Christum um Haß und Haders willen, etliche aber aus guter Meinung. Was ist ihm aber denn, daß nur Christus verkündigt werde allerlei Weise, es geschehe zufallens oder rechter Weise, so freue ich mich doch darinnen und will mich auch freuen.“ Dies ist nicht so zu verstehen, als ob es dem Apostel gleichgültig sey, ob Christus vollkommen oder unvollkommen verkündigt werde. Das können wir unmöglich von einem Apostel denken, der dem reinen Dienste der Wahrheit sein ganzes Leben gewidmet hat. Wie sind diese Worte zu verstehen? Offenbar so: der Apostel freut sich schon, wenn nur von Christo Erwähnung gethan wird, wenn nur seine Lehre ein Gegenstand wird, nach dem sich die Menschen erkundigen. Mögen dann auch immer noch etliche seyn, welche Christum nicht aus guter Meinung und lauter predigen, so können | doch immer noch die Bessern zur Erkenntniß des wahren Evangelii kommen. Dies können sie nicht, wenn ganz davon geschwiegen wird. Diese Ansicht müssen auch wir uns aneignen, sie muß auch für uns von großer Wichtigkeit seyn. Das ist eben das Gute davon, daß als dann der Gegenstand, den wir vorher ruhig bei Seite liegen ließen, von verschiedenen Seiten betrachtet wird und daß als dann doch meistentheils nach längerer Betrachtung das Gute in die bessern Herzen Eingang findet. Wenn es auch einige giebt, die das Gute lästern, so müssen diese doch davon reden, die Begriffe müssen doch zur Sprache kommen. So mußte doch, wenn einige Gegner des Christenthums dem Apostel Trübsal zuwenden
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wollten, die Rede darauf kommen, daß die Christen Menschen wären, die sich nicht begnügten mit dem Gesetze; es mußte gesagt werden, daß sie sich an Einen hielten, den Gott gesandt hatte zum Heil der Menschen und so mußte doch die Aufmerksamkeit auf Christus und seine Lehre gewandt werden, es mußte zur Sprache kommen, wie es denn käme, daß die Anhänger Christi aus den Banden des Apostels eine besondre Zuversicht gewönnen und so mußte dann durch dieses gegenseitige Austauschen schon | viel Gutes gestiftet werden. Dies ist es, was der Apostel meinte, indem er sagte: daß nur Christus verkündigt werde allerlei Weise, es geschehe zufallens oder rechter Weise, wenn auch oft nicht die reinste Absicht der Verkündigung zum Grunde liegt. Das Gute muß, wenn es Gegenstand des Kampfes geworden sey, siegen und in die Welt eingehen und um deßwillen freue er sich in seinen Leiden: möge er auch gelästert werden, so würden dennoch einige durch den Schleier sehen, was dahinter verborgen sey und der Streit würde so für viele zur Quelle der Erkenntniß und der Wahrheit werden. So mag sich dann jeder, den dies Schicksal trifft, damit trösten und sich freuen, daß auch im Leiden das Gute verbreitet wird, daß auch da der Mensch Gelegenheit bekommt zum Nutzen der Welt zu arbeiten. So müssen wir denn aber auch, wenn wir in dem Sinne des Apostels denken und handeln wollen, wo es einen Streit giebt um das Gute, nie für uns und die unsrigen die Sache der Gerechtigkeit behaupten, sondern das unverrückt im Auge haben, wie wir dadurch zur Förderung des Reiches Gottes beitragen können. Dann werden auch wir in Leiden und Widerwärtigkeiten Muth und Zuversicht gewinnen | und das Wort reden ohne Scheu, und Schwächere werden aus unserm Beispiele Muth und Kraft ziehen. Dann aber, wenn sich nicht gleich sehen läßt, was gewonnen wird, so laßt uns uns dann schon freuen, wenn nur das Gute in Bewegung ist unter den Menschen, wenn nur die Menschen nicht gleichgültig erscheinen gegen das Höhere; wenn es auch scheint, daß das Böse die Oberhand erhalten werde, so laßt uns sagen: wenn nur Christus verkündigt wird, etwas ist immer schon damit gethan, es ist immer schon damit der Gleichgültigkeit ein Schritt abgewonnen und dem Reiche Gottes zugemessen. Für uns aber, M. A. F., sey es genug, daß wir dadurch selbst Glückseeligkeit erlangen und die Leiden der Bande überwinden. Und dieses werden wir immer haben, wenn wir, wie der Apostel, die Erfahrung suchen und die gute Zuversicht haben, daß uns alles zur Seeligkeit gelinget. Diese Erfahrung sollten wir alle haben, die wir dem Bunde der Christen angehören, damit sich immermehr die Festigkeit in demselben zeige. Diese Erfahrung sollten wir alle gemacht haben, daß wenn das Fleisch durch seine Kraft uns angreift, wir stark in uns genug sind im Kampfe gegen die Lust, daß auch 16 jeder] jede
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dadurch unsre | Frömmigkeit zu Gott und unser wahres Wohlergehen befördert und erhöhet werde und uns zur Seeligkeit gelinge durch Gebet und Handreichung des Geistes Jesu Christi. Amen
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4. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 7,28 Nachschrift; SAr 38, S. 105–119; Jonas Keine Nachschrift; SBB Nl 481, Predigten, Bl. 1r–6v; Jonas Nachschrift; SAr 51, Bl. 1r–6v; Jonas, in: Maquet Teil der am 15. Juni 1817 begonnenen Predigtreihe über eigene Worte des Erlösers (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am 29. Juni 1817. Ueber Luc. VII. 28.
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Vor wenigen Tagen, M. A. F., war der Gedächtnißtag Johannis des Täufers, der noch jetzt in einem großen Theile der protestantischen Kirche pflegt gefeiert zu werden und auch uns ist noch vergönnt, ihn jedesmal den nächstfolgenden Sonntag in unsre Betrachtung zu bringen. Das war der Mann, der der Vorgänger des Erlösers war. Er stand an der Grenze des alten Bundes und des neuen Bundes. – Das war gewiß der größte Wechsel, als das Reich des Buchstabens und der Sünde zu Ende ging und ein neues Leben des Geistes, ein neues Leben größerer Herrlichkeit durch denjenigen, der den Menschen zur Heiligung und zur Gerechtigkeit werden sollte, aufging. Aber oft erneuert sich im Wesentlichen dasselbe Schauspiel. Ein Altes und Unvollkommnes hört auf, und ein Neues, Herrliches beginnt, auch mit unscheinbarem Anfange, aber immer mehr sich fortentwickelnd. Ja bis ins kleinste hinein können wir das verfolgen und das allgemeine Leben der Menschen sowol, als das einzelne Daseyn erscheint | uns ein Unvollkommenes hinter sich lassen und ein Besseres beginnen. Darum muß uns sehr merkwürdig seyn der Mann, der an der Grenze des größten Wechsels gestanden und für uns brauchbar, was der Erlöser über ihn und die Grenze, die er bezeichnete, gesagt. Das war es, worauf wir heute unsre Aufmerksamkeit richten wollten und dazu bitten wir Gott um seinen Beistand durch das Gebet des Herrn. 3–6 Am 24. Juni ist der Gedenktag der Geburt Johannes’ des Täufers (Johannistag).
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Tex t. Luc. VII. 28. „Denn ich sage euch, daß unter denen, die von Weibern geboren sind, ist kein größerer Prophet denn Johannes der Täufer; der aber kleiner ist im Reich Gottes, der ist größer, denn er.“ 5
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So, M. A. F., erklärt sich der Erlöser über den großen Unterschied der alten und der neuen Zeit, die beginnen soll, daß der größte in der einen kleiner sey, als der kleinste in der andern. Das laßt uns seinem tiefern Sinne nach näher miteinander betrachten, genau uns an den Gegensatz haltend, den unser Herr ausspricht. Laßt uns 1. erforschen, wie doch und warum er Johannes den größten nennt unter den Propheten des alten Bundes, und 2. wie er sagen konnte, daß der Kleinste im neuen | Bunde größer sey, denn er. I. Also was meint der Erlöser, wenn er sagt: Johannes sey der größeste Prophet unter allen, die bis dahin erschienen waren? Im Evangelio des Matthäus, wo derselbe Ausdruck des Erlösers aufbewahrt steht, da sagt er nicht: „Keiner sey ein größerer Prophet“, sondern ganz allgemein: „unter allen vom Weibe Gebornen sey keiner größer.“ Beides mußte wol im Sinne des Erlösers dasselbe seyn; denn eben die Propheten, zu denen das Wort des Herrn geschah, die waren so, wie das jüdische Volk selbst, in welchem sich der alleinige Gott offenbarte[,] bei allen Mängeln dennoch dem Himmelreich näher war, als alle übrigen, so waren diejenigen, zu denen das Wort des Herrn geschah, unstreitig die größten in demselben, und unter diesen, sagt der Erlöser, sey keiner größer gewesen, als Johannes der Täufer. So laßt uns denn fragen: was ist denn ein Prophet? Was jedem zunächst dabei liegt, das sind die Vorhersagungen, die in ihren Reden und Schriften sich finden, wie sie bald Wehe verkündigen, bald fröhlichen Schimmer der Hoffnung verbreiten. Aber es wird | uns nirgends gesagt in der Schrift, daß Johannes der Täufer darin den Propheten des alten Bundes ähnlich gewesen wäre. Aber wie eben das Innere überall größer ist, als das Aeußere, das Allgemeine wichtiger, als das Einzelne, das aus der tiefsten Schaffung Gottes Hervorgehende herrlicher, als das Zufällige, so war auch die eine Vorhersagung: „das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“, die eine Vorhersagung: „er ist mitten unter euch,“ so war die eine herrlicher und wichtiger, als alle jene Gesichter, als alle jene Wehe und jene Erregungen der Hoffung, und darum, weil der Geist des Johannes so in das Tiefste, Allgemeinste einging, darum hieß er mit Recht der höchste, der größte Prophet. Und dies Vermö19–20 Vgl. Mt 11,11
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gen, nicht sowol das Einzelne vorauszuwissen, aber einzudringen durch das Innere des Geistes in die bessre Zukunft, o dies ist nicht eine auf wunderbare und übernatürliche Art vertheilte Gabe, sondern dies ist jedem Menschen, der Gutes schaffen will und soll in seinem Kreise unentbehrlich und deswegen auch etwas mit der wahren Kraft der Liebe im Menschen innig Verbundenes, woraus alles hervorgehen soll. Wir dürfen, um uns | davon zu überzeugen nicht erst über unsre Grenzen hinausgehen, wir können beim häuslichen Leben stehen bleiben; denn wie will die väterliche Liebe den göttlichen Keim verbreiten, wie will sie Zucht und Ermahnung wirken lassen, wenn sie nicht in die Zukunft, nicht in die zufällige, sondern in die wesentliche Zukunft des zu Bildenden eindringt, wenn sie nicht wahrnimmt, was sich einst darin gestalten wird, wenn sie nicht, indem sie auf den Knaben wirkt, die größere Gestalt des gereiften Mannes vor sich stehen sieht? Das ist dem Wesen nach ganz dasselbe, das ist eine prophetische Gabe, ein Schauen des Geistes, das eben darum nur denen ist, die sich mit der größten Kraft der Liebe auf das geistige Daseyn der Menschen werfen und dies zu entfalten suchen. Und eben so, der zu größerem Wirken berufen ist, wie unweise und thörigt, und beim besten Willen, wie unfruchtbar würde es seyn, wenn ihm die Gabe nicht gegeben ist, in die Zukunft hineinzuschauen, wenn er nicht sieht, wie sich alles regt, wenn er nicht sieht, wie das Göttliche sich offenbaren werde, ehe es da ist, damit er es hervorbringen helfe? – und wo die wahre Kraft | der Liebe ist, wo der Sinn ist, der das Gute fördern will, da ist auch das Auge des Geistes auf alle Quellen des Guten und des Bösen gerichtet und nichts Vergebliches ist es, sondern so wie die Liebe Licht ist, so entdeckt sie auch die geheimsten Wege der Zukunft. Und nun werden wir uns näher beantworten können, warum der Erlöser sagt: „unter denen, die von Weibern geboren sind, ist keiner ein größerer Prophet, denn Johannes.“ Allen denjenigen, je nachdem sie in höherem Grade erleuchtet waren, aber allen denjenigen, zu denen das Wort des Herrn geschah, war es gegeben, einen, wenn gleich dunkeln, Blick zu thun in das künftige Reich Gottes. Alle waren davon überzeugt, daß das Reich des Buchstabens, das in dem Volke herrschte, nicht dasjenige seyn könne, weshalb der Höchste es zu seinem eigenthümlichen Volke erwählt, sondern daß auf diese Zeit des Buchstabens ein besserer Zustand, ein schönerer Geist, eine herrlichere Offenbarung folgen müsse. Darum war es auch eine alte Lehre, daß alle Propheten müßten geweißsagt haben von den Tagen des Messias und dem zukünftigen Reiche Gottes. Und Johannes war der größte unter allen Propheten | weil es sich ihm am hellsten dargestellt hatte durch die Wirkung des göttlichen Geistes in seiner Seele. Denn indem er dem Volke sagte: thut Buße, denn das Reich Gottes ist nahe, indem er 41 Mt 3,2
41–5 Vgl. Mt 3,7–10; Lk 3,7–9
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durch die Taufe zu verstehen gab, daß keiner unter den Söhnen Abrahams, bloß seiner Geburt wegen, ein Recht habe, in das Reich Gottes einzugehen, sondern auch in ihnen eine gänzliche Erneuerung des Gemüths vorgehen müsse, wenn sie tüchtig seyn sollten, dem zu folgen, der bald kommen werde, so sehen wir, daß ihm ein so reines Bild vom Reiche Gottes aufgegangen war, wie keinem Propheten, sehen wir, daß er am meisten frei war von denjenigen Vorurtheilen und Irrthümern, die auch hernach der Ausbreitung des göttlichen Reichs geschadet haben. Dies ist also der Sinn dieser Worte Jesu: in jeder alten Zeit ist derjenige der größte, der das Wesen der neuen Zeit mit dem reinsten Auge erblickt, in dem hellsten Lichte und mit scharf absondernden Zügen vor sich sieht, der nicht nur in einer unbestimmten Ahnung lebt, daß das Bisherige nicht bleiben könne, nicht genüge, sondern dem ein klares Bild aufgegangen ist in bestimmten Zügen von der neuen Gestalt, derjenige ist in jeder alten Zeit der | größte, der nicht nur hier und da von dieser Ahnung und Hoffnung seines Geistes redet, wie nur in großen, besonders aufgeregten Augenblicken zu den Propheten des alten Bundes das Wort des Herrn geschah, sondern der, wie Johannes, dann sein ganzes Leben diesem Zwecke widmet, die Menschen aufzuregen und fähig zu machen, das Neue aufzunehmen, sie ohne weichliche Schonung mit Ernst und Würde aufmerksam zu machen auf diejenigen Gebrechen und Irrthümer, welche der Gestaltung des Neuen am meisten entgegenstehen, der, eben so wie Moses sein Volk aus der Knechtschaft errettete und führte an die Grenzen des neuen Reichs, ohne daß es ihm vergönnt war, es mit einem Fuße zu betreten, eben so, wenn auch nur das künftige Geschlecht sich dessen erfreut, dafür gern sein Leben hingiebt und alle seine Kräfte diesem Zweck reicht. Darum hatte der Erlöser Recht zu sagen: unter allen vom Weibe Gebornen ist kein größerer Prophet, denn Johannes. II. Laßt uns fragen, und gewiß je größer uns der erscheint, den der Erlöser so bezeichnet, mit desto | größerem Erstaunen fragen: wie mag es seyn, daß der Kleinste im Reich Gottes größer sey, denn jener? Zuerst laßt uns auf dasjenige merken in dem Worte des Erlösers und dasjenige auffassen, wie unsre Bescheidenheit und Demuth nicht verletzt wird. Denn im Reich Gottes sind wir ja wol alle. Das muß unser aller Gefühl seyn. Werden wir denn alle von uns sagen wollen, wie mit dem Wenigen, was wir zu leisten vermögen für das Reich Gottes, jeder von uns wäre größer, als jener große Mann? Ja, M. A. F., wenn davon die Rede wäre, was wir, jeder an und für sich, sind, dann mögte wahre Demuth von diesen Worten des Erlösers abführen, dann würde uns unser Gefühl nöthigen, sie zu beschränken. Aber, M. F., das ist ja das Wesen des Reiches Gottes, daß keiner darin etwas für sich ist, sondern 22–24 Vgl. Dtn 34,4
40–1 Vgl. Eph 1,22–23; 4,15
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Glied des großen Leibes, wovon der Erlöser das Haupt ist, daß keiner für sich selbst und durch sich selbst lebt, sondern jeder lebt und stirbt für den Erlöser und lebt allein durch seinen Geist und seine Kraft. Fragen wir also darnach, wie sich in jedem, auch im Kleinsten der Geist Gottes, wie der sich in jedem beweist und ver|gleichen wir das mit dem, was er gethan hat im alten Bunde, dann werden wir dem Erlöser die Ehre geben und sagen: wahrlich! der Kleinste im Reich Gottes ist größer, als der Größte im alten Bunde. Laßt uns das näher erwägen! Das Größte, was der von Gott aufgeregte Geist in jeder frühern Zeit thun kann, das ist, die künftige ahnen, das Bild derselben erblicken, tief dem eigenen Gemüthe einprägen und mit den bestimmtesten Zügen auch andern hinwerfen und dies aus einem von göttlicher Liebe bewegten Gemüthe hervor. Aber vermogte nun auch der größte Prophet des alten Bundes, wirklich etwas zu leisten in der neuen Zeit? So wie Johannes erkannte, derjenige, der da gekommen sey, sey größer, als er, er sey nicht werth, ihm die Schuhriemen zu lösen, so war er auch noch in der alten Zeit und gehörte der neuen nur an mit dem schauenden Blicke des Geistes. Darum verhält sich der Größte des alten Bundes zu dem Kleinsten im Reiche Gottes, wie derjenige, der mit dem reinsten Verlangen in der alten Zeit geboren ist und erzogen zu einem unter denen, von welchen der Erlöser sagt: ich und der Vater sind gekommen und machen Wohnung bei ihnen; denn der Kleinste | im Reiche Gottes gehört demselben nicht nur an mit dem Auge des Geistes, sondern mit der ganzen Thatkraft, er verhält sich zu jenem, wie die Erfüllung zur Hoffnung. So könnte man sagen: Gesegneter von Gott wäre freilich der Kleinste im Reiche Gottes, als der Größte im alten Bunde, aber warum auch größer? Im Gebiete des irdischen Daseyns, da ist freilich sehr getrennt Genuß und Glückseligkeit von dem ganzen Werthe des inneren geistigen Lebens. Aber nicht so im geistigen Leben. Da giebt es keinen Genuß, als der hervorgeht aus dem innersten geistigen Leben, keine Zufriedenheit, als in dem, der sagen kann, alles erfüllt zu haben als ein treuer Knecht, da ist keine Glückseligkeit, da ist Seligkeit. In ihm lebt der Erlöser und mit ihm der Vater, zu dem Er ihn geführt hat und was also der größte der alten Zeit nur ist mit der Hälfte seines Wesens, das ist der Kleinste im Reiche Gottes mit seinem ungetheilten Daseyn und darum konnte der Erlöser, darum können auch wir sagen, daß der Größte im alten Bunde kleiner sey, als der Kleinste im Reich Gottes. An die Männer der alten Zeit, wie sie es werth waren und sie sich so hoch erheben konnten, erging | das Wort des Herrn: „öffne dein Auge und sieh“! und da schauten sie denn das bevorstehende bessere Leben. An diejenigen, welche sich in dieser neuen Zeit bewegen, ergeht der Ruf: 14–15 Vgl. Mk 1,7; Lk 3,16; Joh 1,27 Dan 9,18
20–21 Vgl. Joh 14,23
37–38 Vgl.
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„schmecket und fühlet wie freundlich der Herr ist“! Mit der ganzen Fülle ihres Daseyns sind sie eingetaucht in das höhere Leben, aus diesem Gefühle wirken sie dann und was sie hervorbringen, das ist ein Beitrag zum Reiche Gottes, und so wie der Geist, der in ihnen lebt, eben die ununterbrochene Kraft des neuen Lebens ist, so sind sie, eben weil sie durch ihn beseelt sind, auch größer, als der Größte von denen, die nur in einzelnen Augeblicken zum Schauen des neuen Lebens sich erheben können. Wolan! M. A. F., laßt uns nur nicht stehen bleiben bei dem herrlichen Gefühle: daß uns dieses Bewußtseyn werde, als Söhne der neuen Zeit, als Wiedergeborne aus der neuen Zeit, ist jeder von uns größer als der Größte eines beschränkteren Lebens! Laßt uns das noch anwenden. Ueberall, wo wir an den Grenzen stehen einer alten Zeit und einer neuen, eines frühern oder spätern Abschnittes in unserm persönlichen oder | gemeinsamen Daseyn, da stehen wir auf einem solchen Puncte, daß alles auf dem jenseitigen Gebiete größer seyn soll, auch das Kleinste, als das Vorherige und jeder soll nun aus allen Kräften dazu beitragen, die neue Zeit aus der alten hervorzuholen. Denn wahrlich! Johannes wäre nicht der Größte gewesen, wenn er nicht mit der reinsten Ergebung und Entsagung sein ganzes Leben gewidmet hätte, auf das Neue hinzuweisen und der Kleinste im Himmelreich hätte nicht der Kleinste seyn können, wenn nicht alles sich angeknüpft hätte an jene früheren Andeutungen. In so fern wir uns also ansehen können in großen Beziehungen auf einer Grenze stehend einer alten Zeit und einer neuen, was haben wir zu thun? Keiner von uns kann wissen und braucht es zu wissen, ob er mit hinübergehe in die Wirklichkeit eines neuen Daseyns, oder nicht. Ach! wenn doch nur jeder in reinem Sinne trachten wollte, der Größte zu seyn in der alten Zeit! Suche jeder, so wie Johannes die Züge des neuen Lebens entwarf, so bestimmt zu erblicken und auszusprechen, was zum Frieden der Menschen dient und wodurch allein das neue | Leben bestehen kann! Jeder thue das mit derselben reinen Entsagung, als Johannes, ohne nach den Früchten zu fragen, die er etwa genießen könnte! Jeder stelle sich eben so den Irrthümern entgegen und dem, was die Herzen der Menschen verkehrt! Dann wird jeder mitfühlen, daß auch der Kleinste im neuen Leben größer seyn wird, als er. Und in wie fern sie unter uns schon aufgegangen ist, die neue Zeit in so fern wir uns in ihr lebend, wirkend fühlen, so sey uns das ein erfreuliches aber auch ein demüthigendes Wort, daß der Kleinste in der neuen Zeit größer ist, als der Größte in der alten. Erfreulich sey es uns zur Belebung unsrer Thätigkeit, demüthigend, ob wir auch werth sind, Theil zu nehmen am neuen Leben, ob wir dessen werth sind durch die Kraft der Liebe. Aber demüthigen soll es uns und auffordern zu immer strengerer Prüfung und Arbeit an uns selbst, daß wir alles Unreine von uns thun, was der neuen Zeit nicht werth ist. So denken, so streben, so die Kraft des 1 Ps 34,9
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Geistes und der Liebe gebrauchen werden wir dann fühlend, daß jeder sich nur für den Kleinsten achten | könne im Reiche Gottes, fühlend, daß wir dennoch größer sind, als der Größte draußen, nicht durch uns, sondern durch ihn. Denn nur dem, der ihn gesandt hat, sey alleine Preis und Ehre immerdar! Amen. – Gebet. Ja, heiliger Gott, der du uns alle berufen hast durch die Kraft des Sohnes, laß uns dieses Berufs immer würdiger werden! Mögen wir immer mehr vertilgen, was noch der früheren, unvollkommenen Zeit angehört! Mögen wir uns alle hingeben dem großen Werke, welches du fördern willst auf Erden! Das sey unsre einzige Bitte zu dir, in welche sich alle übrigen vereinigen, welcher alle übrigen dienen. Und in diesem Sinne tragen wir dir vor alle unsre gemeinsamen Angelegenheiten cet.
[Liederblatt vom 29. Juni 1817:] Am vierten Sonntage n. Trin. 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Helf mir Gottes Güte. [1.] Helft mir den Herren preisen, / Ihr Christen überall / Mit wunderschönen Weisen, / Mit starkem Jubelschall! / Da der Elende rief, / Hat ihn der Herr erhöret, / In Lust das Leid verkehret, / Darin er lag so tief. // [2.] Des Herren Augen sehen / Was der Gerechte macht, / Auch müssen offen stehen / Sein’ Ohren Tag und Nacht; / Er höret ihr Geschrei / Wenn Trübsal sie will tödten, / So hilft er schnell aus Nöthen / Und macht sie sorgenfrei. // [3.] Der Herr ist nahe denen / Die trüben Herzens sind, / Wie sich sonst Eltern sehnen / Nach ihrem schwachen Kind. / Also nimmt gnädig an / Zerschlagene Gemüther / Israels Hirt und Hüter, / Der alles heilen kann. // [4.] Laß gnädig dir gefallen, / Du meines Lebens Hort, / Dies meiner Zunge Lallen / Es sind dein eig’ne Wort! / Ach nimm sie von mir an, / Dieweil mir will geziemen / Von Herzen dich zu rühmen, / So lang ich reden kann. // (Rist.) Nach dem Gebet. – Mel. Du o schönes. [1.] Ach unselig ist zu nennen / Der sich in die Welt verliebt, / Der nicht will noch mag erkennen / Daß sie falsche Güter giebt! / Stückwerk unvollkommen Wesen / Ist es, was die Welt erlesen; / Aber mein Herr Jesus Christ / Alles mir in allem ist. // [2.] Ach wo mag man hier auf Erden / Finden ein so großes Gut, / Dadurch möcht vergnüget werden / Uns’re Seele Herz und Muth? / Find’ ich hier auch was mich herzet, / Dort bald findet sich was schmerzet; / Aber mein Herr Jesus Christ / Alles mir in allem ist. // [3.] Nichts nach Himmel, nichts nach Erde / Frag’ ich, nur nach Jesu Christ; / Wenn nur er mir
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möchte werden, / Er der mein Verlangen ist! / Wenn ich ihn im Herzen habe, / Dann hab’ ich die theurste Gabe, / Weil ja mein Herr Jesus Christ / Alles mir in allem ist. // [4.] In der Schwachheit meine Stärke / In der Finsterniß mein Licht, / Daß ich treibe gute Werke / Nur mit seiner Hülf’ geschieht. / Was mein Herz nur Guts begehret, / Des werd ich in dir gewähret; / O der Freude! Jesus Christ / Alles mir in allem ist. // [5.] Drum wie selig ist zu nennen / Der nur Jesum innig liebt, / Ders bedenkt und kann erkennen, / Daß er wahre Güter giebt! / Lauter ganz vollkomm’ne Gaben / Wir allein in Jesu haben; / Denn er selber Jesus Christ / Alles mir in allem ist. // (Stett. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Freu’ dich sehr o. Selig wer im Glauben kämpfet / Selig wer im Kampf besteht, / Und die Sünden in sich dämpfet / Selig wer die Welt verschmäht. / Unter Christi Kreuzes Schmach / Jaget man dem Frieden nach, / Wer den Himmel will ererben / Muß zuvor mit Christo sterben. // Nach der Predigt. – Mel. Freu’ dich sehr o. Wächst das Reich der Finsternissen / So wächst auch des Lichtes Reich; / Jenes wird bald weichen müssen, / Aber der Gerechten Zweig / Wird in steter Blüte stehen, / Wenn die Welt wird untergehen! / Darum freuet euch ihr Frommen / Euer Jesus wird bald kommen. //
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5. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,21–27 Nachschrift; SAr 38, S. 434–445; Jonas Keine Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 426–443; König (rekonstruiertes Fragment, vgl. KGA III/7, S. LVII) Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
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Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sey mit uns allen jetzt und immerdar. Amen.
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M. A. F. Die Gemeinschaft des Christen mit Gott muß ihn von aller Furcht vor irdischen Dingen und am meisten von aller Furcht vor dem Tode entbinden. Und darum ist man von jeher einig gewesen, daß sich für den Christen, der eben durch den Erlöser in eine dauernde Gemeinschaft mit Gott gekommen ist, nichts weniger zieme, als die Furcht vor dem Tode. Darum hat [man] von allen Christen verlangt, daß sie was ihnen ihr christliches Herz eingiebt, was ihnen als der Wille Gottes in seinem Wort offenbaret ist, ausführen sollen nach ihren besten Kräften, ohne darauf zu sehen, was darauf erfolgen könnte. Und diese Gesinnung muß jeder Christ jener von dem Erlöser | errungenen Märtyrerkrone allein zuschreiben. Aber es ist nicht nur dieser gänzliche Mangel aller Furcht, welcher dem Christen ziemt, sondern man hat auch bei manchen frommen und eifrigen Christen verlangt eine Liebe zum Tode, eine Sehnsucht nach jenem bessern Zustande und das ist auf der andern Seite gemacht worden zu einem Kenntzeichen des vollen, ächten Glaubens, und der innigen Liebe der Jünger zu ihrem Meister. Der Apostel befand sich zu der Zeit, als er den Brief schrieb, im Zustande der Gefangenschaft, in einem solchen, wo er nicht wußte, ob er zum Leben 1 6. Juli] 22. Juli 2–4 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
21–1 Vgl. Phil 1,12–20
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oder zum Tode ausgehe, wie wir dies in den letzten Worten unsrer vorigen Betrachtung gesehen haben, wo er sagte: er habe die Zuversicht, Christus werde, gleich wie sonst alle Zeit, also auch jetzt, hoch gepriesen an seinem Leibe, es sey durch Leben oder durch Tod. In den nächstfolgenden Worten, die wir zum Gegenstande unsrer Betrachtung machen wollen, finden wir Veranlassung, daß wir an ihm ein Beispiel nehmen können, in wie fern der Christ gleichgültig seyn könne gegen das Leben und in wie fern er es nicht seyn könne. Dazu bitten wir Gott um Beistand durch das Gebet des Herrn cet. | Philipper I, 21–27.
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Hier, M. A. F., äußert der Apostel die Stimmung seines Gemüths in seiner damaligen Lage in Beziehung auf das, wovon wir schon vorher geredet haben. Ungewiß stehet Leben oder Tod vor ihm. Er selbst fühlt sich im Gleichgewicht zwischen beiden, zu jedem hingezogen von einer andern Seite, aber überwiegend zurück gehalten im Leben durch den Gedanken an die Frucht, die er noch im Leben zu schaffen habe. So laßt uns erwägen, wie wir dies auf uns anwenden können, in wie fern auch unsre Lage in der Welt ähnlich ist, als von ihr verschieden, um zu wissen, um zu sehen, ob auch wir ihm ähnlich sind, oder ob wir anders gesinnt seyn müssen. Unmittelbar nach dem, was der Apostel gesagt, daß er Freudigkeit habe zu Gott gleichwie fast alle Zeit, also auch jetzt, daß Christus hoch gepriesen werde an seinem Leibe, es sey durch Leben oder Tod, führt er fort die Worte zu sagen, die wir so eben gelesen haben. „Mein Leben“, sagt er, „ist Christi, und Sterben ist mein Gewinn. Beides liegt mir hart an; ich habe Lust abzuscheiden und bei | Christo zu seyn, welches auch viel besser wäre.“ M. A. F., dies ist die Hoffnung, die wir alle mit dem Apostel theilen – daß Sterben unser Gewinn ist. Das ist eine Empfindung, die in uns allen seyn soll, daß es aber uns hart anliege abzuscheiden und bei Christo zu seyn. Wir müssen aber nicht vergessen, daß unsre Lage von der des Apostels verschieden ist, nicht in sofern, als der Apostel sich in einer nahen Gefahr des Todes befand, denn die Ungewißheit des menschlichen Lebens ist in jedem Augenblicke gleich groß. Wenn wir auch ein noch so kräftiges Gefühl von unserm Leben haben, so können wir nicht wissen, ob dies nicht eine leere Täuschung ist, sondern eben in dieser Hinsicht befinden wir uns mit dem Apostel in einer ganz ähnlichen Lage, daß wir nicht wissen, wie Gott und der Erlöser an uns gepriesen werden sollen, ob durch Leben oder 1–4 Vgl. 22. Juni 1817 nachm. 21–23 Vgl. Phil 1,20
2–4 Vgl. Phil 1,20
8 Gemeint ist das Vaterunser.
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durch Tod. Allein der Unterschied ist der: daß uns das ganze Bild der Wiedervereinigung mit Christo, die ganze Vorstellung von dem, was da kommen wird, nicht so recht gegenwärtig ist, wie es in dem Apostel und den Gläubigen seiner Zeit war. Diese hatten den per|sönlichen Umgang mit dem Erlöser genossen. Nachdem er von ihnen hinweggerissen worden, war er ihnen doch bald wieder erschienen. Und als er nun zum zweiten Male hinweggenommen wurde, so tröstete er sie mit seiner Wiederkunft und schloß an die Erinnerungen ihres neuen Lebens diese neuen Erwartungen. Und so lebten sie im vollen Andenken an den Erlöser, seine Gestalt und sein ganzes menschliches Daseyn war ihnen in lebendiger Gegenwart. So gestaltete sich denn auch ein Bild von einer persönlichen Wiederkunft und von einem neu anzufangenden Leben. Man könnte sagen, dies gelte vom Paulus weniger, weil er doch kein Jünger des Erlösers gewesen, aber er schrieb sich dennoch einen Theil davon zu, denn er rechnete sich unter diejenigen, welche den Erlöser gesehen; er hatte seine Stimme gehört, welche ihn dazu aufgefordert, abzustehen von seinen feindlichen Bemühen. So war er allerdings sehr dazu geeignet, in eben solche bestimmte Erwartungen einzugehen, wie die Jünger des Erlösers sie gehabt, ja er konnte sich wol noch höher stellen und jenes Bild noch lebendiger in sich gestalten, als die übrigen. Daher kommt es, daß der Apostel sich überall über die Wiederkunft | so ausdrückt, als wenn sie etwas noch Bevorstehendes wäre, als wenn der größte Theil der Gläubigen sie noch erleben würde, wie Paulus sich selbst so äußert. Wenn wir auch nicht glauben wollen, daß sie diese bestimmte Vorstellung gehabt haben, so können wir doch nicht anders sagen: die Art, wie sie sich darüber ausdrückten war eben dieses Bild von der Wiederkunft Christi, das lebendig vor ihren Augen stand. So ist es nun aber nicht mit uns. Wir können uns nur an die Worte, die an einer Stelle vom Erlöser gesagt werden, halten: „es ist noch nicht erschienen, was wir seyn werden.“ Wir müssen sagen: so wie der Vater allein, nach der Ansicht der Jünger, sich Zeit und Stunde vorbehalten hat, so auch für uns Art und Weise. Wir können uns eben deswegen niemals dieses Bild in solcher Nähe vor die Augen rücken, wie die ersten Jünger des Erlösers; wenn wir es auch so fassen, wie es uns überliefert ist, als eine Wiedervereinigung Christi mit den Seinigen, so können wir davon doch kein so bestimmtes Bild haben nach einer so großen Entfernung. Wir können nicht anders sagen, als daß einige ihm näher | stehen, als andre. Darum ist es natürlich, daß unsre Lust, abzuscheiden und bei Christo zu seyn, nicht dieselbe seyn könne, als die der ersten Jünger. 6–7 Vgl. Mk 16,19–20; Lk 24,50–53; Apg 1,1–11 15–17 Vgl. Apg 9,1–19; 22,3–21; 26,9–18; 1Kor 15,1–8; Gal 1,11–24 20–23 Vgl. 1Kor 15,51–52; 1Thess 4,15–17 28–29 1Joh 3,2 29–31 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32; Apg 1,7
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Wenn wir nun auf der einen Seite weniger unsre Verhältnisse der Lage des Apostels gleich stellen können, und mithin weniger Lust haben können, abzuscheiden und bei Christo zu seyn, so laßt uns sehen, wie es auf der andern Seite uns antreiben soll, auf der Erde zu bleiben. Der Apostel sagt: „Sintemal aber im Fleisch leben dienet mehr Frucht zu schaffen, so weiß ich nicht, welches ich erwählen soll. Es ist nöthiger im Fleisch zu bleiben, um euretwillen.“ Wolan! M. A. F., wie steht es mit uns, und in wie fern können wir uns vergleichen mit dem Apostel? Da scheint es, als wenn wir uns vermöge der den Christen eigenthümlichen Bescheidenheit nicht mit ihm vergleichen könnten, denn wer von uns könnte sagen: es wär nöthiger im Fleisch zu bleiben um andrer willen? muß nicht jeder von uns sich für entbehrlich halten im Reiche Gottes, da dasselbe nicht mehr auf so wenigen Händen beruht? Muß nicht jeder glauben, daß alles eben so gut würde bewirkt seyn in der Welt, wenn er auch nicht dagewesen wär? Und | so könnte man glauben, es müßte von unsrer Seite unsre Lust abzuscheiden und bei Christo zu seyn zuwachsen. Aber, M. A. F., dies ist nicht nur nicht eine wahre, sondern eine falsche Bescheidenheit und ganz zuwider den Forderungen, die an uns als Arbeitern in dem Weinberge des Herrn gemacht werden. Das ist unsre Bescheidenheit, daß wir uns nicht ganz für unnütze Knechte halten, aber zugeben, daß wir nicht so viel Frucht schaffen können, als die ersten Jünger. Jetzt ist freilich der Einzelne nicht mehr so nothwendig, als zu jenen Zeiten, wo auf jedem der Geist Gottes so lebendig ruhte, aber der Einzelne ist doch nothwendig Theil des Ganzen, Glied des Leibes, wovon Christus das Haupt ist. Wenn wir dieses zugeben, so können wir sagen, daß keiner seyn werde, welcher sagen könne, er habe gethan, was er zu thun schuldig sey, sondern daß jeder nur in jedem Augenblicke das gut zu machen habe, was er vernachlässigt hat. Wenn wir nun den Acker Gottes so vertheilt sehen, daß einem jeden seine Arbeit darin zufällt, so müssen wir sagen, daß der Acker eines jeden bei weitem nicht ganz und gar bestellt ist, so müssen wir sagen: jeder hat doch einige Seelen, die ihm mit ganzem Herzen zuge|than sind, für deren Festigkeit im christlichen Sinne und Leben, für deren Gedeihen im Reiche Gottes er mehr als irgend einer wirken kann. Und muß nicht jeder zur Befestigung dieser Seelen mit Freude seine ganze Thätigkeit hingeben, so, daß er dann auch sagen könne, es ist nöthig, im Fleisch zu bleiben um euretwillen? und werden nicht diese ihm befreundeten Menschen seine Sehnsucht abzuscheiden und bei Christo zu seyn, mildern müssen? 27 sey] seyn 21 Lk 17,10
25–26 Vgl. Eph 1,22–23; 4,15
27 Vgl. Lk 17,10
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werden sie ihn nicht zurückhalten durch die Betrachtungen der Frucht, die er an ihnen schaffen könnte? Ja, M. A. F., und so kommt es heraus, daß wir uns in derselben Lage befinden, als der Apostel. Freilich können wir nicht ein so lebendiges Gefühl haben für das Reich Gottes, als derjenige, der zu so vielen Tausenden die Kunde des Evangeliums gebracht hatte, freilich ist die Frucht, die wir schaffen können, viel geringer, aber wir müssen doch sagen, daß nur durch ein einstimmiges Wirken die Arbeit im Weinberg des Herrn kann geschafft werden und daß dabei auch nicht der Dienst des Einzelnen fehlen darf. So haben denn auch wir eben soviel Grund abzuscheiden und bei Christo zu seyn, als im Leben | zu bleiben. Aber auf der andern Seite kann sich unsre Lust, bei Christo zu seyn, nicht so dringend und lebendig gestalten, weil wir sie nicht an so besondre und nahe Vorstellungen anknüpfen können. Aber es soll doch solche seelige Augenblicke geben, wo die Sehnsucht „abzuscheiden und bei Christo zu seyn“, lebhaft hervortritt, solche Augenblicke, in denen wir versunken sind in die Gemeinschaft mit Gott und dem Erlöser und dadurch wol veranlaßt werden können zu dem Wunsche: wenn wir doch dahin gehen könnten in das himmlische Leben! Wenn gleich uns dann eine solche Sehnsucht heftig ergreift, abzuscheiden und bei Christo zu seyn, so wird sie doch bald gemildert werden durch den Gedanken, daß es nöthiger sey im Fleisch zu bleiben, was dazu dienet, Frucht zu schaffen. Wen aber eine solche Sehnsucht nie ergreift, der muß sich das Zeugniß geben, daß ihm die Augenblicke in der innigsten Gemeinschaft mit Christo zu seyn, fehlen. Aber wenn wir wissen, daß diese Augenblicke höchst selten und theuer sind und daß wir von diesen Augenblicken gleich wieder zurückkehren müssen in die Welt, so muß auch in uns, wie bei dem Apostel, stets das Gefühl lebendig erhalten werden: es dienet mehr Frucht zu schaffen, wenn wir bleiben im Leben. | Und so, M. A. F., müssen wir sagen, daß alle die Christen, in denen die Furcht vor dem Tode erstickt ist, immer kräftiger widerstehen können der Gewalt irdischer Uebel, daß auch in ihnen die Liebe zu dem sinnlichen Genuß der Welt immer geringer werden könne. So geht denn schon hier auf Erden eine höhere Liebe in ihnen auf, indem sie sich ansehen als Diener des Herrn, als Arbeiter in seinem Weinberge, deren immer erneuerter Wunsch es ist, Frucht zu schaffen. Diese Liebe, die nicht mehr auf irgend eine Weise entgegensteht der Liebe zum Erlöser, ja die nichts anders ist, als die Liebe zu ihm selbst. Sie entsagt dem sinnlichen Genusse der Welt und sucht nur Frucht zu schaffen im Weinberge des Herrn. Wir sollen uns genügen lassen, an jenem Weinberge zu arbeiten auf Erden und uns genügen lassen an jenen trostreichen Worten, daß er bei uns ist alle Tage bis an der Welt Ende. Wir sollen uns genügen lassen an dem Vorschmack, den er uns giebt von einem andern und höhern Zustand und 39–40 Mt 28,20
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uns freuen, wenn die Lust in uns aufsteigt, abzuscheiden und bei Christo zu seyn, dann aber immer durch unsern Beruf wieder überwältigt werden, daß wir uns dieser Lust nicht ganz hingeben und, wie der | Apostel, das hohe Gefühl in uns zu behalten suchen, Christus werde hoch gepriesen werden an unserm Leibe, es sey durch Leben oder durch Tod. Amen.
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Am 13. Juli 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
6. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 5,17.19 Nachschrift; SAr 38, S. 120–133; Jonas Keine Keine Teil der am 15. Juni 1817 begonnenen Predigtreihe über eigene Worte des Erlösers (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Den 13. July 1817.
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Ueber Matth. V. 17. 19. V. 17. Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. V. 19. Wer nur Eins von diesen kleinsten Geboten auflöset, und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber thut und lehret, der wird groß heißen im Himmelreich.
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M. A. F. Das ist gewiß ein sehr merkwürdiger Ausdruck des Erlösers. Wir wissen es alle, daß das Evangelium das Ende des Gesetzes gewesen ist. Eben das Gesetz, wovon der Erlöser sagt, daß er nicht gekommen sey, es aufzulösen, sondern zu erfüllen, eben das ist durch ihn in der That aufgelöst. Durch den Geist der Freiheit ist aufgelöst das Reich des Buchstabens. Wie kann der Erlöser sagen, daß er nicht gekommen sey, es aufzulösen? Sollen wir sagen, daß es wider seinen Willen geschehen sey, oder da seine Jünger es gesagt haben, sollen wir glauben, er habe weniger Einsicht gehabt, als sie? Davon werden wir uns nicht überreden wollen. Er sagt weiter: wer das Gesetz auflöset, auch nur das kleinste und lehret die Leute also, | der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber thut und lehret, der wird groß heißen im Himmelreich. Nun finden wir hernach diejenigen, welche mit dem größten Eifer und der größten Einsicht das Christenthum verbreiten als solche, welche halfen das Gesetz auflösen, welche sagten es sey eine Last. Wogegen von denjenigen, welche verlangten, daß die Christen noch das Gesetz erfüllen sollten, wir nicht anders sagen können, als 10 Vgl. Röm 10,4
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daß sie beschränkten Gemüthes waren, solche, von denen der Apostel Paulus selbst im Briefe an die Galater sagt: Denjenigen, welche glauben, die Gläubigen müßten das Gesetz erfüllen, wäre Christus nichts nütz. Sollte denn nun der Erlöser gesagt haben, Paulus und Petrus seyen klein im Himmelreich, und jene ängstlichen Gemüther seyen groß? So muß uns dies ein merkwürdiges Wort seyn nicht nur auf jene Zeit bezogen, sondern auch jetzt immer; denn wenn wir auch nicht alles aus den Worten des Neuen Testaments auf uns anwenden können, so müssen wir doch immer den Maaßstab finden können, welchen der Erlöser für groß oder für klein gehalten in seinem Reiche. Und das wollen wir heute betrachten. Dazu bitten wir Gott um Beistand durch das Gebet des Herrn. cet. M. A. F. Es ist nach dem vorigen zweierlei, worauf | wir in den Worten unsers Textes unsre Aufmerksamkeit zu richten haben: 1. in welchem Sinne der Erlöser habe sagen können, er sey nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen. 2. worin, eben diesen Worten zu folgen der Unterschied bestehe zwischen denen, welche er die Größeren nennt im Himmelreich und welche die Kleineren. I. Was die erste Frage betrifft, in welchem Sinne der Erlöser sagen könne: er sey nicht gekommen das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen, so müssen wir hier wol unterscheiden zwischen demjenigen, was der Mensch selbst thut und zwischen demjenigen, was durch ihn geschieht, wozu er mit seinem Daseyn und Thun Veranlassung giebt und das wird uns den Aufschluß geben. Vom Erlöser sagt Paulus: „Als die Zeit erfüllet war, gab Gott seinen Sohn, geboren vom Weibe und unter das Gesetz gethan.“ Unter das Gesetz war er gethan durch seine Geburt, durch seine Abstammung nach dem Fleisch und darum sehen wir ihn auch erfüllen, was es gebietet, und wenn hie und da seine Widersacher ihm Vorwürfe machen, daß er gegen das Gesetz handle, so ist da nie die Rede von der Erfüllung des | göttlichen Gesetzes selbst, sondern von demjenigen, was menschliche Auslegung hinzugesetzt hatte. Aber das Gesetz hat er immer erfüllt und deshalb konnte und durfte er sich auch nicht scheuen zu der Zeit in die heilige Stadt zu gehen, wo er gewiß wußte, daß seine Feinde ihm ein Ende machen würden. So heilig hielt er das Gesetz. Aber er ist allerdings zum Theil die Veranlassung geworden, daß es aufgelöst ist. Und so wie der Erlöser sagt, daß er nicht gekommen sey, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen, eben so sagt er in einem ähnlichen Sinne, er sey nicht gekommen die Welt zu rich32 erfüllt] erfüllte 2–3 Vgl. Gal 5,2
25–26 Gal 4,4
38–1 Vgl. Joh 3,17; 12,47
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ten. Dennoch sagt der Apostel von ihm, er sey der Mann, durch welchen Gott beschlossen habe, die Welt zu richten. Wie vereinigen wir dieses? Durch Worte des Erlösers an einer andern Stelle: wer nicht an mich glaubt, der ist schon gerichtet. Durch den Unglauben an ihn richtet sich die Welt selbst. Er war nicht gekommen zu richten, sondern zu suchen die Verlornen. Er war nicht müde, die Beladenen herbeizurufen, aber auch ernst zu sagen, es sey der Wille des Vaters, daß sie glauben sollten an seinen Gesandten, wer an den nicht glaube, der wäre schon gerichtet. So war auch der | Erlöser nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es löste sich selbst auf. Denn als das Volk denjenigen verwarf, verblendet durch die Stimme der Widersacher, der das Heil der Welt ist, da konnte hernach der Apostel mit Recht sagen: durch das Gesetz bin ich mit Christo dem Gesetz gestorben. Nachdem das Gesetz den Vorwand hat geben müssen, den Heiligen zu verwerfen, so sind alle diejenigen, die sich an ihn anschließen auf der einen Seite dem Gesetz eben so abgestorben, als auf der andern Seite der Sünde. Er war nicht gekommen das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen, aber der Ungläubigen bediente sich Gott, es aufzulösen. Denn wenn wir fragen, wie ist es aufgelöst, so finden wir zweierlei: Als nemlich das Licht des Evangelii zuerst auch über die Heiden kam und sie an denjenigen glaubten, den Gott allen Menschen zur Herrlichkeit und zur Heiligung gemacht hatte, als Gott dies selbst bestätigte, indem er seinen Geist auf sie sandte, da zuerst mußte Petrus, wiewol er sich geweigert, etwas Unreines anzurühren, voll Verwunderung und Erstaunen dennoch ausrufen: wer kann nun das Wasser wehren, um diejenigen zu taufen, welche den heiligen Geist empfan|gen haben, gleich wie wir! So gab es zuerst Christen, die nicht dem Gesetz zugethan waren. Mit diesen hielten die Christen aus den Juden Gemeinschaft, und darum mußte schon das Gesetz sich abstumpfen, aber sie befolgten es noch in Beziehung auf ihr Volk. Und so wurde es ganz aufgelöst, als das Gericht über das Volk kam, als eben deshalb, weil sie den wahren Gesandten nicht hören wollten, ihre Herzen verstockt und verblendet waren, daß sie falsche Stimmen hörten. Da kam über das Volk das schwere Gericht jenes gewaltigen Krieges, da ereignete sich jene Zerstörung des Heiligthums, mit welcher zugleich das Gesetz seine ganze Haltung verlor und nun nicht mehr auf jede Weise erfüllt werden konnte, so daß sich alle davon konnten als befreit ansehen, denn es war ihnen unmöglich gemacht, alles zu thun, was das Gesetz verlangte und so waren sie denn frei, ohne daß sie willkürlich sich selbst frei gemacht hatten. So sehen wir also, M. A. F., wie der Erlöser auf der einen Seite mit Recht sagen konnte, er sey 1–2 Vgl. Apg 17,31 3–4 Vgl. Joh 3,18 5 Vgl. Lk 19,10 6 Vgl. Mt 11,28 7–8 Vgl. Joh 3,18 12–13 Vgl. Gal 2,19 23–25 Apg 10,47 31–33 Anspielung auf den Jüdischen Krieg, der sein Ende in der Belagerung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. durch die Römer fand.
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nicht gekommen das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen. Er selbst war ihm Gehorsam schuldig und leistete ihn. Er selbst, für seine Person nur gesandt zu den Schaafen aus dem Hause Israel, hatte auch keine Veranlassung | von dem Reiche Gottes zu andern zu reden, sondern wie uns diese Worte mitgetheilt sind in jener großen Rede, worin er den Unterschied zwischen seiner Lehre und der alten an den Tag legt, so ging sein ganzer Zweck dahin, an den Enden des Buchstabens sie so zu leiten, daß der Geist ihnen allmählig deutlich würde, sie von dem Aeußern auf das Innere zu führen, eine Gerechtigkeit in ihnen zu schaffen, bei welcher sie wüßten, daß sie nichts erlangen könnten durch die äußere That, sondern durch die Gesinnung und das war denn die rechte Erfüllung des Gesetzes, die vollständigere Befolgungen desselben, welche alle vorbereiten konnte zu der Freiheit, zu welcher der Sohn sie vorbereiten wollte. So ist also von der andern Seite auch wahr, daß er das Gesetz aufgehoben hat, aber nur in so fern die Sünde zum Bewußtseyn kam und diese die Auflösung des Gesetzes hervorbrachte. II. Und so werden wir auch im Stande seyn, die zweite Frage zu beantworten, in welchem Sinne der Erlöser diejenigen klein nennt im Himmelreich, welche das kleinste Gebot auflösen und also lehren und diejenigen groß, welche es thun und lehren und in welchem Sinne auch wir diesen Maaßstab für uns gebrauchen können. Laßt uns an das eben Gesagte anknüpfen. Jede | Auflösung eines Gesetzes ist allemal Sünde und ohne solche nicht denkbar, und eben daß es so ist auf der einen Seite und daß das Gesetz unvollkommen ist auf der andern Seite und daß das Unvollkommene dem Vollkommenen Raum geben muß, das verwirrt in solchen Zeiten, wo das Unvollkommene gefühlt wird, die Gemüther der Menschen, daß sie im Streit mit einander ja mit sich selbst darüber sind, was Recht und Gottwohlgefällig ist und was Unrecht und Gottmißfällig. Wir, die wir an den Namen des Erlösers glauben, wir sind gewiß in solchen Fällen, wo unser Gewissen unsicher ist, an sein Wort gewiesen, um uns Entscheidung zu holen, und wenn wir sehen, wie verderblich diejenigen wirken, welche allein das Alte festhalten und wie verderblich diejenigen, welche die heiligen Bande des Gesetzes lösen, alte heilige Rechte mit Füßen treten, wenn wir dies betrachten, so finden wir uns ungewiß zwischen beide gestellt, hin und herschwankend und was muß uns willkommner seyn, als [durch] ein Wort des Erlösers Entscheidung zu finden? So müssen wir uns denn daran halten: klein ist derjenige, der das Gesetz auflöset und also lehret, groß ist derjenige, der alles, selbst | das geringste erfüllt, aber dann 2–3 Vgl. Mt 15,24
4–6 Vgl. Mt 5,1–7,29; Lk 6,17–49
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auftritt und lehrt die Menschen ein Besseres und Vollkommneres. Das laßt uns noch, wie der Erlöser es gemeint, betrachten! Alles kann aus derjenigen Kraft unmöglich hervorgehen, die wir als die höchste in allen menschlichen Dingen ehren, aus deren Namen uns Gott geschildert wird auf vorzügliche Weise, die uns über alles gehen kann, aus der göttlichen Kraft der Liebe. Sie baut und erhält, aber zerstört nicht. Und wie weh thut nicht jede Zerstörung, am meisten die eines Heiligen? wie müssen nicht die Menschen irre werden, welche gewohnt waren, an der Leitung eines solchen ihr Leben zu führen? wie wahr ist das Wort, daß man nicht zerstören soll, bevor man wieder aufbauen kann? Wie tief müssen wir fühlen, daß dieser Zerstörungsgeist dennoch kein Geist der Liebe seyn kann? und wie der Erlöser gesagt hat, er sey nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen, so können nur diejenigen groß seyn in seinem Reiche, die keine Hand gelegt haben an die Zerstörung eines alten Gesetzes, das ein zusammenhaltendes Band menschlicher Kräfte gewesen ist. Wie soll dann aber, wenn doch jede Umbildung | Zerstörung des Unvollkommnen ist, das Vollkommne herbeigeführt werden? Eben so, M. A. F., wie damals. Wenn es uns in dieser Hinsicht ein ewiges Räthsel ist, woher in der Welt das Böse komme, die Gewalt der Sünde, da doch alles, was ist, von Gott kommt, und wenn wir auf der andern Seite die Quelle des Bösen in uns selbst schon finden, so ist doch nichts, was uns in dieser Hinsicht so vollkommen beruhigen könnte, als eben die Art, wie sich Gott des Bösen in der Welt bedient. Muß zerstört werden, und das muß freilich beständig, o es geschehe niemals durch diejenigen, die sich mit ihrem ganzen Leben Gott und dem Guten gewidmet haben! es geschehe durch die Bösen in der Welt, deren bedient sich Gott wie zur Geißel, so zur Zerstörung. Durch die Kinder des Lichts kann er nur erhalten, durch die Kinder der Finsterniß zerstört er. Dazu bedient er sich ihrer und dazu müssen sie eben das Beste fördern, indem sie glauben, daß sie das Gute umstürzen: das Unvollkommene müssen sie zerstören, dazu sind sie da, damit dann die Kinder der Liebe ein Neues und Besseres schauen können. So | sollen in seinem Reiche, die demselben nicht dienen, ihm doch dienen, so sollen sie seyn zu seiner Verherrlichung. Daran müssen die Reinen ihre Hände nicht legen, und darin sollen und können wir uns dann immer an seine Weisheit halten. Wir dürfen nicht zerstören und nicht Zerstörung lehren. Was zerstört werden soll, das löst sich von selbst auf, und ist es aufgelöst, nun wohlan! Dann sollen wir unsre Kräfte zusammenthun, ein Neues zu bauen, dann sollen wir dem neuen Geist einen Tempel erbauen und aus dem Geist einen neuen Buchstaben, woran sich die Menschen halten, bis auch der wieder unvollkommen wird! Dann wird Gott auch seine Zerstörung nicht durch seine Diener, sondern durch die Gottlosen hervorbringen.
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Eben so giebt es noch eine zweite Betrachtung, wornach sich dasselbe zeigt. Das Gesetz war eine schwere Last. So sagen die Apostel selbst in ihrer Berathung, es sey eine Last, die weder sie noch ihre Väter hätten tragen mögen, die aber der Erlöser getragen hatte und wollte, daß alle sie tragen sollten, bis zur Auflösung des Gesetzes. Wolan! müssen wir es nicht fühlen, jeder der | den Menschen eine Last um deswegen von der Schulter nehmen will, weil es eine Last ist, ach, der ist immer der Kleinste im Himmelreich! So ist es, was den einen drückt und beschwert, das gereicht dem andern zum Wohlstand. Will man diesen befreien, so beschwert man jenen auf widerrechtliche Weise. Und dann, wenn wir wollen, daß unser Verein in bürgerlicher Rücksicht ein christlicher sey, können und müssen wir dann nicht sagen, daß auch da nach christlichem Sinne und Geist soll gewaltet werden? Wir aber müssen überall bereit seyn, die Last unsers Herrn zu tragen. Daß sie sein ist, macht sie uns leicht. Nicht nach Befreiung von irdischen Lasten sollen wir streben, sondern nach der Freiheit des Geistes, die mit allen Lasten vereinigt seyn kann. Andre Lasten nehmen, ist gut, wenn man sie sich selbst auflegt, aber sie einigen abnehmen und andern auflegen, das ist nicht christlich. Irdische Lasten sollen wir nicht von den Menschen nehmen, denn wir wissen nicht, wohin das führt. Nur in dem Streben nach der Freiheit des Geistes kann das geschehen. Wer Lasten abnehmen will auf das Irdische gerichtet, der bleibt im Himmelreich, aber mit Recht der Kleinste; | wer aber nach der geistigen Freiheit strebt, und niemals zu seinem höchsten Zwecke macht, von schweren Lasten die Menschen zu befreien, der ist der Größte im Himmelreich, wenn er jede Last, die noch auf einer Spur von Heiligkeit ruht, willig trägt. Aber nicht dadurch allein wird er groß, daß er das Gesetz erfüllt, sondern wer das alles thut und lehrt, der ist der Größte. Erfüllen sollen wir jedes Gesetz, so lange es besteht, aber Muth sollen wir beständig haben, das Bessere zu lehren, die Menschen aufzufordern, daß sie demselben nachstreben, daß sie selbst beitragen, aus dem Unvollkommnen das Vollkommne zu gestalten, und so unser Licht, das Licht der Freiheit des Geistes leuchten zu lassen vor den Menschen, denn dazu hatte der Erlöser seine Jünger ermuntert. Wer so das Gesetz erfüllt und so lehrt, daß unser Gottesdienst ein vernünftiger seyn soll, daß wir Gott nur dienen sollen im Geist und in der Wahrheit, lehrt, daß das Reich Gottes gegründet werde durch die Kraft der Menschen, wenn sie geleitet werden durch die Kraft der Freiheit des Geistes, dann werden überall, wo Zerstörungen sind, die fleißigen Hände der | Diener Gottes etwas Neues bauen. Davon, M. A. F., kann sich die Wahrheit wol keinem edlen Gemüthe entziehen und so müssen wir wol alle einsehen, wie wahr der Erlöser geredet: wer das 2–4 Vgl. Apg 15,10 14–15 Vgl. Mt 11,29–30 17–18 Vgl. Gal 6,2 33 Vgl. Mt 5,16 34 Vgl. Röm 12,1 35 Vgl. Joh 4,23–24
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Gesetz auflöset und also lehrt, der ist der Kleinste im Himmelreich, wer aber alles thut und lehrt das Bessere, der ist der Größte im Himmelreich. Und wann könnte dies Wort wichtiger seyn, als in der Zeit, in der wir nach Gottes Gnade leben, wo so manches zerstört ist durch menschlichen Frevel und Uebermuth und manches von selbst noch stürzen wird, was noch nicht zerstört ist, wo thörigte Anhänglichkeit an das Zerstörte und frevelnder Zerstörungssinn sich entgegenstehen? Aber gut ist es da, daß die wahren Jünger in der Mitte stehen. So laßt uns halten an das Wort des Erlösers, dann wird Friede über uns seyn, als über [das] Israel Gottes. Amen.
[Liederblatt vom 13. Juli 1817:] Am sechsten Sonntag n. Trinitatis 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Freu’ dich sehr o. [1.] Gott vor dessen Angesichte / Nur ein reiner Wandel gilt, / Keiner kommt zu deinem Lichte, / Der nicht dein Gesetz erfüllt. / Heilig und gerecht bist du, / Und uns allen rufst du zu: / Ich bin heilig, heilig werde / Jeder Mensch auch auf der Erde. // [2.] Heilig sollen deine Kinder / Aehnlich deinem Bilde sein, / Herr vor dir besteht kein Sünder / Denn du bist vollkommen rein. / Nur der Fromme kann sich dein / Heiliger in Demuth freun, / Wer beharrt in seinen Sünden, / Kann vor dir nicht Gnade finden. // [3.] O so laß uns nicht verscherzen / Was dein Rath uns zugedacht! / Schaff’ in uns, Gott, reine Herzen, / Tilg’ in uns der Sünde Macht! / Unser Elend ist vor dir, / Schwach und bald verführt sind wir, / Und wer kann sie alle zählen / Die Gebrechen uns’rer Seelen! // [4.] Starb, o Gott! uns zu erlösen / Jesus einst, so laß uns nun / Ernstlich durch ihn allem Bösen / Widerstehn und Gutes thun. / Gieb uns, wie dein Wort verheißt, / Gieb uns deinen heil’gen Geist / Daß er unsern Geist regiere / Und auch uns zum Himmel führe. // [5.] Unsers Wandels höchste Zierde / Sei was deinen Beifall hat, / Keine sündliche Begierde / Schände, Neigung, Wort und That. / Mach uns deinem Bilde gleich! / Denn zu deinem Himmelreich / Wirst du Herr nur die erheben, / Die im Glauben heilig leben. // (Zimmermann.) Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Mir nach spricht Christus unser Held / Mir nach ihr Christen alle! / Verleugnet euch, verlaßt die Welt / Folgt meines Rufes Schalle! / Nehmt euer Kreuz und Ungemach / Auf euch, folgt meinem Wandel nach. // [2.] Ich bin das Licht, ich leucht euch für / Mit göttlich reinem Leben; / Wer zu mir 8 laßt uns] Kj laßt uns uns 8–9 Vgl. Gal 6,16
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kommt und folget mir, / Darf nicht im Finstern schweben, / Ich bin der Weg, ich weise wol / Wie man wahrhaftig wandeln soll. // [3.] Mein Herz ist voll Demüthigkeit / Voll Liebe meine Seele, / Mein Auge blickt mit Mildigkeit / Auf tief gebüßte Fehle, / Mein Geist, Gemüthe, Kraft und Sinn / Ist eins mit Gott, und schaut auf ihn. // [4.] Ich zeig’ euch das, was schädlich ist, / Zu fliehen und zu meiden, / Von allem Trug und arger List / Das Herze ganz zu scheiden; / Ich bin der Seelen Fels und Hort / Und führ’ euch zu der Himmelspfort. // [5.] Fällt es euch schwer, ich geh voran / Ich steh euch an der Seite, / Ich kämpfe selbst, ich mache Bahn / Bin alles in dem Streite. / Dem Jünger Schmach, der muthlos steht / Wenn ihm voran sein Meister geht. // [6.] Wer seine Seel zu finden meint, / Wird sie ohn mich verlieren, / Dem der sie zu verlieren scheint / Werd ich sie sicher führen, / Wer nicht sein Kreuz nimmt und folgt mir / Ist mein nicht werth und meiner Zier. // [7.] So laßt uns dann dem lieben Herrn / Mit Leib und Seel nachgehen, / Und wohlgemuth getrost und gern / Zu seinem Worte stehen! / Wer ihm nicht folgt, trägt auch die Kron / Des ewgen Lebens nicht davon. // (Schefler.) Unter der Predigt. – Mel. Herzliebster Jesu. O laß auch heute deinen Geist mich lehren / Herr immer innger mich zu dir zu kehren! / Regiere mich, daß ich mit ganzer Seele / Nur dich erwähle. // Nach der Predigt. – Mel. Kommt her zu mir. Erhalte mir o Herr mein Hort / Den Glauben an dein göttlich Wort / Um deines Namens willen; / Laß ihn mein Licht auf Erden sein, / Ihn täglich mehr mein Herz erneun, / Und mich mit Trost erfüllen. //
Am 20. Juli 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
7. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,27–30 Nachschrift; SAr 38, S. 445–457; Jonas Keine Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 444–461 und S. 462–479; König (rekonstruiertes Fragment; vgl. KGA III/7, S. LVII–LVIII) Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
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In unsrer letzten Betrachtung, M. A. F., haben wir gesehen, wie der Apostel Paulus in der Ungewißheit, welchen Ausgang seine Gefangenschaft nehmen würde, gleich bereit war, Gott den Herrn mit seinem Tode zu verherrlichen, mehr noch aber, ungeachtet aller seiner Feinde, hingezogen wurde, im Leben zu bleiben, um noch mehr Frucht zu schaffen für den Herrn. Wir sahen, so solle jeder Christ seyn, er solle nicht aus leerer Sehnsucht hingezogen werden auf ein andres Leben, aber eben so wenig an dem Leben hängen, um des irdischen Gewinns willen. Wolan denn! M. A. F., wenn so diejenigen immer gesinnt waren, denen Gott ein Großes anvertraut hatte in seinem heiligen Weinberge, was haben sie dagegen von denen zu erwarten, an denen sie arbeiteten, von der Zahl derer, für die sie als Rüstzeuge Gottes auserwählt wurden, für deren Stärkung im Glauben sie sich hingaben und die durch den Dienst der Rüstzeuge | Gottes immer mehr gereinigt wurden zu seiner Ehre? Das, M. F., ist unser aller Fall. Wie viele haben müssen so bereit seyn wie der Apostel zu leben und zu sterben im Dienste des Herrn, wie viele haben in dieser heiligen Tapferkeit leben und sterben müssen, damit rein bewahrt würde, was ihnen gegeben war? Was also sind wir in dieser Hinsicht jenen auserwählten Dienern schuldig, denen wir so viel zu verdanken haben? Darauf werden wir in den folgenden Worten des Apostels, die wir heute zu betrachten haben, die genügende und erfreuliche Antwort finden. Wir bitten cet. 2 Vgl. 6. Juli 1817 nachm. 12 Vgl. Apg 9,15
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Unmittelbar nachdem der Apostel es den Christen zu Gemüthe geführt, wie er vorzüglich um ihretwegen, um noch mehr Frucht zu schaffen, in dem irdischen Leben bleibe, spricht er die eben vorgelesenen Worte. Lasset uns ihren Inhalt näher betrachten! „Wandelt nur würdiglich dem Evangelio Christi, auf daß, ob ich komme, und sehe euch, oder abwesend von euch höre, daß ihr stehet in Einem Geist und Einer Seele.“ Sehet da, M. F., das ist das Allgemeine, was diejenigen, die dem Herrn und seinem Werke gedient hatten, von dem Herrn hoffen | durften, wenn sie mit mancherlei Plage gekämpft hätten im Dienste des Evangeliums, daß diejenigen, denen sie die geistigen Gaben gebracht, die sie läutern wollten zum Volke des Herrn, auch würdig wandelten dem Evangelio, das sie ihnen gegeben und ständen in Einem Geiste und Einer Seele. Das erste ist ein ganz allgemeiner Ausdruck. So wie der Herr selbst nichts anderes verlangt, als den Dank, daß wir seine Gnade gebrauchen und seinem heiligen Willen gemäß leben, so haben auch von jeher diejenigen, welche unter allerlei Trübsal das Evangelium verkündigten, keinen andern Dank begehrt, als daß sie das göttliche Wort, was sie ihnen brachten, würdig gebrauchen mögten. Wer das Wort von der Versöhnung mit freudigem Herzen aufnahm, wer die Ueberzeugung von der Güte und Barmherzigkeit Gottes in dem Sohne für das höchste Kleinod achtete, der sollte keinen andern Dank beweisen, als den, würdig zu wandeln dem Evangelio Christi. Ferner richtet er weiter das Wort an alle insbesondre: „stehet alle in Einem Geist und Sinn.“ Es ist wahrlich genug an dem Streit zwischen der Gemeine des Erlösers und ihrer Widersacher, genug an dem Streit zwischen | denen, die das Licht sehen und den Kindern der Finsterniß. Darum soll in der Gemeine des Herrn keine Zwietracht seyn, sondern alles stehen in Einem Geist und Einem Sinn. Wir wissen wol, M. A. F., daß dies nur auf eine beschränkte Weise gefordert werden kann, wir wissen wol, daß nicht alle Menschen in jedem Einzelnen zusammen kommen können, dennoch muß Gott durch den Einen in diesem Sinn, durch den Andern in jenem Sinne gepriesen werden. Diese Verschiedenheit des Sinnes wird niemals aufhören, auch unter denen nicht, die Einen Herrn bekennen. Was heißt denn in dieser Hinsicht, würdig dem Evangelio wandeln und in Einem Geiste und Einem Sinne stehen? Es ist das, daß uns der Geist der Liebe beseelt, und daß wir nicht überall, wo wir eine Verschiedenheit sehen, auch einen Mangel finden, sondern daß wir jenes eben so wie das unsrige zu begreifen suchen aus demselben Streben, daß wir nach dem, was zum Frieden dient, forschen. Wir müssen diese Verschiedenheiten in Liebe anerkennen und die Ueberzeugung haben, daß sie im Glauben mit uns eins sind und zuversicht2–4 Vgl. Phil 1,24–26
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lich glauben, daß | Gott jeden auf seinem Wege führe nach seiner Barmherzigkeit. Dies ist keine Gleichgültigkeit, kein Mangel an Treue, sondern wahre Liebe und wahrer Glaube. So können denn auch die Christen bei Verschiedenheit des Sinnes in Einem Geist und Einer Seele stehen. Und wahrlich, M. F., das ist nothwendig und unentbehrlich von jeher gewesen für diejenigen, die da bekannten den Namen unsers Herrn Jesu Christi und das ist würdig seines Evangeliums. Hat er es doch gewollt, daß alle eine Heerde seyn sollten vereinigt durch den Geist der Liebe und der Eintracht, damit sie stark wären gegen alle Angriffe auf sie. Eben dazu sollen sie sich nicht zersplittern durch Streit unter sich, sondern einen Jeden in Liebe tragen und seine Verschiedenheit anerkennen und darnach trachten, daß sie nur vereint durch diese Kraft der Liebe und des Glaubens ständen in Einem Geist und in Einer Seele. „Lasset euch nicht erschrecken von den Widersachern, welches ist eine Anzeige ihnen der Verdammniß, euch aber der Seeligkeit und desselbigen von Gott.“ Nicht alle, M. F., nehmen einen gleichen Antheil | an dem Streite, zu welchem der Herr sie berufen, nicht alle gehen voran im Kampfe für das große Werk, aber zu thun haben alle mit den Widersachern des Guten, welche überall und zu jeder Zeit sich entgegensetzen den Eiferern für das Gute. So ist es, daß wir nicht ausgeschieden sind und es auch nicht seyn sollen, sondern eben dadurch, daß das Gute unter das Böse gemengt bleibe bis zu dem Tage der Erndte, soll das Gute immer mehr überhand nehmen. So wie nun der Apostel, damit Gott auf alle Weise gepriesen würde, tapfer kämpfte auf jegliche Weise für das große Werk des Evangeliums, so sollen es auch die Christen thun in ihrem Leben und an ihrem Orte. Wenn sie gleich nicht bestimmt waren, die Widersacher des Glaubens anzugreifen, so sollten sie sich doch nicht von ihnen erschrecken lassen. Was ist es, wodurch die Widersacher des Guten suchen Schrecken zu verbreiten unter den Freunden des Guten, was ist es, womit sie den guten rechtlichen Sinn stören? Es ist das, daß sie auf mancherlei Weise dahin wirken, daß sie uns erschrecken, unseres Weges ruhig fortzugehen und | daß sie uns suchen durch allerlei Furcht auf ihren Weg hinüberzulocken. Aber auf diese Weise zuerst sollen wir uns nicht schrecken lassen. Gewiß es giebt nichts Traurigeres, als einen Menschen, der dahin gebracht werden kann, aus Furcht seine Ueberzeugung aufzugeben. Auf den Glauben erstreckt sich dieses nicht so leicht, denn der ist etwas, was tief im Innersten des Menschen ruht und worüber kein Mensch Gewalt auszuüben vermag. Aber wenn wir uns im Leben von den Widersachern des Guten unterscheiden, wenn wir standhaft in Treue und Redlichkeit [handeln], während sie Arglist und Betrug ausüben wollen, wenn wir in christlicher Liebe das fördern helfen, was sie unterdrükken, wenn wir mit fleißiger Hand fördern, was sie zu vernichten streben – 18–22 Vgl. Mt 13,24–30
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wolan! dann freilich suchen sie uns, wenn sie können auf alle Weise zu schrecken, dann suchen sie den Gottesfürchtigen von seinem Wege abzuziehen und in ihre Stricke zu fangen. Lassen wir uns dann schrecken von dem gottlosen Werke und geben wir uns ihnen wol gar hin, dann müssen wir uns gestehen, daß wir unwürdig wandelten dem Evangelio Christi. Das zweite ist dieses, daß sie uns gern abzuhalten | suchen, daß wir nicht bekennen sollen das Gute, das wir lieben, daß wir das Böse nicht sollen böse nennen, daß wir nicht sollen den Menschen zu erwecken suchen, um ihn von dem abzuziehen, was ihn hindert, die Stimme Gottes in ihm vernehmlich zu erkennen. Denn wenn das unser Bestreben ist, den Unterschied zwischen dem Guten und Bösen recht scharf hinzustellen, das Wahre als gut und herrlich zu preisen, dann suchen uns die Bösen gern abzuhalten, daß wir unsere Abscheu nicht so stark ausdrücken, damit nicht hingestellt werde ihr wahres Bild, damit das nicht Licht werde, was sie verbergen mögten vor der Welt. Und das ist immer das Bestreben des Bösen gewesen, die Freunde der Wahrheit abzuhalten von der Wahrheit, die sie wegen ihrer innern Unlauterkeit nicht zu ertragen vermögen. Wodurch können wir nun im gewöhnlichen Geleise des Lebens zur Förderung des Evangelii beitragen, als daß wir, unbekümmert der Schrecken, die unsre Widersacher verbreiten, frei das Wort vortragen, das wir im Herzen empfinden und uns nicht scheuen vor der Arglist und dem bösen | Worte, wodurch jene uns zu schrecken suchen? Lassen wir uns aber durch sie abschrecken, frei zu sagen, was unsre innerste Ueberzeugung ist, was kann man dann anders sagen, als daß wir verleugnen den Herrn vor der Welt? Darum war das immer dem Apostel das Angelegentlichste, die Christen dahin zu bringen, daß sie sich nicht schrecken ließen von den Widersachern. Was könnte hiezu mehr aufregen, als das Beispiel derjenigen, welche das Leben nicht achteten im treuen Dienste des Herrn? Das allgemeine Zeugniß, was wir der Wahrheit schuldig sind, ist etwas, was wir zu keiner Zeit und unter keinen Umständen den Augen der Welt entziehen dürfen, diesem treu zu bleiben muß uns jedes hohe Beispiel von Selbstverleugnung und Aufopferung kräftig anregen, nie dürfen wir uns so schrecken lassen, daß wir dadurch den Dienst, den wir dem Herrn schuldig sind, unerfüllt ließen. Aber noch merkwürdiger und belehrender sind die Worte: „welches (nemlich, daß ihr euch nicht schrecken lasset von den Widersachern) eine Anzeige ist, ihnen der Verdammniß, euch aber der Seeligkeit und dasselbige von Gott.“ | Auch das, M. F., ist eine wichtige Wahrheit, daß wir uns nicht schrecken lassen, ist ihnen eine Anzeige der Verdammniß, uns aber eine Anzeige der Seeligkeit. Wie denn das? Darum weil in nichts mehr sich die Göttlichkeit des Menschen zeigt, als in der Treue seiner Ueberzeugung. Wenn wir uns zu demjenigen, was man uns zumuthen will, nicht verstehen wollen, wenn wir lieber unsre schönsten Hoffnungen schwinden sehen, so können wir nicht anders, als es muß in uns das Gefühl der Seeligkeit entste-
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hen, in jenen das der Verdammniß; denn in nichts fühlt der Mensch mehr, wie er jetzt schon seelig ist, als wenn er von keiner weltlichen Macht geschreckt wird und sich von nichts Irdischem bestimmen läßt. Das ist ihm eine deutliche Anzeige der Seeligkeit und eben so ist es jenen eine Anzeige der Verdammniß. Es muß ihr Gewissen erwachen, wenn die Kinder Gottes von seinem Willen nicht abzubringen sind, es muß ihnen klar werden, daß sie nicht gegen Fleisch und Blut kämpfen, sondern gegen das Göttliche selbst und so müssen sie ihre Verdammniß auf das bitterste fühlen; es muß ihnen klar werden, daß der | sich nicht schrecken läßt von etwas Irdischem, der seine Ueberzeugung auch unter den härtesten Angriffen zu erhalten weiß; es muß ihnen klar werden, daß sie bei aller ihrer Macht, bei allen ihren irdischen Freuden dennoch in der Verdammniß sind, daß sie schon gerichtet sind, ohne daß sie erst gerichtet zu werden brauchen; ihre eigne Unseeligkeit wird ihnen klar werden aus unsrer Ruhe und Seeligkeit. Dies, M. F., ist ihnen eine Anzeige der Verdammniß und diese kommt auch ihnen von Gott, ob sie vielleicht dadurch aufgeregt würden, umzukehren von ihrem Sündenwege. Und gewiß mancher, erkennend und nicht ertragend seine Unseeligkeit ist dadurch zur Reue gebracht und Nachfolger geworden von denen, welche sich nicht schrecken ließen. So wie wir es hier im Großen erblicken, so finden wir es auch in unsern engern Kreisen. Wenn wir uns auch hier nicht schrecken lassen von den Widersachern des Guten, so werden wir auch hier schon den Vorschmack der Seeligkeit haben und Beispiel seyn für unsre Widersacher, daß sie übergehen von der Verdammniß zur Seeligkeit. | Und das ist nun endlich das Letzte, daß der Unterschied des Großen und Kleinen in dieser Rücksicht ein nichtiger ist. „Denn euch ist gegeben um Christus willen zu thun.“ Ja, M. F., so ist es. Auf das Viel oder Wenig kommt es gar nicht an. Es steht nicht bei dem Menschen, daß er viel lehre und wirke oder nicht, ist der Glaube nur gleich und die Liebe, so wird das Wenig auch dem Viel gleichgeachtet seyn. Das ist das göttliche Gericht, daß dem Guten und Frommen, der über weniges treu gewesen ist, viel gegeben wird und er eingeht in seines Herrn Freude. So mögen wir uns denn bescheiden mit dem Wenigen, was wir zu lehren und zu wirken haben, der Kampf ist ja doch immer dasselbe, es ist der Kampf des Geistes gegen das Fleisch und so sieht denn auch der Herr das Kleine mit Freuden an, wenn es nur Christi ist und aus der vollen Kraft des Glaubens und der Liebe zu ihm hervorgeht. Und das ist nun auch ein des Evangelii würdiges Wandeln, daß wir uns denen, welche Gott nach seiner Gnade so auszeichnete, große Frucht schaffen zu können | in seinem Weinberge, in Demuth gleich setzen können, weil auch wir an unsrer Stelle mit derselben Liebe arbeiten in dem Weinberge Gottes. So müssen wir denn auch sagen, wenn wir es im rechten Lichte der Wahrheit und der Liebe betrachten: das ist für 29–31 Vgl. Mt 25,21.23
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uns der große Lohn, daß wir uns ihnen gleich setzen können im Geiste, wenn derselbe Geist und dieselbe Liebe auch uns beseelt, wenn auch uns der Ruf des Herrn bis ins Innerste erfüllt, wenn auch wir keine Gelegenheit verabsäumen, die uns Anzeige wird der Sinnlichkeit und des Verdrusses unsrer Widersacher, ob wir sie vielleicht umkehren mögten von der Finsterniß zum Lichte. Amen.
Am 27. Juli 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
8. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 9,50 u. 11,23 Nachschrift; SAr 38, S. 134–148; Jonas Keine Nachschrift; SBB Nl 481, Predigten, Bl. 7r–14r; Jonas Nachschrift; SAr 51, Bl. 7r–12r; Jonas, in: Maquet Teil der am 15. Juni 1817 begonnenen Predigtreihe über eigene Worte des Erlösers (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am 27. July 1817.
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Ueber Ev. Luc. Cap. IX v. 50 und Cap. XI v. 23. Die Gnade cet.
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M. A. F. Einen Herrn und Meister bekennend, nach ihm Einen und denselben Namen führend sind doch die Christen auf mancherlei Weise getheilt, abweichend zum Theil über wichtige Stücke des Glaubens und der Lebensweise, so und anders sich ausdrückend über ihr Verhältniß zu demjenigen, zu welchem sie sich bekennen, so daß man zweifelhaft wird, ob auch der eine unter demselben Namen dasselbe denke, als der andre, ob auch Ein Geist sie alle erfülle. Seitdem dies bemerkt ist in der christlichen Kirche, hat es auch 2 verschiedne Ansichten in derselben gegeben: Mild und nachsichtig wollen die Einen alles erkennen, was nur noch einen äußern Schein jenes Bekenntnisses an sich trägt, was sich nicht ganz lossagt von der Gemeinschaft. Eifrig darauf haltend, was sie für Recht halten, mögten andre alles ausschließen, was sich von ihrer Art entfernt, alles für leeren Schein, für Schwanken erklären, was nicht mit ihrer Form übereinstimmt. Einseitig und mangelhaft ist das Eine und das Andre und wohl müssen wir fühlen, daß der richtige Weg in der | Mitte liegt. Aber auch der auf der einen oder der andern Seite steht, glaubt sich in dieser glücklichen Mitte zu befinden. Was wäre glücklicher, als wenn wir in den Worten des Erlösers Aufschluß darüber fänden? Und wohl giebt es mancherlei Aeußerungen unsers 3 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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Erlösers über diesen Gegenstand, aber die sich am unmittelbarsten darauf beziehen, die scheinen selbst sich zu widersprechen und mehr auf die eine oder die andre Seite sich hinzuneigen. Und doch hat er darin eine unerschütterlich feste Meinung gehabt, der er folgte und der auch wir folgen müssen. Was können wir also thun, als das Uebereinstimmende darin auffinden? Das sey unsre heutige Betrachtung. Wir bitten cet. I. Ev. Luc. 9, 50. Und Jesus sprach zu ihm: wehret ihm nicht; denn wer nicht wider uns ist, der ist für uns.
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II. Ev. Luc. 11, 23. Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammlet, der zerstreuet. Hier finden wir uns, wenn wir diese Worte nebeneinander stellen, von einem Widerspruch umfangen, den wir auf den ersten Anblick nicht entfernen können. Was ist milder, nachsichtiger | als jenes erste Wort? „wer nur nicht wider uns ist, der ist für uns.“ Wer nur nicht geradezu widerstrebt, den sehe ich an als zu den Meinigen gehörig. Welches ist strenger, als das andre? „wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammlet, der zerstreuet.“ Wer sich nicht geradezu und ganz mit mir vereinigt, der ist mein Feind; wer nicht mit mir sammlet, wer nicht für mein Reich sammlet, der zerstört, der zerstreuet. Und derselbe heilige und untrügliche Mund hat beides gesprochen. Wie finden wir nun in beiden entgegengesetzten Worten Vereinigung? Laßt uns, M. A. F., 1. auf die Umstände sehen, unter welchen der Erlöser die beiden verschiedenen Worte gesprochen hat, damit wir daraus die Uebereinstimmung sehen und 2. diese Worte in ihrer Uebereinstimmung auf das, was uns obliegt, anwenden! Dazu schenkt mir eure christliche Aufmerksamkeit. 1. Es ist merkwürdig, daß beide Worte der Erlöser gesprochen hat, als von jenem wohlthätigen Geschäft die Rede war, was er so oft in seinem Leben geübt hat, die Unglücklichen, die angesehen wurden als unter der Gewalt eines feindseligen Geistes stehend, zu befreien und so | führen uns diese Worte auf den Hauptzweck des Erlösers, der sich in diesem Geschäft so eigenthümlich ausspricht, mit der Wurzel des Bösen auch die herbe Frucht, das Uebel, auszurotten und die von beiden geplagt waren, frei zu machen durch seine göttliche Kraft; und auf diesen Zweck, der auch der unsrige ist, führen uns diese Worte. Das erste sprach er in dieser Beziehung: er hatte einen geheilt, der früher zu seinen Jüngern gebracht worden war, die ihn nicht hatten heilen 38–1 Vgl. Lk 9,37–43
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können. Darauf sprach Johannes zu dem Erlöser: „Meister, wir sahen einen, der trieb die Teufel aus in deinem Namen; und wir wehreten ihm, denn er folgte dir nicht mit uns.“ Da sprach der Erlöser das Wort: „wehret ihm nicht, denn wer nicht wider uns ist, der ist für uns.“ Wolan! Dieser hatte im Namen Jesu die Teufel ausgetrieben, in Anerkennung der Kraft, die Jesu einwohnte. Nicht auf trügerische Weise hatte er sich jenes heiligen Namens bedient, ohne von dem Glauben an ihn auszugehen; denn Johannes sagt, er habe sie wirklich ausgetrieben, nicht bloß austreiben wollen, weshalb wir jenes nothwendig voraussetzen | müssen. Aber er folgte nicht mit den Jüngern ihrem Herrn und Meister, sondern ging seinen Weg für sich. Klein war damals der Haufe, der es mit Jesu hielt und öffentlich und beharrlich ihn bekannte; aber gar manche Verehrer hatte er, die sich zu dieser kleinen Schaar nicht halten konnten und viele, die nachher laut seinen Namen bekannten, die gehörten zu der Zahl derer, die an ihn glaubten, aber doch an jenen engen Kreis sich nicht anschließen konnten. Deren Werth also erkannte der Erlöser und erklärte sich darüber so: Leider sind genug wider mich und euch. Wer aber nicht wider mich ist und doch in meinem Namen das Seinige thut, der ist für uns. Das andre Wort sprach der Erlöser ebenfalls, nachdem er einen solchen Unglücklichen geheilt hatte. Dabei waren viele von denen, die bestimmt wider ihn waren. Die sprachen: „er treibt die Teufel aus durch den Obersten der Teufel.“ Wie fern war dies von der Denkungsart des Erlösers! Sie konnten doch nicht sagen, daß der wider sie sey, der ihre Genossen des Glaubens und des Lebens von den größten Uebeln befreite. Aber weit entfernt zu glauben, daß er dies | aus dieser Absicht gethan, sprachen sie, er treibe die Teufel aus durch den Obersten der Teufel, größer sey die Gefahr, in welche er stürze, als die, wovon er befreie. Da ließ er sich nach seiner Güte in ein Gespräch mit ihnen ein, um ihnen das zu widerlegen und da fügte er das andre Wort hinzu: „wer nicht mit mir ist, der ist wider mich und wer nicht mit mir sammlet, der zerstreuet.“ Wer in diesem heiligen Kriege streitet wider alles, was Last und Schmach meines Volkes besonders ist, der ist wider mich. Wer nicht mit mir sammlet, was zerstreuet war, wer nicht mit mir suchet, was verloren war, der kann nicht gleichgültig seyn, sondern verderblich. In dieser Hinsicht, M. A. F., war eben jener, der nicht folgte, offenbar mit ihm gewesen. Denselben Kampf hatte auch er geführt und aus demselben Grunde. Und so sehen wir denn hier den Vereinigungspunct der beiden Worte des Erlösers, wie eins dem andern nicht widerspricht. Wer mit ihm sammlete, mit ihm war im Geiste, der könnte doch verhindert seyn, ihm zu folgen. Wer aber nicht mit ihm verbunden sey im Geiste, der sey wider ihn, zerstreue, was er gesammlet habe. | 1–3 Lk 9,49
21–22 Vgl. Lk 11,15
26 Vgl. Lk 11,15
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2. So laßt uns dies im zweiten Theile unsrer Betrachtung noch näher auseinandersetzen und auf dasjenige was auch uns vorkommt, anwenden! Laßt uns den Anfang machen bei jenem strengern Worte des Erlösers und sehen, in welchem Sinne denn auch wir befugt sind einen engern Kreis zu schließen, aus welchem wir leider mehrere, als wir wünschen, auszuschließen genöthigt sind, in welchem Sinne auch wir sagen können: wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; wer nicht mit mir sammlet, der zerstreuet! Ja, M. F., das müssen wir wol alle fühlen, in dem christlichen Kriege, zu dem uns alles, was die Geschichte meldet nur ein Vorspiel ist, in jenem großen und heiligen Kriege des Guten gegen das Böse, des Göttlichen gegen das Irdische, in jenem, so lange Menschen auf dieser Erde wandeln werden, nie zu beendigendem Kriege des Guten gegen die Wurzel alles Bösen, welche zugleich Grund alles Uebels ist, in dem giebt es keine Gleichgültigkeit mehr. Wenn wir hierauf das erste Wort des Erlösers anwenden wollten, wären wir in Gefahr, unsre größten Feinde zu verkennen und große Wirksamkeit denen | zuzuwenden, gegen die wir am meisten kämpfen sollen. Wer nicht sammlet, der zerstreuet. Kein Mensch ist hier gleichgültig; wirkt er nicht für das Gute, so wirkt er für das Böse, das nicht Gute, sammlet er nicht, so zerstreut er. Lasset uns nur mit unsern Gedanken uns recht nahe an die Umstände halten, unter denen der Erlöser dies Wort geredet hat, so wird sich uns ein sichrer Blick über die Verhältnisse des Lebens eröffnen. So wie dort diejenigen, welche an die höhere Kraft des Erlösers nicht glauben wollten, um die Menge von ihm abwendig zu machen, jene Rede ausbrachten, so hat es viele gegeben und giebt es deren noch, tragend den christlichen Namen und auch nicht, welche, eben so wenig gerade zu das Christenthum verfolgend, eben so wenig gewaltsam auftretend gegen diejenigen, welche es bekennen, doch dieselbe Rede führen: unleugbar sey manches Uebel dadurch verringert worden, aber das alles sey geschehen nur durch ein andres Böse. Der Mensch sey dadurch gleichgültig gemacht gegen seinen irdischen Beruf, gegen die Herrschaft, welche über die | Erde auszuüben ist, die von Gott gegeben ist. In der Liebe gegen die engere Gemeinschaft vergesse er, die übrigen zu unterstützen und wenn es darauf ankäme, höhere Güter zu vertheidigen, so verstecke er sich hinter seinem höheren Beruf. Die so reden, die sind auch nicht offenbar gegen das Christenthum, aber von ihnen gilt doch das Wort des Erlösers: wer nicht mit mir ist, der ist wider mich. Wer so verkennen kann den Grund alles christlichen Lebens und der christlichen Liebe, der muß nothwendig wider den Erlöser seyn. Er kann nicht anders, als auf solche entgegengesetzte Weise wirken. Er will doch bloß die Menschen abwendig machen von dem, was allein ihr Heil ist. Aber, M. A. F., unter denen, die so wider den Erlöser sich äußerten, waren viele, welche ebenfalls glaubten, die Kraft zu haben, die bösen Geister zu vertreiben, wie der Erlöser denn sagt: „wenn ich sie vertreibe durch Beelze42–1 Vgl. Lk 11,19
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bul, durch wen treiben sie eure Kinder aus?“ Die thaten es aber nicht in seinem Namen, sondern auf eine andre Weise und so | hat es auch immer gegeben eine Art und Weise derer, die nicht an den Erlöser glauben, das Böse aus dem Wege zu räumen, aber nicht in seinem Namen, sondern nur durch ein andres Böse. Das ist die Art, wie die Kinder dieser Welt sich dem Bösen entgegensetzen: eine Leidenschaft machen sie rege gegen die andre. Aber was geschieht andres, als daß ein Uebel an die Stelle des andren tritt? Das drückt der Erlöser aus durch die Worte: „Wenn der böse Geist von dem Menschen ausfähret, so durchwandelt er dürre Stätte, suchet Ruhe und findet ihrer nicht; so spricht er: ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin. Und wenn er kommt, findet er es mit Besemen gekehret und geschmücket. Denn gehet er hin und nimmt 7 Geister zu sich, die ärger sind, denn er selbst: und wenn sie hinein kommen, wohnen sie da; und [es] wird hernach mit demselbigen Menschen ärger, denn vorhin.“ So, M. F., wirken diejenigen, die zwar auch zu sammlen scheinen, aber nicht im Namen des Erlösers und die eben deßwegen an die Stelle dessen, was sie austreiben, nur ein neues Heer von Uebeln ausbreiten. „Wer nicht geradezu mit mir sammlet, der zerstreuet unfehlbar.“ | Wer auch gegen das Böse streitet, aber nicht mit mir, der ist dessen Vertheidiger. Darum hieran laßt uns festhalten und davon nicht weichen! Hier giebt es keine Milde, die nicht verderblich wäre und gefährlich. Wer nicht in diesem Sinne im Geiste mit dem Erlöser ist, wer nicht dasselbe Werk mit ihm treibt, in dessen Leben entweder gar nichts ist, was sich dem Bösen entgegenstellt, gar nichts, was die Menschen von der Erde und dem Staube zu erheben trachtet und himmelwärts zu führen, oder wer auch den Schein hat, aber weiter auch nichts, weil es ihm an der einen Kraft fehlt, aus der alles Heil kommt, der ist gegen den Erlöser, der zerstreuet, der zerstört sein heiliges Werk auf Erden. Aber zweitens laßt uns nun auch eben so bereit seyn, auch dem milden Worte des Erlösers seine Stelle zu gönnen und zu sichern. „Wer nicht wider mich ist, der ist für mich; wehret denen nicht, die nicht mit euch mir folgen.“ Einen ganz andern Sinn hat freilich dies Wort jetzt, als damals und desto bestimmter müssen wir fühlen | daß wir in diesem Sinne nicht befugt sind, ein herbes Wort der Trennung und der Ausschließung auszusprechen. Damals gab es nur Eine Gesellschaft des Erlösers und wer ihr nicht folgte, von dem konnte man doch sagen, es fehle ihm auf irgend eine Weise, weil er sich nicht erheben könne über so manche niedrige Vorurtheile, oder über so manche Worte der Weissagung des Erlösers, die seinen Anhängern Leiden drohten. Aber jetzt giebt es viele Gesellschaften der Menschen, die enger unter sich verbunden und von andern getrennt, Jesu folgen, indem 14 hernach] dennoch 8–14 Vgl. Lk 11,24–26
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sie ihn als ihren Herrn und Meister bekennen und keine von ihnen hat ihn persönlich in ihrer Mitte. Aber dürfen wir es leugnen, daß [für] alle sie sein Wort gilt? „ich will bei euch seyn, bis ans Ende eurer Tage.“ Wollen wir leugnen, daß das Wort auf alle anzuwenden ist? „wo zwei oder drei versammlet sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Wenn der Erlöser schon sagte: „wehret ihm nicht“, da er doch gar | nicht folgte, wie hart, wie strafbar, wie wenig sein großes Wort begreifend müssen wir erscheinen, wenn wir nicht unter diesen Umständen eben so handeln? Wer nicht mit uns ihm folgt, der folget ihm mit andern. Nachdem nun einmal die Eine Heerde des Erlösers getheilt ist, weil die Zeit noch nicht gekommen ist, wo sie ganz Eins seyn kann, sollten wir deswegen sagen dürfen: auch wer nicht in diesem Sinne mit uns ist, ist wider uns? Und dieses gilt nicht bloß dem äußern Unterschied der Kirchengemeinschaft. Warum sollte es nicht auch gelten manchen wichtigen innern Unterschied des Glaubens? Kann irgend eine Gesellschaft sagen, daß sie den Erlöser allein und nur sie allein ihn in ihrer Mitte habe? Wirken sie auf dem einen Gebiete, so wirken andre auf einem andern Gebiete und keiner darf den andern von seinem Rechte an ihm ausschließen. Nur in dem Einen müssen sie mit uns vereinigt seyn, daß sie das Himmlische suchen, daß sie kein andres Vaterland erkennen, als den Himmel, daß sie sammlen die verlornen | Menschenkinder, daß sie nicht ablassen vom Streit gegen alles Böse und Verderbte, darin müssen sie mit uns einig seyn, daß sie nicht in Erfindungen menschlicher Weisheit, nicht in eigenem Gutdünken, sondern in dem treuen Forschen nach den Wahrheiten, die Er gebracht hat, daß sie darin mit uns ihr Heil suchen. Wer ihn bekennt als den Anfänger und Vollender seines Glaubens, o dessenungeachtet kann er gar sehr von uns verschieden seyn, dessenungeachtet kann er von seinem Glauben so reden, daß er uns nicht immer ansprechen würde. Aber es ist sein Wort, es ist seine Wahrheit, er ist nicht wider uns, sondern für uns. Können wir anders den Vorschmack fühlen, von demjenigen, daß Eine Heerde seyn wird und Ein Hirt? Aber beides müssen wir immer vereinigen, sonst führen wir die Wölfe in Schaafskleidern unter die Heerde, beides festhalten, in beidem ihm folgen, seine Milde und seine Strenge uns aneignen aus allen Kräften, von dem einen Worte immer auf das andre | zurückgehen und sehen auf das, worin sie zusammenklingen; und wie beide seinen Weg zeigen, nur so wird es uns gelingen, immer mit ihm zu sammlen, nie zu zerstreuen, sondern gleich ihm die Verlornen zu suchen. So war der Erlöser ernst und streng, mild und nachsichtig, so sollen auch seine Jünger seyn. Nur diejenigen, die des heiligen Ernstes fähig sind, den er selbst so oft aussprach, nur deren Leben ist auch sicher und zuverlässig; und nur diejenigen, die mild an sich ziehen, was ihrer Hülfe bedarf, die 3 Vgl. Mt 28,20 30 Vgl. Joh 10,16
4–5 Mt 18,20 31 Vgl. Mt 7,15
22–24 Vgl. 1Kor 2,4–5 36–37 Vgl. Lk 19,10
25 Hebr 12,2
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Sinn haben für die Mannigfaltigkeit, die Gott geordnet hat, in der die Gläubigen seyn sollen, nur die dürfen solchen Ernst üben. So stehe sein Bild uns vor Augen, dann werden auch wir sagen können: leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn! Amen.
[Liederblatt vom 27. Juli 1817:] Am achten Sonntag n. Trinitatis 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Warum sollt ich. [1.] Meines Herzens reinste Freude / Bleibet die, daß ich nie mich von Jesu scheide, / Daß ich ihn im Glauben ehre, / Jederzeit hocherfreut seine Stimme höre. // [2.] Freundlich ruft er alle Müden, / Und erfüllt sanft und mild ihren Geist mit Frieden; / Seine Last ist leicht zu tragen, / Er macht Bahn, geht voran, tröstet wenn wir zagen. // [3.] Denn er kennt die Leidensstunden, / Größern Schmerz als sein Herz hat kein Herz empfunden; / Darum blickt, wenn seiner Brüder / Einer weint, unser Freund mitleidsvoll hernieder. // [4.] Will das Herz vor Jammer brechen: / O dann pflegt er, und trägt uns in unsern Schwächen; / Selig wer in bösen Zeiten / In Gefahr immerdar, sich von ihm läßt leiten. // [5.] Jesu treuster Freund von allen! / Mit dir will froh und still ich durchs Leben wallen. / Auch der Tod kann mich nicht schrekken; / Denn du wirst, Lebensfürst, einst mich auferwecken. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Sollt ich meinem. [1.] Welterlöser dich zu lieben / Bis das Aug’ im Tode bricht, / Mit des Herzens reinsten Trieben, / Ist der Jünger höchste Pflicht. / Von der Liebe Glut durchdrungen / Kamst du aus des Himmels Reich, / Wurdest schwachen Menschen gleich, / Hast mit Noth und Tod gerungen; / Frommer Herzen Liebesdrang / Sagt nun deiner Liebe Dank. // [2.] Die da wandelten im Staube, / Danken dir der Seele Glück; / Zweifel, Wahn und irrer Glaube / Schwand vor deinem Licht zurück. / Zu dem Heiligthum der Wahrheit / Führtest du der deinen Schaar; / Und wer dir nur folgsam war, / Sah sein Heil in voller Klarheit, / Zeugen das wir alle nicht? / Uns auch uns umglänzt dein Licht. // [3.] Auch der Sünder darf nicht beben / Findt er sich zu dir zurück. / Deine Stimme, du sollt leben, / Heitert der Zerknirschung Blick. / Denn du blutetest am Kreuze / Trugest Schmach und Angst und Noth, / Starbst für ihn, damit dein Tod / Ihn zu Gott zu kommen reize. / Nimmt er gläubig deine Huld, / Ausgetilgt ist seine Schuld. // [4.] Heil uns wenn wir treu dir dienen / Aufgeregt durch deinen Geist! / Ist gleich das noch nicht erschienen, / Was die Zukunft uns verheißt / Dich, dich hat uns Gott gegeben! / O zu welcher Herrlichkeit / Wird er nach durchkämpfter Zeit / Uns dein treues Volk erheben! / Herr 3–4 Röm 14,8
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durch diesen Hofnungsstrahl / Wird uns hell das Todesthal. // [5.] Dank sei Dir von allen Frommen, / Preis und Dank sei dir geweiht! / Herr durch dich ist Heil gekommen, / In das Land der Sterblichkeit! / Wer mit dir durchs Leben gehet, / Schmeckt schon hier des Himmels Lust, / Friede wohnt in seiner Brust; / Wird er einst zu Gott erhöhet, / Dann mischt sich der Liebe Dank / In der Engel Preisgesang. // Unter der Predigt. – Mel. Valet will ich dir. Nach dir o Jesu heben / Hier unsre Herzen sich; / In diesem Schattenleben / Verlangen wir nur dich; / Wir hoffen zu genesen / Mit ahnungsvoller Lust, / Drückst du o heiliges Wesen; / Uns an die treue Brust. // Nach der Predigt. – Mel. Seelenbräutigam. [1.] Jesu hilf daß ich allhie ritterlich / Alles durch dich überwinde, / Und in deinem Sieg empfinde, / Wie so ritterlich du gekämpft für mich. // [2.] Du mein Preis und Ruhm! dir zum Eigenthum / Will ich gänzlich mich ergeben, / Und nur dir zur Ehre leben / Als dein Eigenthum, du mein Preis und Ruhm! //
Am 10. August 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
10. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 9,57–62 Nachschrift; SAr 38, S. 153–162; Jonas Keine Nachschrift; SAr 51, Bl. 13r–18v; Jonas, in: Maquet Teil der am 15. Juni 1817 begonnenen Predigtreihe über eigene Worte des Erlösers (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Ueber Lucas IX. 57–62. Die Gnade cet. Meine andächtigen Freunde! Einst kommt ein Jüngling zu Jesu und sagt: was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben haben möge. Der Erlöser wies ihn hin auf die ihm wohlbekannten Gebote Gottes. Jener bezeugte, daß er sie beobachtet aber daran nicht genug habe. Da sprach der Erlöser: Eins fehlt dir noch, verkaufe, was du hast und komme und folge mir nach. Da habe sich, wird erzählt, der Jüngling betrübt von ihm gewendet, weil er viele Güter gehabt habe. Das müssen wir natürlich finden, M. F., denn was der Erlöser ihm geben sollte, wollte er bloß als Ergänzung. Anders ist es mit uns ... ... Unter uns sollte billig keiner mehr seyn, der nöthig hätte zu sagen: Herr was soll ich thun, daß ich seelig werde? Aber wir finden es anders. Wohl wissend, daß es für uns nichts gebe, als dem Herrn zu folgen, sind dennoch die an ihn glauben und ihn lieben mannigfaltig getrennt, indem der eine mehr oder weniger zu seiner Nachfolge rechnet, als der andre und so ist auch unter den Christen diese Frage immer ein neuer Gegenstand des Nachdenkens, was denn der Herr meint, wenn er sagt: folge mir nach. Je mehr wir nun alles in dem Glauben an ihn und in der Liebe zu ihm zusammenfassen, um desto mehr thut es Noth, hier hell zu sehen, um desto mehr ist es Noth, daß das Herz hier feststehe. Dies zu erschöpfen, das 3 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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könnte freilich nicht das Werk einer Stunde seyn. Aber einige Worte des Erlösers wollen wir uns in dieser | Stunde vorhalten, damit doch über einiges die Zweifel gelöst werden. Dazu bitten wir Gott cet.
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Tex t. Luc. 9, 57–62. Es begab sich aber, da sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: ich will dir folgen, wo du hingehest. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. Und er sprach zu einem andern: folge mir nach. Der sprach aber: Herr erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: laß die Todten ihre Todten begraben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes. Und ein andrer sprach: Herr ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, daß ich einen Abschied mache mit denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes. – Ueberall ist hier die Rede von einer Aufforderung des Erlösers, ihm nachzufolgen, oder ein Erbieten der Menschen, ihm nachzufolgen, Schwierigkeiten, die er selbst ihnen vorhält und Schwierigkeiten, die sie ihm vorhalten und die er widerlegt. Hier haben wir also eine Anleitung des Erlösers zur Betrachtung dessen, was wir uns aufgestellt haben. Wenn jemand sagen mögte, es sey hier weniger die Rede von der Nachfolge, in der wir seyn sollen, als vielmehr von einer besondern Nachfolge in Beziehung auf einen bestimmten Zweck, so dürfen wir uns hierüber nicht leugnen: es sind nicht und können nicht seyn verschiedene Forderungen die der Herr macht an | einige Menschen und an andre nicht, an einige Zeiten und an andre nicht. Allerdings kann für die Forderung dem einen mehr Gelegenheit seyn, als dem andern, aber darauf kommt es auch nicht an, sondern nur auf die Gesinnung, daß, kommt die Gelegenheit, nichts davon versäumt werde. Von dieser Ueberzeugung ausgehend, laßt uns die verschiedenen einzelnen Fälle, die unser Text vorlegt und die Bescheide, die der Erlöser ertheilt, erwägen! I. Es spricht einer zu ihm: Herr, ich will dir folgen, wo du hingehest. Der Herr macht ihm Einwürfe, indem er sagt: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. Was will der Erlöser anders sagen, als daß in dem Entschlusse, ihm nachzufolgen, mehr liege, als derjenige, der sich dazu erboten, geglaubt hatte, als daß er ihn aufmuntern wolle, sich zu prüfen, ob er das leisten könne, was er wolle? und da macht er ihn aufmerksam, daß des Menschen
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Sohn nicht habe, wo er sein Haupt hinlege. Daß das wahr ist, das wissen wir aus der Geschichte. Wenn er Kranke heilte, so geschah es ja wohl, daß man ihn hieß aus der Gegend sich zu entfernen; wenn er sagte, er sey der Weg, die Wahrheit und das Leben, so hoben sie wohl Steine auf. Da war es denn wohl, daß des Menschen Sohn nicht hatte, wo er sein Haupt hinlege und daß alle seine Jünger zu derselben Schmach ihm folgen müssen. Viele Christen meinen, es sey noch jetzt in demselben Sinne eben so. Auch jetzt noch habe der Erlöser kein bestimmtes Gebiet, keine sichtbare Herrschaft in der Welt. Wo er scheine zu wohnen, da wohne oft ein ganz andrer Geist und in den Menschen, die seinen Namen | nennen, sey doch das Herz fern von ihm und nur mit den Lippen nennen sie ihn. Das ist eine trübsinnige Ansicht unsrer christlichen Welt, die ich nicht rechtfertigen will. Wozu hätte der Erlöser nicht gehabt, wo er sein Haupt hinlegte, wozu so viele tüchtige Werkzeuge, die ihm nachfolgten, wozu hätte er gesagt: ich will bei euch seyn bis ans Ende eurer Tage, wenn nicht endlich das Reich Gottes gestiftet würde? Nein, M. F., so ist es auch gewiß nicht. Gegründet ist das Reich Gottes; wohl befruchtet und von frischem Leben beseelt greifen die Glieder desselben in einander und erheben sich ihm zu Ehre und Gott zum Wohlgefallen. Aber deßwegen müssen wir nicht glauben, daß die Worte gar nicht anzuwenden wären auf uns. Haben, wo man das Haupt hinlegen kann, heißt haben, wo man nach vollbrachter Arbeit ausruhen kann. Also die vollbrachte Arbeit gehört auch dazu. Wer also dem Erlöser nachfolgen will, der muß wissen, daß es im Reich der Nachfolge des Erlösers keine vollbrachte Arbeit giebt, daß da ein ewiger Kampf ist, wo es keinen Frieden, ja keinen Waffenstillstand giebt und viele Menschen, die wol glauben, dem Erlöser zu folgen, haben doch davon das rechte Gefühl nicht. Es giebt einen alten Spruch: sey nicht allzu weise und nicht allzu gerecht, der auch gewissermaaßen wahr ist, aber der auf die Nachfolge des Erlösers nicht angewandt werden kann. Der Mensch könne, sagt man, durch den Glauben an den Erlöser und die Gnade Gottes bis auf einen gewissen Punct kommen, aber dabei müsse man auch stehen bleiben und der menschlichen Natur auch etwas lassen. Aber nein, wo man dem Erlöser in Heiligkeit | folgt, da giebt es keine Ruhe und kein Ausruhen, da muß man immer vorwärts streiten. Und eben so, M. A. F., wenn wir aus dem Gebiet unsers eigenen Herzens heraus auf dasjenige sehen, was wir in der Welt auszurichten haben. Auch da wollen sich viele nur mit einem gewissen Maaße begnügen: zu viel dürfe man nicht verlangen, man müsse auch suchen Ruhe zu finden für das gequälte Herz. Nein, M. F., das Wort des Erlösers: des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege und das andre: wer nichts hat, dem wird auch genommen, was er hat, beide sind aus einem Geiste. Die nicht suchen, immer 2–3 Vgl. Mt 8,34; Mk 5,17; Lk 8,37 15 Vgl. Mt 28,20 27 Vgl. Pred 7,16
4 Joh 14,6 u. Joh 8,59; 10,31
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mehr zu wirken, die haben den Sinn seines Rufes: „folge mir nach“ noch gar nicht verstanden, die sind noch nicht seine Diener. –
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II. Spricht der Erlöser selbst zu einem andern: folge mir nach. Der sprach aber: Herr, erlaube, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: laß die Todten ihre Todten begraben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes. M. A. F. Das ist ein starkes Wort und wenn ein andrer wagte, so etwas zu sagen, wie viel Menschen würde es nicht geben, die einen hart deßwegen tadelten, wie streng das sey und wie gefühllos. Aber nun der Erlöser es gesagt hat, werden wir es doch müssen annehmen und fest darin zu werden suchen und fragen, wie der Erlöser es gemeint hat. Diese Gespräche müssen vorgefallen seyn auf einer Reise des Erlösers, wo sich mehrere hier und dort zu ihm gesellten und er selbst mehrere aufforderte, ihn zu begleiten. Wenn wir nun bedenken, wie das Begraben der Todten damals sehr schnell ging, da jeder noch an demselben Tage begraben werden mußte, an welchem er gestorben war: Woher denn nun die Eile? Konnte er nachher den Weg nicht wieder einbringen durch verdoppelte Anstrengung? | Und war das, wozu er zurückbleiben wollte, nicht etwas Herrliches? Nein, M. F., der Erlöser sagte: laß die Todten die Todten begraben. Die Todten die Todten? Welch hartes WortI!N Und doch hat der Erlöser so geredet. Laßt uns aber, wenn wir auf der einen Seite bedenken, wie das Geschäft selbst ihn drängte, auf der andern Seite auch bedenken, mit wie vielen äußeren Gebräuchen, mit wie viel scheinbarer und erkaufter Theilnahme damals das Begraben der Todten verbunden war, wie das Gefühl des Herzens dadurch mehr mußte erstickt werden, als seinen freien Lauf bekommen und darum hatte der Erlöser wohl Recht, daß er nicht wollte, daß jener darum zurückbleiben sollte von dem Gange, das Reich Gottes zu verkündigen, und mit Recht konnte der Erlöser sagen: wer dem Aufruf, das Reich Gottes zu verkündigen, auch nur eine Stunde aufopfern wollte, sich um solches Aeußere zu bekümmern, der muß sich das harte Wort gefallen lassen: laß die Todten ihre Todten begraben. Und das fordert der Erlöser von allen, die ihm nachfolgen wollen und uns allen ist das Wort gesagt: laß die Todten ihre Todten begraben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes. Gewiß, M. A. F. hat der Erlöser nie den Menschen das nehmen wollen, was an den von Gott selbst gestifteten Verhältnissen des Lebens hängt, vielmehr ist er es, der das gottgefällige Leben in Beziehung auf sie erst herauszog und alle natürlichen Gefühle mehr stärkte, indem er sie reinigte und heiligte. Aber so wie sich daran etwas Aeußeres hängt, was immer mehr sich von dem Innern losmacht, was das Herz also auch mehr erkaltet, als erwärmt, woran es nicht mehr möglich ist, Wahrheit und Trug zu unterscheiden, ja | dann ist es etwas Abgestorbenes. Und vor allem um deßwegen, was den Menschen Sitte ist und Gebrauch, sobald es seinen Zusammenhang mit dem Innern verloren hat, zu erfüllen, das Reich Gottes zu verkündigen nachläßt, den läßt der
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Erlöser hinter sich als Todten, die Todten zu begraben. Wol ist es natürlich, daß die Menschen sich einander zuvorkommen, wie der Apostel es auch will, aber so wie daran etwas Aeußeres sich hängt, was mit dem Innern nicht mehr zusammenhängt, so, daß die Wahrheit nicht mehr vom Truge zu unterscheiden ist, so wie jemand auch nur warten will, bis eine bequemere Zeit komme, das Reich Gottes zu verkündigen, so wie jemand nur das Reich Gottes leiser verkündigen will, als sein Inneres es ihm gebietet, so läßt ihn der Erlöser hinter sich als einen, der keinen andern Beruf hat, denn als ein Todter die Todten zu begraben. Das werden wir überall anwenden können; denn einen leeren Schein giebt es überall, der sich um den köstlichen Kern des Göttlichen herumlegt, der sich aber immer ablösen und neu gestalten soll, damit er lebendig bleibe. Läßt sich aber der Mensch dadurch bestimmen, so ist er solcher, der als Todter die Todten begräbt, denn Leben wird nicht hervorgebracht.
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III. Und ein andrer sprach: Herr ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, daß ich einen Abschied mache mit denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes. Er wollte erst einen Abschied machen. Darunter sind zu verstehen die Aufträge, die er zu machen hatte denen, die | in seinem Hause wohnten, daß er alles so wiederfände, als er es verlassen. Ihm antwortete der Erlöser: wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes. Auch was dieser wollte, scheint ja etwas ganz Ordentliches und Löbliches zu seyn. Wie? sollte der Dienst des Herrn sich nicht vertragen mit einem weltlichen Berufe? Wenn wir einmal eine Zeit in ruhiger Betrachtung leben wollen, sollen wir nicht unsre Verhältnisse erst ordnen? Ja, M. F., allerdings gehört das Aeußere zu dem Inneren, das Irdische zu dem Geistigen. Aber es entsteht immer eine Verwirrung daraus, aus welcher wir uns nicht befreien können, wenn wir glauben, es solle beides nebeneinander bestehen. Nein. Das Aeußere soll hervorgehen aus dem Inneren, das Irdische soll nur dienen dem Geistigen als Werkzeug desselben. Dahin soll es bei jedem kommen und wer dem Erlöser folgt, dessen Aeußeres dient bloß dem Inneren und wenn der Herr ruft, so lebt es nicht mehr neben dem Innern, sondern da gilt das Wort: wer seinen Beruf noch aus einem andern Gesichtspuncte ansieht, als daß er die Stelle sey, auf welcher er arbeiten soll im Reiche Gottes, wer noch einen andern Gesichtspunct dabei hat, wer sich noch etwas vorbehalten will für den Genuß, an den eben ist das Wort gerichtet: wer die Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes. Wer sich zwar anstellt, als wolle er auf dem Acker des Herrn arbeiten, aber zurücksieht auf das, was er hinter sich läßt in der Welt, der wird auch schwerlich seinen Gang gerade gehen im Geschäft des Herrn. Wehe dem unter uns; | der hierin noch etwas Verworrenes, Unausführbares finden wollte. Jeder muß ja einse-
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hen, daß nur durch solche Handlungsweise das Reich Gottes gestiftet werden konnte. Die ersten Christen hatten ja auch irdisches Gut, aber was war es anders, als gemeinschaftlicher Besitz? Wenn der Herr rief, so brachte jeder, was er hatte; wenn er rief, so gingen sie und es galt nichts, als: Herr, dein Wille geschehe. Und nur solche treue Diener konnten am Reiche Gottes arbeiten. Ist es jetzt etwas andres? Alle diese Dinge haben jetzt freilich eine andre Gestalt, aber gemein sind die Güter immer noch, nur in einem andern Sinne. Warum aber verläßt nicht jetzt jeder seinen Beruf, das Wort des Herrn zu verkündigen? Weil der Beruf schon untergeordnet ist dem Dienste des Herrn und jeder in diesem, seinem Berufe und durch ihn dem Herrn dient. An wen aber der Ruf kommt und er will denn erst Abschied machen, o an den geht das harte Wort des Erlösers: wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes. O möge sich das unsern Herzen tief einprägen. Der Friede, den wir haben, ist ein göttliches Gut und es ist wahr, es dient sich dem Herrn besser in Ruhe und Frieden, als unter Schmach und Seufzen. Wol! so laßt uns ihm denn dienen in diesem Frieden, aber dennoch dienen mit allem, was wir sind und haben! Wer noch etwas sich vorbehalten wird, o der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes! Alles andre müssen wir für Schanden halten, uns selbst, die ganze Welt verleugnen und so ihm folgen! Nur darin wird in alle Ewigkeit hinaus das Reich Gottes können gebaut werden und wer so nicht dem Herrn folgen will, der folgt ihm gar nicht. Und, M. F., zufällig fast, wie diese verschiedenen Worte | zusammenstehen, finden wir darin ein wohlstehendes Gebäude der christlichen Tapferkeit; denn wenn das alles in uns wär, wenn wir wüßten, Ruhe giebt es in der Nachfolge Christi nie, wenn wir uns losgemacht hätten von allem, was äußerer Schein ist, so daß niemand sich mehr scheute mit der Wahrheit hervorzutreten, ohne sich zu bekümmern um das, was die im leeren Schein befangene Welt dazu sagt, wenn endlich jeder so wär, daß er sich gleich von allem Irdischen losmachen könnte, o was könnte uns dann noch fehlen! Die so glauben, die haben schon jetzt das ewige Leben. Amen.
[Liederblatt vom 10. August 1817:] Am zehnten Sonntag n. Trinitatis 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Du o schönes Weltgebäude. [1.] Gott laß uns aus dir geboren / Jesu Christi Jünger sein, / Die nur ihn zum Herrn erkohren / Sich nur seinem Dienste weihn! / Wirk dazu in unsern Her2–4 Vgl. Apg 2,44–45; 4,32–35 Joh 3,36; 5,24; 6,47
4–5 Vgl. Mt 6,10; Lk 11,2; Apg 21,14
31 Vgl.
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zen / Wahrer Buße selge Schmerzen; / Mach uns durch den Glauben neu, / Seine Frucht sei Lieb und Treu. // [2.] Mach uns in der Hoffnung sehnlich / In der Sanftmuth Jesu gleich, / Ihm in Herzens Demuth ähnlich / Und im Beten andachtreich; / In Geduld unüberwindlich, / In der Gottesfurcht recht kindlich; / Bilde uns sein Eigenthum / Ganz zu unsres Königs Ruhm. // [3.] Zeuch uns aus dem Weltgetümmel / Bring uns unsrer Ruhe nah! / Unser Herz sei schon im Himmel; / Denn auch unser Schaz ist da! / Laß sich unsern Sinn gewöhnen / Sich nach jener Welt zu sehnen, / Denn dein auserwählt Geschlecht, / Hat des Himmels Bürgerrecht. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft. [1.] Jesus kommt von allem Bösen / Uns seine Christen zu erlösen; / Er kommt mit Macht und Herrlichkeit! / Dann an seinem großen Tage / Verwandelt sich der Frommen Klage / In ewige Zufriedenheit. / Sei fröhlich Volk des Herrn! / Er kommt, er ist nicht fern / Dein Erretter! dein Leid ist kaum ein kurzer Traum / Schon glänzt der Morgenröthe Saum. // [2.] Der zum Volke dich erwählet, / Der deine Thränen alle zählet, / Der stritt mit ungebeugtem Muth. / Wie hat unser Herr gerungen, / Wie tief war er von Angst durchdrungen / Wie seufzt er laut! sein Schweiß war Blut. / Doch sahn die Feinde nicht / Auf seinem Angesicht, / Bange Schrecken; gestärkt von Gott litt er den Tod, / Und ewig Heil folgt’ aller Noth. // [3.] Mitgenossen seiner Leiden / Sind wir; einst ärndten wir auch Freuden / Mit ihm dem Ueberwinder ein. / Laßt uns kämpfen, laßt uns ringen / Mit unserm Haupt hindurch zu dringen / Und seiner Gnade werth zu sein. / Der Hülf’ uns schafft ist Er; / Sein großer Nam’ ist, Herr / Unsre Stärke! die ihm vertraun, die werden schaun / Wie sicher ist auf ihn zu baun. // [4.] Ja er kommt von allem Bösen / Uns seine Glieder zu erlösen; / In seinem Reich ist unser Theil. / In den allertrübsten Tagen / Soll nimmer unser Herz verzagen / Uns stärkt die Hoffnung auf sein Heil. / Uns hält in unserm Lauf / Kein Schmerz des Lebens auf; / Ja wir siegen! das Ziel ist nah, bald sind wir da, / Und laut ertönt Hallelujah! // (Münter.) Unter der Predigt. – Mel. Nun danket alle Gott. Erfüll Herr unser Herz mit heiligen Gedanken, / Bewahr uns, daß wir nie verführt im Glauben wanken. / Laß uns den guten Kampf hier kämpfen, und wenn du / Uns rufst, so führ uns ein in deines Himmels Ruh. // Nach der Predigt. – Mel. Herzliebster Jesu. [1.] Der Weg ist gut der durch das Leiden führet; / Man findet Gott, wenn man sich selbst verlieret; / Gefahr und Noth treibt die beherzten Streiter / Beständig weiter. // [2.] Ihn ist der Herr des Lebens selbst gegangen, / Wer einst mit ihm als Sieger wünscht zu prangen, / Muß seiner Schmach und Leiden hier auf Erden / Gewürdigt werden. //
Am 14. September 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
15. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,5–11 Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 492.505–507. 516–520.522–523; König (rekonstruiertes Fragment, vgl. KGA III/7, S. LVIII–LIX; zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.G.) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Tex t. Phil. 2, 5–11.
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Ein Jeglicher sei gesinnet, wie Jesus Christus auch war, welcher ob er wol in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub Gott gleich sein; sondern äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebehrden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöhet und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen alle derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes des Vaters. [Anfang fehlt; SW bietet Text aus 1822 samt einer von Sydow frei formulierten Passage.] In diesem Sinne spricht denn auch der Erlöser selbst von seinem Tode und stellt ihn dar als ein Werk seiner Freiheit, indem er sagt: „Niemand nimmt mein Leben von mir, sondern ich lasse es von mir selber; ich habe Macht es zu lassen und habe Macht es zu nehmen.“ Und so finden wir es auch bestätigt, wenn wir nur auf einzelne Augenblikke in seinem Leiden hinsehen wollen. Als die Diener der öffentlichen Gewalt, die zu seiner Gefangennehmung ausgeschickt waren, sich ihm naheten, da zeigten sich seine Jünger bereit zum Widerstand und fragten ihn: „Herr, sollen wir mit dem Schwert darein schlagen?“ und einer unter ihnen versuchte wirklich 14–16 Vgl. Joh 10,18
18–6 Vgl. Mt 26,50–53; Lk 22,49–51
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Widerstand und schlug des Hohenpriesters Knecht und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Aber der Herr wies ihren Widerstand zurükk mit den Worten „laßt sie doch so ferne machen,“ und er rührte des Geschlagenen Ohr an und heilte ihn und sprach zu Petrus, der das Schwert gezogen hatte: „Stekke dein Schwert an seinen Ort; oder meinst du, daß ich nicht könnte meinen Vater bitten, daß er mir zuschikke mehr denn zwölf Legionen Engel?“ Wie, m. g. F.? wäre | es nicht möglich gewesen, daß, wenn er seine Jünger hätte gewähren lassen nach ihrem Belieben, so daß sie alle einen solchen Widerstand hätten leisten können, wie Petrus ihn wirklich leistete, er eben so gut Gelegenheit bekommen haben würde, sich seinen Feinden zu entziehen, wie es früher schon bisweilen geschehen war, um so mehr, da er die Hülfe der Legionen Engel doch nun einmal nicht in Anspruch nehmen wollte bei seinem himmlischen Vater? Allerdings, aber er wollte nichts thun lassen, wodurch die unter seinem Volke bestehende äußere Ordnung verlezt worden wäre und wodurch er sich in seinen eigenen Augen herabgewürdigt hätte; und so gab er in der festen Ueberzeugung, daß der Vater im Himmel das durch ihn angefangene Werk auch nach seiner leiblichen Entfernung von demselben doch werde fortzuführen wissen, sein Leben mit voller Freiheit hin. Und als er vor dem Hohenpriester des Volkes stand und dieser zu ihm sprach: „ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagest, ob du seist Christus, der Sohn Gottes“ – das war der große Augenblikk, an welchem die Entscheidung seines Schikksals, an welchem sein irdisches Leben hing, wie er auch selbst wußte, daß, sobald er bekannt hätte, er sei Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, seine Richter nicht etwa erst anfangen würden zu untersuchen, mit welchem Recht er sich dies beilege, sondern vielmehr ihn auf das bloße Wort verurtheilen. Wol hätte er auch in diesem Augenblikk schweigen können, wie er schon vorher auf nichts geantwortet hatte, was sie ihn fragten, und so wenig sie ihn vorher gezwungen hatten zu antworten, als andere ihn verklagten, so wenig würden sie es aller Wahrscheinlichkeit nach jezt gethan haben; dann hätten sie keinen Grund gehabt, ihn als einen Gotteslästerer zu verurtheilen, und er hätte ihnen die schwerste Sünde und sich selbst den bittersten Tod erspart. Aber er brach das bisherige Stillschweigen und unterließ nicht, die ihm vorgelegte Frage auf eine unumwundene Weise zu beantworten; und indem er ohne Rükksicht auf die Folgen, die daraus | entstehen mußten, ohne Rükksicht auf die Sünde, die unmittelbar darauf der Hohepriester und die Obersten des Volks begehen würden, ohne Rükksicht auf all das Uebel, wovon er wol wußte, daß es über sein Volk kommen würde, wenn es auf eine bestimmte Art ihn als Erlöser würde verworfen haben, ohne Rükksicht auf sein eigenes Leben, welches er obenein sich selbst aburtheilte, indem er so die höchste und stärkste Wahrheit, das größte Jawort aussprach, wel11 Vgl. Mt 12,14–15; Mk 3,6–7
20–21 Mt 26,63
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ches je aus einem sterblichen Munde gekommen ist: so gab er sein Leben freiwillig in den Tod und ward gehorsam bis zum Tode am Kreuz. [SW bietet Text aus 1822 sowie einen von Sydow vermutlich frei formulierten Abschnitt.] Aber, m. g. F., wie er nun in dieser Knechtsgestalt gehorsam gewesen ist bis zum Tode am Kreuz und nicht anders, als durch Leiden und durch die Schmerzen des Todes hat werden können der Erhöhte zur Rechten des Vaters, so lenkt auch der Dienst, den wir ihm als gehorsame Jünger in Knechtsgestalt leisten, unsere Gedanken immer wieder darauf hin, daß uns geziemt, das Bild des leidenden Erlösers fest im Auge zu behalten und ihm darin zu dienen mit dankbarer Liebe, daß der Lohn seines Todes immer größer werde. Es ist wahr, schon wir sollen die Widerwärtigkeiten dieses Lebens gering achten, und am meisten diejenigen, welche mit unserm heiligen Christenberuf zusammenhangen, und gewiß sehen wir es immer als ein Zeichen menschlicher Schwäche an, wenn die Menschen sich selbst rühmend und selbstgefällig bei dem Andenken der Trübsale und Leiden, die sie erduldet haben, verweilen. Auch in dieser Beziehung soll jeder Einzelne, wie der Apostel späterhin in unserm Briefe sagt, „vergessen was da hinten ist, und sich strekken nach dem, was da vorne ist.“ Und wir könnten glauben, daß der Erlöser hierin hinter uns zurükkgeblieben sei? wir könnten glauben, daß er großen Werth gelegt habe auf das, was er äußerlich leiden mußte? Ach dann würden wir ihn nicht mehr für den erkennen können, dem ähnlich wir gesinnet sein sollen; ja dann würden wir ihn hinter uns selbst stellen. Aber wenn er es auch ganz vergessen hat, wir, m. g. F., wir sollen es nie vergessen, daß er einmal in Knechtsgestalt hat sagen können „meine Seele ist betrübt bis in | den Tod“, und „ist’s möglich, Vater, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“; wir sollen es nie vergessen, daß er nirgend anders, als am Kreuze hat ausrufen können „Es ist vollbracht!“ Das soll, das darf in unserm Herzen nie in Vergessenheit gerathen, damit jene dankbare Liebe, mit welcher wir dienend ihm Frucht schaffen sollen, immer frisch und lebendig in uns bleibe. Denn ist das nicht die Liebe und nur die Liebe, daß wir ein fremdes Dasein in allen seinen wesentlichen und wichtigen Theilen in das unsrige aufnehmen und einschließen? So gehört denn auch das zu der Liebe, mit welcher wir den Erlöser umfassen, daß sein Leiden uns immer wieder gegenwärtig wird, daß wir uns immer wieder dessen bewußt werden, wie er nicht anders als durch Leiden eingehen konnte zur Herrlichkeit, wie er nicht anders auch uns dazu führen konnte, als durch seinen Gehorsam bis zum Tode am Kreuz; und wie könnten wir in dieser Liebe, wenn sie unser Herz recht tief bewegt und beherrscht, anders als dazu mitwirken, daß der Lohn seines Leidens ihm nicht entgehe, daß die Frucht seines Todes immer reichlicher werde. Ja indem die Kraft seines Leidens und Todes in 17–18 Phil 3,13 35 Vgl. Lk 24,26
25 Mt 26,38; Mk 14,34
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unserm Herzen waltet und wirkt, soll ihm unser ganzes Leben, aber nur in Knechtsgestalt, zum treuen Dienste geweiht sein. Hat er um unsertwillen sein selbst nicht geschont, was können wir anderes, als auch unser selbst nicht schonen, damit auch wir, was in unsern Kräften steht, thun zur Förderung seines Reiches in Knechtsgestalt, ihm zur Freude und zum Lohne für sein Leiden. [SW bietet Text von Sydow sowie einen Abschnitt aus 1822.] Aber, m. g. F., eben so wenig als unser Erlöser, indem er in Knechtsgestalt auftrat und wandelte, die Freiheit und Selbstständigkeit seines innersten Wesens verleugnete, sondern vielmehr gehorsam ward bis zum Tode am Kreuz und freiwillig sein Leben hingab, weil er nicht untreu werden wollte gegen die göttliche Wahrheit, eben so wenig sollen nun auch wir in dem Dienste, den wir unserm Herrn leisten, jemals aufhören, unsere Freiheit und Selbstständigkeit zu beweisen und zu behaupten, sondern immer bereit sein, um derselben willen Leiden und Trübsal zu erdulden, ja selbst in den Tod zu gehen. In dem Dienste des Erlösers geziemt uns, der Wahrheit treu zu sein und uns offen für dasjenige zu erklären, was unsere innige und feste Ueberzeugung ist. Wol ist es wahr, daß es der Wahrheit eines jeden überlassen bleiben muß, in vorkommenden Fällen zu reden oder zu schweigen, je nachdem er es für gut findet; wol ist es gerathener, nicht überall die in unserm Herzen verborgene Einsicht und den ganzen Grund unserer Ueberzeugung allen denen mitzutheilen, mit welchen wir in einem nicht nur ferneren, sondern auch näheren Verhältniß stehen, sondern nur in dem Maaße sie unsere Einsicht und Ueberzeugung erkennen zu lassen, als wir fühlen, daß sie dieselbe ertragen können. Aber wenn Pflicht und Gewissen uns gebieten, von dem zu reden, was den tiefsten Grund unsers Herzens ausmacht, dann sollen wir nicht zurükkhalten mit dem Worte der Wahrheit, so wie auch der Erlöser selbst in dem entscheidendsten Augenblikk seines Lebens nicht zurükkhielt mit jenem so vielen | tausend Menschen zum Falle gereichenden Jawort, daß er der Sohn des lebendigen Gottes sei; dann sollen wir die Wahrheit nicht verlassen, sondern fest auf ihrer Seite stehen und ihr die Ehre geben im Angesicht der Menschen. Und welche, sei es gewisse sei es ungewisse, Vermuthung wir dabei auch haben mögen, ob das ausgesprochene Wort vorteilhaft oder nachtheilig auf die Gemüther anderer Menschen wirken werde, welch ein trübes Bild von den Gefahren, denen wir uns dadurch aussezen, von den Widerwärtigkeiten, die uns daraus entstehen müssen, auch vor unsere Seele treten mag: wir sollen doch nicht weichen von der Wahrheit, da soll uns nichts in der Welt höher stehen, als unsere Treue gegen sie, da soll auch das größte Uebel nicht im Stande sein, uns zur Untreue gegen sie zu bewegen, da sollen wir bereit sein, selbst unser Leben für sie zu lassen, daß wir erfunden werden als Nachahmer des Vorbildes, welches uns der gelassen hat, der gehorsam war bis zum Tode 29 Vgl. Mt 16,16; 26,63–64; Joh 6,69
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am Kreuz. Wol mag es sein, daß es Wahrheiten giebt in diesem oder jenem Gebiete des menschlichen Lebens, die wir nicht Allen auf die gleiche Weise zu sagen schuldig sind, sondern die wir besser, bis die Stunde kommt, die Gott der Herr allein weiß, in die Tiefen unsers eigenen Herzens verschließen und darin festhalten. Aber dasjenige, woraus allein unser ganzes Leben zu verstehen ist, dasjenige, was den Menschen, die mit uns leben und auf welche wir wirken, allein den Schlüssel geben kann um uns zu begreifen und unsern Wandel zu würdigen, das dürfen wir ihnen nicht verbergen, so wie auch unser Erlöser, obwol er selbst seinen Jüngern nicht alle Wahrheit sagte, doch die Wahrheit, daß er der Sohn Gottes sei, von dem himmlischen Vater gesandt, um ein neues und besseres Leben in den Menschen zu entzünden und das fleischliche vergängliche Reich Gottes in ein geistiges und ewiges zu verwandeln, niemals, selbst denen nicht, die von dem Gewicht derselben erdrükkt wurden, verschwieg, sondern sie unter günstigen und ungünstigen Umständen aussprach, eben weil er wußte, dass | sie die Grundlage und die Lebenskraft seines ganzen Daseins war, woraus alle seine Handlungen hervorgingen. Und sollten wir auch wissen, daß wir nichts anderes, als den Spott der Menschen davontragen werden durch ein offenes Bekenntniß, wie es auch unserm Erlöser bei den Weisen dieser Welt immer begegnet ist; sollten wir auch fühlen, daß wir des Einen oder Andern Feindschaft und Haß erfahren werden auf diesem Wege, ja sollte uns noch schlimmeres auf demselben drohen: das Alles soll uns nicht bewegen, die Wahrheit zu verlassen, sondern wir sollen im Stande sein, ihr Gehorsam zu beweisen bis zum Tode. Ja diese innerste Wahrheit seines Lebens kann der Mensch auch nicht verbergen, ohne sich selbst in seinen Augen herabzuwürdigen. So wie er sie durch die That kund giebt, so soll er sie auch durch die Rede verkündigen; denn das ist der Würde des Menschen angemessen, daß Wort und That bei ihm zusammenstimmen. Giebt es gewisse Grundsäze und Empfindungen, nach denen wir unser Leben gestalten, wie müßten wir uns selbst unwürdig erscheinen, wenn wir sie vor Andern verbergen wollten! So möge denn das immer mehr unsere Gesinnung werden, daß wir jene Wahrheit frei herausreden, ohne auf die unangenehmen Folgen zu sehen, die daraus für uns vielleicht entstehen können; denn wer der Wahrheit dient, der kann nicht an das Vergängliche denken, was hinterher geschieht, sondern so gewiß er damit dem dient, der gehorsam war bis zum Tode am Kreuz, aber durch das Kreuz eingegangen ist in seine Herrlichkeit, so gewiß ist sein Leben im Ewigen gegründet und von demselben getragen und er selbst erhaben über die eitle Furcht vor den Leiden dieser Zeit. Und jene Wahrheit sie ist ja für uns keine andere als die Wahrheit des Evangeliums, denn in dieser sind wir in demselben Maaße mit unserem ganzen Dasein gewurzelt, als wir unserm Erlöser angehören; es ist die Wahrheit, 3–4 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32
36 Vgl. Lk 24,26
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Am 14. September 1817 nachmittags
daß der Vater den Sohn gesandt hat, um das Verlorene zu suchen und selig zu machen, und daß Alle, die sich in Demuth und Glauben an ihn anschließen, | Mitglieder seines himmlischen Reiches und Erben des ewigen Lebens werden. Möchten wir denn Alle es recht tief fühlen, wie sehr uns geziemt, dieser Wahrheit mit jedem Wort und mit jeder That in hoher Freudigkeit die Ehre zu geben, und, falls es Noth thun sollte, lieber das Leben hinzugeben, als sie zu verleugnen! Wenn dieses Gefühl in uns zur herrschenden Gesinnung wird, dann werden wir auch immer mehr befestigt werden in der Ueberzeugung, daß, so wie die Gemeinschaft unsers Erlösers mit Gott dem himmlischen Vater nur besteht in der Wahrheit, die eins ist mit der Liebe, so auch aus unserer Treue gegen die Wahrheit und aus unserm Eifer in dem Bekenntniß der Wahrheit Alles hervorgehen muß, was nur irgend die Menschen zu dem Heil, welches ihnen bereitet ist, jezt und künftig führen kann; denn das Reich Gottes, in welchem allein die Menschen dieses Heil finden sollen, ist ja kein anderes, als das Reich der Wahrheit, die mit der Liebe eins ist; und in dieser Ueberzeugung werden wir dem immer ähnlicher werden, der uns ein Vorbild gelassen hat, daß wir gesinnet sein sollen, wie er war. Seinem Beispiele gemäß haben sich auch von jeher alle wahren Helden des Glaubens bewiesen. Nicht nur für die Wahrheit des Evangeliums im Allgemeinen, sondern auch sogar für die Gestalt, in welcher ein jeder dieselbe erblikkt, für die Art, wie sie ihn besonders ergriffen hat und beseligt, für die Art, wie er sie sich klar zu machen und anzuwenden sucht auf die einzelnen verschiedenen Verhältnisse seines Lebens, für die Art, wie jeder den Geist derselben am kräftigsten und eindringlichsten auszusprechen vermag, dafür, wenn gehindert werden sollte diese Weise der Erkenntniß und der Verkündigung der Wahrheit, wenn verboten werden sollte nach dieser Regel zu leben, dafür auch das Leben hinzugeben – das ist von je her der höchste und herrlichste Beweis der Freiheit und Selbstständigkeit des Christen gewesen. Und so laßt uns denn, wenn wir anders nicht die irdischen Güter – und das Leben ist ja das größte irdische Gut – bewahren können, als indem wir der Wahrheit | untreu werden, das Irdische gering achten, damit wir Christum behalten und, wie wir mit ihm leiden, auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden! [Schluss fehlt; SW bietet Text aus 1822.]
1–2 Vgl. Lk 19,10
32–33 Vgl. Röm 8,17
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Am 28. September 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
17. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,12–18 Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 565–571; König (rekonstruiertes Fragment, vgl. KGA III/7, S. LX; zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.G.) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
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[Anfang fehlt; SW bietet Text aus 1822.] Aber, m. g. F., wie der Apostel wol wußte, daß alle Leiden der Christen um des Evangeliums willen nichts anderes sind, als Ergänzungen des Leidens Christi, und eben deshalb mit diesem auf das innigste zusammenhangen, so war es ja wol natürlich, daß, indem er sich in seiner Gefangenschaft mit der Möglichkeit noch härterer Leiden, die vielleicht über ihn hereinbrechen möchten, oder wol gar eines blutigen Zeugentodes, den er vielleicht würde sterben müssen, beschäftigte, er mit seinen Gedanken auf den leidenden Erlöser zurükkging, und daß er sich dessen recht bewußt wurde, wie auch er berufen sei, dem Vorbilde seines Herrn nachzufolgen und dadurch zu seiner Verherrlichung beizutragen; und indem er zu den Christen sagt, wenn er auch sollte geopfert werden in dem Dienst des Herrn, so sollten sie sich doch freuen, wie auch er sich freue, so ist er ohne Zweifel der Meinung, daß diese Freude nur dann die rechte sei, wenn es eine Freude sei an der Nachfolge des leidenden Erlösers. Und so ist es denn auch der Gesichtspunkt unsers Verhältnisses zu dem Herrn, unter welchen er sein Leiden und das Leiden der Christen überhaupt bringt, und er will uns also in diesen Worten das Leiden des Herrn auch als ein nachahmungswürdiges Vorbild aufstellen, an welchem wir uns recht erfreuen sollen. Indem wir uns nun zunächst zu dem leztern Gesichtspunkt der Sache wenden, so scheint freilich unser ganzes Loos auf Erden, die ganze Ordnung der menschlichen Dinge, seitdem der Bund, welchen der Erlöser gestiftet hat, der Bund des Glaubens und der Liebe, nun schon so lange besteht und so weit unter den Menschen verbreitet ist, eine solche zu sein, daß wenige 2–3 Vgl. Kol 1,24
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Am 28. September 1817 nachmittags
unter uns Gelegenheit haben möchten, sich den leidenden Erlöser zum Vorbild zu sezen. Wol, möchten wir sagen, hatte der Apostel | Recht, dies zu thun in Beziehung auf sich selbst und auf jene ersten Christen, an welche er damals schrieb; denn damals war noch die Zeit der Verfolgung um des Herrn willen, wo niemand, der es treu und aufrichtig meinte mit dem Evangelio, die Gefahr des Lebens scheuen durfte; jezt aber, nachdem die Kirche, die der Herr lebend und leidend gestiftet hat, sicher gestellt ist der Welt gegenüber, nachdem die Feinde Christi überwunden sind und nur noch in ihrer Ohnmacht dastehen, nachdem alle geistige Kraft der menschlichen Gesellschaft, die ursprünglich in dem Erlöser gegründet ist, und alle geistige Entwikklung und Bildung der Menschen, die von der Gemeinschaft mit dem Evangelio ausgeht, vorzugsweise in denen liegt, die den Namen des Herrn bekennen, wo sollten da doch die Leiden herkommen, in denen er uns zum Vorbild dienen könnte? Denn was jeder unter uns zu leiden hat nicht etwa von der Unvollkommenheit der irdischen Dinge, sondern als Folge seiner eigenen Sünde, dabei können wir uns den Erlöser nicht zum Vorbild stellen noch an ihm uns erfreuen, weil sein Leiden ein anderes war, weil er nicht gelitten hat etwa um seiner Sünde willen – denn er ist uns zwar in Allem gleich geworden, aber ausgenommen die Sünde – sondern um der Welt Sünde willen. Aber, m. g. F., eben weil die ersten Tage des Christenthums uns eine so große Menge von solchen vor Augen stellen, die gleich dem Apostel durch Trübsal und Tod dem leidenden Erlöser gefolgt sind und uns dadurch die ruhige Zeit bereitet haben, welche wir genießen, so sollen wir uns mit aller Aufmerksamkeit darauf richten, daß wir wenigstens in dem Kleinen, was uns noch übrig ist zu leiden, desto treuer und freudiger dem Herrn folgen. Aber ist es nicht wahr? je weiter die Erkenntniß der heilbringenden Wahrheit, die der Sohn Gottes an das Licht gebracht hat, schon ausgebreitet ist unter den Menschen, je freier und ungehinderter jeder aus der unmittelbaren Quelle derselben schöpfen kann, was ihm noth thut, desto leichter, desto bequemer wollen, eben dadurch verführt, sich die Menschen den | Dienst des Erlösers und der Wahrheit machen, desto mehr gewöhnen sie sich zu glauben, daß auf die kindliche Treue des Einzelnen in diesem Dienste – denn auch sie könnte uns ja dem Mißfallen und dem Spott der Welt aussezen – weniger ankomme, um desto mehr hat sich auch unter den Christen ausgebreitet jene Scheu vor dem Kreuze des Herrn, welche sich mit der Freude an seiner Nachfolge nicht verträgt; und darin liegt gewiß eine unselige Entfernung von dem Vorbilde, welches er uns aufgestellt hat in seinem Leiden. Ich glaube, m. g. F., daß die allgemeine Erfahrung das jezt Gesagte bestätigt, und daß wir deshalb auch die allgemeine Verschuldung, die dadurch ausgesprochen ist, uns nicht ableugnen können. Oder sehen es nicht gar viele für einen abenteuerlichen Eifer an, wenn irgend ein Einzelner, ohne daß es in dem unmittelbaren Kreise seines 18–19 Vgl. Hebr 2,17; 4,15
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Berufes und seiner Pflicht liegt, sich dem Verkehrten, Gott Mißfälligen und Christi Unwürdigen, was nicht nur in der menschlichen Gesellschaft überhaupt, sondern selbst unter den Christen hervortritt, kräftig widersezt durch Wort und That? Wie oft hören wir nicht sagen, es sei nur eine Frucht des verkehrtesten Eigendünkels, wenn der Einzelne glaube, er könne mit seiner schwachen gebrechlichen Kraft dem so weit verbreiteten Verderben auf eine erfolgreiche Weise entgegentreten! Wie oft hören wir nicht sagen, es sei genug, wenn der Mensch durch sein geräuschloses Beispiel in dem stillen Kreise seiner Wirksamkeit bezeuge, was er für recht und gut und für nothwendig zur Förderung des Reiches Gottes hält, es sei genug, wenn er Lehre, Rath, Warnung, Zurechtweisung und Strafe da gebe und austheile, wo es sein unmittelbarer Beruf erfordert; aber sich in das allgemeine Gewühl menschlicher Irrthümer und Verkehrtheiten hineinzustürzen, um dasselbe zu zerstreuen durch die uns zu Gebote stehende Kraft des Lichtes und des Guten und dieses an die Stelle jener zu sezen, das sei immer und überall übel angebracht und selbst verkehrt, und deshalb könne es auch nicht aus dem | reinen unverderbten Eifer für das Gute und die Wahrheit herkommen, sondern müsse eine sehr trübe Quelle, die Quelle der Eitelkeit und der Selbstsucht, haben! Worauf beruht das anders, als auf einer sträflichen Gleichgültigkeit gegen das Heil, welches der Vater uns zugedacht hat, und welches wir in dem Genuß der himmlischen Güter haben, die der Erlöser uns erworben? worauf anders, als darauf, daß wir den Kreis der Liebe, in welchen der Herr die Seinigen so gewiesen hat, daß er aus ihrem Leben und Weben in demselben erkennen will, ob sie seine rechten Jünger sind, viel zu eng gezogen haben? worauf anders, als darauf, daß wir den allgemeinen Beruf, den er seinen Jüngern aufgelegt hat, daß sie durch Lehre und Beispiel, durch Wort und Wandel, mit allen Kräften ihres Lebens, kurz mit ihrem ganzen Dasein in allen Verhältnissen und Umständen seine Zeugen sein sollen, entweder aus den Augen verloren haben oder nicht mehr theilen wollen, obgleich er uns nicht davon freigesprochen hat und uns auch nicht davon freisprechen kann? Und worauf anders beruht denn dies, als darauf, daß wir glauben, das Wahre und Gute, welches wir eben als Zeugen Christi fördern sollen, könne sich selbst helfen im Kampfe gegen die Macht der Finsterniß und des Bösen und selbst siegreich seine Herrschaft ausbreiten auf Erden ohne den Dienst der Menschen? Und dies wiederum worauf beruht es anders, als darauf, daß wir, wenn es auch nicht der Haß ist oder die Verfolgung, doch das Mißfallen oder den Spott der Welt vermeiden wollen? und was ist das anders, als jene beklagenswerthe Scheu vor dem Kreuze des Herrn, bei welcher wir nicht im Stande sind, uns wie der Apostel zu freuen, wenn es nun am Tage liegt, daß wir um Christi willen leiden sollen? O, jeder der in dieser Scheu befangen ist, der sehe doch hin auf den Anfänger und Vollender unsers Glaubens, und wenn er sich dabei sagen 41–42 Vgl. Hebr 12,2
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Am 28. September 1817 nachmittags
muß, daß der anders gesinnet war und gewandelt ist, so wird er auch fühlen, daß das Bild des Erlösers | in ihm im Verlöschen begriffen ist. Möchte doch jeder, bei dem diese Scheu auch nur einen von jenen traurigen Zuständen der Seele und von jenen innern Mängeln erzeugt hat, sich den leidenden Erlöser vor Augen stellen und darüber nachdenken, wodurch denn der eigentlich in sein Leiden mag hineingekommen sein. Hätte er zu dem Beispiel, welches er in seinem Wandel aufgestellt hat, die Lehre nicht hinzufügen wollen, wie wir sie aus seinem Munde in unsern heiligen Büchern aufbewahrt finden, die Lehre von seiner Person und von dem geistigen Reiche Gottes, welches zu stiften er gekommen war, seine Feinde würden ihn nicht angetastet haben: hätte er sich begnügen wollen mit dem eingeschränkten Beruf, den ein eingeschränktes und unbeachtetes Verhältniß ihm anfangs anwies, er wäre nie verfolgt worden von den Menschen; aber die Erlösung der Welt wäre auch nicht zu Stande gekommen, das Heil der Welt wäre auch nicht gegründet worden, er hätte auch nicht sagen können, daß er gekommen sei, das Verlorene zu suchen und selig zu machen, nicht sagen können, daß es seine Speise sei, den Willen seines himmlischen Vaters zu thun. Jeder, der solche Scheu hat vor demjenigen, was Widerwärtigkeiten herbeiführen könnte, jeder, der durch diese Scheu den Erlöser verleugnet vor den Menschen, der bedenke doch, daß gerade das unsers sterbenden Erlösers Vermächtniß an die Seinigen gewesen ist, daß sie sein Kreuz sollten auf sich nehmen als ihr Kreuz; aber wir können es nicht anders auf uns nehmen, als in dem treuen und unermüdeten Dienste der Wahrheit und des Guten und Alles dessen, was wir als den Willen Gottes erkennen. Dem soll jeder dienen, so weit er nur reichen kann mit seinem Auge, dem soll jeder nicht nur die Kraft seines Armes, nicht nur das Licht seiner Seele leihen in dem nächsten Kreise seines Berufes, damit die Menschen, welche zunächst mit ihm verbunden sind, erkennen mögen, was er für recht und gut hält; sondern auch der Stimme in seinem Innern, welche ihn auffordert, so weit er nur reichen kann, die Worte | der rechten Weisheit, der milden Liebe und des strafenden Ernstes, die der Erlöser so oft geredet hat, nachzureden oder auch nur nachzulallen, soll jeder freudig folgen; jeder soll willig reden und thun, was einem treuen Anhänger des Herrn geziemt; jeder soll mit der ganzen Kraft seines Lebens sich richten gegen den Wahn und die Thorheit, gegen den Leichtsinn und den Unglauben, gegen das Unrecht und die Sünde, wie viel er auch darunter mag zu leiden haben; und so soll jeder unter uns das Kreuz des Herrn auf sich nehmen. Wol werden wir niemals an die Menge seiner ersten Zeugen reichen, wol werden wir vielleicht nie Gelegenheit haben, unser Blut für ihn zu vergießen; aber um desto mehr doch laßt uns bereit sein, das Wenige, was 16–17 Vgl. Lk 19,10
17–18 Vgl. Joh 4,34
22 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23
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noch übrig ist, zu leiden, damit wir nicht das Viele unterlassen, was wir noch thun können. Denn das ist immer noch wahr, daß die Leiden dieser Zeit nicht werth sind der Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden, und nicht etwa blos der Herrlichkeit, die uns bereitet ist, die wir genießen sollen, wenn ein besserer Zustand der Dinge angehen wird, sondern auch der, die wir hier schon können hervorbringen helfen, wenn wir dem Erlöser und seiner heiligen Sache den Dienst nicht versagen, den wir ihm schuldig sind. Ja, m. g. F., wenn wir bedenken, welche geringe menschliche Kräfte anfangs diejenigen besaßen, die der Herr, als er öffentlich auftrat, um seinen großen Beruf zu beginnen, sich zu seinen Werkzeugen auserkor, und wie sie allmälig seine Werkzeuge wurden durch die Kraft der Wahrheit, die er ihnen immer eindringlicher verkündigte und die sie immer deutlicher aus seinem Munde vernahmen, und durch die Ueberzeugung, die er ihnen selbst mittheilte von seiner göttlichen Bestimmung, indem er sagte, er sei von dem Vater gesandt, um die verlorenen Menschenkinder zum Reiche Gottes zu sammeln: so müssen wir ja wol fühlen, daß auch unser lebendiger Glaube an ihn die verirrten Seelen auf den Weg der Wahrheit zu führen, daß auch unsere liebliche Rede | von ihm die schwachen Gemüther aufzurichten vermag. Aber wenn die Starken unbekümmert um die Schwachen sich zurükkziehen und in sich selbst verschließen wollen, wenn sie die Kraft, die ihnen Gott gegeben hat, nicht gebrauchen wollen zum angemessenen Dienst christlicher Wahrheit: o dann ist die Wahrheit ohne die Hülfe, die ihr gebührt, dann hat sich der leidende Erlöser an uns nicht Werkzeuge erworben, die das weiter führen, was er angefangen hat, und was anderes, als die Scheu vor seinem Kreuze, könnte dann in uns walten und uns zurükkhalten von demjenigen, was uns das Heiligste sein soll in der Gemeinschaft mit ihm, daß wir nämlich mit Freuden sein Kreuz auf uns nehmen? Herrscht also darum in der Welt noch viel Irrthum in Beziehung auf die Sache des Herrn, weil er nicht kräftig genug an das Licht gezogen, nicht laut genug gemißbilligt, nicht beharrlich genug gestraft wird; ist darum noch immer viel geheime Feindschaft gegen den Erlöser und sein Reich wirksam, weil die Meisten, die stark genug sind, ihm auch unter Leiden und Trübsalen zu dienen, ihr erst dann entgegentreten, wenn sie selbst von derselben betroffen werden: so fühlen wir wol, wie nöthig es ist, daß wir Hinsehen auf den Anfänger und Vollender unsers Glaubens, und daß wir uns ihm zu treuer Nachfolge anschließen. Und so wollen wir denn ihn, den leidenden Erlöser, uns zum Vorbild nehmen, damit er uns immer freudig bereit finde, sein Kreuz zu tragen und dadurch seinen Namen unter den Menschen zu verherrlichen! [Schluss fehlt; SW bietet Text aus 1822.]
2–3 Vgl. Röm 8,18
34–35 Vgl. Hebr 12,2
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Am 12. Oktober 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
19. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,19–30 Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 599–601.603– 607.610–611; König (rekonstruiertes Textfragment, vgl. KGA III/7, S. LX; zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.G.) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
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M. a. F. Schon in unserer vorigen Betrachtung hatten wir gesehen, wie der Apostel, nachdem er von seinem Verhältniß zu der Gemeinde der Philipper geredet und sie ermahnt hatte, ob dem Worte des Lebens zu halten und sich mit ihm zu freuen, wenn er auch um seines Dienstes am Evangelio willen den Tod | erleiden sollte von den Händen der Feinde der Wahrheit, sich hinwendet zu dem Verhältniß in welchem er zu einzelnen Brüdern stand; und wir hatten davon Veranlassung genommen, über die besondere brüderliche Liebe einzelner Christen unter einander, wie sie neben der allgemeinen brüderlichen Liebe, welche alle Christen als Brüder in dem Herrn verbindet, so häufig vorkommt, nachzudenken und uns bei dieser Gelegenheit deutlich zu machen, daß diese besondere brüderliche Liebe eine rein christliche sein muß, das heißt die Liebe zu dem Erlöser und seinem heiligen Werke. Wie wir uns nun damals dies entwikkelt haben auf den Grund des besondern Verhältnisses, in welchem der Apostel zu dem Timotheus stand, indem er von diesem sagt, er habe keinen, der so ganz seines Sinnes sei, und derselbe habe ihm wie ein Kind dem Vater an dem Evangelio gedient, weshalb er ihn auch anderwärts seinen Sohn nennt: so tritt uns hier das Verhältniß des Apostels zu dem Epaphroditus entgegen in den Worten, die ich uns eben vorgelesen habe; und wenn gleich dieses Verhältniß jenem 1–13 In SW liegt hier ein Rückverweis auf die voranstehende Predigt über Phil 2,19– 24 vor (vgl. SW II/10, S. 582–598), die vermutlich auf Nachschriften des Jahres 1822 beruht. 15–16 Vgl. Phil 2,20 16–17 Vgl. Phil 2,22 17 Vgl. 2Tim 1,2; 2,1 (vgl. noch 1Tim 1,2.18, doch erachtete Schleiermacher den 1. Timotheusbrief nicht für paulinisch, vgl. KGA I/5, S. LXXXVIII–CXXIII). 19 In SW ist dem Stück Phil 2,25–30 als Predigttext vorangestellt (vgl. SW II/10, S. 599).
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ersten, dem des Apostels zu dem Timotheus, völlig ähnlich ist, so habe ich es doch für gut gehalten, uns die verlesenen Worte für heute vorzubehalten, theils um uns noch auf ein anderes Kennzeichen der besondern brüderlichen Liebe aufmerksam zu machen, theils um uns noch manches Belehrende und Erwekkliche, was vorzüglich in diesen Worten liegt, zu Gemüthe zu führen, und um dieses Zwekkes willen wollen wir sie denn jezt mit einander betrachten. Jede besondere brüderliche Verbindung, in welcher Einzelne mit einander stehen, muß hervorgehen ans dem rein christlichen Geiste, aus der Liebe zu dem Erlöser, in welcher die Gemüther sich in Ansehung ihrer tiefsten Bewegungen und ihrer wichtigsten Bestrebungen einander begegnen; in dieser Liebe müssen sie fühlen, daß das Band, welches sie verknüpft, im Grunde kein anderes ist, als die Gemeinschaft mit ihm und mit seinem und ihrem himmlischen Vater; in dieser Liebe müssen sie sich bewußt sein, | daß sie nichts Anderes wollen, als gemeinschaftlich sein Werk unter den Menschen fortsezen und so sein Reich auf Erden bauen. Aber, m. g. F., es kann dabei doch leicht geschehen, daß, indem in einer solchen innigen Verbindung der Eine den Andern mit herzlicher Liebe umfaßt, er vorzüglich nur sich selbst liebt, und das gilt nicht nur von solchen Verbindungen einzelner Menschen, die in einem andern Geiste, als dem christlichen, geschlossen werden und eben deshalb schon ihrer Natur nach nur auf das Irdische und Vergängliche gerichtet sind, so daß bei ihnen auch nur die Rükksicht auf das persönliche Wohl und der Eifer für die persönlichen Absichten im Hintergrunde liegt, sondern es gilt selbst von der Verbindung Einzelner, die wir hier besonders im Auge haben, von der christlich brüderlichen, die aus Liebe zu dem Erlöser geschlossen wird und sein Reich und die himmlischen Güter desselben meint. [In SW folgt hier Text aus 1822.] Denn wie in dem Erlöser selbst keine Selbstliebe war, sondern aus Liebe zu dem Geschlecht der Menschen kam er in diese Welt, um das Verlorene zu suchen und selig zu machen, in dieser Liebe zu allen Menschen, zu allen seinen Brüdern und Schwestern, ging sein ganzes Leben mit allem seinen Denken und Thun in dem Grade auf, daß er mit Verzichtleistung auf irdische Ruhe und Bequemlichkeit ihrem Heil alle seine Kräfte widmete, ja sein Leben für | sie dahingab: so ist auch sein großes Werk, die Erlösung und Wiederbringung und Beseligung der Menschen, nicht auf den Einzelnen berechnet, sondern auf das Heil des Ganzen, und eben deshalb hat er die Menschen sammeln wollen in ein Reich Gottes, damit sie verbunden wären durch einen gemeinsamen Willen und ein gemeinsames Gesez und es recht tief fühlen möchten, wie der Einzelne nur als Glied dieses Reiches sein Leben hat. [In SW folgt hier Text aus 1822.] 29–30 Vgl. Lk 19,10
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Denn obwol unser Erlöser, was seine persönliche Wirksamkeit betrifft, es immer sagte, daß er nur zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel gesandt sei, so wußte er doch von Anfang an, daß seine Bestimmung sich auf das ganze menschliche Geschlecht beziehe, daß durch ihn die ganze Welt erlöst und selig werden solle, und eben deshalb trug er die ganze Welt in seinem liebevollen Herzen; und als die Tage seines Leidens kamen, und er in der Hauptstadt seines Volkes war, und etliche Heiden daselbst ihn zu sehen wünschten, da, als er dies erfuhr, freute sich sein Herz und sein Mund sprach: „die Zeit ist gekommen, daß des Menschen Sohn verklärt werde;“ und als er den Schauplaz dieser Welt auf immer verließ und wieder zu seinem himmlischen Vater zurükkkehrte, da gab er seinen Jüngern unbegränzte Vollmacht, sein Heil allen Völkern zu verkündigen und bis an das Ende der Erde sein heiliges Reich aufzurichten. Und was jene Segnungen betrifft, welche die Liebe in sich trägt, so dürfen wir es ja auch nicht übersehen, daß wir Alle uns der Gaben und Wirkungen des göttlichen Geistes in ihrer Fülle nur im Zusammenhange mit der Gemeinde erfreuen; denn wie der Herr seinen Geist nicht dem Einzelnen weder verheißen noch gegeben hat, sondern so lautet die Verheißung „Es soll geschehen in den lezten Tagen, so will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch“, und so heißt es in der Erzählung von der Begebenheit jenes Tages, als nun der Geist nach dem Versprechen des Herrn wirklich ausgegossen ward: „sie wurden Alle voll des heiligen Geistes“: so sind auch die Gaben des Geistes nicht in dem Einzelnen niedergelegt und wirksam, sondern der unermeßliche Schaz derselben ruht in der Gemeinde der Gläubigen, und der Einzelne empfängt erst von hier aus und hat seinen Antheil daran in dem Maaße, als er in der Gemeinschaft lebt, webt und ist. [In SW folgt hier Text aus 1822.] Und wer das Wort Gottes außerhalb der Gemeinschaft für sich allein haben wollte, dem würde es nicht mehr ein Licht sein auf dem dunkeln Wege des Lebens, nicht mehr eine grüne Aue und ein frischer Wasserbach, um die Seele zu laben und zu stärken mit Himmelsspeise und Himmelstrank, nicht mehr ein Stab und Stekken auf dieser zeitlichen Pilgrimschaft, nicht mehr ein trostreicher Friedensbote in der Stunde des Todes; denn das Wort Gottes ist dies Alles nur für den, der es in der Gemeinschaft mit allen denen hat, die an den Namen des Herrn glauben. Und wie der göttliche Geist dazu ausgegossen worden ist, um die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche des Herrn, auf Erden zu stiften, die Kirche, welche hienieden das Ebenbild seines Wesens und der Abglanz seiner Herrlichkeit sei, so wie er selbst das 2–3 Vgl. Mt 15,24 9–10 Joh 12,23 10–13 Vgl. Lk 24,47; Apg 1,8 18– 19 Apg 2,17 (Zitat von Joel 2,28[3,1]) 21–22 Apg 2,4 26 Anspielung vermutlich auf Apg 17,28 28–29 Anspielung vermutlich auf Ps 119,105 (vgl. 2Petr 1,19) 29–31 Vgl. Ps 23,2–4 30 Anspielung vermutlich auf 1Kor 10,3–4 37– 2 Vgl. Hebr 1,3
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Ebenbild ist des göttlichen Wesens und der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit: so ist nun alles Einzelne, was etwa für sich sein und als solches sich geltend machen wollte, aus dem christlichen Leben, aus dem Umfange der | christlichen Kirche, hinausgewiesen, um seine Stätte da zu suchen, wo der Geist Christi nicht mehr waltet. [In SW folgt hier Text aus 1822.] Wie nun die Verbindung des Apostels mit dem Epaphroditus nichts Anderes war, als ihre Verbindung mit der ganzen Gemeinde, und ihre Liebe unter einander nur ein Abbild gleichsam von der Liebe, mit welcher sie der Gemeinde zugethan waren, so zeigt sich dies auch in den einzelnen Augenblikken, worin dieses Verhältniß nach den Worten des Apostels hervortritt. Der Apostel sagt: „Ich habe es für nöthig angesehen, den Bruder Epaphroditum zu euch zu senden, der mein Gehülfe und Mitstreiter und euer Apostel und meiner Nothdurft Diener ist; sintemal er nach euch Allen Verlangen hatte und war hochbekümmert darum, daß ihr gehört hattet, daß er krank gewesen war.“ Er sendet ihn also zu den Philippern, weil das Herz desselben voll Bekümmerniß darüber war, daß sie von seiner Krankheit gehört hatten und durch diese Nachricht in Traurigkeit versezt waren, und er sendet ihn zu ihnen, damit sie, wie es nachher heißt, ihn sehen als einen solchen, über den Gott sich erbarmt habe, und dadurch wieder fröhlich werden. Fragen wir, worin hatte denn die Bekümmerniß des Epaphroditus ihren Grund? so können wir nicht anders sagen, als in der Liebe, von welcher er gegen die Gemeinde erfüllt war, und diese Liebe erregte in ihm das Verlangen, sie wieder zu sehen, sich ihnen als hergestellt zu zeigen und ihre Betrübniß aufzuheben. Und eben so wenn der Apostel, obwol Epaphroditus sein Gehülfe und Mitstreiter und seiner Nothdurft Diener war, so daß er desselben nicht leicht entbehren konnte, es dennoch für nöthig erachtete, ihn zu den Philippern zu senden, weil er jene Bekümmerniß in ihm wahrnahm, die sich nicht auf dessen eigenes Wohl oder Wehe, sondern auf den Zustand der Gemeinde bezog, ihn zu senden, damit sie ihn sehen und wieder fröhlich werden möchten: so war das Alles in ihm die Frucht der Liebe, mit welcher er der Gemeinde zugethan war. So, m. g. F., soll es auch bei uns sein. Auch wir haben, jeder in seinem Leben, besondere Verbindungen, in welchen wir mit Einzelnen unter unsern Brüdern stehen, gegründet auf die besondere Liebe, die | uns gegen sie erfüllt, und in diesen Verhältnissen sollen wir es uns recht angelegen sein lassen, ihnen Alles zu gewähren und zu leisten, wozu das Herz uns treibt. Aber wie Gott, unser himmlischer Vater, mit seiner Huld und Freundlichkeit alle Menschenkinder umfaßt, wie er seine Sonne aufgehen läßt über Alle ohne Unterschied: so soll jede besondere Liebe in uns ihre Quelle haben in der Liebe, mit welcher wir die Gemeinde umfassen, und jedes Bestreben, 38–39 Vgl. Mt 5,45
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den Einzelnen zu erquikken und zu erfreuen, es soll nichts Anderes sein, als ein Beweis der Liebe, die darnach trachtet, daß das Ganze immer mehr erhoben werde über alles Drükkende und zu einem immer herrlichern Zustand gelange. So finden wir es bei unserm Erlöser. Auch er sammelte in den Tagen seines irdischen Lebens eine kleine Zahl von Menschen um sich, denen er mit besonderer Liebe zugethan war, und zu denen er in einem besonders nahen Verhältniß stand, aber nicht, um ein eigenthümliches Leben mit ihnen allein zu haben, sondern damit er sie senden könnte in alle Welt und durch sie stiften lassen eine Gemeinde, die an ihn glauben und sein Leben in sich aufnehmen sollte, also nur getrieben von inniger Liebe zu dem Ganzen, welches durch ihn erlöset und zu Gott geführt werden sollte. So laßt uns denn ihm nachfolgen in dieser ächt christlichen Liebe; denn nur so erfüllen wir wahrhaft sein Gebot: „Ihr sollt euch unter einander lieben, wie ich euch geliebt habe,“ und nur so dürfen wir uns mit Recht die Seinigen nennen, die er als Glieder seines Leibes anerkennt und seinem himmlischen Vater darstellt! Amen.
13–14 Joh 13,34
15 Vgl. Eph 5,30
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Am 19. Oktober 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
20. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 10,13–14 Nachschrift; SAr 38, S. 169–176; Jonas Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Den 19. Oct. 1817.
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Luc. 10, 13.14. Weh dir, Chorazin! Weh dir Bethsaida! Denn wären solche Thaten zu Tyrus und Sidon geschehen, die bei euch geschehen sind, sie hätten vor Zeiten im Sack und in der Asche gesessen und Buße gethan. Darum wird es Tyrus und Sidon erträglicher ergehen im Gerichte, denn euch. M. A. F. Wir feiern heute überall das Gedächtniß jener großen Tage, die wir mit Recht die Tage der Befreiung unsres Vaterlandes nennen. Aber indem wir alle von solchen Empfindungen erfüllt sind, die sich hieran von selbst knüpfen, so könnte es manchen befremden, daß ich eure Aufmerksamkeit gerade auf diese Worte der Schrift lenke. Zuerst könnte mancher Fromme sagen, es zieme sich doch nicht, die Thaten unsres Herrn mit den Thaten der Menschen zu vergleichen, es zieme sich nicht, seine friedlichen Wunder mit den Tagen des Blutvergießens zusammenzustellen. Aber, M. F., von Thaten der Menschen soll auch hier die Rede nicht seyn. Nicht menschlicher Kraft, nicht menschlicher Weisheit und Tapferkeit fühlen wir uns verpflichtet, sondern auf den Herrn der Welt, der die Menschen geleitet hat, wollen wir sehen. Thaten Gottes sind also diese auch. Und wie alle Wunder des Erlösers den Zweck hatten (denn selbst da, wo er mit liebevollem Herzen eilte, dem Elende Kranker und Unglücklicher abzuhelfen, können wir nicht sagen, daß diese Hülfsleistung sein einziger Zweck gewesen sey) die Menschen darauf aufmerksam zu machen, daß das Reich Gottes herbei gekommen sey, so fühlen auch alle und bekennen es einmüthig, daß von diesen Thaten Gottes 13 Wunder] Wundern 7–8 Die vom 16. bis 19. Oktober 1813 andauernde Völkerschlacht bei Leipzig bedeutete die endgültige Niederlage Napoleons.
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der Zweck nicht die Abhelfung jener äußern Noth allein gewesen sey, welche vor diesen Tagen der Befreiung aufs Höchste gestiegen war, sondern weil der Herr ein Neueres und Besseres unter uns gestalten wollte, darum hat er jene Thaten gethan; und wie dort, so hier kommt alles darauf an, wenn wir das, | was für uns durch Menschen geschehen ist, auf das Ewige beziehen wollen, daß wir dieses so angesehen auch richtig verstehen. – Andre können sagen: Diese Worte gingen ja einer Zeit voll großer Zerstörung voran, einem schrecklichen Gerichte, das Christi tief fühlendes Gemüth verwundete, wenn er gedachte an das Verschwinden der großen, schönen Stadt und an den Umsturz des Reichs. Und allerdings, M. Th., bin ich nicht gesonnen, diese Worte auch als ein bedenkliches Vorzeichen zu Gemüthe zu führen, aber wol als eine Warnung, der wir uns heute nicht entschlagen sollen. Wenn solche Thaten, sagt Christus, zu Tyrus und Sidon geschehen wären, sie hätten Buße gethan im Sack und in der Asche, aber eben darum, weil sie ohne so große Thaten vor ihren Augen vorübergehen zu sehen gefallen sind, so wird es ihnen erträglicher ergehen, als euch. Wolan denn, daß wir diese großen Thaten recht benutzen, daß sie sich nicht vergeblich mögen ereignet haben, daß sie ihren großen Zweck ganz erfüllen, das laßt unsre heißeste Sehnsucht, unsern tiefsten Wunsch seyn! Und so laßt es euch denn gefallen, daß ich euch am Tage des Gedächtnisses so großer Thaten eine Ermahnung zur Buße zurufe, damit sie nicht vergeblich seyen. Wir bitten Gott dazu cet. Einen Zuruf zur Buße also wollen wir heut an uns ergehen lassen, an dem Gedächtnisse der großen Tage Gottes. Indem wir aber die Ermahnung unsrer Worte auf diesen besondern Fall anwenden, entstehen für uns zwei Fragen, die wir uns beantworten wollen: 1. ob doch und in wie fern in dieser Beziehung wir der Buße bedürfen? 2. ob doch und in wie fern uns dieser Tag gerade dazu auffordert? I. Wenn wir, M. F., von dem, was den einzelnen Menschen als solchen betrifft, von dem Verhältniß, in welchem ein christliches Gemüth zu Gott steht, sprächen, denn dürfte wol die Frage, ob wir der Buße bedürfen, gar nicht weiter besprochen werden; | denn wie wir wissen, daß alle Menschen, die zu den Zeiten Christi auf sein Heil Anspruch machten, einmal Buße thaten und dann sich freudigen Glaubens zu ihm bekehrten, so müssen wir oft in uns zurückkehren, wenn wir fortschreiten wollen auf einem Gott gefälligen Wege und oft muß ein jeder ausrufen: Gott sey mir Sünder gnädig! Aber davon nicht heute; sondern davon wollen wir reden, ob in unsren Herzen jene Thaten solche Gesinnungen hervorgebracht haben, die würdig dersel7–10 Anspielung auf die Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. durch die Römer Lk 18,13
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ben sind, ob sie uns das Recht geben zu sagen, daß wir der Buße gar nicht bedürfen, oder ob wir bloß in freudige Dankbarkeit ausbrechen dürfen. Meine Meinung ist, daß wir gerade in dieser Hinsicht es allerdings fühlen müssen, daß, weil Gott ein Neues unter uns gestalten will, wir gar sehr der Buße bedürfen und nicht genau genug in unserm Innern zusehen können, ob wir auch fähig und würdig sind, Werkzeuge des Herrn zu werden. Wenn wir auf alle großen Umwandlungen in der Entwickelung des menschlichen Geschlechtes zurücksehen, so finden wir, daß Zeiten der Buße und der Zerknirschung, daß oftmalige Ermahnungen hin zu allem Großen vorangegangen sind und daß nur die, welche an der Buße und Zerknirschung lebhaften Antheil genommen hatten, am neuen Werke arbeiten konnten. Laßt uns bedenken, wie es zu gehen pflegt, wenn etwas Neues sich gestalten soll. Da entsteht ein Streit zwischen denen, welche das Neue anerkennen und denen, die das Alte vorziehen. Wenn nun alle Theilnehmer an diesem Streite aufrichtige Freunde des Wahren und Guten wären, und nur einzig dahin strebten, daß dieses die Oberhand behalte, das Böse aber niedergetreten werde, dann würden sie sich bald verständigen, in Friede und Eintracht miteinander wandeln und bauen am Reiche des Guten. Ein Licht würde allen leuchten und Gott gefälliger Eifer alle beleben. Daß es aber so nicht ist, zeigt alle Geschichte. Einzelne, die das Neue vorziehen, verkehren es in Eitelkeit und Ruhmsucht, wollen sich einen großen Namen erwerben und ihre Einsichten | leuchten lassen und andre, die da Fahnenträger und Vorträger des Neuen sind und andre zur Nachfolge anregen wollen, bekennen sich selbst nur heuchlerischer Weise dazu und indem sie mit Worten gaukeln, entziehen sie den Menschen die Sache. Von der andern Seite waltet aber auch in Anderen nicht immer das wenn gleich oft unrichtige doch achtungswerthe Gefühl, daß das Neue durch seinen äußern, einnehmenden Schein oft Irthum und Täuschung verberge, daß auf jeder neuen Bahn auch neue Gefahren drohen und daß es leichter sey, Gott zu gefallen, wenn man auf dem breiten und einmal betretenen Wege bleibe. Auch dieses wollen sie nicht immer, sondern viele besorgen, geht das Alte verloren, so geht auch ihr Ansehn und ihre Macht verloren, es werde die Sicherheit gestört, die sie auf ihrem Wege gefunden und sie hätten nur alles zu verlieren, nichts zu gewinnen. So herrscht auch hier Eigennutz und Selbstsucht und wo auf der einen Seite diese, auf der andern Seite Eitelkeit, Ruhmsucht und unüberlegte Liebe zum Neuen den Vorsitz führen, kann da ein Werk Gottes sich aufbauen unter den Menschen? kann da seine Stimme gehorsame Gemüther finden? ist da ein Grund, worauf eine Feste des Reiches Gottes kann errichtet werden? Darum wenn eine höhere Stufe wahren Wohlseyns von den Menschen soll erlangt werden, wenn ein weiteres und erhabeneres Ziel ihnen vorgesteckt wird, o dann ist es Noth, daß zuerst ihr Herz gereinigt werde, dann ist das erste, daß sie sich selbst vergessen müssen, daß sie in sich selbst verleugnen alles, was weltlich ist. Das also ist mein Zuruf zur
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Buße an uns und wer wollte behaupten, daß wir desselben nicht bedürften? Das ist mein Zuruf, daß unser Herz von allem gereinigt werde, was uns unwürdig macht, die großen Güter, welche dieser Tage Anstrengungen uns erkämpften nicht allein zu genießen, sondern auch zu bebauen. | Und wer will sagen, daß wir der Buße nicht bedürfen? Wem wäre nicht die leere und eitle Liebe zum Neuen erschienen und die halsstarrige Selbstsüchtigkeit im Beharren beim Alten? Wer hat sich nicht in der Verlegenheit befunden, wenn er es ernstlich meinte mit dem Guten, seine Hände zurückziehen zu müssen von den Genossen einer und derselben Sache, weil er sahe, ihr Herz sey nicht rein? Wo so viel Irdisches lockt und reizt, wo Ruhmbegierde und Eitelkeit, Selbstsucht und Eigennutz einander drängen, wer kann sich da hinstellen und unterwinden zu sagen, in ihm sey der Eifer für die gute Sache nie verfälscht worden, in ihm sey nie ein Gedanke dieser Art aufgestiegen, oder wenigstens habe er ihn gleich aus seinem Herzen herausgerissen? Wer vermag sich auszuschließen von der Buße? ich hoffe: Niemand, denn die Wahrheit wäre nicht in ihm. Ja sollen diese großen Thaten nicht vergebens gewesen seyn, nicht vergebens unsre Freud und unsre Lobgesänge, o so laßt uns der ernsten Worte gedenken, daß auch wir Buße thun müssen im Sack und in der Asche und daß durch diese Buße unser Herz müsse gereinigt werden, damit wir das verlangte Hochzeitskleid anhaben in dieser Festeszeit Gottes, damit wir unter die Zahl der Christen aufgenommen werden und nicht draußen auf der Gasse stehen müssen! II. Und so werden wir gewiß, M. F., einstimmig die zweite Frage so beantworten: wenn dies Bedürfniß der Buße da ist, so ist es gerade dieser Tag, der uns dazu auffordert. Was an dem heutigen Tage vor 4 Jahren geschehen ist, es gab uns allen die erste sichre Bürgschaft, daß das harte und drükkende Joch der Knechtschaft von uns genommen sey, daß allmählig alle guten Wünsche für das Bessere, alle guten Entschlüsse, die wir in den Tagen der Ohnmacht gefaßt hatten, daß sie nun wieder frei | ans Licht treten könnten. Nach dem großen und blutigen Werk dieses Tages gaben wir uns alle in ruhiger Hoffnung die Hand, daß nun keiner unsrer deutschen Brüder mehr unter der Fahne des Bedrückers stehen würde, daß alle das letzte thun würden, um das schnöde Joch der fremden Dienstbarkeit abzuschütteln. Billig also sehen wir diesen Tag an als die Grundfeste zu dem neuen Gebäude, das wir ausführen sollen und also ist auch heute wol jene Frage zu erwägen. Denken wir zurück an die Zeiten vor diesem Tage, wie zerknirscht waren damals unsre Empfindungen, wie unsicher unsre Ansichten von den dunkeln Wegen Gottes mit den Menschen! Allerdings waren noch viele, die den Götzen des Tages nicht gehuldigt hatten, die unsrer Väter 20–22 Vgl. Mt 22,11–12; 25,10
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noch gedachten und des einheimischen Ruhmes und die in allen Tagen der Noth treue Diener des Vaterlandes geblieben waren, allerdings hatte der Ingrimm über den unwürdigen Zustand in den meisten nicht ganz Verdorbenen tiefe Wurzel geschlagen, so daß er nur auf Gelegenheit wartete hervorzubrechen, aber, M. F., wie nicht mit Unrecht jener Mensch, dessen eiserner Arm so lange wüthete, von diesem und jenem die Geißel Gottes genannt ist, so ist es der Erfahrung gewiß, daß erst in dem Augenblicke, wo von dem züchtigenden Arm das Strafwerkzeug bei Seite gelegt wird, daß da erst die väterliche Liebe sich aus dem Auge wieder hervordrängt. So war es aber auch dieser Tag, da unser aller Gefühl gereinigt werden konnte von den Schlacken, mit welchen der Sturm der Zeit es verunreinigt hatte; er war es, wo allgemeines Mitgefühl erwachte, wo Haß und Rachsucht bei allen mehr und mehr erlosch, und der freudige Gedanke sich überall aufdrängte, es würden | nun alle Hand in Hand gehen in brüderlicher Liebe. Wolan denn, M. F., so ist es auch dieser Tag, an dem wir uns mit Recht fragen, wie weit denn das Werk des Herrn gedeihen solle und warum es noch nicht weiter gediehen sey? Daß wir nur die Schuld daran nicht auf andre schieben, sondern allein in dem suchen, was alle noch drückt! Nicht nur ist dieser Tag uns gegeben zur rechten Freude, sondern auch zur rechten Buße. Es giebt auch keine würdigere Art, wie wir ihn festlich begehen könnten. Alle Aeußerungen eines theilnehmenden Herzens gegen unsre Brüder sind vergebens, alle Opfer, die aus der dankerfüllten Seele sich erheben, steigen nicht zum Himmel sondern werden zurück gedrängt zur Erde, wenn nicht ein jeder sein Herz gereinigt hat. Mögen wir sehen, M. F., auf die, welche an diesem Tage gekämpft haben. Wohl gebührt ihnen unsre Achtung und Verehrung und indem wir unsrem Gott danken und lobsingen, schließen wir ja auch die mit ein, welche seine ausgewählten Werkzeuge gewesen sind, aber hätten sie selbst etwas andres gesucht, als das Werk Gottes unter uns aufzubauen, hätten ihre Anführer auf Glanz, Ehre und Eroberungen gehofft, hätten sie einen andren Ruhm gewollt, als den, Werkzeuge Gottes zu seyn, dann hätten sie ihren Ruhm dahin. Aber so erscheinen sie uns nicht die theuren Helden des Tages und indem wir davon überzeugt sind, bringen wir ihnen unsren Dank aus gerührtem Herzen. Was können sie uns aber zurufen anderes als dieses: ihr unsre Freunde, Brüder, für die wir gekämpft und durch Gott gesiegt haben und für die in drangvoller Zeit ein Gleiches zu thun wir immer freudig bereit sind, reinigt | eure Herzen vor Gott, damit ihr ihm wohlgefällig seyd, baut auf die neue Stadt Gottes mehr und mehr ein des wahren Wohlseyns würdiges Volk. Je mehr sie uns also auffordern, um so mehr muß Buße der Grund seyn, von dem alles bei uns ausgeht. Denken wir aber an die Geliebten, welche den Ruhm des Tages mit ihrem Blute besiegelt haben, was kann uns werther seyn und 5 Gemeint ist Napoleon.
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mehr am Herzen liegen, als daß wir sie ansehen als Märtyrer Gottes, als die für Wahrheit und Recht ihr Leben gelassen und eben darum die Krone der Gerechtigkeit erlangt haben? Wenn wir nun nicht der Wahrheit dienen, wenn uns nicht die neue Zeit mit einem reinen Herzen ausgestattet hat, wie werden dann diese in freudiger Hoffnung Gestorbenen der Nachwelt nur als bedaurungswürdige Opfer erscheinen, die zwar sterbend gehofft hätten, aus ihrem Blute ein neues Reich der Tugend aufzubauen, aus deren Gräbern aber nur ein Reich des Schlechten und der Sünde aufgewachsen sey? Ja dann haben wir ihr Andenken entehrt, dann haben wir ihnen den Kranz von der Stirn genommen, den sie durch Schmerzen und Tod errungen haben. Damit fern sey solche Schmach, so laßt uns reinigen unsre Herzen vor Gott, damit ihm wohlgefällig sey das Opfer, das wir ihm bringen wollen im gemeinschaftlichen Gebet. Amen.
[Liederblatt vom 19. Oktober 1817:] Am zwanzigsten Sonntag n. Trinitat. 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Alle Menschen müssen etc. [1.] Fallet nieder! Fallet nieder, / Betet Gottes Hoheit an! / Menschen, Christen, Freunde, Brüder / Viel hat er an uns gethan. / Seht wir schöpfen, was wir haben, / Aus dem Strome seiner Gaben, / Jedes Gut das uns entzückt, / Jeden Ruhm auch, der uns schmückt. // [2.] Keiner rühme seiner Stärke / Seiner Kunst und Weisheit sich; / Jeder rühme deine Werke, / Vater, jeder rühme dich! / Voll von tiefer Demuth preise / Dich der Starke wie der Weise, / Ihre Kraft und ihr Verstand, / Sind Geschenke deiner Hand. // [3.] Dich mein Vater will ich loben / Demuthsvoll bis in den Tod, / Ewig sei von mir erhoben, / Ueber alles o mein Gott! / Angebetet sollst du werden, / Weil im Himmel und auf Erden / Dir erhabnen niemand gleicht, / Deine Größe nichts erreicht. // (Cramer.) Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Der Herr ist gut, ihr Himmel höret, / Und jauchzt uns nach, der Herr ist gut, / Er hat das Leid in Lust verkehret, / Gott ists der große Dinge thut! / Zu ihm, von dem wir Hülfe haben, / Ging unser Flehn in tiefer Noth, / Als große Wasser uns umgaben, / Und keine Hand uns Hülfe bot. // [2.] Verderben wollt uns schon verschlingen, / Vor Menschen war’s um uns gethan; / Doch er vernahm das Flehn und Ringen, / Er sah uns Arme gnädig an. / Er ließ die Fluthen grausend schwellen, / Und rettete mit starker Macht / Uns mitten durch die starken Wellen, / Durch alle Schrecken banger Nacht. // [3.] Gott ist mit uns, was kann uns schaden? / Was kann uns Staub und Asche 2–3 Vgl. 2Tim 4,8
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thun? / Wie gut ists aller Sorg entladen, / Herr unter deinen Flügeln ruhn! / Wir preisen dich, du Herr der Schaaren, / Gott unser Zuflucht, unser Hort! / Wenn wir uns dir getreu bewahren, / So hältst du stets dein Gnadenwort. // [4.] So leitetest auf dunkeln Wegen / Du uns, verbargst dein Angesicht, / Und warest doch bei uns zugegen, / Und in der Dunkelheit uns Licht. / Ihr goldnen Seile treuer Liebe, / Zieht uns zu unserm Vater hin, / Daß wir ihm weihen unsre Triebe, / Und ihm sich heilge jeder Sinn! // [5.] So fliehn wir der Betrognen Pfade, / Die sich von Gott zur Welt gewandt, / Des Herrn vergessen, seiner Gnade, / Der Hülfe, die er ausgesandt. / So laßt uns noch in fernen Zeiten, / Des großen Retters in der Noth, / Des weisen Vaters Lob verbreiten, / Das Lob des Gottes Zebaoth. // (Brem. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Lobt Gott ihr Christen etc. [1.] Hoch in den Wolken thront der Herr / Mit Wahrheit und mit Licht, / Gerechtigkeit geht vor ihm her, / Er übt ein recht Gericht. // [2.] Er schaut mit mildem Vaterblick, / Die Werke seiner Hand, / Er sorget für der Menschen Glück, / Er segnet Volk und Land. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Jehova Gott der Götter, / An deine Größe reichet nichts; / Wir neigen uns Erretter, / Vor dir gebeugten Angesichts. / Von ungezählten Sternen, / Erschallen Stimmen dir, / Die Nähen und die Fernen, / Ertönen dort und hier, / Es mischt in ihre Chöre / Sich noch die fernste Zeit, / Dir Herr sei Preis und Ehre, / Hallts durch die Ewigkeit. //
Am 26. Oktober 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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21. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,1–11 Nachschrift; SAr 38, S. 461–468; Jonas Keine Nachschrift; SAr 48, Bl. 1r–4v; Jonas, in: Balan Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 642–648; König (rekonstruiertes Fragment, vgl. KGA III/7, S. LXI) Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Nachmittagspredigt am 26. Oktober 1817. M. A. F. Die Worte aus dem Briefe an die Philipper, welche wir zum Grunde unsrer Betrachtung legen finden wir Cap. 3,1 sqq. In diesem Text, den wir heute zu erklären haben, ist manches, was uns fremd scheint, aber seinem Hauptinhalte nach schickt er sich sehr gut zu dem großen Feste der Kirchenverbesserung, das wir in diesen Tagen begehen werden. Ich werde mich bemühen, alles in der Kürze, was in den Worten des Apostels ist, zu erklären mit der Hinweisung auf das, was uns dabei das Wichtigste ist. Was zuerst die Worte: „Freut euch, lieben Brüder, in dem Herrn“ betrifft, so verspare ich dies, weil dies der Apostel im folgenden Cap. noch einmal wieder aufnimmt. Indem der Apostel die Christen auffordern wollte, sich der Gnade Christi recht zu freuen, so zeigt er auf die hin, an denen sie sich vom Gegentheil überzeugen könnten. Er sagt zuerst: um euch recht zu freuen, so sehet auf die Heiden, die noch in der Finsterniß sind und im Dienste der Sünde, dann sehet auf die bösen Arbeiter (dies sind diejenigen, über welche er sich auch an andern Stellen beklagt, die sich in die Kirchen eingeschlichen und sich anstellten, als sey es ihnen recht darum zu thun, das Christenthum auszubreiten). Diese sucht nun der Apostel zu entlarven. Denn ein Mensch, welcher das höchste zu entweihen bemüht ist, der muß, wenn er bekannt ist, ein Gegenstand des Widerwillens und der Geringschätzung werden. Das 3., was er sagt, „sehet auf die Heiden“ dabei hatte er auf eine Weise mit den Worten gespielt. So wie dort auf die Heiden, so war hier 5–6 Anspielung auf das Reformationsjubiläum (vgl. Einleitung, Punkt I.6.) 11 Vgl. Phil 4,4
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auf die Juden gezielt, wie wir dies aus dem Folgenden, aus der geistigen Beschneidung sehen. Wie nun für die Christen, um sich der Gnade Christi recht zu freuen, die nähre Betrachtung des Judenthums besonders wirksam seyn könnte, damit beschäftigt er sich im folgenden Theile. | So werden wir nun zur Betrachtung der folgenden Worte unmittelbar übergehen können. Das jüdische Volk glaubte, und es hatte dazu einen gewissen Grund, ein von Gott auserwähltes Volk zu seyn, da es sich durch eine besondre Veranstaltung der Gnade Gottes in der Kenntniß des einzig wahren Gottes erhalten hatte. Als ein solches Volk unterschied es sich auch vor vielen andern, wiewol nicht vor allen, denn es hatten auch andre Völker eine ähnliche Kenntniß. Der größte Irthum der Juden aber war, daß sie als diejenigen, welche von Abraham abstammten, eben dadurch und durch die äußere Erfüllung des Gesetzes schon Gott wolgefällig zu seyn und ein Recht an seiner Gnade zu haben glaubten. Der Apostel geht überall darauf aus, dieses falsche Vertrauen zu zerstören. Vermöge ihrer Abstammung führten die Juden den Namen Israel und eben deßwegen unterscheidet der Apostel oft Israel des Fleisches von dem bessern Israel, dem Israel des Geistes. In eben dem Sinne redet er auch von einer geistigen Beschneidung. Wir sehen hier, M. F., wie der Apostel das „Gott im Geiste dienen“ entgegensetzt denen, die sich auf das Fleisch verlassen, daß das sich Rühmen von Christo Jesu in seinem Sinne einerlei seyn muß mit „Gott im Geiste dienen“. Das werden wir erst gründlich verstehen, wenn wir erwägen, was das heißt, sich auf Fleisch verlassen. Der Apostel führt das im Folgenden auf doppelte Weise aus. Einmal die Abstammung von Abraham, derer sich die Juden rühmten, zweitens die Gerechtigkeit aus dem Gesetz; denn wir müssen mit diesem Verse gleich verbinden, was er v. 8 und 9. sagt. Was er nun sagt in diesen Worten, daß er mehr als irgend Einer sich auf das Fleisch verlassen könne, da beruft er sich auf beides in Verbindung, indem er sagt, er stamme aus dem Volke Israel und habe das Gesetz nach der Sitte der Pharisäer in aller Strenge erfüllt und sey auch nach dem Gesetz un|sträflich gewesen. Dies alles, sagt er, sey nicht das, worauf er sich verlassen könne. Sehet nun, M. A. F., den besondern Zusammenhang, in welchem unser Text stehet mit der großen Begebenheit der Kirchenverbesserung. Nemlich es hatte sich seit langer Zeit etwas eingeschlichen, was jener jüdischen Vertrauungsart sehr ähnlich war. Es war nemlich und zwar allmählig ein großer Werth gelegt auf äußerliche Dinge, zu deren Erfüllung es gar keiner Gesinnung bedurfte, sondern die auf eine ganz todte Weise konnten abgethan werden. Und ganz mit Recht bringen wir dies mit unter die Benennung des Apostels, sich auf Fleisch verlassen; denn etwas Geistiges war es doch wahrlich nicht. Es ist eine Bemühung, die den Menschen nur beruhigen kann, es ist ein Streben der sinnlichen Menschen, die alles mit Händen greifen und alles nach Zeit und Raum messen wollen und zwar auch nur durch einen Irthum, welchen der gesunde Menschenverstand leicht ent-
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deckt. Wenn wir uns also an diesem Feste ermuntern, uns nicht nur in dem Herrn zu freuen, sondern auch in dem hellen Lichte und dieser reinen Einsicht in das Wesen des Christenthums, so mögen wir uns auch ermuntern, auf diejenigen zu sehen, die sich, wie es auch damals war, auf das Fleisch verlassen und daher eine ebenso ungöttliche Gerechtigkeit suchen, um uns an ihnen im Gegentheil zu stärken und das hellere Licht zu erblicken. Weiter sagt der Apostel: ich achte alles für Schaden cet. Hier, M. F., kann leicht ein Irthum entstehen. Nemlich der Apostel sagt: „ich achte es Alles für Schaden gegen die überschwengliche Erkenntniß meines Herrn Christi Jesu“. Wenn es freilich nur die Erkenntniß wäre, so ist diese eben so vor Gott nichtig, wie die todten Werke. Aber der Apostel braucht dies Wort in einem höhern Sinne, er braucht es nicht von einer unfruchtbaren Erkenntniß, denn dadurch gewinnt | man nichts, sondern von einer Erkenntniß, die Früchte des Herzens und Geistes schafft und ein reges Leben in Christo erzeugt, wodurch man Christum gewinnt. Dies führt uns auf den Gedanken, an welchen sich unser ganzes Bewußtseyn als Christen anschließt, unsre Gemeinschaft mit Christo. Wie wir Christum gewinnen und in ihm fest eingewurzelt sind, so ist dies eben jene Gemeinschaft mit Christo, worin die ganze Seeligkeit des Frommen besteht. In diesem Sinne fährt der Apostel fort: „und in ihm erfunden werde, daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christum kommt.“ Wir werden den Apostel um so richtiger verstehen, je genauer wir uns an den Buchstaben seiner Worte halten. Er sagt: er will nicht seine Gerechtigkeit, die er sich durch das Gesetz verschafft hat, sondern die durch den Glauben an Christum kommt. Dies führt uns auf die Gemeinschaft der Menschen mit Christo. Was einen Werth hat, soll nicht hervorgehen aus dem einzelnen, abgeschlossenen Wesen des Einzelnen. Dies sehen wir auch deutlich; denn wenn ein Mensch etwas thut, was gut scheint, wenn wir aber glauben, es sey hervorgegangen aus seinem abgeschlossenen Wesen, so erscheint es uns als persönliche Willkür. Wenn aber dasjenige, was ein Mensch gethan hat, als gut und löblich in Einem Geiste mit vielen Andern und aus Einer tiefen Wurzel des Daseyns erscheint, das Leben preisen wir und legen ihm einen Werth bei, weil es nicht so vergänglich ist, als das des Einzelnen. So auch hier, wo es auf das Verhältniß des Menschen zu Gott ankommt. Was in dem Leben und der Erscheinung Christi auf Erden, was in der dankbaren Liebe, die der Mensch zu Christo hegt, gegründet ist, das ist nicht seine Gerechtigkeit. Wozu er aber allen Grund und alle Kräfte in sich allein findet, abgesondert von Christo und der Gemeinschaft der Gläubigen, nur | das wäre dann seine Gerechtigkeit. Wie wenig dies überhaupt seyn kann, das muß ein Jeder aufs Tiefste fühlen. Und nun sagt der Apostel, daß es dasselbe wäre, seine Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Auch dies wird uns deutlich werden. Wenn wir uns so die Menschen ganz vereinzelt denken, nur auf sich selbst beruhend, so müssen wir sagen, daß
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dies entweder der unmittelbare Ausbruch sey von dem, was die wechselnde Stimmung des Gemüths hervorbringt, also eine Willkür, oder es muß sich der Mensch irgend eine Regel oder Maaßstab gesetzt haben, das ist dann das Gesetz. Aber da ist dann keine innere Kraft, sondern nur eine Knechtschaft. Und eben dieser äußern Gerechtigkeit setzt der Apostel entgegen die Gerechtigkeit durch den Glauben an Christum, nemlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. Dies sind Worte, die wir alle schon oft gehört haben, allein ich darf nicht voraussetzen, daß sich ein Jeder dabei ein so Bestimmtes gedacht hat, wie es seyn sollte. Deshalb setze ich noch etwas hinzu. Gerecht ist ein Mensch in wie fern an ihm nichts auszusetzen ist, in wie fern kein Tadel an ihm ist, was allein abhängt von dem Maaßstab, nach welchem wir ihn beurtheilen. Was heißt denn nun die Gerechtigkeit durch den Glauben an Christum? Wenn wir schon vorher sagten, daß die todte Gerechtigkeit, die dem Apostel Gewinn war, ihm um Christi willen Schaden gewesen war: so müssen wir sagen, es wäre auch nicht viel werth, wenn der Glaube nichts ist, als eine todte Anerkennung Christi. Der wahre lebendige Glaube an Christum ist auch zugleich der Glaube an die neue Creatur, die nach der Aehnlichkeit unsers Herrn entstanden ist und wenn Christus nicht das Vorbild dieser neuen geistigen Schöpfung gewesen wäre, so wäre er nichts, so würde er uns nicht erlöset haben | und wir wären nicht die Söhne Gottes. So ist also der Glaube an Christum und der Glaube an die neue Creatur unzertrennlich. Wie denn auf diese Weise der Glaube an Christum der Grund eines neuen Lebens, der Grund des Ausziehens des alten und des Anziehens des neuen Menschen ist, ist deutlich. Aber wenn wir uns fragen: kommt denn aus diesem Glauben die Gerechtigkeit, die uns frei macht von allem Tadel? so müssen wir uns sagen: noch jetzt sind wir in der Sünde, wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir an Gott haben sollten. Darum hat der Apostel den andern Ausdruck hinzugesetzt: nemlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. Wir selbst können sie uns aber nicht zurechnen, wir selbst finden uns voll menschlicher Schwachheiten und Gebrechlichkeiten. Aber eben weil der Glaube eine mächtige Kraft ist aus einem geistigen Leben, durch welche der neue Mensch immer höher steigen und sich zu allen Dingen ausbilden kann, die dem neuen Menschen zugehören, so sieht uns Gott in dem vollen Licht und der vollen Kraft des Glaubens und er rechnet uns die Gerechtigkeit zu und die Kraft, die in uns ist, indem er uns immer erneuern und immer mehr reifen sieht zu der vollen Gemeinschaft mit Christo. 10 setze] setzt 18 Vgl. 2Kor 5,17; Gal 6,15
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Und nun werden wir zurückkehren können auf die früheren Worte des Apostels: wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, wir verlassen uns nicht auf Fleisch. Der Mensch, der sich auf sich selbst und auf das Gesetz verläßt, der verläßt sich auf Fleisch, der dient Gott nicht im Geist. Wer Gott im Geist dient, der rühmt sich nur mit Christo Jesu, der weiß, daß nichts an ihm Werth habe, als was von Christo | Jesu ist. Wer nun nichts andres sucht, als im Glauben und in der Liebe mit Christo Eins zu werden, der ist es, welcher Gott im Geiste dient. Zu diesem Dienst Gottes im Geist sind wir auf eine unmittelbare Weise berufen, wir die wir Antheil haben an dieser großen Reinigung der Lehre, welche durch Gottes Gnade deutschem Volke gemacht wurde. Ich kann meine Betrachtung nicht schließen, ohne noch Einiges zu sagen von den letzten Worten des Apostels. Er setzt noch hinzu: zu erkennen ihn und die Kraft seiner Auferstehung cet. Nemlich in diesen Worten kann uns etwas auffallen. Wir sind am meisten gewohnt zu reden von der Kraft des Todes Jesu Christi und sehen diesen als den Grund der Seeligkeit an. Der Apostel redet aber von der Auferstehung Christi, die Kraft liegt also in der Auferstehung Christi. Was meint der Apostel unter der Kraft der Auferstehung Christi? Wir finden im Briefe an die Römer eine Stelle: „wisset ihr nicht, daß alle die, die wir in Jesum Christum getauft sind, die sind in seinen Tod getauft. So wie wir mit ihm begraben sind durch die Taufe in den Tod, auf daß, wie Christus ist auferwecket von den Todten durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln.“ Das ist also die Kraft der Auferstehung, die wir erkennen sollen. So gewiß wir an ihn glauben, so gewiß wird er in uns wirken eine Kraft des neuen Glaubens. So laßt uns denn nun, M. F., das höchste Ziel unsres Glaubens in dieser Kraft der Auferstehung suchen, daß wir durch ihn und seine Gnade immer mehr wachsen in der Liebe; dann wird es uns auch nicht an Muth fehlen, in die Gemeinschaft seiner Leiden zu treten, dann wird es uns auch an der Hoffnung nicht fehlen, noch höher zu treten in der Gemeinschaft seines Geistes, | als die wir jetzt erleben, welche der Apostel so ausdrückt: „die uns entgegen kommt zur Auferstehung der Todten.“ Amen.
19–23 Röm 6,3–4
27–31 Wohl Anspielung auf Phil 1,9 sowie 2Kor 13,14
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Am 1. November 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
Samstag, 9 Uhr, Reformationsjubiläum Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 18,5–6 a. Drucktext Schleiermachers; Predigt am zweiten Tage des Reformations-Jubelfestes, 1818, S. 1–19 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 65–76; 21844, S. 98–109. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 52–61. – Auswahl seiner Predigten, Homilien und Reden, ed. Langsdorff, 1889, S. 85–97. – Kleine Schriften und Predigten, edd. Gerdes/Hirsch, Bd. 3, 1969, S. 294–305. – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 228–240 b. Nachschrift; SAr 38, S. 177–187; Jonas Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 47, Bl. 10r–16v; Jonas, in: Balan Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers
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Predigt am zweiten Tage des Reformations-Jubelfestes in der Dreifaltigkeits-Kirche gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin, 1818. |
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Preis und Dank sei Gott, der uns sein Wort gegeben daß es uns sei eine Leuchte auf dem Wege des Lebens. Amen.
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M. A. Fr. Großer Begebenheiten Gedächtniß zu bestimmten Zeiten zurückzurufen, hat man von jeher als nothwendig und erhebend anerkannt, nicht nur um dasjenige, dessen unmittelbare Spuren schon im Wechsel der Zeit verweht und entschwunden sind, der Vergessenheit zu entreißen, sondern auch um für dasjenige das Gefühl zu erhöhen und aufs neue zu beleben, was noch immer da ist und fortwirkt; und dies letztere wird bezweckt durch die große Feier dieser Tage. Denn wie wir alle jeden Augenblick die Luft des Himmels athmen 5–6 Kanzelgruß frei nach Ps 119,105 13 Gemeint sind die Feierlichkeiten anlässlich des 300. Reformationsjubiläums (vgl. Einleitung, Punkt I.6.).
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und nur in ihr und durch sie leben, doch aber heilsam finden und erquicklich sie, wenn der Himmel heiter lacht, in größeren Zügen einzuschlürfen und uns dieses Lebensverhältnisses inniger und reichlicher bewußt zu werden: so auch ohnerachtet wir täglich im freien Genuß der | herrlichen Wohlthaten leben, welche der Christenheit durch die Kirchenverbesserung zu Theil worden sind, dürfen wir und werden wir es Alle für einen großen Segen Gottes halten, daß er uns aufgespart zum Mitgenuß dieser dreihundertjährigen Feier, um uns inniger, als im gewöhnlichen Leben geschehen kann, durchdringen zu lassen von dem Gefühl der großen Segnungen die uns daher gekommen, und um uns, indem wir uns die göttlichen Fügungen zurückrufen, indem wir die theuren Rüstzeuge des Herrn uns vergegenwärtigen, unseres Zusammenhanges mit ihnen und ihrer großen kräftigen Zeit mit ihren Anstrengungen und Kämpfen lebendiger und freudiger bewußt zu werden. Aber wie der einzelne Mensch, dem die Gaben Gottes reichlicher zufließen, sie nicht für sich allein genießen soll, sondern sie mittheilen und über Andere verbreiten: so auch soll ein Geschlecht, auf welches ein Tag herrlichen Andenkens gekommen ist, nicht für sich allein sich der göttlichen Wohlthaten erfreuen, sondern bedacht sein auch auf die künftigen Geschlechter seinen Genuß fortzupflanzen und sie zu demselben Bewußtsein so weit es möglich ist zu erheben. Ueberdies auch ist es ein merkwürdiges Kennzeichen alles großen und edlen in menschlichen Dingen, daß diejenigen welche den Grund dazu gelegt immer Freunde gewesen der Jugend, und auf das heranwachsende Geschlecht immer vorzüglich hingesehen haben mit ihren Wünschen und Bestrebungen. Denn da zwar, wo es nur darauf ankommt ein äußeres Joch abzuwerfen, eine augenblickliche Gefahr glücklich zu bestehen, da vermag wohl der Gedanke an uns selbst und unsere Zeitgenossen uns zu begeistern und wacker zu erhalten; wo es aber auf Erneuerung des innern Lebens ankommt auf Pflanzung eines neuen Heils für die Menschen, da | haben immer alle, denen es am meisten am Herzen gelegen, eingesehen und gefühlt, daß ihre Hofnungen vorzüglich auf dem künftigen Geschlecht beruhen müßten. Darum war der Erlöser selbst der erste Kinderfreund, wohlwissend, daß wenn diese nicht sein Wort festhielten, dann seine Erscheinung vergeblich gewesen wäre auf Erden. Darum auch waren der selige Mann Gottes Martin Luther und seine Genossen bey dem großen Werk der Läuterung christlicher Lehren und Sitten ganz vorzüglich durchdrungen von dem schmerzlichen Gefühl, in welchem Zustande der Rohheit und Finsterniß, und mit wie wenigen Hülfsmitteln um den schlummernden göttlichen Funken zu erwecken das künftige Geschlecht heranwachse, und ein großer Theil ihrer Bemühungen war
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diesem gewidmet. Hätte derselbe Geist alle ihre Nachfolger und Schüler alle Theilnehmer der wiedergewonnenen Güter gleichmäßig beseelt, wären alle immer darauf bedacht gewesen das künftige Geschlecht leichter und reiner, frommer und kräftiger zu bilden als ihnen selbst wiederfahren war: wieviel weiter verbreitet müßte unter uns sein ein fest im Herzen gewurzelter Glaube! wieviel allgemeiner ein frisches und in Gott fröhliches der geläuterten Lehre würdiges Leben! Wolan denn, wenn also wir und unsere Väter mannigfaltig müssen gefehlt haben in dem was der Christ dem künftigen Geschlechte schuldig ist: so ist uns nicht mit Unrecht heute hier vor Augen gestellt unsere Jugend, der theure Gegenstand unserer Liebe und Sorge und unserer heiligsten Pflichten, der Erbe aller unserer Güter und Segnungen in dem Maaß als wir sie ihnen mittheilen und sie zum Besitz und Genuß derselben einleiten; und so giebt es kein würdigeres Ende dieser hochfestlichen Tage, als das heilige Gelübde diesen Beruf | würdig und eifrig zu erfüllen. Dazu segne der Herr die Andacht dieser Stunde. Text. Matth. 18, 5. u. 6. Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber ärgert dieser Kleinsten einen die an mich glauben, dem wäre besser daß ein Mühlstein an seinen Hals gehenkt und er ersäuft würde im Meer da es am tiefsten ist. Im genausten Zusammenhange mit dem, was wir eben in uns angeregt haben, stehn diese Worte. Unser Herr sagt uns darin ganz deutlich und unverhohlen, nicht der sei der größte im Himmelreich, der, wenn auch auf die reinste und geistigste Weise für seine Seele allein sorge, sondern der die Kinder aufnehme, und der strafbarste, der diese ärgere. Diese aufnehmen heiße ihn aufnehmen, und gewiß dies ist das größte, was dem Christen als Erfolg seiner Bemühungen kann verheißen werden. Was kann aber die Kinder aufnehmen bedeuten als sie in das Reich aufnehmen, welches der Erlöser gestiftet? was sie ärgern, als sie in dieser Beziehung vernachlässigen oder gar den Zug ihrer eigenen Herzen dorthin hemmen? Und so mahnen uns diese Worte an die Pflichten, welche uns allen gegen die Jugend obliegen. Aber indem wir diesen Gegenstand in nähere Verbindung bringen mit unserm Fest, so bleiben wir billig bei dem stehen, was sich auf die Güter besonders bezieht, welche uns durch die Verbesserung der Kirche anvertraut worden sind. Diese können wir aber vornehmlich zurückführen auf den wiedergewonnenen freien Gebrauch des göttlichen Wortes, und darauf, daß die große Lehre des Christenthums von der Vergeblichkeit aller äußern Werke und von der Gerechtigkeit allein durch den Glau-
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ben aufs neue unter uns ist festgestellt | worden. So werden es demnach zwei Vorsätze sein, in denen unsere heutige Betrachtung vollendet wird, daß wir der Jugend wollen behülflich sein zum freien Gebrauch des göttlichen Wortes, und daß wir sie erziehen wollen zu der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Zu dieser zwiefachen Betrachtung erbitten wir uns den Segen des Herrn. I. Aus den Geschichten, welche in diesen Tagen jeder sich aufs neue hat zu vergegenwärtigen gesucht, wissen wir alle, wie tief schon seit geraumer Zeit vor der Verbesserung der Kirche das Wort Gottes in Dunkelheit vergraben war. Schon in der Ursprache selten genug für die Schriftgelehrten, in der Muttersprache aber für das Volk so gut als gar nicht vorhanden, vernahmen die Meisten wenig mehr davon, als das, was nicht selten noch verstümmelt und mißverstanden, den Predigten zum Grunde gelegt wurde; und das Gedeihen des großen Verbesserungswerkes offenbarte sich vorzüglich durch die große Begier, mit welcher von vielen tausenden Luthers Uebersetzung der heiligen Schrift aufgenommen wurde. Nirgends jedoch, m. a. Fr., ist das Gefühl eines Zustandes, nachdem es schon Gewohnheit und Bedürfniß geworden ist, noch eben dasselbe, wie in seiner ersten Entstehung. Das Gefühl unserer Vorfahren als ihnen das Wort Gottes gleichsam neu und frisch vor Augen lag, können wir unmittelbar nicht theilen; aber doch müssen wir an einem Tage wie der heutige versuchen uns lebhaft vorzustellen, welch neues Licht ihnen auf einmal muß aufgegangen sein über das Wesen des Christenthums, wie das überstäubte und verloschene Bild des Erlösers plötzlich vor ihren Augen hergestellt ward, und sich in seiner ganzen Liebenswürdigkeit den Herzen eingrub. Und glaubt ihr nicht, daß auch die Jugend mit wird ergriffen worden sein von | diesen Eindrücken? glaubt ihr nicht, daß sie sehnsüchtig gefragt haben wird nach dem wodurch alle Herzen so erhoben wurden und geistig gesättiget? und Väter und Mütter sollten sie dann nicht willig und freudig hingeführt haben zu den Schätzen des göttlichen Wortes, und sie eingeladen auch zu sammeln und zu genießen? Gewiß haben sie es gethan! und m. Th. können wir auch nicht das ganze begeisterte Gefühl jener Zeit in unser Leben hinübertragen: o so wollen wir uns wenigstens hüten, daß wir hierin nicht nach einem entgegengesetzten Sinn und Geiste handeln. Darum halte ich es für meine theuerste Pflicht an dem heutigen Tage euch aufmerksam zu machen auf einen verderblichen Irrthum, der sich eingeschlichen hat in unsere Behandlung der Jugend. Wir haben uns eingeredet, und bei den meisten ist auch das gewiß aus guter Meinung hervorgegangen, unsere Kinder könnten nur erst sehr spät die heilige Schrift verstehen;
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und wenn wir sie ihnen zu zeitig darböten, so werde ihnen dadurch nur auch für die Zukunft theils Lust und Liebe dazu geraubt, theils die heilige Ehrfurcht und Scheu, womit sie einst dem göttlichen Worte nahen sollten, im voraus untergraben. Und freilich giebt es hier einen gefährlichen Mißbrauch, freilich ist es ein schwerer Frevel, wenn wir die heilige Schrift unsern Kindern zum gleichgültigen todten Wortgetön herabwürdigen! Aber daß wir nur nicht mit dem Mißbrauch zugleich den Gebrauch, mit dem Frevel zugleich den Segen weggeschafft haben. Wie meinen wir es, daß die Jugend erst fähig sein soll das Wort Gottes zu verstehen? Sollen wir es in dem vollen Sinne nehmen, daß sie erst fähig sein soll alles, was man ihr davon darbieten kann, seinem ganzen Zusammenhange nach mit genauer Bestimmung der Bedeutung eines jeden Wortes und jeder Redensart auf|zufassen, damit nie zu viel oder zu wenig in ihren Seelen hängen bleibe? Ja dieses Verstehen des göttlichen Wortes ist ja, wie wir gar wohl wissen, nur die Sache der Schriftgelehrten, und auch für sie eine Aufgabe, der ihre Bemühungen fortwährend gewidmet sind, indem sie sich noch nicht rühmen sie vollständig gelöst zu haben. Sollen wir also darauf warten, so müßten wir ganz zurückkehren zu der Handlungsweise der Kirche, in welcher die Schrift nicht allgemein und frei geöffnet ist dem Gebrauch aller Christen; so dürften auch wir, die Verkündiger des göttlichen Wortes bei dem größten Theil unserer Zuhörer uns nicht auf ihre eigne Erfahrung vom Worte Gottes berufen, sondern müßten sie allein auf das verweisen, was wir darüber sagen, und wenn Ihr freie evangelische Christen vor diesem Gedanken schaudert, so ist er gewiß uns eueren Lehrern noch unerträglicher. Also das kann die Meinung nicht sein; mit einem unvollständigeren Verständniß begnügt ihr euch alle, und wundert euch darüber nicht bei einem Buch aus ferner Zeit und fremder Sprache; sondern nur so lange wohl soll die Jugend warten, bis sie wenigstens dieses unvollkommnen Verständnisses, das Eltern und Lehrer ihr geben können, fähig ist, bis sie, da doch alles auf Gott und des Menschen Verhältniß zu Gott zurückgeht, den Gedanken des höchsten Wesens fassen kann. Aber meine theuren Freunde, wer kann diesen fassen? Wohnet nicht der Ewige im unzugänglichen Licht? wissen und fühlen wir es nicht, daß unsere Vorstellungen von ihm, wie sehr wir sie auch zu reinigen suchen und wie genau abzumessen, doch immer uns selbst nicht genügen, und immer noch etwas darin bleibt von Bild und Gleichniß? Sollen wir die Jugend deshalb fern halten vom göttlichen Wort, weil ihre Vorstellungen noch etwas kindischer sind als die unsrigen? | Und wenn wir das immer aufs neue inne werden, daß niemand zum Vater kommen kann denn durch den 41–1 Vgl. Joh 14,6
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Sohn; warum wollen wir sie gewaltsam von dem zurückhalten, der selbst die Kindlein zu sich gerufen hat? Viel eher gewiß als diejenigen glauben mögen, die am meisten jenen Bedenklichkeiten Gehör geben, entwickelt sich in unsern Kindern das Bedürfniß des höheren und göttlichen, und mit dem Bedürfniß auch die Fähigkeit es zu befriedigen. Warum sollten wir das auch nicht glauben? Wollen wir nichts darauf rechnen, daß das Wirken des göttlichen Geistes in uns ihnen vor Augen liegt? Nichts darauf, daß unsere eigene Frömmigkeit Ahndungen in ihnen erregt, die sich nicht mehr ganz beschwichtigen lassen? wollen wir so gar nichts darauf rechnen, daß sie schon durch die Taufe aufgenommen sind in die Gemeinschaft der Christen? Gewiß, verstehen sie nur erst unsere Ermahnungen und unsere Vorschriften und ist auch in ihnen aus der Lust die Sünde gebohren, werden sie in sich selbst inne den Unterschied von Gehorsam und Ungehorsam: so regt sich auch ihr Gewissen, die Stimme Gottes in dem Menschen die ihn lehrt nach Gott fragen; so werden sie auch bald aus dem in seinem ganzen Zusammenhange fast schwierigsten Buche des neuen Bundes dem Briefe Pauli an die Römer das herrliche Wort verstehen von dem Gesetz in den Gliedern das da widerstreitet dem Gesetz in dem Gemüthe. Ja auch das kindliche Herz sobald in ihm der Streit des Geistes und des Fleisches erwacht ist, kann diese Schilderung auf sich anwenden; auch dieses hat seine Seufzer und Thränen unter denen es fragt, wer wird mich erlösen von diesem Leibe des Todes? Und merken wir nur auf diese Augenblicke: so werden wir sie auch bald, sei es auch zuerst nur auf kindliche Art, die Antwort verstehen lehren: ich danke Gott | der mir den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Christum. – Ist es nicht das süßeste und liebste Geschäft der mütterlichen Liebe andächtig darauf zu merken, wie sich allmählig in dem jungen Geschöpf die menschlichen Kräfte entfalten, und jeder ersten Regung hülfreich entgegenzukommen, bis endlich das ganze Gemüth sich aufgeschlossen hat, und freudig seine Schößlinge und Knospen treibt? Und was ist in diesem selbst wieder das heiligste, als auf die ersten Spuren zu merken von der Empfänglichkeit für das Eine was Noth thut, auf das erste Verlangen nach einem höhern Leben? und was können wir, wo wir dies merken, besseres thun als ihm entgegenkommen mit der lauteren Milch des göttlichen Wortes? Danken wir also heute Gott dem Herrn inbrünstiger als je für die Wohlthat seines Wortes; wolan, so laßt uns auch das Gelübde ablegen, die heilsamen Wirkungen desselben nicht zu hemmen und zu verspäten! laßt uns die 1–2 Vgl. Mt 19,14; Mk 10,14; Lk 18,16 19–20 Vgl. Röm 7,23 25–27 Vgl. 1Kor 15,57 36 Vgl. 1Petr 2,2 u. Hebr 5,12
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heilige Pflicht anerkennen, nicht mit allzubedenklicher Vorsicht unsern Kindern das Wort Gottes vorzuenthalten, vielmehr was irgend davon das geistige Leben in ihnen erwecken, was irgend die Sehnsucht ihres Herzens stillen kann, zur guten Stunde unter väterlicher und mütterlicher Leitung ihnen anzubieten, damit wir sie nicht ärgern, sondern sie aufnehmen. Und Ihr, geliebten Kinder, die ihr auch in diesen Tagen bekannt gemacht seid mit der Veranlassung der großen heutigen Feier, bedenket welch ein heiliges Kleinod das Wort Gottes unseren Vätern war, und noch jetzt uns allen ist; bedenkt was für große herrliche Männer der Herr sich ganz eigen dazu ausbilden mußte und ausrüsten um sein Wort hervorzuziehen aus dem Staube der Vergessenheit; und was ihr hierüber gehört und gelesen, das laßt euch fleißig begleiten und vor Augen stehen bei der Lesung des göttlichen Wortes! | Ihr werdet es jetzt selbst fühlen, daß es viel zu groß und heilig ist um behandelt zu werden gleich andern menschlichen Büchern. Von diesen nehmt ihr so manches vor euch nur um einen müßigen Augenblick nicht unnütz auszufüllen; so greift nie nach dem Worte Gottes, sondern nur wenn ihr einen Drang und ein Bedürfniß fühlt, das nur dadurch kann gestillt werden. Andere menschliche Bücher werden euch gegeben um manches gute und nützliche daraus zu lernen; aber von dem Worte Gottes glaubt ja nicht, daß etwas damit gethan ist, wenn ihr nur lernt. Vielmehr was ihr euch daraus auch eigen macht, es hilft nicht, sondern liegt nur todt in eurer Seele, wenn es euer Herz nicht bewegt. Aber wenn ein solcher Spruch warnend oder antreibend vor eure Seele tritt, darauf merkt, wenn er euch bestätigt ein Verbot eurer Eltern und Lehrer, wenn ihr darin wieder findet die väterlichen und mütterlichen Ermahnungen, dann werdet nur um so wachsamer und sorgfältiger. Thut das, und ihr werdet zeitig zu eurem Heil die Kraft des göttlichen Wortes in eurem Herzen spüren, und die Liebe dazu, die Ehrfurcht dagegen werden in euch immer mehr wachsen und sich befestigen. Wir aber m. Th. die wir die Kinder vorzüglich aus unsern Schulen vor uns versammelt sehn zu dieser wichtigen Feier, nicht genug können wir wohl Gott bei dieser Gelegenheit dafür danken, daß in der Zeit des verderblichen Klügelns über göttliche Dinge des zerstörenden Meisterns an heilsamen Einrichtungen nicht auch der Zusammenhang zwischen Kirche und Schule unter uns ist aufgelöst worden; denn nur durch diesen ist ein großer Theil unserer Jugend zu einer frühen Bekanntschaft mit dem göttlichen Worte gelangt, an deren gesegnetem Einfluß wir nicht zweifeln dürfen. Wo diese | fehlt, wie viel leichter wird der Keim des Guten zurückgedrängt, wie viel leichter stürzt sich die Jugend in alle Verirrungen hinein! und welch ein kleiner Theil derselben kehrt wohl nach einer schmählichen Unterdrückung des
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frommen Sinnes auf den Weg des Lebens zurück! So laßt uns denn voll innigen Dankes aufs heiligste geloben soviel an uns ist die Jugend zu erziehen in der rechten Furcht und Erkenntniß des Herrn, und ihr frühzeitig sein Wort mitzugeben als eine Leuchte auf ihren Weg.
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II. Die zweite große Wohlthat der Kirchenverbesserung aber war, daß die Zuversicht auf äußere Werke, welche sich leider auch in die Christenheit eingeschlichen hatte, gebrochen, und die große Lehre von der Gerechtigkeit durch den Glauben ist hergestellt worden. Worin das Wesen dieser Lehre besteht, das ist mit Recht so oft der Gegenstand unserer Betrachtung, das finden wir in den Worten der Männer Gottes, deren Andenken uns in diesen Tagen erfüllt, so herrlich ausgedrückt, davon ist soviel die Rede in unsern kräftigsten und erbaulichsten Kirchenliedern, daß ich nicht nöthig halte jetzt davon, als wäre es etwas unbekanntes, zu reden. Aber was es heiße die Kinder dazu zu erziehen, das ist die Frage, die wir uns zu beantworten haben. Und hier ist ohne Zweifel das erste und wichtigste dieses, daß wir recht sorgsam verhüten, daß sich keine andere Gerechtigkeit in den Kindern bilde, damit sie empfänglich erhalten werden für diese eine, die allein vor Gott gilt. Daß dies gar sehr von uns abhängt, müssen wir wohl fühlen; denn an unseren Aeußerungen der Zufriedenheit und der Mißbilligung bildet sich ja zuerst das Gewissen unserer Jugend; und auch in dieser Hinsicht habe ich vor einem sehr weit verbreiteten Fehler zu warnen. In jeder Gesellschaft muß gar vieles geschehen | und unterbleiben, damit ein Glied nicht das andere störe, sondern jedes ruhig im Ganzen bestehe, und alles dies hat den gleichen Werth, es mag gern geschehen oder ungern, es mag Wahrheit sein oder Schein. Dergleichen ist gar vieles von dem was menschliche Ordnungen Gesetze und Sitten in der bürgerlichen Gesellschaft fordern und verbieten; und dergleichen giebt es auch viel im häuslichen Leben, und noch mehr natürlich wo eine größere Menge von Kindern zum Unterricht und zur Uebung ihrer Kräfte versammelt sind. Wie nun offenbar in dem Maaß, als diese Ordnungen gehalten werden oder übertreten, Eltern und Lehrern ihr Geschäft leicht gemacht wird oder schwer: so ist es natürlich, daß die Uebertreter müssen getadelt werden und bestraft, die Folgsamen aber gelobt und ausgezeichnet. Aber eben darin liegt, hüten wir uns nicht sehr, eine gar zu natürliche Verleitung für unsere Jugend einen zu großen Werth zu legen auf dasjenige, was doch nur äußerlich ist, und also nach einer falschen Gerechtigkeit zu streben, und nicht genug kann dieser Gegenstand der Aufmerksamkeit aller christlichen Eltern, und aller die an der Leitung 3 Vgl. Spr 2,5; Jes 11,2
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der Jugend theilnehmen, empfohlen werden. Denn das wird unsere Kinder nie irre machen oder ärgern, daß Lohn und Strafe auf diese äußere Seite des Betragens gelegt sind, wenn wir sie nur darauf führen auch Lohn und Strafe nur als etwas äußeres anzusehn, wenn sie nur merken, daß auch das bestrafte Kind mehr geliebt werden kann und das belohnte weniger, und daß es also etwas höheres für uns giebt als diese äußern Tugenden. Wenn sie aber sehen daß alles, was wir von Liebe Anhänglichkeit Theilnahme spenden, immer den äußerlich folgsamen pünktlichen und bequemen Kindern am meisten zu Theil wird: werden sie dann nicht geärgert, wird nicht ihr erwachendes | Gewissen verwirrt und das Werk des göttlichen Geistes in ihnen gestört? Denn müssen sie nicht verleitet werden, wenn auch nicht der Furcht vor der Strafe und einem beschränkten Ehrtriebe allein zu folgen, wenigstens doch den natürlichen Sinn für Recht und Ordnung und für äußere Gesetzlichkeit als das höchste anzusehn? und sind sie dann nicht durch unsere Schuld auf dem Wege zu einer falschen und verkehrten Gerechtigkeit? Wird es nicht unsere Schuld sein, wenn sie einst dem strafenden Geist einen leeren und falschen Ruhm entgegenstellen? O so laßt uns ja allen Fleiß anwenden, daß wir hier das rechte nicht verfehlen! Danken wir heute Gott auf das innigste, daß er allen eitlen Ruhm von uns genommen, und dagegen uns hat theilnehmen lassen an der Gerechtigkeit aus dem Glauben: so laßt uns auch geloben unsere Jugend soviel an uns ist auf denselben Weg hinzuleiten. Auf uns sieht sie; laßt uns ihr immer zeigen, daß wir allem äußern Thun nur äußere Anerkennung gewähren, daß aber unser Herz darauf achtet und lauscht, wo sich etwas anderes und besseres in ihnen rege. Und in dem Maaß als sie ahnden können was in unserm Leben aus dem Glauben kommt, laßt uns ihnen zeigen, daß wir dafür am meisten Gott danken, daß wir nichts sehnlicher wünschen als auch sie in die Gemeinschaft dieser Gesinnung aufzunehmen; laßt uns ihnen zeigen, daß sie uns dann und in dem Maaß am liebsten sind, wenn dafür ihr Herz geöffnet ist, wenn das sie mit Ehrfurcht erfüllt, wenn sie bereit sind auch in ihrem Leben sich von diesem Geiste führen und leiten zu lassen. So thun wir gewiß das unsrige um sie aufzunehmen, und können getrost der göttlichen Gnade das übrige anheimstellen. Und ihr geliebten Kinder, die ihr schon Theil habt an dem gemeinsamen Leben des Unterrichts, nehmt dies | Wort wohl zu Herzen. Fühlt ihr es, wie innig wir uns in diesen Tagen darüber freuen, daß wir losgekommen sind von dem irrigen Wahn, als könne der Mensch durch äußerliches Betragen Gott und sich selbst zufrieden stellen: so bedenkt auch, daß eben so wenig ihr uns oder euch selbst auf diese 24 immer] immmer
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Weise zufrieden stellen könnt. Wundert euch nicht, daß wir immerfort Gehorsam und Pünktlichkeit in allen äußeren Ordnungen von euch fordern, und daß doch unsere Freude an euch und unsere gute Hoffnung von euch auf ganz etwas anderm als diesem Gehorsam und dieser Pünktlichkeit ruhen. Lebt nur frisch und fröhlich in eurem Kreise: so wird sich auch bald in euch ein gemeinsames Gefühl entwickeln von ganz demselben Inhalt. Ihr werdet bald merken, daß diejenigen, welche sich auf Gehorsam und Pünktlichkeit etwas zu gute thun, nicht die sind, die ihr am meisten liebt und achtet; keinesweges etwa sofern ihr euch noch am Ungehorsam erfreut, sondern weil der Hochmuth auf dieses äußerliche Wesen nur da sein kann, wo das bessere fehlt, und weil, wo er einmal ist, und der Mensch also mit seiner äußeren Tadellosigkeit zufrieden, er gar kein Verlangen haben kann im wahren Guten zuzunehmen. Fragt ihr aber fleißig danach, ob ihr Gott im Herzen habt, ob ihr mit rechter Liebe denen zugethan seid, die Gottes Stelle an euch vertreten, dann werdet ihr auch bald merken, daß das Gottes Geist und Gabe in euch ist, und werdet mit uns ein Verlangen darnach tragen, daß diese fest in euch begründet und erhalten werde. Und so möge euch Gott aufbewahren, ohne daß ihr in die äußere Heiligkeit verstrickt werdet, bis auch ihr empfänglich werdet für die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Wir alle aber m. Fr. wenn wir heute vorzüglich unserer Jugend gedenken, werden gewiß Ursache finden | uns auch besonders darüber zu freuen, daß auch unser bürgerliches und geselliges Leben darin bedeutend gewonnen hat durch Gottes Gnade, daß es dem Menschen wenig Veranlassung giebt sich auf das Aeußere seines Thuns allein zu verlassen, um dadurch wenn auch nur der Menschen Achtung und Liebe zu gewinnen, daß es in seiner ganzen Gestaltung immer mehr den Eindruck macht, unser Volk bestehe aus solchen, welche ihren Werth und ihre Beruhigung nur in dem Besitz der Güter suchen, die dem Menschen im Glauben kommen und durch den Glauben, und daß alle äußeren Rechte und Ordnungen nur darauf hinzielen, diese Bestrebungen immer freier gewähren zu lassen und immer sichrer zu stellen. Möge noch immer mehr aller leere Schein hinsinken und zu Grabe getragen werden, alle Zuversicht nur ruhen auf der Eintracht der Gemüther im Guten, alle Achtung sich immer mehr der ächten deutschen Liebe und Treue und der wahren einfältigen Gottseligkeit zuwenden. Je mehr wir in diesem Sinne bauen, um desto mehr gestalten wir uns zu einem christlichen Volk, und um desto leichter muß es uns auch werden, indem die ganze Gestalt des Lebens mit unserer Lehre und Leitung übereinstimmt, unsere Jugend so zu füh11 auf] anf
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ren, daß wo ein Keim des göttlichen Lebens sich hervorthut, dieser gewiß genährt und belebt werde, damit sie hindurchdringe zur wahren Freiheit der Kinder Gottes, die darin besteht, daß der Mensch sich ergebe ein Knecht zu sein der wahren Gerechtigkeit frei von jedem aufgeblasenen Wahn und eiteln Hochmuth. So demnach fortwährend das Leben zu reinigen, damit jedem künftigen Geschlecht noch vollkommner übergeben werde die große Wohlthat, deren Gedächtniß wir feiern, das sei unser heutiges Gelübde. Ja Herr Gott, der du allein weise bist. Wie alle | deine Welten so zusammenhangen, daß nichts darin fehlen darf, wenn auch das übrige bleiben soll wie es ist, so auch alle deine Fügungen mit den Geschlechtern der Menschen. Und so fühlen auch wir, wie alles gute und herrliche, dessen wir uns erfreuen, in Verbindung steht mit der großen Wohlthat, deren Gedächtniß wir jetzt feiern, und wie alles sich immer mehr gestaltet zu einem großen Werke des Segens würdig der innigsten Dankbarkeit und der tiefsten Anbetung. O möchten alle die daran theilnehmen auch recht durchdrungen sein von dem Gefühl aus welchem Zustande der Erniedrigung sie sind errettet worden durch die treuen Diener deines Wortes, und fest halten über den so theuer erworbenen Gütern! Dir Herr, der du niemals deine Kirche verlassen hast, der du sie jetzt, wie wir gläubig hoffen, besonders bauest und segnest, deinen Kindern zum Trost und zur Freude, dir sei sie besonders von uns empfohlen an diesem Tage. Je weiter wir heute in die Vergangenheit zurücksehn und also des Wechsels menschlicher Dinge gedenken, desto weniger können wir uns des Gedankens erwehren, es könnten auch in Zukunft noch wiederkehren Tage der Betrübniß, der Dunkelheit und der Verwirrung. Aber der Geist deines Sohnes, den du uns gesandt, hat noch immer gewaltet in seiner Gemeine. Je mehr die Finsterniß verbreitet ist, um desto stärker bricht er hervor hie und da als der feurige Geist, der die Welt straft und die Verirrten sammelt; je ruhiger Licht und Freiheit herrschen, um desto milder waltet er unter den Gläubigen als der Geist der Wahrheit und der Liebe der aus dem Schatz des Erlösers nimmt und es den seinigen verklärt. So möge er reichlich auch unter uns walten, so möge er reden und lehren durch die Diener des gereinigten Evangelii, so möge er sein mit allen denen | welche arbeiten an dem künftigen Geschlecht. Größeres, das hat dein Sohn selbst gesagt, können wir nicht thun, als aufnehmen die 3 Röm 8,21
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Kindlein. Empfangen sie von uns dein Wort und werden sie geleitet zu einem christlichen Leben: dann leben und wirken auch wir fort unter einem würdigen Geschlecht, dann erfreuen wir uns nicht nur der Vergangenheit sondern auch der Zukunft und erlangen unser Theil an der Herrlichkeit des Herrn, daß er bei uns ist bis ans Ende der Tage. So sei es, Amen.
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Vormittagspredigt am 1. Nov. 1817. Preis und Dank sey Gott, der uns sein Wort gegeben, daß es sey eine Leuchte auf dem Wege des Lebens! Amen. –
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M. A. F. Großer Begebenheiten Gedächtniß zu bestimmten Zeiten zurükzurufen, das hat man von jeher als nothwendig und erhebend erkannt, nicht nur um dasjenige, dessen unmittelbare Spuren schon im Strome der Zeit entschwunden sind, der Vergessenheit zu entreißen, sondern das Gefühl aufs Neue zu beleben für das, was noch da ist und wirkt. Wie wir alle in der Luft athmen, aber doch gut finden, in großen Zügen es einzuschlürfen, wenn der Himmel heiter lacht, so genießen wir auch alles Große kräftiger im Innern des Gemüths, wenn wir uns der Kämpfe, die es gekostet, der Segnungen, die es gebracht, erinnern, und so wie wir alle täglich leben im Genuß der großen Begebenheit, deren Andenken wir feiern, mögen wir es wol für großen Seegen Gottes halten, daß er uns aufgespart hat zum Mitgenuß dieser hundertjährigen Feier, um uns inniger, als je durchdringen zu lassen von dem tiefen Gefühl, welch große Segnungen uns daraus geworden sind; und so wenig der einzelne Mensch, wenn er der Gaben Gottes gedenkt, bei sich allein stehen bleiben soll, so wenig soll ein Geschlecht für sich allein sich der göttlichen Wohlthat erfreuen, sondern darauf bedacht seyn, wie das kommende sich zu gleichem Genuß erheben möge. Ueberdies ist dieses das Kenntzeichen alles wahrhaft Großen und Edlen in den menschlichen Dingen, daß diejenigen, die den Grund dazu gelegt, Freunde der Jugend gewesen sind und auf sie vorzüglich hingesehen haben mit ihren Wünschen und Hoffnungen; denn wo es darauf ankommt, ein augenblickliches Joch abzuwerfen, da vermag der Gedanke an uns selbst und unsre Zeitgenossen uns wacker zu erhalten, aber wo es auf | eine Erinne5–6 Vgl. Mt 28,20 8–9 Kanzelgruß frei nach Ps 119,105 21 Gemeint sind die Feierlichkeiten anlässlich des 300. Reformationsjubiläums (vgl. Einleitung, Punkt I.6.).
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rung des Lebens angekommen ist, da haben alle eingesehen, daß ihre Hoffnungen beruhen auf der Jugend und den folgenden Geschlechtern. So war auch der Erlöser der erste Kinderfreund, wol sehend, daß wenn diese nicht sein Wort festhalten würden, dann seine Erscheinung vergeblich gewesen wäre auf Erden. So auch der seelige Mann Gottes, Martin Luther und seine Genossen in dem großen Werke der Läuterung des kirchlichen Lebens. Auch er war vorzüglich durchdrungen von dem schmerzlichen Gefühl, in welchem Zustande der Unwissenheit und Finsterniß, mit wie wenigen Hülfsmitteln, den schlummernden Funken in der Seele zu erwecken, das künftige Geschlecht heranwachse und ihm war ein großer Theil seiner Bemühungen gewidmet. Hätte dieser Geist alle beseelt, wie viel weiter müßten wir seyn in der Allgemeinheit eines der geläuterten Lehre würdigen Lebens, eines festen, im Herzen gewurzelten Glaubens? Wolan! unsre Väter und wir haben mannigfach gefehlt in dem, was der Christ dem folgenden Geschlecht schuldig ist und nicht mit Unrecht ist uns heut hier die Jugend vor Augen gestellt, der theure Gegenstand unsrer Liebe und Sorge und unsrer heiligsten Pflicht. Wie wir uns also dieser entledigen mögen, das ist der herrlichste Zweck, der dieser Feier zum Ziel konnte gesetzt werden[.] Tex t. Ev. Matth. Cap. 18 v. 5–6.
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Ganz in dem Sinne und Gefühle, das wir vorher in uns angeregt haben, sind diese Worte gesprochen. Er sagt darin deutlich und unverhohlen, der größte im Himmelreich sey nicht der, der nur für sich allein, wenn auch auf die geistigste Weise im Reiche Gottes sorge, sondern der, der die Kinder aufnehme und der strafbarste sey der, welcher sie ärgere. Sie aufnehmen, | heiße ihn aufnehmen und das ist gewiß das größte, was dem Menschen als Ziel seiner Bemühungen kann gegeben werden. Was kann es aber, sie aufnehmen, heißen, als sie aufnehmen in das Reich, das der Erlöser gestiftet? was sie ärgern, als daß man sie vernachlässigt, daß sie nicht hinfinden den Weg, oder daß man sie daran verhindert? So werden wir denn erinnert an die Pflichten, die uns allen gegen die Jugend obliegen. Aber indem wir diesen Gegenstand in nähere Beziehung bringen mit unserm Feste, so bleiben wir bei dem stehen, was sich auf die Wohlthaten besonders bezieht, die uns durch die Kirchenverbesserung gegeben sind. Wir führen sie zurück: a. auf den freien Gebrauch des göttlichen Worts b. daß die große Lehre des Christenthums von der Vergeblichkeit aller äußern Werke, von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben aufs Neue unverrückt ist festgestellt worden. So werden es also zwei Lehren seyn, worin unsre heutige Betrachtung vollendet wird. 19 Cap. 18 v. 5–6] Cap. 18 v. 1–6
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1. daß wir der Jugend sollen behüflich seyn zum freien Gebrauch des Worts und daß wir sie 2. sollen erziehen zu der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt.
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[I.] Wir wissen es aus der uns allen bekannten Geschichte, die gewiß jeder in dieser Zeit sich aufs Neue hat lebendig zu machen gesucht, wie sehr vor der Zeit der Verbesserung der Kirche das Wort Gottes in Dunkelheit vergraben war. Fast kaum vorhanden in der Muttersprache des Volks vernahmen die meisten wenig mehr davon, als das, was den Predigten zum Grunde gelegt war und am meisten offenbarte sich das große Werk durch die große Begier und den Eifer, mit welchem die heilige Schrift in der Volkssprache | aufgenommen wurde von vielen Tausenden. Welch neues Licht dadurch den Menschen aufging über das Wesen des Christenthums, wie dadurch unmittelbar das gleichsam verloschene Bild des Erlösers wieder hergestellt ward, und mit seiner ganzen Liebenswürdigkeit sich den Herzen wieder eingrub, ist gewiß uns allen deutlich[.] Nirgends ist aber das Gefühl eines großen Gutes, nachdem der Genuß desselben ein Bedürfniß geworden ist, so groß, als in der Zeit, wo es entsteht. So können wir auch das Gefühl unsrer Vorfahren nicht theilen, als ihnen das Wort Gottes neu und frisch vor Augen lag. Aber wir können versuchen, an diesem Tage uns in ihr Gefühl zu versetzen. Ja wie lebendig mußte es ihnen seyn, daß Gott die ursprüngliche Gnade nicht wie zuerst an wenigen, sondern plötzlich an vielen Millionen erneuerte und wo die Jugend sich zuerst erhob zum Gefühl dessen, was das Herz erheben soll und erhoben wie es ist, sättigen und mit welcher Zufriedenheit werden sie die Jugend hingeführt haben zu diesem Schatze des göttlichen Worts. Können wir aber auch nicht ganz jenes Gefühl unmittelbar in unser tägliches Leben übertragen, so mögen wir uns doch hüten, daß wir nicht in entgegengesetztem Sinne handeln. Darum halte ich es für meine theuerste Pflicht, euch alle aufmerksam zu machen auf einen gefährlichen Irthum, daß man nemlich unter dem Vorwande, oder auch wol in der guten Meinung, die Ehrfurcht vor dem göttlichen Worte in der Jugend ungestört zu erhalten, geglaubt hat, ihr das Wort Gottes so lange entziehen zu müssen, bis man glauben und hoffen dürfe, daß sie das Verständniß erreichen könnte. Was heißt das Wort Gottes verstehen? Wenn wir das im vollen Sinne nehmen, jede einzelne Schrift | in der heiligen Bibel, dem ganzen Zusammenhange nach, mit genauer Erforschung jedes einzelnen Wortes, jeder einzelnen Stelle zu verstehen, ja dann, M. F., dann ist es freilich nur die Sache der Schriftgelehrten, das Wort Gottes zu verstehen und auch für sie ist es eine unauflösliche Aufgabe und wollen wir alle davon zurückhalten, die solches Verständnisses nicht fähig sind, dann kehren wir zurück zu der Handlungsweise derer, bei denen das Lesen der Schrift nicht freisteht. Wollen wir das nicht, würde uns schaudern hievor, würde uns, den
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Verkündigern des göttlichen Wortes am meisten schaudern, wenn der größte Theil unsrer Zuhörer allein auf unser Wort verwiesen würde, wenn wir sie nicht auf Gottes Wort führen könnten, wenn wir das nicht wollen, o so laßt uns ja der Jugend nicht das göttliche Wort vorenthalten. Was, M. F., ist das lieblichste, süßeste Geschäft der mütterlichen Liebe, als zu merken, wie allmählig sich die menschlichen Vermögen im Kinde sich entwickeln, und sobald sie sich zeigen, ihnen entgegenzukommen, bis das ganze menschliche Gemüth in seiner Entfaltung da steht? Was kann unser lieberes Geschäft seyn, als eben darauf zu merken, wie bald die Empfänglichkeit sich zeige für das, was allein Noth thut? und was können wir dann thun, als ihnen mit diesem Nahrungsmittel entgegenkommen? Weit eher regt sich das empfängliche Leben der Jugend, als die kalten Leute glauben. Wenn sie den großen Gedanken des göttlichen Wesens nicht fassen, verstehen wir ihn denn? Wohnt es nicht in einem Lichte, das wir nur durch den Sohn erblicken? Wenn sie es also weniger erkennen als wir, wollen wir darum sie zurückhalten? O wie müßten wir dann die Jugend, ohne daß sie es weiß, ärgern? Wie wenig hieße das, den | Kleinen, die auch so gern glauben mögten, vorhalten das göttliche Wort? Wie herrliche Aussprüche giebt es darin, worin die ersten Regungen des Gewissens sich so deutlich abspiegeln? Kein Buch ist wol im Zusammenhange schwerer, als der Brief Pauli an die Römer. Aber wo er z. B. sagt: „ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüthe und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz, welches ist in meinen Gliedern. Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ o, M. F., auch das kindliche Gemüth, wo der Streit des Geistes und des Fleisches schon erwacht, es ist fähig, diese heiligen Worte zu verstehen und es ist auch fähig die Antwort zu verstehen: „wer anders wird mich erlösen, als unser Herr Jesus Christus?“ Wollen wir also dem Herrn diese große Wohlthat des göttlichen Wortes wirklich verdanken, wolan! so laßt uns das die heiligste Pflicht seyn, nicht mit übertriebener Vorsicht und Behutsamkeit das Wort Gottes den Kindern zu entziehen, sondern das, was sie davon zu fassen vermögen, unter väterlicher, mütterlicher Leitung ihnen darzubieten, damit sie sich daran erbauen! Auch euch, geliebte Kinder, ist in diesen Tagen ins Gedächtniß gerufen die Bedeutung dieser großen Tage. Wolan! wenn ihr Gelegenheit habt, zu lesen das Wort Gottes, es soll euch niemals gleich erscheinen andern Büchern. Bedenket, welch ein heiliges Kleinod es unsern Vätern war, bedenket, wie herrliche Rüstzeuge sich Gott dazu eignen und ausbilden mußte, das Wort hervorzuziehen aus dem Staube der Vergessenheit. Laßt diese Bilder euch fleißig begleiten bei der Lesung des göttlichen Wortes, daß Ehrfurcht und Liebe dafür immer mehr wurzeln. Und wir alle wollen heute Gott dan21–25 Röm 7,23–24
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ken, daß in jener | Zeit des Klügelns über göttliche Dinge nicht auch ist aufgehoben der Zusammenhang der Kirche und der Schule. Hätte uns das auch noch getroffen, dann wäre gewiß der erste Keim eines göttlichen Lebens so zurückgedrängt, daß nur nach einer schmählichen Unterdrückung ein kleiner Theil der Jünger zurückgekehrt wäre zum Weg des Lebens. Dies laßt uns also ansehen als die heiligste Pflicht, die Jugend zu erziehen in der Furcht des Herrn und ihr das Wort hinzugeben frühzeitig zu einer Leuchte auf ihrem Wege. II. Die zweite Wohlthat der Verbesserung der Kirche war, daß die Zuversicht auf äußere Werke gebrochen und die große Lehre von der Gerechtigkeit durch den Glauben ist hergestellt. Worin diese Lehre besteht, ist mit Recht oft der Gegenstand unsrer Betrachtung, das ist so herrlich ausgedrückt in allen Worten der Männer Gottes; das finden wir so herrlich in unsern besten Kirchengesängen, so, daß ich nicht nöthig halte, als von etwas Unbekanntem davon zu reden. Aber was es heißt, die Kinder dazu zu erziehen, ist die Frage, die wir beantworten wollen. In jeder Gesellschaft giebt es sehr vieles, was geschehen und unterlassen werden muß, damit das Ganze bestehe, was aber Wahrheit seyn kann oder Schein und dennoch denselben Werth behält. Das sind alle äußerlichen Handlungen, welche menschliche Gesetze fordern oder verbieten. Deren giebt es auch im häuslichen Leben. Es müssen äußere Anordnungen gemacht werden, damit ein Glied das Ganze nicht störe. In dieser Nothwendigkeit liegt ein gar natürliches Verleitungsmittel auch für unsre Jugend, einen Werth zu legen auf solche äußern Handlungen und das Gefühl, was die Aeltern dabei äußern, bestimmt diesen Werth; denn je mehr sie dies nur | loben oder tadeln, desto mehr werden die Kinder verleitet zu einer eitlen Werthhaltung dessen, was noch keinen Werth giebt. Ja das ist ein Gegenstand, welcher dem Nachdenken aller christlichen Aeltern und aller, die über die Jugend zu wachen haben, nicht genug empfohlen werden kann. Das Rechte ist hier gar leicht zu verfehlen. Das Innre der Kinder ist es, ihre theure, von Gott erschlossene, vom Erlöser erlöste Seele ist es, die uns anbefohlen ist, nicht die äußre Seite ihres Lebens, ihres kindlichen Wandels unter uns und so wollen wir alles, was bloß äußerlich ist, niemals so werth halten, und unsre Empfindung gegen sie wollen wir nur darnach abmessen, daß in ihnen die Liebe gegen die Aeltern und Vorgesetzten, der erste Anfang der Gottesfurcht, aufrecht erhalten werde. Aber wie kann das geschehen, wenn alles bloß nach äußerem Thun abgemessen wird? wenn sie sehen, daß diejenigen vorgezogen werden, die im Innern gar nicht die besten Fortschritte machen? So laßt uns denn festhalten alles, was wir unter dem großen Worte: „Glaube“ denken, die Sehn7–8 Vgl. Ps 119,105
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sucht nach der Gemeinschaft mit dem Ewigen, die Ueberzeugung, daß der Keim des göttlichen Lebens in uns wohnt, daß, der es gestaltet, in uns und unter uns wohnt und wohnen wird. Die Liebe zu dem, was die Kinder an uns Gottgefälliges sehen, die sey es, welche wir an ihnen lieben und vorziehen und die uns Lob und Beifall entlockt, allem Aeußeren aber nur einen äußeren Lohn verstattet. Sehen sie, daß wir nicht richten nach den äußeren Werken, sehen sie, daß wir nur Wohlgefallen haben, wenn sie uns ihr Herz öffnen, und sehen sie, daß unser Herz nur Gott geöffnet ist, so werden sie auch sehen, daß wir sie mit einschließen wollen und sie | werden geführt werden zur Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Ihr Kinder aber, die ihr schon Theil habt am gemeinsamen Leben des Unterrichts, nehmt dies Wort zu Herzen, daß die Treue, womit ihr das Aufgegebene verrichtet und das Verbotene meidet, wenn sie nichts ist, als Furcht vor der Strafe, oder bloß Sinn für äußere Ordnung, noch lange nicht das ist, was wir an euch lieben können. Neben den äußeren Ordnungen möge ein gemeinsamer Geist sich unter euch entwickeln und der möge euch richten. Auch das ist euch gewiß gesagt, wie sehr der Mensch zurückkommt, wenn er sich begnügt an irgend etwas, wie herrlich es auch aussehe, was nur ein äußeres Werk ist, wie sehr durch diese Genügsamkeit das geistige Leben erstirbt und keine Kindschaft Gottes entstehen kann. Alles äußere Recht lernt nur ansehen als die Schaale eines höhern Lebens. So allein werdet ihr euch entwickeln zu Theilnehmern an den großen Segnungen, die wir jetzt feiern; denn dadurch wird es euch klar werden, daß nur der göttliche Geist, der in den Menschen wohnt, ihnen einen Werth giebt, alles Aeußere sie aber herabzieht zur Erde, wenn es entblößt ist dieses höhern Lebens. Wir alle, M. F., wollen uns aber freuen, daß durch die Gnade Gottes auch die äußere Seite unsres gemeinsamen Lebens das Gepräge trägt, daß es aus Menschen besteht, denen das Aeußere nicht die Hauptsache ist, daß die äußern Rechte nur darauf hingehen, uns zu gestalten zu einem christlichen Volke, das heißt, daß jeder in nichts anderem seine Gerechtigkeit sucht, als in dem Besitz derjenigen Güter, die den Menschen werden im Glauben und vom Glauben aus; und je mehr | wir streben, unserm ganzen Leben diese Gestalt zu geben, desto mehr sorgen wir dafür, daß entfernt werde die Gelegenheit, daß sich die Menschen an äußern Werken begnügen. Je mehr wir also so bauen, bauen wir am Reiche Gottes; aber wie können wir das anders, als anfangend bei der Jugend, daß wir in ihnen zu nähren suchen und zu beleben, wo sich der Keim eines göttlichen Lebens hervorthut und daß wir sie dadurch zu erziehen suchen zur wahren Freiheit der Kinder Gottes? (denn das ist die Freiheit, daß der Mensch ein Knecht sey der höhern Gerechtigkeit, frei vom Hochmuthe, der sich auf das Aeußere stützt.) Denn immer mehr das Leben zu reinigen und die Jugend dahin 38–39 Röm 8,21
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zu führen, das sey heut unser Bestreben und dadurch müssen wir heut Gott danken, daß wir ein Leben hervorbringen, worin sich alles Große immer mehr offenbaren kann!
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Ja Gott, der du allein weise bist, wie alle deine Welten so zusammenhangen, daß nichts gedacht werden kann, wenn eins fehlt, so auch alle deine Fügungen mit den Völkern. Alles gestaltet sich immer mehr zu einem großen Werke des Seegens, der Anbetung, der Dankbarkeit. So nicht als todte Erinnerung, sondern im vollen Gefühl ihres Werths danken wir dir für die Wohlthat, deren Erinnerung heut gefeiert wird. O daß es alle auch fühlen mögten, aus welchem Zustande der Erniedrigung sie errettet sind durch deine treuen Diener. Und Herr, der du niemals deine Kirche verlassen hast, der du sie itzt besonders baust | auf eine uns allen erfreuliche Weise, mitten in diesem Gefühl des Wohlergehens und des Wachsthums laß sie dir anempfohlen seyn auch wenn künftig kommen sollten Tage der Betrübniß, der Finsterniß und Verwirrung. Du hast ausgesendet den Geist deines Sohnes, der noch nie ausgegangen ist. Je höher die Finsterniß ist, desto stärker leuchtet er an einzelnen Puncten, je besser das Leben ist, desto mächtiger tritt er im Allgemeinen hervor. Sollte je die Kirche wieder in die Dunkelheit gerathen, ja so vertrauen wir, daß dein Geist beseelen wird starke Männer, das Licht leuchten zu lassen. Damit das aber nicht geschehe, so laßt uns Fleiß verwenden auf die Jugend. Größeres, dein Sohn hat es selbst gesagt, können wir nicht thun, als aufnehmen die Kindlein, damit wir uns einen Theil bereiten von dem, wovon der Herr sagt: ich will bei euch seyn bis ans Ende eurer Tage, und damit wir ein Geschlecht zurücklassen, wandelnd im Lichte der Klarheit. Amen.
[Liederblatt vom 1. November 1817:] Am zweiten Tage des Reformationsfest 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Komm heiliger Geist. [1.] Hoch sei gesegnet dieses Jahr, / Der fesselfreien Christenschaar! / Schon dreimal sank es fröhlich nieder, / Es schallten Dank und Jubellieder, / Und noch strömt uns der Wahrheit Quell, / Die Lehre Jesu, rein und hell; / Er drang durch Klippen und Gefahren, / Drum schallt nach dreimal hundert Jahren, / Hallelujah, Hallelujah. // [2.] Du Geist der Wahrheit, Jesu Geist, / Der uns des Irrthums Macht entreißt, / Mehr’ unsrer Andacht heilges Feuer, / Der Väter Erbe bleib uns theuer. / Aus tiefen Aberglaubens Nacht / Sind sie 24–25 Vgl. Mt 28,20
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durch dich zum Licht erwacht, / Und wir zur Freiheit auserkohren, / Ein Volk durch Christum neu gebohren. / Hallelujah, Hallelujah. // [3.] O Wort des Lebens, Himmelswort, / Erschalle mächtig fort und fort, / Daß alle Welt den Meister kenne, / Kein Irrgeist Jesu Glieder trenne, / Daß nah und fern der Völker Schaar, / Die seiner Kirche Schooß gebar, / In Glaubenseintracht sich umschlinge, / Und Jubeldank gen Himmel dringe! / Hallelujah, Hallelujah. // Nach dem Gebet. Gemeine. – Mel. Wachet auf ruft uns etc. Freuet hoch euch all ihr Frommen, / Das Fest des Heils es ist gekommen, / Gesegnet brach sein Morgen an. / Singt dem Herrn den Gott gesendet, / Er ging voran, er hat vollendet, / Was Glaubensmuth mit ihm begann. / Sein Wort, sein Geist, sein Bild, / Es lag in Nacht gehüllt, / Sehnend blickte die kleine Schaar, / Die treu ihm war, / Zu ihm – da wurd’ es wieder klar. // Chor. Wort des Herrn! wie rein wie helle, / Rinnt nun in dir der Weisheit Quelle, / Wird Lebensstrom der ewig fleußt! / Alle welche dir vertrauen, / In deinem Licht das Licht nur schauen, / Sie einigt nun Ein Sinn Ein Geist. / Drükt uns der Sünde Schuld, / Bei Gott ist Gnad’ und Huld, / Freie Gnade, für Gold nicht feil, / Ist unser Heil, / Durch Glaub’ in Christo unser Theil. / Der Herr gab das Wort: groß war die Menge der / Boten Gottes. // Eine Stimme. Wie lieblich ist der Boten Schritt, / Sie kündigen Frieden uns an, / Sie bringen Botschaft Zion, / Daß sein Gott König sei. / Ihr Schall geht aus in jedes Land, / Und ihr Wort an alle Enden der Welt. // Chor. Ihr Schall geht aus in jedes Land / Und ihr Wort an alle Enden der Welt. // Gemeine. – Mel. Vom Himmel hoch da etc. [1.] Vereint mit uns im Heiligthum, / Singt großer Vater deinen Ruhm, / Das Herz voll Freude Preis und Dank, / Auch unsrer Kinder Lobgesang. // [2.] Was uns den Tag zum Fest gemacht / Hat großes Heil für sie gebracht, / Einst schwand des Geistes Blüthe hin, / Bei todter Lehre dunklem Sinn. // [3.] Jetzt lernt die Jugend Gott vertraun, / Im Sohn des Vaters Liebe schaun, / Jetzt regt auch sie ein reiner Geist, / Der dem Verderben sie entreißt. // [4.] So laß, Herr, die sie zu erzieh’n, / Stets fröhlich unsre Schulen blühn, / Daß einst an der Vergeltung Tag / Nicht eins von allen fehlen mag. // Unter der Predigt. – Mel. Mir nach spricht etc. Wie wird die Jugend ihre Bahn, / Vor dir unsträflich gehen? / Wie wird ihr Auge frei hinan / Nach deinem Himmel sehen? / Wenn sie sich standhaft immerfort / Nur hält o Herr nach deinem Wort. // Nach der Predigt. – Mel. Lobe den Herren etc. [1.] Lobet den Herren, der aus den verachteten Zellen, / Luther und Zwingli berief, sich ans Ruder zu stellen, / Fort dann, und fort / Leuchte das himmlische Wort, / Um uns den Weg zu erhellen. // [2.] Lobet den Herren, und schafft in dem Reiche der Wahrheit, / Werke des Lichtes umglänzet von himmlischer Klarheit / Ewiglich nicht / Lasset vom Recht und vom Licht, / Haltet an Christus und Wahrheit. //
Am 2. November 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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22. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 10,21–24 Nachschrift; SAr 38, S. 189–197; Jonas Keine Nachschrift; SAr 47, Bl. 16v–23v; Jonas, in: Balan Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 2. Nov. 1817. Der heutige Tag, M. A. F., wird zwar nicht mehr gezählt zu den festlichen Tagen von gestern und vorgestern, dennoch sind aber gewiß unsre Gemüther von dem großen Gegenstande, der uns erfüllt, noch nicht abgewandt und diejenige Betrachtung wird für unsre Andacht am zweckmäßigsten seyn, welche noch mit den Gedanken und den Gemüthsbewegungen dieser Tage in Verbindung steht. Was könnte uns in dieser Beziehung näher liegen, als über die mannigfaltigen Schicksale, welche das Wort Gottes und die göttliche Veranstaltung zum Heil der Menschen auf der Erde erfahren haben, nachzudenken! So wie der Sohn Gottes selbst, sollte er uns einigen und uns zu sich ziehen, mußte in allen Dingen versucht werden, so auch seine Lehre, sein gesammtes Heil. Ein Ewiges muß die veränderliche Gestalt des wechselnden Daseyns anziehen, wenn der Mensch dadurch gebunden, festgehalten und erhoben werden soll. Und nicht selten mag hierbei das Gemüth des Menschen, verleitet, das in der That Göttliche, unmittelbar aus dem Worte des Herrn Hervorgehende zu verwechseln mit dem Irdischen und Vergänglichen, verhindert seyn, dahin zu kommen, wohin es gelangen sollte, daß das Herz fest werde zum Dienste Gottes und der Mensch geschickt zu jedem guten Werke. So wie auf jenen Zeitpunct, dessen Andenken wir in diesen Tagen gefeiert, so auch auf das Eigenthümliche des gegenwärtigen, welches uns in diesen Tagen anschaulich gemacht ist, miteinander hinzusehen, um uns zu stärken und zu befestigen, das sey der Gegenstand unsrer heutigen Betrachtung. Tex t. Luc. 10.21–24. 2–3 Schleiermacher spielt hier auf die Feierlichkeiten anlässlich des 300. Reformationsjubiläums an (vgl. Einleitung, Punkt I.6.).
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Die Stunde, da Jesus dies sprach, M. F., war die, als er seine Jünger, 70 an der Zahl, ausgesandt hatte, um zu verkündigen, daß das Reich Gottes nahe herangekommen sey, und diese zurückkehrten und ihre Botschaft brachten von dem Ausgange des Auftrags. Da | freute er sich im Geist und redete die Worte, die wir gelesen haben und aus denen wir sehen, wie seine Seele erfüllt war mit dem Bilde desjenigen, was sich durch seine Erscheinung auf Erden zu gestalten anfing. Wir finden aber, daß seine Worte in dieser Hinsicht eine zwiefache Richtung haben. Die eine geht auf die Vergangenheit, die andre auf die Zukunft und in beider Hinsicht wollen wir seine Worte zur Richtschnur nehmen für unsre Ansichten und Gefühle, welche das Herz in uns allen jetzt vorzüglich erfüllen. I. Laßt uns nun zuerst sehen, wie Christus unser Herr den damaligen Augenblick betrachtete in Beziehung auf die Vergangenheit. Wir finden dieses ausgedrückt in den Worten, welche er zu seinen Jüngern insbesondre sprach: Seelig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet; denn ich sage euch, viele Könige und Propheten wollten sehen, das ihr sehet und haben es nicht gesehen, und hören, das ihr höret und haben es nicht gehört. Wir können nicht erkennen, wie unser Erlöser hier das, was er gekommen war zu lehren in genauere Verbindung setzt mit Allem, was schon in früherer Zeit Gott zu den Propheten geredet hatte, mit der Erkenntniß von einem göttlichen Leben, das schon früherhin statt gefunden hatte. Auf dieselbe Weise redet er auch oft von seiner ganzen Lehre, wo er sie vergleicht mit den Unvollkommenheiten und Irrthümern seiner Zeit, die er zurückführt auf die früher ergangenen Offenbarungen Gottes, und wo er deutlich sagt, er sey nicht gekommen, das Alte zu zerstören, und etwas schlechthin Neues zu gründen, sondern das Alte zu erfüllen. Aber doch auf der andern Seite, M. F. wenn uns die Offenbarung unsers Herrn erscheint nicht allein als etwas von allem Früheren Unterschiedenes, sondern ihrer ganzen Art nach so Anderes, wie Jesus Christus der Herr selbst, wiewol uns gleich, doch besser | und vollkommner gewesen ist, als irgend Einer – wenn wir seine Lehre so ansehen, so wird uns doch die Uebereinstimmung mit seinen Worten und Gedanken bleiben; denn auch er sagt, daß er gekommen sey, mitzutheilen und zu verkündigen, was der Vater, ihm, dem Sohne, nicht anderen Dienern anvertrauet und gesagt habe, zu reden und zu zeugen von der Herrlichkeit bei dem Vater. Und diese doppelte Betrachtung, daß eine jede neue Entfaltung der göttlichen Offenbarung, eine jede Vervollkommnung des Reiches Gottes auf Erden, auf der einen Seite mit den vorhergegangenen Zeiten verglichen, etwas Neues ist und Höheres, auf der andern Seite in einem genauen Zusammenhange mit dem früher Angeregten und Geahneten 1–4 Vgl. Lk 10,1–12.17–20
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35–36 Vgl. Joh 1,14–15
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steht. Diese doppelte Ansicht geht durch die ganze Geschichte der Kirche und des Glaubens. Und wir können und sollen sie anwenden auf die Begründung der evangelischen Kirche. Wol, M. F., wenn wir zurückdenken an die Zeit, wo, alle von derselben Kraft gehoben, die auserwählten Rüstzeuge auftraten, um die Finsterniß zu vertreiben und das Licht des neuen Wortes vor die Augen der Menschen zu führen, wol können wir da sagen, daß viele Fromme der frühern Tage begehrt haben zu sehen und zu hören, was ihr gesehen und gehört habt. Wol, wenn wir uns zu den Menschen der damaligen Zeit zurückversetzen, mögen wir sagen: seelig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet, wie es denn früher nicht gefehlt hat an edlen, von Gott ausgerüsteten und von der reinsten christlichen Frömmigkeit durchdrungenen Gemüther, welche geweissagt haben: es werde und müsse das Licht hervorgehen aus der Finsterniß. Aber die Zeit war noch nicht erfüllt und was sie ahnten ward ihnen nicht gegeben von dem Herrn zu sehen und zu hören, sondern wurde spätern Tagen aufbewahrt. Auf der andern Seite müssen wir sagen | was durch die Bemühungen jener Diener Gottes ausgerichtet wurde, die evangelische Kirche war, wie sie sich gestaltete in ihren Verhältnissen zum bürgerlichen Leben, in den Verhältnissen einer gleichen brüderlichen Liebe, etwas ganz Neues und wesentlich Verschiedenes von demjenigen, von welchem sie sich losriß, aber auch nicht zurückkehrend zu der ursprünglichen christlichen Kirche, sondern ein neues Werk des göttlichen Geistes. Aber auch sie war eine unvollkommene, der Hülfe späterer Zeiten und der Erneuerung von manchen Seiten bedürftige; denn, M. F., wenn wir überlegen die Schicksale des göttlichen Wortes und Geistes vom ersten Anbeginn, so finden wir einen beständigen Wechsel des Fortschreitens und Zurückgehens. Das Erste, nachdem Gott die Menschen geschaffen nach seinem Ebenbilde, das war die Verdunklung, wo der Geist unter die Herrschaft des Fleisches kam und sich nur in zerstreuten Regungen offenbaren konnte, bis wieder andre dem Geiste zu Hülfe kamen. So jener erste Mann des Glaubens, der sein Vaterland verließ um sein Heiligthum im fremden Lande sicher zu bewahren, aber dessen Nachkommen bald wieder versanken in die vorige Finsterniß. So gab nun der Herr durch Moses das Gesetz, wodurch es geheiligt werden sollte zu einem Gott gefälligen Daseyn. Aber bald war auch dies Gesetz vergessen und gering geachtet. Da erweckt der Herr die Propheten, die ein kräftiges Leben erneuerten und das Volk zu dem Worte des Herrn zurückführten. So ging es in dem Wechsel fort, bis endlich die Zeit kam, wo das Volk selbst sagte, daß der Geist der Weissagung von ihm gewichen sey, jene Zeit, wo auch den Besseren nichts weiter übrig blieb, als der Traum von einer besseren, früheren Zeit. Und eben in dieser Versunkenheit, da ward zum Wunder für das ganze menschliche Geschlecht die Zeit erfüllt; es erschien der Sohn Gottes auf Erden unter das4 Vgl. Apg 9,15
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selbe | Gesetz gethan, aber zugleich in einer ungehinderten Freiheit, verkündigend, daß alle, die an ihn glauben würden, Kinder Gottes werden könnten. Doch auch dieses göttliche Licht konnte nicht immer mit seiner beseeligenden Kraft erwärmen und erst nach manchem Wechsel des Lichts und der Finsterniß erschien wieder aus der tiefsten Versunkenheit und Mißgestaltung des christlichen Lebens die Zeit, die der Herr sich gesetzt hatte, die Kirche zu erneuern, wo er auserwählte Rüstzeuge auftreten ließ, um die Menschen zurückzuführen zu dem fast vergessenen Worte Gottes, aber zugleich auch etwas Neues zu gestalten, was vorher nicht da gewesen war. Aber eben dasselbe Gesetz des Wechsels hat sich auch in diesen 3 Jahrhunderten der evangelischen Kirche mannigfaltig offenbart. Nicht selten haben wir gesehen den herrlichen, frommen Geist des Evangeliums gestört durch die Knechtschaft des Buchstabens, nicht selten haben wir die Freiheit ausgeartet gesehen in eine sinnliche und sträfliche Zügellosigkeit, in eine ertödtende Entsagung des allein seelig machenden Glaubens. Und aus diesem Wechsel, aus dieser Zerrüttung erscheint jetzt, ja wir dürfen es hoffen, die wir manches mit unsern Augen gesehen und mit unsren Ohren gehört haben, wiederum eine Erneuerung der evangelischen Kirche, gut zu machen mancherlei Irthümer, mancherlei Spaltungen, welche bald in den ersten Zeiten der Kirchenverbesserung hervortraten als eine Folge der Standhaftigkeit, des festen Muthes und des Beharrens auf dem Erkannten, welches denn oftmals in Hartnäckigkeit ausartete. Auch müssen wir gestehen, daß damals alle Bemühungen darauf verwandt wurden, das schwere Joch, welches die Christen drückte, wegzunehmen von ihrem Nacken, wo man mehr darauf | bedacht war, die Freiheit der einzelnen Gemüther hinzustellen, jeden Einzelnen fest zu gründen auf den allein seelig machenden Glauben, als daß es damals Absicht seyn konnte, die lebendige Gemeinschaft Christi auf eine feste Weise zu knüpfen, und lange haben wir es nachher gefühlt, wie viel Uebles aus diesem Mangel an fester Gemeinschaft hervorgegangen ist. Und viele fromme vom Christenthum durchdrungene Gemüther haben seit dieser Zeit gewünscht zu sehen, was auch wir schon lange zu sehen wünschten und zu hören, was jetzt von allen Seiten in unsren Ohren ertönt und sie haben es nicht gesehen und nicht gehört. Tief ist es gefühlt worden, daß jeder einsam und abgesondert seinen Weg gegangen, daß man sich zwar gemeinschaftlich versammlet hat, aber daß dies nur ein Zusammenseyn gewesen ist mit dem, der da lehrt und spricht, ohne in die innige Gemeinschaft mit dem Ganzen zu treten. Und laut ist es 2 Vgl. Joh 1,12; Gal 3,26 7 Gemeint sind die Reformatoren. 18–22 Am 27. September 1817 rief König Friedrich Wilhelm III. von Preußen in der sog. Unionsurkunde Lutheraner und Reformierte anlässlich des dreihundertjährigen Reformationsjubiläums zur Vereinigung auf. Als Beginn gelten die in Berlin und Potsdam unter großer Beteiligung der Bevölkerung abgehaltenen Abendmahlsfeierlichkeiten zum Reformationsfest (vgl. Einleitung, Punkt I.6.).
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gefordert worden, daß doch endlich diesem Mangel abgeholfen werde, es ist gefühlt worden, die Zeit sey nun herangekommen, die Gott dazu bestimmt habe. So hoffen wir es nun zuversichtlich, daß ein festes Band unter den evangelischen Christen werde geschlossen werden, daß jede einzelne Gemeinschaft ein lebendiges Ganze darstelle, welches unter sich verbunden sich verständigen werde über die Wünsche und Bedürfnisse in der Gemeinschaft und daß die so fest begründeten Gemeinen in einer Provinz so fest unter sich verbunden werden, daß ein gemeinsames Leben sie durchdringe, und daß unbeschadet der Abweichungen, die Zeit und Ort wünschenswerth machen, sie durch einen hohen Sinn verbunden als ein wohl zusammengefügtes Ganze dastehen. | 195
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II. Aber, M. F., indem wir so, wenn wir die gegenwärtige Zeit, die so viel Gutes zu gewähren im Begriff ist, mit der Vergangenheit vergleichen, fortstreben müssen in diesem Geist und mit Dank erfüllt gegen Gott, der uns zu einer höhern Stufe des geistigen Lebens erheben will, so ist es ja eben deßwegen so natürlich, daß auf die Zukunft hingewandt wir uns fragen, wie wir diese in Beziehung auf den gegenwärtigen Augenblick zu betrachten haben. Und dazu finden wir die Antwort in den Worten des Erlösers. Sie steht in demjenigen, was wir zuerst miteinander gelesen haben: „Der Herr freuete sich im Geist und sprach: ich preise dich Vater und Herr Himmels und der Erde, daß du solches verborgen hast den Weisen und Klugen und hast es offenbart den Unwürdigen. Ja Vater, also war es wohlgefällig vor dir.“ Wenn wir nemlich diese Worte mit den andern zusammenhalten, so sehen wir, wie der Herr in seinem Gemüthe erfüllt war von den Hindernissen, welche dem Bau seines Werkes auf Erden entgegenstehen würden. Aber eben so erfüllt war er auch von einem unerschütterlichen Troste. Dankend sprach er: ich preise dich Vater, daß du solches, was jetzt erscheint, verborgen hast vor den Weisen und Klugen, Worte, die uns auf den ersten Augenblick befremdend vorkommen müssen. Kann der Erlöser seinem Vater dafür danken, daß das Wort des Lebens, welches er redet, irgend einem Menschen verborgen bleibe? Mußte er nicht auf die, die unfähig waren, dasselbe aufzunehmen, mit voller Liebe blicken, mußte er auf sie nicht eben das Wort anwenden: ich bin gekommen seelig zu machen die Verlornen? Aber wenn er seine Gedanken hier nur in wenige Worte zusammendrängt, so wird es darauf ankommen, wie hierüber seine sonstigen Worte ausfallen. | Er wußte es wol, daß die Weisen zu sehr in ihrer eigenen Weisheit befangen waren, als daß sie in seine Lehre würden eingehen. In sofern dankt er Gott, daß er es ihnen für diesen Augenblick verborgen halte, damit sie nicht jetzt, wo es sich im Volke zu gestalten anfing, gewaltsam dagegen auftreten 34 Vgl. Mt 18,11; Lk 19,10
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könnten. Aber keinesweges dankt er Gott, daß sie fern bleiben sollten von dem Genusse desselben, sondern er hegt in seiner Seele den Wunsch und die Hoffnung, daß die Weisen umkehren und daß die Väter bekehrt würden zu den Kindern. Was aber wir aus diesen Worten in Beziehung auf die Zukunft nehmen sollen, ist dieses: daß auch wir zu wachen haben auf mancherlei Hindernisse, welche dem Weitergestalten in der evangelischen Kirche werden entgegentreten können, daß auch wir freudig im Geiste und mit getrostem Muthe auf solche Hindernisse gefaßt sind. So klar, wie dem Erlöser das Bild der Zeit vor Augen lag, liegt es uns nicht; denn wenn wir uns fragen, was denn das seyn wird, was wir zu bekämpfen haben werden, so wird vielleicht unser Blick hin und her von dem Einen zu dem Andern schwanken. Aber davon können wir fest überzeugt seyn, daß es an Schwierigkeiten nicht fehlen wird. So gewiß aber das Vertrauen ist, daß Gott das Heil der Christenheit ist, so lebendig unser Gefühl ist, daß der gegenwärtige Zeitpunct nicht ein gewöhnlicher ist, so gewiß dürfen wir hoffen, daß der Herr bei allen Hindernissen das junge Werk dieser Zeit wird zu bewahren wissen. Und wenn es sich dann zeigt, daß die dem Guten Feindseligen, nicht verstehend, was die Zeit will, und was sie nach dem Willen Gottes soll, sich da widersetzen, so wollen wir in dem | Bewußtseyn wirken, daß ein jedes neue Werk große Hindernisse zu bekämpfen hat, so wollen wir dem Erlöser folgen und Gott danken, daß er solches den Feinden seines Worts verborgen hält, so wollen wir uns denn erfreuen, wenn wir diejenigen finden, denen es der Herr offenbart hat und es sind, dem Himmel sey Dank! weil die Zeit erfüllt ist, nicht bloß die Unmündigen, auf die unsre Hoffnung jetzt gerichtet ist, es sind viele die schon lange gewünscht haben, zu hören und zu sehen. Wenn so. M. F. unser Gemüth schwankt zwischen Hoffnung und Besorgniß, so laßt uns uns ermuntern. So wie Christus unser Herr nur diejenigen Propheten der alten Zeit anführt, die voll gewesen von der schönen Hoffnung jener Zeiten, nicht aber auf diejenigen, welche die Gerichte Gottes verkündigten den starrsinnigen und ungehorsamen Gemüthern, so laßt uns auch nicht, wenn wir Menschen wahrnehmen, die diesem entgegentreten, gleich die erbarmende Liebe in unserm Herzen unterdrücken und auf schlimmere Zeiten und auf die Gerichte Gottes hinweisen, sondern auf die fröhlichere Seite der Zukunft, wohl gedenkend, daß der Herr alles in seiner Hand hat, und daß er uns, wenn wir ihm nur treu sind, nicht verläßt. In diesem Glauben stärke sich denn ein jeder durch das Wort des Herrn, damit er nicht nur in frommer Liebe der Zukunft entgegen gehe, sondern auch an ihr arbeite und dem Herrn helfe in seinem Werke. Amen.
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[Liederblatt vom 2. November 1817:] Am zwei u. zwanzigst. Sonnt. n. Trin. 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Was mein Gott will etc. [1.] Herr dir sei Dank und Preis gebracht, / Daß wir zur Wahrheit kommen, / Daß deines Wortes Licht die Nacht / Und Blindheit weggenommen. / Wir wissen, wer auf Christum baut, / Erlanget Heil und Leben; / Wer glaubend auf den Heiland schaut, / Dem wird die Schuld vergeben. // [2.] Dies lehret uns o Herr dein Mund. / Wobei wir fest verbleiben; / Uns soll von diesem Felsengrund / Kein Engel selbst vertreiben. / Es werde deine Gütigkeit, / Die uns zum Heil gewiesen, / O Bundesgott, zu jeder Zeit / Durch unsern Dank gepriesen. // [3.] Zeuch durch dein Gnadenwort an dich, / Die noch den Irrweg gehen; / Steu’r allen Frevlern kräftiglich, / Die Dir noch widerstehen! / Nichts muß o Herr dein Lebenswort / Im freien Laufe hindern, / Erhalt es weiter fort und fort, / Bei uns und unsern Kindern. // (Gesenius.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Jesu dem die etc. [1.] Dein Wort o Herr bringt uns zusammen, / Daß wir in der Gemeinschaft stehn, / Es läßt an uns die heilgen Flammen / Des Glaubens und der Liebe sehn, / Der Glaubensgrund, darauf wir stehen, / Ist Christus und sein theures Blut, / Und Christus ist das höchste Gut, / Das einzge Ziel darauf wir sehen. // [2.] Was ist das für ein himmlisch Leben, / Mit Vater Sohn und heilgem Geist, / In seliger Gemeinschaft schweben, / Wie Christus unser Herr verheißt! / Wie flammen da die süßen Triebe! / Gott schüttet in sein geistlich Haus / Die ganze Gnadenfülle aus; / Hier wohnet Gott, die ewge Liebe. // [3.] Der Vater liebt uns als die Kinder, / Schenkt uns den Geist der Abba schreit; / Des Sohnes Treue schmückt uns Sünder / Mit ewiger Gerechtigkeit; / Der heilge Geist tritt mit dem Oele / Des Friedens und der Freude zu; / Das Herz genießet Trost und Ruh, / Und neue Kraft stärkt Leib und Seele. // [4.] Und solcher Seligkeit Gesellen, / Die stehen auch für einen Mann; / Will wo der Feind nur Eines fällen, / So nehmen Alle deß sich an; / Sie fallen betend Gott zu Füßen, / Und siegen in des Herren Kraft; / Sie wollen von der Brüderschaft / Der Heilgen nicht das Kleinste missen. // [5.] Sie wallen mit verbundnen Herzen, / Durchs Thränenthal ins Vaterland, / Versüßen sich die bittern Schmerzen, / Eins reicht dem Andern seine Hand, / Sie wollen sich mit Freuden dienen; / Sie sehen mit des Glaubens Blick, / Auf Jesum und ihr künftiges Glück; / Sie sind in ihm, und er in ihnen. // (Jauer. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Herr Jesu Christ dich etc. [1.] Erhalt uns Herr bei deinem Wort, / Den finstern Irrthum treibe fort, / Bewahr uns vor Gewissenszwang, / Frei bleibe unser Lobgesang. // [2.] Nur geistig sei der Wahrheit Krieg, / Gieb wider Irrsal ihr den Sieg, / Durch klaren gründlichen Beweis, / Und durch des frommen Beispiels Fleiß. // Nach der Predigt. – Mel. Herzlich lieb habe ich etc. Geist Gottes unsre Zuversicht, / Verlaß verlaß uns Arme nicht, / Stärk unser schwachen Glauben! / Zeuch uns zu Gott und seinem Sohn, / Und laß nichts unsern Gnadenlohn, / In jener Welt uns rauben. / Lenk uns von Welt und
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Eitelkeit / Auf jenes Heil der Ewigkeit, / Daß wir der Welt entrissen dir / Hier leben, Gott, einst sterben dir! / O Geist aus Gott, / Zeig uns im Tod das Heil des Herrn, / Dann folgen wir zum Grabe gern. //
Am 11. November 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Dienstag, 9 Uhr, Synodeneröffnung Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,12 Nachschrift; SAr 38, S. 198–204; Jonas Keine Nachschrift; SAr 51, Bl. 19r–22v; Jonas, in: Maquet Predigt bei der Eröffnung der Synode (vgl. Einleitung, Punkt I.5.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Synodalpredigt am 11. Nov. 1817. Gnade und Friede von Gott und unserm Herrn Jesu Christo sey mit uns und allen, die seinen Namen anbeten. Tex t. Philipp. 3.12. Nicht daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sey; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen mögte nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. Meine theuren Brüder im Dienste des göttlichen Worts. Unter allen leuchtenden Vorbildern, welche die heilige Geschichte unsres Glaubens uns vorhält in dem großen Geschäfte, welches uns anvertraut ist, ist wol keines, das uns so mächtig ergreift, als das des Apostel Paulus; denn es ist uns von ihm am meisten überliefert in den heiligen Büchern, sein Ernst und seine Treue, das Wort Gottes rein mitzutheilen, sein Eifer zu bauen, seine Bereitwilligkeit zu leiden. – Freilich nicht, daß wir uns ihm gleich stellen könnten, wo er redet von dem Umfange und dem reichen Seegen des göttlichen Gnadenbeistandes; aber hier, wo er redet von einem Streben, das auch er nicht erreichte, von einem Ziele, wo auch er nicht angekommen ist, o daran mögen wir uns halten und uns stärken und wir wenden es gewiß an. 1. auf das Verhältniß eines jeden unter uns zu der Gemeine, die ihm anvertraut ist 2. auf das Verhältniß, in dem wir zu einander stehen 3. auf unser Verhältniß zum großen Ganzen unsrer Kirche. 2–3 1Kor 1,3 als Kanzelgruß
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Möge ich nichts andres aussprechen, als was uns allen aus dem Herzen kommt, nichts andres, als die Wünsche und Gelübde, die wir heut Gott und unserm Herrn darbringen!
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I. Was unser Verhältniß betrifft zur Gemeine des Herrn, die uns anvertraut ist, was ist das Ziel, wornach wir streben? Daß jeder von uns wissen möge und erkennen und mitfühlen alles, was in Bezug auf das christlichen Leben und den christlichen | Geist in dem Umfange seiner Gemeine vorgeht, daß jeder von Herzen möge theilen können alle Beweise der göttlichen Gnade, alle erfreulichen Segnungen der Verkündigung an den einzelnen Gliedern unsrer Gemeinen, und daß diese durch das Wort, das wir reden, den heiligen Dienst, den wir verrichten und durch unser ganzes Leben mögen erweckt werden, immer mehr dem christlichen Leben nachzukommen, dessen Züge wir ihm vorhalten, daß alle zur vollkommenen brüderlichen Liebe mögen erbaut werden, daß dieses Band sich Gott wohlgefällig gestalten möge und daß es alles vertreiben möge, was sich nicht verträgt mit dem lebendigen Glauben an das große Werk der Erlösung. Das, M. F., das ist unser Ziel. Aber wie werden wir alle ausrufen müssen: „nicht daß ich es schon ergriffen hätte“! Denn gewiß, wenn wir auch nicht alle gleich weit davon entfernt gewesen sind, wenn jeder nach der Gnade Gottes auch Erfreuliches in dieser Hinsicht zu rühmen hat, wenn es auch einigen gelungen ist, sich mit der Gemeine einzuleben und auf alle Weise auf sie zu wirken, ja so müssen wir doch alle gestehen, von diesem Ziele sind wir noch weit entfernt. Hört es denn auch ihr Christen, die ihr hier versammlet seyd, was nächst unsern Wünschen auch unsre Hoffnungen sind von dem neuen Werke. Durch Aeltesten aus eurer Mitte sollen unsre Gemeinen mit uns enger verbunden werden. Sie werden uns eure Wünsche darbringen, ihre Besorgnisse und Bekümmernisse mittheilen, sie werden uns mit der genaueren Bekanntschaft eures Lebens viel Freudiges zeigen, das sich in euch gestaltet und das wir sonst nicht erblicken würden und unsre Wünsche werden sie euch darbringen; wie unsre christlichen Erbauungen noch eindringlicher und das ganze Band noch mehr und mehr ins | Leben geflochten werden könne, werden sie euch mittheilen. II. Sehen wir, zweitens, auf unser Verhältniß zu einander, M. th. Brüder, wie soll es seyn? Es ist Ein großes, gemeinsames Werk, welches der Herr uns anvertraut hat. Keiner unter uns kann seine Gemeine ausschließen von tausend bald günstigen, bald ungünstigen Eindrücken von anderwärts, also auch nur in dem Maaße, als aller Bemühungen zusammenstimmen, als jeder treu ist, kann auch dem andern sein Werk gelingen und betrachten wir die 14–15 Wohl Anspielung auf Kol 3,14
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Kräfte, die ein jeder von uns mitbringt zu seinem Werke, wie wollten wir nicht gestehen, daß jeder von uns, der eine hierin, der andre darin der Hülfe, Unterstützung, der Belehrung, des Raths von dem andern bedarf. Das Ziel ist also, daß ein enges Band der brüderlichen Liebe, der aufrichtigsten Freundschaft, das auch alle andern umschlingen soll, auf eine engere, genauere, ja daß ich es sage, auf noch heiligere Weise uns untereinander verbinde. Und dieses Ziel wie müssen wir sagen, daß wir es bisher noch lange nicht ergriffen haben? Zusammengehalten sind wir worden durch geliebte und geehrte Oberen, theils aus unsrer Mitte, theils aus solchen, welche der theure König aus seinen Dienern uns gesetzt hatte, aber diesem Bande fehlt nur zu sehr das unmittelbare Leben der gegenseitigen Einwirkung, was nicht durch den todten Buchstaben der Schrift und des Gesetzes bewirkt werden kann, sondern aus der gegenseitigen Berührung der Geister hervorgeht. Viele unter uns sind mit einander verbunden gewesen durch gegenseitige Freundschaft, die sich nicht allein gründete auf persönliche Achtung, sondern auch auf den gleichen Eifer für den heiligen Beruf und die gleiche Ansicht von der besten Art, demselben zu genügen. Aber wie | vereinzelt standen bisher diese Brüder da mit ihren Empfindungen?! und wenn wir betrachten, wie wir jetzt vereinigt werden, so wird auf uns anzuwenden seyn das Wort, daß wir, jeder für sich, gegangen sind zwar nicht in der Irre, aber doch jeder seinen eigenen Weg. Aber welche neue Aussichten müssen sich uns jetzt, da jeder in den Stand gesetzt ist, durch die unmittelbare Kraft des lebendigen Wortes, durch die freimüthige Ergießung dessen, wovon sein Herz voll ist, auf den andern zu wirken, jetzt, wo wir der innigsten Vereinigung uns erfreuen?! O wie müssen wir es hoffen, daß jeder in höherem Maaße, als bisher möglich war, wolthätig auf den andern wirken muß, daß jede Kraft, die sich in dem Einzelnen offenbart, nun für alle gesegnet seyn wird, wie müssen wir es fühlen, daß nicht nur die Starken die Schwachen tragen, sondern daß wir uns alle, durch die Kraft der Liebe beseelt, gegenseitig fördern und heben werden zu einer bisher nicht gekannten Stufe gemeinsamer Wirksamkeit?! So umschlingt uns von nun an alle ein heiliges Band. Freilich wenn wir uns oft vereinigen, derselben Freude voll und des herzlichsten Dankes für das, was schon geleistet ist, werden wir dennoch sagen müssen: „nicht daß ich es schon ergriffen hätte“ aber lebendiger werden wir uns fühlen in unserem Eifer und Streben und manches werden wir schon hinter uns gelassen haben, uns zu demjenigen zu bewegen, was noch vor uns ist. III. Und so dürfen wir denn auch mit Freuden hinsehen auf den großen Gegenstand unsrer Sorge. Keine Gemeine besteht für sich, jede ist nur ein Glied am großen Leibe, dessen Haupt Christus | ist und darum sind auch wir 17 ihren] ihrem 39–40 Vgl. Eph 4,15
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nicht bloß für eine Gemeine. Ja wir müssen es uns sagen, der Gegenstand unsres Dienstes und unsrer Sorge ist diese ganze auf das Wort Gottes neu gegründete Kirche, deren Jubelfest wir in diesen Tagen mit so inniger Rührung und Theilnahme gefeiert haben. Ihr sind unsre Dienste gewidmet, sie ist es, die Rechenschaft von uns zu verlangen hat. Aber, M. F., wie wir in diesen Tagen auf besondre Weise zurückgeführt sind in jene herrlichen Zeiten der Läuterung der Kirche, so müssen wir gestehen, damals bewies sich der Geist Gottes reichlich in seinen Gläubigen, damals war neue Liebe unter denen, die lange gewandelt im Schatten der Finsterniß und in deren Augen das reine Licht strahlte, aber dieser glückliche Zustand ist nicht immer derselbe geblieben. Bald durch schwere Zeiten irdischer Noth und Sorge ist das geistige Leben beschränkt worden, bald durch den vereitelnden, tödtenden Geist dieser Welt. Aber aus dem tiefsten Druck, aus der tiefsten Zerstreuung ist aufgewacht ein neuer Geist, eine neue Liebe, ein neuer Eifer, eine neue Freude. O unsre Pflicht ist es nun, diese göttliche Kraft zusammenzuhalten, zu nähren und zu erbauen, damit sie nicht wieder von demselben Feinde besiegt und unterdrückt werde. Und wir werden nicht leugnen, daß auch von dieser Seite unsre Sorge groß ist, denn mit dem Guten erwacht oft das Böse und wie bald wird man verleitet, Hülfe da zu suchen, wo sie nicht ist. Davor zu warnen, davon zurückzuhalten, alle zu erhalten bei dem Einen, was Noth thut, den Unterschied zwischen dem Wesentlichen und Zufälligen den Gemüthern immer wieder vorzuhalten, die neu erwachte Liebe zu bewahren, den Glauben vor dem Dienst des Buchstabens, das ist unser großer Beruf. Aber wie könnten wir glauben, | kräftig zu wirken, als nur im Vertrauen auf diese Vereinigung, die, indem sie den Christen vor Augen legt unsern Glauben, unsre Ueberzeugung, worauf es ankommt, auch wird Seegen und Gedeihen im Kleinen entstehen lassen, die sonst nicht möglich wären. Aber, meine Brüder, Ein Wort müssen wir nicht übersehen, das der Apostel sagt: „nicht daß ich es schon ergriffen hätte, aber ich strebe ihm nach, es zu ergreifen, wie ich von Christo ergriffen bin.“ Ja das wollen wir uns wiederholen, dem großen Ziele können wir immer nur in dem Maaße nachkommen, als wir von Christo Jesu ergriffen sind. Wie sehr sich auch alles herrlich entwickeln wird, fehlt es an diesem Grunde alles Wirkens, lassen wir los von der Hand des Herrn, dann kann unser Werk nicht bestehen, dann werden wir zurückgehen, statt vorwärts zu schreiten. O so sey denn unser Gelübde, das wir hier noch einmal darbringen, daß wir die Hand des liebevollen Erlösers nicht lassen wollen, nachdem sie uns einmal ergriffen hat, daß es kein andrer Weg seyn soll, auf dem wir wandeln, 1–4 Anspielung auf das Reformationsfest zum 300. Jahrestag des Reformationsbeginns, welches Friedrich Wilhelm III. von Preußen zum Anlass nahm, Reformierte und Lutheraner in der sog. Unionsurkunde zur Vereinigung aufzurufen.
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als sein Weg und daß wir nichts anderes suchen wollen, als ihn, seine Ehre und sein Werk auf Erden.
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Ja barmherziger Gott und Vater, der du uns aus Gnaden berufen hast zum Dienst deines Wortes, das ist unser Gelübde. Hilf du selbst es erfüllen, denn wir sind schwach und ohnmächtig. Sende du uns deinen Geist, daß er sich durch uns alle gleich beweise als eine und dieselbe Kraft des Glaubens und der Liebe. Befestige du uns immer mehr in der Gemeinschaft mit dem Herrn und Meister, ohne | die wir nichts vermögen. Sein heiliges Bild und sein Wort heiliger Weisheit schwebe uns immer vor. So sey du mit uns, mit allen Brüdern, die dies heilige Band geknüpft haben und mit der ganzen Kirche. Sogar diese neue Ordnung, laß sie durch den Beistand deines Geistes gereichen zu deiner Ehre. Erwecke du Schutzherrn der Kirche unter den Völkern, die deinen Namen bekennen, jeder deiner Diener möge bereit seyn können, Rechenschaft abzulegen von dem Pfunde, das du ihm gegeben hast und hören mögen wir das Wort: „du frommer und getreuer Knecht, gehe ein zu deines Herrn Freude“. Amen.
[Liederblatt vom 11. November 1817] Bei Eröffnung der Synode. Vor dem Gebet. – Mel. Komm heiliger etc. [1.] Du heiliger Gott! auf zu dir, / Vertrauend glaubend blicken wir. / Laß unsre Arbeit wohl gelingen, / Uns alle deinen Geist durchdringen! / Zu deines Reiches Dienst geweiht, / Gieb Kraft uns und Beständigkeit, / Daß Erdenlast und Erdenfreuden / Von dir uns nimmer nimmer scheiden, / Erhalt uns treu bis an den Tod. // [2.] Du heiliges Licht, Lebenswort, / Bleib unsre Sonne Schild und Hort, / Lehr uns in Dir die Wahrheit finden, / Mit Gotteskraft sie zu verkünden. / Wenn uns des Tages Hitze drückt, / Wenn aufwärts unser Auge blickt, / Muß es in jenen lichten Höhen / Den Lohn der treuen Dulder sehen, / Dich Jesu schaun mit Preis gekrönt. // [3.] Komm himmlische Kraft steh uns bei. / Es schwören neue feste Treu, / Die Herr du dir zum Dienst erkohren. / Es finde dich, wer Dich verloren, / Doch ferne sei von unserm Bund, / Wer es nicht meint von Herzensgrund! / All Hinderniß zu überwinden, / Laß Beistand uns und Hülfe finden, / Uns wirken weil es Tag noch ist. // Nach dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] O du der einst auf Felsengrund, / Sich seine Kirche baute, / Ach daß auf unsern frommen Bund, / Dein Auge segnend schaute! / Wenn du in unsern 14–16 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,11–27
16–17 Mt 25,21.23
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Herzen lebst, / Wenn du in unsrer Mitte schwebst, / Wird unser Werk gelingen. // [2.] Oft wenn die Saat zu dürftig keimt, / Die wir auf Hoffnung säen; / Wenn uns die Frucht zu lange säumt / Will uns der Muth entgehen. / Hier drückt uns Noth, dort lockt die Lust, / Bald stört in unsrer eignen Brust / Ein Feind die Ruh den Frieden. // [3.] Wir fühlen unsre Ohnmacht wohl, / Auch strebt mit ihren Tücken / Die Welt von Sünd’ und Irrthum voll / Das Ziel uns zu verrücken / In ihrer Weisheit höhnet sie / Des Amtes Ernst, die eitle Müh. / Den Glauben festzuhalten. // [4.] Doch neues Leben ist erwacht, / Die Welt besiegt der Glaube! / O daß uns nicht des Zweifels Macht / Die süße Hoffnung raube! / Die erste Liebe kehrt zurück, / Zum Himmel richtet sich der Blick, / Und Gottes Reich steigt nieder! // Nach der Predigt. – Mel. Mir nach spricht etc. [1.] Gieb Eintracht, Herr, der Liebe Band / Laß fester uns umschlingen, / Daß wir vereint mit starker Hand / Im Kampf den Sieg erringen. / Es gilt dein Reich, und keine Macht / Zerstört was du ans Licht gebracht. // [2.] Mit uns ist Gott! Laßt unverzagt / Uns Zions Mauern bauen, / Dem was der Herr uns zugesagt / Von ganzer Seele trauen. / Sei unsre Kraft auch schwach und klein, / Der Mächtige wird mit uns sein. //
Am 16. November 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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24. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 17,3–4 Nachschrift; SAr 38, S. 209–216; Jonas Keine Nachschrift; SAr 49, S. 1–13; Jonas, in: Balan Nachschrift; SAr 51, Bl. 23r–28v; Jonas, in: Maquet Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 16. Nov. 1817. M. A. F. Daß über manches Einzelne im Christenthum schon früh eine Verschiedenheit der Meinungen statt gefunden hat, das kann Niemanden wundern, dem die Verschiedenheit der Menschen vor Augen liegt; aber daß sich dieses auch auf den christlichen Glauben und auch auf das christliche Leben erstreckt, das kann uns mehr wundern, da ja alle, die des Namens Christi theilhaftig sind, im Innersten eines Sinnes und von einem Geiste beseelt seyn sollen. Und doch ist es so und es ist von Anfang an so gewesen und nur aus diesem Streite ist von Zeit zu Zeit das Licht der christlichen Wahrheit hell hervorgebrochen und nur aus dieser Verschiedenheit hat von Zeit zu Zeit wieder ein engeres Band die Gemüther verknüpft. Wir wissen es alle, daß die Liebe die Seele des Christenthums ist. An ihr, so spricht der Herr, sollen wir seine Jünger erkennen. Ist also etwas, worin wir alle übereinstimmen sollen, so ist es die Liebe und dennoch finden wir auch hier dieselbe Verschiedenheit. Wie viele Aussprüche werden gemacht, die keiner befriedigen kann, wie viel wolgemeinte Thätigkeit sehen wir, die ihren Zweck verfehlt und eben deswegen die rechte nicht seyn kann! Wol muß daher von unsrer Seite ein beständiges Bestreben seyn, uns über den Sinn der großen Forderung unsres Erlösers zu verständigen, damit ein jeder wisse, was er in dem andern habe und was er in dem großen Bunde, dem wir alle angehören zu leisten habe. Dieses von Grund aus und im Ganzen zu erschöpfen könnte wol nicht die Sache Einer Betrachtung seyn. Aber ein merkwürdiges Wort des Erlösers, welches uns Aufschluß giebt zu dieser Betrachtung, wollen wir zum Grunde legen. 12–13 Vgl. Joh 13,35
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Luc. 17, 3.4. So dein Bruder an dir sündiget, so strafe ihn; und so er sich bessert, so vergieb ihm. Und wenn er siebenmal des Tages an dir sündigen würde und siebenmal des Tages wiederkäme zu dir, und spräche: Es reuet mich; so sollst du ihm vergeben. Wie eben das, M. F., für viele nicht selten schwierig ist aufzufassen, daß in der wahren christlichen Liebe der heilige Ernst und die | fromme Milde müssen vereinigt seyn, so giebt uns der Erlöser in den vorgelesenen Worten darüber seine Meinung wenigstens deutlich genug zu erkennen. Es fließt beides zusammen in ein und dasselbige Gebot, daß wir den Bruder strafen sollen und ihm vergeben. So laßt uns denn in den Sinn dieser Worte, soviel wir es vermögen, miteinander eindringen. Laßt uns zuerst sehen 1. was denn jedes für sich betrachtet, Strafen und Vergeben, sey. 2. ob wir dann, wenn beides miteinander ist, die wahre christliche Liebe finden können. I. Zuerst also, M. A. F., um die Worte des Erlösers recht zu verstehen, wollen wir uns vergegenwärtigen, was es heißt: so dein Bruder an dir sündiget, so strafe ihn und so er sich bessert, vergieb ihm. Um bei demjenigen anzufangen, was das minder Erfreuliche ist, so werden wir wol darüber eins seyn, unter der Strafe des Bruders sey weder gemeint das bloße Belehren, noch auch das Zufügen des sinnlichen Uebels, welches nach menschlicher Ordnung mit der Verletzung der menschlichen Gesetze verbunden ist; denn dieses liegt außer dem Gebote der brüderlichen Liebe der Christen und zwischen beiden, wie verschieden sind da die Abstufungen unsres Gefühls und der Aeußerungen desselben bei den Fehlern unsres Bruders! Die milde Zurechtweisung desselben, in dem wir ihm begreiflich zu machen suchen, wie er wenn er zum vollen Bewußtseyn vor seiner That gelangt wäre, das Unrecht würde eingesehen haben; der stärkere Unwille, den wir gegen denjenigen fühlen und äußern, dem die Stimme seines Gewissens nicht geschwiegen, der sie aber zu unterdrücken wagte, um etwa sinnlichem Reize folgen zu können; der heftigere Unwille endlich gegen denjenigen, welcher das Wahre und Gute zu verkehren sucht in das Gebiet des leeren Scheins und der Lüge und welcher das, was zum ewigen Wohl des Menschen gehört, irdischen Rücksichten aufopfert, das alles, M. F., das ist das Strafen, welches wir gegen unsern Bruder nicht unterlassen dürfen und je mehr diese unsre Aeußerung aus einem reinen Bewußtseyn hervorgeht, je mehr es uns noch in der Folge erscheint, daß wir Recht gethan und das Wort des Herrn gefördert haben, indem wir unsern Bruder straften, um desto wesentlicher ist das ein | Bestandtheil der christlichen Liebe; denn M. F.,
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wenn diese eben wesentlich darin besteht, daß jede menschliche Kraft, welche bereit ist, das Werk Gottes zu fördern, in jedem Augenblicke angewandt wird, daß sein Werk sich verbreite und eben diese Liebe auch in andern entzündet werde: wie könnte in dieser unvollkommnen Welt, wie könnte bei dieser Menge von Schwachheiten das Werk Gottes gefördert werden, wenn ein Bruder nicht den andern strafen wollte! Hieß das nicht ihn immer tiefer einkehren lassen in seinen Irthum? hat er nicht alles Recht, das Stillschweigen für Beifall aufzunehmen? Und eben darum ist dieses Strafen auch immer in der christlichen Kirche, je mehr sie fest zusammengehalten hat, um desto mehr für heilig gehalten worden und für unentbehrlich; und wenn dem Fehlenden Einer nicht genüge, sollte er zu Hülfe nehmen 2 oder 3, sagt der Erlöser, damit er die Stimme des göttlichen Geistes erfahre von der Mehrheit und eben als ein Werk des göttlichen Geistes bezeichnet der Erlöser diese Liebe, indem er sagt, wenn der Tröster, der heilige Geist kommen werde, derselbige werde die Welt strafen in ihren Sünden. Und gewiß, M. F., wenn wir bedenken, daß wir Gott selbst zuschreiben einen heiligen Unwillen gegen das Böse, welcher nicht leidet, daß es ungestört herrsche in der Welt, wenn wir es wissen und fühlen, wie zu einem jeden Einzelnen unter uns in unserm eignen Innern die Stimme seines Geistes zuerst ruft, ehe sie straft, wenn wir es tief in unserm Herzen fühlen, daß eben der Unwille Gott den Vater bewogen hat, seinen Sohn in die Welt zu senden, um durch sein Leiden und seinen Tod das Böse hinwegzuräumen, wie könnten wir anders glauben, als daß das Böse strafen ein wesentlicher Bestandtheil der christlichen Liebe sey? Und sind wir noch uneins mit uns, so können wir uns ja nur hinwenden zu dem Beispiele des göttlichen Erlösers, welcher mit schöner Milde bittre Strenge zu vereinigen wußte gegen die verschuldeten Gemüther. Sind wir nun seine Diener, sind wir die Werkzeuge des göttlichen Geistes, so ist mit Recht sein Gebot, daß wir | den schuldigen Bruder strafen sollen, an jeden unter uns gerichtet. Aber wol fragen wir uns billig, indem wir uns mit ihm vergleichen[,] werden wir auch unter jeglichen Umständen befugt seyn, das zu thun, was freilich ihm, dem göttlichen Lehrer der Menschen, dem reinsten Spiegel der Wahrheit und Gerechtigkeit geziemte? Was können wir andres antworten, als freilich daß es auch uns nur zukommt, in wie fern wir reine und unsträfliche Werkzeuge seines Geistes sind. Will ich damit alles zurücknehmen, was ich vorher gesagt habe? Wollen wir nun den Schluß machen, weil wir solche nie sind, so kann es uns niemals ziemen und der Erlöser habe also jenes Wort nur seinen auserwähltesten Jüngern gesagt? Gewiß, M. F., wenn dem so wäre, so wäre das eine Wesentliche der christlichen Liebe für uns verloren. Aber so ist dem nicht, sondern wie wir sind, sündhaft und selbstverschuldet und nur in dunklem Schimmer schauend das hohe Wort christlicher Rechtschaffenheit 10–13 Vgl. Mt 18,16
14–15 Vgl. Joh 16,7–8
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und Gottseligkeit, so giebt es doch Augenblicke im Leben des Menschen, wo er von dem reinen göttlichen Lichte durchstrahlt sich zu wahrer christlicher Liebe erregt fühlt. So prüfe sich denn ein jeder, ob er auch das sey, was er seyn soll, ehe er hinzutritt zu seinem Bruder, um ihn zu strafen; er sehe wol zu, daß er nichts andres sey, als der reine Spiegel des göttlichen Worts in diesem Augenblick, daß es hier um nichts andres zu thun sey, als um die Beförderung des großen Werks Gottes. Gesteht er denn noch, wenn er seinen eignen Bruder straft[,] die eignen Fehler, o gewiß wird dann seine Rede wirken und jeder wird einsehen, hier rede der Geist Gottes und nicht das verderbliche menschliche Herz. Was ist nun das andre, das Wort der Vergebung, das wir dem Bruder zurufen sollen? Das fühlen wir wol, die Zusage allein, daß wir ihm nicht gedenken wollen, was er Unrechtes gethan hat, daß wir nicht mit Beleidigungen vergelten wollen, was er gesündigt hat, ist nicht die christliche Vergebung; das fühlen wir wol, daß das Wort, | daß wir nicht nur vergeben, sondern auch vergessen wollen, noch nicht das Wesen der christlichen Vergebung ausmachen kann. Aber zwischen jenem Strafen und diesem gänzlichen Verschwinden aus der Erinnerung, wie mannigfaltige Abstufungen des wieder besänftigten und beruhigten, des in Milde und Ruhe sich wieder hingebenden Gemüths sind in diesem Einen Worte zusammengefaßt? Wenn wir denken, daß wie der Erlöser sagt: wenn dein Bruder sich bessert und wieder zu dir kommt und sagt: es thut mir leid, dies nothwendig vorangehen muß, ehe das Vergeben folgen kann, so muß auch uns der Wechsel unsres Gemüths deutlich werden. Denn ist Reue da über das Böse, welch ein Grund, den Unwillen fortzusetzen? Wenn das Licht der Wahrheit in seine Seele eingedrungen, welch ein Grund, die Strafe länger zu verkündigen? Ist nicht Reue das Hülferufen eines bedürftigen Gemüths, das Anerkennen der Schwachheit, welche sich an den Stärkeren wendet, daß er ihr beistehe? Und dieses Sichwiederhinwenden, dieses Sichaufsneuehingeben dem Schwachen, das, M. F. das ist das Vergeben. O ich darf es euch nicht erst schildern, denn bei den vielfältigen menschlichen Mißverständnissen, wer unter uns sollte seyn, der noch nicht in die bittersüße Lage zu vergeben gesetzt wäre? Auch das fühlen wir daß das nicht das Werk sey eines auf natürliche Weise versöhnten Gemüths, sondern daß auch das nur sey ein Werk des göttlichen Geistes im Menschen, wie der Herr selbst nachdem er zu seinen Jüngern gesagt: „nehmet hin den heiligen Geist“ hinzufügt: „wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben.“ Wenn es nun darauf ankommt, daß der eigne Unwille soll bekräftigt werden, o so ist das keinesweges nur ein bloß auf den Wechsel des menschlichen Lebens leicht zu bewegendes und verhinderndes Aeußere, das ist nicht vergeben, sondern etwas viel Tieferes liegt in diesem heiligen Worte, es ist etwas in der Seele des 36–37 Joh 20,22–23
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andern Untergehendes. Fühlt er sich, so lange wir ihm seine Abweichung fühlbar machen müssen, ausgeschlossen aus unsrer Gemeinschaft, so soll er sich, nachdem wir ihm vergeben haben, mit frischer Lebenskraft als gesundes Glied ansehen, seine Seele | soll sich befruchten durch die Liebe, die sich wieder zu ihm wendet, sie soll in einer reinen Fülle der Gnade dastehen. Kann das wohl der natürliche Mensch? Gewiß nicht. Er kann nur so vergeben, daß das höchste Ziel des Vergebens das Vergessen ist. Das Stärkere und das zu allem Guten Bekehren ist nur das Werk des heiligen Geistes. Wie aber können wir geschickt seyn, dieses auszuführen? M. F. der Erlöser sagt: wenn dein Bruder an dir sündigt, so strafe ihn und so er sich bessert, vergieb ihm. Aber nicht sollen wir jedes Unrecht, was nicht an uns geschieht sogleich vergeben, deshalb, weil, was nicht gegen uns gesündigt ist, uns nicht leicht so vor Augen liegt, daß wir im Stande sind, rein und vollkommen darüber zu urtheilen und so lange wir uns nicht in diesem Zustande befinden, können wir nicht in lauterer Wahrheit das Wort der Vergebung aussprechen. In Reinheit und Wahrheit vergeben kann nur der, der, wenn der Bruder an ihm gesündigt hat, nicht mehr leidet, oder gar nicht gelitten hat, dessen Freudigkeit in Gott durch schmerzliche Erfahrung von den Verkehrtheiten der Menschen gar nicht verhindert wird, heiter und frohen Sinnes seinen Gang zu gehen, wie viele auch um ihn her sündigen; nur der kann vergeben, welcher im Frieden mit Gott, mit einem guten Gewissen zu dem Sündiger hinzutreten und ihm zurufen kann: ich vergebe dir, ich will vergessen. Und was heißt vergessen anders, als die Folgen seiner Sünde als erloschen erkennen? Können wir aber wol das, so lange uns das zugefügte Unrecht drückt und hemmt, so lange noch der kleinste Tropfen von Bitterkeit in unsern Adern ist gegen den andern? Wie nur derjenige strafen kann, der reines Herzens ist, so kann auch nur derjenige vergeben, der stark ist in Gott und im Geist. II. Und haben wir uns dies recht lebendig vor Augen gestellt, so werden wir wenig noch hinzuzusetzen haben, um den Zweck zu erreichen, daß nur in Verbindung von Strafe und Vergebung die wahre christliche Kirche besteht. Wenn wir irgendwo einen Bruder sehen, der zwar kräftig ist und von Gott gesegnet in dem Maaß des Strafens, ein solcher wisse aber nicht zu vergeben, er sey zugleich von einem unversöhnlichen Gemüth, argwöhnisch und verdachtvoll gegen den Bruder | der schon zu ihm gekommen ist und gesagt hat: es thut mir von Herzen leid, daß ich Unrecht gegen dich gehandelt habe, was könnten wir von einem solchen sagen? Er mag wol ein reines Gemüth haben in sich selbst, aber stark ist er noch nicht; denn hätte er die Kraft des Glaubens, der Treue und des Gehorsams, so würde er das dem Bruder nicht nachtragen und Mittel finden, ihm zu vergeben. Aber können
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wir uns wol eine Reinheit des Herzens denken als eine göttliche Kraft, die dem Menschen nicht veranlaßte, einem Bruder sein Unrecht, das ihm von Herzen leid ist, zu vergeben, wird uns nicht jenes heilige Gemüth auch anderwärts verunreinigt erscheinen müssen durch diese seine Schwäche? Kommt es uns nicht so vor, als fürchte er die Gelegenheit, wo dieser Bruder sich wiederum mit Strafe gegen ihn wenden könne? Mit Recht kann uns also dann ein gerechter Unwille ergreifen, wo wir eben denselben bereit zu strafen aber langsam zu vergeben sehen? und wol können wir behaupten, es habe seinem Strafen nicht die rechte christliche Liebe zum Grunde gelegen, sondern in einem ungöttlichen Geiste sey er aufgetreten als ein Sprecher des Rechts und der Strafe, und nicht als ein Sprecher der Liebe. Sehen wir auf der andern Seite einen Bruder, der bereit ist zu vergeben, der gern die Hand zur Versöhnung reicht, aber der sich nie entschließen kann, wenn es Noth thut, mit Ernst und Strenge gegen denjenigen aufzutreten, welcher die Lehre der Wahrheit, das Gesetz des göttlichen Wortes in Worten und Handlungen zu verfälschen sucht – wie könnten wir diesem wol einen reinen Eifer zutrauen für das Reich Gottes auf Erden? wie könnten wir sagen, daß er geschickt sey, Frucht zu schaffen zum Nutzen der Menschen? wie könnten wir sagen, daß er die Kraft habe, sich selbst hinwegzusetzen über die Versündigungen andrer gegen uns? Was kann ihn hindern, strafend aufzutreten, als das Bewußtseyn eines unreinen Gemüths in sich selbst, als das Bewußtseyn, daß sein Eifer nicht rein und lauter ist? Und ist dies der Fall, wie können wir glauben, daß seine Bereitwilligkeit | zu vergeben aus einem reinen Gemüthe hervorgehe? wie können wir glauben, sie sey ein Werk des wahren Heldensinnes, der nicht darauf sieht, was links und rechts vorgeht, sondern unverrückbar seinen Weg verfolgt? Auch sein Vergeben kann nicht seyn das ächte Werk des Geistes; er vergiebt, damit ihm wieder vergeben werde. Und solches Vergeben ist nicht das Werk der ächten christlichen Liebe, das ist es nicht, was das Band geheiligter Gemüther enger knüpft. Nein nur derjenige, der wie er zu vergeben weiß, auch sich nicht enthalten kann, im heiligen Eifer zu strafen, damit die Versündigungen der Menschen sich nicht mehren; nur derjenige in welchem der reine Eifer und die Milde einen Bund geschlossen haben, das Herz zu reinigen, nur der ist voll von der Liebe, von der unser Erlöser stets erfüllt war. Das eine ohne das andre finden wir auch bei denen, in welchen der Sinn und Geist Christi nicht wohnte. Sind wir aber in wahrer christlicher Liebe bereit zu strafen und zu vergeben, so wird man daran erkennen, daß wir seine Jünger sind. Amen.
36–38 Vgl. Joh 13,35
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[Liederblatt vom 16. November 1817:] Am 24sten Sonnt. nach Trinit. 1817. Vor dem Gebet. – Mel. O du Liebe etc. [1.] Herz und Herz vereint zusammen / Sucht in Gottes Herzen Ruh, / Laßet eure Liebesflammen / Lodern auf den Heiland zu! / Er ists Haupt, wir seine Glieder, / Er das Licht, und wir der Schein; / Er der Meister und wir Brüder, / Er ist unser, wir sind sein. // [2.] Kommt ach kommt ihr Gnadenkinder, / Und erneuert euren Bund, / Schwöret unserm Ueberwinder / Lieb und Treu aus Herzensgrund; / Und wenn eurer Liebeskette / Festigkeit und Stärke fehlt: / O so flehet um die Wette, / Bis sie Jesus wieder stählt. // [3.] Ja du holder Freund vereine / Deine dir geweihte Schaar, / Daß sie sich so herzlich meine, / Wie’s dein letzter Wille war! / Ja verbinde in der Wahrheit, / Die du selbst im Wesen bist, / Alles, was von deiner Klarheit / In der That erleuchtet ist. // [4.] So wird dein Gebet erfüllet, / Daß der Vater alle die, / Welche du in dich verhüllet, / Auch in seine Liebe zieh; / Und daß, wie du eins mit ihnen, / Also sie auch eines sein, / Sich in wahrer Liebe dienen, / Und einander gern erfreun. // (Ges. d. Br. Gem.) Nach dem Gebet. – Mel. Sollt ich meinem etc. [1.] Gott, der väterlich geliebet, / Nie ein strenges hartes Recht / Sondern Gnade nur geübet / An dem sündigen Geschlecht! / Deinen Geist laß mich beleben, / Daß ich, Vater, als dein Kind / Liebend sei wie du gesinnt, / Herr du wollst den Sinn mir geben, / Der bei Fehlern Nachsicht zeigt, / Und mit Sanftmuth spricht und schweigt. // [2.] Dir mein Herr dir will ichs klagen, / Wenn mein Mitknecht tief mich kränkt, / Will zu meinem Herzen sagen, / Du hast’s über mich verhängt. / Hilf du ihm sich bald bekehren, / Und mir hilf Herr, unverrückt, / Auch von Spott und Haß gedrückt, / Durch Vergeben dich zu ehren! Lehr mich dulden, bis du einst / Mir zum ewgen Lohn erscheinst. // [3.] Meines Nächsten laß mich schonen, / Willig tragen seine Last, / Und so lang ich hier soll wohnen, / Bleibe Rache mir verhaßt! / Nein für Alle will ich beten, / Und wenn du o Friedensfürst, / Einst die Menschen richten wirst, / Ohne Klage vor dich treten; / Gott des Friedens, segne du / Mich mit deiner Kraft dazu! // [4.] Ewges Heil ist dem beschieden, / Der nach stiller Eintracht strebt; / Höchster gieb mir deinen Frieden, / Der zur Sanftmuth uns erhebt! / Er regiere Herz und Sinnen, / Denn wenn er das Herz regiert, / Wird, was je zur Zwietracht führt, / Niemals Uebermacht gewinnen, / Bis einst in der Herrlichkeit, / Ewger Frieden uns erfreut. // (Brem. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Nun sich der Tag etc. [1.] Der du noch in der letzten Nacht / Eh du für uns erblaßt, / Den deinen von der Liebe Macht, / So schön gepredigt hast, // [2.] Erinnere deine kleine Schaar, / Die sich sonst leicht entzweit, / Daß deine letzte Sorge war, / Der Glieder Einigkeit. // Nach der Predigt. – Mel. O du Liebe etc. Laß uns so vereinigt werden, / Wie du mit dem Vater bist, / Bis schon hier auf dieser Erden / Kein getrenntes Glied mehr ist; / Und allein von deinem Brennen / Nehme unser Licht den Schein; / Also wird die Welt erkennen, / Daß wir deine Jünger sein. //
Am 23. November 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
25. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,12–14 Nachschrift; SAr 38, S. 469–476; Jonas Keine Nachschrift; SAr 40, Bl. 2r–2v; Jonas Nachschrift; SAr 51, Bl. 53r–58v; Jonas, in: Maquet Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 657–672; König (zur Textrekonstruktion vgl. KGA III/7, S. LXII) Gedenktag für die Verstorbenen; Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Nachmittagspredigt am 23. Nov. 1817. am Tage der Todtenfeier. Die Worte cet. finden wir Philipp. 3,12–14.
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Nicht daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sey, ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen mögte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich es ergriffen habe; eins aber sage ich, ich vergesse, was dahinten ist und strecke mich zu dem, das da vorne ist. Und jage nach dem vorgesteckten Ziele, dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung in Christo Jesu. M. A. F. Diese Worte folgen unmittelbar auf diejenigen, welche wir zuletzt betrachtet haben. Die heutige Feier erlaubt es uns, in der nemlichen Reihe der Schriftworte fortzufahren. Denn wie der Apostel bei demjenigen, was er in diesen Worten sagt, gerade solche Gedanken und Empfindungen im Auge gehabt, die bei unsrer gegenwärtigen Feier belehrenden Stoff darbieten können, das müssen wir fühlen, wenn wir uns erinnern, daß er alles 1 23.] 22. 10–11 Rückverweis auf die Predigt am 26. Oktober 1817 über Phil 3,1–11 11 Friedrich Wilhelm III. bestimmte in einer Kabinetts-Order vom 17. November 1816, dass der jeweils letzte Sonntag des Kirchenjahres künftig als ein allgemeines Kirchenfest zum Gedenken der Verstorbenen gefeiert werden sollte. Diese Feierlichkeiten wurden erstmals am 23. November 1817 durchgeführt (vgl. Einleitung, Punkt I.4.). 15–4 Vgl. Phil 3,7–11
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wessen er sich rühmen kann, für Schaden erachtet gegen die überschwengliche Erkenntniß Jesu Christi, daß er trachtet, zu erkennen ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, damit er entgegenkomme zur Auferstehung der Todten. Und wenn er denn in dem Gedanken an das gemeinsame irdische Schicksal der Menschen und an die Hoffnung, die alle beseelt, fortfährt mit den Worten, die wir soeben gelesen haben, so können wir billig heute, wo wir miteinander feiern sollen das Andenken an die, die uns vorangegangen sind von dem Schauplatz des irdischen Lebens hinweg, in den Worten unseres Textes, eine wichtige Leitung für alles, was in unserm Herzen vorgeht, finden, indem wir daraus schöpfen können. 1. ein Urtheil über diejenigen, die uns vorangegangen sind, welches unsre Empfindungen leiten wird. 2. eine Ermunterung, um diese unsre Empfindung auf die rechte Weise in unser Leben überzutragen 3. eine Beruhigung über die Trennung von den Geliebten, welche Gott über uns verhängt hat. | 470
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I. Erstens finden wir in unserm Texte ein gemeinsames Urtheil über alle unsre uns vorangegangenen Brüder, welche unsre sonst verschiedne Empfindung in eine gemeinsame verwandeln kann. So spricht der Apostel von sich selbst: ich achte mich selbst noch nicht, daß ich es ergriffen habe. Eins aber sage ich: ich vergesse, was dahinten ist und strecke mich zu dem das da vorne ist und jage dem vorgesteckten Ziele nach. M. th. F. wenn irgendein geliebter Mensch uns durch den Tod entrissen ist, wenn der erste Schmerz überstanden und die erste Empfindung, die aus dem ungewohnten, einsamen Leben hervorgeht, beseitigt ist, was ist dann das Bleibende? Es ist das lebendige Bild seines geistigen Werthes, das ist es, was uns noch vor Augen steht und bleibt, was, nachdem der Mensch selbst hinweg ist, noch einen dauernden Einfluß auf unser Leben ausübt. Aber wie verschieden erscheint auf den ersten Anblick dieser geistige Werth des Menschen, wie hat jedes Zeitalter, jeder gesellige Kreis einige Wenige, die den übrigen weit vorangehen als Werkzeuge des göttlichen Geistes, als theure Vorbilder eines wahrhaft christlichen Lebens, rüstige Diener des gemeinsamen Herrn auf dem Platze, den er ihnen angeordnet hat! Und überall in dieser unvollkommenen Welt finden wir solche, deren Andenken denjenigen, die ihnen näher gestanden, wenig Veranlassung giebt zur Nachahmung, sondern zum Bedauern und zur Schaam und in der Mitte steht der große Haufe der Menschen, reich sowol an göttlicher | Gnade als auch an menschlichen Schwächen und Gebrechen. Und doch, M. F., hören wir die Worte des Apostels, so müssen wir es gestehen, ein gemeinsames Urtheil über alle soll uns erfüllen. Einer nur, der die menschliche Natur mit uns getheilt hat, war heilig und
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vollkommen, weil die Fülle der Gottheit in ihm wohnte; alle andern bekommen ihren Geist von ihm mitgetheilt nach dem Maaße, das Gott beschieden hat; und weil es keinem Menschen gegeben ist, in irgend einem Stücke vollkommen zu seyn, so sind sie alle unvollkommen, und was der große Apostel von sich selbst sagt, das müssen wir von allen, die dahin geschieden sind, auch von den Trefflichsten und Herrlichsten sagen: nicht daß sie vollkommen gewesen wären, nicht daß sie es schon ergriffen hätten, aber sie jagten ihm nach. Und auf der andern Seite auch unser schwächster und noch am deutlichsten die Spuren des menschlichen Verderbens in sich tragende Bruder, auch diejenigen, welche uns vorangegangen sind, ohne daß sie ein hohes Maaß christlicher Rechtschaffenheit erfüllt hätten, können wir, da sie doch unsre Brüder in Christo waren, können wir weniger von ihnen sagen, als dieses, daß sie doch von ihm sind ergriffen gewesen? Sind sie nicht aufgenommen durch das Sacrament, durch das göttliche Wort in den Kreis seiner ewigen und immer liebevollen Wirksamkeit? Und was können wir anders sagen, als daß sie nur verhältnißmäßig früher sind hinweggerükkt worden, als jene, weiter entfernt von dem Ziele, welches auch jene nicht erreicht haben? Und sollten sie noch länger auf diesem Schauplatze geblieben seyn, o so | wäre ihnen vielleicht ein ungewöhnliches Maaß des Alters nöthig gewesen, um die Stufe der andern zu erreichen. So wie jene nicht vollkommen waren, so war auch in ihnen der Keim der Vollkommenheit. Wenn er sich auch nicht so herrlich ausgebreitet hat, so können wir doch nicht sagen, er habe gänzlich geschlummert. Wir alle aber, was können wir anders, als seiner Barmherzigkeit danken, was anders, als ihm gläubig und vertrauungsvoll die weiteren Fügungen überlassen, was anders, als für uns das menschliche Bild, das uns zurükgeblieben ist, so zu verklären, daß wir nichts anders mehr darin sehen, als denjenigen, der den Einen schnell, den Andern langsam, den Einen bewußt, den Andern unbewußt, den Einen heller, den Andern dunkler zu demselben Ziele hintrieb, welches auf der Erde keiner erreichen soll. II. Und so, M. F., finden wir in den Worten unseres Textes die kräftige Ermunterung, welche uns lehrt und treibt, dieses immer gemischte menschliche Gefühl auf die rechte Weise in unser Leben hinüberzutragen. Dies sind die Worte, in denen wir das finden: ich vergesse, was dahinten ist und strecke mich nach dem, was vorne ist. Auch diesen zweiten Theil weiß ich mit nichts Anderm zu beginnen, als mit der Erinnerung daran, daß nur Einer, der menschlichen Natur theilhaftig, heilig und vollkommen gewesen ist, alle andern aber Sünder, also auch nur Einer und immer Einer und derselbige, wie werth uns jedes andre Andenken auch seyn mag, nur Einer werth ist, 1 Vgl. Kol 2,9
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das Vorbild zu seyn, dessen Fußstapfen wir sollen | nachfolgen. Das ist unser Glaube, meine evangelischen Mitchristen, daß kein andrer Sterblicher heilig ist, als derjenige, der uns vom Himmel herabgesandt wurde zur Heiligung und Gerechtigkeit! Es haben, M. F., manche unter uns gelebt und sind uns entrissen worden in diesen letzten Zeiten und in jenen früheren, deren Leben uns ein köstliches Kleinod gewesen ist, denen mehr, als allen deutlich wurden auch die verborgenen Ratschläge Gottes und die mit ihrem Bestreben weit vorangegangen sind dem großen Haufen. Aber sollen wir nur dabei stehen bleiben, daß wir ihnen nachfolgen? Nein, M. Th. F., auch ihnen ist während ihres Lebens ein Ziel nach dem andern vorgesteckt worden, auch sie würden, wenn sie fortwährend unter uns wirken könnten von einem Jahre zum andern [sich] noch ein höheres setzen und dann dem nachfolgen. Das ist nicht das Vermächtniß, was irgend ein Mensch, auch der Frömmste, der Weiseste, der Tapferste im Streite gegen alles Böse hinterlassen könnte, daß wir ihm nachfolgen sollten, denn je heller das göttliche Licht irgend einem andern leuchtet, desto mehr erleuchtet es auch die unergründliche Tiefe des menschlichen Herzens und Verstandes, desto mehr erkennt jeder wie wenig jeder vollkommen und rein vor Gott ist und wird nur auf den Einen hingewiesen, der uns Alle ergreift. Wolan denn! sind uns solche vorangegangen, die uns weit voranstanden, so seien doch nicht sie, sondern Er unser Ziel, Er und das Gebot, das er allen seinen Jüngern gegeben hat, Er und das Werk, zu dessen Beförderung er alle seine Jünger berufen hat, Er und das Reich, welchem wir angehören und welches wir fördern und bauen helfen sollen. Sind uns manche vorangegangen, die hinter uns zurükgestanden, o daß doch keiner genugsam | dabei stehen bleibe, vielleicht auch in seinem Herzen ohne Eigendünkel, daß nicht er nur, sondern auch ein großer Theil besser sey und reicher gesegnet mit geistigen Gaben, als diese; denn nur zu leicht kann dies verleiten zu Stillstand und an unsre schwächeren Brüder auf eine unwürdige Weise zurückzudenken, ohne das Gefühl, daß wir nur zu sehr ihnen gleich, zu sehr mit denselben Gebrechen zu kämpfen haben, zu sehr von denselben Finsternissen des Gemüths gehindert werden, immer dem reinen Glanze des göttlichen Lichtes zu folgen. Und je schmerzlicher uns das Gefühl seyn muß, daß sie wieder diese Erde verlassen haben, ohne geworden zu seyn, was der Christ werden kann und soll, um desto mehr lasst uns uns ermuntern bei diesem wehmüthigen Andenken hinter uns zu lassen, was dahinten ist und aus allen Kräften entgegenzueilen dem Ziele, welches uns vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo. 12 sich] so SAr 51, Bl. 56r 3–4 Vgl. 1Kor 1,30
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III. Endlich, M. F. finden wir auch eine Beruhigung in den Worten unseres Textes in der betrübten und wehmüthigen Lage, die die Trennung von geliebten Menschen mit sich führt. Ich rede nicht von der allgemeinen Hoffnung, welche wir alle theilen, nicht von dem Entgegenkommen in der Auferstehung der Todten, nicht von der Wiedervereinigung in einem Zustande, den wir so wenig kennen, ich rede von dem Bedürfniß und Mangel, welchen jedes fromme Gemüth fühlt, wenn ein Mensch, den ihm Gott nahe gestellt hat, aus dem Kreise der Lieben herausgerissen, das irdische Leben verläßt. Jeder fühlt da, daß ein Theil des eignen Lebens verloren geht, jeder fühlt es, wie, wenn solche Verluste sich häufen, alle Lust und Freude immer mehr verschwinden müssen. Wolan denn! | M. F. laßt uns gedenken, daß es nur Einen giebt, in dem unsre ganze Liebe vereinigt ist und in dem wir alle andern lieben, daß nur Einer es ist, aus dem unsre Seele Freude schöpfen kann, dessen Fülle unerschöpflich ist. Wir sind ergriffen von Christo Jesu. Diejenigen, die uns auf diesem Schauplatze verließen, sind auch von ihm ergriffen gewesen und so haben wir in dem Erlöser mit ihnen immer noch ein gemeinsames Leben, in ihm finden wir sie alle, finden wir unsre Gemeinschaft wieder. Und dies, M. F. dies muß jede weichliche Empfindung, durch welche das Gefühl des Christen dem solcher Menschen ähnlich werden kann, die keine Hoffnung haben, wieder zu einer neuen würdigen Höhe hinaufbringen, muß den Schmerz lindern und den Zustand der Wehmuth in das heitere Gefühl der Liebe verwandeln und den Menschen einen Vorschmack der Seligkeit genießen lassen. Ja, M. F., je mehr wir danach trachten, von Christo ergriffen, seinen Weg zu wandeln, je mehr uns allen sein geistiges Leben werth ist, um desto mehr wird jedes niedere, irdische Gefühl seltener werden, um desto mehr wird jedes irdische Gut seinen Werth verlieren. Was jene, die uns vorangegangen sind, verloren haben, ist nur das Irdische gewesen, das Geistige festzuhalten steht uns frei und je reiner und verklärter unsre Liebe und die der Hinweggeschiedenen schon auf Erden zu Christo war, je lebendiger wir ihr Leben in dem unsrigen und sie das unsrige in dem ihrigen durch die Gemeinschaft mit Christo fühlten, um so fester werden wir halten dieses theure Andenken, das uns auch nach der leiblichen Trennung erwecklich, stärkend, beruhigend und erquickend seyn wird. | Fühlen wir es also recht lebendig, wie jeder uns alles nur gewesen ist durch den Einen, nur durch unsre gemeinsame Liebe zu ihm, fühlen wir es, daß wir nur in Ihm leben, weben und sind, o so ist auch jetzt schon der Tod unsrer Geliebten für uns kein Verlust, wie andre Güter des Lebens. Und 12 gedenken] Vgl. Adelung: Wörterbuch 2, Sp. 464–465 (in der Lutherbibel vgl. Dtn 5,15 u.ö.) 37 Anspielung auf Apg 17,28
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so wird uns bleiben in dem Bild des Erlösers verklärt jedes Bild menschlicher Tugend und Vollkommenheit und so wird uns bleiben jede uns im menschlichen Leben theuer gewesene Liebe, jede die uns erwärmt hat und entzündet zum Guten und weit entfernt, daß wir klagen sollten, weil wir diesen und jenen entbehren, finden wir sie alle wieder und halten sie fest in der innigen Liebe zum Erlöser, der sie in unserm Herzen verklärt und sie auf ewig mit uns vereinigt und festhält. Amen.
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1. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,30–32 Nachschrift; SAr 38, S. 217–225; Jonas Keine Nachschrift; SAr 47, Bl. 24r–29r; Jonas, in: Balan Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 30. Nov. 1817.
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Wir beginnen, M. A. F. mit dem heutigen Sonntage ein neues kirchliches Jahr d. h. es fängt an eine neue Reihe unsrer christlich festlichen Zeiten. Natürlich konnte man sie mit nichts Anderem beginnen, als mit der Feier der Geburt unsres Erlösers. Aber es ist gewiß eine weise Einrichtung, die seit langer Zeit in der christlichen Kirche statt findet, daß jedem der hohen Feste vorangehet eine Vorbereitung. Denn indem wir in unserm irdischen Leben unsre Geschäfte verrichten, entsteht uns, das Geistige vor Augen habend, auch da das Bedürfniß, uns wieder zu erbauen und aufzurichten durch alles, was das Wort Gottes, der gemeinsame Gesang, das gemeinsame Gebet Erquikendes haben. Aber jeder kommt nach seinem verschiedenen Treiben mit eigenen Anliegen und so kommt die christliche Andacht bald auf diesen, bald auf jenen Gegenstand zurück. Naht aber eins der hohen christlichen Feste, dann muß alles Andre und Besondre schweigen und gemeinsam müssen wir uns auf einen und denselben Gegenstand hinrichten. Dazu sind die Vorbereitungen eingesetzt vor jedem unsrer christlichen Feste. Was können wir also jetzt besseres thun, als in unsern Betrachtungen immer auf das zurückkommen, was wir dem Erlöser verdanken, was können wir besseres thun, als den ewigen Rathschluß Gottes von der Erlösung bald von dieser, bald von jener Seite ins Auge fassen; damit in der Zeit der Weihnachtsfeier unsre Gedanken auf nichts gerichtet sind, als auf den Vater, der selbst seinen Sohn nicht verschont, sondern ihn gegeben hat zu retten, das verloren war! Dies wollen wir heut und an den folgenden Sonntagen ins Auge fassen. | Luc. 2, 30.31.32. Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volks Israel. 21 Vgl. Röm 8,32
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Es wird euch allen bekannt seyn, M. A. F., wie diese Worte hergenommen sind aus der Rede des frommen Symeon, als er den Erlöser erblickte. Sie sind also der freudige Ausruf eines tief von dem Bedürfniß des menschlichen Geschlechts, vorzüglich seines eigenen Volks durchdrungenen, aber auch von der frohen Hoffnung auf die baldige Erfüllung aller göttlichen Verheißungen wieder gestärkten und von Gott besonders begnadigten Gemüths. Sie eignen sich zu unsrer heutigen Betrachtung um so mehr, als sie uns zweierlei vorzüglich vor Augen stellen, worin sich alles, was der Erlöser uns ist und uns seyn soll, zusammendrängt: denn wenn wir lesen, er sey ein Licht zu erleuchten auch die Heiden, so denken wir dabei nach dem Sprachgebrauch der Schrift ganz vorzüglich an seine Lehre und daran, wie er uns in seinem ganzen Leben mit einem zwar nie zu erreichenden, aber doch immer zu erweckenden Beispiele vorangegangen ist; wenn wir hören, er sey der Heiland, den Gott bereitet hat, so denken wir dabei an alles Geheimnißvolle der Erlösung, an die Errettung vor der Furcht der Strafe, die uns durch ihn geworden ist. Es geben uns also diese Worte Veranlassung, über diese beiden Theile des großen Berufs unsres Erlösers nachzudenken und wir werden davon durchdrungen werden, wenn wir bedenken 1. wie vieles uns fehlen würde, wenn er unser Lehrer wäre und nicht auch unser Erlöser 2. wie viel wir entbehren müßten, wenn er unser Erlöser wäre, der unser Lehrer nicht hätte seyn können. Dies laßt uns betrachten, oder vielmehr hierüber laßt uns | uns erklären als über dasjenige, worin wir alle gewiß im Grunde Eins sind. I. Wie vieles würde uns fehlen, wenn Jesus Christus unser Herr zwar ganz derselbe göttliche Lehrer gewesen wäre, aber unser himmlischer Vater hätte ihn uns nicht zum Erlöser bereitet? Es hat zu allen Zeiten, M. A. F., viele wohlmeinende Christen gegeben, welche alles Wesentliche der göttlichen Wohlthat durch die Sendung des Herrn auf seine Lehre haben zurückführen wollen. Das ist, sagen sie, das erste Bedürfniß der Menschen, nachdem, wie der Apostel Paulus im Briefe an die Römer sagt, die angeborne Erkenntniß Gottes ihnen verloren gegangen war in den mancherlei Verkehrtheiten des menschlichen Herzens, daß Einer auftrat, der diese Erkenntniß rein und auf allgemeingültige Weise wieder herstellte, der uns über Gottes Wort so unterrichtete, daß dieses Licht, nachdem es einmal aufgegangen war, nicht mehr konnte verlöscht werden, sondern seiner Natur nach sich über alle Völker verbreiten und überall die Finsterniß vertreiben mußte. Und wenn man dagegen sagt: das ist freilich herrlich und vortrefflich, aber fühlen wir nicht alle, welche Kluft noch ist zwischen der Erkenntniß der Wahrheit und 32–34 Vgl. Röm 1,21
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ihrer Befolgung? so erwiedern sie, das sey eben der Unterschied zwischen allen andern, die gekommen waren, über göttliche Dinge die Menschen zu belehren und zwischen unserm Herrn und Meister, daß dieser nicht eine Lehre aufgestellt in Buchstaben, sondern wie in ihm Lehre und Leben Eins gewesen | so sey auch die Kraft seines Worts eine solche, daß sie im menschlichen Gemüthe nicht nur Beifall hervorbringe, sondern ihm eine innere Sehnsucht nach dem Guten erwecke, wodurch dann der Mensch auch zur Ausübung hingeneigt und immer mehr darin befestigt werde. Aber, M. F., wenn wir unser Gefühl rein aussprechen wollen, so müssen wir wol zurückkommen auf die Worte des Apostels Paulus: ich fühle wol, daß ich nach dem inwendigen Menschen Lust habe am Gesetz. Da redet er nicht bloß von dem Beifall des Verstandes und von der Ueberzeugung, sondern eben von der Lust und Sehnsucht nach dem Guten und doch setzt er hinzu: aber ich fühle ein andres Gesetz in meinen Gliedern, das Gute, das ich wollte, kann ich nicht thun, das Wollen fühle ich wol, aber das Vollbringen fehlt und das Böse, das ich nicht will, das vollbringe ich dennoch. Wer, wer wird mich erlösen von diesem Leibe des Todes? Ja, M. F., das ist gewiß die reinste und allgemeinste menschliche Erfahrung, wie wir sie alle noch immer täglich machten, wenn wir uns in einen Zustand versetzen könnten, wo bloß die Lehre gegeben wäre, nemlich, daß Ueberzeugung und Ausübung niemals gleichen Schritt gehen und je mehr die Einsicht rein wird und vollständig, desto mehr der Mensch die Ausübung verdammen muß wegen des Gesetzes der Sünde, das er in seinen Gliedern immer noch fühlen wird. Und wenn uns auf dieses noch entgegnet wird; wie wir denn urtheilen wollten über die Apostel des Herrn, ob wir ihnen denn allen Genuß wollten absprechen, weil er | doch noch nicht als Heiland der Welt gestorben war und ob auch sie nicht in derselbigen Gemeinschaft mit ihm hätten bleiben können, wenn der Rathschluß Gottes ein andrer gewesen wäre – worauf wollen wir uns zurückziehen als auf das Wort des Erlösers zu ihnen: es ist euch gut, daß ich hingehe, denn sonst käme der Tröster, der heilige Geist nicht zu euch? und dies stimmt so genau zusammen mit dem Vorsatz des Apostels Paulus, der nachdem er ausruft: wer wird mich erlösen von diesem Leibe des Todes? also fortfährt: so danke ich denn Gott durch unsern Herrn Jesum Christum, den er in die Welt gesandt hat, damit er die Sünde verdamme und nun nichts verdammlich wäre an denen, die im Geiste wandeln. Das, M. F., muß hinzukommen zu der Lehre, daß wir im Geiste wandeln; der Geist aber, sagt er ja selbst, wäre nicht gekommen, wenn er nicht hingegeben wäre und sein Hingeben und das Hervorgebrachtwerden dieses Hingebens durch die Sünde der Welt, das können und 11 Vgl. Röm 7,22 14–16 Vgl. Röm 7,19 16–17 u. 32–33 Röm 7,24 u. 37–38 Vgl. Joh 16,7 33–36 Vgl. Röm 7,25–8,1
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sollen wir doch nicht trennen. Und wenn einer fragt: wie mag denn solches zugehen, daß der Geist nicht kommen konnte ohne sein Hingeben? so mögten wir sagen, was der Erlöser zu Nicodemus sagt: du willst ein Meister in Israel seyn und weißt das nicht? O wenn wir uns nur fühlen könnten in dem Zustande eines langsamen Besserwerdens, in einer Heiligung, wo wir von dem gegenwärtigen Augenblicke in eine ziemliche Ferne zurückschauen müßten, um Fortschritte zu bemerken, wenn wir uns nur in solchem Zustande fühlen könnten, so wäre | der Zusammenhang der Menschen mit dem Erlöser recht begriffen. Sollen wir in der Freudigkeit des Herzens wandeln, sollen wir, wenn auch unser Herz uns verdammt, dennoch fühlen, daß Gott größer ist, als unser Herz, so müssen wir fühlen, daß wir in einem neuen Leben wandeln, daß wir mit dem Herrn der Welt abgestorben sind, daß für alle, die sich an ihn halten, die Sünde verdammt ist im Fleisch. Und das ist es, daß der Heiland auch unser Erlöser seyn mußte; er mußte sterben, damit wir mit ihm sterben und auferstehen konnten zu einem neuen Leben. II. Aber eben so laßt uns erwägen, wie ebenfalls gar vieles uns fehlen würde, wenn der Herr zwar unser Erlöser gewesen wäre, aber nicht ein so göttlicher Lehrer, wenn seine Erlösung und das Gedächtniß derselben uns zwar geblieben wäre, aber der freie Gebrauch seiner Lehre wäre uns verloren gegangen. Und hier stoßen wir gleich auf eine große Menge auch frommer Christen, die den Herrn nie als etwas andres, als den Erlöser sehen wollen, und darin allein die ganze Fülle der Gnade, die ganze Frucht der Erlösung sehen. O freilich ist es uns ja etwas Herrliches, wenn durch den Glauben an die Sendung und die Erlösung unsres Herrn der Mensch das alte Leben ganz abgestorben fühlt, wenn er sich erledigt fühlt von aller Furcht vor der Strafe, wol ist dieses volle Gefühl | der Vergebung, der Freisprechung in jedem Augenblick, wo es sich aufs Neue des noch sündigen Gemüths bemächtigt, eine Seeligkeit, über die nichts geht. Aber wenn der Mensch an diesem Gefühl der Lossprechung jemals glauben könnte genug zu haben, wenn er glaubt, es läge ihm nichts ob, als dieses aufzufassen im Glauben, o was wird dann in ihm vorgehen? wird denn, ich will nicht sagen, die Sünde gebrochen werden, denn das ist die erste Folge eines dankbaren Herzens, aber je mehr der Mensch noch der Sünde anhängt, desto unvollkommener ist ja noch seine Erkenntniß des göttlichen Wesens und also auch desto unvollkommener ihre Wirkung, geschieht also dadurch genug, wenn der Mensch das Erlösungsverdienst unsres Herrn im Glauben ergreift, sich losmacht von der Sünde und dies immer aufs Neue thut, geschieht dadurch genug? wird dadurch dem Herrn zum Eigenthum erworben ein 3–4 Vgl. Joh 3,10
14–16 Vgl. Röm 6,4
40–1 Anspielung auf 1Petr 2,9
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priesterliches Volk, ein reines Volk? wird dadurch die Braut Christi ohne Flecken und ohne Runzel? wird dadurch der Mensch schon zum Vater hingezogen, daß der in sein Herz steigt und Wohnung macht, daß der nun nicht mehr für ihn im unzugänglichen Lichte wohnt, sondern mit der Gemeinschaft in Christo auch seine Gemeinschaft begründet wird? Werden dadurch die Irrthümer und Vorurtheile hinweggeweht und hinweggeblasen? Nein, M. F., wir müssen mit dem Apostel sagen: frei sind wir, aber nur nicht daß die Freiheit gereiche zum Vorschub, daß man immer aufs Neue sündige, | damit nur die Gnade größer werde. Damit dies nicht sey, mußte der Heiland nicht bloß Erlöser, sondern auch Lehrer seyn; sein Wort mußte er uns zurücklassen, die Quelle der Weisheit, wie seine Erlösung, die Quelle der Gnade, sonst kann das große Wort nicht wahr werden, daß, wenn er von der Erde erhöht ist, er uns alle zu sich zieht; denn in dem reinen Anschauen seines und unsres Vaters, in der Erkenntniß seiner weisen Fügungen mit dem menschlichen Geschlechte können wir nicht zunehmen, als indem wir immer aufs Neue zu dem göttlichen Worte hingehen und das könnten wir nicht, wenn er nicht eben so unser Lehrer gewesen wäre, wie er unser Erlöser ist. Darum, haben wir uns Trost und Zuversicht geholt in dem Anschauen des leidenden Erlösers, ist die Erquickung davon tief in unser Herz gedrungen, o dann laßt uns auch aus seinem Anschaun Erkenntniß und Weisheit schöpfen, dann laßt uns auch sein Bild in unsrem Herzen immer mehr gestalten zu dem Abglanze des göttlichen Lebens, wovon allein alle Erkenntniß kommt. Und so, nur so kann das in Erfüllung gehen, daß wir nicht nur aus der Gewalt des Feindes und der Hölle erlöst werden, nicht nur von Hoffungslosigkeit frei gemacht, sondern in Wahrheit hingezogen werden zum Vater, in Wahrheit frei gemacht von den Fesseln des Aberglaubens und der Unwissenheit durch denjenigen, der uns allein frei machen kann, durch den Sohn. Keiner ist ein Christ und kann doch ausgeschlossen seyn von einem von beiden. Auch die sich nur rühmen der Lehre des Herrn, ohne ihr Wissen wirket die Erlösung | in ihnen; auch die nur seine Erlösung sehen, auch sie haben Theil an seiner Lehre, es verfolgt sie überall sein Wort und es verpflanzt sich die reinere Ansicht noch in ihr Gemüth. Aber das müssen wir sagen, die ganze Seeligkeit der Gemeinschaft mit dem Erlöser genießt nur derjenige, der beides gleich sehr ehrt und beides gleich sehr fühlt als unentbehrlich, wenn die Wiederherstellung des menschlichen Geschlechts wirklich soll gedeihen, nur derjenige, der in Ihm sowol das göttliche Leben, als den Befreier und Erlöser verehrt, eben so emsig ist, sich von ihm erleuchten, als reinigen und befreien zu lassen, und welcher, nicht genug habend an der Lehre, fühlt, daß er nichts hätte, wenn er nicht eine neue Creatur geworden wäre, wenn er nicht sagen könnte, 1–2 Vgl. Eph 5,27
7–9 Vgl. Röm 6,1
40 2Kor 5,17; Gal 6,15
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mit Christo dem Gesetz abgestorben zu seyn und mit ihm in einem neuen Leben zu wandeln. Möge er denn allen beides werden, mögen die einseitigen Gemüther sich verbinden und sich näher kommen, damit entstehe ein muthiges Fortschreiten im Guten und das Gefühl eines ganz neuen von aller Knechtschaft und Sünde befreiten Lebens, aber gefühlt werde, daß der noch nicht seinem Erlöser zur Ehre lebt, der bloß strebt, sich von demjenigen zu befreien, was er als Sünde bekannte, da er zuerst um Gnade flehte, sondern nur der, der auch durch sein Licht erleuchtet zu immer reinerer Einsicht gelangt und darum immer größere Ansprüche macht an sich und an die christliche Welt! Amen.
[Liederblatt vom 30. November 1817:] Am ersten Adventssonntage 1817. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Preis sei dem ewigen Erbarmen, / Das alles Denken übersteigt, / Preis sei den offnen Liebesarmen, / Des der sich zu den Sündern neigt, / Dem stets das Herz vor Mitleid bricht, / Wir kommen oder kommen nicht. // [2.] Wir sollten nicht verloren werden, / Gott will uns soll geholfen sein; / Nur darum kam sein Sohn auf Erden, / Und nahm hernach den Himmel ein; / Nur darum klopft er für und für / So stark an unsers Herzens Thür. // [3.] O Abgrund, welcher alle Sünden / Durch Christi Tod verschlungen hat! / Das heißt die Wunde recht verbinden, / Nun findet kein Verdammen statt, / Weil Christi Blut beständig schreit / Barmherzigkeit, Barmherzigkeit. // [4.] Darein will ich mich gläubig senken, / Dem will ich mich getrost vertraun, / Und wenn mich meine Sünden kränken, / Auf Gottes Huld in Jesu schaun. / Die zeiget mir zu aller Zeit, / Unendliche Barmherzigkeit. // [5.] Auf diesem Grund denn will ich bleiben, / So lange mich die Erde trägt; / Das will ich denken thun und treiben, / So lange sich ein Glied bewegt, / Einst sing ich himmlisch dann erfreut, / O Abgrund der Barmherzigkeit. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Dein Mittler kommt, Auf! blöde Seele, / Die Mosis Fluch und Donner schreckt, / Die in der bangen Trauerhöle / In Fesseln trüber Schwermuth steckt! / Der Fluch vergeht, die Bande springen, / Es reißen Satans feste Schlingen, / Die den befangnen Geist beklemmt; / Du kannst nun Heil und Freiheit hoffen, / Gott ist versöhnt, sein Schooß steht offen; / Dein Gnadenvoller Mittler kömmt. // [2.] Dein Lehrer kommt, laß deine Ohren / Auf seinen Mund gerichtet sein! / Er zeigt den Weg, den du verloren, / Er flößt dir Licht und Wahrheit ein. / Was unter dunkeln Schatten stecket, / Das hat dir dein Prophet 1–2 Vgl. Röm 6,2–4
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entdecket; / Er hat das Reich der Nacht gehemmt. / Er klärt dir auf des Vaters Willen, / Er giebt dir Kraft ihn zu erfüllen; / Dein weisheitsvoller Lehrer kömmt. // [3.] Dein König kommt, doch ohne Prangen, / Sein Aufzug ist an Armuth reich. / Auf! deinen Fürsten zu empfangen, / Der dir, dem Schwachen, wurde gleich! / Komm Hand und Zepter dem zu küssen, / Der dich wird so zu schützen wissen, / Daß dich kein Angststrom überschwemmt. / Thu wie getreue Unterthanen, / Komm her und schwör bei seinen Fahnen! / Dein längst verlangter König kömmt. // [4.] Dein Alles kommt dich zu ergötzen, / Dein höchstes Gut ist vor der Thür. / Wer dieses Gut weiß recht zu schützen, / Vertauschet gern die Welt dafür. / So greif denn zu mit beiden Händen, / Da dich o Geist von allen Enden / Der Gnaden Fülle überschwemmt. / Nimm weg den Damm, thu auf die Thüren! / Laß dich zu nehmen willig spüren, / O armes Nichts, dein Alles kommt. // (Jauer. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Nun komm der Heiden etc. [1.] Gott sei Dank in aller Welt, / Der sein Wort beständig hält, / Und der Sünder Trost und Rath, / Zu uns hergesendet hat! // [2.] Sei willkommen, Preis sei dir! / Komm, o Jesu, auch zu mir! / Oefne du mir selbst die Bahn, / Daß auch ich dir nahen kann. // Nach der Predigt. – Mel. Jesu meine Freude etc. Eilet, eilt ihr Sünder / Werdet Gottes Kinder, / Werdet seiner werth! / Eilet, eilt ihr Frommen, / Seid wie er, vollkommen, / Bleibet seiner werth! / Preiset ihn daß er erschien, / Preist ihn, ewig ihm ergeben, / Durch ein göttlich Leben. //
Am 14. Dezember 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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3. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,34 Nachschrift; SAr 38, S. 233–243; Jonas Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 14. Dec. 1817. Die Gnade unsers Herrn cet.
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M. A. F. Alle göttlichen Wohlthaten, die sich über die verschiedenen Theile unsres irdischen Lebens erstrecken, können, wie tief wir es auch fühlen, wie deutlich wir es auch erkennen, daß alle guten Gaben von oben herabkommen, vom Vater des Lichts, doch das nicht verleugnen, daß von ihm herabgekommen ist auch eine unvollkommene Welt; denn überall finden wir, daß, was manchen erfreut, den andern betrübt, woraus der eine Vortheil zieht, dem andern Schaden bringt. Ist es denn ein andres mit der göttlichen Wohlthat, welche sich auf das höhere und geistige Leben der Menschen bezieht? Kann auch da, was dem einen frommt, dem andern zum Schaden gereichen? Freilich scheint es uns nicht so, wenn wir jeder auf sich allein achten. Segnet uns Gott in unserm Innern, gießt sein Geist sich immer mehr in uns aus, so können wir nicht sagen, daß das dem geistigen Leben eines andern zum Nachtheil und Schaden gereichen könne, sondern wir freuen uns dessen, als eines ganz reinen Gewinnes. Sehen wir aber wieder auf die großen Veranstaltungen Gottes in Beziehung auf das geistige Wohl der Menschen, so kommt uns dasselbige entgegen, daß, was dem einen Seegen zu seyn scheint, dem andern Verderben droht. Eben das müssen wir auch von der größten Wohlthat, von der Erscheinung unsres Erlösers sagen. So stellt er sich ja selbst dar nicht als einen der gekommen sey, einen reinen Frieden über die Erde zu verbreiten, sondern zuvor den Streit, nicht als einen | der allen zum Seegen gereichen werde, sondern indem der eine erwählt werde, werde der andre zurückgesetzt und verworfen. Freilich sollen wir in dieser Zeit der Vorbereitung zur Feier der Geburt unsres Erlösers nur freudige Betrachtungen anstellen, aber es kommt uns ungesucht auch 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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diese entgegen und schon bei seiner ersten Geburt war das angekündigt. Damit uns das nur nicht verwirre in unsrer Freude, laßt uns sehen, daß wir auch darin die Weisheit Gottes erkennen. Dazu bitten cet.
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Tex t. Luc. II, 34. Siehe, dieser wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird. Diese Worte, M. A. F., redet Symeon, nachdem er in einem begeisterten Augenblicke in dem dargebrachten Kinde den Erlöser erkannt und seine Freude ausgesprochen hatte zu der Mutter unsres Herrn. Sie drücken uns auf das deutlichste dasjenige aus, was wir schon vorher angedeutet haben. Auch der Erlöser, die größte Wohlthat, die Gott dem menschlichen Geschlechte erwiesen hat, konnte nicht allen eine Wohlthat seyn; auch er hat gereicht einigen zum Auferstehen, andern zum Fall. Symeon sagt das in besondrer Beziehung auf das Volk Israel, aber wie das Wort des Herrn sehr bald nicht bei diesem stehen blieb, so verbreitete sich auch bald diese Erfahrung weiter und wie können wir anders, als so lange wir selbst im Umfange der christlichen Kirche noch so manchen bemerken, von dem wir nicht hoffen dürfen, daß er | in der wahren Gemeinschaft des Herzens mit Christo lebe, wie können wir uns der niederschlagenden Bemerkung enthalten, daß zwar itzt noch der Erlöser so vielen die Stütze ihres geistigen Lebens ist, aber immer auch nicht wenigen zum Falle gereicht. Laßt uns darüber nachdenken, wie dieses doch zusammengehört und woher es kommt, damit indem wir den Grund davon finden, wir auch am besten Trost darüber finden. Es ist zweierlei, worauf wir hier vorzüglich zu sehen haben, indem nemlich zwiefach überhaupt das ganze Streben der Menschen ist. 1. Wie fern jeder ein Wesen für sich selbst ist, begehrt jeder einen Frieden in und durch sich selbst. 2. In wie fern aber der Mensch schon dem Innersten seiner Natur zufolge ein geselliges Wesen ist, begehrt er auch ein Erbtheil unter seinen Brüdern und kann ohne die Gemeinschaft nicht bestehen. In beider Hinsicht laßt uns sehen, wie es zugehe, daß der Erlöser vielen zum Auferstehen gereicht, einigen aber auch natürlich zum Falle. I. Wir müssen uns zunächst in den Zustand der Menschen hineinversetzen, unter denen der Erlöser erschien. Worauf beruhte denn die Ruhe und der Friede, den jeder für sich hatte und was machte darin die Erscheinung des Erlösers für eine Aenderung? Der größte Theil der Menschen fern von der Erkenntniß des wahren Gottes, so fern er einer Ruhe genoß, erfreute sich derselben, sündlich und verderbt | wie er war, nur durch eine falsche und 7–9 Vgl. Lk 2,29–32
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erlogene Unschuld. Das war das Loos der zahlreichen heidnischen Völker. Sie glaubten, der Mensch sey ein Werk und ein Werkzeug des Geschicks. Daß der nur so, der andre anders werde, davon sey er nicht selbst die Ursach, sondern eine verborgene Gewalt. Entwickeln sich Eigenschaften in ihm, die ihn andern lieb und werth machen, so ist das eine Gunst des Geschicks; wird er geplagt von den wildesten Leidenschaften, so ist das Ungunst des Geschicks. So sprach der Mensch in einer Art von Unwissenheit sich selbst frei von seiner Schuld. Andre wieder nun, unter denen sich erhalten hatte die Erkenntniß des lebendigen Gottes, suchten ihre Beruhigung in der Erfüllung des Buchstabens des Gesetzes. Hatten sie diesen erfüllt, oder gelitten nach dem Gesetz, so glaubten sie sich gerechtfertigt vor Gott. Aber mit dem Erlöser erschien die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt und dabei konnte die erlogene Unschuld und die ängstliche Erfüllung des Gesetzes nicht bestehen. Denn als er aussprach das große Wort, daß der Vater ihn gesandt habe, daß er mit ihm sey und in ihm, daß er gekommen sey, die Menschen anzuleiten, daß sie Gott verehren sollten im Geist und in der Wahrheit, als er aussprach, daß das Gesetz in ihm erst sollte seine letzte Erfüllung erhalten, durch welche das Gesetz als tod, der Geist allein als lebendig angesehen werden sollte, o da konnte die Ruhe bei dem Buchstaben des Gesetzes nicht mehr statt finden. So war Paulus ein Eiferer für das Gesetz und arbeitete dem neuen Geiste entgegen mit aller Gewalt des Willens, | die ihm Gott gegeben hatte. Ihm aber gereichte der Erlöser zur Auferstehung, ihm blieb in dem Innern seines Gemüths keine Ruhe und endlich, endlich schlug die entscheidende Stunde, wo die Stimme des Erlösers ihm sagte, es werde ihm schwer werden, gegen den Stachel auszuschlagen und wo er in sich ging und den erkannte, der das Heil ist. Aber vielen gereichte der Erlöser nicht zum Auferstehen. Es fehlte ihnen an Kraft, an Empfänglichkeit und indem sie nie aufhörten für das Gesetz zu eifern, so gereichte ihnen der Erlöser zum Fall, weil die Ruhe doch nicht sich wiederherstellen konnte in ihrem Innern, wenn sie das sahen, was der Erlöser forderte. Eben so, M. A. F., als der Erlöser zuerst den Heiden vorgebildet wurde als der Mensch, welchen Gott gesetzt habe, die Welt durch ihn zu richten, als er ihnen vorgebildet wurde in seiner göttlichen Vollkommenheit, die Anspruch macht auf eines jeden Verehrung, da konnte die Unschuld, die sie sich angelogen hatten, nicht mehr bestehen; denn zog eine göttliche Gewalt sie zu ihm hin, so mußten sie fühlen, dies sey die Kraft ihres besten, höchsten Lebens, widerstrebten sie dieser, so konnten sie das nicht mehr auslegen als Wirkung des Geschicks und daher war beides wesentlich für sie verbunden, die Forderung, die der Erlöser an ihr Herz machte und die Ueberzeugung, daß durch ihn die Welt gerichtet werde, denn nun 12–13 Vgl. Röm 1,17; 3,22; 4,16; 9,30; Phil 3,9 15 Vgl. Joh 5,36; 8,29 17 Vgl. Joh 4,23–24 17–18 Vgl. Mt 5,17 18–19 Vgl. 2Kor 3,6 22 Vgl. Apg 22,3–4; Gal 1,13–14 24–26 Vgl. Apg 9,5; 26,14
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wurde ihnen ein innerer Werth und Unwerth deutlich. So bewährt sich das große | Wort des Erlösers, er sey nicht gekommen, die Welt zu richten, aber wer nicht glaube, der sey schon gerichtet. Indem den Menschen vorgehalten wurde die Gerechtigkeit durch den Glauben, so konnte es nicht anders seyn, die da glaubten, die standen auf zu einem neuen Leben mit Christo, die nicht glaubten, versanken in einen Zustand, der schlimmer war, als der vorige. Und, M. A. F., eine Aehnlichkeit des Gemüths mit jener leichtsinnigen heidnischen Ansicht, und auf der andern Seite mit jener trübsinnigen Gefangenschaft des Buchstabens findet sich bei vielen Menschen, wenn der Erlöser zuerst mit seinen Forderungen an das Herz vor sie tritt. Ist der Mensch zuerst hingegeben gewesen der Gewalt der sinnlichen Triebe, so hat er allerdings ein Gefühl seiner Ohnmacht, ist er in einem ordnungsmäßigen unter die Gesetze menschlicher Geselligkeit zusammengefaßten Leben hingegangen, o so hat er sich auch gewiß eine Gerechtigkeit aus dem Buchstaben ersonnen und nach dem Buchstaben solches Gesetzes hält er sich für gerecht. Nun tritt der Erlöser mit seinen Forderungen vor seine Seele und ganz auf dieselbe Weise wird er dann vielen zum Auferstehen gereichen, aber auch immer noch einigen zum Fall, um ihre falsche Unschuld sich zu erhalten, oder den Buchstaben des Gesetzes zu erfüllen, entsteht dann gegen ihr innerstes Gefühl das Klügeln des Verstandes, aber der Friede ist verloren und so gereicht ihnen der | Erlöser zum Fall, wenn sie nicht lassen wollen von demjenigen, worin sie früher Ruhe gefunden. II. Eben so werden wir es finden, wenn wir darauf achten, wie die Menschen sich ihr geselliges Erbtheil unter ihren Brüdern zu gestalten suchen. Vor der Zeit des Erlösers finden wir zweierlei. 1. Für einen und denselben Trieb suchte sich der Mensch willkürlich seine Freunde und Genossen. Das sind die mancherlei Verbindungen, welche den Menschen bald hieher bald dorthin ziehen. Aber weil das an und für sich zu wenig und zu viel, zu mannigfaltig und zu zufällig ist, so finden wir überall 2. eine natürliche Verbindung der Menschen durch die gleiche Abstammung, Sprache und Bildung. Das ist die Verbindung eines jeden mit seinem Volke. Die Treue, die dem jeder schuldig zu seyn fühlte, darin fand der Mensch seine Befriedigung, das war ihm das Erbtheil seiner irdischen Glückseligkeit. Aber so wie jene willkürlichen Verbindungen und kleineren Kreise eben so sind auch die natürlichen Verbindungen und einzelnen Glieder eines Volks solche, die nicht gedacht werden können ohne Streit gegen die übrigen. Nun erschien der Erlöser, gleich auftretend, gleich sich offenbarend als solcher, der allen Menschen ohne Unterschied angehöre, der alle vereinigen solle zum göttlichen Gehorsam und ein Band unter ihnen knüpfen, welches keinem fremd bleiben, sondern welches alle umfassen könne; aber indem er, um eben dieses zu 2–3 Vgl. Joh 12,47–48 u. Joh 3,18
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knüpfen die Menschen zurückführt auf den innersten Funken des göttlichen Lebens, wie geringfügig mußte | darneben erscheinen, was sonst willkürlich und einzeln die Menschen verband! wie mußten sie fühlen, daß plötzlich das alles seinen Werth verloren habe und ihn erst wiederfinden werde, nachdem es geheiligt wäre durch den Einen, aus dem allein wahrer Friede und wahre Liebe den Menschen hervorgehen kann! Ja da gereichte der Erlöser allen zum Auferstehen, die so von seiner Erscheinung gerührt wurden, daß er ihnen statt alles andern war, daß sie alles aufgeben konnten, was sie vorher geliebet hatten, daß sie jede Verbindung zu zerreißen bereit waren, um nur die Eine zu knüpfen, die die Erlösten mit dem Erlöser auf immer verbinden solle. Aber die so hingegeben waren der beständigen Liebe zu denen, mit welchen die Natur sie verknüpft hatte, daß sie nicht lassen konnten, die andern gering zu schätzen, ja denen war die Forderung des Erlösers zu groß, die wagten es nicht, alles übrige nachzusetzen der Verbindung mit dem Erlöser und denen mußte der Erlöser zum Falle gereichen; die das nicht konnten, konnten sich auch nicht zu der Liebe erheben, die alle erst zusammenfassen sollte, denen erschien das Reich des Erlösers ein solches, dem sie sich entgegenstellen mußten, denen gereichte der Erlöser zum Falle. Und, M. A. F., ist es nicht noch so mit vielen, die nicht zeitig genug, ehe sie in die mancherlei Bande des Lebens verwickelt werden, ihre Gemeinschaft mit dem Erlöser gefunden haben? Wenn das Herz schon gesegnet ist in den | mancherlei Arten irdischer Liebe, wenn der Mensch die Liebe zu seinem Volke und zu seinem Vaterlande als das höchste gefaßt hat, was für einen zweideutigen Kampf in seinem Ausgange muß er bestehen, wenn der Erlöser so vor ihn tritt, daß er alles hinzugeben bereit seyn soll, ihm allein zu folgen? Da erscheint vielen auf der einen Seite diese Liebe als eine das menschliche Leben in seinen mancherlei Verzweigungen zerstörende, als eine von dem Menschen fordernde, dasjenige aufzuopfern, wodurch doch allein alles wahren Gehalt bekommt, da erscheint ihnen die allgemeine Liebe, die der Erlöser fordert zu allen Erlösten, von welchem Volke sie auch seyn mögen, eine verdächtige Lockung, die Liebe zu untergraben, die Gott den Menschen ins Herz gelegt hat, da fürchten sie, diese Liebe werde die Bande der Natur zerreißen und aufhören machen. Und die beides nicht zu vereinigen wissen, wie kann der Erlöser anders als ihnen zum Fall gereichen und wie können wir anders, wenn wir sehen, was sie festzuhalten suchen, ist nicht gerade der Eigennutz und die Selbstsucht, sondern es sind auch würdige Bestrebungen, wie können wir anders, als sie bemitleiden? Begreifen können wir nur, daß der Erlöser vielen zum Fall gereicht. Aber ist diese Betrachtung tröstlich? Zerreißt sie nicht vielmehr unser Inneres? Droht uns nicht das Licht zu vergehen, das der Erlöser angezündet hat? M. A. F. so lange es noch so steht, daß der Erlöser vielen zum Fall und vielen zum Auferstehen gereicht, ist sein Reich noch eben so im Entstehen, als
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vorher, | und es wird so bleiben, bis das Reich sich immer besser gestaltet. Und so führt uns diese Betrachtung auf uns selbst zurück. Je mehr wir sehen, daß wir noch nicht alles erfüllen, desto mehr müssen wir fühlen, daß alles besser werden wird, wenn wir besser werden. Sehen wir überall, wie in der Liebe zum Erlöser jede andre Liebe nicht untergeht, sondern aufersteht zu einem höhern Leben, sehen alle, wie kein würdiges Ziel umgerissen wird durch diejenigen, welche bekennen, daß sie nichts suchen, als die Gemeinschaft mit dem Erlöser, sehen sie wie sich diese immer mehr verschönt und verherrlicht, o dann werden sie nicht mehr glauben, etwas zu verlieren, sondern sie werden sehen, daß wer alles hingiebt für den Erlöser, auch sein Leben und alles wiederfindet; sehen sie, wie die christlichen Völker alle in der Liebe und der Verehrung verbunden sind zu demjenigen, wodurch das beste geworden ist, gesondert und vereint, o dann könnte kein Vorwand mehr genommen werden. Wolan denn! je herrlicher sich das Reich Gottes auf Erden gestalten wird, je mehr alle, wie wol sie fühlen ihr Vaterland ist im Himmel, nach nichts anderem trachten, als die Erde dem Himmel ähnlich zu machen, je mehr alles sich nach diesem Gesetz besser gestaltet, o wer könnte da noch seyn, der sich dem Erlöser nicht hingiebt? Gestaltet sich die Gerechtigkeit aus dem Glauben unter uns, die wir dem Herrn leben und seinen Namen bekennen, in ihrer ganzen Reinheit, o dann können nicht mehr Menschen unter uns aufwachsen, die jene verkehrte | Unschuld nähren, dann muß zeitig in ihnen die Stimme Gottes erwachen, welche sie zu demjenigen führt, zu dem alle kommen müssen, welche dem Gericht entgehen wollen; spricht sich in den Menschen erst die Freiheit der Kinder Gottes aus, die kein Gesetz haben, weil sie keines bedürfen, o dann wird es keinen mehr geben, der den todten Buchstaben erfüllt und kein Streit wird mehr möglich seyn des Buchstabens gegen den Geist. Ausrufen müssen wir: mit Ernst ihr Menschenkinder! Alles laßt uns verbannen, was den Menschen dahin bringen kann, daß der Erlöser ihm zum Fall wird! Laßt uns streben, daß das künftige Geschlecht aus unserm Leben merke, was der Erlöser gekommen ist den Menschen zu geben! o dann wird der Widerspruch gegen ihn sich immer mehr verlieren, dann wird er uns nicht mehr gereichen zu einem Zeichen, dem widersprochen wird, sondern zu einem Zeichen, zu welchem alle hineilen, sobald die Fähigkeit dazu in ihrem Herzen erwacht, dann werden alle frei werden von den verkehrten Bestrebungen dieser Erde und dann wird er alle diese zum Vater führen, dann wird die Zeit kommen, wo er kommen wird, Wohnung in ihnen zu machen. Amen.
16 Anspielung auf Phil 3,20 25 Röm 8,21 28 Vgl. Liederblatt: Lied nach dem Gebet (unten Anhang) 37–38 Vgl. Joh 14,23
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Am 14. Dezember 1817 vormittags
[Liederblatt vom 14. Dezember 1817:] Am dritten Adventssonntage 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht etc. [1.] Der Heiland kommt, lobsinget ihm / Dem Herrn, dem alle Seraphim / Das Heilig Heilig singen! / Er kommt der eingeborne Sohn, / Und steigt von seines Himmels Thron, / Der Welt das Heil zu bringen! / Preis dir, daß wir von den Sünden / Rettung finden! / Höchstes Wesen, / Durch dich werden wir genesen. // [2.] Du bringst uns Trost, Zufriedenheit, / Heil, Leben, ewge Seligkeit, / Sei hoch dafür gepriesen! / O Herr wie viel zu schwach sind wir, / Die Treue zu vergelten dir, / Die du an uns bewiesen! / Von dir, da wir im Verderben / Mußten sterben, / Kommt das Leben, / O was kannst du größers geben! // [3.] Laß uns zu unserm ewgen Heil, / An dir im wahren Glauben Theil / Durch deinen Geist erlangen; / Auch wenn wir leiden auf dich sehn, / Im Guten immer weiter gehn, / Nicht an der Erde hangen, / Bis wir zu dir mit den Frommen, / Ewig kommen, / Dich erheben, / Und in deinem Reiche leben. // (Jauer. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s etc. [1.] Mit Ernst ihr Menschenkinder, / Macht euer Herz bereit! / Er kommt, das Heil der Sünder, / Der Herr der Herrlichkeit; / Er kommt von seinem Thron / Voll Huld zu uns hernieder, / Wird einer unsrer Brüder, / Er Gottes einger Sohn. // [2.] Ihn dürstet vor Verlangen / Sich auch zu euch zu nahn, / Wohlauf ihn zu empfangen / Bereitet ihm die Bahn! / Eilt willig in sein Reich, / Verabscheut und verlasset, / Was euer König hasset; / Vertraut ihm, heiligt euch. // [3.] Das hat der Herr geboten, / Sein Herold hat’s gelehrt, / Es lehren’s seine Boten, / Und selig ist wer hört. / Ja leben wird, wer gläubt, / Und wer nicht gläubt wird sterben, / Und jeder wird verderben, / Der in der Sünde bleibt. // [4.] Ein Herz das Demuth liebet, / Das will der Herr erhöhn, / Ein Herz das Hochmuth übet, / Wird nie sein Antlitz sehn. / Wer ihm sich ganz ergiebt, / Der wird sein Tempel werden, / Nicht dort nur, schon auf Erden, / Erfahren wie er liebt. // [5.] So weihe denn mich Armen, / Zu einer Wohnung dir, / Mit Liebe mit Erbarmen, / Erscheine Jesu mir! / Zeuch in mein Herz hinein; / Ich eile dir entgegen, / Ich will für deinen Segen, / Dir ewig dankbar sein. // (Jauer. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Vom Himmel hoch etc. [1.] Lob sei dem allerhöchsten Gott, / Der unser sich erbarmet hat, / Gesandt sein’n allerliebsten Sohn, / Von seiner Herrlichkeiten Thron. // [2.] Ei nimm ihn heut mit Freuden an, / Bereit ihm deines Herzens Bahn, / Auf daß er komm in dein Gemüth, / Und du genießest seiner Güt. // Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’t etc. Wie freu ich dein mich Jesu Christ, / Daß du der Erst’ und letzte bist, / Der Anfang und das Ende! / Einst, wenn er dich im Tode preist, / Und jetzt befehl ich meinen Geist, / Herr Herr, in deine Hände! / Ewig werd ich Herr dich loben, / Einst erhoben / Zu dem Leben, / Das mir deine Huld wird geben. //
Am 21. Dezember 1817 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
4. Sonntag im Advent, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,15–21 Nachschrift; SAr 38, S. 477–484; Jonas Keine Nachschrift; SAr 40, Bl. 2v; Jonas Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Nachmittagspredigt am 21. Dec. 1817. Die Gnade cet. Philipp. 3, 15 bis zum Ende.
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M. A. F. Nach Anhörung dieser Worte werdet ihr euch nicht wundern, daß die Adventszeit keine Veranlassung giebt, aus der Reihe herauszugehen und statt der Fortsetzung etwas andres zum Grunde zu legen; denn es ist von jeher gewöhnlich gewesen, die Vorbereitung zur würdigen Feier der Ankunft unsres Herrn in Verbindung zu setzen mit der Erwartung seiner zweiten Ankunft und als eins und dasselbe zu halten das fromme Nachdenken über den Anfang des Reiches Gottes und die ernste und heilige Betrachtung über die Ankunft des Herrn. Und darauf gehen die Worte des Apostels in dem vorgelesenen Abschnitte seines Briefes. Unmittelbar vorher hat er gesagt, wie er selbst nicht in der Meinung sey, er habe es schon ergriffen, er strebe ihm aber immer nach, ob er es auch ergreifen mögte und vergesse, was dahinten ist und strecke sich zu dem, was da vorne ist, um so nachzujagen dem vorgesteckten Ziele, dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung in Christo. Jetzt ermahnt er die Christen auf diejenigen zu sehen, die eben so wandeln, wie er das Vorbild dazu gebe und so zu warten des Heilandes Jesu Christi, welcher kommen wird und unsern nichtigen Leib verklären, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe und dessen letzte Zukunft nicht anders zu denken ist, als daß sie die gänzliche Vollendung des Reiches Gottes ist, und daß sie verkläre jedes Wort, das dem Herrn 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
12–17 Vgl. Phil 3,12–14
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mißfällig ist. | Wie wir also würdig seyn können, der Zukunft unsres Herrn zu warten, das will der Apostel in den Worten unsers Textes lehren. Im Allgemeinen, M. F., können wir schon die Worte, bei denen wir den Apostel verlassen haben, mit den letzten unsres heutigen Textes in Verbindung setzen; denn gewiß, nur derjenige ist würdig der Zukunft des Herrn, der wie der Apostel immer nachjagt dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu, welcher vergißt, was da hinten ist und sich zu dem streckt, das da vorne ist, welcher sich nicht beruhigen kann bei irgend einem Ziele, was er schon erreicht hat. Wem aber das Reich Gottes in seiner gegenwärtigen Gestalt gut genug ist, ohne eine innige Sehnsucht zu fühlen, noch herrlicher das Kleinod zu ergreifen, welches vorhält die himmlische Berufung in Christo, nur der gewiß ist nicht würdig, weil er nicht fähig ist, jener Zukunft des Herrn zu warten. Und dieses beständig im Auge habend laßt uns das Einzelne betrachten! Er sagt zuerst: wie viele nun unser vollkommen sind, die laßt uns also gesinnt seyn (wie er nemlich vorher vorgeschrieben hat) und solltet ihr sonst etwas halten, das laßt euch Gott offenbaren. Hier finden wir bei aufmerksamer Betrachtung einen lehrreichen Wink über die Art, wie wir in der freudigen | Erwartung der immer noch bevorstehenden Zukunft unsres Herrn sein Reich unterdeß fördern sollen. So müssen wir gesinnt seyn, daß wir vergessen, was dahinten ist und uns strecken nach dem, was da vorne ist, daß wir immer fühlen den gegenwärtig unvollkommnen Zustand. Wir finden noch ein andres Wort bei dem Apostel: der Geist macht lebendig, der Buchstabe tödtet. Lebendig muß der Mensch seyn, der das Reich Gottes fördern will und durch seine Thätigkeit werth seyn, der Zukunft des Herrn zu warten. Der Geist ist es, der ihn immer vorwärts treibt, sich nach dem zu strecken, was da vorne ist. Denken wir den Menschen noch so vollkommen, aber er ist nicht so gesinnt, so ist ihm das, was er erreicht hat, zu einem todten Buchstaben geworden, es fehlt das geistige Leben, welches uns mit Christo durch alle Glieder verstricken soll und wodurch der Bau wächst zu einem lebendigen Ganzen, der, indem er ruhen bleibt, schon tod ist und desjenigen ermangelt, was ihn lebendig und frisch halten soll. Dies gilt nicht nur von dem, was ein jeder für sich selbst hat, sondern von der ganzen Gemeinschaft der Christen: wer sich nicht streckt nach dem, was da vorne ist, sondern sich gefangen nehmen läßt von dem Gegenwärtigen, der ist nicht gesinnt wie der Apostel. Der Apostel setzt hinzu: und sollt ihr sonst etwas halten, so laßt euch Gott es offenbaren, doch das ist das Wesentliche, was Noth thut, daß ihr so gesinnt seyd (wie er nemlich vorher beschrieben 11 welches] welche 6–7 Vgl. Phil 3,14 7–8 Vgl. Phil 3,13 11–12 Vgl. Phil 3,14 Vgl. Phil 3,13 23–24 Vgl. 2Kor 3,6 26–27 Vgl. Phil 3,13
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hat) welches zugleich auch die Regel ist, nach der wir wandeln sollen und gleich gesinnt seyn, daß wir in diesem beständigen Bestreben immer wachsen in den großen Tugenden, die der Apostel als den Kern der ganzen Seeligkeit beschreibt, nemlich im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung; und was sonst noch jeder wünscht in Beziehung | auf das Reich Gottes, das lasse sich jeder von Gott offenbaren, darüber lasse sich jeder zur reinen Einsicht führen von demjenigen, der uns alle zu einem christlichen Volke ziehen will. So sehen wir, daß der Apostel eine Regel aufstellt für alle diejenigen, deren Wandel im Himmel ist. Wiewol er will, daß alle gleich gesinnt seyn sollen, so gestattet er doch manche Verschiedenheit, so fern er nur mit dieser Regel nicht streitet. Und dies ist auch jetzt uns in vieler Hinsicht belehrend, denn es hat sich von Zeit zu Zeit die Denkungsart offenbart, daß wir alle sollen der Wohlthaten des Christenthums froh werden in ganz genauer Uebereinstimmung, in allen Vorstellungen von dem, was zum göttlichen Leben gehört. Das, M. F., hat der Apostel nicht gesagt. Dies sind aber die Dinge, von denen er sagt: „dafern ihr sonst etwas haltet, das lasset euch von Gott offenbaren“ wenn er anderwärts sich so ausdrückt: keiner soll den andern richten, sondern jeder soll bedenken, daß er dem Herrn steht und fällt. Indem nun der Apostel die aus mancherlei Verhältniß entstehenden Verschiedenheiten gestattet, sagt er: ein jeder solle bei sich zu Rathe gehen und was er sonst halte, das solle er sich von Gott offenbaren lassen d. h. jeder solle seinen Glauben, seine Meinung, seine Lebensregel niemals aufhören, vor Gott zu prüfen, und indem er das thue, werde sich Gott ihm immer genauer offenbaren und ihn in seiner Ueberzeugung wachsen lassen. Was, M. Th., wenn es uns ein Ernst ist, das Reich Gottes auf Erden zu fördern, so können wir diese Regel nicht genug zu Herzen nehmen. Das muß unsre gemeinsame | Regel seyn, daß unser Wandel im Himmel sey welches nichts andres ist, als die Gerechtigkeit durch den Glauben vor Gott, aber daß zu gleicher Zeit keiner herrschen wolle über das Gewissen des andern sondern ein jeder bereit sey, alle frei halten zu lassen, was ihnen Gott offenbaret. Aber damit wir endlich dies recht genau ins Auge fassen mögen, macht uns der Apostel in den Worten unsres Textes aufmerksam auf dasjenige, was eben der Einen Regel schnurstracks zuwider ist. Dies thut er nemlich, indem er sagt: „Denn viele wandeln, von welchen ich euch oft gesagt habe, nun aber sage ich euch mit Weinen, die Feinde des Kreuzes Christi, welcher Ende ist die Verdammnis, welchen der Bauch ihr Gott ist und ihre Ehre zu Schanden wird, derer, die irdisch gesinnt sind.“ Wir brauchen, um uns darüber zu verständigen, uns nicht einzulassen auf eine Beschreibung desjenigen, was damals vorging in der neuen Kirche Christi; wir dürfen uns nur halten an die letzten Worte des Apostels: „derer, die irdisch gesinnt sind“ wobei uns ein andres großes Wort des Apostels einfällt, indem 3–4 Vgl. 1Kor 13,13; 1Thess 5,8
17–19 Vgl. Röm 14,4
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er sagt; „irdisch gesinnt seyn ist eine Feindschaft gegen Gott.“ Dieselben nennt der Apostel auch: Feinde des Kreuzes Christi; und das muß auch uns Eins seyn, Feindschaft gegen Gott und Feindschaft gegen das Kreuz Christi. Wenn wir fragen: wie sollen wir erkennen, was Gott wohlgefällig oder mißfällig ist, was mit der Einen Regel übereinstimmt und was ihr widerspricht? so liegt dies in den Worten des Apostels: nemlich was nicht in dem liegt, wodurch sich Gott offenbart, muß sich zu erkennen geben als eine Feindschaft des Kreuzes Christi, dabei muß das Irdischgesinntseyn zum Vorschein kommen. | Und, M. F., was können wir sagen, als uns bei diesem Kennzeichen beruhigen? Denn in der That, wenn uns Verschiedenheiten vorkommen und wir können darin nichts finden von dem Irdischgesinntseyn, so muß es uns ja aus dem Leben des Geistes hervorgegangen seyn und wir müssen sagen, daß solcher nur das will, was ihm Gott offenbart hat; denn wenn er nicht vom irdischen Sinn getrieben ist, von wem kann er anders getrieben seyn, als vom Geist, da es dieses beides nur giebt, Fleisch und Geist? Aber, M. F., ein Streit über dasjenige, wodurch wir uns von andern unterscheiden im Glauben und in der Liebe, wie leicht kann der ein Irdischgesinntseyn an sich tragen; denn so wie darin nicht ein reiner Eifer für die Wahrheit ist, so wie darin das Bestreben herrscht, Ruhm zu erhalten gegen den andern, so wie darin eine Vorliebe sich zeigt für diese oder jene Meinung und Handlungsweise deßwegen, weil wir die Feinde nicht zu ertragen wissen, was ist das anders, als ein Irdischgesinntseyn, als ein selbstsüchtiges Wesen? Was werden wir anders sagen können, als daß in solchen Menschen der irdische Mensch noch nicht ganz gekreuzigt ist um eine neue Creatur zu werden in Christo? Und so, M. F., werden wir am besten beurtheilen den Streit gegen unsre Brüder; denn sehen wir da ein Irdischgesinntseyn, dann wird unser Eifer rein erscheinen; erscheint uns da kein Irdischgesinntseyn, so müssen wir gestehen, daß dann keine Feindschaft gegen das Kreuz Christi ist und wir werden unsre eigne irdische Gesinnung des Streites erkennen. Und so zeigt der Apostel zu gleicher Zeit, was das alleroffenbarste Ende des Irdischgesinntseyns ist: welchen der Bauch ihr Gott ist und ihre Ehre zu Schanden | wird. Das ist eben die offenbarste Weise, wie sich die Feindschaft gegen das Kreuz Christi zu erkennen giebt, auf der einen Seite in einem Bestreben nach den Gütern dieser Welt, welches der Apostel ausdrückt in den Worten: welchen der Bauch ihr Gott ist, auf der andern Seite in einer Ruhmsucht, welche nothwendig zu Schanden werden muß, weil sie eine andre ist, als die Ehre Gottes. Auf dieses Trachten nach den Gütern dieser Welt und dieser eitlen Ehre werden wir wol alles zurückführen können, was sich als eine Feindschaft gegen das Kreuz Christi zu erkennen 3 Kreuz] Kreuzes 1 Vgl. Röm 8,7
24–25 Vgl. Gal 6,14–15 und 2Kor 5,17
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giebt. Vor denen sollen wir uns hüten und eben deßhalb in uns die geringste Spur der Selbstsucht und Ehrbegierde bekämpfen, um uns selbst und andre auf das ernsthafteste abzuziehen von diesem Irdischgesinntseyn. Wenn dann der Mensch sich so ganz vergessen hat und so im irdischen Leben befangen ist, daß er der Stimme der Wahrheit kein Gehör giebt, wenn er es nicht vermag, sich frei zu machen von der irdischen Lust und Begierde, um sein Daseyn dem Reiche Gottes zu widmen o dann hat der Apostel Recht, die also wandeln, können die Freudigkeit nicht mit uns theilen, daß sie warten der Zukunft des Herrn Jesu Christi. Wolan denn, M. F., in aller menschlichen Schwachheit ist der Erlöser uns gleich geworden, ausgenommen die Sünde. In Schwachheit hat er den Grund gelegt, aber der Grund ist gelegt. Auf Christum den Herrn laßt uns sehen und Gott von dem, was wir tun, Rechenschaft ablegen! Suchen wir im Leben einen gemeinschaftlichen Frieden, o er kann nur geschehen, indem wir das Werk des Erlösers fördern. In Schwachheit werden wir noch seyn, aber es liegt die Hoffnung in uns, ein unvergängliches Wesen zu erwerben; in Schwachheit und mit Sünde befleckt werden wir bauen, sind wir aber frei gemacht durch den Sohn, der die Wahrheit ist, | von jeglicher irdischen Gesinnung, o dann werden wir erst auffassen den ganzen Umfang des göttlichen Reichs. Amen.
10–11 Vgl. Hebr 4,15 11–12 Vgl. 2Kor 13,4 u. 1Kor 3,11 2,7; 2Tim 1,10 18 Vgl. Joh 8,36; 14,6
16–17 Vgl. Röm
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1. Weihnachtstag 1817, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,4 Nachschrift; SAr 38, S. 249–264; Jonas Keine Nachschrift; SN 623, Bl. 1v; Crayen Nachschrift; SAr 51, Bl. 29r–34v; Jonas in: Maquet Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 718–736; König (zur Textrekonstruktion vgl. KGA III/7, S. LXIII) Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Nachmittagspredigt am 1. Weihnachtstage am 25. Dec. 1817. Ehre sey Gott in der Höhe, Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen! Amen.
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Die Worte der heiligen Schrift, die wir zum Grund unsrer Betrachtung legen wollen, finden wir aufgezeichnet in dem Briefe an die Philipper Cap. 4,4. „Freuet euch in dem Herrn alle Wege und abermals sage ich: freuet euch.“ Diese Worte liegen mit Ausnahme einiger Zeilen, welche persönliche Verhältnisse betreffen, ganz in der Reihe unsrer Betrachtungen und wir müssen gestehen, sie eignen sich ganz vorzüglich, unsrer Weihnachtsbetrachtung zum Grunde gelegt zu werden; denn es ist ja dieses Fest für alle Christen ganz vorzüglich ein freudiges Fest. So erwarten wir es alle, so bereiten wir uns alle darauf vor, indem wir alles, was uns irgend drücken mag, verschwinden lassen in der Betrachtung des großen Heiles, welches uns durch Christum unsern Herrn geworden ist. Aber auf der andern Seite freilich, indem der Apostel sagt: „freuet euch in dem Herrn alle Wege“, so scheint allerdings, als solle die Freude nicht auf wenige Tage eingeschränkt, sondern zu einer beständigen gemacht werden, die wir nie verlassen sollten, | denn das heißt es freilich wenn er sagt: freuet euch in dem Herrn alle Wege. Was können wir anders als gestehn, daß, indem der Apostel uns hiezu ermahnt, er uns zugleich ein Ziel christlicher Vollkommenheit vorsteckt, von welchem wir uns noch fern fühlen. Wir können es nicht von uns rühmen, daß wir 2–3 Lk 2,14 als Kanzelgruß
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uns alle Wege in dem Herrn freuen und es sind nicht nur die einzelnen Widerwärtigkeiten, die uns davon abziehen, sondern unser ganzes Tichten und Trachten ist so sehr in den Dingen dieser Welt befangen, daß wenn wir auch nicht um unsrer selbst willen handeln, sondern alles in Beziehung auf das Reich Gottes betrachten, wir doch immer zu sehr durch das Einzelne von dem Ganzen, durch die Mittel von dem Zweck mit unsern Gedanken und Empfindungen abgezogen werden. Und eben deswegen, weil wir noch dazu nicht reif sind, uns alle Wege in dem Herrn zu freuen, wird diese Freude öfter, als es der Anhänglichkeit unsrer Herzen an unsern theuren Erlöser geziemt, unterbrochen und eben darum ist es desto nothwendiger, daß die Christen unter sich eine besondre Zeit der Freude eingerichtet haben, wo das Herz nur des Einen froh seyn will. Es wird also ein ganz natürlicher Gesichtspunkt seyn, daß wir fragen, | wenn wir allerdings im gewöhnlichen Leben uns nicht alle Wege in dem Herrn freuen, es aber einem jeden nicht fehlt an schönen Augenblicken, in welchen diese Freude das Herz erfüllt, was ist denn in der heiligen Freude dieser Tage besondres, wodurch sie sich auszeichnet vor jenen Augenblicken, in denen die Seinigen sich auch freuen des Gesalbten Gottes? Diese Frage wollen wir uns miteinander beantworten und uns über die Stimmung, die in den Jüngern des Herrn allgemein seyn soll, verständigen. Wir können nicht umhin eine Vergleichung anzustellen zwischen diesem Fest und der Art, wie wir untereinander gewohnt sind, den Tag zu feiern, an welchem einer, der unserm Herzen lieb und werth ist oder durch die Bande des Blutes mit uns verknüpft, das Licht dieser Welt erblickt hat. Wir freuen uns untereinander seines Daseyns und je mehr er uns lieb und werth ist um desto mehr ist er uns eine Quelle der Freude. Aber diese unterscheidet sich auch noch von andern Augenblicken, in denen wir uns der Freude über das schöne Verhältniß, das zwischen uns und ihm statt findet, hingeben. Wodurch denn? Laßt uns das eine zum Bild machen, um das andre daraus zu verstehen. | Das erste wird dieses seyn: im gewöhnlichen Leben sind wir freilich nicht immer ganz von ihnen selbst erfüllt, sondern unser Gemüth ist geöffnet bald den Sorgen, die sie leiden, bald der Freude über die Güte einzelner christlicher Eigenschaften, die sich uns in ihrem Leben offenbaren. Aber dann ist es eben dieses oder jenes Einzelne, was uns vorzüglich beschäftigt, dann steht der Mensch vor uns und unser Herz ist von ihm erfüllt, wie er gerade dieses Einzelne thut und ist. An einem solchen Tage aber, wo wir uns seines Gedächtnisses freuen, da freuen wir uns des ganzen Menschen, da ist das ruhige vollendete Bild seines Daseyns, dessen wir uns freuen. So auch, M. F., geht es uns mit dem Erlöser. Wohl sind wir mit ihm beschäftigt nicht selten in unserm ganzen Leben, aber es ist immer ein besondres Verhältniß, in welchem wir zu ihm stehen. Bald liegen wir reuig und beschämt vor seinen Füßen, bald stärken wir uns durch ein kräftiges Wort, das er
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gesagt, bald legen wir Rechenschaft vor ihm ab, bald stellen wir uns ihn zum Vorbild in dem Ziele, von welchem wir noch fern sind, bald haben wir Ursach, ihm zu danken für eine besondre Gnade und Stärkung, die uns durch ihn gekommen ist auf dem Wege des Lebens. An diesem Tage | aber, wo die Christen seine Erscheinung auf Erden feiern, da ist es nicht dieses oder jenes Einzelne, sondern da ist es der ganze Erlöser, die ganze Herrlichkeit des Sohnes Gottes, die ganze Fülle der Gnade, die ganze Fülle der Macht und Gewalt, die ihm gegeben ist vom Vater. Das ganze Licht, welches gekommen ist, die Finsterniß auf Erden zu erleuchten, das uns mit seinem Glanze umstrahlt, und durch dieses ganze Erfülltseyn von dem Herrn fühlen wir uns auf eine ausgezeichnete Weise erquickt und gestärkt, fühlen uns in einem Reichthum unsres Daseyns und was wir so fühlen ist auch nicht vergangen, wenn die Zeit der festlichen Freude vergangen ist; es sollen uns freilich lange Zeit die einzelnen Augenblicke, in welchen wir auf eine Veranlassung uns des Herrn freuen, erheben und erfreuen, wie es sonst nicht seyn würde und ein Zusammenseyn christlicher Freuden bringen, aber eben dieses, M. F., ist etwas mit Worten nicht Auszusprechendes, sondern es kann nur angedeutet werden. Alles Einzelne was vorkommt in unserm Leben mit dem Erlöser und durch ihn, davon können wir reden, das leiht sich der menschlichen Sprache, aber das Ganze ist | zu groß, um mit Worten ausgedrückt zu werden und nur für das innerste Heiligthum des Gemüths verständlich und darum fühle ich mich auch unfähig darüber mehr zu sagen. Das zweite ist dieses: Wenn wir uns nicht alle Wege in dem Herrn freuen, so hat doch jeder seine bestimmten Zwecke, in denen er sich des Herrn freut, aber indem der eine eine ausgezeichnete Freude genießt, ist der andre vielleicht in die Geschäfte des irdischen Lebens verstrickt, indem der eine ganz voll ist von dem Gefühl Gottes durch Christum, sucht er vielleicht vergeblich der Seele des andren dieselbe Stimmung mitzutheilen, um sich an dem Ganzen zu stärken. Ebenso geht es in dem Verhältniß des Menschen zu den Menschen, ebenso ist es mit demjenigen, der einer gro7–8 Vgl. Mt 28,18 8–9 Vgl. Joh 12,46 12–16 Vgl. zur Erläuterung des Sachverhalts den parallelen Abschnitt in SW: „Und was wir so fühlen, das dürfen wir auch nicht ansehen als etwas, was spurlos verschwunden ist, wenn die Zeit der festlichen Freude vergangen ist, sondern es bleibt und sezt sich durch jede folgende Zeit fort als der Grundton jeder rechten Freude an dem Herrn, so daß dadurch auch die einzelnen Augenblikke, in denen wir uns auf eine besondere Veranlassung und in besondern Verhältnissen des Herrn freuen, uns noch lange Zeit erhebend sein können, wie es sonst nicht möglich wäre, und auf diesem Wege soll dann entstehen ein Zusammensein aller christlichen Freuden in der Einen großen Freude an dem ganzen Herrn und Erlöser.“ (vgl. SW II/10, S. 724). 25–26 Vgl. zur Erläuterung des Sachverhalts den parallelen Abschnitt in SW: „[…] so hat doch jeder seine besondern Wege, die ihn zur Freude an dem Herrn stimmen, seine bestimmten Absichten und Bedürfnisse, um deretwillen er sich des Herrn freut […]“ (vgl. SW II/10, S. 724).
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ßen Anzahl lieb und werth ist, doch in dem die einen voll sind von den Vorzügen des Theuern, wohnen die andern in einer andern Gegend ihres Lebens, wo ihnen sein Bild mehr in den Hintergrund tritt. Aber kommt der Tag seines Gedächtnisses, so ist eine stillschweigende Verabredung, ihn zum Gegenstand ihrer Empfindung zu machen und ein gemeinsames Gefühl der Liebe und Freude, die durch diese Gemeinsamkeit noch erhöht wird, erfüllt alle Gemüther. Und ebenso geht es uns mit dem Erlöser in diesen Tagen im Vergleich mit unserm übrigen Leben. Und wahrlich, | es ist nichts geringes das Bewußtseyn, das wir haben, daß an diesem Tage der größte Theil der Christenheit derselben Freude voll ist, daß an diesem Tage sie alles andre vergessen und von dem einen Gefühl, wie viel sie dem Erlöser und dem der ihn gesandt hat, schuldig sind, von dem einen Gefühl, daß, wie verschieden in irdischer Hinsicht [der Gang] ihres Lebens ist, alle aus dem einen Born der göttlichen Gnade in Christo schöpfen, von dem einen Gefühl durchdrungen sind, daß sie wollen alles für Schaden erachten, damit sie Christum gewinnen und behalten und daß alles, dessen der Mensch sich freuen kann schwindet, wenn er einmal dazu kommt, sich ganz der Freude in dem Herrn hinzugeben und daß alle des Wunsches voll sind, näher zu kommen dem herrlichen Ziele, welches der Apostel in unserm Texte aufstellt: alle Wege uns aus ganzem Herzen in dem Herrn zu freuen. Ja, M. th. F., wir fühlen es, in Beziehung auf alles, was im menschlichen Leben bedeutend ist, sey es Gutes oder Schlimmes, wir fühlen es, alles erscheint uns erhöht und verschönert, sobald wir es in Gemeinschaft mit unsern Brüdern begehen können. Wer sollte denn auch nicht diese Tage zu den herrlichsten rechnen, welche im Leben des Christen vorkommen? Ja warlich in zwiefacher Hinsicht, denn, M. th. F., wie groß auch die Anzahl der Menschen ist, die unter demselben Recht und derselben Ordnung befaßt werden können zu einem Ganzen, wie weit sich | auch das Band der menschlichen Liebe und Treue ausdehnen läßt, um recht viele unter sich zu verknüpfen, es hat doch noch nie ein so großes gegeben auf Erden, wie das Ganze derer, die sich zu dem Namen des Herrn bekennen. Wenn wir bedenken, wie die Brüder, die eins sind in der Liebe und im Glauben an den Erlöser, wie sie dennoch voneinander getrennt werden, wie sie oft bald im Leiblichen, bald im Geistigen gegeneinander treten, wenn wir bedenken, wie unmöglich es ist, daß wir uns auf Erden aus diesem Zwiespalt erretten, o wie muß es uns werth seyn in diesen Tagen zu wissen und zu fühlen, daß, wie sehr auch die Menschen getrennt sind, wie sehr auch die Gemüther von menschlichen Leidenschaften getrieben werden oft auch in guter Meinung, sie dennoch heute vereinigt sind in der einen Liebe zum Erlöser, zu fühlen, es giebt doch 13 der Gang] so SAr 51, Bl. 31v 15–16 Vgl. Phil 3,7–9
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Einen Tag der Freude und der Liebe, wo sich Freund und Feind, Bekannte und Unbekannte brüderlich die Hand reichen, Einen Tag, wo jeder Zwiespalt aus ihrem Herzen verschwindet, wie die kleinen Zwistigkeiten der Geschwister schwinden an den Tagen, wo sie das Geburtsfest des Bruders oder der Schwester feiern. So muß denn allerdings in der Freude des heutigen Tages etwas liegen, was wir in der gewöhnlichen | Freude am Herrn nicht haben und nicht genießen können. Aber wenn wir auf der andern Seite auf das Ausschließende sehen in den Empfindungen dieser Tage, so haben wir darin auch eine Reinheit und Ungetrübtheit der christlichen Freude, wie wir sie sonst nicht leicht genießen können; denn, M. F., ist es nicht so? oder sollte ich mich irren? Verschwindet euch nicht an diesem Feste der Erscheinung des Erlösers jedes bittre Gefühl? trocknet ihr nicht leicht die Thränen des noch frischen Schmerzes? Unterdrückt ihr nicht an diesem Tage der Freude alle trüben Bewegungen des Gemüthes, wo uns und allen christlichen Brüdern nur Ein Gegenstand gegeben ist, der uns beschäftigt? Und so gereinigt soll denn an diesem Tage unser Herz werden und vergnügt in das gewöhnliche irdische Leben zurückkehren, stärken soll uns die Freude, die wir empfinden, mit neuem festen Muth; befördern soll sie in uns die Ueberzeugung daß es am Ende nichts giebt, was die Menschen beseligen kann, als die Liebe zu Gott, den wir nicht anders kennen, als durch den Sohn und die Liebe zu ihm, den der Vater gesandt hat. Aber es ist noch ein drittes, was diese festliche Freude von der gewöhnlichen Freude in dem Herrn unterscheidet. | Auch diejenigen, die uns im Leben noch so werth sind und noch so nahe stehen, sie erscheinen uns nicht nur nicht immer in ihrem eigenthümlichen Wesen, sondern das Bild, was wir uns in einem Augenblicke von ihnen machen, weicht auf mancherlei Weise ab von dem Bilde, das wir uns zu einer andern Zeit entwerfen. Aber in solchen Tagen, wo wir ihrer ersten Erscheinung in der Welt gedenken, da stehen sie vor uns mit ihrer ganzen Geschichte, da freuen wir uns ihrer ersten Entwickelung, da denken wir mit Freude daran, wie ihr Leben so mußte gewendet werden und sich so mußte gestalten, um uns in das Verhältniß mit ihnen zu bringen, in dem wir jetzt stehen. So geht es uns auch mit dem Erlöser. Freuen wir uns seiner, so ist es weil wir ihn sehen jetzt lehren, dann strafen, jetzt begnadigen, dann warnen und selbst in den wenigen Augenblicken, wo wir uns in der That ganz und ungetheilt des Erlösers freuen, ist es doch immer in der unmittelbaren Beziehung auf das, was diesen Augenblick des Anschauens des Erlösers herbeiführt. Aber in diesen Tagen, wo wir sein Gedächtniß feiern, da steht er vor dem Auge unsres Geistes in seiner ganzen Geschichte, in seinem ganzen Daseyn mit 21 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22; Joh 1,18
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allem, was Gott durch ihn ausgerichtet hat auf der Erde und was er [noch] durch ihn verrichtet. Und hier ist besonders | zweierlei, was diesen Tag auszeichnet. Wir sind überzeugt, daß der Erlöser Fleisch und Blut geworden und in allen Stücken uns gleich gewesen ist, ausgenommen die Sünde. Aber dieses entfernte ihn auf eine gewisse Weise wieder von uns, deren gemeinschaftliches Loos es ist, unser Gemüth nicht überall von der Sünde fern halten zu können. Aber eben wenn wir den Erlöser in seiner ganzen irdischen Geschichte betrachten, so liegt darin etwas andres Tröstendes, was uns ihm wieder näher bringt. Es ist dieses. Ist er uns ungleich darin, daß er der Reine, Heilige, Vollkommene ist, dem wir uns nur annähern können durch den Streit des Geistes gegen das Fleisch, so ist er uns darin wieder ähnlich geworden, daß er auch vom Kinde allmählig gereift ist zum Manne. – Denken wir uns ihn in seiner ersten Erscheinung, so müssen wir sagen: es ist das erste menschliche Leben, welches bestimmt ist, die göttliche Herrlichkeit zu offenbaren, es liegt darin, so gewiß der Geist in dem neugebornen Kind ist, nur noch ruhend und schlummernd, so auch ruhte bei seinem ersten Erscheinen die göttliche Fülle im Erlöser und das Vermögen, in Worten und Thaten zu wirken. Dieses Vermögen hat sich in dem Erlöser erst allmählig gebildet, so wie er menschlicherweise sich überhaupt entwickelte von der Kindheit zur Reife des Daseyns und wenn er gleich | nie eines Kampfes bedurfte, so ist er doch auch, was er war, geworden durch das Leben selbst, durch Kraft, Uebung und Gewohnheit, durch die ruhig fortgehende allmählige Entwickelung, in der sich dann der göttliche Funke in dem verborgenen Leben entfaltete. Ja wohl, das ist gewiß eine der trefflichsten Seiten der Weihnachtsfreude. So nahe steht uns der Erlöser, nur die Sünde fehlt. Wachsen mußte er, wie auch wir, in der Entwikelung des leiblichen und geistigen Lebens. Wolan denn, M. th. F., wenn die Sünde uns betrübt, o dann ist es sein Verdienst, zu welchem wir unsre Zuflucht nehmen, dann ist es die Kraft der Erlösung, welche wir in Anspruch nehmen. Wenn es die Ungeduld ist, worüber wir seufzen, daß wir noch nicht zu einer höhern Stufe der Vollkommenheit gekommen sind, so laßt uns zu seiner Wiege hintreten, wie wenig er war in Beziehung auf seine äußere Kraft, als er auf der Erde erschien. Laßt uns ihn begleiten durch die verschiednen Stufen des Daseyns, bis die Stunde gekommen war, wo er sich reif fühlte, öffentlich aufzutreten, um das Reich Gottes zu verkündigen. Darum, M. F., ist die Freude der heutigen Tage um so größer, je stärker das Gefühl unsrer Unvollkommenheit ist. Und der Anblick des Kindes Christi, wie er sich erst entwickeln | soll und wie er geworden ist zur Heiligkeit und Gerechtigkeit, der tröste uns, wenn wir uns selbst im Zustand der Kindheit erblicken. Wie 1 noch] so SAr 51, Bl. 33r 3–4 Vgl. Hebr 2,14–18; 4,15
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er gewachsen ist, so werden wir durch seine Kraft, der wir uns hingeben, immer mehr wachsen und von einer Stufe der Vollkommenheit zur andern steigen. Aber dann ist es auch die Geschichte des Erlösers, seitdem er von der Erde entfernt ist, welche uns vor dem Auge des Geistes stehen muß, über wie viele sich schon das helle Licht des Evangeliums verbreitet hat, wie viele in dem Wort des Erlösers die Wahrheit gefunden haben, zwischen wie viele durch die Liebe zu ihm sich das Band der Liebe und Treue geschlungen hat, wie die kleine Schaar herangewachsen und gereift ist, wie das Licht, das von einem Punkte ausgegangen ist, sich verbreitet hat über so viele Völker und Geschlechter, wie das große Wort des Erlösers, daß nichts in der Welt, keine feindselige Macht im Stande wäre, seine Gemeine zu zertrümmern, sich durch alle Zeiten so herrlich bewährt hat. Wie mögen wir uns also nicht in jenem höhern Sinn zurufen: freut euch in dem Herrn alle Wege, ja freut euch eures Herrn, der alle die, welche Verlangen nach ihm haben, mit immer herrlicheren Gaben ausrüstet! freut euch in dem Herrn, der gekommen ist, uns frei zu machen durch die | Wahrheit! Freut euch in dem Herrn, daß ihr durch die Freude immer mehr stark werdet gegen die Widerwärtigkeiten des Lebens, freut euch dessen, der bis zu dieser Zeit sein Werk so herrlich hinausgeführt hat, freut euch alle Wege dessen, der gekommen ist, damit alle diejenigen, die ihn für ihren Herrn und Meister erkennen, Kinder des himmlischen Vaters werden und Gnade um Gnade immerdar aus seiner Fülle nehmen! Amen.
11–13 Vgl. Mt 16,18 Joh 1,16
17 Vgl. Joh 8,32
21–22 Vgl. Joh 1,12
22–23 Vgl.
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Am 26. Dezember 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
2. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Kol 1,16–17 Nachschrift; SAr 38, S. 265–279; Jonas Keine Nachschrift; SAr 46, S. 13–25; Jonas, in: Balan Nachschrift; SAr 51, Bl. 35r–40v; Jonas, in: Maquet Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 2. Weihnachtstag, den 26. Dec. 1817.
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Ehre sey Gott in der Höh’, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Amen. – 5
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Wenn wir, M. a. F., wie ich gestern schon davon geredet, in diesen feierlichen Tagen eine Freude an dem Erlöser in dem Innern unsres Gemüthes empfinden sollen, welche sich von der gewöhnlichen Freude am Erlöser dadurch unterscheidet, daß uns der Erlöser ganz und in jeder Beziehung vor Augen steht und für alles, was er uns geworden ist, der fromme Dank gen Himmel steigt; so wird uns dieses, wie alles Vollkommene dem Menschen fast unerreichbar ist, selbst in unsern gottesdienstlichen Versammlungen dadurch erschwert, daß eben die Schrift selbst sich in dieser Hinsicht zu der Unvollkommenheit des menschlichen Gemüthes herabläßt; denn wenn wir den Erlöser uns ganz vor Augen stellen wollen, so muß uns auch das Göttliche und Menschliche in ihm in einem und demselben Augenblick in einem und demselben Bewußtseyn vor Augen stehen. Aber man hat schon immer bemerkt, daß schon von den heiligen Schriftstellern einige mehr das Irdische, andre mehr das Göttliche vor Augen stellen. Wenn das auch nicht von den Schriftstellern im Ganzen gilt, so gilt es doch von jeder einzelnen Schriftstelle. Bleiben wir ganz bei demjenigen stehen, was das Irdische des Erlösers betrifft, so mögten wir in Gefahr kommen, ihm etwas zu entziehen, bleiben wir ganz bei dem stehen, was das Göttliche in ihm ist, so ist zu befürchten, daß die ganze Betrachtung leer wird und wir dadurch | verlieren, was uns Ruhe und Freude geben kann. Da ist nichts andres zu thun, als daß wir von dem Einen immer auf das Andre sehen und von diesem wieder zu jenem zurückkehren. Das müssen wir uns auch itzt, indem wir 2–3 Lk 2,14 als Kanzelgruß
4 Vgl. 25. Dezember 1817 nachm.
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nur eine Stelle der Schrift zum Leitfaden nehmen können, zumuthen, daß wir von dem Göttlichen auf das Menschliche im Erlöser und von diesem wieder auf das Göttliche zurücksehen. So nur können wir uns ganz seiner freuen. Tex t. Coloss. 1, 16.17.
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In diesen Worten, M. F., welche aus einer ausführlichen Verherrlichung des Erlösers am Anfange des Briefes entlehnt sind, giebt es einiges, welches wir nicht näher zum Gegenstande unsrer Betrachtung machen könnten, als wenn wir uns ganz von dem Irdischen und Menschlichen des Erlösers entfernen wollten. Wenn der Apostel sagt, alles sey durch den Erlöser erschaffen, so führt uns das zurück zu der Herrlichkeit, die er bei dem Vater hatte, wo er noch nicht uns gleich, unser Bruder geworden war. Wenn der Apostel sagt, er war vor allem, so entfernt uns das von dem Gedanken, wie er der Erde als Mensch gegeben wurde. Aber indem er hinzufügt: es ist alles zu ihm geschaffen und es besteht alles in ihm, so mögen wir dabei vorzüglich das Menschliche des Erlösers im Auge behalten; aber wir werden fühlen, daß das | nur gesagt werden konnte, wie fern das Göttliche und Menschliche Eins in ihm war. So laßt uns denn den Erlöser verherrlichen in dieser zwiefachen Hinsicht 1. daß er derjenige ist, zum dem, d. h. für welchen alles geschaffen ist. 2. daß er derjenige ist, in dem alles besteht, d. h. in dem und durch welchen alles ist zu seiner Ruhe gekommen. Beides laßt uns erwägen mit christlicher Aufmerksamkeit. I. Wenn der Apostel zuerst sagt, unser Heiland sey es, zu welchem, für welchen alles geschaffen sey, so stellt er uns in ihm den Mensch gewordenen Sohn Gottes vor als das eigentliche Ende und Ziel der ganzen Schöpfung, so weit wenigstens wir dieselbe verstehen und sie sich auf uns bezieht, denn dabei bleiben wir billig stehen. Was lesen wir aber? In jenen alten Urkunden, in welchen von der Schöpfung der Welt, von dem Anfang [des] Himmels und der Erde die Rede ist, da erscheint uns allerdings der Mensch als das eigentliche Ziel und Ende der Schöpfung. Nachdem alles andre gemacht war, wird Gott redend eingeführt: laßt uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sey. Da ward der Mensch geschaffen, daß er Herr sey über alles | Gewordene, daß in dem Menschen, so weit es möglich war, sich sein Ebenbild darstelle, und als Gott ihn geschaffen, wird er redend eingeführt, und der Herr sah alles an und sprach: es ist alles gut. Und nun ruhte er von seinen Werken und die Schöpfung der Welt war vollendet. Und davon können wir auch nicht lassen. Es ist das innerste Gefühl unsres 6–7 Vgl. Kol 1,12–20
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Lebens, daß alles für den Menschen da ist, daß er der Statthalter Gottes ist auf Erden, und daß durch ihn erst alles einem höhern Zwecke dienen soll. Aber, M. F., betrachten wir den Menschen, wie er nun war von Gott dem Herrn gemacht, so müssen wir gestehen, Eines fehlte ihm und er konnte es nicht gewinnen, ohne etwas andres zu verlieren, die Erkenntniß des Guten und Bösen, und sie war ihm untersagt, wenn er nicht ein andres, die kindliche Unschuld verlieren sollte. Und es war seine Bestimmung und der ewige Wille des Höchsten, daß er gewinnen sollte die Erkenntniß des Guten und Bösen, aber nicht ohne daß jene Unschuld verloren ginge, nicht ohne daß das Böse in seine eigne Seele hineintrat und sich so in derselben fortbildete und fortpflanzte, daß wir alle, die wir nur geboren werden auf Erden zur | Erkenntniß des Guten nicht anders gelangen können, als durch das Böse, welches in uns ist. War nun noch der Mensch das Ende und das Ziel der ganzen Schöpfung? war sie für denjenigen da, der nun mit sich selbst in Zwiespalt gerathen war? konnte der nun die ganze Welt beherrschen, dessen Gedanken sich untereinander selbst verklagten und entschuldigten? konnte der der Statthalter Gottes seyn, dessen Herz nun aus jener kindlichen Unschuld gerissen, ein trotziges Ding auf der einen Seite geworden war, und ein verzagtes auf der andern? Nein, und nachdem die weitere Entwickelung des Menschen diesen Gang genommen hatte, müssen wir es fühlen, daß der Ewige jene Worte, daß alles gut sey, daß der Mensch nach seinem Ebenbilde geschaffen sey, nicht hätte sprechen können, als nur in Beziehung auf den, der mit demselbigen Rechte, womit er sagte: ehe Abraham war, war ich, auch sagen konnte; ehe Adam war, war ich, als nur in Beziehung auf denjenigen, durch welchen wie allein die menschliche Natur zur wahren Vollendung kommen konnte, so auch alles andre für seine eigentliche Bestimmung mußte gemacht seyn. Der Mensch, wie er war, ausgeschlossen von dem Genuß des Lebens, im Besitz der Erkenntniß des | Guten und Bösen, aber immer wie unvollkommen, eben weil nun in ihm der Gegensatz des Guten und Bösen lebendig geworden war, eben weil zwar das Gute in ihm war, aber nicht ohne durch das Böse getrübt zu werden, das Böse zwar war, aber nicht ohne einen Schimmer des Guten, der Mensch, sage ich, so konnte nun aus eigner Kraft und durch die allmählige Fortschreitung sich nicht wieder zu jenem Ziele verhelfen, das Ende der ganzen Schöpfung zu seyn, sondern es fehlte noch eine lebendige Kraft, die in die menschliche Natur, in die irdische Kraft aufs Neue mußte eingepflanzt werden, es fehlte der, welcher das Gute in sich trug als das reine Wort des Vaters, welcher nicht nur die Erkenntniß desselben in sich trug, sondern dem er die lebendige Kraft des ganzen Daseyns war, derjenige, der das Böse nicht in sich selbst noch aus sich selbst kannte, sondern nur, weil es 3–9 Vgl. Gen 2,17; 3,1–24 38 Vgl. Joh 14,24
21–22 Vgl. Gen 1,27
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ihm von außen gegeben war als der Widerspruch des Heiligen in ihm. Der allein ist es, den wir ansehen können als das Ende und Ziel der ganzen Schöpfung. Seitdem Er da ist, ist alles vollendet. Allein ihr werdet sagen: warten wir denn nicht noch immer eines neuen Himmels und einer neuen Erde? ist denn seitdem der Erlöser erschienen die | Welt vollendet? sollen wir nicht selbst in seinem Dienste an dem irdischen Reiche Gottes bauen? und indem wir bauen[,] uns doch noch sehnen nach einem höheren und vollkommneren Vaterlande? Ja, M. F., so ist es. Gebaut soll es noch werden das Reich Gottes auf Erden, der Erlöser selbst hat nur den ersten Grund dazu gelegt und alle die auf diesem Grunde weiter bauen hat er berufen zu seinen Dienern, aber es kann auch nur daran bauen, der die Kraft des Erlösers in sich fühlt, der sein eignes Leben aufgegeben hat und in ihm ein neues begonnen. Aber eben deswegen, weil die lebendige Kraft, durch welche sich alles entwickeln soll, durch ihn und in ihm da ist, ist er das Ende und Ziel alles Erschaffenen; und so dürfen wir auch sagen: was wir erwarten, wornach wir uns sehnen, es ist nichts, was noch durch eine uns immer unbekannt gebliebene Kraft Gottes brauchte gewirkt zu werden, sonst wäre es ja nicht wahr das große Wort der Schrift, daß wer in Christo ist, eine neue Creatur geworden ist, sondern wornach wir uns sehnen, es ist nur die Vollendung des reinen und ungetrübten Lebens in ihm und mit ihm, in welchem alles Irdische verklärt seyn wird, der neue Himmel und die | neue Erde brauchen nicht erst zu kommen, sondern sie sind schon da, so gewiß das Wort des Erlösers wahr ist: wer an mich glaubt, der hat schon das ewige Leben, nicht er wird es erst bekommen. Und sehen wir uns nur um in der Schöpfung, so müssen wir sagen: ja seinem Wesen nach besteht schon das geistige Reich Gottes; keine Liebe, kein Glaube, kein Geist darf mehr in das menschliche Herz kommen, als der schon da ist, alle Kräfte sind gegeben, aus denen sich dieses Reich bauen soll und wodurch sind die Seligen selig, als durch die Liebe, durch den Glauben, der die Welt überwindet, durch das geistige Anschauen Gottes und des Erlösers, zu dem ein jeder schon jetzt sich erheben kann? Aber nicht nur das Reich der Gnade ist vollendet, sondern auch die ganze Natur, welche mitseufzte unter dem Fall des Menschen, auch sie hat das Ziel wiedergefunden, auch sie erscheint wieder der schöne Garten Gottes, in welchem alles zum höhern, ungestörten Genuß wächst und blüht und wozu der Mensch den Zugang wieder gewonnen hat, den er verloren hatte; denn diejenigen, für welche alles Irdische keinen Sinn hat, als daß es dem Himmlischen diene, die beherrschen auch alle Dinge nach dem Willen Gottes | für die giebt es auch keinen Widerstreit zwischen den Kräften der Natur und des Geistes. Natur und Gnade, alles ist Eins, aber nur durch ihn und für ihn. 4–5 Vgl. 2Petr 3,13 9–10 Vgl. 1Kor 3,11 18–19 Vgl. 2Kor 5,17 Joh 5,24; 6,47 32 Wohl Anspielung auf Röm 8,22
23–24 Vgl.
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II. Der Apostel stellt uns den Erlöser zweitens dar als denjenigen, in welchem alles besteht, fest geworden und zu seiner Ruhe gekommen ist. Gehen wir auch, indem wir diese Worte erwägen, zu der ursprünglichen Geschichte der Welt zurück, so wird uns auch da gesagt, der Höchste habe geruht von seinen Werken nach vollendeter Schöpfung der Welt. Das war die erste Ruhe; nachdem die Kräfte der Natur sich gestaltet hatten, nachdem die Welten in ihren ewigen Gesetzen angefangen zu kreisen, sich zu bewegen und jede das Maaß und die Kräfte zu entwickeln, welche der Herr in sie gelegt hatte, da war Ruhe, gesetzmäßiges Leben in Regel und Ordnung zusammengebracht. Wer hat die Ruhe gestört? Der Mensch hat sie gestört in dem ganzen Umfange seines Daseyns, weil er selbst sich seinerseits von dem Gesetz Gottes entfernte. Und seitdem er das gethan hat, ist er so tief verwickelt in die Unruhen | daß man es sogar für einen Vorzug gehalten hat, daß sein Leben frei sey von Ordnung und vorherbestimmtem Gesetz und daß alles von seiner Willkür ausgehe. Ja wol ein unruhiges Leben und Treiben war das ganze Leben der Menschen vor der Erscheinung des Erlösers und konnte nichts andres seyn. Von Gott sich entfernend und ihn wieder suchend, nicht im Stande, die Stimme im Innern zu übertäuben, aber auch nicht im Stande, ihr zu folgen, einsam und allein gingen alle, jeder in der Irre, ihren eigenen Weg wie die hirtenlosen Schaafe; und sehen wir erst auf das Gebiet der Begierde und Leidenschaften, welches den Menschen einem niederen, tief unter ihm liegenden Gesetz ergeben hatte, was kommt uns da entgegen, als Unruhe? Ja, M. F., das darf nicht weiter ausgemahlt werden, es ist dasjenige, was wir alle tief in unserm Innern tragen. Aber eben, weil auch unser eignes Gemüth und Leben davon zeugt, hat der Apostel Recht zu sagen, der Erlöser sey der, in welchem alles wieder fest geworden und zur Ruhe gekommen sey? | Sagt der Erlöser nicht selbst, er sey nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwerd? Dessungeachtet können wir das Gefühl nicht unterdrücken, welches vor allen andern Namen ihn begrüßt als den Fürsten des Friedens. Indem dieser am weitesten entflohen war, indem das ganze Leben der Menschen nur schien in Krieg, Haß, Zerstörung zu bestehen, da ward der Fürst des Friedens geboren, da kehrte dieser schon mit dem ersten Athemzuge des Erlösers zurück. Das ist wahr, das ist das einzige wahre Wort des Lebens und eben so wahr im Großen, als wir sagen müssen, daß der Mensch in dem Augenblick, wo er sich dem Erlöser hingiebt, den Frieden seiner Seele erhält. Aber sein Wort ist auch wahr, daß er nicht gekommen sey, den Frieden zu bringen, sondern das Schwerd, daß auch nach ihm der Bruder seyn werde ge5–6 Vgl. Gen 2,2–3 27–28 Wohl Anspielung auf Hebr 4,1–11 29 Vgl. Mt 10,34 31 Vgl. Jes 9,6 38–39 Vgl. Mt 10,34 39–1 Vgl. Mt 10,21; Mk 13,12
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gen den Bruder; aber was ist es anders, als der Kampf gegen den, dem des Menschen Sohn den Kopf zertreten, was ist es anders, als die letzten Zuckungen jenes ruhelosen Lebens, welches dem Erlöser voranging? Denn giebt es etwas was unser Gemüth unruhig bewegt, wofür nicht alle Schlichtung, alle Erlösung in dem Erlöser | gegeben wäre? Ist der Mensch mit sich selbst im Streit, schwankend zwischen dem Gefühl der Vergebung und des Erlöstseyns und der Sünde, die noch in ihm ist, o so ruft der Erlöser ihm zu: „wer einmal gewaschen ist, der darf den Staub von seinen Füßen wischen und er ist ganz rein“ und dann fühlt sich die Seele ruhig und froh. Streitet der Geist gegen das Fleisch, o so ruft uns der Erlöser zu: „kommt her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seyd, ich will euch erquicken“ und indem die treue Seele dies hört, fühlt sie sich beruhigt. Ist der Mensch zerrissen durch die verschiedenen Bestrebungen im Leben, weiß er oft nicht die Grenzen des Irdischen und des Himmlischen, so ruft der Erlöser ihm zu: „gieb dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ und so ist das Gemüth beruhigt. Streiten mancherlei verschiedene Ansichten im Menschen über das was Recht ist und Gott gefällig, was wahr ist und falsch, so ruft der Erlöser ihm zu: „in der Welt habt ihr Angst, aber ich habe die Welt überwunden; der Glaube überwindet die Welt, folgt mir nach, ich bin der | Weg und das Leben“ und die gläubige Seele fühlt zwar, daß sie immer suchen muß, aber sie fühlt doch auch, daß sie gefunden hat und noch immer mehr finden wird, sie fühlt, daß der Glaube siegt und nie aufhören kann zu siegen. Und in diesem Fortschreiten des gemeinsamen Reiches Gottes auf Erden hat die Welt den Frieden gefunden. Ja es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes und auch diese ist nicht etwas Künftiges, der Fürst des Friedens hat sie gebracht, sie ist da. Lebt nur als Reben von ihm dem Weinstocke und ihr werdet fühlen, daß die Ruhe und der Frieden schon hier auf Erden ist für jeden, der Ihn hat und nicht läßt. Ja so hat er wiedergebracht alles was verloren gegangen war, so ist in ihm diese Welt, dieser Tempel der göttlichen Anbetung vollendet worden, so ist durch ihn in der Seele der Menschen Ruhe und Friede wiedergekehrt. O laßt uns nie ein andres Ziel suchen, als was in ihm gegeben ist! Laßt uns nichts andres seyn wollen, als Glieder an dem Leibe, wovon er das Haupt ist! wolltet nur selbst kein eignes Leben haben, sondern es in ihm suchen, so werdet ihr es nicht nur wiederfinden, sondern ihr habt ein göttliches Leben in ihm gefunden. Und diesem Gefühl, | daß wir in ihm haben, was wir wünschen, daß schon hier wir Besitzer jenes Erbtheils sind, daß schon hier der Himmel ist, seitdem er erschienen ist, ja in diesem Gefühl laßt uns Preis und Anbe1–2 Vgl. Gen 3,15 8–9 Vgl. Joh 13,10 10–11 Vgl. Mt 11,28 15 Vgl. Mt 22,21; Mk 12,17; Lk 20,25 18–19 Vgl. Joh 16,33 19– 20 Vgl. Joh 14,6 24–25 Vgl. Hebr 4,9 26–27 Anspielung auf Joh 15,5 33 Vgl. Eph 4,15–16
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tung bringen Gott, der seinen Sohn gesandt hat, zu retten das verlorne Geschlecht der Menschen. Ja barmherziger Gott und Vater, wir fühlen es, was wir seyn würden ohne ihn. Aber Preis und Dank sey dir, daß du uns durch ihn den Sieg gegeben hast, daß durch ihn das Leben wiedergegeben ist, dein Geist wieder ist verbreitet worden und durch den Glauben, der durch ihn geweckt ist, die Welt und das Fleisch überwunden. Aber es seyen auch dankbare Hirten dem Dienst deines Sohnes ergeben, denn was er auf der Erde zu leisten bestimmt war, konnte nicht anders geschehen, als indem sich Menschen seinem Dienste weihten und auch jetzt nachdem er erhöht ist von der Erde, würdigt er uns sein Reich weiter zu bauen, wie er uns sein Wort hält, daß er mitten unter uns seyn will. O so verleihe uns Gnade, daß auch er immer vor unsern Augen sey, daß wir immer nehmen aus seiner Fülle Gnade um Gnade, daß wir werden ein dir wohlgefälliges Volk. Dazu laß gesegnet seyn den Unterricht der Jugend und an allen | Herrn und Fürsten der Völker schaffe dir Pfleger und Versorger für deine Gemeine. Auch uns in unserm stillen Beruf laß gesegnet seyn für dein Reich auf Erden, daß es keinem fehle an dem Zeugniß eines guten Gewissens vor dir, daß auch wir dein Reich gebaut und deinen Sohn verherrlicht, laß uns immer mehr leben des fröhlichen Glaubens, daß denen die dich lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Darum rufen wir dich an in dem Gebet deines Sohnes: Unser – Amen.
[Liederblatt vom 26. Dezember 1817:] Am zweiten Weihnachtstage 1817. Vor dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] O Jesu Christ, dein Kripplein ist / Mein Paradies, da meine Seele weidet, / Hier ist der Ort, hier liegt das Wort / In unser Fleisch persönlich eingekleidet. // [2.] Du höchstes Gut hebst unser Blut / In deinen Thron, hoch über alle Höhen! / Du ew’ge Kraft machst Brüderschaft / Mit uns, die wir wie Rauch und Dampf vergehen. // [3.] Drum frommer Christ, wer du auch bist, / Es kann nicht anders sein, Gott muß dich lieben; / Weil Gottes Kind dich ihm verbündt, / So fasse Muth, und laß dich nichts betrüben. // [4.] Betracht es doch, wie herrlich hoch / Er über allen Jammer dich geführet; / Der Engel Heer ist selbst nicht mehr, / Als eben du, mit Seeligkeit gezieret. // [5.] Du siehest ja vor Augen da / Dein Fleisch und Blut die Luft und Wolken lenken, / Was will doch sich, ich frage dich, / Erheben, dich in Angst und Furcht zu senken. // (Paul Gerhard.) 1 Vgl. Joh 3,17; 1Joh 4,9.10.14 2 Vgl. Lk 19,16 11 Vgl. Mt 18,20; 28,20 12–13 Vgl. Joh 1,16 19–20 Vgl. Röm 8,28 21 Gemeint ist das Vaterunser.
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Nach dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Ermuntre dich mein schwacher Geist, / Und trage groß Verlangen, / Das Kind, das dein Erlöser heißt, / Mit Freuden zu empfangen. / O heil’ge Nacht, darin es kam / Und menschlich Leben an sich nahm, / Die Welt mit wahren Treuen / Als seine Braut zu freien. // [2.] Willkommen, süßer Bräutigam, / Du König aller Ehren! / Willkommen Jesu Gotteslamm, / Ich will dein Lob vermehren. / Daß du erschienst, du starker Held, / Der alles schuf und alles hält, / Der Freund der Menschenkinder, / Des Todes Ueberwinder. // [3.] O Herr! wie konnt es immer sein, / Dein Himmelreich zu lassen, / Zu kommen in die Welt hinein, / Da nichts denn Neid und Hassen. / Sohn Gottes, o wie hast du dich / Erniedriget und ward’st wie ich! / Wie kannst du meinetwegen, / Den Zepter von dir legen. // Chor. Siehe Finsterniß bedecket das Erdreich und Dunkel die Völker! Aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir. // Eine Stimme. Ja deine Augen haben den Heiland gesehen, welchen Gott bereitet hat vor allen Völkern. // Chor. Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß: Gott ist offenbaret im Fleisch. // Gemeine. [4.] O großes Werk, o Wundernacht, / Dergleichen nie gefunden, / Du hast den Heiland hergebracht, / Der alles überwunden! / Hier kommt als Kind der Wundermann, / Der Feur und Wolken hemmen kann, / Der stark die Hölle zwinget, / Den Sündern Friede bringet. // [5.] O liebes Kind, o süßer Knab, / Holdselig von Geberden! / Mein Bruder den ich lieber hab’ / Als alle Schätz auf Erden! / Komm schönster in mein Herz hinein, / Komm laß es deine Wohnung sein! / Ich will mich ganz verschreiben, / Dir ewig treu zu bleiben. // (Rist.) Unter der Predigt. – In eigener Melodie. [1.] Lobt Gott ihr Christen allzugleich, / In seinem höchsten Thron, / der heut aufschleußt sein Himmelreich, / Und schenkt uns seinen Sohn! // [2.] So schleußt er wieder auf die Thür / Zum schönen Paradeis. / Der Cherub steht nicht mehr dafür. / Gott sei Lob Ehr und Preis. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Du Vater aller Gnaden, / Gelobt seist du für deinen Sohn / Er wendet meinen Schaden, / Und hilft mir herrlich nun davon. / Er schreibt mich in den Orden / Der Auserwählten ein, / Und ist mein Bürge worden, / Ich will sein Diener sein. / Ihm reich ich nun mein Herze / Zum schwachen Ehrensold, / Ich weiß von keinem Schmerze, / Ist mir mein Jesus hold. //
Am 28. Dezember 1817 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Sonntag nach Weihnachten, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 3,8–11 Nachschrift; SAr 38, S. 281–288; Jonas Keine Nachschrift; SAr 44, S. 7–15; Jonas, in: Balan Nachschrift; SAr 40, Bl. 3v–4r; Jonas Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 28. Dec. 1817. Die Gnade cet.
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M. A. F. Es ist heut der letzte Tag unsrer großen christlichen Gottesverehrungen in dem laufenden Jahre. Zwar liegt der letzte Tag unsres kirchlichen Jahres schon hinter uns, aber da dieser seit einiger Zeit bei uns dem Andenken derer, die uns der Herr hinweggenommen hat, gewidmet ist, so werden wir mit allem, was im Allgemeinen diejenigen Empfindungen betrifft, mit welchen wir bei einem merkwürdigen Zeitabschnitte in die Vergangenheit zurücksahen, auf das Ende des bürgerlichen Jahres hingewiesen. Es ist allerdings gewiß, daß in dieser Beziehung keine völlige Uebereinstimmung seyn kann; dem Einen ist überhaupt mehr Erfreuliches, dem andern mehr Niederschlagendes in dem Laufe des Jahres begegnet. Darauf nun, was in einem jeden ein andres ist, können wir uns freilich in unsern gemeinschaftlichen Betrachtungen nicht einlassen, aber es bleibt, davon abgesehen, des Gemeinsamen noch genug übrig. Alle, M. a. F., die es mit ihrem irdischen Leben ernsthaft meinen, haben einen bestimmten Zweck vor Augen, wollen irgend etwas Ernstliches und trachten darnach mit allen Anstrengungen ihrer Kräfte. So ist im Allgemeinen das Reich Gottes der große gemeinsame Gegenstand unsrer Bestrebungen, aber im Laufe der Zeit, in den Verwicklungen der menschlichen Dinge gehen uns andre Zwecke aus dem großen Einen Zwecke, einzelne Theile aus dem Allgemeinen hervor, für die wir ebenfalls mit einem frühen Eifer entbrannt sind. Wie kann es fehlen, wenn wir einen neuen Abschnitt unsres Lebens anfangen, daß wir erwägen, wie viel wir wol von unsern guten Absichten erreichen mögten? wie kann es 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
4–6 Gemeint ist der Totensonntag.
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fehlen, wenn ein solcher Abschnitt vorübergegangen ist, daß wir nicht einiges sollen erreicht, andres noch ungewiß hinter uns gelassen haben. Was das erste betrifft, so ist die Dankbarkeit gegen Gott, der uns unterstützt hat das, was wir gemeinsam empfinden; aber was das andre betrifft, die Erwägung, daß so manches, was wir gewollt und gewünscht haben, noch nicht erfüllt ist, darüber gehen die Gedanken und Empfindungen der Menschen mehr auseinander, dabei giebt es mancherlei Abwege zu vermeiden, wenn wir uns nicht an Gott versündigen wollen. Allein es ist in dieser Beziehung das Zurücksehen in die Vergangenheit und das Hinausschauen in die | Zukunft so unzertrennlich, daß nur das, was ich heut euren christlichen Gemüthern zu bedenken gebe und was ich, wenn wir das neue Jahr anfangen, zu sagen habe, nur als Ein Ganzes kann angesehen werden. So laßt uns unsre heutige Betrachtung dem widmen, daß wir in dieser Beziehung, indem wir alle auf die Vergangenheit zurückschauen, unsre Gedanken und Empfindungen vor Gott dem Herrn zu vereinigen suchen.
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Tex t. Hebr. 3, 8–11. Diese Worte, M. a. F., sind ihrem Wesen nach eine Ausführung aus einem der Psalmen, in welchem Gott als redend eingeführt wird und welche der Verfasser dieses N.T. Briefes benutzt, um die Christen, an welche er schreibt, in die richtige Stimmung des Gemüthes zu versetzen in Beziehung auf das, was ihnen begegnet war und bevorstand. Diejenigen, welche damals den Glauben an den Erlöser annahmen, müssen sich mehr oder weniger losreißen aus allen ihren bisherigen Verhältnissen und den gewohnten Gang des Lebens verlassen; ein herrliches Ziel für alles dasjenige, was sie zu thun und zu leiden hatten, war ihnen vorgesteckt in dem Bilde desjenigen vollkommenen und höchst wünschenswerthen Zustandes der Menschen, welcher eintreten werde, wenn der Herr sein Reich vollkommen aufrichten werde. Aber bis dahin befanden sie sich mancherlei Widerwärtigkeiten, ja den schwersten Gefahren ausgesetzt und die Hoffnung, der sich ein großer Theil derselben hingab, als ob der Tag des Herrn bald kommen werde, rückte sich immer weiter hinaus. Da konnte wol der Verfasser des Briefes, indem er sie in diesem Zustande ermuthigen wollte, ihnen kein besseres Bild vorhalten, als das ihrer Vorfahren, der Kinder Israels. Auch sie hatten sich aus einem nicht ehrenvollen Zustande losgerissen, auch sie harrten auf die Erfüllung einer göttlichen Verheißung, ein glücklicherer und würdigerer Zustand war ihnen vor Augen gestellt; aber indem die Erfüllung dieser Verheißung zu lange zögerte, ließen sich viele zu einer unzufriedenen Stimmung gegen Gott und seinen Willen verleiten, welche dasjenige göttliche Urtheil 19 N.T.] Abk. wohl für neutestamentisch 18 Vgl. Ps 95,7–11
34–35 harrten] hartten
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nach sich zog, wovon in den Worten unsres Textes die Rede ist. Aber eben dieses Bild, welches für die damaligen Christen so angemessen war, ist es auch jetzt noch für einen jeden unter uns in dem Maaße, mag er nun in einem engern oder größern Kreise für das Reich Gottes zu wirken haben, als er in demselben Zustande unerfüllt gebliebener Erwartungen sich befindet; und wem unter uns mögten denn nicht, wenn wir zurücksehen auf das vergangene Jahr, Erwartungen, die er in seinem Gemüthe hegte, unerfüllt ge|blieben seyn? So laßt uns denn fragen, wovor wir uns in diesem Zustande unerfüllt gebliebener Erwartungen vorzüglich zu hüten haben? Wir finden dies in den 2 Sätzen unsres Textes vorzüglich ausgedrückt, wenn der Herr sagt 1. sie irren in ihrem Herzen, 2. sie wollen meine Wege nicht verstehen lernen. Beides laßt uns näher zum Gegenstande unsrer Betrachtung machen. I. Sie prüften mich und sahen meine Werke 40 Jahre lang, spricht der Herr, aber immerdar irren sie in ihren Herzen. Das wird jeder von uns, M. a. F., gewiß so verstehen: immer sind ihre Wünsche und Bestrebungen auf das Unrecht gerichtet und alles, was der Herr ihnen Gutes gethan hat, vermag es nicht, sie von ihren Irrwegen abzuführen. Als der Herr den Moses berief, um sein Volk aus Aegypten auszuführen und dieses sich an ihn anschloß, so müssen wir, M. a. F., vorzüglich 2 Bewegungsgründe anführen, die zusammenwirkten in ihnen, daß sie sich an den von Gott gesandten Führer anschlossen: 1. den Gedanken der augenblicklichen Noth und das drückende Verhältniß, in welchem sie sich befanden. Wer unter jenem Volke, welches sich in so mancher Hinsicht gedrückt fühlen mußte von demjenigen, in dessen Gewalt es gegeben war, wer hätte dieses Gefühl nicht theilen sollen? wer unter ihnen hätte nicht bereit seyn sollen, dem zu folgen, der von Gott gesandt war, um sie zu befreien aus diesem Zustande? Aber wir müssen auch 2. annehmen, daß etwas Höheres hinzukam; denn wenn wir bedenken, wie schwer es war und wie unwahrscheinlich, daß das Volk in seinem hülflosen Zustande sich aus der Gewalt eines viel mächtigeren, stets gerüsteten Volks, von dem es in jedem Augenblicke beobachtete wurde, gänzlich würde losreißen können; dann mußte allerdings, wenn eine verständige Hoffnung zur Befreiung da seyn sollte, noch etwas andres sie beseelen und das war gewiß das gläubige Gefühl von einer besondern göttlichen Fügung, die Ueberzeugung, daß ein höhrer Ruf an den ergangen sey, der sich mit Unerschrockenheit hinstellte, um das Volk aus seinem Elende zu befreien. | Beides hat gewiß zusammengewirkt und auch das letzte nie ganz gefehlt. Aber wenn im Verfolg das Volk immer wieder in seinem Herzen irrte, woran kann das gelegen haben? Wenn wir uns dasjenige wiederholen, was die 19–20 Vgl. Ex 3,1–4,17; 6,2–13
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Geschichte von jenem Zustande sagt, so ist es zuerst dieses: daß unter Entbehrungen mancherlei Art, unter Widerwärtigkeiten und beständigen Kämpfen, die das Volk nach seinem Auszuge erfuhr, gar viele anfingen, es sich leid seyn zu lassen, daß sie jenen Zustand, wenn er gleich ein unwürdiger war, verlassen hatten, indem diejenige Sicherheit, die ihnen noch übrig gelassen war und die ungestörte Befriedigung der ersten und nothwendigesten Bedürfnisse des Lebens ihnen etwas wünschenswertehes war gegen die beständige Unruhe und Noth ihres damaligen Zustandes. Allerdings mögen die meisten von denen, die Moses folgten, gehofft haben, eine kurze Anstrengung werde sie ans Ziel führen; nun sich das verlängerte, wurde es deutlich, daß in allen denen, welchen es leid that, das Land der Knechtschaft verlassen zu haben, allerdings der Wunsch, aus dem harten Drucke befreit zu werden, vorzüglich auf sie gewirkt hatte und wir sehen, daß der Glaube an eine göttliche Fügung, daß das Vertrauen auf den, der das große Werk begonnen, sich nicht in ihrem Gemüthe hatte halten können gegen das Gefühl des Elends. Was ist, M. F., davon der Grund, wenn wir doch annehmen müssen, daß auch in ihnen der bessre Bewegungsgrund, einem göttlichen Berufe zu folgen, nicht ganz gefehlt hatte? Es liegt in der Trägheit der Menschen, in dem Mangel an Beharrlichkeit, in derjenigen Eigenschaft der menschlichen Natur, vermöge derer der Mensch sich leichter auf eine kurze Zeit der größten Gefahr aussetzt, als daß er auf längere Zeit beständig kleinen, aber sich immer wieder erneuernden aussetzt. Ja, M. a. F., wer sich denn nicht von dem Zurücksehen in die Vergangenheit leiten läßt, der kann nicht anders, als in seinem Herzen irren, der kann nicht anders, als immer mehr von dem höhern Berufe abgezogen werden, als immer nur das Irdische im Auge behalten und darnach abmessen, wie er selbst wünschen und thun soll. Aber je mehr wir uns dem hingeben, je mehr es uns leid thut, die ersten, schwersten Schritte gethan zu haben, um zu einem bessern Zustand zu gelangen, weil das Ziel sich immer weiter entfernt, um desto mehr werden wir uns hingeben einem irdischen, verkehrten Sinne; wer sich aber dem hingiebt, ist nicht würdig zu der verheißenen Ruhe zu kommen, denn durch das bloße Bestreben irdische Noth abzuwenden, durch das bloße Streben nach einem irdisch ange|gesehenen Zustande wird das Gute nicht gewirkt und wenn es auch bewirkt werden sollte, so kann es doch mit solchem Sinne nicht lange bestehen. So laßt uns denn uns hüten, daß wir nicht auf dieselbe Weise, wie das Volk Israel in unserm Herzen irren, daß wir uns nicht leid seyn lassen, was wir nicht ohne einen höhern Beruf gethan haben und laßt uns niemals das Ziel, welches uns eben die göttliche Berufung vorhält, aus den Augen verlieren. Zu andrer Zeit aber, M. F., wo das Volk nicht zurücksehen konnte nach dem Wohlleben des Aegyptenlandes, wo es aber, als es die Noth und die ausgestandenen Kämpfe in sein Gedächtniß zurückrief, meinte, Gott der Herr hätte ihnen dies ersparen können, er hätte es längst zu dem Ziel seiner
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Wünsche führen können, sagt der Herr: sie prüften mich und sahen meine Werke 40 Jahre lang und doch irren sie in ihrem Herzen. Wenn uns auf dieselbe Weise vielleicht nicht gerade leid thut, einen Zustand der Knechtschaft verlassen zu haben, aber wir um der Hoffnung willen, die in uns aufgelebt war, in einen bessern Zustand zu kommen, schon vieles gethan und erduldet haben und dieses alles für überflüssig und vergeblich halten, so irren wir uns auf eine gefährliche Weise in unserm Herzen. Und was ist der Grund davon? was anders, als daß das thörichte menschliche Herz sich ein Verhältniß der irdischen Welt denkt, welches gar nicht statt finden kann, daß es glaubt, dasjenige, was in der That dem Menschen zum Heil gereicht, sey auf eine leichte Weise ohne bittere Erfahrung und ohne schwere Prüfung zu erlangen? So ist es nicht, M. th. F., Und in der That, es bedarf nichts als einen Blick in unser eignes Herz, als ein reines Auffassen unserer eigenen persönlichen Erfahrung, um uns davon zu überzeugen; denn wollten wir das leugnen, daß die Verbesserung unsers eignen Gemüthes unsre Reinigung von dem Bösen, daß unser Fortschreiten in der Erkenntniß jeglicher Art ohne Mühe und Anstrengungen gewesen ist? Und ist dieses nicht, so laßt uns fragen: ist denn alles Gute, was wir hoffen, andrer Art? suchen wir etwas andres, als eben so ein Inneres? wird sich dasjenige, was allein würdig ist, das Ziel menschlicher Wünsche und Anstrengungen zu seyn, als ein äußeres darbieten? Wer das meint, der irrt in seinem Herzen und in dem ist keine Lust zu Anstrengungen, ohne welche das Innere, das wahrhaft Gute nicht erreicht werden kann, und eben so auch der, welcher das gemeinsame Gute, die Besserung und Heiligung der Menschen nur so als ein Inneres ansieht, daß es auf eine leichte Weise erreicht werden könne, daß es nur davon abhänge, wie Gott die äußeren Fügungen des Lebens leite. Aber das ist der gefährlichste Leichtsinn des menschlichen Herzens, das sich so nicht täuschen läßt durch äußere Hoffnungen, weil das heilsame Gleichgewicht im Gemüthe nicht hergestellt ist zwischen dem höheren und niederen Triebe, weil jener nicht die Herrschaft über diesen erlangt hat, weil jedes Gemüth seinen eignen Weg in die Irre geht. | II. Und damit hängt zusammen das 2te, was in den Worten unsres Textes enthalten ist. Sie prüften mich und sahen meine Werke 40 Jahre lang und daher wollten sie meine Wege nicht verstehen. Wenn wir auf die besondre Begebenheit sehen, welche dies Murren des Volkes Israel herbeiführte, an welches sich dieser Ausdruck des göttlichen Urtheils anknüpft, so lesen wir: sie hatten eine Gegend verlassen, wo sie eine göttliche Hülfe erhalten hatten und lagerten sich an einem andern Orte. Aber da fehlte es dem Volke an Wasser und es fing an zu murren: hast du uns darum aus Aegypten geführt, daß wir vor Durst sollen umkommen? Diese Begebenheit führt uns 39–41 Vgl. Ex 17,3
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zurück auf die Wege, die Gott mit seinem Volke gegangen war. Wenn wir zuerst auf Moses sehen, wie er sich dem Könige vorstellte, daß er das Volk los geben sollte, auf welche wunderbare Weise stand Gott da seinem Gesandten bei? und als endlich der Augenblick kam, wo das Volk das Land der Knechtschaft verlassen konnte, auf welche merkwürdige Weise beschützte er da sein Volk, indem er das Meer theilte, daß die Verfolgten durch kamen, die Verfolger aber ihren Untergang fanden! Und diese göttliche Hülfe des Höchsten hatte das Volk also erfahren. Aber freilich, dieses allein war nicht der Zusammenhang der Wege des Herrn; sondern so wie alles, was er an seinem Volke gethan hat, dasselbe nicht hätte retten können, wenn es sich nicht gläubig an den Gesandten Gottes angeschlossen hätte, so muß auch der göttlichen Regierung zur Seite stehen Rath und Tapferkeit, Geduld und Gehorsam gegen die göttlichen Fügungen. Und nur so giebt der Herr ein Ende der Beschwerden. Nur indem er sie reinigte von allem, was sich eingeschlichen hatte während der vergangenen Zeit, nur indem allmählig der edle Sinn eines brüderlichen Lebens erwachte und das tiefe Gefühl für ein göttliches Recht, konnte die zerstreute Heerde zu einem Volke werden, konnte es in der That das Land, das Gott verheißen, in Besitz nehmen und bewahren. Worin bestand nun das Verstehen der Wege des Herrn? Auf der einen Seite darin, daß das Volk niemals vergessen sollte in der Noth des Augenblicks, was der Herr früher an ihm gethan hatte, dann aber auch, daß es eben so sehr auf der andern Seite seine Fügungen merken sollte, daß der Herr darum sie aus geführt habe, um sie zu läutern. – M. th. F., dies führt uns auf eine gewöhnliche Eigenschaft des menschlichen Herzens zurück, die wir ebenfalls uns gar sehr anzuklagen haben. Es ist die: daß der Mensch sich leicht von der Gefahr des Augenblicks überwinden läßt und wiewol es ein herrlicher Vorzug seiner Natur ist, daß er die Vergangenheit in seinem Gemüthe festhalten kann, er sie doch gar leicht aus seinem Gemüthe auslöschen läßt. O, M. th. F., wie oft sehen wir das bei denjenigen, welchen sich der Herr auf das herrlichste bewiesen hat als ein Helfer in der Noth! So sollen wir uns aber nicht des herrlichsten Vorzugs unsrer Natur berauben lassen, so sollen nicht die trüben Augenblicke | die ganze Vergangenheit verdunkeln! daß sich der Herr bisweilen verbirgt auch vor seinen Gläubigen, daß es bisweilen scheint, als könne und wolle er sein Volk verlassen, daß wir nicht in jedem Augenblick, wo wir uns gehemmt in unsern Bestrebungen fühlen, den Ausgang gleich sehen, und die Hülfe des Herrn nicht in deutlichen Zügen vor unsern Augen steht, das ist wahr; aber sollen wir deshalb gleich die Vergangenheit aus unsern Augen fahren und uns von dem Augenblicke der Noth überwältigen lassen? Das, M. th. F., heißt die Wege des Herrn nicht sehen wollen, das heißt die Erkentniß über das Sicht3–4 Vgl. Ex 7–12
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bare hinaus ausschließen wollen. Können wir anders, als uns die lautesten Vorwürfe machen, daß wir in der That der Wohlthaten nicht werth sind, die der Herr uns bewiesen hat? Sollen wir sagen, wie das Volk Israels: hast du uns aus Aegypten geführt, um uns in der Wüste umkommen zu lassen? Der Herr ist überall und derselbe. Haben wir uns nur kein andres Ziel vorgesteckt, als was er uns gesetzt hat, thun wir nur nichts, als was er uns befohlen hat durch die Stimme unsres Gewissens, so können wir so gewiß auf die Hülfe dessen rechnen, der sein Reich nicht untergehen lassen und sein Werk herrlich hinausführen will, so gewiß, als er es ist, dem alle Gewalt gebührt und von dem alle Kraft ausgeht. Aber freilich, M. F., das Verkennen der göttlichen Wege ist für alle die unvermeidlich, welche immer auf das Aeußere und nicht auf das Innere sehen und dies war das 2te, warum das Volk Israel die Wege des Herrn nicht erkannte. Sein Knecht Moses war, wie der Verfasser unsres Briefes sagt und wie es einem treuen Diener Gottes ziemt, mit den Wegen des Herrn nicht unbekannt, eben weil er immer mit treuer, lebendiger, geistiger Sorge das Wohl seines Volkes im Herzen trug. Er sah es wol ein, wie es keinen andern Weg giebt, um das vorgesteckte Ziel zu erreichen, als den eines allmählig sich reinigenden Gefühls, als den eines allmählig sich höher bildenden Sinnes, wodurch allein das Volk die Kraft bekommen konnte, auf eine würdige Weise das Land zu besitzen. Und so wie er muß jeder nicht allein auf das Aeußere sondern auch auf das Innere sehen, nicht nur die Wege anschauen, sondern auch verstehen lernen. Das ist unser gemeinsames Ziel. Haben wir keinen andern Willen, als den des Erlösers, der unsre Augen aufgethan hat, um das Reich Gottes und die Absicht des Herrn und die Geschichte der Menschen zu erkennen, dann werden wir auch die Wege des Herrn nach ihrem innern Zusammenhange erkennen, dann werden wir nicht murren und in Ungeduld vergehen über die harten Prüfungen, sondern je getreuer wir harren der Hülfe Gottes, desto mehr werden wir fühlen, was jeder für sich allein gewonnen hat durch die vielen Entbehrungen und Widerwärtigkeiten, die der Herr uns auflegt. Und so wird uns | denn das Hoffen auf seine ueberzeitliche Hülfe in dem wirklichen Augenblick der Gefahr und das beständige Vertrauen auf die Wege des Herrn daraus erwachsen. Wenn wir alle so seine Wege verstehen, wie er es wünscht, so werden wir zu denjenigen gehören, mit denen er in jenem Urtheile eine Ausnahme macht. Diese sollen in sein Reich einziehen. Denen aber, M. a. F., unter uns, die sich nicht warnen lassen durch das Wort des Herrn, die da fortfahren zu irren und seine Wege nicht verstehen wollen, denen sind wir berechtigt zu sagen, was der Herr von seinem Volke gesagt hat: ihr alle sollt zu meiner Ruhe nicht einkehren, deren Leiber sollen verfallen in der Wüste, ehe dem sie sehen das Land der Verheißung. Dies ist nicht eine vorübergehnde Drohung, sondern sie muß eben so ewig wahr seyn, 3–4 Vgl. Ex 17,3
39–40 Vgl. Num 14,29–30
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als jedes andre Wort des Herrn, und allen denjenigen, welche, zu dem Werk des Herrn berufen, ungeduldig und murrend, verkehrten Sinnes in ihren Gemüthern irren und die Wege des Herrn nicht verstehen wollen, denen steht bevor, daß sie das Ziel nicht erreichen werden; und wäre je zu befürchten, daß der große Theil der christlichen Gesellschaft nicht verstehen will, denen können wir nichts andres sagen, als daß die Erfüllung der Verheißung aufbewahrt wird auf die künftigen Geschlechter; sie aber werden alle vergehen in der unerfüllten Hoffnung, welche die Wege des Herrn nicht verstehen wollten. Amen.
[Liederblatt vom 28. Dezember 1817:] Am Sonntage nach Weinachten 1817. Vor dem Gebet. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt etc. [1.] Mein Dankopfer Herr ich bringe, / So mir recht von Herzen geht; / Ueber deine Wunderdinge, / Wird mein Geist zu dir erhöht: / Gott ich freue mich, mein Leben / Ist ganz deinem Lob ergeben. // [2.] Deine Huld und Liebe machet, / Daß ich also fröhlich bin, / Daß mein Mund nur singt und lachet, / Und wirft alles Trauern hin. / Alles Trauern alles Leiden, / Wendest du in lauter Freuden. // [3.] Denn du führest meine Sache, / Und mein Recht so herrlich aus, / Daß man sieht, dein sei die Rache, / Und ein jeder merke draus, / Wie du dich gesezt das Tichten / Aller Menschen selbst zu richten. // [4.] Herr du bist ein Schutz der Armen, / Und ein Schild in aller Noth, / Deine Gnad und dein Erbarmen, / Steht uns bei bis in den Tod. / Dich zu rühmen und zu loben, / Soll mein Werk seyn hier und droben. // (Stett. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Valet will ich dir etc. [1.] Wer in der Welt Getümmel / Als armer Fremdling steht, / Voll Sehnsucht auf zum Himmel / Mit seinen Blicken geht, / Wem hier die Last der Erde / Die schwache Brust beengt, / Und mächtige Beschwerde / Das arme Herz bedrängt, // [2.] Dem thut in dunklen Nächten / Sich bald der Himmel auf, / Er schauet dort den ächten / Und wahren Lebenslauf; / Er siehet mit Entzükken / Der fernen Heimath Blau, / Und bald muß ihn erquicken / Des ewigen Lebens Thau. // [3.] Es bricht aus Himmels Landen, / Ein güldner Strahl herein; / Er fühlt von allen Banden, / Nun bald befreit zu seyn; / Ein Engel steigt hernieder, / Und macht ihn fessellos, / Er sinket heiter nieder / In dieses Engels Schooß. // [4.] Und Jesus der Geliebte, / Reicht ihm den Freundes Arm, / Und bald ist der Betrübte / Befreit von allem Harm; / Er sieht als Himmelszeichen / Das Kreuz von unserm Herrn; / Nun muß der Gram entweichen, / Vor diesem lichten Stern. // [5.] Getrost nur lasst uns fassen / Des ew’gen Freundes Hand, / Er wird uns niemals lassen, / Er bleibt uns zugewandt. / O daß sich nimmer wende, / Von seinem Kreuz der Blick! / Dies bleibt am letzten Ende, / Allein uns treu zurück. // (Jauersch. Ges. B.)
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Predigt über Hebr 3,8–11
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Unter der Predigt. – Mel. O Haupt voll etc. Wenn dir im Heiligthume / Die Andacht Opfer weiht, / So fliehn die Erdgedanken, / Ich athme Seligkeit; / Ich kniee mit den Frommen, / Vor deinem Thron, und du / Siehst gnädig auf uns nieder, / Und giebst uns Himmelsruh. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Herr dein ist alle Stärke, / Und alle Hülfe Gott ist dein, / Das zeugen deine Werke, / Die deiner hohen Kraft sich freun. / Wir auch erfreun uns ihrer, / Ihr Lob ist unsre Pflicht; / O Vater, o Regierer, / Wen hält wen schützt sie nicht? / Du lebst, du wirkst in Allen, / Dir dir vertrauen wir. / Erhalter wer kann fallen / Geschützt, gestärkt von dir. //
Predigten 1818
Am 1. Januar 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Neujahrstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 3,12–14 Nachschrift; SAr 38, S. 289–303; Jonas Keine Nachschrift; SAr 50, Bl. 1r–5v; Jonas, in: Balan Nachschrift; SAr 40, Bl. 1v, 2v–3r; Jonas Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 1. Jan. 1818.
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Die Gnade cet.
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M. A. F. Wenn wir bedenken, wie ein großer Theil der Menschen auch unter uns die letzten Stunden des Jahres nur in Lust und Fröhlichkeit und oft in solcher verbringt, welche den Menschen nur zu sehr von der ernsten Seite des Lebens abzieht, wenn wir bedenken, wie eben so viele das neue Jahr damit beginnen, daß sie sich aller derjenigen, mit denen sie irgend in irdischer Beziehung stehen, erinnern, so steht zwischen beiden die fromme Feier des Zeitwechsels, die Erhebung des Gemüths zu einer höhern Betrachtung wie verloren und nur zwischen die heitern und fröhlichen und die peinliche und ängstliche irdische Betrachtung eingeengt. Aber wenn jedes für sich, das fröhliche Ende und der besorgte Anfang des Jahres allerdings das Gemüth von demjenigen abzuziehen scheinen, worauf wir es hier richten sollen, so weiset beides zusammen nur desto deutlicher darauf hin, wie übel es um den Menschen steht, wie getheilt und zerrissen er ist zwischen den entgegengesetztesten Zuständen, wenn nicht etwas Höheres, Göttliches in seinem Innern herrscht. Denn was kann er anders, wenn er sich bloß diesem Wechsel überläßt, als erwarten, daß die Ereignisse der Zeit das Uebermaaß der Freude strafen werden, was anders, als daß die Sorge für alles Irdische sich unzureichend und vergeblich zeigen werde? So findet er den Verlauf der Zeiten in Widerspruch | und darum erscheint ihm alles in dem Schwanken, woraus die menschliche Seele, wenn sie einmal darin begriffen ist, keine andre Rettung findet, als wenn sie eine höhere Zuversicht da sucht, wo sie allein zu finden ist und so kommen wir auf die Be2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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trachtung, die ich schon am letzten Sonntage angedeutet habe, nemlich zu sehen, was uns[,] den Christen[,] geziemt indem wir an einem neuen Abschnitte unsres Lebens stehen, von dem wir sagen müssen, er werde, wie alle anderen, unsre Wünsche zum Theil erfüllen, zum Theil unerfüllt lassen, und uns besonders zu waffnen gegen das letzte. Dazu bitten wir Gott cet. Tex t. Hebr. 3, 12–14. Sehet zu, lieben Brüder, daß nicht jemand unter euch ein arges, ungläubiges Herz habe, das da abtrete von dem lebendigen Gott: sondern ermahnet euch selbst alle Tage, so lange es heute heißt, daß nicht jemand unter euch verstocket werde durch Betrug der Sünde. Denn wir sind Christi theilhaftig geworden, so wir anders das angefangene Wesen bis an das Ende fest behalten.
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M. a. F. So wie unsre heutige Betrachtung nur die unmittelbare Fortsetzung ist unsrer neulichen, so schließen sich diese Worte denjenigen an, die wir neulich zum Grunde gelegt haben. Es war damals die Rede davon, wovor wir uns zu hüten hätten, wenn wir in die Vergangenheit zurücksehen; es ist heut die Rede davon, unserem Blick in die Zukunft denjenigen Gehalt zu geben, den ihm der Christ geben | muß und wir werden uns nach den Wortes des Textes 1. zu warnen 2. zu ermuntern haben, jenes vor demjenigen, was uns von dem lebendigen Gott wegleitet, dieses zu demjenigen, wodurch wir allein Christi theilhaftig werden. I. Das ist aber zuerst die Warnung dieses apostolischen Briefes: „sehet zu, indem ihr in die irdische Zukunft schauet, daß nicht jemand unter euch habe ein arges, ungläubiges Herz.“ Aber welches, M. a. F., ist der Gegenstand in Beziehung auf welchen das Herz nicht ungläubig seyn soll? Wenn wir die große Menge von Wünschen und Erwartungen betrachten, mit welchen wir jedesmal einem neuen Abschnitte unsres Lebens entgegensehen, wenn wir uns nur einen Augenblick vorstellen diese sich widersprechenden Entwürfe und Hoffnungen der Menschen, krönen dann die Menschen, sollen sie mit sichrer Erwartung dessen, wornach ihr Herz verlangt, in die Zukunft sehen? Nein, M. F., wenn bloß von diesen irdischen Wünschen und Entwürfen die Rede ist, wo soll der Glaube und die Zuversicht herkommen? Wo wollen wir die Gründe dazu finden, die weder in der Schrift noch in unserm Herzen liegen? Der Apostel redet auch nicht von den Wünschen der Menschen, sondern von den | Verheißungen der Christen. Da sollen wir denn auch glauben und jede Spur des Zweifelns aus dem Herzen reißen. Jene, von 14–15 Vgl. 28. Dezember 1817 vorm.
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denen der Apostel redet und auf die er später wieder zurückkommt, jene hatten eine bestimmte göttliche Verheißung des Landes ihrer Vorfahren. Aber der Verfasser dieses Briefes wendet eben dieses an auf die Christen, an die er schreibt und gewiß hatte er ein Recht dazu. Hatten diese aber ebenfalls eine göttliche Verheißung, so müssen auch wir derselben theilhaftig seyn, so wol in wie fern sie schon erfüllt ist, als in wie fern noch nicht. Welche ist diese? Es ist die, daß der Herr gekommen ist und seinen Stuhl gesetzt hat zum Gericht, daß gesammelt werden sollen, welche fähig sind, Mitglieder seines Reiches zu werden, es ist die, daß auch das geistige Volk seines Eigenthums immer mehr zum Genuß der höchsten Vorzüge kommen soll. Das ist die allgemeine Verheißung, die wir haben und der unser Gemüth mit ungeschwächtem Glauben entgegensehen soll. Aber der kann vielen zu allgemein scheinen: was wir bewirken wollen, davon können wir auch glauben, der Herr werde es unterstützen, so fern es zu seinem Reiche gehört; davon können wir denken, er werde dasselbe hervorbringen wenn auch auf andre Weise. Wenn euch das nicht genügt, wolan, ich habe noch eine andre Verheißung des Herrn selbst: „wer da hat, | dem wird gegeben.“ Wenn wir festhalten, was wir haben von dem Reiche der Wahrheit und der Gerechtigkeit, was unsre Vorfahren und wir abgenommen haben der Welt und der Sünde, der Unwissenheit und der Zwietracht und allem verkehrten Wesen der Welt, so werden wir mehr empfahen, mehr wird uns gegeben werden von Ordnung, von Licht, von Freiheit. Wer da hat, dem wird gegeben und das ungläubige Herz, das sich um irgend eines Scheins willen von dieser Verheißung abwendete, ist ein arges Herz 1. weil es abtritt von dem lebendigen Gott, 2. weil es verstockt ist durch den Betrug der Sünde. Ja, M. F., das in diesem Sinne ungläubige Herz ist ein arges Herz, weil es abtritt von dem lebendigen Gott. Denn, M. Th., worin besteht unsre Verbindung, unsre Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott anders, als darin, daß wir ihn immer vor Augen haben, daß er uns gegenwärtig ist im Innersten unsres Gemüthes, worin anders, als daß sein Wille unser Wille ist, daß wir gemeinsam mit ihm handeln? und von alle dem ist das ungläubige Herz entfernt. Denn wenn wir den Ewigen nicht denken als sein Wort erfüllend, wie sollen wir ihn denn vor | Augen haben? Können wir ihn anders denken, als das Ganze der Schöpfung lenkend und regierend? Das ungläubige Herz will ihn aber nicht so denken, es zweifelt an ihm, sein ganzes Bewußtseyn ist von dem lebendigen Gott abgewendet und auf die Welt gerichtet, die, abgesehn von dem der sie leitet, eine große Verwirrung darstellt, in welche das ungläubige Herz immer mehr sinken muß. Und wenn wir das Wort der Verheißung nicht glauben, daß demjenigen, der da hat, gegeben wird, und 12 ungeschwächtem] ungeschwächten 17 Vgl. Mt 13,13; Mk 4,25; Lk 8,18
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daß auf diese Weise durch nichts anderes, als durch treue Benutzung unsrer Kräfte sein Reich immer herrlicher unter uns soll gebaut werden, wie wollen wir dann mit ihm zusammenwirken? Wie können wir sagen, daß er in dem Herzen Wohnung gemacht habe, wenn der Glaube verschwunden ist? Wie können wir sagen, daß sein Wille der unsrige ist, wenn wir seinen Willen nicht kennen? Darum ist solches Herz ein ungläubiges Herz, welches abtritt vor dem lebendigen Gott und läßt uns uns hüten, daß nicht heut jemand ein ungläubiges Herz in sich trage. O, wer dem Raum geben wollte, er kann nicht anders, als gegen das Reich Gottes wirken, weil er ohne ihn wirkt, er kann nicht anders als ihm entgegen|wirken, weil er dem Ziel nicht entgegengehen will, dem alle entgegengehen und indem der Glaube an Gott sich immer mehr aus ihm entfernt, so kann er nicht anders, als immer mehr in die Knechtschaft des Fleisches und der Sünde gerathen, denn der Unglaube ist die Wurzel alles Argen, das sich in den menschlichen Gemüthern entwickeln kann. Und das sehen wir daraus, wenn wir zugleich sehen, wie das ungläubige Herz ein solches ist, das verstockt ist durch den Betrug der Sünde. Denn was ist alles Bestreben, Gott zu dienen, anders, als sein ewiges Gesetz, seinen heiligen Sinn, die lebendige Kraft der Liebe immer mehr inne zu werden und uns auf das innigste mit ihr zu verbinden? Das allein wirkt allem Verderben entgegen, das sonst in dem menschlichen Gemüthe hervorwächst, aber eben deswegen kann das Streben, Gott inne zu werden, nicht aufgehoben werden, als nur durch den Betrug der Sünden. Welches ist dieser Betrug der Sünde? Das menschliche Herz, sagt die Schrift, ist ein trotziges und verzagtes Ding und das müssen | wir ganz inne werden, wenn wir sehen, wie die Ungläubigen in die Zukunft sehen. Ja, M. F., wenn der Mensch sich weise dünkt und bisweilen erfahren hat, daß des Herrn Wege nicht seine Wege sind, giebt es das menschliche Herz in seiner Verzagtheit auf, dem Wege des Herrn ferne nachzuspüren, dann verliert es die Zuversicht, daß das Innerste unsrer Wünsche, das innerste Tichten und Trachten unsres Lebens mit seinem Willen übereinstimmen muß und durch diese Verzagtheit läßt sich das menschliche Herz berücken zum Unglauben. Wolan denn, vor diesem Betrug der Sünde wollen wir uns hüten. Wer unter uns wollte es leugnen, daß er oftmals in seinen Hoffnungen getäuscht ist, aber ohne zu verzagen wollen wir fortfahren nach unsrer besten Ueberzeugung das Gute zu fördern und den Glauben nicht fahren lassen und der Herr wird auch das, was wir wollen und thun, zum Besten lenken, wenn wir auch den Erfolg nicht sehen. Aber, M. F., auch die Gunst Gottes in dem menschlichen Leben, auch die fröhliche Erfahrung | von dem, was uns in der Vergangenheit gelungen ist, ach auch die verleitet das menschliche Herz oft zum Unglauben, eben 3–4 Vgl. Joh 14,23
24–25 Vgl. Jer 17,9
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weil es ein trotziges Ding ist. Dann denkt der Mensch, der Höchste könne keinen andern Weg gehen, als den, welchen er denkt und der ist auch ungläubig, der nicht an Gott, sondern an sich selbst glaubt, auch der tritt eben so sehr ab von dem Glauben an den lebendigen Gott, als der verzagten Herzens ist. O wir dürfen nicht weichen von der Demuth, daß es eben nur das Innerste ist, was uns sicher gelingen wird, daß aber, sobald wir etwas Einzelnes festhalten, wir nicht mehr an Gott glauben würden, sondern an uns selbst. Auf den Trotz wird immer die Verzagtheit folgen und beide Arten des Unglaubens werden zusammenkommen und das Herz zerreißen, was nur der abwenden kann, der den Schild des Glaubens vorhält gegen alle Pfeile der Welt. II. Und so laßt uns sehen, worauf uns denn, indem sie uns von dem Unglauben abmahnen, die Worte unsres Textes hinleiten: denn wir sind Christi theilhaftig geworden, so wir anders das | angefangene Wesen bis an das Ende fest halten. Wenn wir aber fragen: was ist das angefangene Wesen? so müssen wir zurücksehen auf das frühere: Christus ist treu als ein Sohn über das Haus; welches Haus sind wir, so wir anders das Vertrauen und den Ruhm der Hoffnung bis an das Ende fest behalten. So ist es also zweierlei, worauf uns die Worte des Textes hinweisen, 1. daß wir sollen suchen, Christi theilhaftig zu werden, das heißt, sein Haus zu seyn und zu bleiben 2. und dann, daß wir das angefangene Wesen, das Vertrauen festhalten. Ja, M. F., damit sich unsre Bestrebungen und Sorgen nicht in das Ungewisse verlieren, laßt uns sie alle in das Eine zusammenfassen: Christi sollen wir theilhaftig seyn. Und ich brauche euch wol das nicht noch erst zu Gemüthe zu führen, daß dieses Eine uns keinesweges abführt von dem, was sonst gut und nothwendig ist in der Welt, sondern daß vielmehr alles in diesem Einen begriffen ist. Wenn der Mensch in das Haus Christi eintritt, so ist ihm entweder schon sein Theil der Thätigkeit zuertheilt, oder es wird ihm erst angewiesen durch die Ordnung der Menschen, | und nur dadurch, daß jeder daran festhält wird das Haus Christi gebaut. Darum sagt auch der Apostel, jeder solle feststehen in seinem Berufe, denn das Haus Christi ist nichts als zusammengenommen alle Gott wohlgefälligen Thätigkeiten der Menschen, alles zusammengenommen, was sie thun in Beziehung auf denjenigen, der gekommen ist, aus allem Zwiespalt und aus aller Ungerechtigkeit die Menschen zu erretten und das Reich Gottes wieder zu bauen. So ist es unsre ganze irdische Thätigkeit, die wir ihm darbringen müssen, wenn sein Haus gebaut werden soll und wenn wir jeder in allen Dingen das seinige thun und jeder seinen Beruf festhält, dient jeder dem Herrn, baut jeder 10–11 Vgl. Eph 6,16 7,17–24
17–18 Vgl. Hebr 3,6
33–34 Wohl Anspielung auf 1Kor
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des Herrn Haus, wird jeder seiner theilhaftig. Aber indem wir darauf alle Bestrebungen beziehen, so sind wir sicher bewahrt vor dem Eitlen und Verdammlichen. Denn fragen wir immer, indem wir etwas unternehmen: kann PdasS auch sicher seyn, zu bauen das Haus des Herrn? o dann wird unser Herz am sichersten bewahrt werden vor jedem Betrug der Sünde, dann werden wir nichts suchen, als in reiner Treue und Gottergebenheit einer durch das Leben des Geistes in unserm Innern gereinigten Ueberzeugung zu wirken, dann wird uns nie der Betrug der Sünde fangen und unser schwaches | Herz wird nicht verleitet werden; denn die in ihm sich immer erneuernde Kraft wird nicht fehlen, wenn wir, das angefangene Wesen festhalten bis an [das] Ende, d. h. das Vertrauen und den Ruhm der Hoffnung. Anfangen kann der Mensch nie anders als mit Vertrauen und Hoffnung: Denn in dem großen Augenblick, wo der Mensch sich von der Welt abwendet und anfängt den Herrn zu suchen, o was ist dieser Augenblick anders, als der des reinsten Vertrauens zu demjenigen, der die Sünde der Vergangenheit weit hinter uns wirft, was aber nur geschehen kann, wenn ein neues Leben das alte austilgt? Was ist es also anders, als das innigste Vertrauen, daß es immer wachsen werde und immer herrlicher gedeihen? Wolan, mit diesem Vertrauen hat jeder von uns, der sich einmal dem Herrn ergeben hat, angefangen; aber ist es nicht auch eben so mit jedem Werk, das in Gott und Christo gethan ist? Wir hätten es ja sonst nicht anfangen können. Muth ist es und der reinste, größte Muth, mit dem jede große That anfängt, eben weil der Mensch sich dadurch in eine unübersehbare Reihe von Thätigkeiten einläßt, die er eben so wenig zu Ende führen kann, als er sie übersieht. Vertrauen ist es also auf den Beistand Gottes, das | uns stärkt, Vertrauen ist es, daß immer so viel Licht seyn wird, daß wir die nächsten Schritte sehen können, zu welchen wir berufen sind. Ja mit diesem Vertrauen haben wir alles angefangen, was jemals in Gott gethan ist. Wolan, laßt uns das angefangene Wesen festhalten! Wollten auch wir uns das Wort zurufen lassen: im Geist habt ihr angefangen, aber im Fleisch wollt ihr enden? Nein, M. F., der Ruhm des Christen ist der Ruhm der Hoffnung und den laßt uns festhalten! Wir sehen nicht, aber wir glauben. Alles, was da ist in der Welt, wenn wir es sehen, dann scheint es uns zu wenig, dann treibt uns der göttliche Geist weiter, daß wir uns nicht dabei beruhigen, sondern uns entgegenstrecken dem, was vor uns liegt und so übergeben wir uns der Hoffnung, der weisen Hoffnung, die nicht zu Schanden werden läßt; nicht auf uns, sondern auf ihm steht unsre Hoffnung. Den Ruhm der Hoffnung laßt uns festhalten in dem neu angefangenen Jahre und bis an das 4 PdasS] oder PdaS 30–31 Vgl. Gal 3,3 31–32 Vgl. Hebr 3,6 3,13 37–38 Vgl. Hebr 3,6
32 Vgl. Joh 20,29
35 Vgl. Phil
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Ende desselben. Sie ist nichts andres, als der lebendige Glaube an das sich immer weiter ent|wickelnde Reich Gottes, es ist nichts andres, als das große Wort des Herrn, daß, wo nur zwei zusammen sind, sein Werk wollend, und hätten sie auch die ganze Welt gegen sich, er nicht nur bei ihnen seyn, sondern auch mit ihnen seyn wird, es ist nichts andres, als die Hoffnung, daß diejenigen, welche nichts wollen, als das Reich Gottes, Ein Geist alle treibt, und daß, weil alles von ihm ausgeht, er alle zu Einem Ziele führen wird, wenn er gleich den Einen hieher, den Andern dorthin führt. Wir sehen es nicht, aber wir hoffen es, er wird sie alle zusammenfügen zu Einem Hause Christi. Nur sofern wir diesen Einen Ruhm festhalten, können wir seiner theilhaftig werden, und nur sofern wir seiner theilhaftig bleiben, können wir überzeugt seyn, daß der Glaube in uns immer stärker seyn wird und daß der Geist, den wir in uns leben und weben fühlen, uns immer mehr durchdringen wird. Und so können wir mit reiner Zuversicht in das neue Jahr des Lebens eingehen. O, M. F., indem wir uns zu dieser Bestimmung erbaut haben, wie vieles, | Wünsche, Hoffnungen, Bitten, wird uns unsicher und verschwindet! Aber das ist nichts andres, als daß der rechte Glaube sich Luft macht und alles Herrliche, was uns je bewegt hat, ist fester in uns gebaut, indem wir uns zu dieser Stimmung erhoben haben. Das fühlen wir jetzt im vollen Vertrauen und im ungetrübten Glauben und so steht vor uns immer dasselbe Ziel, aber je weiter wir gehen, desto mehr verklärt es sich, so fällt immer mehr ab von den Schlacken der Welt unser Gemüth und immer reiner wird der Strom, der unser ganzes Leben treibt. Wir fühlen es, daß Er unter uns waltet, aber je mehr wir uns seiner freuen, um desto inniger müssen wir auch fühlen, daß Er uns immer aufs Neue kommen muß von oben und wir können nicht anders, als fromm und demüthig anrufen den Vater des Lichts, von dem alle guten Gaben kommen: cet. – Amen
[Liederblatt vom 1. Januar 1818:] Am Neujahrstage 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Nun ruhen etc. [1.] Je mehr wir Jahre zählen, / Je mehr uns Tage fehlen, / Je mehr uns Zeit abgeht; / Dies Leben selbst verschwindet, / Weil sich das Alter findet, / Und die verlängte Zeit erhöht. // [2.] Wie uns dies Jahr entfallen, / Wie wir auf Erden wallen, / Wie sich das Ziel abkürzt: / So wird mit ihm verloren, / Was in der Zeit geboren, / Die alles fällt und alles stürzt. // [3.] Weil jenes Jahr vergangen, / Wird dieses angefangen, / Den Anfang führt das End; / Vor stieg 3–5 Vgl. Mt 18,20
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die Sonne nieder, / Jetzt kehrt ihr Wagen wieder, / Der um ein weitres höher rennt. // [4.] So, ob wir hie veralten, / Ob Hand und Herz erkalten, / Sehn wir doch gar nicht ein; / Wieviel wir abgenommen, / So näher sind wir kommen, / Der ewgen Wollust oder Pein. // [5.] Unendlich ewig Wesen, / Durch dessen Tod genesen, / Was Zeit und Jahre zählt; / Ach laß unendlich leben, / Für die du dich gegeben, / Die für dein Reich du dir gewählt. // (Dach.) Nach dem Gebet. — Mel. Valet will ich etc. [1.] Durch Trauern und durch Plagen, / Durch Noth und Angst und Weh, / Durch Hofnung und durch Zagen, / Durch manche Thränen See / Bin ich Gottlob gedrungen; / Dies Jahr ist hingelebt, / Dir Gott sei Lob gesungen, / Dazu bin ich erregt. // [2.] Der du mich hast erbauet, / In dir besteht mein Heil, / Dir ist mein Glück vertrauet, / Du bist und bleibst mein Theil, / Du hast mich wohl erhalten, / Du bist mein fester Schutz; / Willst du nur ferner walten, / So biet ich allem Trutz. // [3.] Mein Gott, o meine Liebe, / Was du willst, will auch ich; / Gieb daß ich nichts verübe, / Was irgend wider dich, / Dir ist mein Will’ ergeben, / Ja er ist nicht mehr mein, / Dieweil mein ganzes Leben, / Dein eigen wünscht zu sein. // [4.] Nach dir soll ich mich schicken, / O Herr ich wills auch thun! / Soll mich die Armuth drücken? / Ich will dabei beruhn. / Soll mich Verfolgung plagen? / Hier bin ich, rufe mir! / Soll ich Verachtung tragen? / Wohl, ich gehorch auch hier. // [5.] So sei das Jahr begonnen, / Und deine Gnade heut / Aufs neue, Herr, gewonnen, / Mein Herz werd auch erneut. / Leg ich die alten Sünden, / So werd ich Gott bei dir, / Auch neuen Segen finden; / Dein Wort verspricht es mir. // (Stett. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Allein Gott in etc. Laß Herr dies Jahr gesegnet sein, / Das du uns neu gegeben! / Verleih uns Kraft, die Kraft ist dein, / In deiner Furcht zu leben! / Du schützest uns, und du vermehrst / Der Menschen Wohl, wenn sie zuerst / Nach deinem Reiche streben. // Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir. Kommt! dies sei uns ein Tag des Bundes, / Dem frommen Bunde bleibet treu, / Und den Gelübden unsers Mundes, / Stimm’ unsre Seele redlich bei! / O Land, gelobe Gott zu dienen, / Und du wirst wie ein Garten grünen, / Den er sich selbst gepflanzet hat! / Geht Menschen geht auf seinen Wegen, / Dann macht sein unerschöpfter Segen, / Aus seiner Füll’ euch täglich satt. //
Am 4. Januar 1818 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Sonntag nach Neujahr, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,6–7 Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 754–757.760– 762.764–768; König (rekonstruiertes Fragment, vgl. KGA III/7, S. LXIV; zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.G.) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Teil der vom 8. Juni 1817 bis zum 1. Februar 1818 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
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Tex t. Phil. 4, 6. 7. Sorget nichts, sondern in allen Dingen lasset eure Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden. Und der Friede Gottes, welcher höher ist, denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu. M. a. F. Es kann uns schon auf den ersten Anblikk nicht entgehen, daß die verlesenen Worte mit den ersten unter denen, die wir neulich betrachtet haben, „Freuet euch in dem Herrn allewege“ im genauen Zusammenhange stehen. Denn wenn der Apostel die Christen ermahnt, nicht zu sorgen, sondern ihre Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden zu lassen, so müssen wir sagen, daß die Sorge es ist, was uns am meisten hindern kann, uns an dem Herrn zu freuen, daß aber durch andächtiges Gebet und Flehen diese Freude vorzüglich erhöht werden muß. Und wenn er den Christen wünscht, daß „der Friede Gottes ihre Herzen und Sinne in Christo Jesu bewahren möge,“ so muß es uns einleuchten, daß in dem Frieden Gottes die Freude an dem Herrn vollkommen wird. Wenn wir zunächst die Ermahnung, die der Apostel den Christen giebt, nichts zu sorgen, näher betrachten wollen, so laßt uns fragen, was ist das für eine Sorge? Das geistige Wohl | unserer Seele kann er nicht meinen, m. g. F., und sagen, daß wir dafür nicht sorgen sollen, denn er fordert uns ja in eben diesem Briefe auf, unsere Seligkeit zu schaffen mit Furcht und Zittern und lehrt uns dadurch bedenken, daß diese, obwol das höchste Gut, doch für den Menschen in diesem irdischen Leben ein solches ist, das er in 7–8 Vgl. 25. Dezember 1817 nachm.
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einem höhern und geringern Grade besitzen kann, und dieses sollen wir schaffen und erringen durch unsere eigene That, mit Furcht und Zittern, das heißt mit aller Anstrengung und Thätigkeit. Aber was der Gegenstand unserer Thätigkeit ist, das ist nicht der Gegenstand unserer Sorge, sondern wo unsere Thätigkeit aufhört, da erst geht unsere Sorge an; dasjenige zu vollbringen, was wir unternommen haben, ist kein Gegenstand der Sorge, sondern der Wille des Menschen, so er nur nicht müde wird, bringt zu Stande, was er begonnen hat. Was ist es also, was der Apostel meint, wenn er uns ermahnt, nicht zu sorgen? Wenn wir von dem Leztern ausgehen, so müssen wir sagen, unsere eigene Seligkeit zu schaffen, das hat uns der Apostel geboten als den Gegenstand unserer Thätigkeit, freilich auch so nur und in dem Gebiet, welches er schon ansieht als unter dem Beistand der göttlichen Gnade stehend, daß wir durch den göttlichen Geist in den Stand gesezt werden zu einer solchen Thätigkeit und zu einem solchen Schaffen, woraus unsere Seligkeit hervorgeht. Betrachten wir es aber näher, so müssen wir uns gestehen, daß wir dies für uns allein nicht haben und erwerben können, daß die göttliche Gnade ihren Siz nicht hat in dem einzelnen Menschen, daß der göttliche Geist nicht einwohnt dem einzelnen Menschen für sich, sondern die göttliche Gnade ist verheißen der Gemeinschaft der Frommen, und der göttliche Geist ist eine gemeinsame Gabe aller derer, die an den Herrn glauben, und eben dasjenige, wodurch sie zu einem lebendigen Ganzen verbunden werden. Was wir also nicht für uns allein und nicht durch uns selbst haben, das ist insofern ein Gegenstand der Sorge für uns. Fragen wir also, welches ist denn die Sorge des wah|ren Christen? so werden wir sagen müssen, er hat keinen andern Gegenstand derselben, als das Reich Gottes auf Erden, und zwar in einer zwiefachen Beziehung: einmal insofern er weiß, es ist dasselbe die Quelle, aus welcher ihm alle die guten Gaben kommen von oben herab, deren er bedarf, um seine Seligkeit zu schaffen; auf der andern Seite insofern er weiß, daß auch ihm anvertraut ist, in demselben mit seinen Gaben wirksam zu sein, um es zu erhalten für die künftigen Zeiten und Geschlechter und es immer weiter zu verbreiten unter unsern Brüdern, und daß Gott der Herr Rechenschaft von ihm fordern wird für den Gebrauch, den er darin von den ihm verliehenen Gaben gemacht hat. Das, m. g. Fr., das ist die Sorge des wahren Christen, von welcher der Apostel redet. Was nun das Erste betrifft, so wissen wir, wir haben die Verheißung unseres Herrn, daß seine Gemeinde nicht soll überwältigt werden von irgend einer feindseligen Macht, auch nicht von den Pforten der Hölle, daß ihm alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden und daß er dieselbe nur gebraucht, um seine Gemeinde, die sein Leib ist in dieser irdischen 27–28 Vgl. Jak 1,17 29–34 Wohl Anspielung auf Mt 25,14–30 Mt 16,18 39 Vgl. Mt 28,18 40–1 Vgl. Eph 1,22–23
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Welt, von oben herab zu regieren, alle ihre Bewegungen zu leiten und sie in allen ihren Bedürfnissen zu vertreten bei seinem himmlischen Vater. Aber so lange wir sehen das Reich Gottes auf Erden noch im Streite mit der Welt, so lange wir sehen die heilige Werkstätte und den Siz des göttlichen Lichtes noch im Kampfe mit der Finsterniß, so ist das Reich Gottes der Gegenstand unserer Sorge; und je mehr unser Herz durch den göttlichen Geist erfüllt ist von derjenigen Liebe gegen die Menschen, welche der Liebe des Erlösers gegen dieselben ähnlich ist, von der erlösenden und zu Gott führenden Liebe, desto mehr ist auch ihre Seligkeit der Gegenstand unserer Sorge, und so nähren wir die Sorge desto sorgfältiger und stärker, je mehr uns nach unserm beschränkten Gesichtskreise das Reich Gottes auf Erden in jenem Kampfe des Lichts mit der Finsterniß, des Guten mit dem Bösen man|cherlei Gefahren und Widerwärtigkeiten ausgesezt zu sein scheint. Und das ist die Sorge, die der Apostel im Auge hat wenn er sagt „sorget nichts,“ und darin können wir ihm Gehör geben, weil wir, indem wir uns an jene Verheißung unsers Herrn halten, zugleich wissen müssen, daß dasjenige, was uns als ein Großes und Schweres erscheint, dem Herrn ein Leichtes und Kleines ist, daß wir nicht im Stande sind zu übersehen, wie dasjenige, was dem Reiche Gottes gefährlich und verderblich zu werden scheint, doch am Ende wohlthätig für dasselbe sein kann. So sollen wir nichts sorgen und können gewiß sein, daß, sofern wir nur das Unsrige thun, der Herr niemals aufhören wird, das Beste seines Reiches zu berathen und zu fördern; denn das ist seine Angelegenheit, daß das Reich seines Sohnes auf Erden bestehe und immer tiefere und festere Wurzeln fasse, daß es sich immer weiter ausbreite auch über diejenigen, welche noch in dem Schatten des Todes sizen, und daß in demselben die Herrlichkeit der Kinder Gottes immer mehr zum Vorschein komme und sich immer mehr verkläre in die Herrlichkeit dessen, den er zum Herrn und Christ über Alle und für Alle gesezt hat. – [SW bietet Text aus 1823.] Aber auch in einer andern Hinsicht ist das Reich Gottes der Gegenstand unserer Sorge. Wir Alle, m. g. F., nehmen an der Erhaltung desselben einen thätigen Antheil; unser Beruf auf Erden ist vorzüglich dem Reiche Gottes gewidmet; das Größte und Schönste, was wir hier thun können, besteht darin, daß wir die Segnungen desselben unsern Zeitgenossen erhalten und auf unsere Nachkommen fortzupflanzen suchen, und der wichtigste und bedeutendste Theil unsers Lebens soll mit diesem Geschäft ausgefüllt sein. Er soll es nicht nur, sondern er kann es auch, denn dazu kann ein jeder nach seinen Kräften wirken, der nur irgendwie auf andere Menschen einen Einfluß hat, der nur irgendwie im Zusammenhange steht mit der Sorge für das künftige Geschlecht. Und es kann nicht nur, sondern muß auch geschehen, denn jeder wahre Christ wird sich das Zeugniß geben, daß ihm Alles 25–26 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79
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in dem menschlichen Leben nur wichtig erscheint, insofern es damit in Verbindung steht, und daß ihm alle seine übrige Thätigkeit nur deshalb nicht geringfügig wird, so daß er, ihrer überdrüssig, sie am liebsten wegwerfen möchte, weil er sie damit in einen genauen Zusammenhang bringen kann. Das also ist der Gegenstand unserer Thätigkeit, und hier überall das Rechte zu thun und alles dasjenige zu thun, was das Rechte hervorbringt, ist nicht der Gegenstand unserer Sorge, sondern eine Ausübung unsers Willens, das ist das Schaffen unserer Seligkeit mit Furcht und Zittern. Denn wir wissen, daß der Herr uns | Rechenschaft abfordern wird von dem, was er uns verliehen hat, daß er uns vorhalten wird, was wir hätten thun können, jeder nach seinem Maaße, und wie sich dagegen verhält, was wir gethan haben. Aber wie nun dasjenige, was wir nach Kräften und mit redlichem Willen thun, ausschlägt für das Reich Gottes, inwiefern der Erfolg, den wir davon erwarten in den Seelen der Menschen erreicht wird oder nicht, und ob unser Thun für uns eine Quelle von freudigen und erhebenden Erfahrungen oder von Schmerzen und Trübsalen sein wird, das ist nicht der Gegenstand unserer Thätigkeit, sondern es wird, je mehr wir das Reich Gottes lieben und demselben anhangen, der Gegenstand unserer Sorge. Aber das ist ebenfalls eine Sorge, welche der Apostel im Sinne hat, wenn er sagt „sorget nichts,“ eine Sorge, von welcher der andere Apostel sagt, daß wir sie auf den Herrn werfen sollen. Seine Sache ist es und kann nur die Sache der Allmacht sein; daß keine wenn gleich noch so unbedeutend scheinende und leichte menschliche Arbeit, insofern daran nur etwas ein Werk des göttlichen Geistes und der göttlichen Gnade war, jemals ganz verloren geht, daß etwas wenigstens davon übrig bleibt und in den nächsten Augenblikk auf eine lebendige Weise eingreift, so daß die Spur davon niemals vergeht – das ist und kann nur sein der Gegenstand der Allmacht. Dafür zu sorgen, daß, wenn nun unsern schönsten Bemühungen für das Gedeihen der geistigen Güter, die uns der Erlöser gebracht hat, und für die Verbreitung der Segnungen des Evangeliums manches Unvollkommene, Verkehrte und Verderbliche in den Menschen und ihren Bestrebungen sich entgegenstellt und nun jene unsere Bemühungen durch dieses unterdrükkt werden, auch dies zum wahren Besten des Reiches Gottes ausschlage, daß auch der Streit gegen das Böse, der dem ersten Anschein nach vergeblich gewesen, doch zu dem künftigen Siege des Guten etwas beitrage, und daß die Leiden und Widerwärtigkeiten, die in diesem Kampfe über uns kommen, zur Verherrlichung Christi und seiner Gläubigen ge|reichen – das ist nicht der Gegenstand menschlichen Dichtens und Trachtens, sondern kann nur das Werk der Allmacht sein, die alle unzähligen Fäden in dem großen Gewebe des menschlichen Geschlechts fest zusammenknüpft und sie zu Einem Ziele hinführt und sie in Ein großes Ganzes, welches immer stärker und kräftiger werden soll, vereinigt. Also ist das auch eine Sorge, die wir aufgeben 8 Vgl. Phil 2,12
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und auf den Herrn werfen können, wovon wir aber auch überzeugt sein können, daß er sie übernimmt, daß er das, was wir wünschen und wollen bei unserer treuen Arbeit an seinem Werk, ohnerachtet aller Hindernisse, welche uns die Welt entgegenstellt, und aller Schmerzen und Leiden, die wir darüber zu erdulden haben, auf jeden Fall, und zwar besser, als wir es verstehen und mit unserer geringen Uebersicht der menschlichen Dinge verstehen können, wirklich machen wird und herbeiführen zu seiner Zeit. Und dies, m. g. F., daß wir nicht nöthig haben zu sorgen, sondern alle unsere Sorge für das Reich Gottes und für die Angelegenheiten desselben unter dem Drukk widerwärtiger Schikksale getrost auf den Herrn werfen können, der allein das menschliche Herz zu beruhigen vermag, und der allein im Stande ist, dasjenige zu bewirken, was für uns ein Gegenstand der Sorge ist, das ist das schöne, das kindliche, das stärkende Vertrauen des Christen. [SW bietet Text aus 1823.] Sehen wir auf der andern Seite auf die große Menge des Zweifelhaften und Unentschiedenen im menschlichen Leben, so müssen wir sagen, es sollte wol jeder, der zum Preise Gottes schon mancherlei Erfahrungen von der göttlichen Güte gemacht hat in seinem Leben und es inne geworden ist, daß der Gott, von welchem er sich selbst immer und überall abhängig weiß, in allen seinen Wegen die Liebe ist, jeder, der die Geschichte der Menschen im Großen und Ganzen mit aufmerksamem Auge und mit frommem Herzen betrachtet und gesehen hat, wie Gott der Herr alles dazu lenkt, daß der menschliche Geist immer mehr | der großen Erkenntniß Gottes seines Schöpfers und seines Erlösers, zu welcher er sich berufen fühlt, nicht nur würdig werde, sondern sie auch immer weiter in sich selbst ausbilde, jeder der so das menschliche Leben angesehen hat, von dem sollten auch in Beziehung auf dasjenige, was ihm noch zweifelhaft und unentschieden ist, alle Zweifel entfernt sein, und er sollte im voraus immer bereit sein, dem Herrn Dank zu sagen in seinem Gebet und Flehen für alles, dessen Ausgang noch zweifelhaft sein kann; und das sollte er in dem festen Vertrauen, daß, so er selbst nur nicht weicht von dem lebendigen Glauben an den Herrn und von der Treue in der Gemeinschaft mit ihm, er auch alles für ihn zu einem guten Ausgang und zu einem herrlichen Ziele führen werde. Denn wie wir dieses Vertrauen nur in Christo Jesu haben können, so muß es uns auch klar sein, daß, weil alles in unserm vergangenen Leben, wofür wir Gott unsern Dank schon dargebracht haben, gleich viel, ob es nach der gewöhnlichen Betrachtungsweise der Menschen etwas Angenehmes und Erfreuliches gewesen ist oder etwas Widerwärtiges und Niederschlagendes, gleich viel, ob es uns anfangs viel Besorgniß verursacht und manchen schweren Kampf und manche heiße Thräne gekostet hat, oder ob uns leicht und ohne Verlust auf der äußern Seite unsers Lebens das geistige Gut daraus entstanden ist, weil das alles uns zur Förderung unsers Seelen8–10 Vgl. 1Petr 5,7
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heils und zum Wachsthum in der Gemeinschaft mit dem Erlöser gereicht hat, daß eben so auch alles, was jezt noch unentschieden und zweifelhaft für uns ist, sich zu einem seligen Ausgang hinneigen wird, und daß uns also geziemt, auch dafür in unserm Gebet und Flehen unsere Danksagung vor Gott kund werden zu lassen. Aber, m. g. F., die tägliche Erfahrung lehrt uns, daß auch das ein Ziel ist, welches wir uns noch nicht rühmen können erreicht zu haben, sondern welchem wir uns auch nur allmälig nähern, und in den meisten Fällen sind wir noch zu schwach, um das, was uns noch unentschieden scheint und dessen völlige | Entwikklung wir erst in der Zukunft sehen werden, um für dieses Gott Dank zu sagen nicht nur mit den Lippen sondern mit einem gläubigen Herzen – dazu fühlen wir uns in den meisten Fällen zu schwach. Fragen wir, woher das kommt, so brauchen wir die Antwort nicht weit zu suchen. Das Drükkende und Widerwärtige in den Ereignissen unsers Lebens ist dasjenige, was wir vor Augen haben, was uns in der Gegenwart auf mancherlei Weise berührt, aber die Wendung desselben zu unserm Wohl die liegt in der Ferne, und wir können sie nicht bestimmt vorhersehen, weil der Herr uns nicht vergönnt hat, in die Zukunft zu blikken. Indem nun dies nur ein unbestimmter Eindrukk ist, jenes aber ein bestimmter, von unsern Sinnen aufgenommener und die äußere Seite unsers Lebens treffender Einfluß, so werden wir von jenem hingenommen, dieses aber verschwindet uns. Aber eben weil wir uns in dieser Hinsicht schwach fühlen, so giebt uns der Apostel die Ermahnung, daß wir unsere Bitte in Gebet und Flehen nicht anders, als mit Danksagung vor Gott sollen kund werden lassen. Und wenn wir diese Ermahnung auch in Rükksicht auf diesen nicht unbedeutenden Theil des menschlichen Lebens annehmen wollen, so ist wol klar, wie wir es anfangen müssen, damit uns das Heilbringende in dem Zweifelhaften und Unentschiedenen nicht etwas Fernes sei, sondern als etwas Nahes erscheine. Denn was schon jenes herrliche Wort im alten Bunde meint, das Wort Gottes und das Gebot Gottes sei uns nicht fern, daß einer erst sagen müßte, wer will in den Himmel hinaufsteigen und es uns herabbringen? oder wer will über das Meer fahren und es uns herholen, daß wir seine Stimme hören? sondern es ist in unserm Munde und in unserm Herzen: dasselbe können und sollen wir fühlen von allen Ereignissen des menschlichen Lebens, insofern sie ein Wort Gottes an die menschliche Seele sind, daß wir sie nicht erst brauchen in der Ferne zu suchen, sondern das Heilbringende derselben muß uns nahe sein und unmittelbar unser Inneres einnehmen. Denn alles, was uns lebhaft berührt, befestigt uns | entweder in der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe zu unserm Erlöser, oder es ist eine Offenbarung unserer menschlichen Schwachheit und unsers menschlichen Verderbens. Und das müssen wir auch überall fühlen, wo 29–33 Vgl. Dtn 30,11–14
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solche schmerzliche Begebenheiten, deren Segen und Einfluß auf die Förderung unsers Seelenheils uns noch unbekannt ist, uns berühren. Geschieht es so, daß wir dabei alles aus unserm Herzen vertilgen können, was Mangel ist an Ergebung in den göttlichen Willen; geschieht es so, daß wir dabei keinen Haß fassen gegen diejenigen, welche Gott der Herr als Werkzeuge gebraucht hat bei dem, was unangenehm und schmerzlich bewegt; geschieht es so, daß wir uns selbst ansehen als solche, denen der Herr durch alle Ereignisse des Lebens die Augen des Geistes gnädig öffnen will für die Erkenntniß seines Willens; geschieht es so, daß wir den Sinn immer darauf gerichtet haben, unsers Muthes Herr zu bleiben, und daß wir uns zu nichts verleiten lassen, um etwa den Ausgang der Begebenheiten auf eine für uns heilsame Seite zu lenken und uns sicher in den Besiz des daraus erwachsenden Gutes zu sezen, daß wir uns zu nichts verleiten lassen noch in irgend etwas der Art willigen, was uns nothwendig aus der Gemeinschaft mit unserm Erlöser entfernen müßte: dann fühlen wir auch die Kraft des Erlösers in uns, und wenn wir sie in uns fühlen, so haben wir zugleich die Kraft, in unserm Gebet und Flehen Gott Dank zu sagen auch für das, was noch kommen wird; dann wird das Nahe und Gegenwärtige uns dazu bewegen, daß wir ihm das Ferne und Zukünftige anheimstellen, überzeugt, daß wir in jedem auch noch so trüben Augenblikk etwas haben werden, woran wir erkennen können, daß wir unter seiner weisen Obhut stehen und daß wir ihm angehören, wie er unser Herr und Vater ist. Wenn es aber anders ist, wenn die ungewissen und zweifelhaften Dinge dieses Lebens uns zu irgend einer Art des Murrens gegen Gott bewegen; wenn sie uns irgend eine Art von Furcht und Besorgniß einflößen, die dessen nicht würdig ist, der voll sein soll des | Vertrauens, daß die Gemeinde des Herrn auf einen unerschütterlichen Felsen gebaut und jedes Glied derselben in die Hand seines Erlösers gezeichnet ist; wenn sie uns zu etwas verleiten, was die Liebe zu den Brüdern in unserm Herzen schwächt: so verkündigt sich darin allerdings unsere eigene Schwachheit und unser eigenes Verderben. Aber welche Wohlthat ist nicht das schon für uns, daß wir dessen inne werden! Denn sollte diese Erkenntniß uns nicht bewegen, umzukehren und unser Gemüth wieder hinzuwenden zu dem himmlischen Vater und Vergebung bei ihm zu suchen? und ist das nicht überall, wie der erste Anfang, so auch der weitere Fortschritt in der Heiligung, daß der Mensch sich selbst recht erkenne? Aber was kann uns mehr antreiben, mitten unter den Anfechtungen des Lebens, wo wir uns in der Regel nicht träge finden lassen, Gebet und Flehen zu Gott emporzuschikken, darin zugleich Gott Dank zu sagen, als wenn uns die Augen über uns selbst geöffnet werden und wir Veranlassung haben, unser Inneres in dem Spiegel der Wahrheit zu beschauen? [Schluss fehlt; SW bietet Text aus 1823.] 26–27 Vgl. Mt 16,18
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Am 11. Januar 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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1. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 3,13–14 Nachschrift; SAr 38, S. 305–319; Jonas Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 11. Jan. 1818. Die Gnade cet.
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M. A. F. Der sechste Tag des neuen Jahres war sonst als ein besondres kirchliches Fest dem Andenken jener Begebenheit gewidmet, auf welche auch unser Lied hinweiset, da kurz nach der Geburt des Erlösers, auf besondre Weise dazu aufgefordert, aus fernen Landen drei Männer kamen, ihm ihre Huldigung darzubringen. Diese Begebenheit wurde nicht etwa im Zusammenhang mit den Gefahren, in welchen sich das Leben des Erlösers schon seit seinem ersten Anfange befunden hatte, sondern sie wurde angesehen als der erste Strahl, der von dem neuen Lichte ausging, als der erste Anfang seiner Einwirkung auf die heidnischen Völker der Erde. Und so ist auch uns dies ein wichtiger Gedächtnißtag. Wie lange wir schon im Besitz der Güter des Christenthums sind, vergessen wir es oft, daß auch unsre Vorfahren fern von diesem Lichte in der Tiefe der Finsterniß und des Aberglaubens waren, denken wir wol zu wenig daran, welch ein großer Zusammenhang welterschütternder Begebenheiten, welcher Eifer derer, die das Christenthum zu unsern Vorfahren hinübertrugen, nöthig war. Allerdings haben wir ein Recht, das Christenthum ganz besonders als unser Eigenthum anzusehen, weil, nachdem es einmal zu uns gekommen war, wir wol sagen | können, daß die Völker deutschen Stammes es mit der größten Liebe umfaßt haben und daß alles, was dazu gehört, ihnen ein Gegenstand des lebendigen Nachdenkens immer geworden und geblieben ist; aber darüber sollten wir doch nie vergessen die großen und verborgenen Wege der Vorsehung, um uns zum Genuß dieser Güter zu verhelfen, sollten wir gedenken der eigenthümlichen Kraft dieser Lehre und sollten nie vergessen, was auch 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
4–7 Vgl. Mt 2,1–12
8–9 Vgl. Mt 2,13–18
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uns das Evangelium geworden ist, das sich unter uns erhalten hat und verbessert ist durch auserwählte Werkzeuge des Herrn, sollten nie vergessen, sage ich, daß wir auch deswegen schuldig sind, beizutragen zur Förderung desselben. Darauf laßt uns heut unsre andächtige Aufmerksamkeit richten in Beziehung auf jene Begebenheit. Wir bitten dazu Gott um seinen Beistand cet. Galater 3, 13. 14 Christus aber hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns (denn es stehet geschrieben: verflucht ist jedermann, der am Holz hängt) auf daß der Seegen Abrahams unter die Heiden käme in Christo Jesu und wir also den verheißenen Geist empfingen durch den Glauben. In einem großen Theile dieses Briefes hat es der Apostel Paulus ausdrücklich damit zu thun, den Christen zu zeigen, wie mit vollem Rechte, wenn gleich der Erlöser vom Weibe geboren auch unter das Gesetz gethan war und unter dem Volke, dem das Gesetz Mosis zur Richtschnur diente | gelebt und ausschließlich für dasselbe gelebt hatte, doch unmittelbar der Seegen der Erlösung den Heiden wäre zugeführt. In den Worten unsres Textes macht er ausdrücklich aufmerksam darauf, was habe geschehen müssen, damit dieses möglich geworden sey und eben diese Betrachtung scheint mir heut für uns besonders wichtig; denn wenn wir lebendig erkennen, was nothwendig vorangehen mußte, dann werden wir erst recht durchdrungen werden von der Weisheit der göttlichen Wege und dann werden wir fühlen, was auch wir zu thun haben. In diese beiden Betrachtungen soll also das zerfallen, was ich vortragen will: 1. laßt uns erwägen, was geschehen mußte, damit der Seegen Abrahams über die Heiden, also auch über uns kommen konnte 2. laßt uns sehen, was denn wir im Gefühl dieser göttlichen Wohlthat zu thun haben. I. Der Apostel sagt: „Christus hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns (denn es stehet geschrieben: verflucht ist jedermann, der am Holz hängt).“ Diese Worte können an und für sich manchem dunkel scheinen. Wir dürfen sie aber nur mit manchen andern Ausdrücken in diesem Briefe in Verbindung bringen und sie werden uns klar werden. Der Apostel sagt nemlich: „Da die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz gethan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlösete.“ An einer andern Stelle sagt er: alle die 14–15 Vgl. Gal 4,4
36–38 Vgl. Gal 4,4–5
38–2 Vgl. Gal 3,10
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unter dem Gesetz sind, die sind unter dem Fluch, denn es | stehet geschrieben: verflucht sind alle, die nicht festhalten am Buchstaben des Gesetzes und, was er nicht hinzuzufügen brauchte, weil jeder es selbst fühlte, keiner ist im Stande, es genau zu erfüllen. Das also ist es, was er versteht unter dem Fluch des Gesetzes, daß in allen, die darunter standen, das niederschlagende Gefühl ruhen mußte, daß sie es nicht erfüllen konnten. Es ist also auch ganz dasselbe, wenn der Apostel an der einen Stelle sagt: „Christus habe ihn und sein Volk erlöst vom Gesetz“ und wenn er an einer andern Stelle sagt: er habe ihn und sein Volk erlöst von dem Fluch des Gesetzes. Aber dies konnte nur geschehen, indem er ein Fluch für uns ward nach dem Worte: verflucht ist jeder, der am Holze hängt. Nemlich der Apostel sagt, es würde nicht möglich seyn, daß der Seegen Abrahams wirklich auch über die andern Völker käme, wenn Christus diejenigen unter seinen Jüngern, die ihn erkannten als den Stifter des Reiches Gottes auf Erden nicht zuerst losgemacht hätte vom Gesetz; denn hätten die ersten Jünger Christi, vor sich habend sein Beispiel, daß er sich nicht außerhalb seines Volks entfernte, hätten sie sich in denselben Grenzen gehalten, so hätten sie nicht eingehen dürfen in die Häuser der heidnischen Männer, so hätten sie keinen Bund der Liebe, des Glaubens mit ihnen stiften können, sondern wäre Lust zum Evangelio in die Heiden gekommen, so hätten auch sie sich erst müssen einverleiben lassen in die Nachkommen Abrahams. Aber Gesetz und Evangelium bestehen nicht nebeneinander und wäre es so gewesen, so hätten die Völker mit dem Seegen Abrahams den Fluch des Gesetzes bekommen, eins hätte das andre aufgehoben, die Zuversicht, die sich auf den Glauben | gründet, wäre verunreinigt worden durch den Buchstaben des Gesetzes. Wie ging es denn zu, daß sich die ersten Jünger des Erlösers losmachten vom Gesetz, daß sie zu der Einsicht gelangten, daß kein Mensch könne gerecht werden vor Gott durch des Gesetzes Werke, sondern allein durch den Glauben, durch die Früchte des Glaubens und den Geist, der allein aus dem Glauben kommt? wie konnte der kommen bei denen, die im Gesetz groß geworden waren, die selbst gesehen hatten, daß der Erlöser sich demselben nicht entzog? Nur dadurch konnte das geschehen, daß der Erlöser verworfen wurde von denen, die über das Gesetz wachten. Das mußte geschehen, damit diejenigen, denen der Glaube an ihn als den Sohn Gottes, den Stifter eines neuen Gottesreiches, aufgegangen war, fühlen mußten: das kann nicht die Regel seyn, die wir befolgen müssen, deren Erhalter eben den Erlöser als einen Fluch dargestellt haben. Dadurch wurde ihnen mit Recht das Gesetz zuwider und dadurch wurden sie von demselben los und konnten sie sagen: ist Christus gestorben, so sind wir mit ihm gestorben und abgestorben dem Gesetz. Auch das also, M. F., und sehr wesentlich, gehört zu der göttlichen Weisheit in der Führung unsres Erlö10–11 Vgl. Dtn 21,23
27–29 Vgl. Röm 3,28; Gal 2,16
39–40 Vgl. Gal 2,19
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sers; er mußte auch um deswillen so von seinem Volke verworfen werden, daß seinen Jüngern die Kraft käme, das Joch des Gesetzes zu zerbrechen und sich zu flüchten unter den Glauben und wenn es so nicht gewesen wäre, so wäre der Seegen Abrahams, die Segnungen der Erlösung über die andern Völker der Erde und also auch über uns nicht gekommen, | so würde das Christenthum vielleicht nichts andres, als eine neue, verbesserte Gestalt des Judenthums gewesen und geblieben seyn, aber ein neues Licht, die Heiden zu erleuchten, ein Gottesreich könnte und würde es nicht geworden seyn. Seht da, M. F., einen neuen Grund für uns, das Kreuz des Erlösers zu verehren. Wäre er nicht an demselben als ein Fluch dargestellt worden, wie lange würde dann vielleicht der Geist in seinen Jüngern gearbeitet haben und doch würde ihnen nicht der Muth geworden seyn, sich loszusagen vom Gesetz. Darum haben wir, die wir das Volk seines Eigenthums geworden sind von einem heidnischen Ursprunge her, darum haben wir alle vorzüglich Ursach, sein Kreuz anzusehen als die heilige Fahne, der das ganze Heer nachgezogen ist derer, die es sich zum Geschäft machten, den Völkern die Erlösung zu verkündigen. So ist es dennoch. Seinem Tode und der besondern Art und Weise desselben sind wir auch das schuldig. Er mußte ein Fluch werden zu unserm Besten. Aber laßt uns auch das immer noch betrachten, was nun davon die nächste Folge war. Nur klein, M. F., war die Anzahl derer unter seinem Volke, welche ungeachtet des Endes, das der himmlische Vater seinem Leben bereitet hatte, ihn doch ansahen als ihren und der Welt Erlöser. Dem größten Theile desselben war aber sein Kreuz ein Aergerniß; eben weil das Gesetz ihn als einen Fluch darstellte, wagten sie nicht, der Stimme in ihrem Innern Gehör zu geben und sie gingen wieder zurück unter das harte Joch des Gesetzes | um nach dem alten Gebrauch dem Gott ihrer Väter zu dienen. Und auch die wenigen, denen das Kreuz des Erlösers kein Aergerniß war, die eben mit ihm demohnerachtet leben und auf seine Wiederkunft hoffend, ihn doch als Erlöser ansehen wollten, auch unter denen waren wieder nur wenige, in denen das Gefühlt tief wurzelte, daß das Gesetz keine Kraft haben könne, die Menschen dem Gesetz nach gerecht zu machen vor Gott und diese wenigen hatten einen harten Kampf zu kämpfen, um die Christen aus den Juden dahin zu bewegen, die Christen aus den Heiden als ihre Brüder anzusehen. Welche Anstrengungen, welche wiederholte Belehrungen mußte nicht der Apostel an diesen Gegenstand verwenden? wie oft wurde er nicht von Christen selbst deshalb verkannt und verunglimpft? Aber er und die übrigen, die das Christenthum ausbreiteten, achteten des nicht und nur bei ihrer felsenfesten Treue geschah es, daß das Christenthum zuerst unter den Heiden verbreitet wurde, nur dadurch ist das Christenthum über uns alle ausgegangen. So war es also nicht allein der Tod des Erlösers, sondern es war 13–14 Vgl. 1Petr 2,9; ferner Tit 2,14
23–24 Vgl. 1Kor 1,23
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die Geduld und die Beharrlichkeit seiner Jünger, wodurch die Verbreitung des Christenthums erkämpft wurde. Hätten alle, denen diese heilige Pflicht oblag aus dem engen, ängstlichen Gesichtspunct gehandelt, den wir ihnen wahrlich nicht würden für Schlechtigkeit haben auslegen können, daß es besser sey, eine kleine, nicht gespaltene Gemeine zu bilden, als eine große, uneinig in sich selbst, so wäre der Seegen Abrahams nicht auf uns gekommen. | 312
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II. Wolan, so rege uns dieses auf zu der Frage: was haben denn auch wir in dieser Beziehung, daß der Seegen der Erlösung über alle Völker zu kommen bestimmt ist, was haben auch wir in dieser Beziehung zu thun? Nach zwei verschiedenen Seiten hin muß sich unser Blick wenden, wenn wir diese Frage aufgeworfen haben 1. auf die Ueberbleibsel des Volkes, dem der Erlöser selbst angehört hatte und dessen größter Theil ihn, nachdem er als ein Fluch dargestellt war, als Anführer und Erlöser verschmähte. 2. auf die Völker der Erde, denen noch jetzt der Name des Erlösers fremd ist und die noch itzt fern von seinem Licht sitzen in dem dunkeln Schatten des Todes. Was die ersten betrifft, so haben wir sie unter uns zerstreut durch das Gericht Gottes größtentheils unter den christlichen Völkern lebend diese traurigen Ueberbleibsel eines zerschlagenen und zertrümmerten Volks. Sie leben unter uns und sind nicht selten eine Veranlassung entgegengesetzter Meinung und sehr verschiedenen Betragens. Welche Ansprüche sie machen können in bürgerlicher Hinsicht, das ist eine Frage, die uns hier fremd bleibt; aber was wir als Christen gegen sie fühlen, das muß uns klar werden und es kann uns nicht fehlen, wenn wir an das denken, was vorher gesagt ist. Ja, M. F., wir sollten es nie vergessen, daß sie ein Opfer geworden sind für uns. | War es nothwendig, daß Christus denen, die unter dem Gesetz lebten ein Fluch werden mußte, damit die wenigen, die ihn erkannten, abstarben dem Gesetz, so mußte ihn ja auch der größte Theil verwerfen. Diese Entschuldigung müssen wir ihnen zukommen lassen. Wissen wir es nicht selbst, wie sehr dem Menschen theuer bleiben sollen die Erinnerungen aus einer alten Zeit? Soll ihm nicht alles heilig bleiben, was auf ihn vererbt ist? Wohl, dasselbige Gefühl belebte den größten Theil seines Volkes. Lange hatte es schon bestanden zerstört in seinem ursprünglichen Daseyn, von den Heiden unterjocht und immer sich über ihnen erhaben fühlend und mit Recht wenn auch durch die mangelhafte, immer doch durch die Erkenntniß des Einigen Gottes und sie mußten es fühlen, nur dadurch, daß sie gehalten hatten über dem Gesetz, war das möglich geworden. O wollen wir sie des18–19 Vgl. Mt 4,16
29–31 Vgl. Gal 3,10–14
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halb verdammen, daß das überwog die augenblicklichen Gefühle, die die Reden Christi hervorbrachten, da er selbst nicht einmal sagte, er wolle das Gesetz aufheben, sondern es erfüllen und vervollkommnen? Ja sie mußten mit Finsterniß geschlagen werden, damit eben uns das Licht käme. Wohl, das gilt nur von den Zeitgenossen Jesu, aber nach dem göttlichen Gericht über dieses Volk, von welchem sie hätten fühlen sollen, daß es im Zusammenhang stand mit der Verwerfung des Erlösers, nachdem sie so lange gelebt haben unter christlichen Völkern, nachdem ihnen die Beobachtung des Gesetzes unmöglich gemacht ist, nachdem ihnen das | große Buch der Geschichte hat zeigen müssen, wie Gott gewesen ist mit dem Glauben der Christen, sollen und können wir dennoch dem Volke diese Hartnäckigkeit verzeihen, mit der es verschmäht, mit unter die Fahne des Glaubens zu treten? Gewiß, M. F., müssen wir es als Verblendung ansehen; aber je länger sie sich in dem Zustande befunden haben, ihr Gesetz festzuhalten, je länger sie im Genuß irdischer Güter, bürgerlicher Rechte zurückgeblieben sind, desto mehr müssen wir es doch allen zum freilich untergeordneten Verdienst anrechnen, die nicht zum Schein das Christenthum angenommen haben. Wenn wir also fragen: was können, was sollen wir gegen sie empfinden? so können wir nichts andres, als das herzlichste Mitleiden und die Einsicht fest halten, daß durch ihre Verstockung uns und Millionen das Heil gekommen ist, und was kann aus dem Mitleiden entstehen, als der Wunsch, daß doch bald die Zeit der Verblendung aufhöre? Und hiezu beizutragen, was können wir thun? Es ist freilich weniger möglich, besondre Veranstaltungen zu treffen zur Belehrung derer, denen das ganze Christenthum vor Augen liegt, aber dadurch können und sollen wir auf sie wirken, daß wir ihnen zeigen ein reines, christliches Leben, daß wir ihnen zeigen die Freude am Herrn, die nur der empfinden kann, der sich des Glaubens bemächtigt hat, daß wir ihnen zeigen die Liebe, die in keinem Gemüthe aufgehen kann, welches sich auch selig auf die | kleine Anzahl der Stammesgenossen einengt und welches die große Vorstellung von der großen Güte des Vaters und daß wir alle seine Kinder sind verbirgt, daß wir ihnen zeigen den gewaltigen Unterschied zwischen dem Halten am Gesetz und dem Folgen des Geistes, daß wir ihnen zeigen, wie die Gebildeten unter ihnen oft sagen, man könne Tugend haben und Gott erkennen, ohne einen Antheil am Kreuz des Erlösers zu nehmen, daß wir ihnen zeigen, das sey eben deshalb nicht wahr, weil erst demjenigen, der sich unter das Kreuz des Erlösers begiebt, der ganze Umfang der Pflichten aufgeht, weil nicht der Mensch sich selbst den Geist der Liebe geben kann, sondern er ihn empfängt von der Gemeine der Gläubigen. Das laßt uns ihnen zeigen und beweisen durch unser ganzes Leben, daß wenn sie auch ihr Gesetz noch so sehr veredeln, wenn sie auch aufnehmen vom Christenthum, was sie können ohne den Glauben an den 2–3 Vgl. Mt 5,17
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Gekreuzigten, daß sie dann doch immer nur den Schatten haben, das Wesen aber bei denen ist, welche den geistigen Sinn des Erlösers ergriffen haben und nicht mehr sich selbst leben, sondern demjenigen, der für sie gestorben ist. O thun wir das, so wird allmählig die Zahl derer zunehmen, die tief von dem Gefühl der Wahrheit ergriffen, das Erstorbene werden fahren lassen, um sich dem | anzuschließen, worin allein Leben aus Gott ist. Aber 2. wenn wir nun unsern Blick richten auf so viele unsrer Brüder auf Erden, denen das Licht des Evangelii noch nicht leuchtet, wenn wir bedenken, mit welchem Eifer in den ersten Jahrhunderten des Christenthums die treuen Jünger des Erlösers ausgegangen sind, sein Wort zu verkündigen, sollen wir glauben, daß diese Pflicht der Dankbarkeit gegen den Herrn schon im vollen Umfange erfüllt ist? sollen wir glauben, der Herr habe schon die Grenzen gezogen zwischen denen, die das Evangelium haben sollen und zwischen denen, welchen es verborgen bleiben soll? Fast scheint es so, denn der Trieb, der die ersten Jünger des Erlösers beseelte, scheint erstorben zu seyn und das Allgemeine des Christenthums scheint sich des Gedankens entschlagen zu haben, wenn gleich sehr im Kleinen noch etwas der Art besteht. Können wir das vertheidigen und entschuldigen? Allerdings, M. F., müssen wir sagen: je weiter das Christenthum schon verbreitet ist, je mehr innerhalb der Kirche des Erlösers zu thun ist, um desto mehr läßt es sich rechtfertigen, daß der lebendige Trieb, das Evangelium weiter zu verbreiten, eingeschlummert zu seyn scheint. Aber warum haben denn die ersten Jünger des Erlösers sich | losmachen müssen von dem Joche des Gesetzes, als um auszurotten die Beschränkung der Liebe auf ihr eignes Volk? Muß sich nicht die wahre Liebe zeigen als eine alle irdischen Grenzen verschmähende Liebe? O, M. F., je mehr wir bedenken, wie zweifelhafte Güter viele christliche Völker andern Völkern gebracht haben, sollten wir nicht fühlen, daß, um jene Sünde gut zu machen, jenem Bestreben nun dies gegenüberstehen müsse? Müssen wir nicht fühlen, daß wir viele Sünden, wenn auch nicht unsres Volks, denn wir sind ein mittelländisches Volk, aber viele Sünden andrer christlicher Völker gut zu machen haben, an denjenigen begangen, denen das Licht des Evangelii noch nicht leuchtet? Wohl müssen wir es fühlen: wie soll der Trieb sterben, die Gnade, die dem Einen Hirten folgt, immer zu vergrößern. Uns gebührt es nicht zu entscheiden, welche Völker der Erde empfänglich sind für das Christenthum, und welche nicht, sondern wo eine Thür offen ist, da schalle auch das Wort des Erlösers hinein, wo ein irdisches Band, welcher Art es auch sey, geknüpft wird, o da verbreiten sich mit den irdischen Segnungen die göttlichen! Und wie die christliche Kirche jetzt gebildet ist, so müssen wir sagen, auf irgend eine Weise kann jeder Antheil daran nehmen. Noch bestehen kleine Gesellschaften zur Verbreitung des Christenthums | nicht so glänzend und ausge1–3 Vgl. Hebr 10,1
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dehnt wie ehedem, aber eben das ist eine Schuld, die wir gut zu machen haben. Sie müssen sich wieder ausdehnen, mehrere müssen Beruf fühlen, das Wort zu verkündigen denen, die noch fern davon sind und alle können einen Antheil brüderlicher Liebe daran nehmen, diese zu unterstützen. Anders wären auch wir zur Erkenntniß und zum Genuß des Heils nicht gekommen und was giebt es denn für eine Dankbarkeit der Menschen gegen Gott, als mit dem anvertrauten Pfunde zu wuchern? Wohl, wir haben die Erkenntniß des Herrn empfangen! wuchern sollen wir damit, damit sie sich auch auf die übrigen verbreite, der Weinberg des Herrn soll nicht bloß begossen werden, sondern auch erweitert. Auf mancherlei Weise ertönt jetzt der Aufruf dazu: Jetzt laßt uns mitwirken, daß alle Völker geführt werden zum Genuß des gemeinsamen Heils. Wolan, denken wir jenes ersten, wir wissen nicht wie gesegneten Versuchs, welchen Fremde dem Erlöser darbrachten, o so sollen wir denken, ihm Verehrer zu gewinnen und seinen Namen zu verbreiten! So mögen denn alle christlichen Gemüther sich immer mehr heiligen lassen, nicht mehr auf sich selbst zu sehen, sondern auf alle! Alle Helden des Glaubens mögen sich unsrer Unterstützung zu erfreuen haben, sie, die alles im Stiche lassen, das Wort des Herrn zu ver|kündigen und jeder opfere ihnen gern christliche und milde Gaben, damit wo möglich auch das fest werde, was so nothwendig zum christlichen Leben gehört, daß alles nicht [als] Gesinnung Einzelner erscheine, sondern der ganzen Kirche. Das ist des Herrn heiliger Wille und so müssen wir es ansehen. Als er sagte, er habe noch viele Schaafe, die nicht aus diesem Stalle sind, da war sein liebendes Auge auf das ganze Geschlecht der Menschen gerichtet und eben dahin sey auch das unsrige gewendet und nicht nur kalte Bewunderung müssen wir zollen, nicht nur kalten Beifall, sondern unterstützen müssen wir alle, die Pflanzschulen anlegen wollen des Reiches Gottes, damit alle Christum kennen als den Anfänger und Vollender ihres Heils! Amen.
[Liederblatt vom 11. Januar 1818:] Am ersten Sonntage nach Epiph. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Freu’ dich sehr etc. [1.] Freuet euch ihr Gottes Kinder, / Preiset mit mir Gottes Macht, / Freuet euch ihr armen Sünder, / Gott der hat an uns gedacht, / Und den Heiland kund gethan, / Der führt alle himmelan, / Daß auch arme Heiden können, / Jetzt sich Gottes Kinder nennen. // [2.] Seine Herrschaft sich erstrecket, / 23–24 Vgl. Joh 10,16
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Ueber alles was da lebt; / Seine Hand schützt und bedecket, / Was sich reget lebt und schwebt; / Wenn er spricht, so geht sein Wort, / Schnell wie Blitz und Donner fort, / Es durchdringet Geist und Leben, / Kann Trost Heil und Freude geben. // [3.] Nun ihr Sünder hier auf Erden, / Wollt ihr es auch haben gut, / Wollt ihr Gottes Kinder werden, / Ei so ändert euren Muth. / Preiset Gottes Güt und Macht, / So wird er euch geben Kraft, / Daß ihr auch zu ihm könnt kommen, / Und euch freuen mit den Frommen. // [4.] Aller Heiden Trost ist kommen, / Jesus unsrer Seelen Licht, / Der Beschirmer aller Frommen, / Unser Schutz und Zuversicht! / Preiset seine Güt und Treu, / Die uns noch wird immer neu, / So wird er euch allen geben, / Hier und dort mit ihm zu leben. // (Stett. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Valet will ich dir etc. [1.] O König aller Ehren, / Herr Jesu Davids Sohn, / Dein Reich soll ewig währen, / Im Himmel ist dein Thron; / Hilf daß allhier auf Erden, / Den Menschen weit und breit, / Dein Reich bekannt mag werden, / Zur ewgen Seligkeit // [2.] So wurden deine Zeugen, / Die Leut aus Morgenland, / Die Knie sie vor dir beugen, / Sobald sie dich erkannt. / Wie sie der Stern gewiesen, / So jetzt dein göttlich Wort / Macht, daß du wirst gepriesen / Als aller Völker Hort. // [3.] Du bist ein großer König, / Wie uns die Schrift vermeldt, / Doch achtest du gar wenig / Die arme Pracht der Welt. / Als sie dir huldgen kamen, / Saßst du auf keinem Thron, / Führtst keine Ehrennamen, / Trugst Zepter nicht noch Kron. // [4.] Doch bist du schön gezieret, / Dein Glanz erstreckt sich weit, / Weit deine Huld regieret, / Und dein Gerechtigkeit. / Die Frommen zu beschützen, / Hast du Macht und Gewalt, / Daß sie im Frieden sitzen, / Die Bösen stürzen bald. // [5.] Auch uns ist durch Erbarmen, / Dein Reich gegangen auf, / Die Gnade zeigt uns Armen, / Den rechten Himmelslauf. / Fahr fort dem Feind zu wehren, / Daß Teufel Sünd und Tod / Die deinen nicht versehren, / Rett uns aus aller Noth. // [6.] Und laß uns immer scheinen, / Dein Wort den schönen Stern, / Daß falsche Lehr und Meinen, / Uns immer bleiben fern! / Hilf daß wir dich erkennen, / Und mit der Christenheit / Dich unsern König nennen / Jetzt und in Ewigkeit. // (Martin Böhm.) Unter der Predigt. – Mel. Jesu meine Freude etc. Vater aller Gnaden, / Der du uns geladen / Hast an diesen Ort, / Dein Wort anzuhören / Uns den Weg zu lehren, / Zu der Himmelspfort; / Auf uns richt dein Angesicht, / Das uns leucht vor unsern Füßen, / In den Finsternissen. // Nach der Predigt. – Mel. Es woll uns Gott etc. Dir danken Gott und loben dich / Die Heiden überalle, / Und alle Welt die freue sich, / Und sing mit lautem Schalle, / Daß du auf Erden Richter bist, / Und läßt die Sünd nicht walten; / Dein Wort die Hut und Weide ist, / Dir alles Volk erhalten, / Auf rechter Bahn zu wallen. //
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Sexagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 15,8–10 Nachschrift; SAr 38, S. 321–333; Jonas Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 2r–3r; Gemberg Nachschrift; SAr 40, Bl. 3r–3v; Jonas Keine
Vormittagspredigt am 25. Jan. 1818.
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M. A. F. Daß wir in unserm Gesange uns aufzufrischen gesucht haben als Andenken an die ersten Boten des Erlösers, das bezieht sich diesmal auf einen Umstand, der vielleicht allen fremd ist, daß nemlich heut der kirchliche Gedächtnißtag ist der Bekehrung Pauli. Und wahrlich, wenngleich wir immer fest darauf halten wollen, keinen Menschen zu stellen zwischen uns und den Erlöser, so ist es doch gewiß nicht gut, wenn wir das Andenken derer, die ausgezeichnete Werkzeuge des Erlösers und besonders das Andenken derer, welche seine unmittelbaren Schüler gewesen sind, in uns erlöschen lassen. Lebt es aber in uns, bringen wir die Gegenwart oft in unsern Gedanken in Verbindung mit der Vergangenheit, so soll ja billig auch in unsern gemeinschaftlichen Versammlungen zu frommen Betrachtungen eben diese Erinnerung nicht vergessen werden. Und wenige unter den Einzelnen, die wir kennen als Zeugen der Wahrheit, verdienen so sehr unsre Aufmerksamkeit, als der Apostel Paulus, so daß die Zeit freilich nicht hinreichen würde, wenn wir uns ins Gedächtniß rufen wollten, weshalb er uns wichtig und sein Andenken uns gedeihlich seyn kann, ja wir können sagen, daß wir keinen Einzelnen wissen, der soviel beigetragen zur Verbreitung des Evangeliums, der es besonders unsern vaterländischen Gegenden näher geführt und noch größere Entwürfe gehabt hätte, es noch weiter in den mehr nach Abend liegenden Ländern zu verbreiten, keinen kennen wir, der so rein und kräftig den Gedanken, das tiefe Gefühl von der wahren Freiheit der Kinder Gottes im | Glauben ausgesprochen hätte, keiner endlich hat 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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einen so reichen Beitrag geliefert zu den heiligen Schriften, welche für uns alle der Grund unsres Glaubens, das Vereinigungszeichen unsrer Liebe sind, als eben er, und so können es entweder nur einzelne Betrachtungen seyn, die wir anstellen oder auf wenige Puncte müssen wir unsre Aufmerksamkeit beschränken. So laßt uns zu dieser einem so theuren Andenken gewidmeten Betrachtung den Beistand Gottes erbitten durch das Gebet des Herrn. Tex t. 1 Corinth. 15, 8–10. Am letzten nach allen ist er auch von mir, als einer unzeitigen Geburt, gesehen worden. Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, als der ich nicht werth bin, daß ich ein Apostel heiße, darum, daß ich die Gemeine Gottes verfolgt habe. Aber von Gottes Gnade bin ich, das ich bin und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet, denn sie alle; nicht aber Ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.
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Gar oft, M. F. ist der Apostel in seinen Briefen veranlaßt gewesen, ein Zeugniß von sich selbst zu geben, oft auch veranlaßt gewesen, die merkwürdige Geschichte seiner Hinwendung zum Christenthum bald ausführlich vorzutragen, bald durch einige anspielende Worte in Erinnerung zu bringen. Aus allen diesen habe ich die verlesenen Worte gewählt, weil der Apostel es hier auf die kürzeste Weise thut, indem er nur im Vorbeigehen darauf kommt, da er eigentlich im Begriff ist, die Lehre von der Auferstehung des Herrn ins Licht zu setzen. Es sind aber | zwei verschiedene Beziehungen darin 1. eine Vergleichung zwischen dem, was Paulus wurde, nachdem ihm der Herr erschienen war und dem, was er vorher gewesen war und 2. eine Vergleichung zwischen ihm und den übrigen Aposteln. Die verlesenen Worte werden uns Anlaß geben, hierüber nach seinem Sinne und unserm Bedürfniß nachzudenken. I. Zuerst also laßt uns einen Blick werfen auf das, was Paulus war, ehe er zu einem Bekenner des Christenthums umgewandelt war. Er erinnert uns selbst daran, daß er früher die Gemeine des Herrn verfolgt habe, da er sagt, daß er deshalb nicht werth sey, ein Apostel zu heißen. Aber er war es doch und nannte sich selbst so und er wurde anerkannt von den andern als gleiches Rechtes dem Evangelio Christi dienend und so müssen wir sagen, daß wenn er gleich mit einer schmerzlichen Empfindung von jener frühern Zeit redet, doch seine ganze Ansicht darüber die eines ruhigen Gemüthes gewesen ist. Denn obgleich das Andenken an diese Zeit nicht verlöschen konnte und er es nicht verbergen will, so ist doch seine Ansicht die, daß er 38–1 Vgl. Gal 1,15
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schon von Mutterleib an sey ausersehen zu einem Werkzeug des Evangelii und er sah es also an als den Weg, den Gott mit ihm habe gehen müssen, um ihn zu diesem Puncte zu führen. Und darin sind dem Apostel nicht nur in jenen ersten Zeiten des Christenthums viele ähnlich geworden, daß sie aus Feinden und Verfolgern erst Diener der Gemeine geworden sind, sondern wir müssen sagen, auch in der gegenwärtigen Zeit giebt es viele, die auf | mancherlei Weise verleitet einen geringern oder größern Theil ihres Lebens hindurch dem Wesentlichen des Christenthums abhold sind und der Kraft desselben entgegenarbeiten mit demselben Eifer, den der Apostel früher für das Gesetz bewies. Aber wie der Apostel in dieser Beziehung über sich dachte, so sollen auch wir über alle solche denken und so können auch alle jene selbst denken, wenn sie nur hernach den Rathschluß Gottes in Christo anerkennen und diesem gemäß seiner Lehre und seinem Gesetz folgen. Gar mancherlei sind die Führungen Gottes mit dem menschlichen Gemüth. Einen leichten und einfachen Weg geht der Eine, bewahrt sowol vor den mancherlei Angriffen des Fleisches und der Sünde, als auch bewahrt vor den Verirrungen des klügelnden Verstandes und durch mancherlei Verirrungen hindurch erhält erst der andre eine lebendige und reine Erkenntniß der Wahrheit. Das sind die Rathschlüsse, die der Ewige sich vorbehalten hat und wo wir im Begriff sind, ein hartes Urtheil zu fällen über diejenigen, die entweder jetzt noch keine volle Ueberzeugung haben von der Wahrheit des Evangelii oder die wir früher haben wandeln sehen auf dem Wege des Irthums, laßt uns des großen Apostels gedenken, laßt uns uns nicht wundern sondern freuen, wenn wir sehen, daß sie von dem ersten Augenblicke an, wo der Erlöser ihnen erschienen ist, eben so ruhig sind über die Vergangenheit, als der Apostel. Und nahe liegt uns, indem wir dieses Verhältniß betrachten noch eine andre Frage: wenn nun der Herr dem Apostel nicht erschienen | wäre, wenn nun für ihn die Stunde des Todes gekommen wäre, ehe die Stunde der Erleuchtung gekommen war, wie sollten wir denn über ihn urtheilen? Nicht anders, M. F., als wie er über sich selbst urtheilte. Schmerz zwar empfand er, daß er die Gemeine Gottes verfolgt hatte, aber dieser Schmerz zeigt uns niemals das Gepräge, daß es Gewissensbisse gewesen wären, vielmehr äußert er sich ganz anders: Ich war ein Eiferer für das Gesetz meiner Väter, so äußerte er sich damals und indem er im Eifer für das Gesetz über die Grenzen desjenigen, was das Recht derer war, die das Gesetz des Herrn zu vertheidigen hatten, nicht hinausging, indem er nicht anders handelte, als im Auftrage seiner Oberen, so hatte er auch in der That keinen Grund, sich Vorwürfe zu machen und wie hart uns auch die äußere Gestalt seiner Thaten erscheint, so war sein Gewissen rein und die Bewegungsgründe untadelig, denn er eiferte nur nach seiner besten Ueberzeugung für den Gott seiner Väter. Nun freilich scheint es eine andre 33–34 Vgl. Apg 22,3
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Sache zu seyn mit denjenigen, die sich von der Wahrheit des Evangelii, von der Nothwendigkeit eines Erlösers, von der eigenthümlichen Kraft des Glaubens nicht überzeugen können in unsern Tagen, als mit denen, die zur Zeit der Ausbreitung des Christenthums lebten, jetzt freilich, wo es allen klar vor Augen liegt, wo nicht eine entgegengesetzte Ansicht von den Vätern ererbt widerstreitet, jetzt scheint es anders zu seyn; aber wie wir unterscheiden werden den Eifer des Apostels von dem Eifer der Hohepriester, die uns [als] eigennützige, herrschsüchtige Feinde des Erlösers dargestellt werden, und deren Eifer wir es wol ansehen, daß er nicht in der | festen Ueberzeugung gegründet war, wie wir diese und ihre Handlungen unterscheiden von dem reinen Eifer des Apostels, so müssen wir auch billig eben solchen Unterschied machen unter denen selbst, welche auch jetzt noch nicht durchdrungen sind von dem Glauben an die Wahrheit des Evangeliums, denn viele giebt es, die gegen eine innere Stimme das Ohr verschließen mögten gegen das Evangelium, viele giebt es, die auf jede Weise lieber Feinde machen mögten, als durch Selbstverleugnung, aber viele giebt es auch, die in ihrem Irthum reines Herzens sind, viele in denen eine überwiegende Herrschaft des Verstandes über das innerste Gefühl ist, was sie eine lange Zeit hindurch abgeneigt macht, einem Glauben sich zu ergeben, welcher zu fordern scheint, daß die Vernunft sich gefangen gebe und in welchem etwas Höheres erkannt werden soll, als was sie für das Göttliche im Menschen halten und schwer kann es seyn, daß dieser Widerspruch sich ausgleiche und wir sollen es nicht seyn, die sich zu Richtern aufwerfen über ihre Brüder, so wenig wir es hätten wagen dürfen, ein Verdammungsurtheil auszusprechen über den, der ein solches Werkzeug des Herrn werden konnte, wenn auch die Stunde seines Todes vor seiner Bekehrung geschlagen hätte, denn das ist doch gewiß, daß Gott auch das umfaßt, was nur immer sich noch entwickeln kann und daß der Herr nicht richtet nach dem, was das leibliche Auge zu erkennen vermag, sondern das laßt uns bedenken, daß im Augenblick der Erleuchtung, im Augenblick einer plötzlichen Umwandlung etwas ist, was rein als eine Gnade von oben muß anerkannt werden, | was der Mensch sich selbst nicht geben kann. So wenig der Apostel sich Vorwürfe macht, daß er die Gemeine des Herrn verfolgt habe, eben so wenig macht er sich Vorwürfe, daß er nicht früher erleuchtet war. Wenn also der Mensch sich nicht verstockt gegen die Wahrheit, wenn er ihr treu ist in seinem ganzen Leben, wenn er der innersten Stimme derselben in seinem Gemüthe folgt, dann darf er auch die Erleuchtung von oben erwarten, dann dürfen wir es nicht ihm zuschreiben, sondern wir müssen es Gott überlassen, ob die Stunde derselben früh schlagen wird oder spät, hier oder dort. II. Zweitens laßt uns den Apostel vergleichen mit den übrigen Zeugen des Herrn. Er selbst sagt, er verdiene zwar nicht ein Apostel zu heißen, da der
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Herr ihm erst spät als einer unzeitigen Geburt erschienen sey, aber er habe doch mehr gearbeitet, als sie alle. Darin giebt er uns Veranlassung, auf eine zwiefache Weise ihn mit den übrigen Aposteln des Herrn zusammenzustellen 1. in der Art, wie er es geworden war und 2. in der Arbeit, die er der Gemeinschaft des Herrn geleistet hatte. Er sagt, der Herr sey ihm erst spät erschienen als einer unzeitigen Geburt, und darum verdiene er nicht, ein Apostel des Herrn zu heißen. Nemlich Apostel des Herrn heißen diejenigen, die während der ganzen Lehrzeit des Herrn seinen Umgang genossen hatten. Die meisten von ihnen waren früher Schüler des Johannes gewesen und so waren sie auf dem einfachsten Wege vorbereitet von demjenigen, der | dazu gesandt war, hinzuweisen auf den, der größer war, als er, in ein vertrauteres Verhältniß mit dem Erlöser zu kommen und als es nöthig war einen andern zu erwählen statt dessen, der den Herrn verrathen hatte, stellen sie selbst die Regel auf, es müsse einer seyn, der von der Taufe des Erlösers an mit ihm gewesen sey bis an sein Ende. Das war die Regel, das war der anerkannte Weg, zu der Würde eines Apostels zu gelangen. Diesen Weg war Paulus nicht geführt worden und eben darum sagt er, er verdiene nicht ein Apostel des Herrn zu heißen. Dies veranlaßt uns auch über den Dienst des Evangelii in unsern Tagen nachzudenken. Es giebt auch jetzt einen regelmäßigen und bestimmten Weg, zu demselben zu gelangen und so wie der Herr zwölf Apostel hatte, die es so geworden waren und nur Einen, der ihnen nachher angeschlossen wurde, so müssen auch wir sagen: der größte Theil des Dienstes des Evangelii wird von denen verrichtet, die den gewöhnlichen Weg gehen. Aber so wenig sich der Erlöser daran gebunden, sondern selbst den Paulus aufrief, so ist er der Herr auch jetzt nicht an diesen regelmäßigen Gang gebunden und so wenig die Apostel sich weigerten, Paulum anzuerkennen, so müssen auch alle diejenigen, die auf dem gesetzmäßigem Wege zum Dienst des Herrn gekommen sind, sich immer freuen, wenn auch andre Gemüther aufgeregt werden, das Evangelium zu verbreiten. Aber eben so müssen wir auch auf der andern Seite bekennen, daß wie der Herr zwölf Apostel hatte, die es auf dem gewöhnlichen Wege | geworden waren und nur einen, der auf diese ausgezeichnete Weise zu dieser Würde gelangt war, so müssen wir auch sagen, es erfordert das Wohl der christlichen Gemeine, daß die wohlbegründete, regelmäßige Ordnung feststehe, der Geist zwar nicht gedämpft werde und es jedem frei stehe zu wirken aber die Ordnung in der Gemeine des Herrn auch festgehalten werde. Aber, M. a. F., während die Jünger des Herrn, welche die Zwölf heißen, theils noch waren in der Schule des Johannes, theils schon übergegangen waren in die Schule des Erlösers, 23 wurde] wurden 13–16 Vgl. Apg 1,21–22
35–36 Vgl. 1Thess 5,19
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seine Worte hörten, und von ihm lernten das Volk lehren und die Schrift gebrauchen, wo war unterdeß Paulus der Apostel? Er saß in der Schule zu den Füßen dessen, der der ausgezeichnetste Lehrer damals war, er verschaffte sich die Kenntniß des Gesetzes und dadurch erlangte er etwas, was den meisten Jüngern des Herrn fehlte. Jene wurden nur durch das Bedürfniß des Herzens zum Erlöser getrieben und die Kraft eines gläubigen, ergebenen, liebevollen Gemüthes war es, die sie vorzüglich zu seinem Dienste mitbrachten, in der Einsicht aber waren sie, wie es der Herr selbst sagt, im Leben des Erlösers noch nicht weit gediehen. Dem Apostel Paulus aber war eine ausgezeichnete Kraft des Verstandes, eine große Fertigkeit in der Ausübung aller Gaben geworden in der Zeit, die er zu den Füßen ausgezeichneter Lehrer zubrachte und er durfte nur noch warten auf den Augenblick der gnädigen Erleuchtung, um gleich diese ausgezeichneten Gaben zum Dienst des Evangelii zu gebrauchen. So stellte sich also auch die Gleichheit gleich her. Dem Apostel fehlte etwas, was sie alle gehabt hatten, sie hatten den | Erlöser gehört, aber nicht viel verstanden, der Apostel Paulus war, ohne daß es ihm einfiel, daß es geschehe für Jesum den Messias, geübt worden in aller Weisheit des Volks und diese Weisheit, diese Erleuchtung des Verstandes kam den andern Jüngern auch erst, als sie überschattet wurden vom Geist des Erlösers, der ihnen erst verklärt, was sie schon hatten. So wie der Apostel aber auf der einen Seite demüthig anerkannte, was ihm fehlte, so auf der andern Seite rühmt er sich nicht des Vorzuges, den er vor ihnen hatte und der ihm gewiß immer bleibt, des Vorzuges eines Schatzes von Weisheit aus der Schrift, er rühmt sich nicht, sondern er sagt, daß er fern sey, sich etwas anderen zu rühmen, als Christi des Gekreuzigten. Aber dessen er sich nicht rühmte, das gebrauchte er doch thätig. Wir würden so manches kräftige helle Wort der Wahrheit vermissen, wenn Gott der Herr ihn nicht diesen Weg geführt hätte, wenn er nicht erst wäre gesättigt worden mit der Weisheit der Väter seines Volks, ehe er eingeweiht wurde in das Evangelium. O es sind viele Gaben, aber Ein Geist. Das ist der Eine Geist, daß man sich nichts rühme, als Christi des Gekreuzigten. Aber der Gaben sind viele. Der Herr braucht treue und einfältige Diener, der Herr braucht, obgleich wenige, der Weisen der Welt, aber so wenig sich jene rühmen sollen ihrer Einfalt, so wenig sollen diese sich rühmen ihrer Weisheit und so mögen alle von den verschiedensten Gaben immer wirken zu dem Einen Zwecke, daß der geistige Leib Christi gebaut und gefördert werde. Und zu diesem Zweck sagt der Apostel habe er mehr gewirkt als | alle andern, aber nicht er, sondern Gottes Gnade in ihm. Das scheint aber doch ein Vorzug zu seyn, den er sich selbst zulegt, der nicht aufgehoben zu werden scheint durch die Worte: aber nicht ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist. 8–9 Vermutlich bezieht Schleiermacher sich auf Joh 14,25–26; 16,12–14. 25 Vgl. Gal 6,14 30 Vgl. 1Kor 12,4 31 Vgl. Gal 6,14
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Dieser Schein wird aber aufhören, wenn wir den Sinn jener Worte genauer betrachten. Er meint bloß, er habe mehr Anstrengung gehabt, als alle andern und die habe er glücklich überwunden, aber nicht er, sondern die Gnade Gottes in ihm. Worin bestanden diese Anstrengungen? Darin, daß ihm ein andrer Weg angewiesen war. Die andern Apostel dienten dem Herrn in seinem und ihrem Vaterlande, ihr Dienst schloß sich an die natürlichsten Verhältnisse an. Verfolgungen hatten auch sie von Zeit zu Zeit zu ertragen, aber im Ganzen waren sie doch ruhiger und sicherer. Aber den Apostel trieb der Geist in alle Länder und indem überall Juden und Heiden waren, so erregte er überall Verfolgungen gegen sich und darum war sein ganzes Leben von mehr Widerwärtigkeiten begleitet. Das meint hier der Apostel; denn keiner kann sagen, wie reich er auch wirken möge für das Reich Gottes, keiner kann sagen, wie viel ihm davon zukomme, denn es kommt alles darauf an, wie der Herr die Umstände geleitet hat. Es konnte ja auch der Apostel sein Werk von dem der übrigen Apostel so nicht trennen, denn überall sehen wir ja, wie er darauf hinwirkt, überall unter den Gemeinen die Einigkeit des Glaubens und der Liebe zu erhalten. Dazu liegt ja ganz bestimmt das Gefühl, daß auch sein Werk nicht bestehen könne, ohne das Bestehen | dessen, was schon früher geschehen war, daß er sein Werk nicht trennen könne von dem der übrigen. Er will nichts andres sagen: so wie ich früher die Gemeine des Herrn verfolgt habe, so hat mich auch Gott dazu bestimmt, mehr zu ertragen, als die übrigen; aber auch dessen will ich mich nicht rühmen, daß ich diese Beschwerde überwunden habe, sondern Gottes Gnade ist es, die mir auch dazu verholfen hat. O so laßt uns denn das Andenken dieses theuren Mannes Gottes recht tief in uns auffassen! Laßt uns auch das nicht verkennen, wie viel er ist verkannt worden von denen, die ihm die nächsten waren, von den Genossen seines Stammes und auch von denen, welche er auf den Weg des Heils führen wollte! Ja, M. F., anders nicht, als auf dem Wege dieser Leiden und Verfolgungen konnte das Wort Gottes hindurchdringen durch so viele Geschlechter der Menschen und darum laßt uns nicht glauben, daß die Treue oder die Reinheit jemandes könne daran bewährt werden, daß er von allen gerühmt werde, denn unter den Christen selbst hatte der Apostel Brüder, die er erst bekämpfen mußte. Und anders ist es nie gewesen, wird es auch nie seyn. Diejenigen, welche berufen sind, in Einfalt des Herzens auf leichte und natürliche Weise dem Herrn zu dienen, denen ist auch mehr Ruhe beschieden, aber die mit dem Glauben zu verbinden wissen die Weisheit der Welt, diejenigen, welche Gott durch ausgezeichnete Gaben erleuchtet hat, die haben auch die meisten Anfechtungen zu leiden von Feinden und Brüdern, die ihr Wesen nicht zu würdigen verstehen. Wie wir das | am Apostel sehen, so sehen wir es auch an den ersten Peinigern des Evangelii in der Zeit der 18 Gefühl] zu ergänzen wohl zu Grunde
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Finsterniß, so ist es auch noch. Möge Er also fortfahren, Diener sich auszurüsten für sein Reich und mögen wir uns frei halten vom harten der Begnadigten nicht würdigen Urtheile und bereit seyn unter allen Verschiedenheiten anzuerkennen den Einen Geist! So möge es seyn unter uns jetzt und immerdar! Amen.
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Am 28. Januar 1818 Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Mittwoch, Begräbnis Jakobsfriedhof in Kreuzberg Keiner Nachschrift; SAr 54, Bl. 1r–5r; Schirmer Keine Nachschrift; SAr 54, Bl. 181r–185v; Schirmer Begräbnispredigt für Johann Gottlieb Wilhelm Weber, gestorben am 25. Januar 1818 (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Am Grabe von J. G. W. Weber, der Gottesgelahrtheit Beflissenen 1818.
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M. gel. Jünglinge! Es liegt in dem Maaß und in der Ordnung des menschlichen Lebens, daß, wo so viele auch aus den blühendsten Jahren der Jugend beisammen sind, wie Eurer hier der Wissenschaften pflegen, von diesen dann und wann Einer auch während dieses kurzen akademischen Aufenthaltes das Ziel seiner irdischen Laufbahn erfüllt. So haben wir schon manchen Jüngling begraben, seit diese hohe Schule besteht, und jetzt erweisen wir die letzte Pflicht der Liebe der entseelten Hülle unsers Johann Gottlieb Wilhelm Weber, der Gottesgelahrtheit Beflissenen, der, nachdem er vier Jahre mit Einschluß dessen, welches er dem letzten Feldzuge gewidmet, ein Mitglied dieser Universität gewesen, in einem Alter von zwei und zwanzig Jahren und neun Monaten das Zeitliche gesegnet hat. Aber die mehrsten, welche dasselbe Schicksal getroffen hat, sind dieses Weges getragen worden still und unbemerkt, nur von wenigen, | die sie näher kannten, geleitet; woher kommt diesem so allgemeine Theilnahme, so große Schaar der Begleiter? – Nichts von dem findet sich bei ihm, was sonst die Menschen in großer Anzahl an dem Grabe eines Entschlafenen zu versammeln pflegt. Nicht edles Geschlecht, nicht reicher Besitz äußerer Güter begünstigte den Sohn des pommerschen Landgeistlichen; nicht schimmernde Gaben, welche, wenn auch nicht dauernde Liebe, doch desto gewisser eine flüchtige Bewunderung, ein lebhaftes Wohlgefallen erregen, nicht diese zeichneten ihn aus, den ernsten, bescheidenen, eingezogenen Jüngling; nicht körperliche Kraft und Schönheit lenkten die Aufmerksamkeit auf ihn, der Schwächlicher, der, wenngleich wir sagen können, daß die Mühseligkeiten des Krieges jene zerstörende Krankheit früher in ihm entwickelt haben, so daß wir auch ihn noch den theuren Opfern beizählen dürfen, die
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Am 28. Januar 1818
der Vertheidigung des Vaterlandes gefallen sind, doch den Keim des Todes schon lange in sich trug. Was also? Es war die stille Tiefe eines frommen Gemüthes, die ernste Kraft eines auf das Wahre und Gute gerichteten reinen Willens, die tüchtige | Gesinnung, jeden Wirkungskreis ganz auszufüllen, die angestrengteste und beharrlichste Benutzung aller Kräfte für seinen Beruf, der liebevolle Eifer für jedes gemeinsame Leben, was er theilte. Dies der Grund des zärtlichen häuslichen Verhältnisses zwischen ihm und seinen entfernten Eltern und seinen anwesenden Geschwistern, die Gott trösten und aufrichten wolle. Dies der Grund der allgemeinen Achtung, des ausgezeichneten Vertrauens; welche Ihr, m. gel. Jünglinge, ihm schenktet und wovon Ihr ihm zweimal öffentliche Beweise gabt, indem Ihr ihn zum Dolmetscher eurer Gesinnung machtet an jenem denkwürdigen Tage, dessen Feier uns bald wiederkehrt, und indem, wie ich glaube, die Wünsche vieler unter Euch ihn vornehmlich dorthin riefen, wo Ihr zwiefacher Befreiung theures Andenken durch gottgefällige und kräftige Entschließungen begehen wolltet. Dies der Grund der einstimmigen Werthschätzung, derer er sich von uns, seinen Lehrern, erfreute, der innigen väterlichen Liebe, deren wehmüthiger Schmerz | mir fast die Lippen verschließen will und mir nur wenige Worte erlauben wird. Daß ein so schönes, wohlgeordnetes Gemüth nicht länger hier verweilen, daß ein so tüchtig eingeleitetes Leben in der Blüthe abgebrochen worden und der menschlichen Gesellschaft, die dessen so sehr bedarf, seine Früchte nicht tragen sollte, das darf uns schmerzen, m. Fr., aber wir müssen die dunklen Wege der Vorsehung darin ehren und wir würden unrecht thun, nur den Empfindungen nachzuhangen die hiermit in Verbindung stehen. Vielmehr, wie sein Leben Euch erquicklich und stärkend war, so lasset hier an seinem Grabe sein Andenken in Euch Wurzel fassen, das eben so erquicklich und stärkend sei, nicht vergeblich habe er so unter Euch gelebt, wie er lebte, nicht vergeblich sei er so gestorben, wie er starb. Kein Mensch, auch der weiseste und frömmste nicht, kann sicher sein, daß ein schönes Leben auch werde geschmückt sein durch einen schönen 28 sei] sein 11–13 Anspielung vermutlich auf ein studentisches Fest zum Jahrestag des Erlasses zur Aufhebung der Exemtion für die Dauer des Krieges vom 9. Februar 1813. Im BerlinBericht der Mainzer Bundeszentralkommission vom November 1821 wird ein Brief Eduard Dürres vom Februar 1819 an den Kandidaten Riemann in Boitzenburg zitiert, in dem er über ein jährliches Fest des Aufrufs von 1813 berichtet. „Neulich am 9[.] wurde das Fest des Aufrufs 1813 wieder gefeiert. Im vorigen Jahre waren die Adjutanten in deutschen Röcken, dies Mal freilich in Stürmern und Kanonen.“ Ulrich von Leobschütz gab in einem Verhör zu Protokoll, dass neben anderen Professoren auch Schleiermacher an diesem Fest teilgenommen habe. Vgl. Reetz: Schleiermacher im Horizonz preussischer Politik, S. 349–350 13–16 Gemeint ist das am 18. Oktober 1817 veranstaltete Wartburgfest.
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Grabrede für Johann Gottlieb Wilhelm Weber
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Tod; für niemand giebt es eine Gewährleistung, wie weit die zerstörende Kraft der Natur auch die Seele, so | lange sie noch in den Banden des Körpers ist, angreifen könne. Darum müssen wir es nur als eine göttliche Gnade dankbar verehren, daß unserem Freunde, nachdem auch er jene Gewalt schon erfahren, in den letzten Stunden noch das innere Selbstbewußtsein wiederkehrte, wiewohl schon einigermaßen den Gesetzen des Raumes und der Zeit entnommen. Aber daß er in diesen Stunden nur eine rührende, kindliche Heiterkeit offenbarte, ohne eine Spur von Furcht und Sorgen, das können wir nicht dem Einfluß der Zerstörung zuschreiben, sondern das war der Segen eines wohlgeführten Lebens und eines mit Gott einigen Gemüthes. Darum wird auch allen, die ihm näher standen, das Bild eines solchen Todes tief eingeprägt bleiben und nicht anders, als stärkend und erbauend wirken. – Aber außer jenen allgemeinen Hoffnungen, die mit unserem heiligen Glauben so innig zusammenhangen, über welche von dem Dunkel dieses irdischen Lebens aus, wenn wir bescheiden sein wollen, so wenig gesagt werden kann, deren Kraft sich aber eben | in jener Ruhe am sichersten bewährt, mit welcher das Leben verlassen wird – außer diesen nährt jeder liebevolle Mensch, der sich das Wohl anderer angelegen sein ließ, am meisten noch eine besondere, billige Hoffnung, nämlich auch im Gemüthe der Zurückbleibenden freundlich aufbehalten nicht nur, sondern auch wirksam fortzuleben. Diese Hoffnung erfüllte und erheiterte auch unseren Freund, als er in den letzten Stunden seines Lebens die Reihe seiner näheren und entfernteren Freunde und Bekannten an sich vorüberführen ließ, um sich an dem vollen Bilde des Kreises, in welchen sein Leben eingriff, noch einmal vor dem Scheiden zu erfreuen. Diese Hoffnung also, gel. Jünglinge, laßt nicht zu Schanden werden. Sein Bild bleibe Euch eingeprägt und werde oft ins Bewußtsein zurückgerufen und jeder Augenblick, wo er erregend, beruhigend, erheiternd auf Euch gewirkt hat, wirke noch in Euch bei jedem ähnlichen Falle, so wird er dann gewiß Euch nicht vergeblich gelebt haben. Gedenket darum oft und gern | der Hauptzüge seines Wesens, durch welche Euch sein ganzes Bild wird lebendig werden, seiner christlichen Frömmigkeit, seines wissenschaftlichen Ernstes, seiner brüderlichen Treue. Möchten auch in dem ersten nicht diejenigen allein ihm ähnlich sein, welche die unmittelbare Beschäftigung mit dem göttlichen Wort und den hohen Beruf, Verkündiger desselben zu werden, mit ihm theilen; sondern möchtet Ihr alle es immer inniger erfahren, wie all unsere Weisheit und Erkenntniß, ist sie echt, auch von dem Geiste des Christenthums durchdrungen ist, wie nur der Mensch, der nach Gott fragt, fähig und würdig sein kann, auch in das Heiligthum der Wissenschaft einzugehen, und wie kein äußerer Schutz, sondern nur die innere Kraft eines göttlichen Lebens uns bewahren kann, daß wir nicht in die Abgründe verirren, an deren Rand unser Weg hingeht. Möge das Bild seines ernsten Lebens Euch immer gegenwärtig sein, auch wo es darauf ankommt,
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Euer Vertrauen zu bewahren, damit Ihr es keinem schenkt, der weniger tüchtig und würdig ist, als er. | Möge die Vergleichung mit ihm Euch immer zeitig genug vor denen warnen, welche ohne den Ernst des Lebens in sich zu tragen, ohne sich ganz der hohen Bestimmung, welcher Ihr lebt, geweiht zu haben, eure Liebe und euer Vertrauen, auf die leichte Beweglichkeit der Jugend bauend, erschleichen wollen durch einen anmuthigen, aber leeren Schein, mit dem sie Euch locken, durch einen gefälligen aber gefährlichen Dienst, den sie dem eitlen Wesen leisten. Dann wird er auch für die Zukunft nicht vergeblich unter Euch gelebt haben. Und da ich die Stunden nicht zurückrufen kann, in denen sein brüderliches Herz den Einen oder den Anderen von Euch besonders ergriffen hat; so laßt mich nur noch dessen gedenken, was ich selbst gehört, der brüderlichen Treue, mit welcher er Euch zusprach an jenem Tage, da Ihr ihn zum Dolmetscher Eurer Gesinnungen erwählt hattet; wie er Euch ermahnte, stets eingedenk zu sein jener bedeutenden Zeit, die für immer der Vereinigungspunkt unseres Volkes sein wird, um sich in seinen Grundgesin|nungen zu erkennen und wiederzufinden; wie er Euch da aufforderte, einig zu sein im Bewußtsein dieses großen, gemeinsamen Gefühles, im Bewußtsein eurer hohen, gemeinsamen Bestimmung, einig darin, wie nur verbunden alle Zweige der Erkenntniß und öffentlichen Thätigkeit Eine Gesammtbildung, Ein gemeinsames, höheres Wohlergehen hervorbringen könne, einig in dem Bewußtsein, wie auch Vaterlandsliebe und Liebe zur Wissenschaft nur durch die Kraft des Glaubens und des göttlichen Lebens das Böse in der Welt überwinden können. So sei und bleibe er Euch gegenwärtig, dann hat er Euch nicht vergeblich gelebt und die Gemeinschaft des Geistes währt fort trotz der Trennung, die der Tod gemacht hat. Und so sei in diesem Glauben der Friede und Segen des Herrn über ihm, der vollendet hat, und über uns allen! Amen.
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Am 1. Februar 1818 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Estomihi, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,8–23 Nachschrift; SAr 38, S. 485–492; Jonas Keine Keine Ende der vom 8. Juni 1817 an gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Nachmittagspredigt am 1. Febr. 1818. Phil 4, 8–23.
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Die Nähe der Passionszeit, welche unsre Betrachtungen auf andere Gegenstände richtet, hat mich veranlaßt, die noch übrigen Zeilen unsres Briefs an die Philipper in Eins zusammenzufassen. Wenn wir alle die guten Wünsche und Grüße ausnehmen, so wird unsre Aufmerksamkeit in diesem Abschnitt vorzüglich auf 2 Puncte gerichtet 1. daß der Apostel die Philipper ermahnt 2. daß er ihnen dankt für dasjenige, was sie ihm gethan. Merkwürdig in beiden ist dieses, daß, indem er sie ermahnt, er selbst sich rühmt und indem er ihnen dankt, er auch sich selbst rühmt. Indem wir dieses mit den Ermahnungen und dem Danke zusammenfassen, werden wir die Worte verstehen. Zuerst schreibt der Apostel: weiter, liebe Brüder, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich und was wohllautet ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach; Welches ihr auch gelernet und empfangen und gehöret und gesehen habt an mir, das thut, so wird der Herr des Friedens mit euch seyn. Es kann wol niemand leugnen, daß das eine weit umfassende Ermahnung ist, die der Apostel zuletzt in allgemeinen Ausdrükken zusammenfaßt, weil er nicht alles Einzelne ausführen konnte. Es ist hierin der ganze Umfang christlicher Gottseeligkeit aufgestellt, dem er sie ermahnt nachzustreben, damit der Herr des Friedens mit ihnen sey. Indem er dies thut, fügt er hinzu: wie ihr nicht nur gehört, sondern wie ihr es empfangen habt von mir selbst. Dies muß uns auffallen, daß der Apostel sich selbst so rühmt, als habe er den ganzen Umfang christlicher Tugend | erfüllt. Wenn wir auch die folgenden Worte hierauf beziehen wollten: ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus, so will es doch viel sagen, wenn er sich auch nicht selbst rühmen will, sondern nur meint, er habe den ganzen Umfang christlicher Gottseeligkeit erfüllt vermittelst
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der Gnade Christi, der ihn mächtig mache. Da wird uns denn bald, wenn wir den Apostel rechtfertigen wollen, dieses einfallen, daß er die Philipper ermahnt, daß sie so seyn sollten, daß er sie ermuntert dem nachzustreben und ihnen zeigt, der wahre Geist christlicher Gottseeligkeit bestehe nicht darin, daß man gewisse gute Eigenschaften habe, sondern daß man immer ein höheres Ziel habe, dem man nachstreben müsse. Also das Nachstreben ist es, wozu er sie ermahnt und wessen er sich rühmt, ist das Nachstreben und das werden wir ihm gern lassen. Dies wird uns Aufschluß geben über den Sinn seiner Ermahnung. Wir werden diese Ermahnung zu aller möglichen Vollkommenheit ganz billig finden, wenn wir bedenken, daß dieselbe an eine ganze Gemeine gerichtet ist. Da soll ja wol alles, was aus dem Glauben kommt, zusammen seyn, nemlich so, daß, was nicht in dem einen ist, doch in dem andern sey. Von dem Einzelnen aber, M. F., da fordert der Apostel, was er auch von sich selbst sagt, daß er allem Guten, was irgend eine Tugend oder ein Lob ist, nachstrebe und über alles, was nicht eine Thorheit ist, nachdenke. Das ist das Lehrreiche, was wir aus den Worten des Apostels schöpfen können. Wenn auch dem Einen das, dem andern jenes schwer zu erreichen ist, so sollen | wir uns doch das, was der Apostel von sich selbst sagt, gesagt seyn lassen, daß wir nicht nur dem nachstreben, was uns am leichtesten fällt, sondern wir sollen, wie der Apostel sich selbst anführt als das Beispiel, der ohne Ausnahme allem Guten nachstrebt, dasselbe jeder an seinem Theile thun. Und dies ist erst der wahre und volle Begriff der christlichen Heiligung. Und das ist gewiß auch nur der ächte christliche Sinn, daß wir in allen Dingen und zu jeder Zeit gegen des Fleisch kämpfen und nur von diesem beständigen Streite des Geistes gegen das Fleisch kann man sagen, daß er eine schwere Sache sey, nicht aber ist das schon ein christlicher Sinn, noch vermögen wir so den ganzen Christus zu erfassen, wenn wir uns mit dem befriedigen, was uns nach der Beschaffenheit unsrer Natur leicht wird und das, was uns schwer wird, anderen übertragen. Auch könnten wir nicht einmal zu der Ueberzeugung kommen, daß es wirklich der Geist des Herrn sey, aus welchem die Frucht christlicher Gottseeligkeit hervorgeht, wenn wir bloß dem nachstreben wollten, was uns leicht wird und wovon wir fühlen, daß uns ein größeres Maaß von Gabe beschieden ist, denn wenn wir so auswählen wollten, so wüßten wir weniger, ob es der Eine Geist sey, aus dem die Frucht hervorgegangen ist oder nur aus den besondren verliehenen Gaben. Der Geist offenbart sich aber nur durch seine lebendige Kraft im Streit gegen jegliche Schwachheit des Fleisches und im Trachten nach allem Guten, was irgend eine Tugend oder ein Lob ist. Wenn wir freilich sagen müssen: es ist billig, daß der Mensch | diejenigen Gaben am meisten ausbildet, woran er ein größeres Maaß in sich fühlt, in dem er gewiß seyn kann, daß er damit am nützlichsten seyn kann in dem Reiche Gottes: so muß man doch sagen, es ist nothwendig, daß der Mensch sich auch desjenigen befleißige, was ihm schwer wird, we-
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niger um deswillen, damit er dadurch viel ausrichte, als vielmehr deswegen, um die Fehler zu vermindern, die daraus hervorgehen, wenn man diese Seite vernachlässigt und dann vorzüglich deswegen, damit in dem Streit des Geistes gegen das Fleisch der Geist im Menschen kräftig werde und geschickt, auf alle Weise in Gott zu leben. Wie der Apostel sich selbst als Einen, der allem Guten nachstrebt, zum Beispiel vorsetzt, so ist auch jeder unter uns nicht nur dazu gesetzt, daß er seine eigne Seeligkeit schaffen soll, sondern daß er zu einem guten Beispiel gereiche andern und wenn der Herr auch nicht viele um ihn gesetzt hat, die auf sein Beispiel sehen können, so werden es doch immer die seyn, die ihm am nächsten stehen und diese werden, wenn sie auch noch in jeder Hinsicht schwach sind, sobald nur erst die Stimme des Geistes in ihnen erwacht und etwas Höheres ihnen vor Augen gestellt ist, sich aufgeregt fühlen, dem vorgesteckten Beispiele nachzustreben und das Geschäft der Heiligung ernster zu betreiben. Unterlassen die es aber, denen der Herr viel gegeben hat, den Schwächeren ein gutes Beispiel hinzustellen, so werden auch diese, eben weil sie schwach sind, am ersten geneigt seyn, sich ein Gleiches zu erlauben als jene und in ihrem Eifer für das Gute erkalten. Es ist also für alle, die schon zu einer stärkeren Ueberzeugung | gekommen sind, Pflicht, gleich dem Apostel ein Beispiel zu seyn anderen, um diese für das, was in ihnen lebendig geworden ist, aufzuregen und sie für jene Liebe zu gewinnen, die aus dem Einen Geiste nachstrebt allem, was etwa eine Tugend, oder ein Lob ist. Das gleiche ist, daß der Apostel der Gemeine zu Philippi dankt, indem er sagt: „ich bin aber höchlich erfreut in dem Herrn, daß ihr wieder wacker geworden seyd, für mich zu sorgen; wie wol ihr allewege gesorgt habt, aber die Zeit hat es nicht wollen leiden. Nicht sage ich das des Mangels halben, denn ich habe gelernt, bei welchen ich bin, mir genügen zu lassen. Ich kann niedrig seyn und kann hoch seyn, ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beides satt seyn und hungern, beides übrig haben und Mangel leiden. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus[.]“ Wenn wir uns das überlegen, so mögen wir uns doch auf den ersten Anblick wundern, daß der Apostel auf der einen Seite dankt für ihre Treue und Sorgfalt, mit welcher sie sich seiner irdischen Bedürfnisse angenommen, daß er sich aber auf der andern Seite rühmt, daß ihn das Mangelleiden niemals hindre, sein Amt zu erfüllen, doch das Evangelium zu fördern. Wird nicht dadurch der Dank selbst wieder aufgehoben? Ist das nicht eine wunderliche Sache, wenn wir unserm Bruder auf der einen Seite danken, aber dann ihm auch sagen, daß wir uns daraus nichts machen? Doch werden wir sagen müssen, wer das nicht von sich selbst rühmen kann, wie der Apostel, freilich so, daß er alles vermag durch den, der ihn mächtig macht, Christus, der kann überall nur wenig Gutes schaffen. Wir sollen ja alle | uns selbst und die Welt verleugnen, wir sollen ja alle nicht der Freude und der Bequemlichkeit bedürfen, um ernstlich auf die Erfüllung des göttlichen
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Wortes zu denken, sondern wir sollen es eben so gut können in Kummer und Leiden, um so mehr, als es wahr ist, daß alles irgend Bedeutende den Grund und die Wurzel seines Entstehens in etwas Bösem hat und in dem Widerstandleisten gegen dasselbe. Wer das noch nicht kann, dem muß in der That das Beispiel des Herrn und seiner Jünger noch nicht zu Herzen gegangen seyn. So ist dies offenbar etwas, was wir von allen voraussetzen müssen, daß, was wir irgend thun, dieses oder jenes Bedürfniß zu befriedigen, wenn wir auch nicht vermogt hätten, ein erfreuliches Leben uns zu bereiten, wir doch treue Diener unsres Herrn geblieben wären und also im Wesentlichen dieselbe Zufriedenheit genossen hätten, denn darauf soll ja allein die Zufriedenheit beruhen. Aber ungeachtet der Apostel dies sagt, so können wir doch nicht glauben, daß es ihm so recht von Herzen gegangen ist, denn wenn das der Apostel gewollt hätte, so hätte er ja jene Worte des Dankes sprechen können. Aber in der That, werden wir doch sagen müssen, wenn es uns gelänge, daß wir zu einer vollkommenen Gleichgültigkeit kämen gegen alle irdische Lust, wenigstens in so fern, daß wir uns niemals bewußt würden, daß der Eine uns hemme und der Andre uns fördere, müssen wir nicht dessen ungeachtet sagen, es sey Pflicht der Christen, daß sie doch gegen ihre äußern Bedürfnisse minder gleichgültig seyn müssen? Ja wohl müssen wir das sagen, weil wir fühlen, wenn wir auch alles überwinden können durch den, der da mächtig macht, Christus, daß wir immer einen Theil unsrer Kraft dazu gebrauchen müßten, um jene äußeren Schwierigkeiten zu überwinden, weil wir fühlen, daß erst, nachdem wir Sorge und Unmuth aus uns verscheucht haben, wir frisch ans Werk des Herrn greifen können. Aber wir werden auch nicht | einmal so viel zu schaffen im Stande seyn in derselben Zeit, wie andre, die nicht erst nöthig gehabt haben, Unmuth und Sorge aus sich zu verscheuchen. Und darum erfordert es die gegenseitige Liebe, denen die im Dienste des Herrn sind in jedem Geschäft, welches auf die Beförderung des Guten abzweckt, zu Hülfe zu kommen mit äußern Gütern, daß sie dadurch im Stande seyen, das Werk des Herrn frisch und fröhlich zu treiben und daß sie überhoben werden, erst Sorge und Kümmernisse zu verscheuchen, ehe sie für die Gemeine des Herrn arbeiten können. Je mehr wir auf diese Weise wirken können, um desto mehr haben wir gewiß die äußren Güter zu dem Zwecke angewandt, der uns ja allen der höchste seyn soll. Aber, M. F., wir dürfen auch ein andres nicht übersehen, daß der Apostel sich nicht nur rühmt, er könne Mangel leiden, sondern er könne auch im Ueberfluß leben. Und allerdings ist das ein eben so großer Ruhm, denn so wie wir sehen, daß diejenigen, welche von Sorgen gedrückt sind, nicht so für das Gute wirksam seyn können, wie die, die derselben überhoben sind, so sehen wir auch, daß gar oft die Freuden des Lebens sehr leicht die 11–14 Aber ... können.] „Aber ... können.“
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Beförderung des Guten stören können, und daß dazu viel Stärke gehöre, sich ihnen nicht so hinzugeben, daß dadurch das lebendige Streben und Wirken gehindert werde. Wenn wir aber diese Stärke nicht in jedem in gewissem Maaße voraussetzen könnten, so müßten wir auch den Muth verlieren, andern mit unsern irdischen Gütern zu helfen; wenn wir nicht die Zuversicht haben könnten, daß die, denen wir von unsern irdischen Gütern mittheilen, sich nicht werden blenden lassen, so könnten wir schwerlich mit gutem Gewissen dies thun. So sehen wir, was der Apostel sich als Ruhm beilegt, daß dies eigentlich alle, die Gutes schaffen wollen, von sich zu sagen trachten müssen. Können sie nicht Mangel ertragen, so sind sie auch solche, von | welchen man nicht sagen kann, daß sie viel für das Reich Gottes thun werden, können sie nicht Ueberfluß haben, so müßten wir uns bedenken, wie viel wir ihnen ohne ihren Schaden mittheilen könnten, damit sie sorgenlos am Werke des Herrn arbeiten. Und so sehen wir, daß in dem, was wir allen andern, wie uns selbst zutrauen müssen, auch der Grund des Ruhms des Apostels liegt, daß hieraus auch hervorgeht das wahrhaft christliche Leben, was in Sorgen nicht niedergedrückt und im Ueberfluß nicht übermüthig, in Liebe und Freude fortarbeitet am Werk des Herrn. Und so ist es dieses Bild des christlichen Lebens, was wir aus diesem Briefe hinwegnehmen und womit wir denselben auf die würdigste Art beschließen können[.] Alle Erbauung und Rede über die Worte des Apostels sollte dahin abzwecken, immermehr das lebendige Streben in uns hervorzubringen, allem Guten nachzustreben und durch Gottes Gnade zu einem solchen Bewußtseyn und zu einer solchen Herrschaft des Geistes über das Fleisch zu gelangen, daß wir uns nur als Werkzeuge Gottes betrachten und immer näher rücken dem Ziele, das uns durch Christus ist vorgesteckt worden. Alles um hierzu etwas beizutragen, dazu mögen diese Betrachtungen aus dem Briefe des Apostels gereicht haben! Amen!
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Invocavit, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 12,1–3 Nachschrift; SAr 38, S. 337–351; Jonas Keine Nachschrift; SN 623, Bl. 2v–3r; Crayen Beginn einer Predigtreihe über das Leiden des Erlösers als Grund unserer Seeligkeit, die bis zum 8. März reicht (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 8. Febr. 1818. Die Gnade cet. M. a. F. Es ist wieder die Zeit gekommen, welche uns für die Betrachtung des Leidens des Erlösers in unsern gottesdienstlichen Stunden bestimmt ist. Wie groß, wie niemals zu erschöpfen dieser Gegenstand ist, davon, denke ich, haben wir alle die Erfahrung gemacht. Aber ich fürchte, auch etwas andres wird wenigen, vielleicht keinem unter uns fremd seyn, daß eben das, was die Christen in dem Kreuz des Erlösers vereinigen sollte, gewissermaaßen zu einer Trennung gereicht hat. Denn so zeigt es sich seit geraumer Zeit schon, daß die verschiedene Werthschätzung des verschiedenen Einflusses, den die Leiden des Erlösers auf unser Heil haben sollten, eine Trennung in der christlichen Gesinnung veranlaßt hat. Indem es einige giebt, die vorzüglich gern bei dem verweilen, was das Leiden des Erlösers für die christliche Gottseeligkeit stärkendes, zum ernsten und treuen Dienst aufregendes hat, so gerathen diese leicht bei andern in Verdacht, daß sie zu wenig Werth legen auf den Einfluß, den das Leiden des Erlösers für den ersten und wesentlichsten Grund unsrer Seeligkeit hat und wiederum indem andre bei dem Leiden des Erlösers an nichts andres zu denken vermögen, als wie sie eben dadurch von allem Fluch und von allen Strafen der Sünde erlöst sind, so gerathen diese wieder bei andern in Verdacht, als sey es ihnen mehr darum zu thun von der ängstlichen Furcht des menschlichen Herzens befreit zu werden, als dem Erlöser nachzugehen und wie er das 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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Reich des Vaters zu bauen. So, M. F. sollte es nicht seyn. Warum ist es aber so? Gewiß darum, weil | die wenigsten Menschen im Stande sind, sich von der Stimmung ihres eigenen Gemüthes in gewissem Grade zu entfremden um in ein andres hineinzugehen. Und doch ist dies eine theure und heilige Pflicht der Christen, doch sollte der Anblick des Leidens Christi ganz vorzüglich dazu wirken, daß wie die Ergebung in ihnen auch eine andre Gestalt annimmt, wir doch dieselbe Liebe, denselben Geist in ihnen erkennen sollen. O gewiß, der mit seiner Liebe die ganze Welt umfaßte, soll unser Herz nicht verengen, daß wir nur einige und andre nicht, die seinen Namen auch bekennen, mit unsrer Liebe umfassen: Darum habe ich es für wichtig gehalten, die verschiedenen Gesichtspuncte des Leidens Christi ins Auge zu fassen, um uns mit allen diesen zu befreunden und damit es uns leicht werde, zu der Einsicht zu gelangen, daß wenn gleich der Eine dies, der andre jenes vorzieht, Eins doch ohne das Andre nicht bestehen kann und in ihnen eben alles Eins ist, und damit sich alle zu dem Einen großen Werke Gottes, welches der Erlöser im Gehorsam bis zum Tode vollbracht hat, vereinigen. Dazu laßt uns Gott um Seegen bitten durch das Gebet des Herrn. Hebr. 12, 1–3. Darum auch wir, dieweil wir solchen Haufen Zeugen um uns haben, lasset uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht und lasset uns laufen in Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist, und aufsehen auf Jesum den Anfänger und Vollender unsres Glaubens, welcher da er wol hätte mögen Freude haben, erduldete er das Kreuz und achtete der Schande nicht und ist gesessen zur Rechten auf dem Stuhl Gottes. Gedenket an den, der ein solches Widersprechen von den Sündern wider sich erduldet hat, daß ihr nicht | in eurem Muth matt werdet und ablasset. Es kann uns nicht entgehen, M. F., wie, was der heilige Schriftsteller in diesen Worten sagt, ganz darauf abzielt, den heiligenden Einfluß, den die Betrachtung des Leidens unseres Erlösers auf uns haben soll, uns lebhaft vor Augen zu stellen. Daß also auch darauf die Gemüther der Christen, wie sie von dem leidenden Erlöser denken, gerichtet seyn sollen, daß uns, wenn wir es daran fehlen ließen, auch die Kraft manches herrlichen Wortes der Schrift, wie eben dieses, entgehen würde, das, M. F., wird wol keiner unter uns in Abrede sezen wollen und so laßt uns denn unbeschadet alles übrigen uns heut mit diesem heiligenden Einfluß des Leidens unsres Erlösers miteinander beschäftigen. Er besteht aber gewiß vorzüglich darin 1. daß das Leiden des Erlösers uns ein nachahmenswürdiges Vorbild ist
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2. daß es als das große Wahrzeichen des Christenthums unsre ernste Aufmerksamkeit auf sich zieht und 3. darin, daß es als die Thränensaat unsres Herrn und Meisters den Eifer der Dankbarkeit in uns rege machen soll.
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I. Das Leiden des Erlösers soll uns allen seyn ein nachahmenswürdiges Vorbild. Freilich scheint auf den ersten Anblick unser ganzes Loos auf Erden, die ganze Ordnung der menschlichen Dinge, seitdem nun schon so lange der Bund, den der Erlöser gestiftet hat besteht und so weit unter den Menschen verbreitet ist, eine solche zu seyn, daß wenige unter uns Gelegenheit haben mögten, sich den leidenden Erlöser zum Vorbild zu | setzen. Wol, werden wir sagen, hatte der heilige Schriftsteller Recht, dies denen vorzustellen, an die er schrieb, denn damals war noch die Zeit der Verfolgung, wo Niemand die Gefahr des Lebens scheuen durfte. Aber jetzt nachdem die Kirche Christi sicher gestellt ist, nachdem die Feinde Christi überwunden sind, nachdem alle Kraft der Gesellschaft, der geistigen Bildung auf Erden vorzugsweise in denen ist, die seinen Namen bekennen, wo sollten doch die Leiden herkommen, in denen uns der Erlöser zum Vorbild dienen kann? Denn was jeder zu leiden hat von der Unvollkommenheit der irdischen Dinge, als Folge seiner eigenen Sünden, dabei können wir uns den Erlöser nicht zum Vorbild stellen, weil sein Leiden ein andres war. Aber eben weil wir, wie unser Schriftsteller sagt, eine solche Wolke von Zeugen vor uns haben, die dem leidenden Erlöser gefolgt sind und uns dadurch diese ruhige Zeit bereitet haben, eben deßwegen sollen wir uns mit aller Aufmerksamkeit darauf richten, daß wir in dem Kleinen, was noch übrig ist, desto treuer dem Erlöser folgen. Aber ist es nicht wahr, je ausgebreiteter die Erkenntniß der Wahrheit ist, je freier jeder aus der unmittelbaren Quelle derselben schöpfen kann, um desto leichter, um desto bequemer wollen eben dadurch verführt sich die Menschen den Dienst des Erlösers und der Wahrheit machen, um desto mehr gewöhnen sie sich zu glauben, daß auf die kindliche Treue des Einzelnen, die auch sie könnte dem Mißfallen der Welt aussetzen, weniger ankomme, um | desto mehr hat sich auch ausgebreitet unter den Christen die Scheu vor dem Kreuze und darin liegt eine unseelige Entfernung von dem Vorbilde, welches uns der Erlöser gestellt hat. Ich glaube, M. F., daß die allgemeine Erfahrung das itzt Gesagte bestätigt und daß wir die allgemeine Verschuldung, die dadurch ausgesprochen ist, uns nicht ableugnen können. Sehen es nicht gar viele für einen abentheuerlichen Eifer an, wenn irgend ein Einzelner, ohne daß es in dem unmittelbaren Kreise seiner Pflicht, seines Berufs liegt, dem Verkehrten, Christi Unwürdigen in der menschlichen Gesellschaft entgegentritt? Wie oft hören wir nicht, das sey nur die Frucht des verkehrten Eigendünkels, wenn der Einzelne glaube, durch seine Kraft dem Verderben entgegenzutreten? Hören wir nicht sagen,
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es sey genug, wenn der Mensch durch sein Beispiel bezeuge, was er für gut und nothwendig hält und daß es genug sey, da Rath, Warnung, Lehre zu geben, wo es sein Beruf ist, aber sich in das allgemeine Gewühl menschlicher Irrthümer hineinzustürzen, das sey jetzt übel angebracht und verkehrt und deßwegen könne es auch nicht aus dem reinen unverdorbenen Eifer für das Gute und die Wahrheit herkommen? Worauf beruht das anders, als auf einer sträflichen Gleichgültigkeit, als darauf, daß wir den Kreis der Liebe viel zu eng gezogen haben, daß wir den allgemeinen Beruf, den der Erlöser seinen Jüngern aufgelegt hat, nicht mehr theilen wollen, obgleich er uns nicht davon frei gesprochen hat und uns nicht davon frei sprechen | kann? und worauf beruht denn dies anders, als daß wir glauben, die Wahrheit könne sich selbst helfen ohne den Dienst der Menschen? und das wieder worauf beruht es anders, als daß wir, wenn es auch nicht der Haß ist oder die Verfolgung, doch den Spott und das Mißfallen der Welt vermeiden wollen? O jeder der darin befangen, der so unchristlich ist, der sehe doch auf den Anfänger und Vollender unsres Glaubens, der sehe doch auf das in ihm im Verlöschen begriffene Bild des Erlösers, der denke doch nach, wodurch denn der hineingekommen ist in seine Leiden. Hätte er zu seinem Beispiel die Lehre nicht hinzufügen wollen, seine Feinde würden ihn nicht angetastet haben, hätte er sich begnügen wollen mit dem eingeschränkten Berufe, dem ein eingeschränktes Verhältniß ihm anfangs anwies, er wäre nie verfolgt worden, aber auch die Erlösung der Welt wäre nicht zu Stande gekommen und er hätte nicht sagen können, er sey gekommen den Willen seines Vaters zu thun. Jeder der solche Scheu hat vor dem, was Widerwärtigkeit herbeiführen könnte, jeder der so den Erlöser verleugnete, o der bedenke, daß gerade das unsres sterbenden Erlösers Vermächtniß an alle gewesen ist, daß sie sollten sein Kreuz auf sich nehmen als ihr Kreuz. Aber wir können es nicht anders auf uns nehmen als in dem treuen Dienste der christlichen Wahrheit und dessen, was wir als den Willen Gottes erkennen. Dem soll jeder dienen, so weit er nur reichen kann, dem soll jeder nicht nur seinen Arm | reichen, dem soll nicht nur jeder das Licht seines Lebens leihen und weihen, damit darin der Mensch erkennen möge, was er für Recht hält, sondern auch der Stimme in seinem Innern, welche so weit sie reichen kann, die Worte der Weisheit, der Liebe, des strafenden Ernstes, die der Erlöser so oft redete, nachlallen will und nachreden, soll jeder folgen, jeder soll reden und thun was einem treuen Anhänger des Erlösers geziemt, soll auf sich nehmen sein Kreuz und überall gerichtet seyn gegen die Sünde, und das Unrecht, gegen den Leichtsinn und den Unglauben. Wol werden wir nie reichen an die Wolke der Zeugen, die wir vor uns haben, wol werden wir nie Gelegenheit haben, unser Blut für ihn zu vergießen, aber um desto mehr doch laßt uns bereit seyn, das Wenige zu leiden, damit wir nicht das 23–24 Vgl. Joh 6,38
27 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23
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Viele unterlassen, was wir thun können. Denn das ist immer noch wahr, daß die Leiden dieser Zeit nicht werth sind der Herrlichkeit nicht etwa bloß der, die uns bereitet ist, wenn ein besserer Zustand der Dinge angeht, sondern auch der, die wir hier schon hervorbringen können, wenn wir dem Erlöser und seiner Sache den Dienst nicht versagen. M. F. wenn wir bedenken, wie schwach diejenigen waren, die der Erlöser zu seinen ersten Werkzeugen auserkohr, wie sie das geworden sind durch die Kraft der Wahrheit, die sie aus seinem Munde hörten, durch die Ueberzeugung, die er ihnen | selbst mittheilte, indem er sagte, er sey vom Vater gesandt, so muß ja auch unser Glaube, unsre Rede schwache Gemüther aufrichten können. Aber wenn die Starken sich in sich selbst verschließen wollen, wenn sie die Kraft, die ihnen Gott gegeben hat nicht wollen gebrauchen zum angemessenen Dienste christlicher Wahrheit und christlichen Rechtes, o dann ist die Wahrheit ohne die Hülfe, die ihr gebührt, dann hat sich der leidende Erlöser nicht Werkzeuge erworben, die das weiter führen, was er angefangen und was anders als die Scheu vor seinem Kreuze könnte uns davon zurückhalten. Herrscht also noch darum viel Irthum in der Welt, weil er nicht bestraft, oder nicht laut genug gemißbilligt wird, ist es noch so, daß viel geheime Feindschaft gegen den Erlöser und sein Reich noch immer wirksam ist, weil die meisten ihr erst dann entgegentreten, wo sie sie selbst betrifft, o dann sehen wir wol, daß es nöthig ist, daß wir hinsehen auf den Anfänger und Vollender unsres Glaubens und daß er uns wieder Vorbild wird. II. Aber 2tens muß das Leiden des Erlösers unsre ernste Aufmerksamkeit auf sich ziehen als das heilige Wahrzeichen des Christenthums. Als zuerst die Jünger auszogen, seine Lehre zu verkündigen, da fanden sie auf der einen Seite, daß das Kreuz Christi den Juden ein Aergerniß war, den Heiden eine Thorheit, auf der andern Seite, daß sie sich aller menschlichen Kunst und Weisheit | in ihrem Berufe entschlagen mußten, damit das Eitle nicht mit hineinkomme und seit dieser allgemeinen Erfahrung ist das Kreuz das Sinnbild des leidenden Erlösers, das allgemeine Wahrzeichen des Christenthums geworden, weil es immer noch denen, die nicht fähig sind zu glauben, eine Thorheit oder ein Aergerniß ist, eben weil, wie das Leiden des Erlösers darin seinen Ursprung hatte, daß er das Widersprechen der Sünde auf sich zog, eben so durch sein Bekenntniß das Widersprechen der Sünde entsteht und hervorgelockt wird, und wir müssen gewiß fühlen, daß so wie er es so gewesen ist, es auch immer so bleiben wird. Können wir denken, daß jemals denen, die nicht aufgenommen sind in die Gemeinschaft mit dem Erlöser, das Kreuz des Erlösers nicht könnte ein Aergerniß und eine Thorheit seyn, daß jemals das Widersprechen der Sünde gegen die Lehre des Erlösers und 1–2 Vgl. Röm 8,18
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seine Forderungen an die Menschen, daß dies Widersprechen jemals aufhören könnte? Nein das können wir nicht glauben, darüber müssen wir so gewiß seyn, als wir fühlen, daß das innerste Wesen des Christenthums immer dasselbe bleibt, und daß hier auf Erden der Streit zwischen Licht und Finsterniß, zwischen Geist und Fleisch niemals aufhören kann. Wolan, M. F., wenn wir sehen an dem Kreuz des Erlösers, wohin das Widersprechen der Sünde ihn gebracht hat, laßt uns fragen: wo ist denn | dieses Widersprechen des Lichts gegen die Finsterniß? Was für eine Antwort sollen wir uns geben? O keine andre, als die, daß wir uns nur selbst fragen, ob wir denn auch das Kreuz des Erlösers mit allem Eifer predigen, ob wir denn auch nicht unterlassen, mit dem Licht des Glaubens und mit der Kraft des Glaubens in alle Winkel hineinzuleuchten, die Sünde überall aufzuschrecken und zum Widerspruch zu regen und in die dunkeln Gegenden des Unglaubens die Kraft der Liebe und des Glaubens hineinzubringen. Thäten wir das, der Widerspruch der Sünder würde nicht fehlen. Ist es also nicht die Scheu des Kreuzes Christi allein, welche uns hindert aufzutreten, o so muß ja auch wol dieses noch der Fall seyn, daß wir nicht mit Ernst scheiden, was des Erlösers würdig ist und was herrührt von der Welt und von der Sünde, so muß es auch noch daher kommen, daß wir selbst noch über vieles gleichgültig oder ungewiß sind, und daß wir fortschreiten in der Erkenntniß dessen, was Gott wohlgefällig ist, in dem Maaße, wie die Ruhe es sollte mit sich gebracht haben. Ja gewiß, M. F., ist dieses ein zweiter Theil des heiligenden Einflusses, den das Leiden des Erlösers auf uns haben soll, daß wir es uns vorstellen als einen selbstverschuldeten Mangel, wenn wir nicht das Widersprechen der Sünde zu erdulden haben, daß wir es fühlen als eine Folge der Untreue gegen ihn, wenn der Streit der Welt gegen die Kirche des Herrn jemals zu ruhen scheint. Wir sollen keinen Waffenstillstand schließen und keinen Frieden mit denen, | die den Namen des Erlösers nicht bekennen, das verbietet uns nicht nur der Glaube an ihn, sondern auch die Liebe zu jenem selbst; wir sollen nicht dazu beitragen, daß man nicht erkennen könne, was der Welt angehört und was aus dem Reiche Christi ist und daß man nicht scheiden könne diejenigen, die er immer aufs Neue mit seiner Liebe zu sich einladet von denen, die sich in ihrer Gleichgültigkeit immer mehr von ihm entfernen. Lasset uns deßwegen sehen auf den Anfänger und Vollender unsers Glaubens und auf den Widerspruch der Sünde, die er geduldet hat. Allerdings ist er der Anfänger und Vollender des Glaubens und wie er vollendet hat unsern Glauben, so sollen wir vollenden sein Werk. Trachten wir darnach, daß wir immer mehr ein christliches Volk werden, o dann wird es uns gewiß nicht fehlen an dem Widersprechen der Sünde, dann werden wir gewiß das heilsame Aergerniß am Kreuz Christi hervorrufen und aus diesem unausgesetzten Kriege wird der Sieg hervorgehen, der alle diejenigen schmücken soll, die dem Herrn folgen und sein Kreuz nachtragen.
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III. Aber auch drittens lasset uns sehen auf das, was der Erlöser erduldet hat von den Sündern, wie er hat müssen durch das Leiden des Todes eingehen in die Herrlichkeit, damit | der Sieg ihm folge und er viele nach sich zöge und ihm viele zur Beute würden. Es ist freilich wahr, wir sollen die Widerwärtigkeiten des Lebens gering achten und am meisten diejenigen, welche zusammenhangen mit unserm heiligen Beruf als Christen. Und gewiß erkennen wir es alle als ein Zeichen menschlicher Schwäche wenn der Mensch sich rühmend verweilt bei dem Andenken großer Drangsale und Leiden. Auch hiebei soll jeder Einzelne vergessen, was dahinten ist und streben nach dem, was da vorne ist. Und können wir glauben, daß hierin der Erlöser selbst hinter uns zurückgeblieben ist, können wir glauben, daß er großen Werth legte auf das, was er leiden mußte? O dann würden wir ihn hinter uns selbst stellen. Aber wenn er es auch ganz vergessen hatte, wir, M. F., wir sollen es nicht vergessen. Daß er einmal hat sagen können: meine Seele ist betrübt bis in den Tod und wo möglich, Vater, so gehe dieser Kelch vor mir vorüber, das soll, das darf in unserm Herzen nie vergessen werden. Ist das nicht die Liebe und nur die Liebe, daß wir ein fremdes Daseyn in allen seinen wichtigen Theilen in das unsrige einschließen? Wolan, so gehört auch das zur Liebe zum Erlöser, daß sein Leiden auch uns immer wieder gegenwärtig wird, daß er nicht anders als durch Leiden eingehen konnte zur Herrlichkeit und daß er nicht anders uns dazu durchführen konnte und wie könnten wir dann | anders als mitwirken, daß der Lohn seines Leidens ihm nicht entgeht. Ja nicht nur um das Kreuz nicht zu scheuen und auch darin dem Erlöser zu folgen, sondern auch um zu zeigen, wie die Kraft des Leidens Christi in unserm Herzen lebt und wirkt muß ihm unser ganzes Leben zum Dienste geweiht seyn. Hat er um unsertwillen seiner selbst nicht geschont, was können wir anders, als auch unser nicht schonen, damit auch wir etwas thun zur Förderung seines Reichs und ihm zur Freude und zum Lohn. – Je mehr, M. F., das äußere Reich des Erlösers schon verbreitet ist in der Welt, je mehr in den gegenwärtigen Verhältnissen jeder Einzelne angewiesen ist auf einen bestimmten Kreis des Wirkens, den wir alle nur in der Mitte des Christenthums gefunden haben, um desto weniger scheint jedem Einzelnen noch übrig zu seyn. Aber, M. F., das Wort bleibt doch ewig wahr: die Erndte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. Kann einer unter uns auftreten und sagen, er mögte gern wirksam seyn in dem Dienst des Erlösers, er wisse aber nicht wo und wie? Wie? mögte ich sagen, bist du selbst schon ein würdiger Kämpfer des heiligen Geistes? ist schon alles ausgetrieben aus deinem Herzen, was mit der Liebe bestehen kann? Wie? mögte ich sagen, ist dein ganzes Bestreben darauf gerichtet, daß alle, mit 5 Vgl. Jes 53,12 10–11 Vgl. Phil 3,13 Vgl. Lk 24,26 35 Vgl. Mt 9,37; Lk 10,2
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denen du umgehest auch durchdrungen sind von der Liebe zum Erlöser? ist auch alle Vereinigung, die du mit | andern eingehest, auf nichts andres gerichtet, als auf die Vergrößerung seines Reiches? Führst du alles, was dich erfreut und was dich betrübt auf ihn zurück, als auf den Mittelpunct deines Daseyns? O kannst du dich dessen nicht rühmen, wie viel hast du noch zu thun! Und wäre das wirklich, wie weit in die Ferne können noch gerichtet werden die Thätigkeiten, zur Beförderung alles Guten im Kampf gegen das Böse auf jede Weise dem Herrn zu leben und ihm zu dienen! und dazu können wir uns nicht inniger aufgeregt fühlen, als indem wir auf den leidenden Erlöser sehen. Ja sein Bild muß uns entzünden zu dem ernstesten und heiligsten Eifer, nach innen und nach außen unser ganzes Leben seiner würdig zu gestalten und alle Bestrebungen auf seinen Dienst zurückzuführen. – M. th. F., bedenken wir das alles, o wie könnten wir sagen, es sey etwas Ueberflüßiges oder etwas Geringes, wenn uns der heiligende Einfluß des Kreuzes durchdringt, wenn der uns in diesem Augenblick auf das innigste ergreift. Wir müssen es gestehen, diese belebende, ermuthigende Kraft sollte, könnte noch größer seyn. Wolan, laßt uns denn in diesem Sinne allein sehen auf den Anfänger und Vollender unsrer Laufbahn, das wird uns ihm näher verbinden und wir werden finden, wie viel mehr er uns noch seyn kann, als er uns bisher gewesen ist. Das geschehe denn aufs Neue, wo es am wirksamsten geschehen kann, | unter seinem Kreuze und das heilige uns seinem Werke und Dienste allein. Amen.
[Liederblatt vom 8. Februar 1818:] Am Sonntage Invocav. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Freu dich sehr o etc. [1.] Senke dich auf uns hernieder, / Geist der uns mit Feuer tauft! / Alle sind wir Jesu Glieder, / Und mit seinem Blut erkauft. / Füll uns mit der Andacht Glut, / Laß der Erdenlüste Fluth / Nicht des Herzens Ruhe stören, / Noch den stillen Geist empören. // [2.] Salb uns alle, lehr uns feiern / Jesu Christi Leidenszeit; / Unsren Bund mit Gott erneuern / Lehr uns Geist der Heiligkeit. / Fülle unser ganzes Herz / Mit der Wehmut süßem Schmerz, / Und von deinem Strahl getroffen, / Sei es frommer Rührung offen. // [3.] Stell den Mittler unsres Bundes, / Uns in seiner Schönheit vor, / Bring’ die Reden seines Mundes / An das aufgeschloßne Ohr! / Führ uns nach Gethsemane / In das Allerheiligste, / Wo die Todesnacht ihn schrecket, / Und mit blut’gem Schweiß bedecket. // [4.] Und du selige Gemeinde, / Blick zu deinem Haupt empor, / Zum Messias deinem Freunde, / Den zum Retter Gott erkohr. / Welche Wonn’ und Seligkeit / Schafft die stille Leidenszeit! / Sie entreißt uns dem Getümmel, / Hebt den Vorhang vor dem Himmel. // (Jauer. Ges. B.)
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Nach dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] O du Liebe meiner Liebe, / Ursach unsrer Seeligkeit! / Du der sich aus freiem [T]riebe, / In ein jammervolles Leid, / Ja ins Sterben mir zu gute / Als ein Schlachtschaf eingestellt, / Und versöhnt mit deinem Blute / Alle Missethat der Welt. // [2.] Liebe die mit Schweiß und Thränen / An dem Oelberg war betrübt, / Liebe die mit heißem Sehnen / Und bis in den Tod geliebt, / Liebe die sich liebend zeiget, / Als sich Kraft und Athem end’t, / Liebe die sich sterbend neiget, / Als sich Leib und Seele trennt. // [3.] Liebe die mit soviel Wunden / Sich als Bräut’gam seiner Braut / Unauflöslich fest verbunden, / Und auf ewig anvertraut: / Liebe laß auch meine Schmerzen, / Meines Lebens Jammerpein, / In dem blutverwund’ten Herzen / Sänftiglich gestillet sein. // [4.] Liebe die für mich gestorben, / Und ein immerwährend Gut / An dem Kreuzesholz erworben, / Ach wie denk’ ich an dein Blut! / Ach wie dank ich’s deinen Wunden, / Du verwundte Liebe du, / Daß ich nun zu allen Stunden / Sanft in deiner Treue ruh. // Unter der Predigt. – Mel. Mach auf etc. [1.] Herr komm uns selbst be[r]eiten / Zu allen Seligkeiten, / Und wie du uns willt haben / So schenke deine Gaben // [2.] Dir stündlich nachzugehen, / Dir zu Gebot zu stehen, / Und dich allein zu meinen, / Das ist das Ziel der deinen. // Nach der Predigt. – Mel. Ach alles was etc. [1.] Auf Jesum sind unsre Gedanken gerichtet, / Dem sind wir dem bleiben wir ewig verpflichtet, / Er hat uns mit Seilen der Liebe gefangen, / Er stillt auch allein unser ganzes Verlangen. // [2.] Er ist unser Mittler und Bürge geworden, / Und stiftet des Kreuzes gesegneten Orden, / Nun führet er uns wie die glückliche Jugend, / Wer zählt seine Thaten und Wunder und Tugend. //
Am 15. Februar 1818 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Reminiscere, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 22,51 Nachschrift; SAr 38, S. 353–360; Jonas Keine Keine Beginn einer Predigtreihe über das Einzelne und Geschichtliche des Leidens des Erlösers, die bis zum 15. März reicht (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Nachmittagspredigt am 15. Febr. 1818. Die Gnade cet.
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Wie ich mir vorgesetzt habe, in den Vormittagsbetrachtungen mehr im Allgemeinen auf den großen Einfluß aufmerksam zu machen, den das Leiden des Erlösers auf uns alle hat und wie nothwendig es mit zum göttlichen Rathschluß der Erlösung gehört, so denke ich in unsern Nachmittagszusammenkünften mehr das Einzelne und Geschichtliche dieser letzten Begebenheiten unsrer Andacht vorzuhalten. Es läßt sich aber das Leiden des Erlösers in 3 Abschnitte theilen, nemlich von seinem ersten Anfange an, als er zum letzten Male die Stadt verließ bis dahin, wo er sich völlig in der Gewalt seiner Feinde befand; weiter das, was sich mit ihm ereignete bis dahin, wo sein Schicksal völlig entschieden war d. h. wo das Urtheil seines Todes gefällt war, und endlich was sich mit ihm ereignete, bis er seinen Geist aufgab. Bei der großen Mannigfaltigkeit der Gegenstände und der großen Beschränkung der Zeit wird es nur möglich seyn, aus jedem der einzelnen Abschnitte dasjenige, was das Entscheidendste ist, herauszuheben. So laßt uns dabei zuerst verweilen, wie er von seinen Feinden ergriffen wurde und in die Gewalt derselben kam. Dazu cet. Tex t. Luc. 22, 51. Laßt sie doch so ferne machen. M. A. F. Es ist gar nicht selten dem Christenthum zum Vorwurf gemacht worden, daß es die Menschen gar zu leicht mache, daß es sie entwöhne 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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und abziehe auch von dem gerechten Widerstande gegen das Böse, daß, indem es die Menschen zu dem Glauben hinführe, daß Gott alle Schicksale eines jeden Einzelnen leite, eben dadurch die Thätigkeit der Menschen, sich selbst ein bessres Schicksal zu bereiten, sehr gelähmt werde. Die Worte unsres Textes zeigen uns in dem Erlöser | selbst jene Ergebung, die jeden Widerstand versagt. Es wird euch bekannt seyn, daß der Erlöser dies sagte, als einer seiner Jünger einen Widerstand versuchte und einen von denen, die zu seiner Gefangennehmung ausgeschickt waren, verwundete. Da sagte der Herr: laßt sie doch so ferne machen. Was lag darin anders als ein Verbot für diesen und seine anderen Jünger, für die Erhaltung seines Lebens nichts zu thun? Woher können wir aber besser wissen, als aus dem Beispiele des Erlösers selbst, was hierin dem Menschen ziemt und was Gott wohlgefällig ist? Nur müssen wir freilich auf der einen Seite sein Betragen in seinem ganzen Zusammenhange betrachten, und auf der andern Seite uns umsehen, ob es auf demjenigen beruhe, was den Erlöser von andern unterschied, oder auf demjenigen, worin wir ihm alle ähnlich werden sollen. 1. Laßt uns das Betragen des Erlösers in seinem ganzen Zusammenhange betrachten. Um dieses zu thun, müssen wir nicht bloß bei dem Augenblicke stehen blieben, worin wir den Erlöser finden, sondern wir müssen auch sehen, wie er sich anderwärts zu betragen pflegte. Und da lesen wir in der Geschichte seines Lebens mancherlei Beispiele, woraus hervorgeht, daß er sich keinesweges unthätig der höhern Leitung überlassen wollte. So lesen wir, als das Volk einmal auf eine ungewöhnliche Weise, wie es den Menschen zu begegnen pflegt, sich ergriffen fühlte von seiner göttlichen Kraft und ihn ergreifen wollte, um ihn zum Könige zu machen, da verbarg er sich und entzog sich ihnen. Dann lesen wir anderwärts, daß, nachdem er auf dem Feste gelehrt und das Reich Gottes verkündigt, er nach Galliläa zurückkehrte, denn er wollte nicht in Judaea umherziehen, weil die Juden ihm nach dem Leben standen. | Also er ließ es nicht darauf ankommen, was sein himmlischer Vater auf einem andern Wege veranstalten würde, sondern wo ihm Gefahr drohte, da ging er ihr aus dem Wege. Warum zeigte er sich hier anders? Wäre es nicht möglich gewesen, daß wenn alle seine Jünger einen solchen Widerstand geleistet hätten, wie Petrus, er eben so gut Gelegenheit bekommen haben würde, sich seinen Feinden zu entziehen und am folgenden Tage wieder lehrend im Tempel zu erscheinen? Hier sind wir genöthigt, in der Verschiedenheit der Umstände den Grund zu suchen. Diejenigen, von denen anderwärts gesagt wird, daß sie ihm nach dem Leben standen, das waren dieselben, die ihm auch hier nach dem 7 einen von] einer von 23–26 Vgl. Joh 6,15
26–29 Vgl. Joh 7,1
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Leben standen, nur wollten sie dort hinterlistig zu Werke gehen, hier aber handelten sie im Namen der Oberen des Volks und indem der Erlöser sagt: laßt sie doch ferne machen, so können wir darin nur suchen, daß er jedem Widerstande entsagen wollte, wodurch die unter den Menschen bestehende Ordnung verletzt würde. Und, M. A. F., müssen wir nicht gestehen, daß ist die rechte Grenze, die ein jeder von uns auch sich selbst setzen muß, wo es darauf ankommt, einem drohenden Uebel entgegenzugehen. Was wir thun können auf eine erlaubte Weise, was hervorgehen kann aus einer natürlichen Thätigkeit unsrer Kraft, wie wir sie vor Gott und uns selbst rechtfertigen können, das soll und wird jeder von selbst thun; denn dadurch soll sich der Christ beständig auszeichnen, daß er niemals zu seiner Wirksamkeit solche Mittel nimmt, wodurch das gemeinsame Band der Menschen auf irgend eine Weise verletzt wird, und daß er eben so wenig sein eignes Wohl für etwas so großes halte, daß er um deswillen wage etwas zu thun, was göttlicher und menschlicher Ordnung zuwider ist. Das ist der allgemeine Grund, worauf alles Gute wachsen und gedeihen kann, das ist die gemeinsame Wurzel, aus welcher unendlich viel mehr hervorgehen muß, als ein Einzelner zu thun im Stande ist. Wer also diese untergräbt, der untergräbt nicht nur seine eigne Thätigkeit, sondern er kann auch nicht berechnen, wie weit er störend eingreift in die Thätigkeit andrer Menschen. | Es ist also keinesweges dies eine zu verwerfende Ergebung, sondern es ist nur die gehörige Selbstschätzung, die ein jeder haben soll. Indeß ist hier noch ein andrer Gesichtspunct zu betrachten. Ausgeschickt waren gegen den Erlöser die Diener der öffentlichen Ordnung, und die Knechte der Hohenpriester, ob aber alle, die sich der Schaar angeschlossen eben so in der Kraft ihres Amtes da waren, das ist eine andre Sache und wir haben nicht Ursach, dies vorauszusetzen und so könnte es seyn, daß Petrus ganz fern geblieben wäre von dem Vorwurfe, einen Diener der öffentlichen Ordnung verletzt zu haben. Wenn aber der Erlöser doch das nicht wollte, wie haben wir das anzusehen? So, daß wir bedenken, wenn auch die vereinigten Kräfte der Jünger hingereicht hätten, um diejenigen auseinander zu treiben, die nicht Kraft ihres Amtes da waren, ob denn auch in der Sache selbst etwas geändert wäre, ob sie sich nicht denen, die übrig geblieben wären nach der Denkungsart des Erlösers als ihre Gefangenen hätten hingeben müssen. Allerdings müssen wir sagen, daß dadurch in der Sache nichts wäre geändert worden. Nur das wäre darin geändert, daß die Jünger dem Erlöser erschienen wären als eben solcher leidenschaftlichen Bewegungen fähig und eben so wenig in den Schranken der Besonnenheit sich haltend, wie leider immer bei solcher Gelegenheit der große Haufe. Und wenn der Erlöser sie von solchem Vorwurfe frei halten wollte, wenn er einen in der Leidenschaft gethanen Widerstand eben so streng tadelt, so müssen wir sagen: auch das ist eine Regel, der wir folgen müssen; denn,
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M. A. F., das ist ein altes wahres Wort: der Zorn weiß nicht, was vor Gott Recht ist und dies kann wie von dieser, so von jeder andern Leidenschaft der Seele gesagt werden. Konnte Petrus so handeln, wenn er in derselben Besonnenheit gewesen wäre, wie der Erlöser, wenn er so klar hätte übersehen können, daß aller erlaubte Widerstand nichts geholfen hätte? Hätte er überlegt, wie wol diese unruhige Schaar dazu gekommen sey, sich der ausgesandten Schaar anzuschließen, so würde er unter diesen Umständen nicht aufgeregt seyn, Widerstand zu leisten. Und so müssen wir sagen, daß das Hauptstück der Ergebung darin besteht, auch unter dem Drange der Umstände, auch wenn die größte Gefahr droht, niemals etwas | zu thun, was man im ruhigen Laufe des Lebens seiner unwürdig hält, und sich nie mit dem Gemeinen zu beflecken, sondern immer das Höhere im Auge zu behalten und die Stimmung einer gefaßten Seele nie zu verlieren. Allerdings, M. F., kann hier gesagt werden, wenn wir bedenken, wie die größten uns wohlthätigsten Veränderungen in der Welt zu Stande gekommen sind, so werden wir gestehen, daß der Herr sich häufig dazu der leidenschaftlichen Menschen bedient. Aber wenn wir uns um deswillen diesen leidenschaftlichen Bewegungen hingeben wollten, so würden wir eben in den Fehler verfallen, dessen Begünstigung dem Christenthum vorgeworfen wird, nemlich wir würden die ruhige Leitung unsrer selbst aufgeben und alles der höhern Hand zustellen. Aber, M. F., dies ist nicht dem Christen geziemend. Wir sollen nicht auf das Gerathewohl handeln, wenn auch ein noch so heilsamer Erfolg daraus hervorgehen könnte, denn das wissen wir ja wohl, daß Gott Rechenschaft dafür fordern wird, wie wir unsre Kräfte und die Umstände des Lebens nach seinem Willen und seinen heiligen und uns wohlbekannten Gesetzen gebraucht haben. Haben wir aber gegen irgend eine Gefahr des Lebens kein andres Mittel, um ihr Widerstand zu leisten, als ein zerreißendes und zerstörendes, so müssen wir gestehen, es kann für den Menschen nichts Gottgefälligeres geben und worüber er sich so vollkommen rechtfertigen könnte, als ruhig und still zu sagen: so laßt sie doch so ferne machen! und wenn wir geneigt werden zu leidenschaftlichen Bewegungen, die wir bei ruhiger Prüfung nicht vertheidigen können und haben wir nichts andres, um die auf uns eindringenden Gefahren abzuwenden, so können wir nichts weiter thun, als mit dem Erlöser sagen: so laßt sie doch so ferne machen! So gewiß es auch scheint, daß das Heil der Menschen nicht würde gefährdet werden, so gewiß können wir auch glauben, daß, indem wir uns dessen enthalten, was unsrer unwürdig ist, der Herr für dasjenige schon andre Mittel wissen wird, deren Gebrauch wir bei uns wohl rechtfertigen können. Und welchen Grund wir haben, dies zu glauben, dies wird deutlich | werden, wenn wir:
1–2 Vgl. Jak 1,20
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2. fragen: ob die Handlungsweise des Erlösers darauf beruht, worin er sich von andern unterschied, oder auf demjenigen, worin wir ihm alle ähnlich werden sollen. Man könnte wol sagen, bei dem Erlöser sey es nicht zu verwundern, daß er sich des erlaubtesten Widerstandes entschlagen, weil er eine vollkommene Gewißheit hatte vermöge seines unmittelbaren Zusammenhanges mit dem Vater von seinem Schicksal und weil er, so gewiß er vom Vater in die Welt gesandt war nicht nur um zu leben, sondern auch zu sterben, so gewiß auch wußte, wie nothwendig sein Tod zum Heil der Welt war. Wenn wir nun sagen könnten, daß die Handlungsweise des Erlösers auf dieser seiner Ueberzeugung geruht habe, so dürfen wir auch diese Anwendung nicht auf uns machen. Aber sehen wir nicht kurz vorher, daß der Erlöser sagt: ists möglich, Vater, so gehe dieser Kelch vor mir vorüber? Und so wußte er menschlicher Weise angesehen auch nicht, daß sein Tod jetzt und unter diesen Umständen erfolgen würde und so hat auch das Gefühl von der Bestimmung und Nothwendigkeit seines Todes keinesweges diesen ruhigen Sinn hervorgebracht, sondern der Erlöser, der es uns gegönnt hat, daß er bis zum letzten Augenblicke unser Vorbild war, hat sich auch in dieser Beziehung entäußert seiner göttlichen Kraft, so daß er, wie er es selbst sagte, Tag und Stunde nicht wußte. Er wußte also eben so wenig von seiner zufälligen Zukunft, er hatte eben so wenig eine vollkommene Gewißheit, als wir sie in ähnlichen Fällen haben können, sondern er hatte nur menschliche Wahrscheinlichkeit, er konnte nur an das Gegenwärtige das Zukünftige anknüpfen, er konnte das nahe Ende seines Lebens nur ahnden. Kann also diese Ergebung auf etwas andrem beruht haben, als auf etwas, woran auch wir mit dem Erlöser vollkommen Theil nehmen können und ergiebt sich nicht aus dem Vorhergehenden, worauf diese Handlungsweise beruht habe? Gewiß beruht diese auf dem | festen Glauben, daß Gott der Herr dem Menschen niemals etwas zumuthen könne, wodurch er die Achtung gegen sich selbst verliert und wodurch er sich in seinen eignen Augen herabwürdigen muß. Uns selbst sollen wir immer verleugnen, unser Fleisch bezwingen und die Welt sollen wir verleugnen, aber unser bessres Selbst, womit wir alles Gute ausrichten wollen, den Geist in uns, den können wir niemals verleugnen. Wenn wir diese Zuversicht nicht hätten, dann mögten wir wol sagen mit dem Apostel: ich bin der aller elendeste Mensch; wenn wir uns leiten lassen von willkürlichen Vorstellungen, die wir uns selbst gemacht haben und an das, was Noth thut, nicht denken und wenn wir jemals auf den gefährlichen Weg gerathen sollten, die Stimme des Gewissens zu überhören, ja dann hätten wir alle Sicherheit und Ruhe, dann hätten wir alle Festigkeit des Gemüths in diesem Leben verloren und das ist ja doch das Eine köstliche Ding, wornach wir immer streben müssen, 12–13 Vgl. Mt 26,39 18–19 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32 34 Vgl. vermutlich Röm 7,24 in Verbindung mit 1Kor 15,19 39–1 Vgl. Hebr 13,9
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diese Ruhe des Gewissens. Ist aber unser Herz recht fest geworden in dem Glauben, daß Gott seinem Diener nichts zumuthen könne, was die Ruhe und die Zuversicht des Herzens untergräbt, so muß auch der Glaube feststehen, daß Gott, wenn wir nach unsrer Einsicht und Ueberzeugung nicht mehr zu wirken im Stande sind, als nur auf eine verbotene Weise, andre Mittel bereit haben wird, um sein Werk herrlich auf Erden auszuführen. Seht da, M. F., dies ist der Glaube, der den Erlöser geleitet hat. In diesem Glauben ist er seinem Tode entgegengegangen, diesen Glauben haben auch seine Jünger verkündiget und bewiesen, indem auch sie wollten, daß man Gott mehr gehorchen müsse, als den Menschen, das ist der Glaube auf die Hülfe Gottes für sein Reich, in welchem alle die gehandelt haben, welche im Kampf für das Reich Gottes ihr Leben gelassen haben, dies ist der Glaube, in welchem alle ausgezeichneten Rüstzeuge Gottes gelebt und gehandelt haben. Ja, M. F., wenn es, wie | nicht selten, so geht, daß wir auf eine erlaubte Weise den Widerstand nicht leisten können, den wir bereit sind zu thun, o dann laßt uns nichts andres thun, als mit dem Erlöser in Ergebung sprechen: laßt sie so ferne machen, aber dann uns auch so mehr in dem Glauben stärken, daß es der Herr schon machen werde, daß er seinen Willen doch herrlich ausführen und sein Licht über die Gerechten aufgehen lassen werde. Amen!
9–10 Vgl. Apg 4,19; 5,29
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Oculi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 12,24 Nachschrift; SAr 38, S. 361–371; Jonas Keine Nachschrift; SAr 51, Bl. 41r–46r; Jonas, in: Maquet Teil der am 8. Februar begonnenen Predigtreihe über das Leiden des Erlösers als Grund unserer Seeligkeit (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 22. Febr. 1818.
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Wir haben neulich gesehen, M. A. F., wie sehr Recht diejenigen haben, welche die Kraft des Leidens unsres Erlösers in dem suchen, was die Empfindung desselben beiträgt zur Heiligung und wie nothwendig allen Christen dieses Aufsehen auf den Gekreuzigten ist. Allein die Heiligung der Menschen ist erst die allmählige, die nur langsam wachsende Frucht des Glaubens an unsern Herrn und Erlöser und wenn das die ganze Kraft seines Leidens wäre, so würden wir erst spät derselben theilhaftig. Wir fühlen aber wol alle, daß dem nicht so ist, sondern daß sie uns früher ergreift und daß sie auch schon an der ersten Umkehr unsres Herzens zu Gott einen eignen und höchst bedeutenden Antheil hat. Die Heiligung ist die Frucht des Geistes. Den Geist erhält der Mensch nach der immer wirksamen Verheißung der göttlichen Gnade in dem Glauben und durch den Glauben. Aber unsres Glaubens ist nicht nur der Erlöser der Anfänger und Vollender, sondern er ist auch der Gegenstand desselben. Es ist nicht nur der Glaube, den er uns gelehrt, sondern es ist der Glaube an ihn selbst, aus welchem alles hervorgeht. Dieser Glaube ist der Glaube an den Gottessohn, der eben dazu in die Welt gesendet ist, um ein neues Leben des Geistes wiederzubringen, um zu suchen und seelig zu machen die Verlornen, es ist der Glaube nicht 11 der ersten] die erste 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß 20 Vgl. Lk 19,10
3 Vgl. 8. Februar 1818 vorm.
15 Vgl. Hebr 12,2
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an dies und jenes, was er gelehrt und gethan, es ist der Glaube an den Gottessohn in seinem ganzen Daseyn und Leben. Aber wenn einer | kommt und sagt: wo sehe ich ihn ganz und ungetheilt, als am Kreuz? wird ihm nicht unser eignes Herz Recht geben, werden wir nicht fühlen müssen, daß auch das eben so wesentlich ist zum wahren Christenthum? So laßt uns denn heut aus diesem Gesichtspunct das Leiden des Erlösers betrachten, den Antheil desselben an dem ersten Anfange unsres neuen, geistigen Lebens. Dazu laßt uns Gott bitten in dem Gebet seines Sohnes. Tex t. Joh. 12, 24. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: es sey denn, daß das Waizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringet es viele Früchte.
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Es ist kein Zweifel, M. F., daß der Erlöser diese Worte in Beziehung auf sich selbst und in der bestimmten Ahndung seines Todes geredet habe. Unmittelbar vorher sagte er, die Stunde sey da, daß er verklärt werde und bald darauf sagte er, wenn er erhöht seyn werde von der Erde, werde er sie alle zu sich ziehen. Was nun sagt er in Beziehung auf seinen Tod? es sey denn, daß das Waizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein, wenn es aber stirbt, so bringt es Frucht. Und was war seine Frucht? daß er viele zur Beute und zum Lohne davon trug, daß er den Vater in ihre Herzen zog und denen, die ihn aufnahmen die Macht gab, Kinder Gottes zu heißen. Diese Frucht also, diese Wiedervereinigung mit dem Vater macht er in den Worten unsres Textes abhängig von seinem | Tode: „wenn er nicht stürbe, bliebe er allein, nur wenn er stürbe, könne er Frucht bringen.“ Nun laßt uns denn sehen, wie schon deßhalb, damit wir Gott wiedergewinnen würden, der Herr nicht nur vom Himmel auf die Erde kommen, nicht nur leben und lehren und unser Bruder werden mußte, sondern auch, so wie es geschah, dem Tode hingegeben werden. Allerdings redet der Erlöser in den Worten des Textes nicht von der Art des Todes und man könnte glauben, er meine nur die Nothwendigkeit überhaupt zu sterben. Das ist allerdings deutlich, sollte er menschlich mit uns leben, so mußte er auch darin uns gleich werden, daß er der Gewalt des Todes unterworfen war und nun frage doch jeder sich selbst, ob es möglich gewesen wäre, daß der Erlöser einen andern Tod hätte sterben können, als den von den Händen der Menschen? ob es möglich gewesen wäre, daß er seinen Tod nur dargestellt hätte als die Schwachheit der menschlichen Natur? Nein das ist freilich wahr, einen Erlöser auf dem Krankenbette sterbend können wir uns alle nicht denken. Aber, M. F., das ist doch nicht das, wobei wir stehen bleiben dürfen, damit würden wir immer die eigenthümliche Kraft seines Todes, die verlornen Menschen Gott wieder zuzuwenden nicht begreifen, sondern so schiene uns sein Tod 15 Vgl. Joh 12,23
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zwar unvermeidlich, aber doch nicht als ein solcher, der eine eigenthümliche Kraft hätte und selbst ein Bestandtheil der Erlösung wäre. Vielmehr liegt diese 1. darin, daß nur im Tod des Erlösers gegründet ist die unversöhnliche Feindschaft gegen die Sünde, der Haß alles | dessen, was Theil gehabt am Kreuze des Erlösers und dann 2. darin, daß nur aus diesem Leiden und aus diesem Tode des Erlösers ein ganz reiner Glaube konnte in den Herzen der Menschen gegründet werden. Beides laßt uns jetzt miteinander erwägen. I. ich sage zuerst: nur der leidende, der den Händen der Sünder überantwortete, der sterbende Erlöser konnte in den Gläubigen den Haß gegen die Sünde befestigen, ohne welchen sie nie eine Ueberzeugung von der Gnade Gottes und ihrer Gemeinschaft mit ihm haben können. Denn, M. F., das werden wir wol alle tief fühlen, wenn wir auch, wie so viele, die den Erlöser sahen, wenn wir auch mit ihnen fühlen, daß er nicht redet, wie ein andrer Lehrer, daß es Worte göttlicher Weisheit sind, die er redet, wenn wir auch auf den Zuruf: kommt her zu mir alle, die ihr mühseelig und beladen seyd, mühseelig und beladen zu ihm kommen, ja wenn das auch unser Theil geworden ist, wenn auch er uns in den bessern Augenblicken verklärt, was dunkel im Herzen an und für sich ruht von unserm Verhältnisse zu Gott, wenn sein Zusammenhang mit dem Vater, sein Gehorsam, seine Liebe zu ihm auch scheint in unser Herz übergegangen zu seyn, was fehlt uns noch, um die feste Ueberzeugung zu haben, daß wir in die Gemeinschaft mit Gott | aufgenommen sind? das Eine fehlt uns, die Ueberzeugung, daß wie hier in der Welt ein einfaches Leben und ein einfaches Schauen göttlicher Kraft und Wahrheit nicht möglich ist, wir auch nicht anders das Gute und Göttliche inne werden, als in der Kraft des Entgegengesetzten. Scheint uns Gott auch näher getreten zu seyn in unserm Herzen durch das Wort und das Bild des Erlösers, fühlen wir uns auch Gott näher, indem wir von dem Wunsche durchdrungen sind, nach diesem Worte zu leben und diesem Bilde zu gleichen, es fehlt dann doch an der festen Zuversicht, wenn wir nicht fühlen, wie in uns die Liebe zu Gott und die Gemeinschaft mit Gott Eins sind mit dem Haß gegen die Sünde und mit der Trennung von der sündhaften Welt. Und woher nehmen wir die? Nicht aus dem erwärmenden Worte des Erlösers, nicht in der unmittelbaren Ueberzeugung von dem, was er uns so tröstlich lehrt von der Liebe des Vaters, sondern nur, wenn wir bedenken, daß die Sünde den Sohn Gottes, den Erlöser der Welt dem Tode des Kreuzes gegeben hat, nur wenn wir sehen, wie die Sünder ihre Lust gebüßt haben 19 Vgl. Mt 11,28
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in seinem Tode, o dann muß in denen, die an ihn als den Sohn Gottes glauben, der Haß gegen die Sünde tiefe Wurzel schlagen. Und niemand sage, das sey doch derselbe Unwille, als wenn wir noch jetzt die Sünde sehen und es sey also nichts besondres an dem, was das Schauspiel des Erlösers uns darstellt, das sage keiner, sondern jeder wahre Unwille an jedem Nehmlichen hat seinen Grund und seine Wurzel nur in jenem, und weil die Leiden in der | Welt ein Wiederschein sind von den seinen, nur darum vermögen sie uns zu bewegen. Verzeihen könnten wir es sehr leicht, wenn die Bösen gegen das Gute aufstehen, denn dieses hat ja auch sein Theil vom Bösen, aber daß die Sünde sich des Menschen so bemächtigen konnte, daß sie ihn dahin brachte, auch den Heiligen zu verkennen, auch gegen den vom Himmel Gekommenen zu toben und zu wüthen, das entzündet den Haß gegen die Sünde in dem Herzen der Gläubigen. So gewiß das Herz an ihn glaubt, muß es hassen alles, was den Erlöser ans Kreuz gebracht hat; indem es das Bestreben fühlt, sich zu reinigen von aller Anhänglichkeit an den vergänglichen Gestalten der Welt, indem es sich von allem loszumachen strebt, außer von Gott und seinem Sohne, da erst fühlt es die lebendige Kraft des Glaubens, da erst fühlt es, daß es wahrhaft Theil habe an der Erlösung des göttlichen Sohnes. Das sagt der Erlöser selbst, indem er sagt: jetzt geht ein Gericht durch die Welt und der Fürst der Welt wird ausgestoßen. Ja das ist das große Gericht über die Welt, worüber auch der Geist Gottes, wie der Erlöser sagt, kommen wird, die Welt zu strafen, daß diejenigen, die nicht entbrennen von Mißfallen an alle dem, was den Erlöser ans Kreuz gebracht hat, auch Theilnehmer sind derselben Sünde und ihn immer aufs Neue kreuzigen, daß nur diejenigen, die sich rein zu machen streben von alle dem, daß nur die auch in dem Tode des Erlösers gereinigt werden, daß diese Kraft seines Todes der lebendige | Anfang ist von ihrer Gemeinschaft mit Gott. Das sagt der Apostel, der so tief eingedrungen war in das Geheimniß von den Wirkungen des Erlösers: dazu sey der Herr gestorben, damit wir mit ihm und seinem Tode der Sünde absterben mögten. M. F., wenn wir uns selbst recht prüfen und uns das nicht entgehen lassen, wie geneigt der Mensch ist, auch in der Sünde sich selbst zu entschuldigen, wie seine Gedanken, wenn sie sich einander verklagt haben, auch sich wieder zu rechtfertigen suchen, so ist eben das gewiß für jedes Gemüth der tiefste Jammer und in diesem Gefühl müssen wir uns zurufen: wer befreit mich von diesem Leibe des Todes? wer befreit mich von dieser Verkehrtheit des menschlichen Daseyns? Wer anders, als Jesus Christus, er, der für uns gestorben ist, denn wenn du an den glaubst als an den Gottessohn und wenn du bedenkst, daß eben die Sünde der Selbst20–21 Vgl. Joh 12,31 21–22 Vgl. Joh 16,8 Röm 2,15 36 Vgl. Röm 7,24
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sucht, die sich rechtfertigen will, ihn ans Kreuz gebracht hat, o dann mußt du aufgeregt werden, allein ihm zu leben und in diesem Anfange, in diesem einmal wie immer nicht nur beruhigenden, sondern ermuthigenden Aufsehn auf den Erlöser ist der Fürst der Welt ausgestorben, ist die Gewalt der Sünde gebrochen. II. Aber zweitens ist dieses die eigenthümliche Kraft von dem Leiden und dem Tode des Erlösers für unsre Wiedervereinigung mit Gott, daß eben auf seinem Leiden und Tode die volle Reinheit unsres Glaubens beruht. Wie, könnte einer sagen, | wenn diese auf dem Tode des Erlösers beruht, glaubten denn seine Jünger nicht an ihn, ehe er gestorben war, lebte da nicht schon derselbe Glaube und beseelte er sie nicht, daß sie alles verließen und ihm nachgingen. Als er sie fragt, nachdem ihn viele verlassen hatten: wollt ihr mich nicht auch verlassen? antworteten sie nicht da schon: Herr wo sollen wir hingehen, du hast Worte des ewigen Lebens? Als nach ihrer Aussendung sie ihm erzählen, für wen die Leute ihn halten und er sie fragt: wer glaubt denn ihr, daß ich sey? sagten sie nicht da schon: Herr du bist Christus der Sohn des lebendigen Gottes? Konnten sie nun glauben an ihn unabhängig von seinem Tode, warum nicht auch wir? und wie kann von seinem Tode die Reinheit des Glaubens abhangen? Nur Ein andres will ich euch ins Gedächtniß rufen, was eben so in der Schrift steht als jenes: Als der Erlöser seinen Jüngern sagte, er werde den Händen der Sünder überantwortet werden, sprach da nicht derselbe Petrus: Herr das begegne dir nicht und sagt nicht derselbe Erlöser zu demselben Petrus, zu dem er vorher gesagt hatte: das hat dir Fleisch und Blut nicht geoffenbaret, sagt er nicht: Satan gehe hinter mich? Ja, M. F. auch in den Jüngern des Erlösers war noch nicht der rechte reine Glaube, ehe der Erlöser gestorben war, sondern Thoren waren sie und trägen Herzens, wie er sie auch schalt, ehe die Kraft seines Todes über sie gekommen war. | Sie glaubten an ihn als an den Sohn Gottes und an den, der das Reich Gottes aufrichten solle, aber worin das Reich Gottes bestehe und wie es aufgerichtet werden solle, darin schwankten sie noch, sie waren noch getheilt zwischen Geist und Fleisch und der Glaube an das geistige Reich, das keiner irdischen Freuden und Herrlichkeit bedarf und keine solche hervorbringen will, dieser Glaube kam auch ihnen nur durch die Kraft seines Todes und auch uns kommt er nur, wenn sein Tod unser ganzes Herz durchdringt. Der ist immer noch auf einem niedrigen Standpuncte, der das Gute nur thut der Folgen wegen und aus dem Glauben, daß durch diese Kraft allein die Uebel des Lebens verschwinden, kann keine Fülle eines geistigen Lebens hervorgehen. Allein 14–15 Vgl. Joh 6,68 17–18 Vgl. Mt 16,15–16 22–23 Vgl. Mt 16,22 25 Vgl. Mt 16,17 26 Vgl. Mk 8,33 28 Vgl. Lk 24,25
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wenn wir uns fragen, bleibt nicht davon auch in dem Herzen der bessern Menschen immer mehr übrig, als man glauben sollte? Wird nicht, ich will nicht sagen, dem natürlichen Menschen, sondern dem, welchem wir das höhere Leben nicht absprechen können, wird nicht dem alles Gute schwerer, was er noch entfernt von sich sieht, wird ihm nicht alles leichter, woran sich, wenn auch ein unschuldiger Genuß knüpft? und das ist das Unreine, was nur allein durch die Kraft des Todes Christi aus den Herzen der Seinigen kann gerissen werden, wie auch den Jüngern erst nach seinem | Tode klar wurde, daß er nicht gekommen sey, ein Reich äußerer Macht und Herrlichkeit aufzurichten, wie auch da erst sie entzündet wurden für das Unsichtbare, wie da erst sie aufgeregt wurden, erwartend allein die Kraft eines göttlichen Lebens und das Kreuz ihres Herrn und Meisters, daß sie sich retten mögten vor der Sünde. Darum war das Kreuz des Erlösers den Juden ein Aergerniß und den Griechen eine Thorheit und der Apostel sagt, das müsse so bleiben, damit diejenigen, welche des Glaubens fähig wären, durch die Kraft des Glaubens gerettet würden. Setzt der Mensch noch seine Hoffnung auf den Erfolg dieser Welt, sey er auch noch so sehr auf das Allgemeine gerichtet, trachtet er noch nach irgend etwas anderem, als was ihn selbst von der Herrschaft der Sünde befreit hat, als nach der großen Gemeinschaft und dem Dienste des Erlösers, will der Mensch noch etwas andres als dieses, so ist sein Glaube noch nicht gereinigt durch das Kreuz des Erlösers, so ist es auch ihm noch ein Aergerniß und eine Thorheit. Darum ist das Kreuz des Erlösers das Bundeszeichen der Christen. Das Kreuz des Erlösers beständig im Herzen haben, fühlen, daß der Jünger nicht besser ist, als der Meister, aber doch eben so wie er den Willen des Vaters im Himmel vollbringen, das ist es, wodurch allein wir in der That Reben sind | an ihm dem Weinstock; aber das kommt uns nicht aus der Weisheit seiner Rede, nicht aus dem Beispiel seines göttlichen Lebens, das kommt uns nur aus der Kraft seines Kreuzes und dadurch daß wir es annehmen und auf uns nehmen. Ja, M. F., so ist es, der erste Anfang des göttlichen Lebens muß geweiht seyn durch die Kraft seines Leidens und seines Todes, oder dieser Anfang ist noch nicht da. Der Glaube an ihn muß das Gepräge seines Kreuzes tragen, die Liebe zu ihm muß von dem Bewußtseyn durchdrungen seyn, daß die Sünde der Welt ihn ans Kreuz geschlagen hat, dann erst lebt sein Leben in uns, dann erst haben wir die Bürgschaft, daß sein Geist in uns wirkt, daß er uns zu sich zieht und ewig festhalten wird. So müssen wir es also gestehen, nicht nur zum allmähligen Wachsthum in der Heiligung gereicht uns das Andenken an den Tod des Erlösers, sondern der erste Anfang des geistigen Lebens muß von diesem Leiden durchdrungen seyn. Fehlte dies, so wären auch wir noch nicht im Hafen des Glaubens angelangt, 13–14 Vgl. 1Kor 1,23 14–16 Vgl. Röm 11,25–32 6,40; Joh 13,16 26–27 Vgl. Joh 15,5
24–25 Vgl. Mt 10,24; Lk
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denn dadurch allein ist der Mensch der Sünde abgestorben und wie er sich verirren mag, jedesmal findet er wieder die Kraft des Glaubens und die Kraft zum Abscheu gegen die Sünde und ihre Gewalt. Amen.
[Liederblatt vom 22. Februar 1818:] Am Sonntage Oculi 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Vater unser etc. [1.] Gegrüßet seist du Herr mein Heil, / Mein Auge Licht und schönstes Theil! / Gegrüßet seist du werthe Brust, / Du Gottes Sohn, du Menschen Lust, / Du Träger aller Bürd’ und Last, / Du aller Müden Ruh und Rast. // [2.] Mein Jesu neige dich zu mir / Mit deiner Liebe, daß von dir / Mein Herz in deiner Lieb’ entbrenn, / Und von der ganzen Welt sich trenn; / In frommer Andacht sich erweich, / Sich stärke, deinem Glauben gleich! // [3.] Mach Herr durch deines Herzens Quell / Mein Herz von Sünden rein, und hell / Zu schauen dich als Gottes Bild / Und Abglanz, als der Sünder Schild! / Und aus den Schäzen deiner Gnad / Ertheil auch mir Kraft Hülf und Rath. // [4.] O Lebensfürst thu’ mir die Gunst, / Und fülle mich mit deiner Brunst. / Aus deinem Tod entspringt die Frucht, / Die dein treu Lieben hat gesucht; / Und nie erreicht der Engel Mund / Der Todesweisheit tiefsten Grund. // [5.] In dir wohnt alle Gottesfüll, / Und alles was ich wünsch’ und will; / Mit dir gestorben leb’ ich dir / Dein Leben theilest du mit mir! / So schließ mich treulich in dich ein, / Und laß mich ewig bei dir sein. // (P. Gerhard.) Nach dem Gebet. – Mel. Herzlich behüt mich etc. [1.] O hochbeglückend Leiden, / Belebend seelger Tod! / O fest verbindend Scheiden! / O segensreiche Noth! / Wie ka[n]n ich g’nug erwägen / Den wunderbaren Rath, / Der dich um unsertwegen / Dem Tod geweihet hat. // [2.] Was hat dich doch beweget, / Des ewgen Vaters Wort, / Daß du hast angeleget / Mein Fleisch, und bist der Hort / Der armen Menschen worden? / Die treue Liebesmacht, / Hat dich in diesem Orden / In schwere Pein gebracht. // [3.] Denn als ich ganz verloren, / Durch meiner Sünden Schuld / [D]em Elend war erkohren, / [K]amst du voll Lieb und Huld; / Du ließest dich erwürgen, / Unschuldges Lämmelein; / O übertheures Bürgen, / So mich führt Himmelein. // [4.] Mir schwinden fast die Sinnen, / Wenn ich ersinnen will / Das schreckliche Beginnen / Der Feinde ohne Ziel! / Doch ihnen ists mißlungen, / Gänzlich sind sie erlegt; / Weil Jesus durchgedrungen, / Ihr Wüthen sich nicht regt. // [5.] Wie könnt ich das verdienen, / O Jesu Gottes Sohn, / Daß du für mich erschienen, / Vor deines Vaters Thron! / Sieh hier ich bin zugegen / Mit meiner Opfergab, / Zu Füßen dir zu legen / Leib Seel und was ich hab. // [6.] Nimm auf die Seel in Gnaden, / Du hast sie ja erlöst! / Heil’ allen ihren Schaden, / Laß mich nicht ungetröst’t! / Der Leib und was ich habe, / In dieser Zeitlichkeit – / Verschmähe nicht die Gabe – / Sei deinem
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Dienst geweiht. // (Stett. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. O Traurigkeit etc. [1.] O Gottes Sohn, mein Gnadenthron, / Du stirbst auf daß ich lebe, / Und an dir o Weinstock sei / Eine grüne Rebe. // [2.] Ich danke dir o Himmelszier, / Daß du für mich gelitten; / Daß du sterbend meinen Tod / Ritterlich bestritten. // Nach der Predigt. – Mel. Was mein Gott will etc. Zeuch allen meinen Geist und Sinn, / Nach dir und deiner Höhe, / Gieb daß mein Herz nur immerhin / Nach deinem Kreuze sehe, / Daß ich auch geb’, dieweil ich leb’ / In deine treuen Hände, / Herz, Seel und Leib, und also bleib / Dein eigen bis ans Ende. //
Am 1. März 1818 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Laetare, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 26,63–66 Nachschrift; SAr 38, S. 377–389; Jonas Keine Nachschrift; SN 623, Bl. 2v; Crayen Teil der am 15. Februar begonnenen Predigtreihe über das Einzelne und Geschichtliche des Leidens des Erlösers (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Nachmittagspredigt am 1. März 1818.
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Wir haben, M. A. F., in unsrer ersten nachmittäglichen Passionsbetrachtung uns die bewunderungswürdige Stille und Gelassenheit unsres Herrn und Erlösers in jenem ersten Anfange seines Leidens vorgehalten. Eben diese hat er auch noch länger fortgesetzt, denn als er gebracht wurde vor den Hohenpriester, wo die Schriftgelehrten und Aeltesten sich auch versammelt hatten, da wird uns erzählt, daß viele falsche Zeugen gegen ihn aufgetreten waren, von denen einige anführten, was andre gesagt, daß er gethan habe, andre, was sie selbst von ihm gehört hatten und worin sie, da ihnen damals der Zusammenhang, in dem es der Erlöser gesagt hatte, nicht verständlich war einen ganz falschen und ihm nachtheiligen Sinn hineinlegten. Und gewiß, M. F., daß das dem Erlöser begegnen mußte, ist uns allen zum Trost geschehen und zur Lehre; zum Trost, damit wir uns nicht wundern mögen, wenn es uns also ergeht, daß auch wir einer falschen Beurtheilung widriggesinnter Menschen nicht entgehen können und das mögen wir uns wol sagen, daß der Jünger nicht über dem Meister steht und daß wir nicht verlangen können, daß es uns anders gehe, als ihm; und zur Lehre, indem der Erlöser uns hierdurch das Beispiel einer unerschütterlichen Gelassenheit gegeben hat, denn was sie auch sagen mögten, er antwortete nicht, wohl wissend, daß diejenigen, die sein Leben beobachtet hatten, das Unwahre wohl selbst erkennen würden, wohl wissend, daß niemand, der geeignet sey, die Wahrheit | aufzunehmen, solchen Verdrehungen Gehör geben könne, wohl fühlend und einsehend, daß gegen den bösen Willen keine noch so gegründete Rechtfertigung etwas vermöge. Aber, M. F., wenn wir 2 Vgl. 15. Februar 1818 nachm.
16 Vgl. Mt 10,24; Lk 6,40
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nun diese Stille und Gelassenheit des Erlösers uns vorhalten, so werden wir doch nicht auf dem rechten Punct seyn, um sie zu bewundern, wie wir sollten, denn das können wir nur, wenn wir betrachten, wie diese Gelassenheit verbunden gewesen ist mit der festesten Ueberzeugung und dem unerschütterlichsten Muthe. Und das hat der Erlöser in dem zweiten Zeitraume seines Leidens, da, als das Urtheil über ihn ausgesprochen werden sollte, gewiß auf eine uns alle rührende, aber auch uns alle in unserm Glauben stärkende Weise gezeigt. Und dieses laßt uns jetzt cet. Matth. 26, 63–66. Aber Jesus schwieg still. Und der Hohepriester antwortete und sprach zu ihm: ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagest, ob du seyst Christus der Sohn Gottes. Jesus sprach zu ihm: du sagest es. Doch sage ich euch, von nun an wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels. Da zerriß der Hohepriester seine Kleider und sprach: er hat Gott gelästert, was bedürfen wir weiter Zeugniß? Siehe jetzt habt ihr seine Gotteslästerung gehöret. Was dünkt euch? Sie antworteten und sprachen: er ist des Todes schuldig. | 379
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Ich glaube, M. A. F., daß in diesem Bekenntnisse, welches der Erlöser von sich selbst ablegt, wir eben so sehr seinen festen, unerschütterlichen Muth, als auch seine innige Ueberzeugung von dem, wozu Gott ihn bestimmt hatte, anerkennen müssen. So laßt uns auf dieses beides genauer miteinander Acht geben: zuerst wie unser Erlöser hier seinen unerschütterlichen Muth an den Tag legt und dann wie es seine feste Ueberzeugung war, daß er derjenige sey, den auch sein Richter mit dem Namen des Sohnes Gottes zu bezeichnen pflegte. I. Zuerst, M. A. F., wie hier der Erlöser seinen Muth bewies, das geht daraus hervor, daß er gewiß nicht den geringsten Zweifel hatte von dem Ausgange seiner damaligen Lage, daß, wie es geschah sobald er bekannt hatte er sey Christus der Sohn des lebendigen Gottes, seine Richter keinesweges anfangen würden, zu untersuchen, mit welchem Rechte er sich dies zuschreibe, keinesweges fragen würden, ob er die Ansicht habe, die ein solcher haben müsse, sondern ihn, wie sie auch thaten auf das bloße Wort verurtheilen würden, daß er also wußte, daß durch das Ja, was er in diesem Augenblick sprach, er sich selbst das Urtheil sprechen würde. Und doch, ungeachtet er hätte stillschweigen können, wie er vorher auf nichts geantwortet hatte, was sie ihn fragten, brach er in diesem Augenblick das Stillschweigen und unterließ nicht, die Frage, die ihm vorgelegt war auf eine unumwundene Weise | zu beantworten. Darin finden wir einen Gegensatz
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gegen sein voriges Betragen und es muß uns wichtig seyn, in diesem entscheidenden Augenblicke den Erlöser ganz zu sehen, wie er ist. Er konnte freilich auch in diesem Augenblicke noch schweigen und so wenig, als seine Richter ihn vorher gezwungen hatten, zu antworten, als die andern ihn verklagten, so wenig würden sie es wol aller Wahrscheinlichkeit nach auch in diesem Augenblicke gethan haben. Sie hätten also, wenn er geschwiegen, keinen Grund gehabt, ihn als einen Gotteslästerer zu verurtheilen, er hätte sich das Urtheil und ihnen die Sünde erspart. Warum schwieg er also nicht? So wie wir gesehen haben, daß die frühere Stille und Gelassenheit, mit welcher er diejenigen behandelte, die gekommen waren, ihn zu fangen und sie machen ließ, was sie wollten, daher rührte, daß er keinen unerlaubten Widerstand leisten wolle weder durch die menschliche Kraft seiner Jünger, noch mit seiner eignen höheren Kraft, gegen diejenigen, die von den geistlichen Oberen ausgesendet waren, so müssen wir sagen, daß er sich auch in diesem Augenblick verpflichtet fühlte auf eine so entscheidende Frage auch gerade und unumwunden zu antworten, sollte es auch (und wer kann sagen, was in diesem Augenblick den tiefsten Eindruck auf sein | Gemüth machte?) sollte es auch ihm den Tod und dem Oberhaupt seines Volks die schwerste Sünde herbeiführen. Ja, M. F., das war die Denkungsart des Erlösers: für die Sünde, nachdem er sein Bekenntniß abgelegt hatte, konnte der Oberpriester und sein Gewissen verantwortlich seyn vor Gott, er aber fühlte sich verantwortlich, daß er die ganze Wahrheit zu bekennen schuldig war dem, der ein Recht hatte darnach zu fragen. Wir wissen aber doch, M. F., daß auch der Erlöser seinen Jüngern nicht alle Wahrheit sagte, wenn er wußte, daß sie noch nicht zum Verständniß derselben reif wären, sonst hätte er nicht sagen können: ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es noch nicht fassen; und war der Hohepriester nicht in demselben Falle, daß er die hohe Wahrheit, daß Jesus von Nazareth Christus der Sohn des lebendigen Gottes sey, nicht zu ertragen vermögte? Ja wohl, denn sie erdrückte ihn ja so, daß er sich der schwersten Sünde schuldig machte. Aber derselbige Erlöser, der seinen Jüngern nicht mehr enthüllte, als sie zu tragen vermögten, derselbige Erlöser, der nach seiner hohen Weisheit bald ein größeres, bald ein geringeres Maaß von Wahrheit aussprach, der sprach jetzt die stärkste, verwundendste und bitterste Wahrheit ohne Rücksicht auf die Folgen aus, ohne Rücksicht auf sein eignes Leben, welches er obenein sich selbst aburtheilte, ohne Rücksicht auf die Sünde, die unmittelbar darauf der Hohepriester begehen würde, | ohne Rücksicht auf alles das Uebel, wovon er wohl wußte, daß es über sein Volk kommen würde, wenn es auf eine bestimmte Art ihn als Erlöser würde verworfen haben. Und warum handelt der Erlöser so? Was bewog ihn in diesem Augenblick zu dieser entscheidenden Antwort? Nichts andres, als das Gefühl seiner Pflicht und 9–14 Vgl. 15. Februar 1818 nachm.
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das Gefühl seiner Würde; das Gefühl der Pflicht, weil er nemlich als ein Einzelner aus dem Volke dem Oberhaupt des Volkes über keinen Gegenstand, der so sehr das Wohl des Volkes anging, Rede und Antwort schuldig war. O, M. F., mögten wir alle dieses Gefühl, diese feste Ueberzeugung, diese unerschütterliche Treue mit dem Erlöser theilen! Wohl ist es wahr, daß es der Weisheit eines jeden überlassen seyn muß zu reden, oder zu schweigen, je nachdem er es für gut findet, wohl ist es gerathener, nicht überall den ganzen Grund der Ueberzeugung und die im Herzen verborgene Einsicht allen denjenigen mitzutheilen, mit denen man in ein nicht nur ferneres, sondern auch näheres Verhältniß tritt, sondern nur in dem Maaß die Wahrheit sie erkennen lassen, wie viel man fühlt, daß die Menschen sie tragen können, aber wenn über einen Gegenstand, es sey welcher es wolle, derjenige fragt, dem wir Rede und Antwort schuldig sind, da verlangt auch unser Gewissen, daß wir die reinste Wahrheit aussagen, da gilt keine Rücksicht mehr auf das, was bevorsteht, da gilt kein Bild der eignen Gefahr, da gilt keine gewisse oder ungewisse Vermuthung, ob das | ausgesprochene Wort nachtheilig oder vortheilhaft auf andre Gemüther wirken werde, sondern da gilt uns nichts mehr, als die Treue. Und wie der Erlöser keine Ausflüchte suchte und wie er nicht vermögte zurückzuhalten mit dem vielen tausend Menschen verderblichen und furchtbaren Ja, so mögen auch wir, wenn Pflicht und Gewissen es gebieten, nicht zurückhalten mit dem Worte der Wahrheit, sondern den innersten Grund unsres Herzens herauskehren und wie der Erlöser der Wahrheit die Ehre geben. Aber wie es das Gefühl der Pflicht war, so war es auch das Gefühl seiner Würde, was ihn nicht anders, als so handeln ließ. Und in der That finden wir auch schon in andern Zeiten seines Lebens und gegen solche auch, die nicht ein so bestimmtes Recht an ihm hatten, wie das Oberhaupt seines Volkes, ihn eben so über seine Bestimmung und über seine Person die volle Wahrheit herausreden. In mehreren Beispielen erzählen uns die Evangelisten, wie er sich bekannt hat auch unter denen, die ihn verfolgten, dafür, daß er von Gott gesandt sey, daß er gekommen sey, den Willen seines Vaters zu lehren und zu thun; in mehrern finden wir ihn, ohne darauf zu achten, was ihm daraus erwachsen könnte, ja auch in Augenblicken, wo ihm die größte Gefahr davon drohte, seine Ansprüche geltend machen gegen diejenigen und zum Nachtheil derjenigen, die das Volk nur bei dem Alten zu erhalten und es abwendig zu machen suchten von demjenigen, der ein neues und bessres Leben in demselben | entzünden, der das fleischliche Reich Gottes in ein ewiges und geistiges verwandeln wollte. Wenn wir fragen: worin liegt denn der Unterschied, daß der Erlöser jede Wahrheit nicht immer und überall sagt, diese aber, daß er der Sohn Gottes sey vom Vater im Himmel gesandt, niemals verschwieg, sondern unter günstigen und ungünstigen Umständen vortrug, so liegt, M. F., der Grund darin, weil diese Wahrheit die Ueberzeugung und Grundlage seines ganzen Lebens war, woraus alle seine Handlun-
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gen hervorgingen und weil er fühlte, daß es hier, wie auch sonst unter allen Umständen unter seiner Würde sey, dasjenige zu verbergen, was so den Grund seines Daseyns ausmachte. Und auch dieses Gefühl sollen wir immer und überall mit dem Erlöser theilen. Es giebt Wahrheiten in diesem und jenem Gebiete, die wir nicht allen auf gleiche Weise zu sagen schuldig sind, die wir besser, bis die Stunde kommt, die Gott allein weiß, in dem Tiefsten unsres eignen Herzens verschließen, aber dasjenige, woraus allein unser ganzes Leben zu verstehen ist, dasjenige, was den Menschen, die mit uns leben, allein den Schlüssel geben kann, um uns zu begreifen, dürfen wir ihnen nicht verbergen, sollten wir auch wissen, daß wir nichts andres, als ihren Spott davon tragen werden, wie es dem Erlöser begegnete bei den Weisen | dieser Welt, sollten wir auch fühlen, des Einen oder des Andern Haß und Feindschaft davon zu tragen, diese innerste Wahrheit des Lebens kann der Mensch nicht verbergen, ohne sich in seinen eignen Augen herabzuwürdigen. So wie er sie durch die That verkündigt, soll er sie auch durch die Rede verkündigen, denn das ist der Würde des Menschen angemessen, daß Wort und That zusammenstimmen. Giebt es gewisse Grundsätze und Empfindungen, nach denen wir in unserm ganzen Leben handeln, wie müßten wir uns unwürdig vorkommen, wenn wir diese vor andern verbergen wollten! Das, M. F., war auch der Muth des Erlösers, daß er ohne auf die Folgen zu sehen, die Wahrheit nicht verbarg und das soll auch unsre Gesinnung immer mehr werden, denn wer der Wahrheit dient und lebt, der kann nicht an das Vergängliche denken, was hinterhergeschieht, sondern sein Leben ist so gewiß im Ewigen, wie der Erlöser in diesem Augenblick sein Leben nur so fühlte, daß alles Irdische vor seinen Augen verschwand. II. Und dieses führt uns auf den zweiten Theil unsrer Betrachtung, zu sehen auf die feste Ueberzeugung des Erlösers, daß er derjenige sey, den auch seine Richter mit dem Namen des Sohnes Gottes zu bezeichnen pflegten. | Sie scheint uns auf den ersten Anblick nicht zusammenzustimmen mit dem, was er anderwärts sagt. Er sagt hier: von nun an wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels. Anderwärts sagt er, wo seine Jünger ihn nach Zeit und Stunde fragten, daß er sie selbst noch nicht wisse, sondern der Vater sich selbst Zeit und Stunde vorbehalten habe. Lasst uns sehen, wie beides miteinander übereinstimmt. Wenn wir diese Worte des Erlösers für wahr halten, so können wir sie doch nicht buchstäblich nehmen, da ja in demselben Augenblick noch nicht solche Veränderung vorging. Also müssen wir sagen, es sey ihm in diesem Augenblick das Bild des Todes ganz verschwunden und es sey ihm nichts gewesen, als eben jene göttliche 33–35 Vgl. Mt 24,36; Apg 1,6–7
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Kraft, die sich in seinem ganzen Leben verkündigt und die jetzt in ihrem höchsten Glanz hervortrat: oder wir müssen sagen, er hat nicht auf den Augenblick gesehen und indem er sagt: von nun an wird es geschehen, daß ihr des Menschen Sohn sehen werdet sitzen zur Rechten der Kraft, so hat er nichts andres sagen wollen, als daß schon in diesem Augenblick, wenn auch noch nicht sichtbar, der bessre Zustand der Menschen angehe, den er hervorzubringen im Stande war, daß von diesem Augenblick an das Alte vergehen und das Neue herbeikommen müsse. Wenn wir es genau betrachten, so muß beides zusammen gewesen seyn. So wie, wenn ihn seine Jünger zuweilen nach | etwas Zeitlichen fragen, er ihnen gar nicht Rede steht, sondern sie auf das Göttliche hinzuführen sucht, so sieht er auch hier nicht auf das Aeußere, sondern nur auf das Göttliche, so trat ihm denn auch hier der ganze Rathschluß Gottes in sein Bewußtseyn, der sich durch seine ganze Wirksamkeit hindurchzieht und ungeachtet er noch vorher gebetet hatte: Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch vor mir vorüber, so galt es ihm doch hier frei das Wort der Ueberzeugung auszusprechen, daß er der Sohn Gottes sey, und daß es von nun an geschehen werde, daß er sitzen werde zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels. Und, M. th. F., diese Ueberzeugung müssen auch wir mit dem Erlöser theilen. Wenn seine großen Worte recht tief in unsre Herzen gedrungen sind, so müssen auch wir die Ueberzeugung haben, daß er der Sohn Gottes ist und daß er sitzet zur Rechten Gottes, wir, die wir die Erfüllung vor den Augen zu liegen haben und die wir ihn noch immer herunter kommen sehen mit der göttlichen Gnade, mit der Wahrheit, mit der Heiligkeit seines Reichs, was einen jeden Einzelnen und uns alle durchdringt in den besten Augenblicken unsres Lebens. Aber wir müssen auch fühlen, daß wir in jedem Falle mit demselben Muthe, wie der Erlöser, bei jeder That und bei jedem Worte der Wahrheit die Ehre geben müssen, daß wir auch überall, was uns auch Irdisches bevorstehen mag, die Ueberzeugung | festhalten müssen, der Mensch könne nicht anders zu erkennen geben dasjenige, was der innerste Grund seines Lebens ist am wenigsten in den bedenklichsten Lagen seines Lebens, als sehend, wie er es vereinige mit seinem Glauben und mit seiner Liebe zur Wahrheit. Mögten wir doch fühlen, daß, so wie die Gemeinschaft des Erlösers mit Gott nur besteht in der Liebe und Wahrheit, so aus unsrer Treue gegen die Wahrheit und aus dem Eifer des Bekenntnisses der Wahrheit alles hervorgehen müsse, was nur irgend das Heil der Welt jetzt und künftig begründen kann, denn das Reich Gottes, welches ja das Ziel des menschlichen Strebens ist, ist nichts andres, als ein Reich der Liebe und Wahrheit, die eben so wenig getrennt werden können, als Glaube und Liebe. Und so wie der Erlöser nach dieser seiner ausgesprochenen Ueberzeugung, worin er den innersten Grund seines Daseyns dargelegt hatte, 15–16 Vgl. Mt 26,39
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zwar gewiß das Gefühl seines nahen Todes, aber auch eben so gewiß das herrliche Gefühl seines Sieges bis zu seiner Vollendung in sich trug, eben so wird ein jeder von uns, der einmal in dem Falle gewesen ist in einer bedenklichen Lage des Lebens der Wahrheit die Ehre zu geben, eben in dieser Treue gegen die Wahrheit sich erhoben und in inniger Gemeinschaft mit dem Erlöser fühlen, dann aber auch in seinem Glauben und seiner Ueberzeugung gestärkt werden und mit kräftigem Muthe alles Irdische gering achten | damit er Christum nicht verleugne und in der Tapferkeit seines Herzens beharre. Dann wird aber auch der lebendige Glaube an den Erlöser in unsern Gemüthern wachsen und weder die Nähe des Todes, noch der scheinbare Untergang seines Reichs noch sonst etwas dergleichen uns wankend machen in unsrer Ueberzeugung, daß er derjenige ist, der da kommen sollte, damit wir in seinem Namen der Seeligkeit theilhaftig würden und in dem Glauben an ihn schon hätten das ewige Leben. Amen.
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Judica, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 8,31–34 Nachschrift; SAr 38, S. 393–404; Jonas Keine Keine Abschluss der am 8. Februar begonnenen Predigtreihe über das Leiden des Erlösers, als Grund unserer Seeligkeit (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 8. März 1818. Die Gnade cet.
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M. A. F. Wir haben in unsern früheren Passionsbetrachtungen gesehen, wie der leidende und sterbende Erlöser uns nicht nur ein fortwährendes Vorbild ist überall wo auch wir in der Wirksamkeit für das Reich Gottes die Leiden dieser Welt zu tragen haben, sondern wie auch der leidende und sterbende Erlöser der fortwährende Grund unsrer ganzen Heiligung ist, in dem nemlich nichts mehr in unsrer Seele den Haß gegen die Sünde erregen und auf der andern Seite nichts so sehr den Glauben von aller Beimischung des Irdischen reinigen könne. Allein, wenn uns nun einer sagt: aber woher kommt dem sündigen Menschen das Recht, der Muth, das Werk der Heiligung auch nur anzufangen, ein neues Leben auch nur zu beginnen, ja ein neues Leben auch nur für möglich zu halten, ehe die Ueberzeugung fest geworden ist in ihm, daß das Alte vergessen ist und vergeben und daß er getrost seine Sünde könne hinter sich werfen? wo anders hin zieht uns auch da der heilige Zug des göttlichen Geistes, als eben zum Kreuz des Erlösers? wo anders wollen wir finden den Grund unsrer lebendigen Ueberzeugung von der Vergebung unsrer Sünden, als da, wo er für uns gestorben ist, als wir noch Feinde waren? Wie der Tod des Erlösers mit der Befreiung von der Sünde zusammenhängt, darüber ist unter den Christen gar vieles gesagt | was ich nicht rechtfertigen mögte und nicht wiederholen, weil es 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß Röm 5,8.10
3 Vgl. 8. und 22. Februar 1818 vorm.
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gar leicht Mißverständnisse erregt, weil es gar leicht die Begriffe von der Gerechtigkeit Gottes verwirrt, was ich aber auch nicht tadeln mögte, weil es aus dem tiefsten Grunde des Herzens gekommen ist. Aber indem wir auf der einen Seite uns davon zu entfernen suchen, auf der andern Seite es uns auch angelegen seyn lassen müssen, daß das Kreuz Christi auch in dieser Hinsicht in unseren Herzen lebendig wirke und in Zusammenhang sey mit allen unseren Vorstellungen durch den göttlichen Geist, so laßt uns eben durch diesen Geist diese Stunde dazu anwenden, über dieses Verdienst des Erlösers nachzudenken. Wir bitten dazu Gott um seinen Beistand cet. Röm. VIII, 31–34. Ist Gott für uns, wer mag wider uns seyn? Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht verschonet, sondern hat ihn für uns alle dahin gegeben: wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns. Daß die Beschuldigung, daß die Verdammung der natürliche Zustand des Menschen ist (wenn wir von dem absehen, was Christus der Herr gewirkt hat) das geht aus diesen | Worten deutlich hervor. Aber eben so deutlich ist es, daß der Apostel uns auch hier vorzüglich, ja ich mögte sagen allein auf den Tod des Erlösers hinweist. Freilich sagt er: Gott ist der, der gerecht macht, deshalb mögen die Auserwählten nicht beschuldigt werden, aber er hat auch vorher gesagt, daß Gott nur gerecht mache durch die Gnade in Christo und von Christo sagt er, daß er nicht nur gestorben ist, sondern auch auferstanden. Nun sehen wir wol, daß er uns dieses hinzusetzt, um uns ganz die Vollendung des göttlichen Rathschlusses zu entwickeln, aber die Auferweckung des Erlösers und sein Sitzen zur Rechten Gottes hängt ja ab von seinem Tode. Indem uns also die Worte unsres Textes darauf hinweisen, auf welche Weise wir denn frei werden von der Beschuldigung, so laßt uns betrachten, wie dies von dem Leiden und dem Tode des Erlösers abhängt und zwar so, daß wir 1. aufmerksam werden auf die Noth des Sünders und 2. wie von nichts anderem, als vom Tode des Erlösers die Hülfe ausgehen kann. I. Zweierlei hält uns der Apostel vor, die Beschuldigung und die Verdammung. Die Beschuldigung besteht darin, daß durch der Menschen Ungehorsam die Sünde in die Welt gekommen ist, die Verdammung darin, daß durch die 22–24 Anspielung vermutlich auf Röm 3,22–24
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Sünde der Tod in die Welt gekommen ist. Ja so ist es, M. a. F., | und nicht nur von dem ersten Menschen gilt dies, von dem es der Apostel einige Capitel vorher ausdrücklich sagt, sondern es ist auch noch und bleibt immer und überall dasselbe. Das Gesetz Gottes ist da und der Herr hat sich nicht unbezeugt gelassen, aber der Ungehorsam entsteht immer und überall wieder und jeder fühlt ihn als das Erzeugniß seines eigenen Herzens und wie dieser Ungehorsam selbst die Sünde ist, so kommt durch ihn immer mehr die Sünde in die Welt. Denn wie die geringfügigsten Krankheiten des Leibes es sind, welche nur hier und da einen befallen, aber die welche die Macht des Todes verkündigen, entweder auf eine große Menge von Menschen zur selbigen Zeit und aus derselben Ursach fallen, oder schnell sich von dem einen auf den andern fortpflanzen, so auch die Sünde. Sie pflanzt sich fort und steckt an und so wird eine durch die andre erregt. Wer mag sagen, daß er sicher sey einer einzigen mit dem göttlichen Gesetze streitenden That, die nicht schwache Gemüther verleitet haben könnte, dasselbe zu wagen? Wer ist sicher, daß nicht die eine Sünde, die er beging, die entgegengesetzte in irgend einem andern, auf welchen gerade diese seine Sünde wirken mußte, hervorrief? Ja das ist die unaufhörliche Erneuerung der Sünde. Die Kinder tragen die Fehler ihrer Aeltern an sich, jedes künftige Geschlecht erbt die Fehler des vorigen, bis eine Umkehrung der menschlichen Dinge nicht aus der Sünde | die Tugend, nicht aus dem Verbrechen die Heiligung, ach nein, nur aus einer Sünde die andre, aus einem Verbrechen das entgegengesetzte hervorruft. Feigheit erzeugt die List, der Uebermuth die Verzweiflung, der Zorn ruft die Rache hervor, und die alle Gerechtigkeit unterdrückende Gewalt ruft den Betrug hervor. So wälzt sich der Kreis der Sünde immer umher in der Welt. Aber das nicht allein, nicht allein die unmittelbare Ansteckung und Verbreitung der Sünde ist die Beschuldigung, die wir alle theilen, sondern noch mehr. Wie tief auch die Welt versunken sey in Sünde, die Gnade Gottes ist immer noch größer gewesen. Auch ehe Christus in die Welt gekommen, hat sich Gott nicht unbezeugt gelassen den verschiedenen Geschlechtern der Menschen, was er sey, was sein Wille sey, das konnten sie erkennen, das mußten sie erkennen kraft des göttlichen Funkens, der mit ihrem innersten Leben unzertrennlich verbunden ist. Aber wo der Geist des Herrn, die Stimme Gottes sich vernehmen ließ, die Sünde hemmte ihre Wirkung. Läßt er sich vernehmen, ihr Ohr ist angefüllt von den verführerischen Tönen, die ihnen die Sinnlichkeit zuruft und mit offnen Ohren hören sie nicht; wenn er ihren Beifall sich abdringt, nur so weit kann die Gewalt der Sünde gedämpft werden, daß sie die Lippen beben lassen und sich auf ihre Knie werfen, aber ihr Herz bleibt fern von ihm. Ja wenn | auch in dieses verderbte Herz die Gewalt des göttlichen Geistes hineindringt, wenn auch (wie der Apostel sagt) ich Lust habe am Gesetz 2–3 Vgl. Röm 5,12–19
41–2 Vgl. Röm 7,22–23
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Gottes nach dem inwendigen Menschen, so finde ich doch ein ander Gesetz in meinen Gliedern und kann das nicht thun, was ich will. Seht da, M. F., das ist die Beschuldigung so, daß wir alle des Ruhms mangeln, den wir vor Gott haben sollten. Von jedem aus verbreitet sich die Sünde weiter und von jedem aus tritt sie der Barmherzigkeit und der Gnade Gottes entgegen. Aber nicht nur kommt durch den Ungehorsam die Sünde in die Welt, sondern durch die Sünde ist der Tod in die Welt gekommen und zu allen Menschen hindurchgedrungen, weil sie alle gesündiget haben. Wenn wir nun gleich, M. F., wie wir die Schöpfung verbreitet sehen, wenn wir freilich nicht sagen können, wie[,] können es uns deutlich machen, daß wenn die Menschen nicht gesündigt hätten, auch in dieser irdischen Welt kein Tod gewesen wäre, so müssen wir doch soviel sagen, daß so gewiß als der Mensch in dieser Welt nicht leben konnte, ohne zu sündigen, eben so gewiß mit derselbigen Wahrheit er auch nicht leben konnte, ohne zu sterben. Es ist aber auch hier nicht die Rede vom Tode allein, sondern von allen Uebeln der Welt, deren Spitze der Tod ist, denn alles Uebel ist durch die Sünde gekommen. Die natürliche Unvollkommenheit des menschlichen Lebens, wenn wir abrechnen, was der Mensch selbst erst allmählig von seinem sinnlichen Daseyn hineingebracht hat, die hätte ihn freilich zum Tode | führen können, aber das können wir doch nicht als Leiden, das können wir doch nur als natürlichen Mangel, nicht als das drückende, verzehrende Uebel ansehen, denn das allein kommt aus der Sünde. Ja, wenn wir fragen: woher aller Jammer, alle Thränen in der Welt? nur selten können wir geneigt seyn zu sagen, es ist ein hartes Geschick, es sind die unerforschlichen Wege der Vorsehung, aber es ruht keine Schuld darauf und kaum werden wir das letzte jemals sagen, denn keiner ist ohne Sünde. Ach, wo wir die Thränen im Großen sehen, da ist es die Sünde, der frevelhafte Uebermuth, der sich selbst straft, da sind es die traurigen Folgen von der Selbstsucht, von den wilden Leidenschaften der einen und aus der Feigheit der andern. Habt ihr je das Leiden im Großen gesehen im wilden Kriege und im schlaffen Frieden, habt ihr je gesehen selbst die Thränen der Dürftigen, daß ihr sie nicht mußtet der Sünde zuschreiben? Habt ihr je ein Volk gesehen, ermangelnd der Herrschaft über den Strich der Erde, den ihm Gott beschieden, ohne daß sich wahr bezeigt hätte das alte Wort: Gerechtigkeit errettet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben? So ist es, M. th. F., und jeder, der die Sünde mehrt, mehrt auch das daraus sich erzeugende Uebel. Seine Selbstsucht, seine Leidenschaften, seine Verzagtheit verbreiten es erst außer ihm und wie kann er anders als mitten in die Saat hineingestellt auch wieder ärnten? Das ist | die Verdammung, M. F., und ist auch die Strafe noch nicht eingetreten, so bemächtigt sich doch des Bewußtseyns der Sünde im Menschen die Furcht vor der Strafe. Und diese Furcht bleibt nie vergeblich; 3–4 Vgl. Röm 3,23
34–35 Vgl. Spr 14,34
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früher oder später kommt sie, in welcher Gestalt es sey, sey es das Verschwinden der Kraft, sey es die Sorge, sey es daß nicht von allen, sondern nur von einzelnen Sünden des Lebens irgend ein fester, beständiger Schmerz sich im Innern des Menschen festsetzt, über den er nicht mehr Herr werden kann. Und das geschieht: Ob aber auch der himmlische Schmerz darüber hervorkeimen könne, ob in diesem überwältigenden Gefühl der Sünde auch die Sehnsucht entstehen möge: wenn Gott für mich ist, wer kann wider mich seyn? woher kann, woher soll das kommen? Das laßt uns zweitens mit einander erwägen.
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II. Durch die Sünde ist der Tod in die Welt gekommen und ist zu allen hindurchgedrungen, dieweil alle gesündiget haben. Aber Einer, Einer ist unser Bruder geworden in den menschlichen Schwachheiten versucht in allen Dingen wie wir, doch ohne die Sünde, Einer ist, der nicht gesündigt hat und der Tod ist doch zu ihm hindurchgedrungen und welcher Tod? nicht der ihm bereitet war durch den natürlichen Lauf des | Lebens, sondern der ihm bereitet war durch die Sünde der Welt. Die Feindschaft der Sünde gegen das Gute traf mit dem Stachel des Todes den, der den Baum des Lebens pflanzen sollte in der erstorbenen Welt, in dem die Fülle der Gottheit wohnte. M. a. F., ist es nicht das natürliche Gefühl des Menschen, so wie er dieses vernimmt, zu sagen: das kann nicht umsonst geschehen seyn? ist es nicht das natürliche Gefühl zu denken: das muß der Wendepunct gewesen seyn, in welchem das düstere Geschlecht sich umkehrt und zum Himmel hinaufkehrt? Derjenige, der seines eigenen Sohnes nicht verschont hat, sondern hat ihn dahin gegeben, wie sollte er uns durch ihn nicht alles geben? Hat er seinen Sohn dem Tode gegeben, der ihn nicht verschuldet hatte, o so muß das Leben aus diesem Tode hervorgehen. Das ist das natürliche Gefühl. Aber daran schließt sich das Gefühl, daß es auf nichts andres ankomme, als mit Christo der Sünde abzusterben, weil darauf die göttliche Kraft ruhen muß, mit ihm zu einem neuen Leben emporzugehen und mit ihm zu wandeln frei von der Gewalt der Sünde und ihrer Strafe. Ueberall in der Welt ist eben das das Wesen in der Gewalt der Sünde, daß ihre Strafe gar oft auch den trifft, der sie nicht verschuldet hat und wiewol keiner sagen kann, daß er nichts verschuldet habe, so können wir doch sagen, mancher | Einzelne wird von manchem einzelnen Uebel mit fortgerissen, von dem er zu sich selbst sagen muß: das trägest du nicht, weil du das Böse getheilt, sondern weil du ihm widerstanden hast. Und das, M. F., ist eine Aehnlichkeit vom Tode des Erlösers. Aber was hätte das ausrichten können? was anders wäre das alles gewesen, als zerstreute Erscheinungen? Einen Mittelpunct mußte es geben, von dem alles ausging und das war der 13–14 Vgl. Hebr 4,15
19–20 Vgl. Kol 2,9
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Tod des Erlösers, Einen Punct mußte es geben, an welchem sich ein für allemal die Gewalt der Sünde brach, so, daß Gott der Herr sprach: bis hieher und nicht weiter. Das große Wort sprach er, als er seinen Sohn dem Tode weihte: bis dahin und nicht weiter für alle diejenigen, die im Glauben Eins sind mit ihm, die nicht mehr sich selbst und ihrer Sünde zu leben streben, sondern ihm allein; bis dahin und nicht weiter, auch für sie geht nun das Leben der Freiheit und der Herrlichkeit an. Die Strafe lag auf ihm, auf daß wir Friede hätten und durch seine Leiden sind wir geheilt. Die Strafe lag auf ihm, nicht seine, sondern unsre, er konnte sie nicht tragen, als seine Strafe, sondern nur daß er hinwegnahm die Sünde der Welt, und so, wenn gleich der Tod, durch die Sünde in die Welt gekommen, bleibt, wenn gleich die Uebel, die die Annäherung des Todes sind, bleiben als das Werk der Sünde, wenn sie uns gleich noch treffen als die That der | Sünde, wenn wir auch fühlen, daß sie mit hervorgegangen sind aus unseren eigenen Sünden, haben wir nun das Recht, sie als fremde Strafe zu tragen, denn leben wir ganz in ihm, so ist auch die Gewalt der Sünde in uns gebrochen. Darum wer sich an dieses Leben hält und es sich aneignet, der ist frei von der Verdammung. Wer mag mich verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist und mit dem ich der Sünde abgestorben bin. Wer will mich verdammen? Christus ist auferstanden, der mich vertritt. Darum vermögen wir nun zu sagen, daß die Leiden dieser Welt nicht werth sind der Herrlichkeit, nicht nur der die nach diesem Leben unserer wartet, sondern die schon jetzt seyn kann durch den Glauben an ihn. Und so dürfen wir auch weiter zurückgehen und sagen, daß wir nicht nur frei sind von der Verdammung, sondern auch von der Beschuldigung, denn dazu ist Christus gestorben, daß wir PwerdenS ein priesterliches Geschlecht, rein und ohne Flecken. Ja wie wenig auch einer das sagen könne in sich selbst, durch sich selbst, so muß doch jeder gläubige Christ es sagen von sich, durch sich, in wie fern Christus in ihm lebt; denn wir sind ein Volk seines Eigenthums dadurch geworden, daß seine Kraft nun und sein Geist in uns lebt. Sündigen auch wir jetzt und ist unsre Sünde ansteckend, wir dürfen nun sagen: es ist nicht unsre Schuld mehr, denn sähen die | Menschen nicht auf den Irthum des Fleisches, sähen sie auf die ganze Kraft unsres Lebens, o so würde sich schon das wenn gleich schwache, doch Leben bringende Ebenbild des Erlösers darin offenbaren. Darum mögen wir sagen mit dem Apostel: es ist nun nichts Verdammliches mehr in uns, da Christus für uns gestorben ist. Gott ist hier, der uns gerecht macht; wie wir dem Bunde der Seinigen angehören, macht er gerecht, weil wir mit Christo der Sünde abgestorben sind, daß wir dem Herrn leben. Das, M. F., das ist das eigenthümliche Gefühl und die eigenthümliche Seeligkeit der Christen, das ist die Wahrheit, daß die Vergebung der Sünden ausgehe 2–3 Vgl. Hiob 38,11 7–8 Vgl. Jes 53,5 1Petr 2,9 29 Vgl. Röm 6,8; 1Petr 2,24
20–21 Vgl. 1Petr 2,9 37–38 Vgl. Jes 53,5
25–26 Vgl.
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von dem Tode des Erlösers, das ist das lebendige Gefühl der Christen, daß durch ihn die Erde erneuert ist von demselben Augeblick, wo sie am tiefsten gesunken war, da sie den Sohn Gottes getödtet hatte, das ist das Gefühl der Christen, daß mit dem Tode des Herrn das Leben der Sünde und des Verderbens in uns aufhört und daß so wir auch fähig sind das neue Leben mit ihm zu theilen. So gehe denn ein neues Leben an, wo Beschuldigung und Verdammung nicht mehr statt findet! Das Alte ist vergessen. Ist jemand eine neue Creatur, so sind ihm die Sünden vergeben. Wer den Geist Christi nicht hat, der ist nicht sein, wer aber seinen Geist hat, der ist seelig. Amen.
[Liederblatt vom 8. März 1818:] Am Sonntage Judica. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine etc. [1.] Du der Menschen Heil und Leben, / Deß sich meine Seele freut, / Der für mich sich hingegeben, / Stifter meiner Seeligkeit! / Lieber wolltest du erblassen, / Als mich im Verderben lassen, / Ach wie dank’, wie dank’ ich dir / Mein Erlöser recht dafür. // [2.] Du betratst für uns zu sterben / Willig deine Leidensbahn, / Stiegst uns Leben zu erwerben / Gern den Todesweg hinan. / Du vergaßest eigne Schmerzen, / Trugst nur uns in deinem Herzen; / Diese Liebe preisen wir, / Unvergeßlich sei sie mir. // [3.] Meinetwegen trugst du Bande, / Littest frecher Lästrer Spott, / Achtetest nicht Schmach und Schande / Zu versöhnen mich mit Gott. / Mich hast du der Noth entrissen, / Die mich hätte treffen müssen; / Wie verpflichtet bin ich dir / Lebenslang mein Heil dafür. // [4.] Ruh im Leben, Trost am Grabe, / Unaussprechlicher Gewinn, / Den ich dir zu danken habe, / Dir, deß ich nun ewig bin! / Welche Kron’ ist mir erstritten, / Herr durch das was du gelitten! / Preis Anbetung Dank sei dir, / Auch im Tode noch dafür. // (Jauer. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. O Haupt voll etc. [1.] Tag der den Ueberwinder / Des Todes sterben sah, / Als er die Welt voll Sünder / Erlöst auf Golgatha! / Wie zürnend auf die Sünde / Zeigt sich der Richter hier; / Doch Sünder wie gelinde / Erwies sich Gott an dir! // [2.] Er ist ein ernster Rächer, / Ist heilig, ist gerecht. / Vor ihm schützt den Verbrecher / Nicht Ansehn, nicht Geschlecht. / Vom Himmel, wo er wohnet, / Kommt er einst zum Gericht / Voll Majestät, und schonet / Der Uebertreter nicht. // [3.] Der seinen Sohn als Bürgen / Für uns genugthun ließ, / Der seinen Sohn erwürgen, / Am Kreuz erwürgen ließ, / Der muß dem Sündenknechte / Die schärfsten Strafen dräun; / Könnt er sonst der gerechte, / Der ernste Richter sein? // [4.] Doch soll der Sünder leben, / Erbarmungsvoller Gott, / Du 8 Vgl. 2Kor 5,17
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kannst, du willst vergeben, / Durch deines Sohnes Tod! / Wenn wir die Sünde hassen, / Und glaubend zu ihm fliehn, / Willst du die Schuld erlassen / Und gnädig sein durch ihn. // [5.] O diese Lieb’ erfülle / Mein Herz mit Dankbarkeit! / Gehorsam sei mein Wille, / Mein Thun Rechtschaffenheit! / Fromm lehr mich sein mit Freuden, / Weil er gestorben ist! / Mir predige sein Leiden, / Wie gnädig Gott du bist. // (Münter.) Unter der Predigt. – Mel. Herr ich habe etc. O wie bist du doch so günstig / Allen Sündern dieser Welt! / Ja wie liebest du so brünstig, / Was der Erdkreis in sich hält. / Herr du trägest aus Erbarmen, / Bös’ und Gut’ in deinen Armen. // Nach der Predigt. [1.] Laß mich deine Liebe schmecken, / Weil mich sehnlich nach dir dürst’t, / Ich will meinen Geist erwecken, / Dir zum Dienst o Lebensfürst. / Alle Trübsal wird mich lassen, / Nun ich kann die Sünde hassen. // [2.] Bin ich einmal rein gebadet, / Lieber Herr in deinem Blut, / So ist niemand der mir schadet, / Denn ich leb’ in deiner Hut. / Leg’ auch bis zum letzten Ende / Meine Seel’ in deine Hände. //
Am 20. März 1818 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Karfreitag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 23,35.46–48 Nachschrift; SAr 38, S. 409–418; Jonas Keine Keine Keine
Nachmittagspredigt am Charfreitage am 20. März 1818. Die Gnade cet.
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M. A. F. Alle Betrachtungen, die wir miteinander angestellt haben in derjenigen Zeit, in welcher unter den Christen das Leiden unsres göttlichen Erlösers vorzüglich gefeiert wird, haben keinen andern Zweck gehabt, als unsre Seelen auf eine würdige Weise vorzubereiten zu der Feier dieses heiligen Tages, an welchem wir das Gedächtniß seines Todes begehen. Wie also, M. A. F., wie hat uns dieser Tag in dem Innersten unsres Herzens bewegt, mit welchen Empfindungen haben wir heut schon auf das Kreuz des Erlösers hingeschaut? Indem ich euch diese Frage vorlege, beziehe ich mich auf den Inhalt unsrer bisherigen Betrachtungen. Wenn wir nur inne geworden sind, daß der leidende Erlöser bis zu dem letzten Augenblicke seines Lebens nicht nur dann und wann, nicht nur bei besondrer Veranlassung, sondern immer das heilige Vorbild ist, dem wir nachfolgen sollen, wolan so haben wir uns auch heut unter seinem Kreuze gesammelt als unter der heiligen Fahne, welche uns überall vorangeht in unsrer Wallfahrt, welche uns den Weg zeigt, den wir wandeln müssen. Wenn wir es gesehen haben, daß der Tod des Erlösers der Grund ist unsrer Heiligung, daß von ihm ausgeht der Haß gegen die Sünde, die der Welt Verderben gewesen ist bis auf ihn, daß von ihm ausgeht die Reinigung unsres Glaubens und aller in der Kraft des Geistes lebenden Herzen, wolan so haben wir uns gesammelt unter dem Kreuz des Erlösers, welches uns vorhält die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt und die aus dem Glauben kommt; wenn wir es inne geworden sind, daß vom Tode des | Erlösers ausgeht der Trost und das frohe Gefühl der Vergebung der Sünde, nun so haben wir uns alle unter seinem Kreuze gesammelt, 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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die Worte des Apostels uns wiederholend: so bin ich denn mit Christo gekreuzigt, aber ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Ja, M. F., das sind die Worte, die uns immer, die uns am heutigen Tage besonders vereinigen, das ist der Bund des Glaubens, das ist das gemeinsame Leben, welches uns durchdringt, das ist die Kraft des Heils, welche vom Erlöser ausströmt. So sind denn wir, so sind denn alle, die sich mit Recht der Erlösung rühmen, so sind alle gläubigen Herzen hier und überall mit uns unter seinem Kreuze vereinigt. Aber, M. F., dieses Gefühl, es soll nicht nur uns untereinander vereinigen, es soll nicht nur jeden Einzelnen mit unserm gemeinsamen Herrn verbinden, sondern es soll uns auch leiten überall in seinem Dienst; von diesem Gefühl durchdrungen sollen wir das neue Leben ihm weihen und ihn den gekreuzigten Herrn fragen, was er von uns begehrt, und was wir in der Freude und in dem Trost seines Todes für ihn zu thun haben. Darum, M. th. F., laßt uns nicht dabei stehen bleiben, wie wir selbst unter dem Kreuz des Erlösers gesammelt sind, sondern laßt uns fragen, wie es denn sonst um sein Kreuz her aussieht in der Welt, um darnach unser ihm geweihtes Leben einzurichten. Das sey der Gegenstand unserer fernern Betrachtung. Luc. 23, v. 35.46.47.48.
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Ich habe, M. a. F., aus der uns allen bekannten Geschichte vom Tode unsres Erlösers nur dasjenige herausgewählt, | was uns aufmerksam macht auf die Gemüthsbewegungen derer, welche außer seinen eigentlichen Jüngern, welche in tiefe Betrachtung versenkt, von ferne standen, um das Kreuz des Erlösers versammelt waren: Es sind 3 verschiedene Menschen, 3 verschiedene Zustände des Gemüths, welche uns die vorgelesenen Worte darstellen. Wie damals, so werden wir dieselben auch jetzt noch um uns her in der Welt finden und so laßt uns in der gegenwärtigen Gott und dem Erlöser geweihten Stimmung unsres Herzens fragen, was wir gegen sie zu thun haben. Die ersten, die die heilige Geschichte erwähnt, das sind die Obersten des Volks, welche des Erlösers spotteten und ausrufen: er hat andern geholfen, er helfe sich selber, ist er Christ der Auserwählte Gottes. Das waren die Feinde Christi und seines Kreuzes, das waren eben diejenigen, welche dem Herrn den Tod bereitet hatten, den er in dieser Stunde starb. Und freilich sollten wir meinen, in Beziehung auf diese hätten wir uns keine Frage vorzulegen, indem wir nur unter solchen leben, welche den Herrn und seine göttliche Bestimmung anerkennen, welche seinen Namen führen und ihm geweiht sind von dem ersten Tage ihres Lebens an. Allein, M. th. F., die Feinde des Kreuzes Christi sind noch nicht ausgestorben, auch nicht unter denen, die seinen Namen führen, noch hat es nicht aufgehört, daß das 1–2 Vgl. Gal 2,19–20
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Kreuz des Herrn gar vielen ein Aergerniß ist und eine Thorheit und auch wir werden solche auf dem Wege unsres Lebens nicht selten antreffen. Sind es nicht solche, welche laut und öffentlich des Erlösers spotten, spotten des geistigen Reichs, welches er stiften wollte, spotten der höhern Kraft, die in ihm lag, und unsres Glaubens an | diese Kraft Gottes, seelig zu machen alle, die an ihn glauben, sind es nicht solche, wiewol auch diese noch nicht fehlen unter der bunten, vermischten Schaar der Christen, o so sind es diejenigen, die ebenfalls trotzig wie jene den Erlöser auffordern, sich selbst zu helfen, ihre Hülfe ihm aber versagen, so sind es diejenigen, welche bekennen, daß sie sich nicht losmachen können vom Dienste der Sünde oder der Eitelkeit weil sie es nicht wollen, so sind es diejenigen welche ebenfalls den Erlöser, hat er ein Recht auf sie erworben auffordern, es selbst auszuüben und sich selbst zu helfen, wenn er sey Christus der Auserwählte Gottes. O, M. th. F., an diesen Unglücklichen fehlt es nicht und auch sie stehen nahe oder fern, wo in der christlichen Welt das Kreuz des Erlösers aufgerichtet ist. Wolan, jener seiner Feinde Trotz forderte ihn auf, sich selbst zu helfen und er half sich selbst, besiegte den Tod, den sie ihm zugedacht hatten und stiftete das Reich, dessen erste Keime sie mit ihm gänzlich verwüstet zu haben glaubten und bald genug fühlten alle diejenigen, welche so in ihrem Sinne verführt waren, seine himmlische Kraft. Wenn wir nun, M. F., mit Christo gekreuzigt sind, damit nicht wir leben, sondern Er in uns, wolan, so gilt denn uns diese trotzige Aufforderung der Sünde, so sind denn wir es, die dem Erlöser helfen müssen gegen sie oder vielmehr für sie und zu ihrem Heil. Und so sey denn ihre trotzige Herausforderung auch für uns, die Diener und Werkzeuge und Lebensgenossen unsres verherrlichten Erlösers immer ein kräftiger Ruf, ihm zu helfen, bis sie überwunden und gedemüthigt sind | zum Tode und auferweckt zu einem neuen Leben durch die Kraft des Kreuzes! so laßt uns nicht aufhören, in sie zu dringen, nicht aufhören, sie zu begleiten mit unserm freundlichen Zureden, mit unsern ernstlichen Drohungen, ihnen zu leuchten mit dem Licht, was von unserm Herrn und Meister auf uns zurückstrahlt, laßt uns ihnen zureden nicht mit unsern eignen Worten, sondern mit den seinigen, denn die sind Geist und Leben. Denn das ist die Herrlichkeit des Kreuzes, das ist des göttlichen Lebens Kraft, die von ihm auf uns alle überströmt. Die andern, M. a. F., das ist das Volk, welches alles sah, was da geschah und, wie der Erlöser, nachdem er seinen Geist in die Hände des Vater befohlen, verschied, an seine Brust schlug und wieder umwandte. Neugierig waren sie hinausgeströmt, ein besondres Schauspiel zu sehen und bewegt, aber ohne zu wissen, warum[,] wandte es sich wieder um mit schweren Ahnungen. Das, M. F., sind jene ungewissen Seelen, das ist jener, ach wir dürfen es wol sagen, zahlreiche Haufe von Menschen, deren Stunde noch 1 Vgl. 1Kor 1,23
20–21 Vgl. Gal 2,19–20
32 Vgl. Joh 6,63
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nicht gekommen ist und wir wissen nicht, wann sie kommt. Schlug sich damals der große Haufe des Volks an die Brust und kehrte wieder um, wie viele, wie wenige mögen einen bleibenden Eindruck davon zurückgewonnen haben und sich gewendet haben an diejenigen, welche den Namen des Herrn predigten? Denn so wie von ihnen gesagt wird, als zuerst ihnen die Hirten das Wort von der Geburt des Herrn verkündigten: „sie verwunderten sich der Rede der Hirten“, so war es eben so gewiß eine solche dumpfe Verwunderung, welche den | großen Haufen des Volks ergriff bei dem Tode des Erlösers. Ja, M. F., so giebt es viele, nicht zu denen gehörig, die mit uns das Kreuz des Erlösers auf sich nehmen, aber die wir auch Unrecht thun würden den Feinden seines Kreuzes beizugesellen, viele, deren Aufmerksamkeit rege ist auf das durch unsern Herrn und Meister gegründete Reich Gottes auf Erden, aber die sich immer nur verwundern der Rede, die davon in ihr Ohr erschallt, die, wenn irgend etwas Außerordentliches sich ereignet, wohl davon ergriffen werden können, aber das Wort, das ihr Ohr trifft, das findet keine bleibende Stätte in ihrem Herzen und die Bewegung ihres Gemüths schwanke hin und her. Was, M. F., geziemt denn uns in Beziehung auf diese große Menge von Menschen? Laßt uns wohl auf die Worte des Volks in unsrer heiligen Erzählung merken, das als es sahe, was da geschah, an seine Brust schlug und sich wieder umwandte. Je öfter sie so an ihre Brust schlagen müssen, je mehr ihre Aufmerksamkeit von den vergänglichen Dingen dieser Welt und von dem lockenden Reich der Sinnlichkeit immer wieder hingewendet wird zu demselben höhern Gegenstande, je öfter immer solches geschieht, wovon sie ihre Aufmerksamkeit nicht zurückziehen können, desto eher wird die Sünde schwächer, die ihr wirklich noch nicht genug aufgeregtes Herz umgiebt, desto tiefer wird ihr Blick eindringen in das, was ihnen immer wieder vorgehalten wird und sie werden endlich den beseeligenden Kern finden, an den sie sich halten können. Sollen sie nie wieder dieses hohe Ziel aus ihren Augen verlieren, wolan, so laßt uns darauf sehen, daß nur | überall etwas geschehe, was die Menschen, die dem Guten nicht feind sind, so bewegt, daß sie an ihre Brust schlagen müssen, an die hohle Brust, die vom Geiste noch nicht durchdrungen ist[.] Je mehr das geschieht, desto mehr werden sie ihre eigne Nichtigkeit einsehen und wie jene spätern Zuhörer der Apostel fragen: ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun, daß wir seelig werden? Ja, M. F., das ist unsre Aufgabe, wenn wir treue und gläubige Verehrer des Kreuzes Christi sind, das bloß verwunderungsvolle Bewegtwerden der menschlichen Gemüther von dem was geschieht, das Erstaunen über ein ihnen fremdes und entgegengesetztes Leben zu verwandeln in ein fruchtbares, reuiges, bußfertiges An die Brust Schlagen. Was haben wir zu thun, um diese Aufgabe zu lösen, als daß wir treu bleiben dem, dem wir einmal Treue geschworen haben, denn es kann uns nicht fehlen, daß wir Gelegenheit haben 6–7 Vgl. Lk 2,18
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werden für ihn zu thun und zu leiden, zu beweisen, wie wenig uns die Leiden dieser Zeit werth sind, zu beweisen eine Freudigkeit des Daseyns, einen unermüdlichen Eifer, von dem der keine Vorstellung hat, der ein irres und umherschweifendes Leben führt. Fühlen sie dann die Macht, die uns beseelt, ahnen sie dann die Freude, die in unsrer Brust wohnt, ahnen sie die Gemeinschaft mit Gott, die uns erhebt über den Wechsel des Irdischen, dann mag wol jene Verwunderung veranlaßt werden, aber sie werden sich auch hingezogen fühlen nach einem besseren Leben, sie werden überwinden, was sich in ihren Herzen bisher aufgelehnt hatte und sich hinwenden zu der Einen Heerde des Einen Hirten. | Endlich, M. F., ist noch von den Worten unsres Textes übrig die Rede von jenem Hauptmanne, der als er sah, was geschah, ausrief: fürwahr dieser ist ein frommer Mensch gewesen Das, M. F., das ist das Wort des Glaubens. War er ein Haide, ein unerleuchteter Haide, der da aussprach, was ihn in diesem Augenblicke bewegte, war in ihm eine Ahnung von dem höhern Wesen dessen, der vor seinen Augen verschied, war es die Anregung des Widerwillens über die Art, wie seine Feinde sich betrugen, war es die Wirkung der äußerlichen Dinge, der Finsterniß, die sich über das Land verbreitet hatte oder des Zerreißens des Vorhangs im Tempel, oder war es alles das zusammen, wir wissen es nicht und was aus ihm geworden, wir wissen es auch nicht, aber, M. F., das Wort des Glaubens von den Lippen Eines Menschen unter vielen, das müssen wir festhalten, es darf nicht verloren gehen, das ist eine theure Pflicht, die wir uns vorhalten müssen, die wir hier unter dem Kreuz des Erlösers versammelt sind. O wie viele fromme Regungen der Gemüther wurden wol in dieser Stunde hervorgebracht, wie manche Seele ahnte wol in dieser Stunde der Andacht, daß Er in Wahrheit der Sohn Gottes sey! Aber hernach kommt die Welt und reißt das flüchtige Gefühl wieder aus ihren Herzen und keine Spur der heilsamsten Bewegung ihres Innern bleibt zurück. Wo wir das hören und wahrnehmen, da laßt uns hintreten und das Wort, was Er ausgesprochen, tiefer PweiterS in ihr eignes Herz eingraben, was nur flüchtig | seinen Lippen entströmt ist, das laßt uns auffassen, um es ihnen und allen als das Bild der Bewegung seines Gemüthes vor die Augen zu stellen. Zum Zeugniß über sie sind wir berufen, um alle diejenigen, die eine solche Regung des Geistes und des Kreuzes des Herrn ergreift, und die thörigt und unbesonnen genug sind, sie wieder vorüber gehn zu lassen ohne Frucht für ihr Leben, in diesem neuen Leben zu erhalten. Darum laßt uns mit Sorge und Liebe für die Menschen, die uns umgeben, umherschauen, darum laßt uns überall, wo wir es vermögen, unsern Herrn und Meister bekennen, damit wir Vertrauen einflößen den schüchternen Gemüthern, damit sie in unser Herz ausschütten die so leichten Bewegungen ihres Gemüths, damit wir in feste30 PweiterS] oder PwiederS 1–2 Vgl. Röm 8,18
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ren Gefäßen den Schatz des Lebens ihnen erhalten, um sie mit der Fülle desselben überschütten zu können, wo sie ihrer bedürfen! Dazu sind wir in die Welt gesetzt, um den Geist Gottes, der in den Herzen der Menschen wirkt, zu unterstützen, damit keiner von denen verloren gehe, die wenn auch nur einmal überwältigt von der Fülle der Gottheit, die in ihm dem Gekreuzigten wohnt, ausrufen: Wahrlich dieser ist der Sohn Gottes! M. th. F. Dies ist eine Zeit, wo viele unter uns zum ersten Male öffentlich bekennen den Herrn, dies ist eine Zeit, wo in unsern christlichen Gemeinen die Jugend ablegt das Gelübde, unserm Herrn und Meister treu zu bleiben, aber wie manches junge Gemüth wurde kurz | hernach schon dem Kreuz des Erlösers entfremdet und dem Dienst des Herrn fremd. Laßt uns da fragen: haben wir das nicht irgendwo verschuldet? haben wir immer gepflegt die Keime der göttlichen Gnade? haben wir ihnen immer den Muth erhalten, sich an Ihn zu wenden? Das sind, M. F., Verpflichtungen, die wir auf uns nehmen müssen und die wir uns heut unter dem Kreuz des Erlösers besonders vorzuhalten haben, denn so wie Er durch seinen Tod unser Leben begründet, so sind wir ihm auch verbunden zum Dienst für sein Reich. So laßt uns denn auf alle wirken mit der Kraft, die Er in uns gelegt, damit wir von einem Jahre zum andern würdiger werden seines Namens, damit wir immer mehr die gewinnen, welche ergriffen vom Kreuz des Erlösers mit heiliger Erfurcht ausrufen: wahrlich dieser ist Gottes Sohn! und es ist nichts andres den Menschen gegeben worin sie könnten seelig werden, als in ihm! Amen.
22 den] dem 5–6 Vgl. Kol 2,9
6.21 Vgl. Mt 27,54; Mk 15,39
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Am 22. März 1818 vormittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Ostersonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 8,33–34 Nachschrift; SN 623, Bl. 3v–4r; Crayen Keine Keine Keine
Tex t : „Wer will die Auserwählten beschuldigen! Christus ist hie – der gestorben – ja der auch auferstanden ist! und sitzet zur Rechten Gottes und vertritt uns!” Wie haben wir – unter dem erleuchtenden Einfluß des Geistes Gottes – uns das auf die herzerhebendste Art zu dencken: daß durch den Sohn Gottes der Sünde, in ihren zerstörenden Folgen Einhalt geschehen – und sie von uns hinweggenommen sei? Durch Ungehorsam gegen Gott ist die Sünde in die Welt gekommen: und vermöge der ihr einwohnenden Eigenschaft: sich weiter zu verbreiten, hat sie eine sehr große – verderbliche Herrschaft in der Welt gewonnen – so wie ihre zerstörenden Folgen es auch genugsam beweisen wie sie allen Jammer – und alles was Elend heißt – unter den Menschen verbreitet in unübersehlichen Fortgang: da sie, nicht allein durch Beispiel schädlich einwirckend ist, sondern auch eine ihr entgegengesetzte Versündigung veranlaßt – wie z: B: Haß – Rache erzeugt, Ungerechtigkeit und Härte – List und Untreue bewirkt. – Wie konnte nun diesen fortwährenden Einwirkungen der Sünde – Einhalt geschehen? – Es mußte ein neuer – ganz reiner Mensch aus der Hand Gottes auf Erden erscheinen: Und, Christus ward uns dieser Ausspruch der Vatertreue und Liebe Gottes! Nachdem aber die Sünde es sogar gewagt hatte: das reinste und heiligste Wesen überwältigen zu wollen, und Christus sich, sogar bis zum Kreuzestode, durch ihre unreine und boshafte Bewirckung, verurtheilt sehen mußte – „Ging ein Gericht über die Welt – und der Fürst dieser Welt ward ausgestoßen! ” – „Bis hieher und nicht weiter! ” so erschallte die Stimme Gottes: zur Sünde! – Dem Sünder aber: Begnadigung und Hülfe – die Sünde, und ihre zerstörenden Folgen, dämpfende – göttliche Hülfe und Einwirckung! – Und dieses ward der große Wendepunckt: das wiederkeh7–8 Vgl. Gen 3,1–24; Röm 5,19
23–24 Joh 12,31
24 Vgl. Hiob 38,11
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rende göttlich-schaffende: Werde! welches Gott aussprach, indem er – den Menschen – ursprünglich nach seinem Bilde erschaffen – in Jesu Christo aufs neue seinen Geist einhauchte – so, daß wer durch den Glauben mit ihm in Gemeinschaft träte, von ihm Krafft und neues Leben | empfangen könne – „wie die Rebe aus dem Weinstock”. – Also ist durch Jesus der Tod hinweggenommen: indem er uns eines neuen – ewigen Lebens empfänglich und theilhaftig gemacht! – Vermöge dieses neuen Lebens aber, gewinnt der Christ sowohl Muth – als Krafft, der Sünde entgegen zu wircken – als er auch nie mehr zu befürchten hat durch die ihm noch einwohnende Schwachheit, auf seine Nebenmenschen verderblich einzuwircken: indem der Glanz des neuen Lebens in Christo – worinn er immer reiner sich zu gestalten streben wird – alle ihm noch einwohnende Schwachheit überstrahlet.
1–2 Vgl. Gen 1,27
5 Joh 15,4
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Am 23. März 1818 nachmittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Ostermontag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,17 Nachschrift; SN 623, Bl. 4v–5r; Crayen Keine Keine Keine
Tex t : „Rühre mich nicht an!“ Durch diesen Ausspruch wollte Jesus den sinnlichen Eindruck mäßigen, welchen seine Erscheinung, nach der Auferstehung, auf Maria gemacht! und in den folgenden Worten: „Gehe aber hin und verkündige es meinen Brüdern!“ sie dahin leiten: was dieser heilige Eindruck seiner Erscheinung bei ihr bewircken sollte. Also soll auch der Christ das Bild Jesu immer geistiger – und von allem Sinnlichen geläutert – mehr in sich – als vor sich stehend – im Herzen tragen! Die Verbindung in der wir mit Jesu stehen – seitdem er diese Erde verlaßen hat – kann nur eine geistige – verklärte Gemeinschaft sein! – wir müßen ihn in uns aufgenommen haben, dann werden wir dahin gelangen: ihn ohne Beihülfe sinnlicher Darstellungen uns zu dencken; das eben ist die Verklärung unsers heiligen Glaubens in uns – : daß er uns auf diese Höhe versetzt! – und nur auf ihr können wir einen festen – sicheren Standpunckt gewinnen. – Eben so wenig aber auch sollen wir die einzelnen Begebenheiten aus dem Leben Jesu zum Gegenstand der Grübeleien des Verstandes | machen: sondern nur – mit heiliger Scheu: sie nicht irdisch zu berühren – unser Herz von ihrer Feier durchdrungen erwärmt und gekräftigt fühlen. – „Gehe aber hin und verkündige es meinen Brüdern: was du gesehen – und geistig empfunden hast!“ In diesen Worten fordert der Erlöser uns auf: daß wir das Bild – welches sich von ihm in uns offenbart hat – und wir in uns aufgenommen haben – mittheilend auf unsre Brüder einwircken laßen sollen – und daßelbe nicht blos in innrer Beschauung verschloßen halten: denn eben dadurch beweisen wir uns in Gemeinschaft stehend mit Jesu – auch machen wir uns dadurch höherer Offenbarungen empfänglich. – Aus uns heraus wirckend soll das Bild Jesu welches wir im Herzen tragen, sich offenbaren und einwirckend in die Seelen der Brüder Jesu – damit sie sich, gleich uns, in Liebe und Verehrung zu ihm, gefeßelt fühlen.
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Am 5. April 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Misericordias Domini, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 10,14–16 (Anlehung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 51, Bl. 47r–52v; Maquet Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittags-Predigt am 5. April 1818. gesprochen von Schleiermacher.
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M. a. Fr. Wenn ich gesagt habe daß in dieser Zeit bei unsern gemeinsamen Betrachtungen unser Gemüt auf der einen Seite noch voll sein müsse von der Freude über die Auferstehung des Herrn auf der andern Seite schon hinaussehend auf das große Fest der Ausgießung seines Geistes so hat eben dieses eine genaue Beziehung auf unsre Gemeinschaft mit den ersten Jüngern, auf unsern ganzen Antheil an der Wohlthat der Erlösung; denn es war die Ausgießung des Geistes durch welche erst die Jünger gestärkt wurden zu dem Berufe, das Evangelium von der Erlösung zu verkündigen, durch welche erst erfüllt wurde das große Wort der Verheißung des Herrn, durch welche sie anfingen, uns näher zu werden in demjenigen was uns sonst von ihnen trennt; denn, wenn wir Theil genommen haben an der Kraft die von dem Erlöser kommt, wenn auch wir in uns fühlen den Geist den er ausgegossen hat, so denken wir doch mit einer Art von sehnsüchtigem Verlangen an die Zeit zurück wo der Herr auf der Erde wandelte. Aber in den Tagen der Auferstehung fangen seine Jünger auch darin an uns ähnlich zu werden; nur in einzelnen unterbrochnen Augenblicken genoßen auch sie seine Gegenwart, und bald verschwand er ganz von diesem irdischen Schauplatz, so daß auch sie zurückgeführt wurden auf dasjenige Leben mit ihm und in ihm, | wozu er ihnen den Geist senden wollte, dessen auch wir theilhaftig geworden sind. Und so sind wir, m. Fr. besonders veranlaßt, das zu fühlen und darüber nachzudenken, daß es nun keine andere als eine geistige Gemeinschaft der Gläubigen mit ihrem Herrn und Meister giebt, daß dazu die Jünger allmählig geweiht wurden in den Tagen der Auferstehung. Was er also mit dieser sagen wolle, und worin sie bestehe, darüber laßt uns jetzt nachdenken. – 26 er] es
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Tex t. Joh. cap. 10. v. 14–16. Ich bin ein guter Hirt und erkenne die Meinen, und bin bekannt den Meinen; wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater; und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andre Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle, und dieselbigen muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Heerde und ein Hirte werden.
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In diesen Worten hält uns der Erlöser die Zeit ganz deutlich vor Augen, wo er nicht mehr auf dieser Erde wandeln, wo er durch seine höhere Kraft auf die Menschen wirken werde; denn schon vorher und auch in den Worten unsers Textes, denkt er daran, daß er im Begriff sei, als ein guter Hirt sein Leben zu lassen für die Schafe, aber nirgends drückt er sich über ihr Verhältniß zu ihm so bestimmt aus, wie wir es hier lesen. Das ist es also was wir suchen, es ist die Beschreibung der rein geistigen Gemeinschaft in der wir mit ihm stehen sollen, und wozu es keiner äußern Nähe bedarf. – So laßt uns erwägen, worin nach den Worten des Textes, diese unsre rein geistige | Gemeinschaft mit dem Erlöser besteht? – Es ist aber zweierlei worauf uns die Worte des Textes hinweisen. Zunächst sagt er: sie bestehe in einer gegenseitigen Kenntniß: ich kenne die Meinen und bin bekannt den Meinen. Zweitens, in einer ganz bestimmten Beziehung auf diejenigen welche noch nach seiner Erlösung sollten hinzugeführt werden, daß diese seine Stimme hören und ihm folgen würden. Auf diese Punkte wollen wir näher unsere Gedanken richten. – I. Zuerst meine Freunde redet der Erlöser von der gegenseitigen Kenntniß welche Statt findet zwischen ihm und den Seinen. Aber wie beschreibt er sie uns? ich kenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennt. – Hier scheint uns der Erlöser wie es wohl in menschlichen Dingen von den Dichtern zu geschehen pflegt, daß sie nicht nur das was im menschlichen Gemüthe vorgeht, durch äußere Erscheinungen erklären, sondern auch oft, die äußern Erscheinungen recht deutlich zu machen suchen, indem sie es vergleichen mit dem was im verborgensten Innern des Herzens vorgeht; eben so scheint der Erlöser hier dasjenige, was noch nicht deutlich sein konnte, nicht durch ein Offenbares, sondern durch ein noch mehr Verborgenes erklärt zu haben. Allein dennoch hat er hierdurch das innerste Wesen unsrer Gemeinschaft mit ihm deutlich gemacht. Wenn wir es aber genauer betrachten, so werden wir das Wesen dieser Gemeinschaft nicht anders auffinden können, als wenn wir tiefer einzudringen suchen in die Worte des Erlösers. | Also zuerst: wie können und sollen wir den Erlöser 1 v. 14–16] v. 14.16
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nach diesen Worten kennen, wie er den Vater kennt. Wie wenig wir aber auch hiervon wissen mögen, so ist uns doch so viel deutlich, eben weil sich der Erlöser immer beruft auf eine unmittelbar anschauliche Kenntniß, die er von seinem und unserm Vater habe, daß diese Kenntniß nicht gewesen ist, eine aus allerlei Gründen zusammengesetzte, wie allerdings wohl die Kenntniß vieler Menschen von Gott nicht anders ist als eine solche. Aber das ist nur diejenige von der wenig Frucht in das menschliche Gemüth kommt, das ist diejenige bei welcher das Herz kalt bleibt, und ohnerachtet welcher das Leben des Menschen eben so sein könnte als wenn er ohne Gott wäre. So giebt es allerdings ein Kennen des Erlösers, wie viele Menschen ihn kennen, nicht zweifelnd an der uns von ihm überlieferten Geschichte, nicht geradezu bestreitend das was Auszeichnendes und Erhebendes von ihm gesagt wird, aber es ist eine Kenntniß die sich mehr und mehr in bloße Worte verliert. Viel weniger, m. Fr. ist hier von einer Erkenntniß des Erlösers die Rede, wie wir in der Schrift gesagt finden, daß Kenntniß von Gott und Glauben daran auch die gefallnen bösen Geister hätten, und eben in diesen Glauben gerade die innerste Wurzel ihrer Qualen und Strafen finden, die ihnen aus dieser stets neu aufblühten. Leider giebt es auch eine solche Kenntniß des | Erlösers, leider fehlt es unter denen, die in die äußere Gemeinschaft seiner Nachfolger aufgenommen sind, auch an solchen nicht, die in einem Wiederstreite ihres Lebens befangen sind, die in demselben, indem sie ihn doch nicht ableugnen können, so oft er in ihnen lebendig wird, eine neue Quelle innerer Vorwürfe und Verworrenheit des Gemüts finden. Ja, das muß uns also sehr leicht aus den Worten des Erlösers deutlich sein, wenn unsre Kenntniß von ihm nicht ist wie sie sein soll, können wir dann hineindringen in das Geheimniß dessen was er war, ehe der Welt Grund gelegt war, worüber er sich selbst an vielen Stellen ausdrückt? – Laßet uns wenigstens an eines halten, was er sagt; wo er nehmlich redet von seinem innersten verborgenen Zusammenhang mit seinem und unserm Vater, da redet er davon als von einer Herrlichkeit, die er gehabt beim Vater; von dieser werde ihm die Kenntniß seines Vaters, seines Wesens und seines Willens, aus dieser Kraft thue und leide er für die Welt. Dürfen wir uns aber daran halten, m. Fr. können und dürfen wir sagen daß unsre Kenntniß des Erlösers herstammt aus einer Herrlichkeit die wir bei ihm und durch ihn haben, und von der diese Welt nichts habe? Ja, m. gb. Fr. führt er uns darauf nicht genug zurück? spricht er nicht von einem Frieden einer Seligkeit die die Welt nicht kennt? aus ihr stammt unsre Kenntniß von ihm wie die unsrige ähnlich ist seiner Kenntniß von seinem Vater. – Wie kommt der Mensch zuerst zur Kenntniß des Erlösers? nicht selten ist | es nur die 4 unserm] unsern
29–30 unserm] unsern
26–27 Eph 1,4; vgl. 1Petr 1,20
32 dieser] diese
28–32 Vgl. Joh 17,1–26
36 einem] einen
36–37 Vgl. Joh 14,27
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Gewohnheit; es knüpfen sich an das Wort von ihm mancherlei verschiedene Gestalten von den ersten Jahren der Kindheit an; sie sahen die Werke derer die an ihn glauben, und diese Bekanntschaft ist die erste die der Mensch empfängt seit der Erlöser auf der Erde nicht mehr ist, sondern seine Kirche auf Erden gegründet ist. Aber da ist noch keine Spur von jener Herrlichkeit bei ihm, das ist noch nicht die Bekanntschaft bei der sie bleiben sollen, das ist nur dasjenige wodurch das harte Herz weich gemacht werden soll, wodurch sie näher zu ihm geführt werden sollen, nur die Noth ihres eigenen Herzens und den Widerspruch in dem sie mit sich selbst stehen zu fühlen und kennen zu lernen, und des unglücklichen Gefühls inne zu werden, von dem der Apostel spricht: ich habe wohl Lust an dem Gesetze Gottes, nach dem inwendigen Menschen, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem, in meinem Gemüte, und nimmt mich gefangen unter der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern. Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen aus diesem Leben des Todes! Dieses Gefühl innerer Noth und Elendes treibt ihn dann hin zu dem Erlöser als demjenigen welcher von dieser innern Noth den Menschen befreien kann und will. So zu ihm hingetrieben wird diese Bekanntschaft der erste tiefe Grund der Herrlichkeit welche wir bei ihm haben sollen, aber sie ist immer nur erst der gleichsam tief in die Erde gelegte Grund derselben, | aus dieser soll hernach erst hervorgehn der Bau jenes innern Gottestempels. Worin besteht diese Herrlichkeit? Laßt uns zurücksehn auf die Tage des Auferstandenen; da finden wir bei seinen Jüngern, daß sie, da ihr Herz voll war von Trauer und Zagen, nachdem ihr Herr und Meister überantwortet war zum Tode, und sie sagten: wir hofften er solle Israel erlösen, da finden wir, daß sie ihn noch nicht kannten. Als er aber zu ihnen trat, und ihnen die Augen öffnete, so daß sie ihn und die Schrift verstanden, und als er sie anwehete mit dem Geist, und sprach: Friede sei mit euch! und als er weiter zu ihnen sprach: welchen ihr die Sünden vergebet, denen sind sie vergeben, und welchen ihr sie behaltet denen sind sie behalten; da war ihnen aufgegangen die Herrlichkeit, da waren sie aufgenommen in das Reich, welches er zu stiften gekommen war, und von diesem Augenblick an pflanzte es sich fort und besteht bis auf diesen Tag. Eben dies ist die Herrlichkeit die auch wir von ihm haben sollen und auf der erst unsere beseligende Erkenntniß von dem Erlöser ruht. Das erste kommt dem Menschen nachdem er fähig geworden ist zum Verständniß der Schrift, zu fühlen und zu verstehn den großen Rathschluß Gottes von der Erlösung der Menschen, und ja und Amen dazu zu sagen, dann kommt die Zeit des seligen Friedens, den wir 32 diesem] diesen
35 dem Menschen] den Menschen
11–15 Vgl. Röm 7,22–24 26–30 Vgl. Joh 20,21–23
24–25 Vgl. Lk 24,20–21
26–27 Vgl. Lk 24,31–32
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in ihm haben, dann erst kommt die Zeit wo wir so eingelebt sind in sein Reich, so tief verflochten in die erlösende Thätigkeit, daß wir etwas thun um die Menschen zu | ihm zu führen, daß wir eben dadurch die Sünde vergeben, wo aber sein Wort nicht Eingang findet, daß da den Widerstrebenden die Sünde behalten wird. Haben wir diese Seeligkeit im Herzen, dann kennen wir den Erlöser, wie er den Vater kennt, dann ist sein Ebenbild tief in uns eingegraben, wie er das Ebenbild des Vaters ist, dann verstehn wir besser von ihm die einzelnen Züge, die in den Buchstaben der Schrift von ihm sind niedergelegt worden, dann erst fühlen wir uns endlich in jedem bessern Augenblick so eins mit ihm, wie er mit dem Vater, und das ist die Kenntniß die wir von ihm haben. Fragen wir: wie kennt denn uns der Erlöser? so finden wir die Antwort liegt in dem, wie ihn der Vater kennt, wie er das Zeugniß von ihm ablegt: Das ist mein lieber Sohn an dem ich Wohlgefallen habe; und wie der Erlöser sagt: wenn ich selbst von mir zeugte, so wäre mein Zeugniß falsch, aber der Vater ist es der von mir zeuget durch die Werke die ich thue. So kennt der Vater unsern Herrn, so legt er Zeugniß von ihm ab vor der ganzen Welt, daß, und wie er ihn kenne, so hat er ihm die Ehre und die Gewalt gegeben, und so will so kann der Erlöser auch uns kennen, wie wir es eben beschrieben haben. Denn wie kann es anders sein, als daß der Mund übergeht von dem, dessen das Herz voll ist, wie kann es anders sein wenn wir seine Liebe und seinen göttlichen Geist so weit es die menschliche Natur zuläßt, darzustellen suchen in unserm Leben, daß er uns das Zeugniß giebt, daß wir in ihm | leben, denn denen, die solche Werke in seiner Kraft gethan, hat sich der Herr nie unbezeugt gelassen, und durch solche Werke in dem Herrn gethan, ist die Finsterniß verscheucht. – So kennt der Erlöser diejenigen die in ihm und durch ihn leben, und wenn kein anderer sie so kennt, er kennt sie. – Sei unser Leben noch so still und verborgen, sei es noch so wenig was wir der Welt zeigen können, als die Frucht unserer Arbeit, wenn wir nur erhöht sind zu dem Vater durch den Geist den er mitgetheilt hat, so kennt er jeden, und jeder der zu den Schaafen des Herrn gehört, wird von ihm erkannt, jeder fühlt als sein Zeugniß, daß auch er ein Kind Gottes sei. II. Beschreibt uns der Erlöser die Gemeinschaft des Geistes zwischen ihm und uns nicht nur als bekannt sondern auch als eine solche Vereinigung zu der auch andre Schafe nach seiner Erhöhung sollten hinzugeführt werden, die seine Stimme hören, und folgen würden. Er dachte damals, m. Fr. nicht an 27 ihn] ihm 14 Vgl. Mt 3,17; Mk 1,11; Lk 3,22 Mt 12,34; Lk 6,45
15–16 Vgl. Joh 5,31.36
20–21 Vgl.
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diejenigen die leiblich seine Stimme hörten und seiner Einladung folgten, sondern er dachte an die Zeit, wo er sein Leben würde gelassen haben für die Schafe, er dachte an diejenigen die nur auf eine geistige Weise seine Stimme hören und sich zu ihm hingezogen fühlen würden. Aber diese ist keine andre als seine eigenen in der Schrift niederlegten Worte, und eben weil er sagt: daß der tröstende Geist nichts Neues geben, sondern es nur von dem Seinen nehmen werde so dürfen wir aus seinen eigenen Worten nur nehmen um ihm zu folgen. Was war es denn was der Erlöser den Menschen zurief, so lange er auf Erden wandelte, was ist es das | sein Geist zu uns redet durch das geschriebene Wort, und durch den Mund seiner Diener? Zwei solcher Worte giebt es, auf die wir die ganze Verkündigung des Herrn alles was er den Menschen gebietend und verbietend zuruft zurückführen können. Das eine ist das Wort: kommt her zu mir alle die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. – Das ist die tröstende Stimme, m. Fr. die noch immer, nicht etwa nur ehe wir eins geworden sind mit dem Herrn, so lange wir unter dem schweren Joch der Sünde gebeugt waren; nein es ist die Stimme die immer an uns Alle ergeht, denn wir sind und bleiben auf mancherlei Weise müheselig und beladen, so lange wir hier auf Erden wallen. Was es auch sei was uns drückt, was es auch sei, dessen Mühe und Noth wir fühlen, seien es die Wiederwärtigkeiten des Lebens, sei es der geistige Zwist des Reiches Gottes mit der Finsterniß, wo wir mühselig und beladen sind, da ertönt die Stimme des göttlichen Hirten an unser Herz: kommt her zu mir, ich will euch erquicken. Wer diese Stimme hört der flüchtet zu ihm, und wird von ihm erquickt, von dem wird seine Mühe und Last genommen, und er fühlt bald, wenn der Herr bei ihm eingegangen ist nichts anders als jenes, sein sanftes Joch. – Das andre Wort ist: wer mein Jünger sein will, der nehme sein Kreutz auf sich und verleugne sich selbst, und folge mir nach. Ja, m. Fr. das ist die andre Stimme des Herrn, die ebenfalls ununterbrochen an uns ergeht, die wir in diesem Leben nicht aufhören, mühselig und beladen zu sein, die wir nicht auf|hören, dem ausgesetzt zu sein, daß die Welt uns locke mit ihrer Lust, die wir stets das Böse mit Gutem zu überwinden haben. Da kommt jene stärkende und ermuthigende Stimme des Herrn an uns: wer mein Jünger sein will der verleugne sich selbst und folge mir nach! Da kommt uns das Gefühl von der unaussprechlichen Seeligkeit, die jenes Kreutz des Herrn in die Welt gebracht hat, da kommt uns das Gefühl, das wir durchaus nicht anders können, als durch Leiden vollendet werden um zu seiner Herrlichkeit einzugehn. Und wer dem Herrn gehört, den schützt seine Stimme, den warnt sie gütig, ehe die Welt 16 dem schweren] den schweren
29 diesem] diesen
32 Gutem] Guten
6–7 Vgl. Joh 16,14–15 13–14 Vgl. Mt 11,28 23 Vgl. Mt 11,28 27–28 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23 33–34 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23
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einen Sieg über sie gewonnen hat, und er folgt ihr. Das, m. Fr. das ist das künftige Leben welches der Herr in unsren Seelen führt und wodurch wir in lebendiger Gemeinschaft mit ihm stehn, wo das beladne Herz es bedarf, erquickt, wo die Mühseligkeiten der Menschen ihn drücken, dann aber auch zum künftigen Widerstande bereit, wo es gilt für das Reich des Erlösers, sich sammelnd zu der allein richtig leitenden Fahne seines Kreutzes, und auffordernd alle die, die ihm angehören. Also mögen wir zusehn, ob wir in dieser Gemeinschaft des Geistes mit ihm stehen, so mögen wir prüfen, ob wir zu der einen Heerde gehören, deren Hirt er ist, durch diese gegenseitige Kenntniß des Herrn, von uns, und unsrer von ihm, durch diesen lieblichen und kräftigen Laut seiner Stimme, und durch unser Folgen seiner Stimme ist sein Reich gegründet worden. Ich habe | noch andre Schafe die sind nicht aus diesem Stall, sagte er damals, und wir alle, m. Fr. wir und unsre Vorfahren seit den vielen hundert Jahren, und diejenigen, die nach uns seinen Namen bekennen werden, sind darunter begriffen; und mögen wir auch das Wort merken und in unser Herz schließen, die noch nicht zu seiner Heerde gehören, die sind einzeln zerstreute Schafe. Lebendige Kraft, wahres Leben, starkes Zusammenhalten das ist nur auf eine scheinbare oder nur vorübergehende irdische Weise in ihnen, so lange sie nicht zu seiner Heerde gesammelt sind, sind sie zerstreut, und jeder geht seines eignen Weges. Wohl! gehören wir zu seiner Heerde, folgen wir seiner Stimme, so haben wir auch dieser Stimme zu folgen um ihm die zerstreuten Schafe zu sammeln deren es noch jetzt giebt. – Laßt uns ihnen mit der Stimme des Herrn dieselben beseligenden Worte zurufen, durch die wir ihm eigen geworden sind; laßt uns ihnen in seinem Namen sagen, sie mögen sich versöhnen lassen mit Gott, und sich sammeln zu dem der alle erquicken kann; wenn sie ihn erkennen. Und wir, m. th. Fr. die wir versammelt sind zu dieser Heerde des Herrn, laßt uns überall einander zurufen, daß wir unser Kreutz auf uns nehmen, und uns selbst verleugnen müssen, wenn wir seine Jünger sein wollen, laßt uns untereinander uns stärken, daß wir immer mehr seiner Stimme folgen, und so ganz und vollkommen, wie Er der eine Hirt ist, auch eine Heerde werden mögen. Amen.
4 drücken] drückt seinen 20 Vgl. Jes 53,6
13 diesem] diesen
25–26 Vgl. 2Kor 5,20
14 den] die
22 ihm] ihn
25 seinem]
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[Liederblatt vom 5. April 1818:] Am Sonntage Mis. Dom. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Gott des Himmels etc. [1.] Sieh hie bin ich Ehrenkönig, / Lege mich vor deinen Thron, / Schwache Thränen, kindlich Sehnen / Bring’ ich dir du Menschensohn! / Laß dich finden, laß dich finden / Von mir, der ich Asch und Thon! // [2.] Sieh doch auf mich, Herr ich bitt’ dich, / Lenke mich nach deinem Sinn! / Dich alleine ich nur meine, / Dein erkauftes Erb ich bin. / Laß dich finden, laß dich finden, / Gieb dich mir und nimm mich hin! // [3.] Ich begehre nichts o Herre, / Als nur deine freie Gnad, / Die du giebst dem den du liebest, / Und der dich liebt in der That. / Laß dich finden, laß dich finden, / Der hat alles, wer dich hat. // [4.] Hör wie kläglich und beweglich / Dir die treue Seele singt, / Wie demüthig und wehmüthig / Deines Kindes Stimme klingt, / Laß dich finden, laß dich finden, / Wenn mein Herze zu dir dringt. // [5.] Dieser Zeiten Eitelkeiten, / Lust und Reichthum, Ehr und Freud, / Sind nur Schmerzen meinem Herzen, / Welches sucht die Ewigkeit. / Laß dich finden, laß dich finden, / Herr mein Hort ich bin bereit. // Nach dem Gebet. – Mel. Herr Christ der einge etc. [1.] Du Freude der Erlösten, / Mein Jesu komm zu mir, / Komm, den der seufzt zu trösten, / Komm mich verlangt nach dir! / Komm hilf, errett, erquicke, / Begnadige beglücke, / Erfreu und segne mich. // [2.] Mit brünstigem Verlangen, / Sehn’ ich mich Tag und Nacht, / O Liebster zu umfangen, / Dich, der mich selig macht. / Ich suche Dich mit Schmerzen, / Die Hölle wohnt im Herzen, / Wenn du nicht drinnen wohnst. // [3.] Doch da ist Himmels Freude, / Wo der Erlöser ist, / Der singt auch Dank im Leide, / Dem du Herr nahe bist. / O selige Empfindung, / Wenn Seelen in Verbindung / Mit dir o Heiland stehn. // [4.] Du kennst ja mein Vertrauen, / Ach warum trittst du fern? / Wenn werd’ ich dich recht schauen, / Dich meinen besten Herrn? / Wann wirst du mir dem Deinen / Mit Trost und Hülf erscheinen, / Wenn sprichst du, hier bin ich? // [5.] Du bleibst in allen Nöthen / Doch meine Zuversicht, / Die nichts in mir kann tödten; / Dich laß ich ewig nicht. / Du mußt dich mein erbarmen, / Denn du hast ja mich Armen / Mit deinem Blut erkauft. // [6.] Ach laß mich dich erblicken, / In deiner Freundlichkeit, / So werd ich mich erquicken, / So wird mein Herz erfreut. / Wenn ich dich bis zum Grabe / Zu meinem Troste habe, / So hab ich Trost genug. // (Jauersch. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Nun komm der Heiden etc. [1.] Höchster Priester, der du dich / Selbst geopfert hast für mich, / Hilf doch, daß noch auf der Erd / Auch mein Herz dein Opfer werd. // [2.] Nimm dir ganz zu eigen hin / Meinen Willen meinen Sinn, / Reinige das arme Herz, / Sei’s auch unter herbem Schmerz. // Nach der Predigt. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt etc. Der du Kraft und Muth gewährest, / Hilf der Schwachen Schwachheit auf! / Ja wir hoffen, daß du hörest, / Und wir freuen uns darauf. / Rühmen wollen wir und singen, / Daß du Stärke giebst zu ringen. //
Am 30. April 1818 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Himmelfahrt, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 1,6–8 (Anlehnung an die Sonntagsepistel) Nachschrift; SAr 52, Bl. 3r–3v; Gemberg Keine Nachschrift; SN 623, Bl. 4r–4v; Crayen Keine
Am Himmelfahrtstage. Freier Text. Acta 1, v. 6–8. (Dr. Schleiermacher).
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Die Jünger fragen den Herrn, wann wirst du aufrichten das Reich Israel? Sie meinten das geistige Reich Gottes – denn in dem Sinne paßt nur die Antwort des Herrn, der sie also nicht anders verstanden haben kann. In welcher Art äußert sich das Verlangen der Jünger, die Zeit zu wissen, wann aus der schönsten Blüthe der Menschheit (Christo) die Frucht entkeimen werde? Und was antwortet der Herr darauf? Wir haben hier den letzten Willen des scheidenden Erlösers, den er den Jüngern, den er aber auch uns giebt, bevor er den Schauplatz der Welt verläßt. Sie wollen wissen, wann und wie das Gottesreich auf Erden eintreten werde? Das dürfen wir ihnen nicht verargen. Christus hatte ihnen erklärt, daß er erst scheiden müsse, bevor das Reich gegründet werde, in dessen ersten Anfängen er schied. Er hatte ihnen die Kraft aus der Höhe verheißen, wenn er sie verlassen würde. Nun fragen sie ihn nach ihrer großen Sehnsucht, den Zustand der Vollendung eintreten zu sehn. Auch wir wissen, daß dieses Reich Gottes langsam und allmählich sich nur gestalten kann; aber oft wünschen und sehnen wir uns, den ersehnten Zustand verwirklicht zu sehen. Aber die Erfahrung lehrt uns, daß wir nimmer wissen, wie weit Blüthe und Frucht aus einander liegen. Und wir müssen uns daher demüthi|gen vor Gott, der dies seiner Macht allein vorbehalten. Selbst Christus tadelt sie nicht wegen ihrer Frage, die auch wir an ihn richten möchten; aber er beantwortet sie auch nicht. Er spricht, bevor er scheidet, die Worte: Zeit und Stunde gebührt euch nicht zu wissen. Das müssen auch wir uns gesagt seyn lassen. Dies demüthigt uns auf der einen Seite, aber erhebt uns auch wieder. Denn wir sollen nicht ruhig und unthätig abwarten, bis das Reich Gottes sich gestaltet, sondern, wie Christus den 13–14 Vgl. Lk 24,49
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Jüngern sagt, sie sollen ihn zeugen, so sollen auch wir Zeugen seyn der ewigen Wahrheit, die wir auf das Gebot des Herrn zurückführen, so sollen wir voll Kraft des göttlichen Geistes wirken, das Bessere herbeizuführen. Wüßten wir, daß die Zeit der Frucht noch so weit hinausliegt, wir würden verzagen an dem Erfolg unsers Wirkens. Es ist leichter, sein Alles daran zu setzen, als den oft wiederkehrenden Kampf immer mit ungeschwächter Kraft durchzukämpfen. Wenn wir so eine dringende Sehnsucht des Herzens fühlen im Allgemeinen und Einzelnen, eine Sehnsucht, daß der Vater im Himmel allen Menschen in seinem Sohne offenbar werden möge, so muß uns dies von stolzer Anmaßung frei halten, aber auch ermuntern, unseren Theils alles zu wagen, und für das zu zeugen, was wir tief in unsrer Brust vernehmen. So werden wir vom Geiste Gottes getrieben fördern helfen die Annäherung des Reiches der Vollendung, zu dessen Gründung der Erlöser in die Welt trat, zu dessen Erweiterung er seinen Geist seinen Gläubigen fort und fort einhaucht.
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Am 10. Mai 1818 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Pfingstsonntag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 12,4 Nachschrift; SAr 53, Bl. 1r–8v; Gemberg Keine Keine Keine
Am 1. Pfingstfeiertage. von Schleiermacher.
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Herr, lehre uns thun nach deinem Wohlgefallen, dein guter Geist leite uns auf richtiger Bahn. Amen. 5
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Die Worte, an die wir heute unsre Betrachtung anknüpfen wollen, lesen wir im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther cap. 12, 4. An jenem großen Tage, m. and. F., dessen Gedächtniß wir heute feiern, und den wir mit Recht den eigentlichen Stiftungstag der christlichen Kirche nennen können, da sehen wir zu gleicher Zeit die Einheit des Alle beseelenden Geistes und die Mannichfaltigkeit der Gaben, womit er die Jünger des Herrn ausrüstete, und soweit uns die heiligen Bücher in die Geschichte der christlichen Kirche führen, finden wir fortwährend beides mit einander verbunden: nirgends ist die Rede von dem Geist Gottes, wo nicht auch die Rede wäre von den Gaben, durch die er sich wirksam erzeigt, wo sie nicht alle mit Lob und Preis gegen Gott dem einen Geist zugeschrieben würden. | Durch diese Verbindung, m. g. F., ist die christliche Kirche entstanden, und durch eben dieselbe kann sie auch nur bestehen und sich erhalten. So mag es denn eine Betrachtung sein, die dem heutigen Tage gar sehr geziemt, daß wir mit einander reden über die Verbindung dieses einen Geistes, der alle, die an Christum glauben, beseelt, mit den mancherlei Gaben, die er erzeugt und erweckt. Laßt uns deshalb, um ihr Verhältniß zu einander um so eher zu erkennen, erwägen, wie es um beide stehen mag, wenn sie von einander getrennt sind: dann wird uns zweitens ihre natürliche und nothwendige Verbindung desto besser in die Augen fallen. 3–4 Ps 143,10 als Kanzelgruß
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I. Mit mancherlei köstlichen Gaben hat Gott, unser himmlischer Vater, die menschliche Natur ausgerüstet: kein Menschenkind wird geboren, es bringt von dieser gesegneten Ausstattung der menschlichen Natur mehr oder weniger mit sich in das irdische Leben hinein. Wie freuen wir uns, wenn allmählig diese Gaben der Natur sich immer mehr entwickeln, wenn lebendiges Bestreben, | thätig und wirksam zu sein, wenn Wissenschaft und Einsicht aller Art sich in dem jungen Gemüthe entfaltet, aber wenn es dann dem Geist nicht Raum gibt, der Alles heiligen und verbinden soll, o wie bald werden dann alle schönen Hoffnungen eines kräftigen reichen Lebens getäuscht! Denn wenn der Geist nicht des Menschen sich bemächtigt und ihn beseelt, der eine Geist, der aus Gott ist, dann bleibt nichts übrig, als was die Schrift überall dem Geist entgegensetzt, das Fleisch; dann werden die herrlichsten Gaben der Natur in den Dienst der Sinnlichkeit herabgewürdigt, und zerstörend und verzehrend wirken sie außer sich und in sich hinein. Ja wenn es auch eine seltene Erscheinung ist, wie sie dann auch zum Wunder der Menschen bisweilen sich hervorthut, wo das schöne Verhältniß der Gaben der Natur die heimlichen Begierden des Menschen im Zaum hält, und durch ein schönres Ebenmaß alles bändigt und zügelt, sodaß eine solche ausgezeichnete Natur fest und sicher zu stehen scheint, früher | oder später verschwindet doch auch dieser Schein, und wenn auch nicht im irdischen Leben, so zeigt sich doch jenseits, daß alle jene Festigkeit nur Schein gewesen und keine Wahrheit darin sei. Aber laßt eine Zeit kommen, wo der Geist Gottes in Andren Kräfte entwickelt, die ganz zu schlafen schienen, dann steht ein solcher, auch der ausgezeichnetste Mensch, wie ein Todter unter den Lebenden, wie ein sträflich Gleichgültiger gegen die von dem göttlichen Geist Beseelten und Fortgerissenen. Aber noch mehr, m. g. F., wenn wir nicht auf die einzelnen Menschen sehen, sondern auf die große Verbindung der Menschen, wie sie Gott für einander geschaffen hat, damit jede ihr besonderes Theil des Erdbodens bewohne und beherrsche; auch unter den Völkern und Geschlechtern finden wir denselben Unterschied, wie unter den Einzelnen. Nach Gottes Wohlgefallen und nach seiner unerreichbaren Weisheit ist das eine reich aus|gestattet, das andere arm. Betrachten wir nun solche von Gott reich begabte und gesegnete Geschlechter, welche herrliche Blüthe geht da auf, wenn die Natur, von der sie umgeben sind, sie begünstigt, wie lernen wir da erst den ganzen Reichthum, den Gott in die Natur gelegt hat, kennen und schätzen, wie entzücken uns die Werke der Natur und Kunst, wie bewundern wir die Tiefe der Wissenschaft: aber ist die Sehnsucht der Menschen nach dem ewigen Wesen und nach der Gemeinschaft mit ihm entweder ertödtet durch ein Leben, bloß für diese Welt auf Sinnlichkeit und Genuß gerichtet, oder irregeleitet durch die auch schon entwickelte Verkehrtheit des menschlichen Herzens, und die Wahrheit des Geistes untergegangen in Verkehrtheit, wie bald fällt da
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auch die schönste Blüthe ab, ohne eine würdige Frucht zu tragen? Ja sogar auch die Kraft, die am tiefsten in der menschlichen Natur liegt, das zusammengehörige Volk festzuhalten in Eintracht und Friede, auch diese so | natürliche und gemeine Gabe der Natur, sie muß mit untergehen, wenn der Geist nicht das ganze menschliche Wesen leitet und regiert. Das ist die kurze Geschichte aller einzelner Menschen aus jeder Zeit und jedem Volk, die ihr Herz dem Geist aus Gott verschlossen, das ist die kurze Geschichte aller auch der wichtigsten blühendsten Völker, ehe der Herr das Menschengeschlecht erleuchtete, es ist das gemeine Schicksal aller Völker, welche, nachdem der Ruf des Evangeliums zu ihnen gedrungen war, ihre Ohren demselben verstopften, und in den Trümmern der alten Unwissenheit und Verkehrtheit ihr Dasein auf schmähliche und ruhmlose Weise endigten. So, meine geliebten Fr., ist es mit der Mannichfaltigkeit der Gaben, wenn der Eine Geist fehlt: Diese Erfahrung, das menschliche Geschlecht hat sie lange genug gemacht, und oft wiederholt, und um desto dankbarer beugen wir heut unsere Knie vor dem Vater, der endlich | auch die herrlichste Gabe auf uns herabgeströmet, und uns mit seinem Sohne auch den Geist geschenkt hat. Nach dessen Empfange nichts zu wünschen übrig bleibt, als daß unser Herz, sein Heiligthum, geweiht werde zu seinem Tempel. Aber das Entgegengesetzte, wie wird es mit dem Geist, wenn die Mannichfaltigkeit der Gabe fehlt? Das können wir eigentlich nicht fragen, es ist der schöpferische Geist, der, wo die Gaben auch nicht sind, sie hervorruft, und um diese Frage zu beantworten, müssen wir in die Tiefe der Verkehrtheit der menschlichen Herzen hinabsteigen, in jenes Verkennen der reichern Bestimmung und Kraft des Geistes, wobei wir oft zweifeln dürfen, ist er es, der die Menschen beseelt, und doch so wenig aus ihnen gestalten kann oder nicht? Laßt uns unsre Augen auf solche Menschen werfen, wie sie immer im Einzelnen nicht selten sind, welche eben auf jene Erfahrung sehend die wir uns vorgehalten haben, alle ausgezeichneten Gaben der menschlichen Natur, weil sie so leicht dem irdischen Wesen dienen, | auch nur für irdisch, sinnlich und verkehrt halten, und indem sie das Gefühl gewonnen haben, daß der Mensch nur in der gänzlichen Ergebung des Herzens an den Erlöser seine Seligkeit finden könne, und auf der andern Seite glauben, um sich von der Sünde frei zu halten, und der Versuchung nicht anheim zufallen, müssen sie alle jene Anlagen der Natur ersticken, und um nicht einen Mißbrauch damit zu treiben, auch den Gebrauch derselben aufheben. Indem sie gute Anlagen, die Gott vielleicht auch in ihre eigene Seele gelegt hat, dämpfen, und zurückdrängen, nur damit sie nicht hochmüthig werden und verkehrt, so lästern sie in dieser Herabwürdigung der Gaben den Schöpfer selbst, den sie doch preisen wollen. Ja wir wissen nicht vorher, wenn wir eine solche Erscheinung vor uns sehen, ist es der Geist, oder hat sich nur ein Trugbild, das ihm gleicht, der
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unglücklichen Seele bemächtigt. Aber er sei es auch, was ist das Schicksal | eines solchen Gemüths? O das große Wort des Erlösers geht in traurige Erfüllung: wer da nicht hat, dem soll auch noch genommen werden, was er hat. Indem sie aus solcher Verzagtheit ihre Gaben nicht ausbilden und gebrauchen, indem sie sich von der Thätigkeit zurückziehen, und sich mit einem dumpfen Hinbrüten begnügen, das nie zur frischen lebendigen Thätigkeit reift, wie welkt die Natur nicht hin, wie bleibt der Mensch nur noch ein Schatten dessen, was er sein sollte! wie wenig ist er der Gesellschaft der Menschen werth! Gehört er dem Leibe Christi an, was ist er anders, als ein erstorbenes Glied, welches dem Tode und dem Verwesen nahe ist. So ist es, m. g. F., so kann auch der Geist nicht bestehen ohne die Mannichfaltigkeit der Gaben, und wenn wir beides zusammengenommen betrachten, so müssen wir das Wort des Apostels in seinem ganzen Umfange verstehn. Darin besteht das Wesen der christlichen Kirche, das ist das Zeichen eines jeden, der wahrhaft von dem Geiste Christi beseelt ist: es sind mancherlei Gaben | aber es ist Ein Geist. II. Und nachdem wir auf die Trennung beider von einander unsre Aufmerksamkeit gerichtet haben, so laßt uns einen frohen und dankbaren Blick werfen auf den Einen Geist, damit wir mit Lob und Preis gegen den Herrn ihn auch aufnehmen in unsre Herzen, und laßt uns davon ausgehen, m. g. F., wie Gott der Herr die menschliche Natur mit der Mannichfaltigkeit der Gaben ausgerüstet hat, und wie sie diese als das frühere Unvollkommne nach der Ordnung der göttlichen Schöpfung schon entwickelt, ehe der Mensch noch fähig ist, daß der Geist Gottes Wohnung in seinem Herzen mache. Bleibt er nun entfernt, so haben wir gesehen, wie jede Gabe die andre zerstöre, und der Mensch bald in Trägheit versinke, bald in leidenschaftlichem Feuer verglühend sich selbst vernichten werde. Wo aber der Geist ist, da werden auch die mancherlei Gaben eines jeden von seiner göttlichen Kraft beseelt, und in der Uebereinstimmung mit den übrigen gehalten und getragen. So und nicht anders darf uns der erscheinen, dem der Herr zu allem übrigen | die höchste Gabe seines Geistes verliehen hat. Aber wie mag solches zugehen? Indem der Geist Gottes auf seine Seele sich niederläßt, hört der Mensch auf, sich selbst zu suchen, und zu wollen, denn der Geist Gottes ist ein allgemeiner Lebenshauch, durch den der Einzelne in dem Reich Gottes, in dem geistigen Leibe des Erlösers, leben muß. Da geht ihm das Gefühl auf von dem, was dort nothwendig ist, da fühlt jeder das drängende Bedürfniß des Ganzen, und bildet zu dessen Dienst diejenige Kraft in sich am meisten aus, durch die er am meisten schaffen kann. Jeder tröstet sich, wenn er sieht, daß ihm etwas mangelt, wenn er es in seinen 3–4 Vgl. Mt 13,12
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Brüdern ausgebreitet findet auf herrliche Weise, und bringt das, was er will und vermag, zu einem wohlgefälligen Opfer. So entsteht in dem einzelnen Menschen durch den alles lebendig machenden Geist jene Einheit seiner Bestrebungen, jene Sicherheit seines Zieles, wodurch ähnlich demjenigen, der der Grundstein ist, auf welchen dieser Tempel Gottes erbaut wird, jeder Einzelne sich zeigt als würdig, in diesem Tempel zu stehen und Gott zu verherrlichen als ein Gefäß zu sein im Hause | Gottes. Und eben so, m. g. F., ist es in der menschlichen Gesellschaft. Es ist nur der Geist Gottes, der die Menschen bewahrt hat in ihrem gemeinsamen Leben vor den mancherlei Krisen der Zerstörung, denen sie sonst unterliegen würden; er ist es, der die Lebenskraft munter erhält, er ist es, der der Fülle der Natur die Dauer und die Kraft giebt, welche wir sonst nicht finden. Soweit unsre Kenntniß reicht von den Völkern und Geschlechtern vor der Zeit, ehe der Erlöser eine vollkommne Erkenntniß Gottes verbreitete, die in einem Fortbestreben begriffen waren, wie kurz ist das Leben aller gewesen im Ganzen und in seinen einzelnen Theilen, wie kurze Zeit hat sich Eintracht und Kraft eines gemeinsamen Lebens, Kunst und Geschick, Bildung und Sitte erhalten, wie bald ist Zerstörung an die Stelle eines kräftigen Lebens getreten, und nirgend haben wir gefunden eine so lange Fortpflanzung herrlicher Kräfte der menschlichen Natur, als seit der Geist die Uebereinstimmung zwischen dem Einzelnen und Ganzem hervorbrachte, die ihr sonst gefehlt hat. Aber nicht nur das, sondern laßt uns auch von dem Entgegengesetzten ausgehen. Gesetzt der Geist | von oben fand ein leeres Haus und keine großen Gaben, dennoch wird dieselbe Uebereinstimmung herrschen; und es ist nur der Eine Geist da, so wird auch die Mannichfaltigkeit der Gaben entstehn. So war es, m. g. F., bei den Jüngern des Herrn. Sie hatten Theil genommen, so lange er auf Erden lebte, an seiner Kraft, Herrlichkeit und Weisheit. Aber das war sein Werk und seine Kraft, die nur durch sie hindurchging, und nachdem er sich von ihnen entfernt hatte, finden wir sie treu seiner Anweisung in die Stille zurückgezogen, ihrem ursprünglichen irdischen Geschäft lebend und gläubig harrend auf die Erfüllung seiner Verheißung. Sie hatten kein Theil an der Wunderkraft des Herrn, und was sie gewesen ohne ihren Herrn und Meister, wie wenig ausgestattet mit den Schätzen der Kunst und Wissenschaft ihres Jahrhunderts, das wissen wir. Aber als nun der Geist von oben kam, und sie beseelte, welche Fülle der Gaben entwickelte sich in ihnen! wie quoll ihnen das Wort der Weisheit und Lehre mit reicher Fülle und reicherem Segen von ihren Lippen, als dem Herr selbst in seiner irdischen Laufbahn beschieden | war, wie wurden sie Herrn der Sprache, von der sie sonst so wenig gewußt hatten. Das ist das Schauspiel, welches sich täglich unter uns erneuert; solange der Geist Gottes in der Christenheit lebt, so gestalten sich täglich unter uns auch nach unserm Bedürfniß die Gaben, 5 Vgl. Eph 2,20–21
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und darum ist das sein großer Ruhm, daß er mächtig ist auch in den Schwachen. Ja, m. g. F., diese Herrlichkeit läßt uns auch in die Tiefe des eignen Herzens fühlen: alle mögen wir es erkennen, daß das fröhlichste Bewußtsein der eignen Gaben, welche die irdische Natur uns verliehen, doch nichts ist gegen das Bewußtsein der Gaben, die beseelt sind von dem göttlichen Geiste, indem jeder fühlt, daß indem ihm von dem Herrn, der auch die Verschiedenheit der Aemter eingesetzt hat, ein Amt verliehen sei, dieser ihm auch dem Amte den Verstand und Weisheit gäbe: Ja das Bewußtsein eines solchen Menschen – und wie wollten wir sagen, daß diese Erscheinungen selten wären in der Geschichte der christlichen Kirche? – Ja das ist das herrlichste Bewußtsein eines solchen Menschen, weil er immer nur Gott die Ehre gibt und Gott preist, daß er ihn zum Werkzeug ausersehen, und so den Schwachen dazu gekräftigt hat, seinen Willen unter uns zu verherr|lichen: das ist das Werk Gottes und seines Geistes. So hat es sich immer bewährt, m. th. F., seit der Eine Geist herabgekommen ist auf die Jünger des Herrn, daß er die Mannichfaltigkeit der Gaben gesammelt, gelenkt, bewahrt hat für das große Werk Gottes auf Erden, daß mit seiner beseelenden Kraft gerade die herrlichste Gabe und größte Tiefe der wahren Weisheit des Lebens sich entfaltet hat in der Gemeine des Herrn, daß wir auch einst voll Preises gegen Gott, wie der Apostel, ausrufen müssen: es sind mancherlei Gaben, aber es ist Ein Geist. Und wir, m. g. F., wir sollten irgend etwas in der Welt fürchten, wir sollten, da wir solche Bürgschaft haben, bang sein um die Schicksale des Reichs Gottes auf Erden? es sollte uns der Gedanke kommen, auch uns könnte das Licht wieder untergehen? wir sollten bange sein, es könnte unter uns das Böse wieder herrschend werden über das Gute, und die dunkle Gewalt den Sieg erhalten! Dann müßten wir schlecht vertrauen dem Einen Geist, an dem auch wir Theil haben! Möchte es auch viel Mehrere unter uns geben, von denen wir auch mit Recht sagen müßten, sie wären Feinde des Reiches Gottes und des Guten: wäre auch der Fall eingetreten, daß diejenigen, die als Kinder des Lichts sein Reich aufrecht erhalten, die verachtetsten wären, und die einfältigsten, es wird wahr bleiben das Wort, daß sich Gott immer wieder Werkzeuge bildet, | wie er sie braucht aus den Unwürdigen und Weltkindern. So macht der Herr, wie in dem Reiche der Natur die Winde und Feuerflammen zu seinen Dienern, so durch seinen Geist die Schwächeren und Einfältigen zu den Seinigen, daß das Gute siege über das Böse. So ist es gegangen, so oft die Finsterniß überhand nahm auf Erden, sobald die rohe Gewalt den Sieg gewann über diejenigen Gesetze, die der Herr gegeben hat, um sein Reich dann auch zu regieren. Bleiben wir nun immer der Tempel seines Geistes, und sind zufrieden mit dem bescheidenen Theil, den er uns angewiesen hat, in der festen Zuversicht, daß wenn er mehr fordert, er auch mehr geben wird von seinem Geiste, so ist dies das Gefühl der Kraft und Zuversicht, wozu die Feier dieses
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Tages uns alle erheben soll. Sowie an jenem Tage aus Schwachen und Zurückgezogenen die muthigen Vertreter des Evangeliums wurden, sowie sich da aus den Schwachen und Einfältigen die große Mannichfaltigkeit der Geistesgaben entwickelte, so wird auch heute noch, wer nur den Geist in sich aufnimmt, immer mehr die tröstliche Erfahrung davon in sich machen. Amen.
Am 11. Mai 1818 vormittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Pfingstmontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 16,7 Nachschrift; SN 623, Bl. 5v–6r; Crayen Keine Keine Keine
Tex t : „Es ist euch gut daß ich hingehe! Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Geist nicht zu euch – ich aber will ihn zu euch senden!” Das Verhältniß der persönlichen Einwirckungen Jesu auf seine Jünger zu denen seines Geistes nachdem er die Erde verlaßen hatte. – Die Gewalt des persönlichen Einflußes Jesu auf seine Jünger mußte aufhören, wenn der Geist desjenigen was er zu bewircken hatte seine volle Kraft gewinnen sollte. – Der Christus in uns sollte Kraft gewinnen! – Die Jünger Jesu – so lange er unter ihnen noch lebte – betrachteten ihn: als ihren Herrn und Meister, und vertrauten sich ganz nur seiner leitenden Einwirckung – ohne daß schon eigne Festigkeit, und ihnen einwohnende Überzeugung in ihnen Kraft gewonnen hätte. – Es sollte aber noch etwas Höheres in ihnen bewirckt werden! – Jesus fand die Menschheit versenckt in Finsterniß! er führte sie zwar aus der Dämmrung zur Erblikung der Morgenröthe – mehr aber konnte durch das persönliche Dasein Jesu nicht bewirckt werden. Den vollen Lichtglanz konnte erst die Einwirckung des heiligen Geistes hervorbringen. Selbst nach seiner Auferstehung, indem er ihnen die Worte: „Nehmet hin den heiligen Geist” zuhauchte, wußte Jesus: daß der volle Glanz des Lichtes aus ihm, seinen Jüngern noch immer nicht zutheil geworden war – und tröstete sie deshalb: auf das Warten der Einwirckung des Hl. Geistes am Pfingstfest. „Ich hätte euch noch viel zu sagen” (sprach Jesus): „ich könnte persönlich auch noch länger wohlthätig auf euch einwircken!” – „aber es ist euch gut! daß ich hingehe – damit so desto mächtiger die Krafft des Geistes meiner Lehre euch beseele: Denn wo der Geist noch nicht ist – da ist noch nicht Freiheit!” – Selbstständig – und nicht mehr abhängig! – auch nicht einmahl mehr von dem sanften Hauch seiner 18 Joh 20,22
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Lippen sollten die Jünger Jesu sich fühlen. Und - | „Von Gott gelehret”: in ihnen selbst sollte die Stimme – und die Krafft eines göttlichen Geistes einwohnend sein – so daß es nicht mehr der äußeren Mittel und Stützen bedürfte: diese, ihrem Herzen einzuflößen. – Auch sollte dieser heilige Geist in der ganzen Menschheit gleichmäßig wirksam werden! Freilich mußten es einzelne ausgezeichnete Menschen sein: welche die Anderen emporzogen. – Das volle Leben aber wohnet erst da: wo das Ganze von einem Geist beseelt – und von deßen Krafft durchdrungen ist.
1 Vgl. Joh 6,45 (Zitat aus Jes 54,13)
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Am 17. Mai 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 14,23–27 Nachschrift; SAr 52, Bl. 4r; Gemberg Keine Nachschrift; SN 623/10, Bl. 6r–6v; Crayen Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am Sonntage Trinitatis: Freier Text Joh. 14, 23–27 (Dr. Schleiermacher) Wir beschließen heut die Hälfte des christlichen Kirchenjahres, welche fruchtbar ist an Gedächtnißfesten des Erlösers. Die hier empfangenen Ermunterungen sollen uns ins Leben dringen und ihre Kraft bewähren und aufgefrischt werden durch die sonntägigen Dienste des Herrn. In den christlichen Festtagen bringen wir dem göttlichen Sohne unsre Huldigung, der Vater hat kein Fest für sich, außer dem heutigen, an welchem wir des Vaters, und des Sohnes und des Geistes gedenken. 1. der Sohn und der Geist führen uns zum Vater. Seitdem Christus in der Welt den Vater offenbarte, hat er eigentlich erst Wohnung im menschlichen Herzen gemacht. Vor Christus nicht so; zwar erschien er in einzelnen ausgezeichneten Weisen, in den köstlichsten Momenten ihres Lebens, aber nicht um ihnen als Vater einzuwohnen. Zwar richtete das alte Volk Gottes sein Heiligthum auf, aber geheime Scheu machte es davor zurückbeben, Niemand, denn der Oberpriester, wagt ins Heiligthum zu schauen – auch da wohnte der Vater nicht in den Herzen. Erst Christus brachte uns die Wahrheit in der Erkenntniß des himmlischen Vaters. Sagen wir, nun bedürften wir Christi nicht, wir haben nun Gott, wir sind in der Welt, er thront darüber, so ist das verkehrt, so ist Gottes Thron nicht in unseren Herzen. 2. die Gemeinschaft mit dem Sohn und die Folgsamkeit gegen den Geist haben ihr Ziel in Gott – Wenn wir Sehnsucht tragen, Christum zum Freund des Herzens zu besitzen, und wir isoliren uns, allein des Umgangs mit dem Sohn genießend, so ist das nicht recht – der Sohn muß den Vater mit einführen ins Herz, daß der Wohnung darin mache. Sonst sind wir nicht wirkend fürs Wohl der Brüder. Daher der Sonntag ist verkehrt. Wie Liebe,
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Glaube und Heiligung zusammengehören, so gilt unser Preis dem Vater, Sohn und Geist, so müssen diese drei in uns wohnen – der Vater ohne den Sohn, oder dieser ohne den Vater lassen im Herzen eine Leere zurück. Wer so durchgedrungen ist zum dreieinigen Gotte, der hat den Frieden in sich, nicht wie die Welt ihn giebt, sondern wie Christus.
[Liederblatt vom 17. Mai 1818:] Am Sonntage Trinitatis 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Nun danket alle Gott etc. [1.] Gelobet sey der Herr, mein Vater und mein Leben, / Mein Schöpfer, der mir hat Geist Seel und Leib gegeben, / Mein Hort, der mich beschützt von Kindesbeinen an, / Der mir ohn Unterlaß des Guten viel gethan. // [2.] Gelobet sei der Herr, mein Heiland und mein Leben, / Des Vaters liebster Sohn, der sich für mich gegeben, / Der mich erlöset hat mit seinem theuren Blut, / Mir durch den Glauben schenkt das allerhöchste Gut. // [3.] Gelobet sei der Herr, mein Tröster und mein Leben, / Des Vaters werther Geist, den mir der Sohn gegeben, / Der mir mein Herz erquickt zu immer neuer Kraft, / Und in Versuchung mir Rath Trost und Hülfe schafft. // [4.] Gelobet sei der Herr mein Gott der ewig lebet, / Vor dem, wer ihn nicht liebt, in Furcht und Schreck erbebet, / Dem gläubig recht vertraut die ganze Christenheit, / Gelobet sei mein Gott in alle Ewigkeit. // (Olearius.) Nach dem Gebet. – Mel. Dir dir Jehova etc. [1.] Von dir mein Gott strömt Licht und Leben, / Der du des Lichts und Lebens Quelle bist; / Sonst bleib ich ganz von Finsterniß umgeben. / Und wüßte nicht, was dir gefällig ist. / O senk in mich der Wahrheit Stralen ein, / Belebe mich, so leb’ ich dir allein. // [2.] Dein Wort zog aus den Finsternissen / Mit hoher Kraft der Sonnen Licht hervor, / Du sprachst, da wards dem Nichts entrissen, / Und schwang sich schnell aus tiefer Nacht empor, / Herr laß dies Wort in mir auch mächtig sein! / Es zeige mir die Wahrheit hell und rein. // [3.] Dich hat noch niemand je gesehen, / Dein Sohn allein hat dich bei uns verklärt, / Doch wie kann ich ihn recht verstehen, / Wenn nicht dein Geist mich durch das Wort belehrt? / Drumm komm o Geist, du Geist der Frömmigkeit, / Erleuchte mich in dieser Dunkelheit. // [4.] Dann werd ich Herr dich wohl erkennen, / Wenn stets mein Herz dein Werk und Willen liebt; / Nur dann erst froh dich Vater nennen, / Wenn mir dein Geist der Kindschaft Zeugniß giebt. / So wird mir erst die hohe Weisheit klar, / Die uns durch Jesum offenbaret war. // [5.] O leite mich in deiner Wahrheit, / Den Lebensweg durch Irrthum und durch Nacht, / Umgieb dein Wort mit sanfter Klarheit, / Verleih ihm oft auch deines Donners Macht, / Damit erschreckt der Sünder um sich seh, / Und wehmuthsvoll bei dir um Gnade fleh! // [6.] Und wenn er nun mit bangem Herzen, / Es tief bereut, daß er dir oft entwich; /
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Dann stille seine Seelenschmerzen; / Mit jenem Trost, der Mittler starb für dich! / Entdeck’ ihm dann sein Heil in Jesu Blut, / Und gieb ihm selbst zum frischen Glauben Muth. // [7.] Daß alle dankbar dich verehren, / Verklärt durch dich von Licht zu höhrem Licht, / Bis nichts sie mehr vermag zu stören, / Und nie dem Geist die Himmelskraft gebricht! / So wird in uns der heilge Bau vollführt, / Den unser Haupt vom Himmel her regiert. // (Jauersch. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Ach bleib bei uns etc. [1.] Herr Jesu deine Kirch’ erhalt, / Laß uns nicht sicher träg und kalt, / Gieb Glück und Heil zu deinem Wort, / Damit es schall’ an jedem Ort. // [2.] Denn das ist unsres Herzens Truz / Und deiner Kirche wahrer Schuz, / Dabei erhalt uns lieber Herr, / Daß wir nichts anders suchen mehr. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Frohlocke Kirche, singe, / Erhebe deines Königs Ruhm! / Breit aus sein Reich und bringe, / Die Sünder all’ ins Heiligthum, / Daß sie gereinigt werden, / Daß sie, von dir erhellt, / Ihn lieben, und auf Erden / Thun was ihm wohlgefällt. / Bis alles Volk erneuet, / Und in dein Licht verklärt, / Ein Fest des Friedens feiert, / Der ewig ewig währt. //
Am 31. Mai 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
2. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 5,22–31 Nachschrift; SAr 41, Bl. 1r–6v; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 1–25 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: Bibliothek deutscher Canzelberedsamkeit, Bd. 7, 1828–101837, S. 59–76. – Herz, Geist und Leben des Menschen, oder Worte der Liebe und Wahrheit, ed. Unger, 1834, S. 103–119. – SW II/1, 1834, S. 571–584; 21843, S. 553–566. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 1–19. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, S. 1–26; 41860, S. 1–23. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 5–16. – Auswahl Predigten, ed. Langsdorff, 1889, S. 98–112. – Über Freundschaft, Liebe und Ehe, 1910, S. 179–194. – Werke, Bd. 3, edd. Braun u. Bauer 1910, 1911, 21927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 227–247. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 47–67; 2 1927, S. 227–247 Beginn der bis zum 15. November 1818 gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt den 31. May 1818. Die Gnade unsers Herrn cet.
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Als wir vor kurzem, M. F., den Kreis unsrer hohen christlichen Feste beschlossen, sprach ich den Wunsch aus, daß der hohe Eindruck von der Bewegung unsres Herzens in diesen heiligen Zeiten mit ihnen nicht zugleich verschwinden, daß er sich auch in der andern Hälfte des Jahres zu unserm Heil und dem der Gemeinschaft mit dem Erlöser in dem vollen Genuß dessen, 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
3–4 Vgl. 17. Mai 1818 vorm.
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was der ewige Vater durch ihn gethan, immer erhalten möge. Wenn wir fragen, warum das nicht geschieht, so ist die Antwort die, daß uns zu sehr das Leben wieder von der Erhebung zu Gott zurück und in das Getümmel dieser Welt hineinzieht. Allein, M. F., woraus besteht denn dieses Leben, dem wir so gern die Schuld beimessen mögten in dem unstäten Sinn, der uns bewegt? Es besteht aus nichts anderem, als aus den Verhältnissen, die Gott der Herr selbst gegründet hat und von welchen alle Segnungen der wahren, christlichen Frömmigkeit sich aufbauen sollen. Wie kann dieses Leben uns abziehen von der Gemeinschaft mit Gott und mit dem Erlöser, als nur aus Schuld unsres eignen, schwachen, oder gar schon verderbten Herzens? Und so habe ich geglaubt, es würde uns zu diesem Zweck heilsam seyn, einmal in der Zeit des kirchlichen Jahres das ganze Gewebe unsrer Lebensverhältnisse zu übersehen, es im Spiegel des göttlichen Wortes zu betrachten, um es immermehr von der Seite ins Auge zu fassen, wie es, weit entfernt uns von der Gemeinschaft mit | Gott und von der frommen Liebe zum Erlöser zurückzuziehen, beides immermehr befestigen kann. Diesen Kreis von Betrachtungen wollen wir heut beginnen mit demjenigen, was der Grund aller einfachen und verwickelten Lebensverhältnisse ist, das ist der heilige Bund, den wir als die erste Stiftung Gottes, nachdem der Mensch durch das Wort seiner Allmacht hervorgegangen war, ansehen, das ist der heilige Bund, aus dem sich alle anderen menschlichen Verhältnisse entwickeln, durch welche allein eine Menge von Hauswesen und christlichen Gemeinen zu Stande kommen und durch welche allein sich die Kraft des göttlichen Wortes von einem Geschlechte auf das andre fortpflanzen soll. So laßt uns dies denn heute in dem Lichte des göttlichen Wortes betrachten.
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M. A. F. Indem uns hier der Apostel in der christlichen Ehe die heilige Quelle der Liebe zeigt, auf welche der ganze Bund der Christen gebaut ist, so führt er uns dabei gleich auf das heilige Verhältniß zwischen Christo und seiner Gemeine zurück und so sehen wir, wie in dieser ursprünglichen Wurzel des geselligen Lebens in der Welt nichts ist und seyn soll, was uns von Christo dem Herrn abziehen könnte, sondern wie wir alles auf jenes große Verhältniß unsres Herzens zu ihm zurückführen sollen. Wie aber der Apostel über das ganze Verhältniß der christlichen Ehe redet, das sehen wir, wenn wir unsre Aufmerksamkeit auf | zwei Stücke hinlenken in dieser Beschreibung 1. wie überhaupt in der christlichen Ehe das Irdische und Himmlische Eins ist 2. wie in der Ungleichheit, die der Apostel darstellt, sich zugleich die vollkommenste Gleichheit darstellt.
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I. Zuerst, M. F., laßt uns darauf sehen, wie in dem Bund der christlichen Ehe, den der Apostel aufstellt, das Irdische und Himmlische ganz und gar als Eins erscheint. Das Irdische stellt er uns vor in den Worten: „ein Mensch wird Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen und werden zwei Ein Fleisch seyn.“ Wenn wir auch nur auf diese irdische Seite des großen Gegenstandes sehen, welche gewaltige Abstufung finden wir da, wenn wir auf die gesittet seyn sollende Welt sehen, die uns umgiebt, wie vieles, was uns nur in gräßlicher Gestalt diese irdische Seite der Ehe darstellt, denn weit entfernt, daß beide Eins sind, werden sie gar oft durch Streit und Zwiespalt getrennt, wenn auch hier in der innigsten Gemeinschaft jeder nicht sieht, was des Anderen, sondern was sein eignes Wohl fördert, wenn vergebens das Weib ermahnt wird, daß es soll stille seyn, wenn vergebens der Mann ermahnt wird, dem schwächeren Theile Führer zu seyn auf dem Wege des Lebens, wenn überall kleinliche Leidenschaft zu finden ist, wo nur gleiche Gesinnung und gleiches Streben die Gemüther erfüllen, wo nur die | wahrhaft Eins gewordene Liebe thronen sollte. Aber, M. F., wenn wir auch diejenigen betrachten, unter denen der geschlossene Bund der irdischen Seite des Bildes entspricht, wenn wir die Ehe so sehen, daß der eine Theil sich selbst vergißt in der Liebe zu dem andern, wenn jede Bewegung des andern Herzens wahrgenommen und getheilt wird, wenn keine Freude allein genossen und kein Schmerz allein gefühlt wird, wenn das gemeinsame Leben mit Kraft begonnen und weiter geführt wird, wenn in dem Gefühl eines wahren Zusammengehörens auch die Tage der Widerwärtigkeit so würdig getragen werden, daß wenn sie vorüber sind man sich freut, sie durchlebt zu haben, o so ist das wohl ein schöner Bund der Gemüther und viel Gutes kann daraus hervorgehen, aber wenn er nichts ist als das, so entspricht er dem Bilde noch nicht, was uns der Apostel vorzeichnet, denn dieses vollkommne Zusammenhalten das ist noch nicht das Verhältniß Christi zur Gemeine. Denn laßt uns hören, was der Apostel weiter sagt. An den erinnert er uns, der die Gemeine so geliebt hat, daß er sich selbst für sie hingegeben, auf daß er sie heiligte. Seht da, M. F., das ist das höhere Ziel der christlichen Ehegemeinschaft, nicht nur gemeinsam für das äußere Leben zu wirken, nicht nur mit gemeinsamer Kraft die Unannehmlichkeiten desselben zu tragen und die Freuden desselben zu erhöhen und zu verschönern, sondern die gemeinsame Heiligung ist das Ziel | der christlichen Ehe, daß jeder den andern trage mit seiner Kraft, wenn jener schwach werden will, daß Einer durch das Auge des Anderen sich spiegele, um zu sehen, wie er gestaltet sey in Beziehung auf den Willen des Höchsten, daß das ganze Leben mit allen seinen Segnungen mit voller Wärme nicht als das irdische genossen und geführt werde, sondern daß das Gefühl beide durchdringe: unser Wandel ist im Himmel, daß beide nur auf den sehen, der sie berufen hat, um zu arbeiten in seinem Weinberge und so freilich durch
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nichts andres als durch die Liebe, welche Gott in ihre Herzen gelegt hat und durch die Kraft derselben dem himmlischen Ziele der Heiligung entgegenstreben, daß beide empfinden, daß die vollständigste Glükseligkeit, welche die Liebe gewähren kann, daß die reichste Lebenswonne, welche sich in dem innigen Zusammenleben beider entwickelt, nichts ist, wenn nicht der Geist Gottes ihre Herzen erfüllt, wenn nicht die Liebe zum Erlöser ihre Gemüther jenem höheren Ziele der Heiligung entgegenführt, wenn nicht alle Segnungen, die Gott diesem Stande zugeführt hat, geheiligt werden durch die Liebe zum Erlöser. Aber, M. F., wie das Irdische nicht ohne das Himmlische seyn darf, so darf auch das Himmlische nicht ohne das Irdische seyn. Ist es nicht Wahn, in der Zurückgezogenheit von der Welt und von einem kräftigen Leben in derselben die Heiligung der Seele schaffen zu wollen? War es nicht ein Irthum, der zuerst unter den Christen weit verbreitet war, daß sie abgezogen von der Welt und von dem | Wirken in derselben etwas Höheres suchten in der Welt, als dieses Leben, da doch der Apostel selbst uns die Liebe Christi zu seiner Gemeine und sein Wirken für dieselbe zum Muster vorstellt? Und so wie nur aus diesem Wahn, als ob wir das Irdische sondern könnten vom Himmlischen, selbst die verkehrte Verachtung des heiligen Standes der Ehe entstanden ist, so würde auch der Zweck derselben nicht erreicht werden können, wenn wir uns in diesem Stande dem Wirken für die Welt verschließen wollten; denn nur in einem thätigen Leben können sich jene Verschiedenheit beider Geschlechter entwickeln, nur indem sie die Prüfungen des Lebens ertragen, können beide ihr Auge schärfen, um die Tiefen des Herzens zu erforschen und das Verborgene und Schlechte zu erkennen. Wollten wir sagen, dieser Bund würde nicht geheiligt durch ein thätiges Leben, indem wir dadurch diesem Stande die Freuden raubten, welche der Herr demselben verheißen hat, so wären wir in einem gefährlichen Irthum, den auch die Worte des Apostels keinesweges begünstigen würden; denn wenn gesagt wird, die Weiber sollen den Männern unterthan seyn, worauf bezieht sich dies anders, als eben auf die mannigfaltigen Verhältnisse des äußern Lebens, auf jene Thätigkeit in der großen Haushaltung, worin der Mann die Seele des ganzen Hauswesens ist, welches das Weib nicht unmittelbar führt, sondern nur durch ihn übersieht und Theil daran hat? Und so | sehen wir, wüßten wir es auch nicht von anderwärts her und bewährte es uns auch nicht das Leben selbst, daß alles Gute nur gewirkt werden kann, wenn die Menschen zusammentreten, daß Freude und Glück nur den Menschen zu Theil werden kann in einem gemeinsamen Leben, wo durch die Vertheilung der Geschäfte Einer immer dem Andern zur Hülfe kommt und ihm des Lebens Lasten tragen hilft. Laßt uns aber auch fühlen den großen Beruf zu welchem der Herr uns erlöst hat, daß wir wahrlich arbeiten sollen in seinem Weinberge, daß wir erhalten sollen und fortpflanzen das von ihm begonnene Werk, daß aber dies nicht anders geschehen kann, als indem wir von seinem Geiste erfüllt und durch
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sein Wort geheiligt, jeder an der Stelle, die ihm durch die Gnade Gottes angewiesen ist, wirken zum Heil der Welt mit der Kraft, die uns verliehen ist. So wie also, M. F., das Irdische nicht ohne das Himmlische seyn darf, so darf auch das Himmlische nicht ohne das Irdische seyn, sondern nur in beiden ist die rechte Kraft und der rechte Seegen christlicher Liebe und Frömmigkeit. II. Beides führt uns auf den zweiten Theil unsrer Betrachtung, denn wenn wir sehen, wie der Apostel uns beides darstellt, so erscheint uns darin eine große Ungleichheit. Wenn der Apostel schildert, wie das große Werk der Heiligung in dem Bunde der heiligen | Ehe soll erfunden werden, so spricht er: der Mann soll sein Weib lieben, gleich wie Christus auch geliebt hat die Gemeine und hat sich selbst für sie gegeben auf daß er sie heiligte. Wie, M. F., soll der Mann nur allein auf das Weib wirken? kann denn das Weib gar nicht in diesem hohen Sinne wirken auf den Mann, wenn der Apostel von seinen äußern Verhältnissen sagt, das Weib solle dem Mann unterthan seyn? Laßt uns sehen, wie ungeachtet dieser Ungleichheit, die er darstellt, sich doch zugleich die schönste Gleichheit offenbart. Diese wird uns deutlich werden, wenn wir zu jenen Worten, daß das Weib soll unterthan seyn, diese hinzunehmen, daß der Mann dem Weibe anhangen müsse und Eins mit ihm seyn, wie Christus mit seiner Gemeine, daß er Vater und Mutter verlassen werde und seinem Weibe anhangen. Was meint der Apostel mit jenen Worten? Zeigt sich uns nicht darin eine Kraft, welche ausgeht von dem weiblichen Geschlechte und sich des männlichen Gemüths bemächtigt? Sagt er uns nicht, daß nach der Ordnung der Natur der Mann sich ein Weib suchet, sobald er das väterliche Haus verlassen um sein Daseyn zu einem selbstständigen zu machen und daß er dann erst anfängt ein selbstständiges Leben zu leben, nachdem er diejenige gefunden, die ihm Gott der Herr bestimmt hat? Wie es nun die erste freie Aeußerung ist, welche in ihm sich regt, indem er solches gemeinsame, selbstständige Leben zu gestalten anfängt, wie seine Anhänglichkeit zu dem Weibe es ist, aus der diese abzuleiten ist, so zeigt sich auch diese Aeußerung in | dem Weibe, dem er anhängt. Auch dieses wirkt in demselben Geist, auch dieses sucht durch die ungemessene Kraft der Liebe den Bund fester zu knüpfen, durch den sie beide in den Stand gesetzt werden, jenes selbstständige Leben zu gewinnen und das Weib läßt hier den Mann, wenn er sich von außen gehemmt fühlt, erst recht seine ganze Selbstständigkeit und die Kraft seines Wesens empfinden. Und so sehen wir denn auch daraus, wie sich die Ungleichheit auflöst in herrlichste Gleichheit. Ja wir mögen dasselbe sagen, wenn wir noch tiefer eingehen in die geheimnißvolle Vergleichung des Apostels. Freilich der Herr ist es allein, der ihm seine Gemeine heiligt und sie kann nichts für ihn thun und nichts auf ihn wirken. Aber ist es nicht eben so in dem
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großen Geheimniß der Erlösung mit unserm Herrn und Meister? War es nicht die Kraft der Liebe, die ihn herabzog auf Erden, um geoffenbart zu werden im Fleisch? War es nicht die Kraft der Liebe aus der er handelte, um das große Werk der Erlösung zu vollbringen? So ist es, so ist es mit jedem tiefen heiligen Geheimniß im irdischen Leben. Und so ist es auch nur die Liebe, die den Menschen treibt, sein eignes Leben zu gestalten, die da bleibt die Kraft seines Lebens, durch die er vermag selbstständig dazustehen. Wenn aber der Apostel den Mann vergleicht mit dem Erlöser und das Weib mit der Gemeine, so konnte er dies sehr gut, weil in der höchsten Vollendung dieser Unterschied wieder verschwindet zwischen ihm und uns, indem er sagt, wir würden im vollkommensten Zustande | ihm gleich seyn. Wenn wir aber sehen, in welchem Sinne der Apostel hier den Menschen vergleicht mit unserm Herrn und Erlöser, so sagt er es nicht, in wie fern er herrschet über die Gemeine, sondern in wie fern er sich selbst für sie hingegeben hat, auf daß er sie heiligte. Diese hingebende Seite ist es vorzüglich, auf welche der Apostel seine Vergleichung bezieht. Hingeben soll sich der Mann, um das Weib zu heiligen, zurückziehen soll er sich in die Stille des häuslichen Lebens, damit er in treuer Liebe wirke, hier aber auch für sein inneres Leben wieder Kraft schöpfe, um alle großen Zwecke seines Lebens gewiß zu erfüllen. Wenn der Apostel sagt: der Mann ist das Haupt des Weibes, wie Christus das Haupt der Gemeine, so ruht dies eben auf der Liebe, die die Furcht austreibt, auf jener heiligen Scheu, welche die Herzen aufs innigste verknüpft, die aber nicht ausschließt die Gleichheit im Leben und wenn der Apostel sagt in den Worten unsres Textes, daß die zwei sollen Eins seyn, und daß der Mann sein Weib lieben soll, wie seinen eigenen Leib, so verschwinden uns jene Worte von dem Herrschen des Einen über den andern in dem hohen und schönen Gedanken von einer vollkommnen Gemeinsamkeit des Lebens. Freilich ist das Haupt von der einen Seite der Mittelpunct des ganzen Lebens und kann so der Herrscher des ganzen Leibes genannt werden, aber von der andern Seite wäre auch das Haupt nichts, wenn nicht der Leib lebendig sich regte und die ganze himmlische Kraft, die geheimnißvoll aus dem Haupte entspringt, könnte sich nicht entwickeln. Und so ist denn auch hierdurch die Ungleichheit wieder aufgehoben. | Wenn so die Ungleichheit aufgelöst und die Einheit der Herzen erreicht ist, wenn so das ganze gemeinsame Leben zusammengefügt ist zu einer geistigen Einheit, wenn so in dieser Einheit das göttliche Bild der alles beseeligenden und einigenden Liebe fühlbar wird, wenn so in der vollen Kraft der Liebe die gereinigten Herzen zu einem wirksamen Leben getrieben werden sowol in Beziehung auf sich selbst, als auch auf alle die, für die der Herr sie auserwählt hat, so ist das die Vollendung des heiligen Bundes nach dem Bilde, wie es der Apostel darstellt, so ist das erst die ganze eigen21–22 Vgl. 1Joh 4,18
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thümliche Kraft einer christlichen Ehe. Dies und alles andre, was noch über diesen Gegenstand zu sagen ist wird an einer andern Stelle von einem Gott begabten Manne in der einfachen Weise zusammengefaßt: „Die Ehe soll ehrlich gehalten werden“. Ja das mögen wir wol sagen: wo die Gemüther sich nicht finden, um einander ihre Kräfte zu leihen, wo sie nicht erfunden werden als treue Seelen jeder in seinem engern oder weitern Berufe, wo nicht die Ungleichheit der Geschlechter selbst zu einer Gleichheit ausgeglichen ist, wo nicht das Irdische und Himmlische auf das innigste verbunden ist, da ist auch nicht die christliche Ehrlichkeit in der Ehe, da ist es kein reines Ja vor Gott gewesen, wodurch der Bund geschlossen worden und was so vor Gott und Menschen nicht ehrlich begonnen ist, kann auch nicht ehrlich gedeihen, kann auch nachher nichts anders offenbaren, als Verderben und Unehrlichkeit der Herzen. Soll die Ehe ehrlich geschlossen seyn und | soll sie die verknüpften Herzen ehrlich bewahren, so kann dies nur dadurch geschehen, daß wir den heiligen Bund durch die Liebe zum Erlöser heiligen und daß wir unsern Herrn und Meister in das Innerste unsres Herzens aufnehmen, der ja, wie er selbst verheißen hat, nicht fern von uns seyn will, sondern auch mitten unter denen, wo auch nur zwei in seinem Namen versammlet sind. Amen.
[Liederblatt vom 31. Mai 1818:] Am zweiten Sonntage nach Trin. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht’t uns etc. [1.] Noch siehet nicht, o Sterblicher, / Dein dunkler Blick, was schon der Herr / Im stillen hat bereitet. / Denn voll Geheimniß ist sein Gang; / Dich dünket wohl der Weg zu lang, / Der hin zum Ziele leitet. / Muthvoll muthvoll kannst du trauen, / Gott wird bauen / Seinen Garten, / Und den Keim des Guten warten. // [2.] Die Morgensonne kommt gewiß, / Muß gleich erst Licht und Finsterniß, / Im kurzen Kampfe liegen. / Ist nun die Dämmerung vorbei, / Dann wird von düsterm Nebel frei / Der Glanz der Wahrheit siegen. / Herrlich hebt sich dann die Sonne, / Und mit Wonne / Preisen alle / Wir einst Gott mit Jubelschalle. // [3.] Anbetend Vater glaube ich, / Und flehe, Vater höre mich, / Dein herrlich Reich laß kommen! / Es kommt es kommt gewiß dein Reich! / Schon ist es da, mit ihm zugleich / Heil allen deinen Frommen. / Dein Sohn hat schon es gegründet, / Einst verbindet, / Freut euch Brüder, / Dort uns Glaub und Liebe wieder. // (Jauersch. Ges. B.) 3–4 Hebr 13,4
18–19 Vgl. Mt 18,20
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Nach dem Gebet. – Mel. Alle Menschen etc. [1.] Unsichtbarer Herzenbilder, / Aller Menschen Vater, dir, / Ewig mächtiger und milder, / Falten unsre Hände wir, / Dir, den Deinen naher, treuer, / Aller fröhlichen Erfreuer, / Dir deß weise Vaterhand / Unsre Herzen fest verband. // [2.] Wer schuf Herzen für die Herzen? / Wer die Freundin und den Freund? / Gleich zu tragen Freud und Schmerzen, / Wer als du hat uns vereint? / Du bist Vater, still und leise, / Immer huldreich immer weise, / Führst du uns an deiner Hand, / Durch des Lebens Prüfungsland. // [3.] Wenn uns deine Sonne leuchtet, / Wenn dein Mond am Himmel steht, / Freude unser Aug befeuchtet, / Hoffnung unser Herz erhöht, / Lieb und Mitleid uns bewegen, / Wohlfarth uns umringt und Seegen, / Vater, dankbar wollen wir / Singen, all das kommt von dir. // [4.] Lehr uns alles willig missen, / Was zu dir das Herz nicht lenkt, / Mit einander froh genießen, / Was uns deine Güte schenkt! / Lehr uns mit einander tragen / Jeder Prüfung schweres Joch, / Dir mit Einer Seele sagen, / Züchtigst du, du liebest doch. // [5.] Dulden, tragen, lieben, geben, / Einfaltvoll und fröhlich ruhn, / Immer nach der Weisheit streben, / Was wir thun nur dir zu thun; / Dir nur danken alle Freuden, / Dir nur leiden, wenn wir leiden, / Dir im Tode noch vertraun, / Wollen wir, bis wir dich schaun. // (Lavater.) Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu etc. [1.] O du Glanz der Herrlichkeit, / Licht vom Licht aus Gott geboren, / Mach uns allesammt bereit, / Oefne Herzen Mund und Ohren! / Unser Bitten Flehn und Singen / Laß Herr Jesu wohl gelingen. // [2.] Vater Sohn und heilger Geist, / Dir sei ewig Preis und Ehre! / Tröst die Herzen allermeist / Mit dem Wort der reinen Lehre, / Daß in unsern Lebenszeiten / Fröhlich wir dein Wort ausbreiten. // Nach der Predigt. – Mel. Alle Menschen etc. Unser Wandel ist im Himmel, / Köstlich Wort, wie strömest du / Mir, umringt vom Weltgetümmel, / Muth und süße Hoffnung zu! / Drum o Christ ermüde nimmer, / Siehst du doch des Zieles Schimmer, / Das nach kurzen Eifers Frist, / Glaubensvoll errungen ist. //
Am 14. Juni 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
4. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 19,8 Nachschrift; SAr 41, Bl. 9r–12r; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 26–46 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: Bibliothek deutscher Canzelberedsamkeit, Bd. 7, 1828–101837, S. 77–92. – SW II/1, 1834, S. 585–597; 21843, S. 567–578. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 20–35. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, S. 27–49; 41860, S. 24–43. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 16–26. – Über Freundschaft, Liebe und Ehe, 1910, S. 194–208. – Werke, Bd. 3, edd. Braun u. Bauer 1910, 1911, 21927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 248–265. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 68–85; 2 1927, S. 248–265. – Kleine Schriften und Predigten, Bd. 1, edd. Gerdes u. Hirsch, 1970, S. 379–390 Nachschrift; SAr 52, Bl. 5r–5v; Gemberg Teil der vom 31. Mai 1818 bis zum 15. November 1818 gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 14. Juni 1818.
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A. Z. Was wir so eben gesungen haben, hat gezeigt, daß mir die Seele noch voll sey von dem wichtigen Gegenstande, der in der letzten Morgenandacht uns beschäftigte. Wie steht es aber in Beziehung auf die Ehe in der Gemeine unter uns? Diese Frage können wir uns nicht ohne tiefe Beschämung vorlegen und beantworten. Wäre dieser Quell wahrer Lebensfreuden für die 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß 31. Mai 1818
3 Vgl. Liederblatt nach der Predigt
4–5 Vgl.
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Am 14. Juni 1818 vormittags
Frommen ungetrübt, wie würden wir soviel Unzufriedenheit, Mißmuth und Kummer in der Welt finden? Nun sagt man freilich, die Klage und Unzufriedenheit würde zuerst laut und die Freude verberge sich in der Stille und so habe sich auch die Freude des ehelichen Lebens dahin zurückgezogen. Doch dabei können wir uns nicht beruhigen, daß das Beste und Edelste in der Stille sey. Es ist ein genauer Zusammenhang in dem Maaße des Guten und Schlechten. Man sagt zwar wohl, wo viel Licht sey, da sey auch viel Schatten, aber PdasS ist nur wahr bezogen auf die einzelnen Ausgezeichneten von beiden Seiten. Ist aber das Ganze gut, so kann das Schlechte nicht hervortreten, es muß überwältigt werden von dem guten Geiste. Welchen Maaßstab haben wir also anzulegen für unsre Frage? Wie oft tritt nicht der traurige Fall ein, daß jenes heilige Band wieder muß gelöst werden, welches die Kirche weihete und das reicht hin, uns zu überzeugen, es stehe im Häuslichen nicht bei uns, wie es stehen solle. Dasselbe bezeugt uns die Gleichgültigkeit gegen solches Elend, welches ganz allgemein ist. Darum richten wir jetzt unsre Betrachtung auf die andre Seite der Ehe[.]
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Dies sind die Worte des Erlösers aus einem Gespräche, wo er gefragt war, ob die Auflösung der Ehe erlaubt sey und | nachdem er sich dagegen erklärt hatte und ihm was eingewendet worden, Moses habe es doch erlaubt, so gab er diese Antwort, begleitet von andern strengen Worten. Wo wir die Rede des Herrn so deutlich vor uns haben, da können wir nicht mehr streiten oder zweifeln, sondern wir müssen versuchen, sie zu verstehen und tief einzuschließen in unser Herz. So machen wir denn jetzt zu dem Gegenstande unsrer Betrachtung die Auflösung der Ehe unter den Christen und sehen 1. auf die Ursache, die der Herr davon anführet 2. was von der Erlaubniß dazu zu halten sey. I. Indem der Herr in den Sinn des Gesetzgebers eingeht, sagt er, er habe die Auflösung der Ehe zu erlauben nur die Härtigkeit des Herzens zur Ursache gehabt. Zweckt nun alles, was Gott an uns gethan, wozu er seinen Sohn sandte, dahin ab, die Härtigkeit des Herzens zu brechen, wie hart müssen wir uns verklagen, die wir solche Erlaubniß noch gebrauchen? Und das nicht nur von einer Seite; denn es ist sowol die Herzenshärtigkeit in der menschlichen Gesellschaft im Allgemeinen, als in dem stillen Kreise des häuslichen Leben. In diesem sowol, als in dem Berufe für die Gesellschaft, der der Mensch angehört soll er seine Befriedigung finden und beides soll sich vereinigen. Wie schwer es ist, beides zu erfüllen und wie reich der Quell 18–21 Vgl. Mt 19,3–12
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der Freude aus beiden ist, haben wir das recht erkannt, so sollen wir uns damit begnügen. Sehen wir aber den Beruf an als eine Last, von dem eine Erholung nothwendig ist und wiederum das häusliche eheliche Leben als den engen Kreis, in welchen man nur ungern eingeht, so kann es nicht fehlen, daß ein unzusammenhängendes | und zerstreutes Leben geführt wird und das ist die Härtigkeit des Herzens, die das häusliche Leben verdirbt und welche die wahre Bestimmung des Menschen verkennt. – Aber die Härtigkeit des Herzens nehmen wir in vielen Aeltern wahr, die das Bild der heiligen Ehe nicht im Herzen haben, wenn die Kinder den heiligen Bund schließen wollen, indem sie nicht auf die Aehnlichkeit des Herzens sehen, nicht auf einen Bund sehen, aus dem in der christlichen Kirche nur Christen erwachsen können, sondern nur denken an die Begründung des äußern Wohlstandes, wobei schon nöthig ist, daß wir die Härtigkeit des Herzens voraussetzen. Wiederum aber ist die Härtigkeit des Herzens auch in der Jugend selbst, die zu früh in die Zerstreuung des Lebens geführt wird, die mit verstocktem Trotz das Wort Gottes hört, wohlwissend, daß sie es nur mit dem Ohre hört ohne das Herz. Es ist die Härtigkeit des Herzens, aus der so viele Ehen geschlossen werden, die dann wieder gelöst werden müssen, weil sie nicht im Himmel geschlossen waren. Ist nun aber eine Ehe geschlossen, die nicht hätte sollen geschlossen werden, wenn dann nur beide Theile ihre Herzen gegenseitig ausschütteten, sich gegenseitig das bußfertige Herz offenbarten und flehten den an um Erweichung des harten Herzens, der sie schaffen kann – dann wäre noch Hülfe zu erwarten. Aber sonst ist auch alles verloren. Die Härtigkeit des Herzens in der Ehe zeigt sich gerade in der Lieblosigkeit, denn wenn man hört, es sey möglich, der andre könne in einem andern Bunde glücklich seyn u. s. w. und es sey dies Gefühl Liebe, so ist man gerade am weitesten davon entfernt. Denn was ist es, was die Auflösung kann wünschenswerth machen? Ist nur der Wunsch da, die allgemeine Menschenliebe zu erfüllen, ist die Liebe zur Seele des andern da, die jeder | empfinden soll, muß nicht da die Schwachheit allmählig weichen, die Liebe des einen zum andern allmählig wachsen? Es fehlt also in einem solchen Verhältnisse an der Menschenliebe überhaupt. Und hört man nun gar, es sey die Liebe zu den Pfändern der Ehe, welche eine Auflösung wünschenswerth machen könne, also, daß es besser sey das Band ganz zu lösen, statt durch fortwährende Zwietracht die jungen Gemüther zu verletzen, so entsteht die Frage: woher denn diese späte Liebe? Hättet ihr die Kinder wirklich geliebt, so hätte auch die eheliche Liebe euch wachsen müssen, denn die Liebe trägt, duldet alles. Und um noch weiter zu gehen, soll es die Liebe zu den Kindern seyn, die die Ehe trennen macht, warum soll es nicht lieber die Liebe zu Christo seyn, die die Ursache des Wunsches ist? Die Ehe soll ja das Bild seyn Christi und seiner Kirche und nun ist ja gar 38 Vgl. 1Kor 13,7
41 Vgl. Eph 5,21–33
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nichts in derselben, was diesen Bund heiligt. Sollte es da nicht besser seyn, ihn zu lösen? Doch wäre diese Liebe zu Christo nur wirklich da gewesen, es würden solche Augenblicke der Zerknirschung auch zu neuer Liebe gegeneinander gereicht haben, der Bund würde aufs Neue fester geknüpft seyn. Das Herz muß leer seyn von aller Liebe, es muß durchaus Gleichgültigkeit darin herrschen, das Ganze muß entartet seyn und voll von Frevel, ehe solch ein Wunsch kann rege werden. Die Herzenshärtigkeit spiegelt sich hervor aus der so sträflichen Gleichgültigkeit des einen Theils gegen den andern und so hat jeder mehr oder weniger Theil an derselben. Es sollte uns nichts mehr verwundern und erschüttern, als eine Auflösung der Ehe, welche die Darstellung ist des Bundes zwischen Christus und uns. | 11r
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II. Was haben wir nun von der Erlaubniß der Ehescheidung zu halten? Der Herr hat es nicht erlaubt, denn er sagt: Moses hat es erlaubt wegen der Herzenshärtigkeit. Kann er aber glauben, daß in seiner Nähe harte Herzen sind, dem das Herz aus Liebe brach? Sein Wille ist und seine Ordnung, die Ehe nicht zu lösen. Er sagt es selbst, die Ehe lösen sey dem gleich, die Ehe brechen. Aber freilich, so lange die Härtigkeit des Herzens die Ehe noch schließt, was sollen wir da sagen? Ist die Härtigkeit des Herzens so groß, daß man sagen kann, es könne das Kranke gesunden, wenn es getrennt wird? Freilich dann muß man sagen, die Erlaubniß, die Moses gegeben, werde fortdauern, so lange die Härtigkeit des Herzens daure und daran also zu arbeiten, daß diese verschwinden unter uns, muß Aller Streben seyn. Lassen es diejenigen, die in der Ehe leben, nur angelegen seyn, die Jugend herauf zu führen, zu der reinen Freude des Lebens, nicht zur Lust an Flittertand und Zerstörung des Lebens, dann ist zu hoffen, daß die Nothwendigkeit immer seltner eintreten werde, das eheliche Band zu lösen: Ein andres ist es aber, M. A. F., die Kranken zu sondern, daß sie in der Einsamkeit gesunden und ein andres, die Getrennten wieder mit andern zu vereinigen und gerade dies ist es, was die evangelische Kirche gestattet, wie man dies ihr auch zum Vorwurf gemacht hat, daß die Ehe nicht nur kein Sacrament sey, sondern auch weniger heilig gehalten werde, als in einer andern Kirche. Aber laßt uns das recht verstehen. Moses war Stifter einer | Religion, aber auch Stifter einer bürgerlichen Ordnung und als dieser, nicht als jener erlaubte er die Auflösung der Ehe. So auch bei uns. Die Kirche tritt, wo Gefahr ist, hinzu, und versucht, das Mißverhältniß zu heben, die Uneinigen wieder zu versöhnen. Ist ihr Bemühen vergeblich, so schweigt sie und die weltliche Gewalt trennt. Und ist es erlaubt, die zweite Ehe zu schließen, so ist es die Obrigkeit, die es für gut findet, die Unglücklichen nicht zu hart zu strafen, da viele oft wohl leiden aus allgemeiner Schuld. Die Kirche gehorcht der Obrigkeit und das ziemt ihr, die vergißt das erste Band, das eigentlich nicht geschlossen war. Aber billigen und gehorchen ist zweierlei. Billigen wird die
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Kirche nicht, wo das Herz so offenbar widerspricht und es spricht die ganze Erfahrung dagegen, daß ein solches zweites Band glücklich seyn könne. Mit welchem Gefühl kann der Diener der Kirche den zu Verbindenden die Pflicht der Ehe vorhalten, und mit welchem Gefühle ihnen das Bild der christlichen Ehe zeigen, wissend, sie haben schon einmal das Band zerrissen? Das Gefühl spricht zu laut dagegen und wir können es nie billigen. Man muß wünschen, daß die Erlaubniß nicht zu leichtsinnig möge gegeben werden, denn das wahre Glück der christlichen Kirche kann nur aus heilig gehaltenen, Gott wohlgefälligen Ehen hervorgehen. Wohlan, so laßt uns die Härtigkeit des Herzens erweichen, laßt uns bereuen jede leichtsinnige Ansicht des Gegenstandes, an der wir Theil gehabt und laßt uns alle beitragen je länger je mehr, daß die Härtigkeit des Herzens abnehme. | Die Ehen, die die christliche Kirche seegnet, die mögen wahrhaft in Gott geschlossen seyn, denn keine Macht giebt es, keine frevelnde Lust, die sie trennen kann. Amen.
[Liederblatt vom 14. Juni 1818:] Am vierten Sonntage nach Trin. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Nun lass’t uns Gott etc. [1.] Gott gieb mir zu erkennen, / Was Weisheit sei zu nennen, / Daß ich dich recht verehre / Nach deines Sohnes Lehre. // [2.] Laß mich fein christlich leben, / Die Heiligung erstreben, / Damit ich deinen Willen / Gehorsam mög’ erfüllen. // [3.] Sink ich in Sünden nieder: / So richte du bald wieder / Mich auf, daß ich behende / Zu dir, o Herr, mich wende. // [4.] Bleib du mein rechter Lehrer, / Du Brunnquell und Vermehrer / Von allen Geistesgaben, / Die hier uns kräftig laben. // [5.] Mein sämmtlich Thun und Lassen / Regiere du dermassen, / Daß dirs zu Lob gelange, / Wie ichs in dir anfange. // [6.] Gieb Rath und That, gieb Freunde, / Versöhne meine Feinde, / Daß sie doch endlich können / Mir nichts als Gutes gönnen. // [7.] Dir sei es heimgegeben, / Leib Ehre Gut und Leben, / Ich sez in deine Hände / Den Anfang und das Ende. // (Stett. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht’t [1.] Der Ehestand soll heilig sein, / Der Schöpfer sezte selbst ihn ein. / Der Welt zum Glück und Seegen. / Noch immer fleußt in diesem Stand, / Aus seiner milden Vaterhand, / Den Frommen Heil entgegen, / Weiser Vater, dich verkündet, / Wer verbündet, / So sich freuet, / Vor dir blühet und gedeihet. // [2.] Wie glücklich lebt ein frommer Mann, / Wenn die sein liebend Herz gewann, / Die Gott ihm ausersehen. / Wie glücklich lebt an seiner Hand / Die Fromme, die Gott ihm verband, / Ihm hülfreich beyzustehen. / Wohl dann freuen fromme Gatten / In dem Schatten / Seiner Güte / Sich mit dankbarem
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Gemüthe. // [3.] Ihr die Gesegneten des Herrn, / Von Argwohn bleibt, von Kälte fern, / Hegt feste Treu und Frieden! / Und drückt euch einst der Leiden Last; / Tragt nur in Liebe sie gefaßt, / Ihr werdet nicht ermüden. / Streitet, betet, Gott wird hören, / Plagen wehren, / Schmerzen lindern, / Und die Bürden euch vermindern. // [4.] Oft breitet sich wol um ein Haus / Ein rebenreicher Weinstock aus, / Ein Bild den Ehgenossen. / So sehn sie oft um ihren Tisch / Der Kinder viel gesund und frisch, / Wie junge Frühlingssprossen. / Sorgt nicht, sorgt nicht! Wie viel Beter / Zählt ihr Väter, / Die ihr weise / Sie erzieht zu Gottes Preise. // [5.] Gott, welche du verbunden hast, / Mach denen leicht des Lebens Last, / Gieb daß kein Seegen fehle! / Daß nie sie ihren Bund entweihn, / Daß ehrbar sie und friedsam sein, / Ein Herz und eine Seele! / Segne segne, Herr und Vater, / Und Berather / Frommer Ehen, / Alle die auf dich nur sehen. // (Brem. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Dir dir Jehova etc. Verkläre dich aus deinem Worte, / O du des Lichtes Quell, auch heut uns ganz. / Nicht hier allein, an jedem Orte, / Umstral uns deiner ewgen Wahrheit Glanz, / In Lieb und Glauben froh uns dir zu weihn, / Dein heilger Tempel überall zu sein. // Nach der Predigt. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt Liebe komm herab vom Himmel / Komm in unser Herz herab! / Leite durch das Weltgetümmel / Selig uns bis an das Grab! / Laß durch deine Macht auf Erden / Jedes Haus regieret werden. //
Am 28. Juni 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
6. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Kol 3,21 Nachschrift; SAr 41, Bl. 13r–18v; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 47–70 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 598–611; 21843, S. 579–592. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 36–53. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, S. 50–75; 4 1860, S. 44–66. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 26–37. – Pädagogische Schriften, ed. Platz, 21876, 31902, Nachdruck der 3. Aufl. 1968, S. 591–603. – Werke, Bd. 3, edd. Braun u. Bauer 1910, 1911, 21927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 266–285. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 86–105; 2 1927, S. 266–285. – Friedrich Schleiermacher, ed. Wickert, 1912, S. 338–355. – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 270–284 Nachschrift; SAr 52, Bl. 6r; Gemberg Teil der vom 31. Mai 1818 bis zum 15. November 1818 gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 28. Juni 1818. Die Gnade unsres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes unsres himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sey mit uns allen jetzt und immerdar. Amen. – 5
M. A. Z. Die christlichen Häuser durch den heiligen Bund gegründet, über den wir neulich geredet haben, sind nach der göttlichen Ordnung die Pflanzstätten des künftigen Geschlechts, da sollen die Seelen der Jugend gebildet und entwickelt, da sollen sie von den Spuren des Verderbens gerei2–4 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
6 Vgl. 31. Mai 1818 vorm.; 14. Juni 1818 vorm.
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nigt, da sollen sie zur Gemeinschaft mit Gott und zur Tüchtigkeit zu jedem guten Werke geführt werden. Was könnte uns also näher liegen, als über dies heilige Verhältniß miteinander zu reden, um so mehr als auch hier das große Gesetz des Lebens eintritt, daß nicht einer oder zwei genügen, das große Werk zu fördern, und so sind es auch nicht die Aeltern allein, sondern auch die Lehrer und Erzieher, denen dasselbe obliegt. Aber wie verschieden sind darüber die Ansichten! Viele meinen, würde es nur recht begonnen, so müsse die menschliche Kunst aus jedem Kinde machen und in dasselbe hineinbilden können, was sie nur wolle, andre, sich selbst zu entschuldigen, von der Trägheit beherrscht, meinen, wir vermögten nichts gegen die Gewalt der Natur, sey die Zeit der ersten Sorge vorüber, so kehre doch alles zurück, was in die Ordnung der Natur hineingelegt sey und jeder müsse zuletzt doch selbst das Werk seiner Heiligung fördern. Den ersten mögte ich sagen: könnten wir auch alles aus den Kindern | machen, sollten wir nicht darauf bemüht seyn, nichts aus ihnen zu machen, als was nach ihrem eignen Gemüth aus ihnen werden soll? und den andern mögte ich sagen, wie wenig sie sich auch versprächen, müßten wir nicht doch darauf bedacht seyn, daß wir mehr noch mit unseren Kindern, als mit denen, die schon aufgewachsen sind, vor den Augen Gottes wandeln? und, M. F., aus einem anderen Gesichtspuncte, als aus diesem, was denn bei diesem großen Werke in Gott gethan sey, können wir hier nicht reden. Das wollen wir denn auch heute thun. Wir erbitten uns dazu den Beistand Gottes u. s. w.
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Colosser 3, 21. Ihr Väter erbittert eure Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden.
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Es ist gewiß sehr merkwürdig, daß der Apostel hier, wo er über alle Verhältnisse des häuslichen Lebens redet, über diesen großen Gegenstand der Erziehung nichts sagt, als die verlesenen Worte. Und auch in einer andern Stelle, im Brief an die Epheser, setzt er zwar noch eine Ermahnung hinzu, die wir nächstens zum Gegenstande unsrer Betrachtung machen wollen, aber was ihr vorangeht, ist eben dies, was wir hier haben: ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn. So muß ihm also dies wol über alles am Herzen gelegen haben und es muß ihm das als das erste erschienen seyn, ohne welches alles andre zum rechten Ziele doch nicht führen könne. So laßt uns heut die Wichtigkeit dieser Warnung zu Herzen nehmen. Wie aber hier von einem gegenseitigen Verhältniß die Rede ist, werden wir den Sinn des Apostels wol | am besten fassen, wenn wir I. reden über die Bedeutung der Warnung in Beziehung auf dasjenige, was die Aeltern den Kindern seyn sollen und II. über die Bedeutung derselben in Beziehung auf dasjenige, was die Kinder den Aeltern seyn sollen. 29 Vgl. 12. Juli 1818 vorm.
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I. Wenn ich mir die Frage aufwerfe, wie denn gerade unter allem, wovor zu warnen ist, dem Apostel gerade dieses das wichtigste ist, daß die Jugend nicht erbittert werde, so glaube ich seine Gründe lassen sich so zusammenfassen, daß eben wenn es geschieht 1. es das Unnatürlichste ist und 2. das Verderblichste von allem. Der Mensch hat der Feinde in seinem Innern gar manche. Unter vielerlei Gestalten ist das Verderben dem menschlichen Herzen eingepflanzt und früher oder später entwickelt es sich nach dem Maaße, welches jede einzelne Natur darbietet und selten wird es einen Menschen geben, in welchem nicht das ihm einwohnende Verderben seine Gestalt schon gewonnen hat, ehe er sein väterliches Haus verläßt und indem er während dieser Zeit der Sorge und Obhuth derer anvertraut gewesen ist, die ihm von Gott und der Natur als die Nächsten gegeben sind, so gewinnt es das Ansehn, als ob alle Untugenden und Fehler, welche sich bei ihm einschleichen während des Lebens der Kinder mit den Aeltern zum Vorschein kommen. Ja jedes böse Beispiel lockt Aehnliches aus den Kindern hervor, jede falsche Richtung unsrer Liebe wirkt wenigstens neben dem Guten immer etwas Verderbliches. Das | alles ist freilich beklagenswerth, aber es ist menschlich. Wir sehen es täglich vor uns und derjenige ist am meisten glücklich zu preisen, bei dem es am wenigsten ist. Aber wenn statt der Liebe gerade das Gegentheil in dem innersten Verhältniß der heiligsten Liebe zum Vorschein kommt, sollen wir nicht sagen, das sey das Unnatürlichste, was im menschlichen Leben uns begegnen könne? Wir haben neulich gesehen, wie beklagenswerth es ist, wenn in der Ehe neben der Liebe oder gar statt der Liebe Uneinigkeit entsteht, aber doch mußten wir gestehen, die Ehegatten müssen einander suchen oft aus weit entfernten Kreisen hervor, aber die Kinder sind den Aeltern und die Aeltern den Kindern von der Natur gegeben. Der erste Blick des Auges fällt auf den Blick der Mutter und zuerst entwickelt sich im Kinde das Gefühl der Liebe gegen diejenigen, die ihm die Nächsten sind. Wenn nun statt dessen Entfernung, Zorn, Unwille entsteht gegen die Aeltern, ja wenn sich die Liebe, die doch nie auszurotten ist, statt sich auf die Gegenstände zu wenden, die ihr von der Natur angewiesen sind, auf fremde Gegenstände wendet, wenn die Liebe der Kinder sich von den Aeltern entfernt und andre Gegenstände aufsucht, so ist das das Unnatürlichste, was geschehen kann. Aber es ist auch das Verderblichste, denn wenn es einmal das Loos ist, dem wir nicht entgehen können und welches nur die Weiseren und Fröm21 meisten] meistem 25–27 Vgl. 14. Juni 1818 vorm.
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meren minder | trifft, daß unsre Schwachheiten auch die Schwachheiten und Fehler unsrer Kinder hervorlocken, wenn manches sich schon in ihnen gestaltet, ohne daß wir es bemerken, so bleibt uns immer die Hoffnung, daß wenn uns die Augen aufgehen und wir sehen, welches Unkraut der Feind gesäet hat, während wir schliefen, wenn sich nun nur die jungen Herzen fest an uns anschließen, wenn wir sie nun nur selbst zum Gefühl des Schlechten bringen, wenn sie dann nur uns sich ganz hingeben, und wir alle unsre Kräfte gegen den gemeinsamen Feind richten, ja wir verlassen uns darauf, daß er dann weichen werde. Aber wie denn, wenn dasjenige, was sich in die Kinder eingeschlichen hat, das bittere, feindseelige Wesen selbst ist? welche Zuversicht sollen wir dann haben? wenn das Salz dumm geworden ist, womit soll man salzen? wenn die Liebe erbleicht, womit sollen wir die jungen Gemüther zurückführen von dem Wege des Verderbens? Dadurch wird also alles verdorben. Wenn sie schon geworden sind, wenn das Vertrauen sich verloren hat, wenn Mißtrauen entstanden ist, wie sollen wir sie dann nahe genug an uns heran ziehen und eben diesen Feind selbst, wodurch sollen wir den entfernen? Und so ist eben dieses, daß wir die Kinder erbittern und zum Zorn reizen neben dem Unnatürlichsten auch das Verderblichste, weil es den Weg zu ihrem Herzen versperrt, weil dann kein andrer mehr | übrig ist, als der der Gewalt und wie wenig der wirken kann, das wissen und fühlen wir in allen anderen Verhältnissen des menschlichen Lebens und daß dem auch in diesem so sey, wird jeder gestehen müssen, der an sich selbst und anderen mehr oder weniger die traurige Erfahrung davon gemacht hat. So hat also wol der Apostel sehr Recht gehabt, diese Warnung als die erste und wichtigste anzusehen, denn wird die Jugend nicht scheu gemacht und entfremdet, bleibt das Vertrauen fest, was wir auch sonst mögen zu beklagen haben, es ist noch das Mittel übrig, was von allem befreien kann, es ist so lange noch nichts von der heiligen Kraft verloren, ja, was auch versäumt ist, wir können muthig wieder von vorn anfangen. Aber sind die Herzen erbittert, dann ist uns alles genommen, wodurch wir mit Sicherheit auf sie wirken können, dann müssen wir sie ihrem eignen Wege überlassen, und nichts kann sie begleiten, als für sie Wünsche, von denen wir nicht wissen, wie vergeblich sie sind und für uns Thränen, die nichts mehr helfen, als daß sie Warnung für die Zukunft werden. II. Aber, M. F., es ist hier nicht allein die Rede von dem, was wir nach Gottes Willen als diejenigen, denen er die Jugend anvertraut hat, zu thun haben, sondern auch eben so sehr davon, was die Jugend uns seyn soll; denn ich hoffe, daß ich | daran nichts Neues sage und daß wir alle die fröhliche 4–5 Vgl. Mt 13,25
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Erfahrung gemacht haben, daß es nichts giebt, was das menschliche Herz mehr erfreut, reinigt und auf dem Wege der Heiligung weiter bringt, als ein liebevolles, gottgefälliges Zusammenseyn mit den jungen Gemüthern. Wie sehr nun auch das vernichtet wird, wenn wir die jungen Herzen erbittern, das muß uns ja wol zu Tage liegen, wenn wir darauf sehen, wodurch sie uns das leisten, was sie uns seyn sollen. Das erste ist dieses: die Welt um uns her ist ein vielfältig verworrenes Wesen. Das fühlt jeder, wandle er in den höchsten oder in den niedrigsten Kreisen. Es ist eine andre Gestaltung, aber die Sache ist dieselbe. Je mehr die Gemeinschaft sich erweitert hat und das soll sie nach Gottes Willen, weil nur so das heiligende Wort Gottes alle durchdringen und ergreifen kann, um desto verworrener ist auch der Lebensweg eines jeden, um desto mehr muß er sich hüten, das eine nicht zu verhindern durch das andre, um desto mehr verwirrt ihn das Leben andrer um ihn her, um desto mehr wird er verflochten in andere Sorgen, um desto mehr wird er erregt durch fremde Leidenschaften. Aus dieser Verworrenheit, aus diesen vielfältigen Sorgen, aus diesem Treiben aller eiteln, selbstsüchtigen Leidenschaften kehren wir zurück in den Kreis unsres Hauses. | Da soll uns die ursprüngliche, einfache Gestalt des Lebens wieder entgegentreten, da sollen wir es fühlen, daß Gott den Menschen einfältig geschaffen hat, da sollen wir erquickt werden durch ein einfaches Bild ungetrübter Fröhlichkeit. Aber von wem erwarten wir dies? Nicht von denen, für deren geschärftes Auge es gleich deutlich wird, ob uns Fröhliches oder Niederschlagendes begegnet sey, denn die werden nur mit fortgerissen von den Sorgen und Beschwerden, sondern am meisten haben wir dies zu erwarten von der sorglosen, heitern Jugend, die nichts fühlt, als daß sie uns entbehrt hat und daß sie uns nun wieder hat und welche stärkende Kraft darin liegt, wie schnell dadurch auch die Spuren des geschäftigsten und verworrensten Lebens hinweggewischt werden, seelig, wer dies täglich erfährt. Aber derjenige kann es nicht erfahren, in dessen Hause die jungen Gemüther erbittert sind, denn dann sind auch sie schon auf ihrer Huth, wenn sie den Verehrten, aber auch Gefürchteten wieder sehen, dann kommen sie nicht mehr mit ihrer unbefangenen Fröhlichkeit heraus, denn auch sie haben dann schon Sorge und wodurch anders können sie erbittert seyn, als dadurch, daß wir uns haben fremd werden lassen ihre Angelegenheiten, als dadurch, daß sie keine Erwiederung finden, für die Empfindun|gen ihres Herzens, die sie uns darlegen, wodurch anders, als dadurch, daß wir alle unsre Stimmungen, statt sie abzuschütteln, daß wir sie mitbringen ins Haus zu denen, welchen sie fremd sind und der Mangel an Erwiederung, die Ungleichheit des Betragens, das ist es, was das Gemüth der Jugend erbittert. Wenn das geschehen ist, dann entgeht uns die freudigste Stärkung, die wir uns da holen sollten, der herrlichste Lohn für die herrlichste Pflicht, denn so wie der Gehorsam der Kinder
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gegen die Aeltern das erste Gebot ist, das Verheißung hat, so ist ein reines Verhältniß der Aeltern zu den Kindern die erste Pflicht, die den unmittelbaren Lohn bei sich führt, der aber in demselben Maaß verschwindet, als wir dies Verhältniß nicht rein zu erhalten wissen. Wie aber die ganze Welt ein verworrenes Wesen ist, so ist sie auch zweitens ein unvollkommenes. Unser Verlangen aber ist dem Vollkommenen zugewendet. So sehen wir denn gern und zur Stärkung unsrer Kraft in die Zukunft und unsre Kinder sind die Nächsten, welche wir uns denken als Erben eines besseren Lebens. In dieses Gefühl, M. F., verlieren wir uns so gern und wir sind ja durch die Worte des Erlösers selbst darauf gewiesen, indem auch er sagt, daß den Kindern das Himmelreich seyn werde. Aber es kann | nur in dem Maaße für uns stärkend und belebend seyn, als uns das Innere unsrer Kinder aufgeschlossen ist, als wir in die Tiefe ihres Gemüthes hineingedrungen sind, als wir wissen und fühlen, was auch sie einst leisten können. So wird uns erzählt in der heiligen Geschichte vom Erzvater Jacob, der das Ende seines Lebens fand in der Fremde, daß er vor sich kommen ließ seine Kinder, daß er, durchdrungen von der göttlichen Verheißung, schauend das Land der Verheißung, was sie besitzen sollten und eben so durchdrungen von der Kenntniß eines jeden, einen jeden segnete auf seine Weise und dieser Seegen das war das reichste und herrlichste Gefühl, mit welchem er den Schauplatz der Erde verließ. Was, M. F., was könnte jeder von uns sich Besseres wünschen, als so segnen zu können seine Nachkommen, als so durchdrungen von der Kenntniß ihrer Kraft ihnen anzuweisen ihre Stelle in den künftigen Tagen! und das kann in dem Maaß als er begnadigt ist von Gott ein jeder, aber nur ein jeder, der in stiller Eintracht vermogt hat, in das Gemüth der Jugend hineinzuschauen. Aber je mehr Gleichgültigkeit hineinkommt, desto mehr irren die Aeltern an den Kindern. Das sollte aber nicht seyn und kein richtigeres | Urtheil sollte es geben einer menschlichen Seele über die andre, als das der Aeltern über die Kinder. Sind sie aber erbittert und dadurch scheu geworden, dann verbirgt sich ihr junges Gemüth und wir können nicht hineinsehen in die Tiefe ihres Herzens, dann entsteht eine Rinde, die auch den Blick der Weisheit und der Liebe nicht hineinläßt und dann begleitet uns keine frohe Ahnung und keine Weissagung von unsern Kindern, wenn die Zeit kommt, wo wir verlangen abzuscheiden und daheim zu seyn. Ja so berauben wir uns des herrlichsten Trostes, des reinsten Gefühls, in welchem wir das Irdische gesegnen können, wenn wir die Herzen der Kinder erbittern. Aber, M. F., nichts in der Schrift wird gesagt, die Herzen der Gläubigen kleinmüthig zu machen und eben so auch dieses nicht. Denn wol könnten wir irre werden und seufzen und sagen: wer ist doch so Herr aller Bewegungen seines Gemüths, um zu vermeiden, daß es nicht bisweilen Augenblicke 1 Vgl. Eph 6,2
11 Mt 19,14; Mk 10,14; Lk 18,13
15–21 Vgl. Gen 49,1–28
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geben sollte, wo wir unsern Kindern nicht so entgegen kommen, als wir sollten? Nein, das können wir alle nicht vermeiden, aber das ist eine große Gabe Gottes, daß die menschliche | Seele von Anfang an von der einen Seite ein vergeßliches Wesen, von der andern Seite ein ahnendes ist. Ja vergeßlich ist das junge Gemüth und es ist nur die herbe Wiederholung, die endlich das Gedächtniß erhöht. Ueber das Einzelne in unserm Leben können wir uns leicht trösten mit dieser Gabe Gottes. Und eben so ist die menschliche Seele ein ahnungsreiches Wesen von Anfang an. Bald lernen die Kinder unterscheiden, was in uns nur das Werk des Augenblicks und was eine feststehende Richtung ist. Nicht leicht wird das erste sie irre machen und ist unser Herz ihnen treu ergeben in aufrichtiger Liebe, fühlen wir, daß das Beste und Reichste, womit Gott uns segnen kann, in die heiligen Mauern des Hauses eingeschlossen ist, o sie werden den Sinn, der uns beherrscht herausgreifen aus unsrem Leben und sich nicht stören lassen durch das Einzelne. Daß also nur das Ganze unsres Lebens, das Innerste unsres Herzens rein sey vor Gott und vor ihnen, daß nur das sie am meisten sehen, daß wir nichts wollen, als alles aus uns entfernen, was die Liebe trüben kann, das sey unser Bestreben, dann wird Gott seyn mit uns und mit der Jugend! Amen.
[Liederblatt vom 28. Juni 1818:] Am sechsten Sonntage nach Trin. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Nun laßt uns den Leib etc. [1.] Die Kinder deren wir uns freun, / Sind alle Gott und Vater dein, / Sind auch erlöst von deinem Sohn, / Und ihm geweihet sind sie schon. // [2.] Wenn treue Eltern sich bemühn, / Sie ihm zum Preise zu erziehen, / So gieb zu dieser heil’gen Pflicht, / Geduld und Weisheit, Kraft und Licht! // [3.] Nie fehle wahre Zärtlichkeit, / Die ernstlich droht doch auch verzeiht, / Die liebreich warnt und weislich schont, / In rechtem Sinne straft und lohnt. // [4.] Gieb allen Kindern Heilsbegier, / Zum Guten Lust, und Furcht vor dir! / Zeig’ ihnen in der Jugend schon, / Der ächten Treue großen Lohn. // [5.] Gesegnet sey ihr Unterricht / In deines Wortes höhrem Licht, / Früh schließ ihr Herze dem sich auf, / Der uns zum Himmel hebt hinauf. // [6.] Im Glauben mache sie gewiß, / Bewahre sie vor Aergerniß, / Daß wir in ihnen Christen sehn, / Die willig deine Wege gehn. // (Bair. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine etc. [1.] Menschen weise zu erziehen, / Die zum Himmel Gott erschuf, / Welch ein wichtiges Bemühen, / Welch ein heiliger Beruf, / Gott zum Ruhm, der Welt zum Segen, / Ihres eignen Heiles wegen, / Kinder weis’ und gut erziehn, /
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Welch ein wichtiges Bemühn! // [2.] Wächst der Mensch von Kindesbeinen / Ohne Zucht und Warnung auf: / Einst ist Noth, und zu dem Einen / Führet ihn dann nicht sein Lauf; / Unbekannt mit seiner Würde, / Wird er sich und Andern Bürde, / Kann nicht deiner Gott sich freuen, / Nicht dem Bruder nützlich sein. // [3.] Jeder, dem Gott hier auf Erden / Kinder wollte anvertrauen, / Sorge, daß sie weise werden, / Will er ihre Wohlfahrt baun! / Lehre früh sie Gottes Willen / Kennen, lieben und erfüllen, / Führe sie ans Himmelslicht, / Das ist ernste heilge Pflicht. // [4.] Darum Schöpfer, Vater, Lehrer, / Laß zu fördern Menschlichkeit, / Väter, Mütter, Pfleger, Lehrer, / Fürsten auch und Obrigkeit, / Mit vereinter Sorgfalt wachen, / Unsre Jugend fromm zu machen, / Sie durch Lehr’ und Beispiel ziehn, / Sünd’ und Laster gern zu fliehn. // [5.] Pflanz in aller Kinder Herzen / Weisen frommen Tugendsinn, / Daß sie nicht ihr Heil verscherzen; / Laß sie Trägheit, Eigensinn, / Leichtsinn und Verdruß bekämpfen, / Und der Lüste Feuer dämpfen, / Führe sie auf ebner Bahn / Sicher zu dem Ziel hinan. // [6.] Dort vor deinem Angesichte / Werden die Erzieher stehn, / Selig wenn sie im Gerichte / Ihre Kinder vor dir sehn, / Und dann sagen dürfen; Keinen / Aegert’ ich je von den Kleinen, / Und die Kinder flehn für sie, / Gott vergilt nun ihre Müh. // (Bair. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu etc. Dieses Lebens Wissenschaft / Bleibt mit Finsterniß umhüllet, / Wenn nicht deines Geistes Kraft, / Uns mit Licht von Gott erfüllet. / Gutes denken gutes tichten, / Wollst du selbst in uns verrichten. // Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’t etc. Wir heben unser Herz zu dir, / Es wirft die heil’ge Dankbegier / Uns Herr zu deinen Füßen, / Uns die dein Wille hoch beglückt, / Uns die ein froh Gefühl entzückt, / Dem stille Thränen fließen! / Vaterliebe, Muttertreue, / Sei die Weihe / Unsrer Herzen, / Laß uns nicht dein Heil verscherzen. //
Am 5. Juli 1818 nachmittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
7. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 19,14 Nachschrift; SN 605/4, Bl. 1r–2v; Crayen Keine Keine Keine
Matth. 19. v. 14 „Lasset die Kinder zu mir kommen pp.”
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Der Erlöser sprach einst – wir wissen bei welcher Veranlassung – jenes andere – große Wort: „Selig sind! die nicht sehen und doch glauben! ” Er – der Herzog unserer Seligkeit – hatte diese in sich selbst – um zu sich zu rufen darin Alle welche diesen Ruf vernehmen könnten; aber – wie er auch seine Hand ausgestreckt hielt – Wenige nur waren es noch die er um sich gesammelt hielt: und selbst über diese kleine Schar mußte er aussprechen das Wort: „Auch sie werden sich zerstreuen wenn der Hirt geschlagen sein wird! ” – Er starb am Kreuz – und noch hatte sich keine Gemeine gebildet! – : Dennoch aber stand das Bewußtsein fest in ihm – und das war seine Seligkeit – : daß vollbracht sei sein großes Werck! daß aufgerichtet sei das Reich des Sohnes Gottes! – Indem er diese seine Glaubenszuversicht aber ausspricht im Hinblick auf die Kinder, die er hier zu sich ruft in dem Ausruf: „Ihrer ist das Himmelreich” was sagt er damit? als: daß es aufbehalten sei zu schauen und in sich aufzunehmen die ganze Seligkeit des Heils, das da erschienen sei in ihm. – Wie steht es nun – demnach – mit uns? Es ist wahr – und wir dancken Gott dafür! – daß nie – seitdem sich unbezeugt gelassen hat das Wort des ewigen Lebens aus ihm! Viele Völckerschaften sind herbeigezogen durch seinen Ruf – zu dem Bekenntniss dessen vor dem Aller Knie sich zu beugen – von Gott bestimmt sind! Aber wie Großes auch schon geschehen ist; Größeres bleibt übrig zu schauen, wenn das ganze in Christo verborgene Leben sich zu Tage legen – wenn sichtbar werden soll was der himmlische Vater in Christo an uns gethan. – 1 Matth.] Math.
12 großes] großer
17 das] daß
4 Vgl. Joh 20,29
5 Vgl. Hebr 2,10
9–10 Vgl. Mt 26,31 (Zitat aus Sach 13,7)
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Lehrt uns aber unser Erlöser von sich: im Glauben daran uns selig zu fühlen; wie soll solcher Glaube aus uns sich bewähren in seiner Krafft? worauf aber gründete sich bei ihm dieser Glaube als darauf: daß er in sich selbst sich bewußt war der Gotteskrafft: solches zu bewircken! Dieser seiner Lebenskrafft in uns also müssen auch wir uns freudig bewußt sein, wenn unsere Zuversicht fest stehen soll und jenes von unserem Erlöser ausgesprochene (prophetische) Wort. Wohlan! lasset uns sehen wie solches durch uns – die wir Alle dazu berufen sind – kann in das Werck gerichtet werden – nach dem Beispiel unseres Erlösers. Da stellt sich uns nun zunächst die Frage auf wie eine solche Thätigkeit dafür auch schon geübt werden kann an unsern Kindern? Können wir ihnen schon Unterricht ertheilen über das was, als die Tiefe göttlicher Geheimnisse, kaum der Verstand der Verständigsten erfaßt! – sollen wir sie zulassen zu den Versammlungen – wo ausgesprochen und vernommen wird, was aus der tiefsten innigsten Erfahrung nur geschöpft sein kann? – ein Geistertödtendes Werck an ihnen könnte das nur sein. – So bleibt dann die Frage die: wie und auf welche Weise kann und soll es geschehen: daß wir schon frühe unsere Kinder dem zu führen, der da spricht: „Lasset sie zu mir kommen! – wehret ihnen nicht! – : Es ist aber darin gesagt: daß wir nicht unsere Kinder fern halten sollen wo – vom Geiste des Herrn angeregt – sich ausspricht die Fülle göttlichen Lebens – aus der wo wir uns gedrungen fühlen überfließen zu lassen das volle Herz zum Preis Gottes, wie sich, in unserm Zusammenleben mit ihnen, hie und da, die Gelegenheit dazu darbietet; um so ihrem kindlichen Blick schon eine Vorstellung davon zu geben was das edelste und höchste ist wonach die menschliche Seele zu streben hat! – in dem Vertrauen | : daß Er – welcher die Anweisung dazu uns gegeben – Solches zu verarbeiten wissen wird, durch seinen Geist, in diesen jungen Seelen! – dann aber sollen wir – in der Gemeinschaft mit ihnen – wohl darauf lauschen, in wie fern Solches auf sie gewirckt – als Sehnsucht, mehr davon zu erfahren, und auf welche Weise angeregt wurde dadurch ihr kindlicher Sinn, um so eine Anknüpfung zu gewinnen wie von uns höher gewirckt werden kann auf sie. So sollen wir dann auf diese Weise uns selbst ihnen darstellen in unserm ganz von Christo ergriffenen Leben – dasselbe – aussprechend in dem natürlichen – absichtslosen Erguss desselben; wissen wir doch aus eigner Erfahrung – was früher schon eine solche Darstellung der Unsern für uns war! – Wollten wir aber sagen: dieses nun sei genug – ohne eine bestimmtere Auffassung und Wircksamkeit auf sie – auch wenn sie nun anfangen sich zu entwickeln – so wären wir im Irrthum: und würden das Wesen der menschlichen Natur – und das des Reiches Gottes wenig verstehen! – Lasset aber die Art und Weise solcher Fortbildung uns lernen von unserm Erlöser, darauf sehend: wie Er zu Wercke ging dabei: –
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Nachdem er zu denen, welche er als Jünger sich sammelte gesagt: „Kommt und sehet! ” – nachdem diese geschauet in ihm eine göttliche Herrlichkeit und gefühlt: „nirgend anders hingehen zu können” – : hätte er, von da an, nicht mit ihnen gewandelt – nicht sie genommen an seine Brust um sein bestes innerstes Leben auszuströmen – und einströmen zu lassen in sie – um so ihren Geist zu bilden, aus sich, zu ihm hin; wenn er nicht solche bestimmte Thätigkeit auf sie gerichtet hätte; ihnen nicht alles ausgesprochen, was der Vater ihm gezeigt – nicht auf das bestimmteste von sich gezeugt wie der Vater ihm gegeben zu erwecken alles Todte zu dem Leben in ihm – nicht sich bezeichnet als das Brod vom Himmel gekommen – als „der Quell wahren Lebens”: nimmer wohl würde er sie an sich festgehalten haben! – Seht! in solcher bestimmten Wircksamkeit auf die Seelen muß fortgefahren werden von Seiten Seiner – durch die Seinen – damit hierauf gefördert werde jenes Himmelreich überall! – Und von solcher Wircksamkeit auf sie sollte ausgeschlossen bleiben die Jugend – dieses heranwachsende Geschlecht? sprach doch der Erlöser – in Hinweisung auf sie – zu uns: „Werdet wie die Kinder” womit er hindeutet auf deren Empfänglichkeit für das Wort göttlicher Wahrheit. Lasset aber noch uns sehen auf die bestimmten Kräffte die er anwendete dazu! Als man die Kinder zu ihm gebracht – was that er? Es wird gesagt: „Er betete über sie” und: „Er legete die Hände ihnen auf”[.] Was nun war ein solches Gebet bei ihm? es war aber das: daß er sie vor Gott brachte – sein ganzes Innres – in Beziehung auf sie so in Gott versenckend – daß er anschauete: wie sie – auf die beste Weise – ihm nahe gebracht werden könnten. – So nun die Kinder bringen im Gebet vor Gott – so sie anschauen in Gott: das ist das Beten für und über sie! so, das lebendige Verlangen | in uns tragen: sie mit uns zu versencken – in das Leben welches ausströmt durch Christum aus Gott! Ja, nur von solcher Höhe herab vermögen wir zu erkennen wie gewirckt werden kann auf sie! Nur wenn wir selbst uns solche Gottes Krafft geworden, können wir werden die Gottes Kräffte für sie um zu ihm sie hinzuführen. – Das zweite was der Herr that, war: „Er legte die Hände ihnen auf.“ Kann denn auch dieses werden für sie eine Krafft, so es von uns an ihnen geschiehet? Wir wissen aber, es ist dieses das sinnbildliche Zeichen: Des Lebensausströmens von dem Einen in den Andern hinein – um dieses auf schöpferische Weise zu wecken – in Eröffnung der innersten Schätze desselben – um Solche zu übertragen. Wohlan! Das ist es was wir an unsern Kindern – sind sie dazu herangereift – zu thun haben – wenn anders seine Lebens15 sollte] sollten 2 Joh 1,39 Mt 19,13
20 dazu!] dazu?
10–11 Vgl. Joh 6,51 32 Mt 19,15
11 Vgl. Joh 4,14
17 Mt 18,3
21 Vgl.
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krafft die Unsre geworden ist – das ist es was wir thun sollen an Allen Unmündigen die dazu uns nahe gestellet sind – auf daß wir sie Alle als Beute dem Sohn zuführen, nach der Bestimmung des Vaters! – welches aber nur geschehen kann wenn unsre ganze Seele die also Betende ist im Geist und in der Wahrheit. Dann aber kann es nicht fehlen, daß wir werden für sie die Lebenausströmenden – Lebenschaffenden Kräffte – so, daß diese als dann auch sich regen und bewegen in ihnen und durch sie; um, als Solche, zurückzuwircken auf uns – als Kräfftigung der also verwendeten Thätigkeit auf sie – um höher und höher mit uns so hinaufzugehen in Christo zu Gott. – Wäre aber möglich dieses an ihnen zu thun ohne ein solches Beten: oder – ist es möglich: göttliches Leben nach außen hin wircken zu lassen ohne daß die eigne Seele ganz erfüllt ist mit solch Leben aus Gott? – und wiederum: wäre es möglich daß die Seele eine solche – in Geist und Wahrheit Betende sei – ohne daß das Gebet endete mit solcher frischen That. Wohlan! So ist es dann das, was der Herr durch seinen Ruf an uns: Lasset die Kinder kommen zu mir – und wehret ihnen nicht uns ans Herz hat legen wollen: daß wir, nemlich, nicht nur die Sehnsucht nach ihm in ihnen erwecken, sondern diese auch befriedigen sollen nach unsern besten Kräfften. Und was ist es – was wir in dieser Beziehung zu wünschen haben für unsre Kinder? es ist, daß schon frühe – schon mit der Muttermilch ihnen eingeflößt sein möchte dieser Trieb zu Christo hin: damit die Liebe zu ihm mit ihnen erwachse – und sie so allmählig hineinwüchsen in die Geburt aus seinem Geist; so daß wenn nun das Bewußtsein ihrer selbst, erwacht ist in ihnen, sie dann schon fänden das Leben des Sohnes Gottes in sich – und sich erkennten als Kinder Gottes – angewehet von seinem Geist – und nicht mehr allein sich fühlten ohne ihn – sondern als die an denen die Wunder seiner Liebe schon sich kund gäben. – Und – selig sind! – die solche Kinder an ihrer Hand haben! – Ja, selig, die so schon frühe ihre Kinder kommen lassen zu ihm, daß er sie segne – und sein Himmelreich ihnen eröffne als „das Ihre!” | – Wehe aber! – dagegen – wo es der Fall ist: daß die – auf welche doch eine gleiche Sorgfalt verwendet wurde um sie hinein zu bringen in das Haus des Vaters – sich wieder entfernten von dieser heiligen Stätte – das himmlische Gut zu vergeuden – in der Erde Gelüsten! – Und was soll geschehen an diesen? Ach – auch Solchen Verirrten sollen wir nachgehen – „betend für und über sie” – und auf sie wirckend in der ganzen Macht des Geistes – bis auch sie wieder dahin kommen – zu schlagen an ihre Brust – und rufend: „Wie gut hatten wir es doch im Vaterhause. Könnten wir Tagelöhner werden – wo ihr Kinder seid! Könnten wir doch wieder aufgenommen werden in dieser lieblichen Stätte!” 2–3 Vgl. Jes 53,12
4–5 Vgl. Joh 4,23–24
38–39 Vgl. Lk 15,17–19
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Dann gilt es sie wieder hinauf zu ziehen in unsere heilige Gemeinschaft – das Kleid der Kindschaft – im Namen des Sohnes ihnen wieder anzulegen – und von ganzer Seele sie an unsere Brust zu schließen, damit so die Kräffte welche erstorben waren in ihnen wieder erwachen zum Leben. – Aber, wie dem auch sein möge: nie sollen wir ermüden mit unsrer gottseligen Thätigkeit – in jeder Beziehung und nach allen Seiten und Richtungen hin! denn nur so können wir selbst – auch ohne für den Augenblick zu sehen – selig uns fühlen! Ist dem aber so! Dann können wir sicher sein, daß wir in der Krafft des Glaubens – welche also thätig in der Liebe sich erweiset – : „wir Berge versetzen werden[.]“ Wohlan! so lasset uns denn in solcher unbesiegbaren Krafft in und aus dem Geist der Heiligung also thun: im Gebet – und Hände auflegen damit immer Mehrere von den einzelnen Seelen hineingezogen werden in dieses himmlische Reich! und in ihnen hineingebildet und entwickelt was auch sie fähig macht, als solche himmlische Kräffte sich zu erweisen.
4 so] so, 10 Vgl. Mt 21,21; Mk 11,23
Am 12. Juli 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
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8. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 6,4 Nachschrift; SAr 41, Bl. 21r–27v; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 71–98 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 612–627; 21843, S. 593–608. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 54–74. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, S. 76–105; 4 1860, S. 67–93. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 38–51. – Pädagogische Schriften, ed. Platz, 21876, 31902, Nachdruck der 3. Aufl. 1968, S. 604–617. – Werke, Bd. 3, edd. Braun u. Bauer, 1910, 1911, 21927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 286–307. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 106–127; 2 1927, S. 286–307. – Kleine Schriften und Predigten, Bd. 1, edd. Gerdes u. Hirsch, 1970, S. 391–406 Nachschrift; SAr 52, Bl. 6r; Gemberg Teil der vom 31. Mai 1818 bis zum 15. November 1818 gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 12. Juli 1818. M. A. F. Wenn wir, wie wir es in unsern heutigen Gesängen gethan haben, unsre Kinder mit in unser Gebet einschließen und wenn wir uns dies als eine heilige Pflicht gegen sie vorhalten, worauf kann in beider Hinsicht unser Vertrauen ruhen, wenn nicht darauf, daß wir überzeugt sind, auch sie sind ein Gegenstand der Wirksamkeit des göttlichen Geistes, wenn wir nicht fühlen, auch in ihnen muß er wirksam seyn, sollen sie anders so gedeihen, wie unser Herz es wünscht und unser ihnen geweihtes Leben darnach strebt. Und von diesem Vertrauen werden wir immer aufs Neue erfüllt, so oft wir unsre Kinder durch das Sacrament der Taufe zur Aufnahme in den Bund der Christen d. h. in die Gemeinschaft des göttlichen Geistes Gott darbringen, so oft wir Zeugen und Theilnehmer dieser Handlung sind.
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Wohlan denn, worauf kann und soll also unser ganzes Leben mit ihnen und unser Wirken auf sie gegründet seyn? Ist der Geist Gottes in ihren Herzen beschäftigt, was können wir anders seyn wollen, als seine Werkzeuge? wie anders können wir sie betrachten, als daß sie der herrlichste Theil sind des Weinberges Gottes, in dem wir arbeiten sollen? Das ist das ganze Wesen der christlichen Kinderzucht, das ist es, wodurch sich unser Leben, unsre Liebe, unsre Sorgfalt, die wir dem jungen Geschlechte widmen, von dem Treiben derer unterscheidet, denen der herrliche Glaube | an einen göttlichen Geist, der in den Menschen wirkt, und somit auch der Glaube an eine höhere Würde des menschlichen Daseyns fehlt. Aber, M. F., was wir uns in dieser Hinsicht heute vorhalten, glaubt nicht, daß es denen allein gesagt ist, denen vom Herrn die unmittelbare Sorge für das junge Geschlecht anvertraut ist, sondern allen, allen muß es gesagt seyn, denn alle leben ja auf eine nähere oder entferntere Weise mit dem jungen Geschlecht, das unter uns auf wächst und wenn es eben der herrlichste Seegen Gottes ist, auf diese Weise von ihm bedacht zu seyn, welch würdigeres Ziel kann es für diejenigen geben, die auch nicht so bedacht sind, als in diesem Werke jeden nur möglichen Antheil zu nehmen und die Kleinen, wie der Herr sagt, aufzunehmen in seinem Namen. Und so laßt uns hierüber wieder miteinander nachdenken. Wir bitten Gott dazu um seinen Seegen cet.
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Tex t. Ephes. 6, 4. Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn, sondern ziehet sie auf in der Zucht und Vermahnung zum Herrn. 25
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Wir finden hier, M. A. F., mit derselben Ermahnung des Apostels, die wir aus einer Stelle eines seiner Briefe schon zum Gegenstande des Nachdenkens gemacht haben, eine andre verbunden. So wie jene alles aussprechen sollte, wovon er glaubte, daß wir es vermeiden müßten | in unserm Leben mit der Jugend, so soll diese alles aussprechen, wovon er glaubt, daß es vorkommen müsse in unserm Leben mit der Jugend. Freilich wenn wir betrachten alle Mühe, die auf die Bildung der Jugend verwendet wird, wenn wir bedenken, was für Sorgen die Herzen der Meisten, die Gott mit Kindern gesegnet hat, erfüllen, wenn wir sehen, was sich die Meisten zum Ziele stecken, so scheint uns, was der Apostel hier sagt, gar etwas Einfaches und Unzulängliches zu seyn. Aber gewiß, M. Th., er hat geglaubt, nicht ein Einzelnes, Zufälliges, Herausgerissenes zu sagen, sondern er hat geglaubt, alles zu sagen. Aus diesem Gesichtspuncte laßt uns seine Worte betrachten und wir werden sehen, wie in der That in denselben die Grundpfeiler aufgestellt sind zu jeder Gott gefälligen Behandlung und Leitung der Jugend; aber so müssen wir sie betrachten, daß wir fragen 18–19 Vgl. Mt 18,5
25–26 Vgl. die Predigt vom 28. Juni 1818 vorm. über Kol 3,21
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1. was gehört denn dazu, wenn der Jugend alles, was wir für sie thun auf der einen Seite zur Zucht gereichen soll und 2. was gehört auf der andern Seite dazu, wenn ihr alles gereichen soll zur Vermahnung zum Herrn. Zu dieser Betrachtung schenkt mir eure Aufmerksamkeit.
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I. Was gehört dazu und was ist damit gemeint, daß alles der Jugend, die unter uns aufwächst zur Zucht gereichen soll? Vor allen Dingen müssen wir wol erwägen, was der Sinn dieser Worte ist. Zucht, M. F., ist nicht | etwa dasselbe als Strafe, sondern ganz etwas andres. Jede Strafe verbindet auf eine mehr oder minder willkürliche Weise etwas Unangenehmes mit dem Unrechten und Tadelnswerthen, aber so wie aus dem Gesetze nie etwas kommen kann, als Erkenntniß der Sünde, aber nicht die Kraft zum Guten, so auch kann aus der Strafe, indem sie auf der Furcht ruht, nichts andres hervorgehen, als eine äußere Verhütung der Sünde, aber keine Hinwendung des Herzens zum Guten, denn die kann nur von der Liebe ausgehen, welche die Furcht austreiben soll und mit ihr alle Kraft der Strafe. Aber Zucht besteht darin, wenn wir durch dasjenige, was wir an der Jugend thun, ihre eigne Kraft aufregen, daß sie lerne durch das Höhere, die niedern Triebe der Natur zu dämpfen und zu beherrschen und auf der andern Seite die niedern Triebe den höhern dienstbar zu machen. Das ist die Zucht. So ist diese so sehr etwas andres, als die Strafe, daß wir es nicht leugnen können, daß je mehr wir der Strafe Spielraum geben mit unsern Kindern, um desto mehr wir ein Zeugniß gegen uns selbst ablegen, daß wir es selbst irgend wie versehen haben in der Zucht; denn wenn die innere Kraft schon aufgeregt ist, wenn das Höhere in der menschlichen Natur schon eine Gewalt erlangt hat, dann kann es nicht möglich seyn, daß die Furcht zu Hülfe gerufen werde, um durch Ein Sinnliches das andre zu dämpfen. Aber eben so ist auch die Zucht entfernt von jener unthätigen Ruhe, mit welcher leider so viele glauben der freien Entwicklung der Jugend zusehen zu müssen. | Denn nicht zu Zuschauern hat uns Gott der Herr gesetzt, sondern zu seinen Werkzeugen, durch welche er, was seine Gnade ihnen zugedacht hat, an ihnen erfüllen will. Wenn da, wo die Strafe regiert, gleichsam die Hoffnung aufgegeben ist, als könnte sich der Geist Gottes der jungen Gemüther bemächtigen, indem man nur darnach trachtet, durch eine Seite der sinnlichen Natur die andere zu beherrschen, so liegt darin, sorglos der Entwicklung der Jugend zusehen zu können, entweder der verderbliche Wahn zum Grunde, als sey der Geist Gottes im Menschen thätig ohne das Zuthun im Menschen, eine Hofnung welche zu Schanden werden läßt, oder, und das 12–13 Vgl. Röm 3,20
16–17 Vgl. 1Joh 4,18
39 Vgl. Röm 5,5
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mögte wol am meisten der Fall seyn, es liegt der Wahn zum Grunde, als ob nicht durch jenen Geist, der in der Gemeine der Christen lebt, das Gute gewirkt werden könne, sondern als ob sich dieses von Natur entwickeln könne ohne unser Zuthun. Je mehr wir von dem einen und dem andern unseeligen Wahn entfernt sind, je fester der Glaube in uns ist, daß schon in unsrer Jugend der göttliche Geist geschäftig seyn will, daß sie durch den beseeligenden Rathschluß Gottes schon angehört dem Reich des Lichts, je mehr dieser Glaube lebendig ist, um desto mehr müssen wir darnach streben, daß alles, was wir für die Jugend thun, ihr zur Zucht gereiche, daß alle Kräfte derselben bereit werden, in die Gewalt jenes höheren Geistes gegeben zu werden und so der Mensch Gottes geschickt werde zu jedem guten Werk. Die Zucht ist etwas für sich; aber sie muß auch in allem andern sein. Wenn wir es für einen wesentlichen Theil der Erziehung der Jugend ansehen, daß sie unterwiesen werde zu allerlei Gutem, in allerlei | heilsamer Fertigkeit, laßt uns nicht vergessen, daß diese unsre Sorge nur dann mitwirkt zu dem großen Ziele, nur dann Gott gefällig ist, wenn wir Unterweisung und Uebung nur dahin lenken, daß beides den jungen Gemüthern zur Zucht gereiche. Was unsre Jugend treibt, was sie übt, haben wir dabei nur im Auge den weltlichen Nutzen, thun wir es nur aus Eitelkeit, um uns selbst mit der guten Erziehung, die wir ihnen gegeben haben, zu rühmen, um sie besser darzustellen als andre, wozu kann dies anders führen, als daß es den Kindern zum Verderben gereicht, wozu anders kann alle Kunst und Weisheit aus jenem weltlichen Gesichtspunct betrachtet führen, als zu einem unlautern und verderblichen Wandel. Alles was die Jugend lernt und übt, es ist ihr nur heilsam, sie erwirbt nur ein neues Gut dadurch, in wie fern, von allem Erfolg abgesehen, was sie lernt und übt ihre That ist, in wie fern sie Meister ihrer Kräfte wird, die Gott in ihre Seele gelegt hat und in wie fern dadurch Ordnung und Maaß in ihr Leben gesetzt wird. Aber dies wird nur erreicht, wenn wir bei aller ihrer Uebung kein irdisches Ziel stekken, wenn wir ihre Aufmerksamkeit nicht hinlenken auf etwas Aeußeres, was dadurch erreicht werden soll, sondern wenn wir sie immer darauf hinführen, daß sie lernen, alles sich mit kräftigem Willen unterthänig zu machen. Erst wenn sie darauf hingeführt ist, hat sie erworben, was sie darstellen kann als einen Menschen Gottes, der | tüchtig ist zu jedem guten Werke. Eben so halten wir es, M. F., für einen andern gleich wesentlichen Theil unsres Lebens mit der Jugend, daß wir sie hinweisen auf das Beispiel der Menschen, damit sie unterscheiden lernen das Gute von dem Bösen. Ja wohl, M. F., das ist ein wichtiges, aber auch sehr schweres Stück unsrer Pflicht, denn wenn wir hiebei das Rechte versäumen, so kann auch dies gar leicht zur Eitelkeit und zum vergänglichen Wesen dieser Welt führen. Stellen wir das zum Beispiel auf, was am meisten in der Welt bewundert wird, weisen wir sie fleißig auf den Beifall der Menschen hin, dann führen wir sie selbst der Eitelkeit zu. Sehen wir aber nur darauf, sie auf das Gute in der
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Am 12. Juli 1818 vormittags
Seele der Menschen hinzuweisen als auf das Werk des göttlichen Geistes, führen wir sie dahin am meisten, daß Demuth der erste Keim des Guten ist, was Gott in den Herzen der Menschen wirken kann, lehren wir sie erkennen, wie alles vergeht und seines Ziels verfehlt, was nur hervorgetrieben ist durch irdische Beweggründe, und lehren wir sie allem diesem Glanze vorziehen die stille, unscheinbare Tugend, die der Werth der wahren Glückseligkeit ist, dann eben gereicht ihnen das zur Zucht und führt sie dahin, wo allein der Mensch eine sichre und feste Haltung findet für sein ganzes Leben. Und damit jedes gute und böse Beispiel ihnen zur Zucht gereiche, so müssen wir sie bei jedem zurückführen in ihr eignes Herz, und so an dem Beispiel andrer zur Kenntniß ihrer Selbst zu gelangen und je | weniger wir es vermeiden können, daß sich das ganze bunte Leben der Menschen vor ihnen entwickele, um desto mehr müssen wir sie auch unterweisen, daß sie sich selbst kennen lernen. Halten wir dieses fest, so müssen wir gestehen, es ist nicht in vorübergehenden Augenblicken, daß wir unsre Kinder aufziehen können in der Zucht, sondern das muß die Regel des ganzen Lebens seyn und nichts, wenn das Werk vollkommen seyn soll, muß vorkommen, was wir nicht dahin leiten, daß es ihnen zur Zucht gereiche, und je weniger wir dazu nöthig haben, den natürlichen Gang unsres Lebens zu ändern, je mehr das von selbst geschieht durch den ganzen Zusammenhang unsres gemeinsamen Daseyns, desto gottgefälliger ist unser Leben, desto mehr wird alles unsern Kindern zur Zucht gereichen. II. Aber, M. F., was denn alle Zucht ausrichten kann, das ist immer nur dieses, die niedern Kräfte des Menschen den höhern unterthänig zu machen. Allein was ist damit ausgerichtet, wenn nicht die göttliche Kraft, durch die alle höhere Kraft des Menschen sicher gestellt wird, geleitet und befestigt wird, wenn diese nicht Besitz nimmt von der menschlichen Seele, wenn nicht der Geist Gottes wirklich kommt und in das Herz des Menschen eingeht. Das können wir nicht hervorbringen, das können wir nicht ausrichten mit aller unsrer Mühe und Sorgfalt, sondern wir fühlen, das kommt von oben herab. Aber | was wir können, M. F., das ist, daß wir suchen die Sehnsucht darnach, durch welche angelockt der göttliche Geist ins Herz der Menschen herabsteigt, daß wir diese in den jungen Gemüthern zu erregen suchen und das ist es, was der Apostel die Vermahnung zum Herrn nennt; darauf unsre Jugend hinführen, daß sie fühlt, sie bedürfe des göttlichen Beistandes, ihre Sehnsucht nach einer höheren Verbindung erregen, das heißt sie aufziehen in der Vermahnung zum Herrn. Es giebt, M. F., eine Meinung, welche auch unter den Wohlmeinenden weit genug verbreitet ist: man müsse sich hüten, zu zeitig die Jugend zu Gott und zum Erlöser hinzuführen, damit nicht das, was sie doch nicht recht begreifen könne, indem ihr davon geredet wird zu einem todten Buchstaben werde und durch das angewöhnte Hangen an
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dem todten Buchstaben unfähig gemacht werde, hernach den lebendigen Geist davon aufzufassen. Von dieser Seite haben selbst wohlmeinende und fromme Menschen diese Regel aufgestellt. Doch der Apostel, M. F., das merken wir wohl, weiß davon nichts und er setzt uns keine Grenze, bis wie lange wir es sollen aussetzen, unsre Kinder aufzuziehen in der Vermahnung zum Herrn. Und so fragen wir denn natürlich, was an jener menschlichen Weisheit sey? Wie, mögte ich sagen, ist den Kindern irgend etwas von dem, was sich ihnen zuerst darbietet, mehr begreiflich als der Ewige? sind ihre meisten Vorstellungen von den Dingen in der Welt die wahren und richtigen? Wissen wir es nicht, daß sich die Kinder die Welt | auf ihre eigne Weise gestalten? Wissen wir nicht, daß durch alle jene Eindrücke und Vorstellungen ihnen doch immer etwas von der Wahrheit mitgetheilt wird und daß wir es nur der Zeit überlassen können, damit das Sinnliche je länger je mehr abgestreift werde? Und können wir es denn vermeiden, daß sie hören von Gott und dem Erlöser? O so müßte sich ja noch weit mehr als es der Fall ist das Göttliche aus unserem gemeinsamen Leben zurückgezogen haben, so müßte es ja noch weit mehr wahr seyn, als wir es schon beklagen, daß bei allem weltlichen Bestreben und Thun es sich nur zu sehr den Augen entzieht, daß wir ein Volk Christi und eine Gemeine der Gläubigen sind. Aber so sehr entzieht es sich nicht, daß die Jugend nicht zeitig genug hörte von Gott und dem Erlöser. Wolan! wenn das Kind nicht anders kann, als auch hier nach seiner Weise auffassen, wenn wir es fühlen, wenn wir ihr kindliches Forschen beantworten wir können es nicht vermeiden, daß sich etwas durch unsre Worte in ihnen gestalte, wovon wohl vieles später hin wieder verloren gehen mag, so laßt uns doch immer bedenken, daß sie den Keim der Wahrheit doch festhalten. Höher ist die Weisheit des Apostels, daß die Jugend von Anfang an theils vieles lernen, was ihr zur Zucht gereichen soll, theils ihr aber auch Gelegenheit gegeben werde, sich demjenigen, was ihr ganzes Gemüth in Bewegung setzt und ihr zur Vermahnung zum Herrn | gereicht, in aller Liebe hinzugeben, diese Weisheit des Apostels ist höher, als jene. Darum laßt uns die Jugend in der Freude und in der Trauer ihres Herzens aufmerksam machen auf den Unterschied des göttlichen und des ungöttlichen Wesens, denn indem wir ihr das vorstellen, so muß ihr das gereichen zur Vermahnung zum Herrn. Hat sie dann einmal den Gedanken gefaßt von dem ewigen Wesen, das alles leitet, daß von ihm, dem Vater, kommen alle guten und vollkommenen Gaben, dann laßt uns sie unterscheiden lehren den Menschen, welcher es fühlt, daß alle guten Gaben vom Vater kommen, der bei allen menschlichen Widerwärtigkeiten das festhält, daß kein Haar ohne den Willen des Vaters von seinem Haupte fällt, den laßt uns sie unterscheiden lehren von dem Menschen, der sich nur hingiebt dem vergänglichen Wesen dieser Welt. Meint ihr nicht, daß sie diesen Unter35–36 Vgl. Jak 1,17
39 Vgl. Apg 27,34
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schied fühlen könnte? meint ihr nicht, daß ihr dadurch der innerste Grund des Herzens aufgeregt werde? meint ihr nicht, daß ihr das gereichen werde zur Vermahnung zum Herrn? Aber, M. F., mehr als durch alles wird das junge Gemüth in Bewegung gesetzt durch das Leben der Liebe. Und indem die Kinder durch die Liebe geleitet und erhalten werden, indem die Liebe ihnen der einzige Grund seyn muß des Gehorsams, sollten wir es ihnen verbergen wollen, daß Gott die Liebe ist? Nein, M. F., so wie nur die Liebe es ist, in welcher der Mensch zum Guten gedeihen kann, so ist sie auch die aller allgemeinste und die aller vernehmbarste Offenbarung des ewigen Wesens und unsre eigne Liebe zu ihnen, | die sie doch fühlen müssen, wollen wir sie ihnen anders zu fühlen geben, als daß sie sey ein wenn gleich nur schwacher Abglanz der ewigen, göttlichen Liebe? Sollen sie sie dann nur ansehen als einen blinden Trieb der Natur, sollen sie sie nur ansehen als etwas, womit wir uns schmeicheln. Ja dann könnte ihnen auch das Köstlichste zum Verderben gereichen. Es giebt also hier keinen Mittelweg: entweder müssen wir ihnen das Heilige selbst herabwürdigen, oder es muß ihnen gereichen zur Vermahnung zum Herrn. Daß also nur unsre Liebe für sie nichts andres werde als das Werk der Heiligkeit selbst, des göttlichen Ebenbildes, wozu der Mensch geschaffen ist! Je mehr wir ihnen das zu empfinden geben in der Reinheit unsrer Liebe, je mehr sich das verbindet in ihnen mit Allem, was sie von Gott hören, um desto kräftiger wird unser ganzes Leben mit ihnen ihnen gereichen zur Vermahnung zum Herrn. Aber so wie wir es den jungen angeregten Gemüthern nicht verbergen dürfen, daß Gott die Liebe ist, so sollen wir es ihnen auch nicht verbergen, daß Gott in Christo war und die Welt mit sich selbst versöhnte und daß der Erlöser der höchste Beweis und der reinste Abglanz der göttlichen Liebe ist und dies sind [wir] schuldig ihnen kund zu thun, sogewiß als der Erlöser selbst wollte, daß man den Kindlein nicht wehren sollte. Denn wenn wir es fühlen, und wenn es Wahrheit in uns ist, daß unser besseres Leben nur das ist, wenn Christus in uns lebt, daß wir durch die Verbindung mit ihm nur das sind, | was wir sind von Gottes Gnaden, könnten wir dann von ihm schweigen wollen? müßten nicht alle unsre Ermahnungen und Beispiele eine Lüge seyn, wenn sie nicht eine Vermahnung zum Herrn wären, der sich selbst hingegeben hat, damit er Gott heiligte ein Volk, das fleißig wäre zu guten Werken? So laßt uns denn jene trügerische Weisheit bei Seite setzen und zurückführen zur Weisheit des Apostels, daß keine Zeit zu früh sey zur Vermahnung zum Herrn. Seelig, sagt die Schrift, seelig sind, die PreinesS Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Wolan denn, nur dann werden wir Gott schauen, wenn wir alles Eitle bei Seite gestellt haben, wenn wir 7 so wie] die so wie 7 Vgl. 1Joh 4,16 23–24 Vgl. 1Joh 4,16 24–25 Vgl. 2Kor 5,19 27–28 Vgl. Mt 19,14; Mk 10,14; Lk 18,16 33–35 Vgl. Tit 2,14 37–38 Vgl. Mt 5,8
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nur darauf sehen, daß wir werden ein Tempel des göttlichen Geistes, daß der Seegen Gottes unter uns reichlich wohne und daß wir jegliche Vermahnung zum Herrn in unsre gläubigen Herzen mit Freuden aufnehmen. Alles andre aber vergeht, weil es nur ausgegangen ist von dem vergänglichen Wesen dieser Welt, alles andre kann nicht gedeihen, weil ihm Ungöttliches beigemischt ist. So laßt uns denn dies hohe Ziel recht fest ins Auge fassen! Aber laßt uns auch vorzüglich bedenken, daß nicht nur die Fülle der Weisheit, sondern eben so sehr ein kräftiges Beherrschen seiner selbst, ein reines Herz, eine reine Liebe, ein einfältiger Glaube dazu gehört, wenn alles zur Vermahnung zum Herrn gereichen soll. Aber eben dadurch werden wir zurückgeführt, daß nichts kräftiger uns werde und zurückhält von allem ungöttlichen Wesen, als wenn wir uns die heilige Pflicht, die uns gegen die Jugend obliegt, stets recht lebendig vorhalten und zu Herzen führen | denn nur in diesem Sinne, nur durch diese anhaltende Vermahnung zum Herrn durch Lehre und Beispiel kann es geschehen, daß der Bau emporsteige, der auf dem Grund gebaut wird, den der Herr gelegt hat und den der Mensch nicht stören soll. Amen.
[Liederblatt vom 12. Juli 1818:] Am achten Sonntage nach Trin. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Freu dich sehr o etc. [1.] Unser Schöpfer und Erhalter, / Du von Kind an unser Gott, / Unser Gott im späten Alter, / Sei auch unsrer Kinder Gott! / Segne und behüte sie, / Deine Huld verlaß sie nie, / Daß sie dir zum Wohlgefallen / Frühe deine Wege wallen. // [2.] Gieb daß sie mit Ernst dir dienen, / Und betrübet weiche nie / Herr dein guter Geist von ihnen! / Halt auf deinen Wegen sie, / Stärke sie zu jeder Pflicht! / Laß das Gift der Sünde nicht / Ihr noch weiches Herz beflecken, / Und mit Unheil sie bedecken. // [3.] Daß sie ganz auf dieser Erden / Deinem Weinberg Herr sich weihn, / Frömmer stets und heilger werden, / Und zu deinem Werk ge[deihn]! / Und vom Glücke dieser Welt, / Gieb o Herr was dir gefällt, / Nur daß weder Leib noch Freude / Sie von deiner Liebe scheide. // [4.] Der Triumpftag der Gerechten / Sei auch uns ein Freudentag! / Hilf daß zu des Richters Rechten, / Ihrer keines fehlen mag! / Dann spricht jeder, Richter sieh / Hier bin ich, hier sind auch die, / Die du Vater mir gegeben, / Laß im Sohn uns ewig leben! // (Schlegel.) Nach dem Gebet. – Mel. Liebster Jesu, wir etc. [1.] Eltern, Christen, säumet nicht, / Eure Kinder recht zu ziehen, / Heilig ist die theure Pflicht! / Lehrt sie zeitig alles fliehen, / Was nur Wahn und Sünde 1 Vgl. 1Kor 3,16; 6,19
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nähret, / Und der Seele Wohl zerstöret. // [2.] Stärket ihres Körpers Kraft / Daß sich ihre Seele stärke, / Und, was reine Freude schafft, / Gern mit offnem Sinn bemerke! / Lehrt sie Weichlichkeit verachten, / Und nach tüchtgen Werken trachten. // [3.] Bringt der Wahrheit helles Licht / In das Dunkel ihrer Seele / Daß ein frommer Unterricht / Ihnen Gottes Wort empfehle; / So wird nie die Welt den Glauben / Lieb und Wahrheit ihnen rauben. // [4.] Flößt in ihr noch junges Herz / Lust an Gott und guten Werken, / Gottesfurcht in Freud und Schmerz, / Sei an ihnen bald zu merken! / Und die wahre Bruderliebe / Heilge jeden ihrer Triebe. // [5.] Daß auch Christus jederzeit, / Unser Herr sich ihrer freue, / Und ihr Leben, ihm geweiht, / Reifer werd’ in stiller Treue! / Heil euch, wenn sie durch ihr Leben / Seinen Namen hier erheben. // [6.] Wandelt selbst auf ebner Bahn, / Daß sie euer Vorbild sehen! / Führt sie achtsam, lockt sie an / Gern mit euch zum Ziel zu gehen! / Lehrt sie kämpfen, lehrt sie büßen, / Zeigt was sie noch werden müssen. // (Brem. Ges B.) Unter der Predigt. – Mel. Mache dich mein etc. Herr dein Wort, das hier ertönt, / Ist das Wort des Lebens! / Er, der uns mit dir versöhnt, / Sprach es nicht vergebens. / Selig ist / Jeder Christ, / Der es achtsam höret, / Und gehorsam ehret. // Nach der Predigt. – Mel. O daß ich Tausend etc. Verleih der Jugend Kraft und Lehre, / Zur Mäßigung wenn sie sich freut, / Zur Demuth auf der Bahn der Ehre, / Zum Muthe wenn Gefahr ihr dräut! / O laß sie fromm und herzensrein / Und stark in der Versuchung sein. //
Am 26. Juli 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
10. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 6,1–3 Nachschrift; SAr 41, Bl. 29r–34r; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 99–119 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 628–639; 21843, S. 609–620. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 75–90. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, S. 106–128; 4 1860, S. 94–113. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 51–60. – Pädagogische Schriften, ed. Platz, 21876, 31902, Nachdruck der 3. Aufl. 1968, S. 618–628. – Werke, Bd. 3, edd. Braun u. Bauer, 1910, 1911, 21927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 308–324. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 128–144; 2 1927, S. 308–324 Nachschrift; SAr 52, Bl. 6v–7r; Gemberg Teil der vom 31. Mai 1818 bis zum 15. November 1818 gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 26. Juli 1818. Die Gnade cet.
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Nachdem wir, M. F., miteinander erwogen haben, was der Apostel den christlichen Aeltern vorhält in der christlichen Gemeine gegen ihre Kinder, so kann es wol natürlich scheinen, daß wir auch fragen: aber eben, weil sich der Geist der Gemeine auch schon verherrlichen soll in unsrer Jugend, was stellt denn die Schrift uns dar als Werkzeug desselben in den jungen Gemüthern? was müssen wir ansehen, als den Willen in ihnen, der Gott wohlgefällig ist und was als den, der Gott mißfällt? Und allerdings ist die Frage für uns um so wichtiger, weil wir ja alles auffinden müssen, was sich 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
3–4 Vgl. 28. Juni 1818 vorm.; 12. Juli 1818 vorm.
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gegen den göttlichen Geist Streitendes in den jungen Gemüthern findet. Nur so kann ich es nicht thun, daß ich wie vorher die Aeltern, so jetzt die Kinder ermahne, denn ihrer finden sich keine in unsrer Versammlung und unsre Worte sind auch nur für die reiferen Seelen, da ihre Zucht und Ermahnung zum Herrn noch dem Hause anheim fällt. Dessen ungeachtet hört die Wichtigkeit dieser Betrachtung nicht auf, damit wir daran den Maaßstab des Göttlichen finden lernen und dasjenige in der Jugend fördern, was die Schrift als den rechten Sinn aufzeichnet. Es fehlt auch dazu nicht an Anweisungen in der Schrift und wir finden sie in denselben Briefen des Apostels an die christlichen Gemeinen, woher wir das vorige genommen | haben, denn wiewohl auch diese Briefe nur in den Gemeinen vorgelesen wurden, so waren doch die Apostel überzeugt, daß denen, die nicht daran Theil genommen und also auch den Kindern dieselben mitgetheilt würden. So wollen wir denn treu zu Herzen nehmen, was wir finden werden. Dazu bitten wir Gott cet.
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Auch hier, M. F., faßt der Apostel alles in wenigen Worten zusammen und selbst wenn es auf den ersten Anblick zweierlei scheinen sollte, was er sagt: seyd gehorsam euren Aeltern und: ehret Vater und Mutter, so ist auch das nur einerlei, denn er führt die Worte nur an, um das, was er vorher gesagt hat zu bestätigen und als altes Recht Gottes zu beweisen. So geht denn alles bei den Kindern darin zusammen, daß sie gehorsam seyn sollen, sollen sie es aber seyn, so müssen wir es ihnen zumuthen und von dieser Seite wollen wir die Worte betrachten. Sollen die Kinder gehorsam seyn, so müssen wir Gehorsam von ihnen fordern. Das geschieht denn auch und muß geschehen, aber wenn wir betrachten, auf wie verschiedene Weise es geschieht, so wird bald zu viel gefordert, bald zu wenig und dadurch entstehen die ersten Mißklänge im Menschen, die nachher immer wiederhallen. Diese Mißgriffe in menschlichen Dingen liegen aber nicht sowol darin, daß man des Guten zu viel | oder zu wenig thut, sondern viel mehr darin, daß man überhaupt nicht thut, was rechter Art ist, denn das Gute hat immer sein natürliches Maaß und das Zuviel und Zuwenig entsteht nicht aus dem Streben nach dem Guten, sondern daraus, daß das Gute gehemmt und etwas andres an seine Stelle getreten ist. Welche genaueren Vorschriften finden wir nun in den Worten des Apostels? Es ist zweierlei 1. daß er uns unterweiset über die rechte Art des Gehorsams 2. daß er uns aufmerksam macht auf die Gründe des göttlichen Gebots. I. Zuerst finde ich in den Worten des Apostels eine hinreichende Unterweisung über die rechte Art des Gehorsams. Sie liegt darin, daß sich der Apo-
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stel gerade dabei auf jenes alte göttliche Gebot beruft. Er will also keinen andern Gehorsam, als den, der aus dem Verhältniß der Kinder gegen die Aeltern und überhaupt aus dem Verhältniß der Jugend gegen das Alter hervorgeht. Daraus, M. F., gehen schon sehr wichtige Regeln unsres Verhaltens hervor. Wie oft geschieht es nicht, daß wir den Kindern den Gehorsam erleichtern wollen, indem wir ihnen Belohnungen vorhalten oder Strafen drohen. So gewöhnlich das ist und so heilsam es zu seyn scheint, so sehr ist es gegen die Regeln des Apostels, denn wenn die Kinder der Belohnung wegen gehorchen, so gehorchen sie nur ihrer eignen Lust voll | von der Vorstellung der sinnlichen Freude, die ihnen vorgehalten wird und sie können in diesem Augenblick kein Gefühl haben von ihrem Verhältniß zu den Aeltern. Eben so, wenn sie der Strafe wegen gehorsam sind, dann haben sie freilich ein Gefühl von der Macht, welche die Aeltern über sie haben, aber so wie die Furcht (denn es ist dann doch Furcht) mit der Liebe nicht besteht, so wird auch die wahre Ehrerbietung des Herzens dadurch nicht genährt, sondern wenn nicht gehindert doch verunreinigt, um so mehr, da beides dann nicht mehr recht zu trennen ist; denn wen ich fürchte, von dem weiß ich nicht mehr, wie sehr ich ihn verehre. So auch mit unsern Kindern. Müssen sie uns fürchten, dann trüben wir die reine Ehrerbietung in ihren Herzen und dieser Gehorsam so wenig ist es, als jener, den der Apostel verlangt. „Aber es giebt doch der Beispiele sehr wenige, wo die Aeltern der Strafe und der Belohnung entbehren könnten und doch des Gehorsams sicher sind.“ Das ist aber doch immer ein Beweis, daß die Ehrerbietung in den Herzen der Kinder nicht stark genug ist. Der Grund liegt in nichts anderem, als im menschlichen Verderben, aber ob mehr in der aufkeimenden Sünde der Jugend, oder ob mehr darin, daß wir versäumt haben, die Regung des Guten in ihrem Herzen lebendig zu erhalten, das ist dann die Frage, die sich jeder genau beantworten muß; denn so wenig geleugnet werden kann, daß auch schon in den Herzen der Kinder das Schlechte ist, so ist doch auch nicht zu leugnen, daß, wenn | wir uns so halten, daß wir selbst ihnen keinen Anstoß und kein Aergerniß geben, daß die Ehrerbietung in ihnen nicht gehemmt oder gehindert wird durch das, was sie von uns sehen, eben jenes Verderben weit weniger Gewalt haben wird und seine Spuren weit eher verschwinden werden. Aber eben so ist es eine Abweichung von der Regel des Apostels, wenn, indem wir Gehorsam fordern, wir diesen unterstützen durch die Gründe dazu. Denn wir können es doch nicht leugnen, daß eben indem wir ihnen Gründe vorlegen wir Ueberzeugung von ihnen fordern und folgen sie dieser, so folgen sie nicht mehr den Aeltern, sondern ihrer eignen Einsicht und wir setzen sie dadurch in den Fall, daß sie uns Gegengründe wenigstens in Gedanken entgegensetzen, wodurch wir uns ihnen gleich setzen und in 8 der] des
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sofern tritt die Ehrerbietung nicht heraus, denn man verehrt nicht den, dem man gleich ist, sondern nur den, welchen man für höher hält. Daß wir nun die Kinder zu überzeugen suchen, daß wir ihren Verstand erleuchten, das versteht sich von selbst, aber wo wir Gehorsam fordern, da geht dies nicht. Wenn also weder durch Furcht noch Hoffnung noch durch vernünftige Gründe der Gehorsam unterstützt werden soll, so hat er keinen andern Grund als die Ehrerbietung des Herzens, aus der soll er hervorgehen und die soll so lange stark und kräftig seyn, den Gehorsam | hervorzubringen, als wir mit der Jugend zusammenleben. Wir können es auch nicht leugnen, M. F., Gott hat in der Einrichtung des Menschen genug dazu gethan, daß dies Gefühl sich erhalten und immer aufs Neue entsteht es in jedem Geschlechte. Zuerst ist ja in den Kindern das natürliche Gefühl der Abhängigkeit des Daseyns. Die Aeltern sind den Kindern und dann überhaupt den Jüngern an Gottes Statt, denn sie sind nicht im Stande, sich selbst zu erhalten und zu bewahren. Indem sie die Abhängigkeit ihres Daseyns fühlen und ihre Kräfte entwickeln, muß nothwendig ihr Herz von Ehrerbietung erfüllt seyn, woraus der Gehorsam hervorgeht, sie müssen es fühlen, daß jedes Gebot aus nichts anderem hervorgehen kann, als aus der schützenden Kraft der Liebe und so müssen sie ja wohl gehorchen. Wo aber der augenblickliche Mangel ist am Gehorsam, da mögen wir immerhin den Grund dazu suchen mögen in dem Verderben in ihnen selbst, dem wir dann mit Gebet und Wachen entgegentreten müssen, ist es aber beharrlich, da laßt uns glauben, es sey unsre Schuld, daß das Gefühl der Ehrerbietung erloschen ist. II. Die Gründe des Gehorsams, die der Apostel anführt klingen wunderlich. Es scheint uns der Ausdruck: „das ist billig“ viel zu wenig zu seyn für das heiligste Recht der Natur. Wenn er sich weiter beruft | auf das alte Gebot, auf das erste, was Verheißung habe, so scheint uns das auf den ersten Anblick wenig christlich zu seyn, denn um des Lohns willen sollen wir das Böse nicht meiden und das Gute nicht thun und solche Aufforderungen scheinen uns nicht aus einem von Christo bewegten Herzen zu kommen. Aber je mehr uns dies auffallen muß, desto tiefer müssen wir in den Sinn der Worte eingehen. Warum mag der Apostel dies hinzugefügt haben? Offenbar würde er es nicht gethan haben, wenn er es angesehen hätte als eine willkürliche Verheißung Gottes, als eine willkürliche Belohnung oder Strafe, sondern er kann es nur angeführt haben, um auf den natürlichen Zusammenhang hinzuweisen, der aus dem natürlichen Zusammenleben der Aeltern mit der Jugend entsteht und dieser ist so klar, daß wir ihn nicht ableugnen können. Wie anders sind wir überhaupt im Stande unsern Beruf zu erfüllen, als zu gehorchen! Wenn jeder seine eigne Willkür stellen will 20 den] den den
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über die Gesetze des gemeinsamen Daseyns, so kann unmöglich das Gute gewirkt werden, ja ein solcher müßte sich jeden Augenblick gehemmt fühlen, weil alle ihn als ihren gemeinsamen Feind ansehen müßten. Tritt also der Ungehorsam ein gegen menschliche Gesetze und Ordnungen im künftigen Leben, hat sich der Mensch in der Jugend gewöhnt, auch die heiligsten Bande zu lösen, sobald es seinem Eigendünkel gefällt, | so kann er nirgends in das Band der menschlichen Gesellschaft sich fügen, so wird er nie das Gute, was noch in ihm liegt, gebrauchen können. Aber so heilig uns auch menschliche Ordnungen seyn mögen, so sehr das Ansehn vieler Jahrhunderte sie beschützen mag, ein solches Ansehn haben sie nicht, als die natürliche Gewalt der Aeltern über die Kinder. Wer diese Ehrerbietung gegen die Aeltern aufgehoben hat, in welche Gesetze soll der noch sich fügen? Ist da schon der Gehorsam entflohen, so kann er nie wieder entstehen, die Seele müßte sich denn ganz umändern. Der Gehorsam gegen die Aeltern ist also der Grund alles künftigen Gehorsams, dessen wir bedürfen. Vernachlässigen wir also in unsern Kindern den Gehorsam zu erhalten, so legen wir den Grund zu ihrem ganzen künftigen Verderben. Sie werden unfähig der Obrigkeit zu gehorchen und werden aus allen natürlichen Verhältnissen durch ihre Willkür herausgerissen. Aber wenn der Apostel sagt: ihr Kinder, seyd gehorsam euren Aeltern, denn das ist billig, wie sollen wir diesen Ausdruck erklären? M. Th. F. das Billige ist auf der einen Seite freilich weniger als das Gerechte, aber auf der andern Seite auch mehr. Gerechtigkeit erfordert, daß etwas in bestimmte Grenzen eingeschlossen ist. Darauf kann aber das | Verhältnis der Aeltern zu den Kindern nicht angewandt werden, weil es eben nicht in bestimmte Grenzen eingeschlossen ist. Da verschwindet also das Gerechte und wo das Gerechte verschwindet, da tritt das Billige ein und daraus erst bildet sich das Recht in den einzelnen Dingen. Das Wort leitet uns also auf einen andern höchst wichtigen Gegenstand. Die Kinder sollen gehorsam seyn. Aber es kommt eine Zeit, wo sie nicht mehr gehorchen, wo der Befehl sich in Rath, das Ansehn in väterliche und mütterliche Freundschaft verwandelt. Diese Zeit kommt aber allmählig. Allmählig muß also auch der Gehorsam abnehmen, allmählig muß die Fähigkeit der Kinder über sich selbst zu gebieten ausgebildet werden und daher ist es natürlich, daß gar leicht ein Zwiespalt entsteht zwischen dem Recht der Forderung der Aeltern auf Gehorsam und der Selbstentscheidung der Kinder. Seht da das Schwierigste, in der Forderung des Gehorsams das Maaß zu finden, in welches er in verschiedenen Zeiten muß eingeschlossen seyn und nichts kann er finden, als die Liebe von unsrer Seite und die Ehrerbietung von Seiten der Kinder und was so erhalten werden muß, das ist eben ein Billiges. Bleibt nur in uns die Liebe rein, in den Kindern die Ehrerbietung, so wird das Verhältniß sich immer richtig gestalten. Und zuletzt, M. F., löst sich dann allmählig das Band des Gehorsams auf. Die | Kinder werden Erwachsene, auf sich selbst
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Beruhende und an ihnen liegt es dann, ob sie sich durch den Geist Gottes leiten lassen, oder durch die eigne Lust. Aber wir werden immer das erste hoffen dürfen, wenn wir immer das Band der Liebe und Ehrerbietung keusch und rein erhalten haben und so wird dann und soll in der christlichen Gemeine ein Geschlecht in die Fußstapfen des andern treten. Durch die Ehrfurcht der Kinder gegen die Aeltern entfaltet sich zugleich die Liebe zu Gott, der Keim des Gehorsams gegen jeden gemeinsamen, höheren Willen und wenn in demselben Maaß auch die Freiheit sich entwickelt, mit welcher Ruhe können wir dann die Seele der Kinder in ihre eigne Hand legen, wenn wir die kindliche Ehrerbietung in ihnen bewahrt haben. Aber es giebt Zeiten, wo es nicht darauf ankommt, daß das neue Geschlecht in die Fußstapfen des alten trete, sondern wo die Kinder besser werden sollen, als die Väter, wo das heranwachsende Geschlecht das ihm vorangehende überflügeln muß. Und auch das, auch dieses Größere, es hängt nur davon ab, daß der heilige Gehorsam gegen das Höhere zeitig genug in ihrer Seele ist entwickelt worden; denn nicht durch den zügellosen Sinn kann das Beste gefördert werden, sondern nur da kann es entstehen, wo den Forderungen Gottes treue und gehorsame Herzen entgegen kommen. | Treue und Gehorsam, wo sie fehlen, da fehlt auch alle Ehrerbietung gegen die Ordnung. Wie wir nun unsre Zeit ansehen mögen als von der einen oder der andern Art, gleich sehr in beiden ist es wesentlich, daß wir durch den Gehorsam, den wir von ihnen fordern, den Grund legen zu allem Großen, das wir von ihnen erwarten. So laßt uns denn dies Geschäft ausführen mit reinem Herzen und uns vornehmen, daß wir nichts thun wollen, was die wahre Ehrerbietung in den Kindern gegen uns ersticken könnte! So wird das Gute, wie es immer in seinen Quell zurückkehrt, auch auf uns überfließen und indem wir streben, unsre Kinder zu erziehen, werden wir auch uns selbst erziehen und uns fördern in seinem Wohlgefallen. Amen.
[Liederblatt vom 26. Juli 1818:] Am zehnten Sonntage nach Trin. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Der lieben Sonne etc. [1.] Herr meiner Seelen Hülf und Schuz, / Ich rühme deine Treue, / Die deinen Kindern kommt zu Nuz, / Die alle Morgen neue! / Ich dank’ herzinniglich, / Daß du so gnädig mich / Und auch die Meinen diese Nacht / Zum frohen Wiedersehn bewacht. // [2.] Gieb, liebster Gott, daß ferner auch / Ich heute Christlich wandle, / Und meiner Pflicht also gebrauch, / Daß, was ich thu und handle, / Gereiche mehr und mehr / Zu deines Namens Ehr, / Zu meiner Seelen Heil und Schuz, / Und meines Nächsten Dienst und Nuz. // [3.] Behüte
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mich vor allem dem, / Was Leib und Seele kränket, / Hingegen gieb, was angenehm, / Was deinen Seegen schenket. / Dein Herz, auf mich gericht’t, / Kann mich verlassen nicht; / Denn wer im Glauben kommt zu dir, / Der ist gesegnet für und für. // [4.] Drum, großer Hort, laß ich dich nicht, / Dir lieg ich hier zu Füßen, / Bis mir dein Mund den Segen spricht, / Der alles kann versüßen; / Bis mich dein Himmel tränkt, / Und mir viel Gutes schenkt, / Wenn mich dein süßer Gnadengeist / Aus deines Wortes Fülle speist. // (Skriver) Nach dem Gebet. – Mel. Gelobet seist du Jesus etc. [1.] Die ihr beglückt mit Kindern seid, / Die Gott fürchten, freut euch, freut / Euch eures Glücks, und laßt nicht ab / Zu danken dem, der sie euch gab! / Lobsingt dem Herrn! // [2.] Dank sei dem höchsten Vater, Dank, / Daß es euch durch ihn gelang, / Dem Himmel Bürger zu erziehn, / Des freuet euch, und preiset ihn! / Lobsingt dem Herrn. // [3.] Der Seegen eurer Sorgsamkeit, / Dessen ihr vor ihm euch freut, / Ist seine Gabe sein Geschenk, / Deß bleibet ewig eingedenk, / Und dankt dem Herrn. // [4.] Wenn Söhn und Töchter um euch her / Blühn, und täglich eifriger / Was gut ist lieben: welche Lust / Durchströmt dann täglich eure Brust! / Lobsingt dem Herrn. // [5.] Laßt dann den Freudenthränen Lauf, / Daß ihr fromm sie zoget auf! / Die Tochter keusch und sanft und gut, / Der Sohn zu thun voll Lust und Muth / Was Gott gebeut! // [6.] Schaut in die Zukunft froh hinaus, / Gott baut ihnen auch ihr Haus. / Auch er wird Mann und Vater sein! / Auch sie wird Weib und Mutter sein! / Lobsingt dem Herrn. // [7.] Gesegnet wird auch ihr Geschlecht; / Denn das ist der Frommen Recht / Und Segen; also wird belohnt / Ein jedes Haus, wo Tugend wohnt. / Lobsingt dem Herrn. // [8.] Wenn einst ihr hingeht, redet dann / Segnend eure Lieben an: / Bleibt Gott getreu, so werdet ihr / Auch seelig sterben, froh wie wir, / Lobsingt dem Herrn. // (Baier. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Gesegnet sei der Tag der stillen Feier, / Der heilge Tag sei unserm Herzen theuer, / Er füll mit Andacht uns Gott zu verehren, / Sein Wort zu hören! // [2.] Daß wir auf Gottes Wegen weiter dringen, / Stets freudig unser Tagewerk vollbringen, / Und uns zum Glauben und zu guten Werken, / Aufs neue stärken. // Nach der Predigt. – Mel. Nun danket alle Gott etc. Herr segne nun dein Wort / Durch deines Geistes Stärke, / Um Jesu willen stets / Mit Früchten guter Werke; / Daß unser Glaube dir / Bis in den Tod getreu, / Und immer thätiger / Durch wahre Liebe sei. //
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Besonderheiten:
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12. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 7,20–23 Nachschrift; SAr 41, Bl. 37r–40v; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 120–138 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 640–651; 21843, S. 621–631. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 91–105. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, S. 129– 149; 41860, S. 114–132. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 61–70. – Werke, Bd. 3, edd. Braun u. Bauer, 1910, 1911, 21927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 325–340. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 145–160; 21927, S. 325–340 Nachschrift; SAr 52, Bl. 7r–7v; Gemberg Teil der vom 31. Mai 1818 bis zum 15. November 1818 gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 9. Aug. 1818. Die Gnade cet. Wenn wir das christliche Hauswesen betrachten, so finden wir außer den Aeltern und Kindern, über deren Verhältniß wir uns unterhalten haben, noch andre vorzüglich helfende, dienende, abhängige Mitglieder im christlichen Hauswesen. Aber auch überall finden wir die Klage, daß dieses Verhältniß vorzüglich scheine von einem eigenthümlichen Verderben ergriffen zu seyn, daß es nur da noch, wo die Ungleichheit die geringste sey, wo die Gehorchenden bald hoffen in den Zustand der Gebietenden zu kommen, daß nur da dieser Zustand gedeihe, überall aber, wo der Herr und der Diener weiter auseinander stehen, von einem unheilbaren Schaden scheine 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß Hausstand
4 Vgl. die bisherigen Predigten über den christlichen
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ergriffen zu seyn und das Mißverhältniß zwischen beiden ein solches, daß man kaum hoffen dürfe, es sey Rath dafür. Wenn freilich jenes Verhältniß im Christenthum sehr gemildert ist, so ist doch, anstatt daß eine größere Freudigkeit in dies Verhältniß hätte kommen sollen, Gleichgültigkeit und Widerwillen immer mehr gewachsen und wenn von der einen Seite geklagt wird über Härte, so wird von der andern über Nachlässigkeit geklagt. Dies ist nicht nur keine Ehre, sondern ein harter Vorwurf für die Christen. Nicht daß es keine Ausnahmen gäbe, aber diese machen eben jenen Vorwurf noch größer, indem sie zeigen, wie es anders seyn könnte, ja mir scheint es, als ob beide Theile sich jetzt so gestellt hätten, daß es scheint, als müßten sie sich vollkommen vertragen aufs Neue und ein ganz neues Leben beginnen. Aber ein solcher Vertrag kann nur seyn im Worte Gottes; laßt uns | also sehen, was dieses dazu sagt. Wir bitten dazu Gott um seinen Beistand. –
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Tex t. 1 Corinth. 7, 20–23. Der Apostel handelt hier von dieser Sache, um zu zeigen, wie die große Veränderung, welche damals innerlich alle Gläubigen betraf, gar nicht so viele Veränderungen äußerlich hervorzubringen brauchte, als die meisten glauben. Wiewol er also hier von unsrer Sache nur nebenbei redet, so ist doch die Art, wie er sie in Verbindung gebracht mit unserm Verhältniß zu Christo die Ursach, daß sie uns genügen. Wir wollen also sehen, wie das Wort Gottes das Verhältniß der Herrschenden und Dienenden im Hause ansieht. I. Das erste ist, daß der Apostel es auch angesehen hat als ein nothwendiges Uebel. Daß er es so betrachtet, indem er sich in die Stelle des Dienenden setzt, leuchtet gar sehr ein, indem er nur tröstend sagt: bist du ein Knecht berufen, sorge dich nicht, doch kannst du frei werden, so brauche deß viel lieber. Und wahrlich, wenn wir den damaligen Zustand der Dienenden betrachten, so konnte es nicht anders seyn. Nicht wenige waren durch die bloße Gewalt in die Knechtschaft gekommen, andre waren darin durch ihre Geburt, indem das Recht des Eigenthümers sich von den Aeltern auf die Kinder fortpflanzte und ihr Verhältniß war, daß sie ganz von den Launen und von der Willkür des Herrn abhingen, daß er sie bestimmen konnte, wozu er wollte und ihnen von ihrer Jugend an die Bahn ihres Lebens vorschreiben konnte. So ist es freilich jetzt nicht bei uns | und keiner ist durch Gewalt und Geburt in der Willkür eines andern, aber die Worte des Apostels sind doch auch auf die Dienenden unsrer Tage anwendbar. Denn wenn wir fragen, woher dies Verhältniß entsteht, so müssen wir sagen: daher, daß so viele, nachdem die älterliche Pflege vorüber ist, von ihren Aeltern nicht die Mittel erhalten können, ein eignes Haus zu gründen, weshalb sie sich als helfende und dienende Mitglieder in andern christlichen Häusern aufhalten, 27 dich] dir
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und wenn es freilich in ihrer Gewalt steht, ihre Herrschaften zu wechseln, so oft sie wollen, so hängen sie doch während dieser Zeit auch von der Willkür derer ab, denen sie sich hingegeben haben. Ein so hingegebener, so haltungsloser, der Freiheit beraubter Zustand kann nur als nothwendiges Uebel angesehen werden und davon sind wir ohne große Auseinandersetzung überzeugt. Aber was vielleicht nicht so gleich einleuchtet ist, daß auch für die Herrschenden der Umstand, daß sie der Dienenden bedürfen, nur ein nothwendiges Uebel ist. Jedes christliche Hauswesen soll still seyn und es nimmt nicht gern ein fremdes Glied auf, die Kinder sollen erzogen werden, ein Geschlecht soll in die Fußstapfen des andern treten, ja ein Geschlecht soll allmählig das andre von seiner Einseitigkeit vertreiben und eins soll dem andern helfen. Wenn so das christliche Haus ein Heiligthum Gottes ist und seyn soll, so ist es nur ein nothwendiges Uebel, wenn wir Andre, Fremde ins Haus ziehen müssen. Daß keine Schwachheit ihnen entgeht, was oft schadet, daß wenn sie das Haus zuerst betreten, sie in ein Verhältniß kommen, wo alles nur durch die Liebe besteht, Dienste leisten, wo alles nur | darauf ankommt, daß sie von liebevollen Herzen geleistet werden, die man sich schämen muß von andern leisten zu lassen, wenn sie nicht aus dem Innern hervorgehen, dies zusammengenommen bildet ein so gezwungenes Verhältniß, daß auch die Gebietenden im Hause es als ein nothwendiges Uebel ansehen und beseufzen. Und wahrlich, es ist auch jetzt gar kein Vergleich mehr zwischen der Zahl der Diener unsrer Vornehmsten und zwischen der Zahl der Diener derer, die zur Zeit des Apostels nur wohlhabend waren. Aber das Uebel ist nicht nur ein Uebel, sondern auch ein nothwendiges, nothwendig für diejenigen, welche sich bedienen lassen und für diejenigen, welche dienen, indem die ersten durchaus mehrerer Personen zur Hülfsleistung bedürfen, letztere aber ihrer Verhältnisse wegen nicht anders können. Aber kann man es ihnen nun verargen, wenn sie sich immer die Worte wiederholen: kannst du frei werden, so brauche deß viel lieber, kann man es ihnen verdenken, wenn sie des geringsten Vortheils wegen das Haus wechseln in der Hoffnung, dadurch eher in den Stand der Freiheit und Selbstständigkeit zu kommen, kann man es den Hausherren verdenken, wenn sie geringer Ursachen wegen oft wechseln, überzeugt, daß der eine, wie der andre sey und keiner sich vorzüglich hervorthue? Es kann sich hierin nicht ändern, wenn nicht ein neues Lebenselement hineinkommt und dies finden wir in dem zweiten, welches wir in den Worten des Apostels kennen lernen, daß er nemlich dies Verhältniß ansieht | als eine Ungleichheit, die ausgeglichen werden soll durch das Christenthum; denn das ist doch eine Ausgleichung, wenn er von den Knechten sagt: „wer ein Knecht berufen ist in dem Herrn, der ist ein Gefreiter des Herrn“ und von den Herren: „wer ein Freier berufen ist, der ist ein Knecht Christi“. Und
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so laßt uns denn den Sinn dieser Worte noch im zweiten Theil unsrer Betrachtung erwägen!
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II. Wer ein Herr berufen ist, sagt der Apostel, der ist ein Knecht Christi. Das meint er nicht nur so im Allgemeinen, wie man es wol aufzufassen geneigt ist. Daß auch wir in das Hauswesen Gottes aufgenommen sind ohne ein natürliches Recht, daß auch wir uns hier nur desto besser befinden, je mehr wir abhängig sind von unserm Herrn und Meister, das ist nur das Allgemeine, wobei wir nicht stehen bleiben wollen, sondern der Apostel meint, daß ein Herr im Hause auch in Beziehung auf die Dienenden ein Knecht seyn solle d. h. er solle wissen, daß er in dieser Hinsicht einen Willen seines Herrn zu erfüllen hat, daß er auch hier, was er thut nicht sich selbst thut, sondern seinem Herrn. Und wem das vor der Seele steht, dem wird dann freilich ein ganz neuer Sinn für dies Verhältniß des Lebens aufgehen, der muß fühlen, daß der Herr einen von seinem Hause Getrennten ihm zuweist, um ihm Ersatz zu verschaffen, der muß fühlen, daß die Dienenden im Hause ein Vorbild aller christlichen | Tugenden zur Nachahmung erhalten sollen, daß sie sollen unterscheiden lernen, wie es zugeht in einem Hause, wo der Herr sagt: ich und mein Haus wir wollen Gott dienen, wer so darauf bedacht ist, diejenigen, die ihm dienen zum Guten zu leiten und zum wahrhaft christlich häuslichen Leben, der wird etwas ganz andres seyn für diejenigen, die ihm dienen, als wir es jetzt finden, denn wo das wäre, da könnte man kaum glauben, daß so wenig gegenseitige Anhänglichkeit sich erzeugen sollte und schwerlich würde man da noch klagen, daß um jeder Kleinigkeiten willen das Verhältniß gewechselt werde. Denn wenn sich der Herr als Knecht Christi zeigt, so fühlt sich auch der Diener als Freigelassener des Herrn. Dieser Ausdruck ist aus den Einrichtungen der damaligen Zeit, wo die Herrn die besten ihrer Diener nach einer Reihe von Jahren mit der Freiheit beschenkten. Nach diesem aber ging erst zwischen den Freigelassenen und dem Herrn ein neues Verhältniß an. Die Freigelassenen hielten am Hause des Herrn und suchten da immer noch Rath und Unterstützung. Wenn nun der Apostel hier sagt: wer ein Knecht berufen ist in dem Herrn, der ist ein Gefreiter des Herrn, so meint er dies auch nicht nur auf ganz allgemeine Weise, nicht nur so, daß, wer die Freiheit fühlt von der Sünde, auf die Dienstbarkeit keinen großen Werth mehr legen kann, sondern er meint es so, daß in einem christlichen Hauswesen der welcher dient sich gerade in dieser Hinsicht soll als Freigelassener des Herrn fühlen, denn | auch er seinerseits, am meisten wenn er seinen Gebieter als Knecht Christi sieht, auch er soll die Abhängigkeit von der menschlichen Willkür in eine freie Zuneigung verwandeln. Dann erst fühlt er sich als ein Freigelassener des Herrn und er sieht es als einen ihm angewiesenen Beruf an, daß er dem Herrn dienen soll, 18–19 Vgl. Jos 24,15
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er sieht, wie viel dadurch zum Wohl des Ganzen beigetragen werden kann und so kann es nicht fehlen, daß wie jeder allmählig diejenigen liebt, welchen er wohlthut, so auch der Diener, weil er fühlt, wie sehr er nützt, den Herrn liebt: so muß er ja fühlen, daß er ein Freigelassener des Herrn ist, daß er alles aus Liebe thut, daß zwischen ihm und seinem Herrn ein heiliges Band sich knüpft. Das ist es ja, M. F., wie sich nach der Ansicht des Apostels dies Verhältniß unter uns gestalten soll. Ueberall wo Menschen zu gemeinsamer Wirksamkeit zusammentreten, soll sich auch eine ihren Verhältnissen angemessene eigenthümliche Liebe entwickeln, dasselbe Verhältniß, daß sie beide dem Herrn dienen, soll sie befreunden und eben diesen sonst übel erscheinenden Zustand in einen gesegneten verwandeln. Freilich wenn wir betrachten, wie weit die Gebietenden und Gehorchenden in der bürgerlichen Gesellschaft auseinanderstehen, so scheint das, was der Apostel verlangt hat, unmöglich. Aber im häuslichen Leben selbst soll man ja die bürgerlichen Verhältnisse vergessen. Wehe dem Hause, wo nicht im Verhältniß der Aeltern und der Kinder das Göttliche alles Menschliche überwiegt! und dies muß sich ja auch auf alle im Hause ausbreiten. Wenn wir nur erst fühlen lernten, wie wenig eigentlich die äußern Zeichen der Ehrerbietung und Knechtschaft im Stande sind, das Gefühl der Ehrfurcht zu erhalten! Wenn wir das erst inne werden, dann werden wir fühlen, daß es ein andres Verhältniß giebt, worauf die | wahre Ehrerbietung ruhen kann ohne jene Schranken. Aber wann wird dieser Zustand kommen? Dann, wenn wir es lebendig fühlen, daß wir zu Einer Gemeine Christi gehören, daß wir Brüder sind in demselben Herrn, der sich nicht schämt, unser aller Bruder zu heißen, wenn wir alle ohne Unterschied des Standes in demselben Hause zusammenkommen, das Wort Gottes zu hören und uns an Einem Tisch des Herrn versammeln, wie diese heiligen Augenblicke im ganzen Leben uns unvergeßlich bleiben, wenn diese überall in unserer Seele nachhallen und nachschwingen, dann erst wird zwischen den Gebietenden und Gehorchenden ein reines Verhältniß sich gestalten und dann werden wir die Freigelassenen des Herrn und die Knechte des Herrn gemeinsam sein Werk treiben sehen. Das, M. F., ist der Wunsch, der uns noch oft entgegenkommen wird. Möge uns das Gefühl immer mehr beherrschen, daß wir Eine Gemeine des Herrn sind, möge das in allen Theilen des gemeinsamen Daseyns uns immer mehr durchdringen, dann wird alles besser sich gestalten! Wolan denn, so laßt uns nie hier im Hause Gottes und an seinem Tische zusammenkommen ohne lebendig zu fühlen, daß in dem Herrn wir alle gleich sind! Dann und nur dann wird es besser werden, Herrschsucht, Eitelkeit, falsche Demuth und Knechtschaft werden dann verschwinden und alles wird immer mehr geheiligt werden durch denjenigen, der alles heiligen kann. Amen!
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[Liederblatt vom 9. August 1818:] Am zwölften Sonnt. nach Trin. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Christus der uns etc. [1.] Sorge Vater, sorge du, / Sorge für mein Sorgen, / Sorge Jesu, sorge du, / Sorge heut und morgen! / Sorge für mich allezeit, / Sorge für das deine! / O du Gott der Freundlichkeit, / Sorge du alleine! // [2.] Sorge, wenn der Tag anbricht, / Für mein Leib und Seele! / Sorge, daß ich niemand nicht / Sie als dir befehle! / Sorge wenn sich schließen zu / Meine Augenlieder, / Sorge wenn ich bin zur Ruh, / Und erwache wieder. // [3.] Sorge für mein Amt und Stand, / Wort Vernunft und Tichten, / Für die Arbeit meiner Hand, / Lassen und Verrichten! / Sorge für die Obrigkeit, / Diener deines Wortes, / Und dazu für alle Leut / Jedes Stand und Ortes. // [4.] Sorge doch und laß uns auch, / Herr, bis an das Ende / Dein Wort und den rechten Brauch / Deiner Sakramente! / Sorge Herr wenn uns anficht / Satan auf der Erden, / Sorge wenn vor dein Gericht / Wir gefordert werden! // (Stett. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Herr nicht schicke etc. [1.] Soll ich mich denn täglich kränken, / Und aufs künftige gedenken? / Soll ich denn niemals mit Ruh / Nachts die Augen schließen zu? / Muß nur immer vor mir stehen, / Wie’s mir einstens wird ergehen, / Da doch durch mein Sorgen nicht, / Das geringst’ ist ausgericht’t? // [2.] Er ist’s der allein verstehet, / Wenn mirs so und so ergehet, / Ob dasselbe nutz und gut, / Oder ob’s mir Schaden thut; / Da sonst wir in unsern Lüsten, / Uns nicht zu berathen wüßten, / Oefters wählend ohngefähr, / Was uns nur höchst schädlich wär. // [3.] Soll ich denn stets niedrig leben, / Und nur an der Erde kleben, / Daß, wenn ich zur Ruh mich leg, / Niemand von mir wissen mög: / Soll mich solches gar nicht kränken, / Sondern ich will stets bedenken, / Daß ich vieler Sorgen frei / Und des Falles sicher sei. // [4.] Dennoch will ich auch nicht fliehen, / Wo er selber wollte ziehen / Mich hervor aus niederm Staub; / Weil ich solches sicher glaub, / Es lieg nur an seinen Gaben, / Die wir dann gewiß auch haben, / Wenn wir seinem Wink allein / Im Beruf gehorsam sein. // [5.] Will die Armuth meiner Hütten / Er mit Segen überschütten, / Geb’ er, wie sonst viel gethan, / Daß mein Herz nicht hänge dran! / Ist mir Armuth fortbeschieden, / Bin ich auch damit zufrieden, / Daß ich doch ihm fröhlich sing, / Und ihm täglich Opfer bring. // [6.] Also bleibts Gott heimgewiesen, / Und sein theurer Nam gepriesen, / Was er auch in seinem Rath / Ueber mich beschlossen hat. / Auf nichts anders will ich achten, / Sondern dieses nur betrachten, / Daß den Seinen zum Beschluß / Endlich alles frommen muß. // (Spener.) Unter der Predigt. – Mel. Helft mir Gott’s etc. Stell alles dein Beginnen / Zu Gottes Ehren an, / Entferne deine Sinnen / Von allem eitlen Wahn, / Dem Welt und Fleisch anhangt; / Ob jemand gleich dein lache, / Befiehl Gott deine Sache, / So hast du viel erlangt. //
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Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr etc. Sei getreu in allen Sachen, / Sei getreu bis an den Tod; / Tracht’ auch alles wohl zu machen, / Was dich lehrt des Herrn Gebot! / Denn das ist der Christen Bahn, / Worauf sie zum Himmel an, / Und mit Seufzen Bitt und Flehen / Sollen ins Reich Gottes gehen. //
Am 23. August 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
14. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Kol 3,22 u. 4,1 Nachschrift; SAr 41, Bl. 41r–47r; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 139–160 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 652–664; 21843, S. 632–644. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 106–122. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, 4 S. 150–173; 1860, S. 133–153. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 70–80. – Werke, Bd. 3, edd. Braun u. Bauer, 1910, 1911, 2 1927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 341– 358. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 161–178; 21927, S. 341–358 Teil der vom 31. Mai 1818 bis zum 15. November 1818 gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 23. Aug. 1818.
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M. A. Z. Das gilt gewiß von allen Verhältnissen des menschlichen Lebens, daß wenn wir erst eingesehen und uns vergegenwärtigt haben, aus welchem Gesichtspuncte wir sie als Christen ansehen müssen, dann erst die rechte Lust und Liebe dazu in uns entsteht, dann erst der Wille Gottes uns darin klar wird und die Lust des inwendigen Menschen daran in uns sich bildet. Dann verschwindet uns der Unterschied, der uns sonst so sehr gefangen hält, zwischen dem Größern und Wichtigern, das uns drückt und zwischen dem scheinbar Unbedeutenden, worüber wir so leicht hinweggleiten, dann nimmt alles für uns seine gehörige Stelle ein, dann fühlen wir von einem jeden Verhältnisse, wie unentbehrlich es im Ganzen ist und welch eine Fülle des Guten daraus hervorgehen könne, sobald nur der Wille Gottes erst darin befolgt wird. Und so muß es uns gegangen seyn mit dem Verhältniß, von dem wir neulich anfingen zu reden, mit dem Verhältniß der Dienen14–1 Vgl. 9. August 1818 vorm.
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den und Gebietenden in dem christlichen Hausstande. Wenn wir einsehen, wie freilich mit Recht uns dieses Verhältniß erscheint als ein solches, aus dem manche Uebel aber nothwendige und unvermeidliche hervorgehen, wenn wir aber auch sehen, wie sich darin abbildet der göttliche Hausstand auf Erden, dessen Glieder wir sind und wie so das Unbedeutende wichtig und das Ungleiche geebnet wird, so muß die Lust in uns seyn, auch in diesem Verhältniß den Willen Gottes zu erfüllen. Aber mit dieser Lust des inwendigen Menschen ist es nicht allein gethan, sondern, wie der Apostel sagt, ist diese erregt, so beginnt erst der Streit zwischen dem Geiste und dem Fleische, dann entdeckt sich alles dem göttlichen Willen Zuwiderlaufende, dann fühlen wir das Gesetz in unsern | Gliedern, das da widerstreitet dem Willen des Höchsten und wir werden so überfüllt von den einzelnen Wünschen unsres Herzens, von dem beständigen Widerstreit, der uns von allen Seiten entgegentritt, daß wir verlangen, es möge nun zu der Einsicht in das Wesen der Sache eine geordnete Einsicht darüber hinzukommen, worauf es ankomme, daß der Wille Gottes wirklich vollzogen werde, was das allein Richtige sey, um den gegenwärtigen Zustand in einen besseren zu verwandeln. Diesem Verlangen wollen wir durch die heutige Betrachtung zu genügen suchen in Rücksicht auf das Verhältniß, das wir schon einmal in Erwägung gezogen haben.
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Tex t. Coloss. 3, 22. 4, 1. Auch hier faßt der Apostel alles, was er von den Christen wünscht, in wenige einfache Vorschriften zusammen. Es könnte freilich scheinen, als ob dadurch dem, was wir in diesem Verhältniß des Lebens vermissen, noch nicht geholfen wäre, laßt uns aber nur die Ordnung, die der Apostel vorschreibt, näher erwägen. Ich glaube, daß wir so am besten den Sinn der Worte erschöpfen werden, wenn wir 1. sehen, wie die Vorschriften, die er giebt, mit der allgemeinen Ansicht von jenem Verhältniß, die er in den neulich betrachteten Worten aufstellt, zusammenstimmen, und wenn wir 2. erwägen, was die natürliche Folge davon seyn muß, wenn nur die Vorschriften, die er giebt, aus reinem Herzen befolgt werden. | 42r
I. Was der Apostel von den Dienenden fordert, ist zweierlei 1. sie sollen vermeiden alle Augendienerei 2. aber auch allen Mißmuth und das, was sie zu thun haben, von Herzen thun und aus reinem, gutem Willen. Von den Gebietenden fordert er ebenfalls zweierlei 1. sie sollen den Dienenden geben, was gleich und recht ist 2. sie sollen es unterlassen, überall den Schein der Gewalt, die ihnen gegeben ist, zur Schau zu tragen. 7–12 Vgl. Röm 7,22–23
29 Vgl. 9. August 1818 vorm.
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Dies hängt genau zusammen mit der Ansicht, die in den neulich erwogenen Worten enthalten war, obgleich der Apostel dort das Verhältniß nur vorübergehend berührt. Der Hauptinhalt seiner Gedanken war dort folgender: Wenn er einerseits von den Dienenden sagt, es könne und müsse ein jeder, sobald er aufgenommen sey in die christliche Gemeinschaft, in dem äußerlichen Stande verbleiben, den er früher selbst erwählt und dazu ihn Gott berufen habe, nur daß jeder, der in persönlicher Abhängigkeit von andern leben müsse, wenn er frei werden könne, wohl thue, sich dessen zu bedienen, so liegt darin, daß er diesen Zustand der Dienstbarkeit, sey er loser oder fester, immer nur als einen vorübergehenden ansieht, von dem ein jeder in den Zustand eines freien Lebens solle übergehen können, wenn es möglich ist und in dem er sich dazu ausbilden solle, daß er seiner Freiheit recht gebrauchen könne, wenn er sich dieselbe verschaffen kann. Gewiß, je mehr uns das Christenthum in brüderliche Liebe auflöst, desto weniger können wir jedes Verhältniß einer wirklichen, persönlichen Abhängigkeit, wo der Einzelne dem Einzelnen dient, anders als so ansehen. Da müssen wir gestehen, | daß die beiden Fehler, vor denen der Apostel die Dienenden warnt, diejenigen sind, durch die sie es sich selbst schwer machen, wenn sie frei werden, der Freiheit recht zu gebrauchen und daraus folgt dann wieder dieses, daß wer sich in einem geringen Zustande nicht fähig macht, einen besseren zu ertragen und zu benutzen, daß er auch den geringen nicht erfüllt, denn die Treue ists ja überall, die dem Menschen obliegt. Das müssen wir ja gestehen, nichts macht den Menschen unfähiger aus einem geringen Zustande in einen höhern überzugehen, als der Mißmuth des Herzens. Nur das fröhliche Herz, nur der frische, gute Wille kann auch ein unbefangenes Auge auf alles richten. Wer in einem geringen Zustande alles, was ihm obliegt, von ganzem Herzen thut, der wird auch immer fröhlichen Sinnes seyn, und nichts steht ihm im Wege, alles wahrzunehmen, was ihm zu einem besseren Zustande verhelfen kann. Wer aber was ihm obliegt nur mit Verdruß thut, in dem kann kein fröhliches Herz wohnen, der wird in seinem verdrossenen Sinne stets lässiger werden, die Mittel anzuwenden, um in einen bessern Zustand zu gelangen, er wird also unfähiger und unwürdiger werden der Freiheit, wenn er frei werden kann. Eben so gewiß ist aber, daß nichts mehr den Menschen eines freien Daseyns unwürdig macht, als der andre Fehler, der Dienst vor Augen. Was der Apostel damit meint, ist wol allen deutlich. Es ist die heuchlerische Schmeichelei, die selbst gegen die innerste Ueberzeugung redet und thut, wie es denen gefällt, die Einfluß haben auf das Schicksal andrer Menschen. In diesem Zustande ist der gänzliche Mangel an Freiheit. Stellt einen solchen auf den höchsten Punct in der Gesellschaft, so lange er noch Einen über sich sieht, kann er nichts seyn, als ein Knecht; denn wenn | der Mensch 1 Vgl. 9. August 1818 vorm.
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seine Ueberzeugung über das, was Recht und Gott wohlgefällig ist, unter die Füße treten kann, dann nimmt er den Zustand der Knechtschaft überall mit hin, dann ist er unfähig frei zu seyn, weil nichts aus ihm kommt, als das, wozu er von außen angestoßen wird und weil er den Quell des innern Lebens verleugnet. Dadurch machen sich die Dienenden selbst der Freiheit unwürdig und zwar so, daß wenn sie auch je in ein selbstständiges Lebensverhältniß kommen, sie doch eben so dann Knechte derer seyn werden, von deren Gunst oder Ungunst ihr Wohl- oder Uebelbefinden abhängt. Die Fehler aber, die am meisten hindern, daß der Mensch frei werde, die müssen ihn auch hindern, in dem Zustande wo er lebt, Gottes Willen zu erfüllen. Davon sind wir gewiß alle überzeugt. Wir können bei denen, die uns dienen, mancherlei Fehler finden, die uns beschwerlich sind, aber es kann keine geben, die einem redlichen und frommen Gemüthe das Zusammenleben im Häuslichen mehr zuwider machen, als eben diese. Wir müssen ja diejenigen verachten, die den Dienst vor Augen treiben; sobald wir sehen, daß es einem Menschen nicht Ernst ist mit dem, was er thut, so müssen wir ihn verachten und wir sind doch gewiß mit Niemandem unlieber zusammen, als mit dem, den wir gering schätzen. Je mehr einer dem Aeußern nach unter uns steht, desto wohler wird uns, wenn er uns Achtung abdringt. Das ist aber dem Augendiener unmöglich. Eben so je mehr wir liebreich gesinnt sind gegen den Dienenden, desto mehr muß uns sein Mißmuth drücken. Können wir das Böse nicht mit Gutem austreiben, so müssen wir selbst davon angesteckt werden. Es ist nichts Beklemmenderes, als der Anblick eines verdrossenen Menschen und wenn noch so vieles im Einzelnen nachtheiliger wirkt auf uns, so stört nichts so sehr die Heiterkeit im | Ganzen, als der Mißmuth. So müssen wir dem Apostel Recht geben, daß dies die Fehler der Dienenden sind, die das Verhältniß verderben und die denen, welche sie besitzen, das Herausheben in einen bessern Zustand unmöglich machen. Eben so hatte der Apostel in den neulichen Worten die Gebietenden im häuslichen Leben erinnert, daß sie selbst mit der Gewalt, die sie hätten nichts seyen, als Diener Christi, Knechte in dem Hausstand, den der Sohn im Namen des Vaters zu regieren hat und die Fehler, vor denen er die Gebietenden warnt in unsern heutigen Worten sind 1. Parteilichkeit und Willkür in Behandlung der Dienenden, indem er sagt: gebt den Knechten, was gleich und recht ist und 2. das Sichzugutthun auf die Gewalt, die uns gegeben ist, wovor er warnt in den Worten, „laßt ab von dem Drohen“. Beides verträgt sich nicht mit dem Bewußtseyn des Christen, daß ihm die Gewalt, die er im häuslichen Leben über die Dienenden übt, nur als einem Diener Christi geworden sey. Ueberall, wo der Herr von seinem geistigen 6 je] ja 29–32 Vgl. 1Kor 7,22
36 Vgl. Eph 6,9
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Haushalt auf Erden redet, da ist dies der Hauptpunct, um den sich alles dreht, daß wenn der Herr Rechenschaft fordert von seinen Knechten, er ihnen recht und gleich giebt. Hat er seine Gaben ausgetheilt, so giebt er auch, je nachdem er ausgetheilt hat und die Knechte damit gewuchert haben. So stellt sich der Herr selbst vor in seinen Gleichnißreden, wer also sein Diener seyn will, der muß nach demselben Grundsatze handeln, und wer anders handelt, wer persönlicher Vorliebe und der Willkür Raum giebt, wer nicht auf den wirklichen Zusammenhang von dem Seyn eines jeden mit dem ihm anvertrauten Beruf achtet, der ist auch kein Diener Christi, und erscheinen wir nicht | so im häuslichen Leben, so vollziehen wir auch nicht den Willen des Herrn. Eben so auf der andern Seite: Woher kommt alle Macht und Gewalt anders als von oben? Das sagt der Erlöser selbst. Als ihm, nicht im häuslichen Verhältniß, sondern die höchste Obrigkeit des Landes fragte: „weißest du nicht, daß ich Macht habe, dich zu kreuzigen und dich loszulassen?“ da sagte der Erlöser: „du hättest keine Macht über mich, wäre sie dir nicht von oben herab gegeben“ womit er sagen wollte: fühltest du, daß deine Macht von oben kommt, so würdest du sie nicht in drohenden Reden darstellen, sondern dich gebunden fühlen durch die ewigen Gesetze, nach denen Gott alle Macht verwaltet wissen will. Hatte er da Recht, so hat er es noch vielmehr im häuslichen Leben. Wer droht und seine Gewalt zur Schau trägt, der hat nicht das Gefühl, daß sie ihm von oben ist anvertraut worden und mit zu dem Pfunde gehört, womit er zur Ehre des Herrn wuchern soll. Wer dies nicht fühlt, der kann auch nicht im häuslichen Leben den Willen seines Herrn erfüllen. So ist es also offenbar, daß diese Fehler am meisten hindern, daß wir das Bewußtseyn haben, was uns allein erhalten kann in der Erfüllung des göttlichen Willens und es sind also diese Fehler offenbar die größten. Denken wir uns in die Seele der Dienenden hinein, so müssen wir gestehen, es kann manches seyn in der Art und Weise des Herrn, was ihnen beschwerlich ist, aber im Ganzen giebt es keine größeren Fehler, als diese, nichts wodurch das Maaß so gestört würde, was eine so dauernde Quelle der Unzufriedenheit ist, als Persönlichkeit, Willkür und Launen. | So sehen wir, wie aus der Vergleichung mit dem, worauf Alles ankommt, damit das Verhältniß nach Gottes Willen geordnet sey, der Apostel auch hier sehr weise das Wichtigste gewählt hat und wir dürfen hoffen, daß, wenn wir nur der Ordnung, die er uns vorhält, treu bleiben und uns beiderseits vor den Fehlern hüten, vor denen er uns warnt, alles andre sich auch leicht ausgleichen werde. Darin werden wir noch befestigt werden, wenn wir 2–5 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,11–27
14–17 Vgl. Joh 19,10–11
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II. darauf sehen, was der natürliche Erfolg seyn muß, wenn nur diese Vorschriften in ihrem ganzen Umfange erfüllt werden. Hier ist nun zuerst zu bemerken, wie das, was der Apostel den Gebietenden sagt und was den Dienenden so genau zusammenhängt. Das ist gewiß, wenn wir fragen: was reizt die Gebietenden am meisten zu jenem Drohen und zu dem Zurschautragen ihrer Gewalt? daß wir dann antworten müssen: es ist der Mißmuth und der verdrossene Sinn der Gehorchenden. Wenn doch etwas geschehen soll und es offenbart sich nicht die Lust in dem, der es thun soll, so müssen ja solche Beweggründe zu Hülfe genommen werden, die etwas erzwingen und das ist die Furcht. Wo Lust und Liebe ist, da ist die Furcht überflüssig und so wie die Liebe die Furcht austreibt, so ist es nicht nöthig, Furcht einzuflößen. Eben so wenn wir fragen: was reizt am meisten zur parteiischen Vorliebe? so müssen wir gestehen, es ist die Augendienerei | und Heuchelei der Untergebenen. Das regt die Eigenliebe auf, das verleitet zum parteiischen Urtheil und es gehört Festigkeit im ganzen Sinne des Worts dazu, wenn die Gebietenden nicht sollen verdorben werden durch die Augendienerei. Das sehen wir überall im bürgerlichen Leben, wo uns nichts so sehr aufbringt, als das Kriechen gegen die Höheren. So auch im häuslichen Leben. Wenn redliche Liebe zur Sache die Dienenden beseelte und sie überall das Gefühl hätten, daß sie sich als lebendige Bestandtheile des Hauswesens ansähen, dann würde das parteiische Wesen nicht so aufgeregt werden, die Gebietenden würden leichter das Gleiche und Rechte ertheilen können. Eben so auf der andern Seite, wo einmal in den Gebietenden die Parteilichkeit ist, da wird natürlich das schmeichlerische Wesen in den Dienenden aufgeregt, da ist nothwendig, daß sie sagen: willst du es so haben, so will ich dir wol den Dienst vor Augen leisten, damit mir auch das zugetheilt werde, was deine Parteilichkeit giebt. Wo sich die Gebietenden ihrer Gewalt überheben, sich weniger verlassen auf das innere Gesetz und auf die heilige Ordnung, die im christlichen Hausstande herrschen soll, als auf das Ansehen, das sie persönlich haben, da muß wol der Mißmuth in den Dienenden entstehen. Weil also beides so ineinander greift, so ist offenbar, wie die Verbesserung des Hausstandes nur daraus hervorgeht, daß beide Theile die Fehler vermeiden, die die verwandten Fehler der andern Theile hervorlocken. Wenn sich die Dienenden das zum Gesetz machen, dadurch daß sie den Augendienst vermeiden, die Neigung zur Parteilichkeit in den Gebietenden zu überwinden, wenn sie überall sich vornähmen, eben dadurch, daß sie Lust und Liebe zum | gemeinsamen Wohl zeigen, ihren Gebietern zu bewei3 ganzen] ganze 12 Vgl. 1Joh 4,18
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sen, wie unnöthig es ist, daß sie das Gefühl ihrer Gewalt offenbar werden lassen, so würde die Parteilichkeit aus den Gebietenden weichen, und so diese, wenn sie sich vornähmen, überall das Gleiche und Rechte zu vertheilen und die Dienenden so von dem Augendienste abzubringen, wenn sie in dem Gefühl, daß sie selbst nur Diener des Herrn im Himmel sind, nicht ihre persönliche Macht geltend machen wollten, sondern überall das ewige Gesetz menschlicher Ordnung, das sie verwalten sollen, dann werden sie, eben weil der Mensch in Gegenwart des Höhern immer mehr Lust erhält, den Mißmuth in ihren Untergebenen überwinden. So hört es auf, daß jeder sich beruft auf die Fehler des andern Theils und meint, daß diese die seinigen herbeiführen. Jeder soll hier fühlen, daß, liebt er selbst das Rechte, er den andern Theil auch einladet, das Rechte zu suchen und das Störende zu entfernen. Die zweite Folge ist, daß sich für das Verhältniß des häuslichen Lebens eine allgemeine Sitte bilden muß, durch welche jeder Einzelne leichter zum Rechten geleitet wird. Das Gefühl haben wir über alle unsre Verhältnisse, daß, was auch der Einzelne thut, so lange Er es nur thut, es doch schnell verschwindet und nicht den Strom des Verderbens aufhält. Dem steht das andre zur Seite, daß, wo erst eine Sitte gebildet ist, jeder Einzelne leichter das Maaß findet, und die Fehler des Einzelnen weniger das Ganze stören können. Darum ist es auch besonders in diesem Verhältnisse der Fall, daß alle, die das Rechte wollen, es so schmerzhaft fühlen, daß in dieser Hinsicht alle gemeinsame Ordnung verschwunden ist, daß es nichts giebt, als den todten | Buchstaben des Gesetzes und die Willkür, die in jedem Hausstande ein anderes anordnet. So lange wir den Vorschriften des Apostels nicht folgen, wird es stets so bleiben, denn wo der Augendienst und die Willkür regieren, da kann es nicht anders seyn. Wenn aber in den Gebietenden und Dienenden das Gefühl eines göttlichen Gesetzes und einer Ordnung, durch welche das Verhältniß auf den göttlichen Hausstand allein bezogen wird, wenn das die Oberhand gewinnt, so wird auch ein Gemeinsames entstehen, denn dies Gefühl hebt alles Persönliche auf. Das erhebt die Einen zu dem Gefühl, daß sie Freie Gottes sind, das stärkt die andern zu dem Gefühl, daß sie Diener Christi sind, dadurch muß eine schöne Kraft wieder hervorgehen, durch welche alles Verkehrte in Schranken gehalten wird. Denken wir uns alle im Hause Gebietende als solche, die einen Bund gemacht hätten untereinander, überall das Rechte und Gleiche zu ertheilen, so wird die Willkür schon verschwinden. Denken wir uns, alle Dienenden hätte den Bund gemacht, sie wollten als Knechte Christi den Augendienst meiden und nur auf das sehen, was dem Ganzen Noth thut, und dann mit frohem und fröhlichem Herzen handeln, so wird auch unter ihnen eine allgemeine Sitte entstehen, wodurch die Ungleichheit, die das Verhältniß verdirbt, sehr im Zaume gehalten werden wird und mehr Möglichkeiten, Gutes zu wirken, zurückkehren.
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Endlich kann man nicht leugnen, daß daraus erst eine Sicherheit für das Verhältniß entstehen kann, denn das müssen wir sagen, nur wo die Wahrheit ist, können wir eine rechte Zuversicht haben. Wahrheit aber ist nicht, wo der Dienst der Augen ist und eben so nicht, wo die Willkür ist, denn die Wahrheit | ist ein Feststehendes und nicht Wechselndes. Wo nur das Veränderliche ist, da kann keine Zuverlässigkeit statt finden, da kann keiner etwas wollen, als was der Augenblick mit sich bringt. Das ists ja eben, woran auch dieser Theil des häuslichen Lebens so krankt. Kehrt nur erst die Wahrheit zurück, dann wird auch jeder Theil mehr aufgefordert, etwas Gutes darin zu suchen und alle werden es fühlen, daß sie immer festen Boden haben und die Lust des inwendigen Menschen am Gesetz Gottes wird weniger Widerstreit finden, wenn das Gute sich gestalten will; dann kann jeder Theil daran arbeiten, dem Schwachen das andre entgegenzubringen, und sich vorsetzen, was er aufrichten will. Haben wir also das nur erreicht, dann wird sich alles andre leichter ergeben und das Einzelne leichter sich beseitigen lassen. Wahrlich es ist ein großes Wort und ich muß darauf zurückkommen was der Apostel sprach in unserm neulichen Text, daß alle Dienenden sich nicht anders ansehen können, als wie Freigelassene Christi und die Gebietenden nicht anders, als wie Knechte ihres Herrn im Himmel. Wir fühlen es, was das sagen will, daß die Schrift uns Kinder Gottes nennt und überall wo in der Schrift davon die Rede ist, daß der Mensch das Verhältniß zu Gott durch Christum recht genießen soll, da stellt sie uns in dieser Herrlichkeit und Freiheit der Kinder Gottes vor. Wo aber die Rede ist von dem Geschäfte in der Welt, von dem Weinberge Gottes, den wir bearbeiten sollen, da tritt hervor, daß Er der Herr | ist, wir seine Diener. Dies Gefühl also muß uns eben so werth seyn, als jenes. Jenes ist der Grund und der Gipfel aller geistigen Größe, dieses der innerste Grund aller Gott gefälligen Thätigkeit. Daher ist es eine weise Ordnung Gottes, daß die menschliche Gesellschaft nicht bestehen kann, als so, daß das Bild des Verhältnisses der Menschen zu Gott uns überall entgegentritt, daher muß es in der menschlichen Gesellschaft Gebietende und Dienende geben und kein häusliches Leben kann vollständig seyn, wenn es dieser Sinnbilder entbehrt, wenn es außer dem Verhältniß der Aeltern zu den Kindern nicht auch das der Dienenden zu den Gebietenden so ausdrückt. So sey denn dieses unser heiligstes Streben, daß wir uns überall vorhalten unser Verhältniß zu Gott und zum Erlöser! dann werden die Einen voll seyn von dem Gefühl, daß sie durch Christum frei sind von der einzig drükkenden Knechtschaft, die das nach oben strebende Gemüth empfindet, die Andern voll von dem Gefühl, daß, wie Großes ihnen auch anvertraut ist, sie doch nichts sind, als Knechte des Herrn, der seine Diener braucht, das Reich 11 Vgl. Röm 7,22
18–20 Vgl. 1Kor 7,22
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der Freiheit der Kinder Gottes auf Erden zu bauen und so werden sie nichts seyn wollen, als Spender seiner Gnaden und solche, die mittheilen wollen das Gefühl eines Lebens, das durch ihn frei gemacht ist. Haben wir das vor Augen, so haben wir auch Gott vor Augen und den Erlöser im Herzen, erheben wir uns von allem Niederdrückenden, das das Einzelne des irdischen Daseyns hat, zu diesem Gesichtspuncte, den der Christ nie aus den Augen verlieren soll, dann wird sich auch dies Verhältniß Gott wohlgefälliger gestalten und es sich auch hier bewähren, daß wir Eine Gemeine Christi sind. Amen.
[Liederblatt vom 23. August 1818:] Am vierzehnten Sonntage n. Trin. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Du o schönes etc. [1.] Lehre mich Herr recht bedenken, / Was die wahre Weisheit sei! / Meinen Sinn darauf zu lenken, / Steh dein Geist mir mächtig bei! / Denn die Klugheit dieser Welt, / Die der Thor für Weisheit hält, / Fördert nicht mein Wohlergehen, / Und wird nicht vor dir bestehen. // [2.] Weisheit ist’s, wenn unsre Seelen, / Deines heilgen Wortes Licht / Sich allein zum Leitstern wählen, / Und mit fester Zuversicht / Diesem Licht sich anvertraun. / Denn die folgsam darauf schau’n, / Darauf ihre Hoffnung gründen, / Werden Heil und Leben finden. // [3.] Weisheit ist es, danach trachten, / Recht mit sich bekannt zu sein, / Sich nicht schon vollkommen achten, / Und den Eigendünkel scheun, / Gern auf seine Fehler sehn, / Sie gebeugt vor Gott gestehn, / Eifrig stets nach Bessrung streben, / Und sich des nicht überheben. // [4.] Weisheit ist es, Gottes Gnade / Sich zu seinem Ziel ersehn, / Und auf seiner Wahrheit Pfade / Ewgem Heil entgegengehn, / Gern nach Gottes Willen thun, / Froh in seiner Fügung ruhn, / Und wenn Leiden uns beschweren, / Ihn durch frohe Hoffnung ehren. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] Hoch steht das Ziel, der Pfad ist rauh, / Den Gott die Seele leitet! / Doch sei’s, daß keine Blumenau / Die Wanderer begleitet, / Das Herz ruft doch, hinauf, hinauf, / Und neue Kräfte giebt der Lauf, / Und oben winkt die Palme. // [2.] Es gilt ja doch nicht uns allein, / Es gilt dem Wohl der Brüder, / Was wir als Kraft dem Guten weihn, / Das kehrt als Segen wieder. / Wo sich ein Gotteskind bemüht, / Da wird ein Wunsch gestillt, da blüht / Bald Hoffnung bald auch Freude. // [3.] Es gilt ja nicht dem Erdentand; / Es gilt dem innern Leben! / Nur was das Herz als Pflicht empfand, / Kann Ruh dem Herzen geben. / Der Gottgefällge Wille schon / Bringt in sich selbst zum Gotteslohn / Den hohen Gottesfrieden. // [4.] Sei der Beruf uns heilig dann, / Wozu er auch verpflichtet, / Wie er auch wohlthut oder wann, / Ob er belehrt,
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ob richtet, / Ob er die Erde reicher macht, / Ob über Andrer Wohlsein wacht; / Er sei des Herzens Freude. // [5.] Und was uns Gott, was eigne Wahl / Zu sein uns hat geheißen, / Wir wollen’s sein und allzumal, / In treuem Sinn Gott preisen, / Drück immerhin des Lebens Müh, / Und lohne karg an Früchten sie, / Es gilt ja dem Gewissen. // [6.] Und ob die Welt auch uns verkennt, / Ob viel das Herz entbehret, / Was man Entsagung Opfer nennt, / Das alles sei gewähret. / Wer gern die Schuld durch Leiden sühnt, / Wer Gott in frohem Muthe dient, / Nur der hat recht gelebet. // (Riga. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Seelenbräutigam etc. [1.] Steure meinem Sinn, der zur Welt will hin, / Daß ich nicht von dir mag wanken, / Sondern bleiben in den Schranken; / Sei du mein Gewinn! gieb mir deinen Sinn! // [2.] Deines Geistes Trieb in die Seele gieb, / Daß ich wachen mög und beten, / Freudig vor dein Antlitz treten! / Ungefärbte Lieb in die Seele gieb. // Nach der Predigt. – Mel. Du o schönes etc. Weisheit ist es stets bedenken, / Daß wir hier nur Pilger sind, / Wunsch und Hoffnung darauf lenken, / Was nicht mit der Zeit zerrinnt, / Seine Augen unverwandt / Nach dem ewgen Vaterland / Richten, und mit Eifer streben / Für die Ewigkeit zu leben. //
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22. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Ps 68,3–4 Drucktext Schleiermachers; Predigt am 18ten Weinmond, 1819, S. 1–16 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 77–86; 21844, S. 110–119 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 61–69 Andere Zeugen: Autograph Schleiermachers; SN 147, Bl. 3r–v (vgl. KGA I/ 14, S. 298–299, vgl. Einleitung, Punkt II.A.) Nachschrift; SAr 50, Bl. 6r–15v; vermutl. Jonas, in: Balan Besonderheiten: Lieder im Anhang des Einzeldrucks (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Predigt am 18ten Weinmond 1818 in der Dreifaltigkeits-Kirche gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin, 1819. |
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Wer mit der Veranlassung unsrer heutigen Feier unbekannt, unseren lezten Gesang gehört hätte, könnte meinen, wir wollten uns mehr anschicken heute einen Tag der Fürbitte zu feiern für eine Zukunft, die uns noch bevorsteht, als, wie es doch wirklich ist, einen Tag dankbarer Erinnerung an jene große göttliche Errettung in der uns nächsten Vergangenheit. Aber, m. Geliebten, können und dürfen wir beides von einander trennen? Jede Fürbitte zu Gott um Segen und Gedeihen für die Zukunft, was sie auch würdiges betreffen möge, sie kann, weil Gottes Wohlthat und Gnade immer früher ist als unser Wille und Entschluß, nur ruhen auf dem innigen Gefühl der Dankbarkeit für das, was wir schon von Ihm empfangen haben, für die Wohlthaten, womit er uns auf demselben Gebiet schon gesättigt hat und überhäuft. Und eben so, wenn wir in frommem Sinne in die Vergangenheit sehen – jemehr unser Blick auf einen bedeutenden Punkt gerichtet ist, und wir aufgeregt werden zur Dankbarkeit gegen Gott: müssen wir nicht um desto ernster uns selbst fragen, ob wir auch werth sind zu danken für seine Gaben, durch den Gebrauch, den wir davon ma-
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13 Wille] Willen 6 Vgl. Lied nach dem Gebet (unten Anhang) bei Leipzig vom 16.–19. Oktober 1813.
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chen? ob wir auch durch ein kräftigeres Leben zu seiner Ehre verdienen Dank und Lob für seinen gnädigen Beistand in sei | nen Vorhöfen darzubringen? darum sei denn dieses die Richtung, die wir heute unsrer gemeinsamen Betrachtung geben. Wir wollen in die Tiefen unseres Herzens hinabsteigen, uns prüfen vor dem Herrn, und Ihn selbst um Reinigung anflehen, damit ihm wohlgefällig und nicht vergeblich unser Dank zu ihm aufsteige. Text. Psalm 68, 3. 4. „Wie das Wachs zerschmilzet am Feuer, so müssen umkommen die Gottlosen vor Gott. Die Gerechten aber müssen sich freuen und fröhlich sein vor Gott und sich freuen von Herzen.“
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Je mehr wir in jenen Zeiten, deren Gedächtnis wir auch heute mit allen unsern vaterländischen Brüdern begehen, fest überzeugt waren, daß vorzüglich um alles gottlose Wesen, das so schnell Wurzel zu fassen drohte, aus unserer Mitte zu entfernen, um die alten Grundvesten der Frömmigkeit und Treue, welche wankend gemacht werden wollten, zu erhalten, und die natürlichen Bande der Liebe, die durch Eindrängen des fremden gelöst wurden, wieder zu befestigen, jener gefahrvolle Kampf mußte geführt werden: – wohlan, um desto mehr muß uns darum zu thun sein, indem wir das Andenken des göttlichen Beistandes in diesem Kampfe feiern, daß wir nicht solche sein mögen, die auch vor Gott zerschmelzen müssen wie Wachs am Feuer; um desto mehr muß uns daran liegen, daß unsere Freude eine herzliche Freude vor Gott sei, und unser ganzes Wesen, durch Dankbarkeit ihm aufs Neue geweiht, vor ihm auch in Wahrheit und Treue bestehen möge. Was aber eine Freude vor Gott sei, wie sie sich von den vergänglichen Freuden an der Welt und an sich selbst unterscheide, das wäre, sofern es sich nicht jeder selbst beantworten kann und schon beantwortet | hat, eine große und für Eine Betrachtung zu große Frage. Ich will mich heute deshalb nur beschränken zu zeigen: „Wovon unsere Freude frei sein müsse, wenn sie den Namen einer Freude vor Gott verdienen soll.“ Dabei schweben mir drei Hauptstücke vor, auf die ich eure Aufmerksamkeit richten will, daß nämlich jede Freude, die vor Gott bestehen soll, frei sein muß 1. von Falschheit; 2. von Trägheit; und 3. von Eitelkeit. 13–14 Schleiermacher spielt auf die Befreiungskriege von 1813–1815 an.
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Erster Theil. Unsere Freude über die Errettung, die Gott uns wiederfahren ließ, sei frei von Falschheit. Wir wissen es, daß dazumal, als der Kampf bevorstand, dessen – wenn auch nicht einzig doch vorzüglich entscheidenden Tag wir heute feiern, nicht Alle, die wir als Brüder und Genossen des Vaterlandes begrüßen, über die große Angelegenheit einerlei Sinnes waren. Wenn Einige schon lange des Augenblickes harrten, der das Verlangen der Gemüther einen natürlichen und würdigen Zustand wieder zu erkämpfen endlich freilassen werde: so gab es Andere, die noch bedächtlich zagten, meinend, der damalige Zustand der Dinge sei immer noch zu ertragen, und es sei weiser gehandelt sich ihn gefallen zu lassen, als durch einen ungewissen Kampf voreilig alles auf’s Spiel zu setzen. Diejenigen nun welche so dachten und redeten, sofern sie nur nachher als der Entschluß gefaßt war, wiewol gegen ihre Meinung, doch alles gethan, was das Vaterland und das Gesez von ihnen forderte, müssen uns billig immer ehrenwerth bleiben, weil sie redlich das Ihre für die gemeine Sache | beigetragen. Denn das erste bei dem Entstehen eines großen Entschlusses ist immer das, daß Jeder suche seine Ueberzeugung geltend zu machen, das Zweite, daß er sich redlich dem füge, was zulezt der gemeinsame Wille geworden ist. Aber haben die folgenden Begebenheiten nicht auch den Sinn jener unserer Brüder geändert, und sie meinen doch an der allgemeinen Freude eines Gedächtnißtages wie der heutige gleichen Theil nehmen zu können: so müssen wir sie wohl aufmerksam darauf machen, daß ihre Freude eine andere ist, als die der übrigen, und daß sie nicht ganz das sein kann, was die Freude vor Gott sein soll. Denn bei sich selbst wol und auf irdische Weise mag sich einer freuen, wenn das, was er mit halber Ueberzeugung oder ohne Ueberzeugung gethan, einen glücklichen Ausgang genommen hat, vor Gott aber kann er sich nur schämen. Denn des Aeußeren dürfen wir uns nicht vor Gott freuen, der selbst kein Aeußeres hat und vor dem alles Aeußere nichts ist, sondern nur des Innern; nicht der Erfolge und der Begebenheiten, sondern der Kraft und der That, aus der sie hervorgingen. Daran aber können sich diejenigen doch nicht freuen, welche grade die Gesinnung, welche damals thätig war, nicht für die rechte halten, sondern dem Menschen ein noch größeres Maaß von Leidensfähigkeit zumuthen um das zu ertragen, was ihn empört, und sich noch tiefer unter das zu beugen, was ihm nur als die äußere Nothwendigkeit erscheinen kann; denn diese erfreuen sich nur des Erfolges, nicht der That. – Doch solcher mag es nun viele geben oder wenige; wir andern aber, 3–5 Gemeint ist hier die Völkerschlacht bei Leipzig.
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wenn wir heute beisammen sind, Gott zu danken, daß er damals die Herzen der Menschen und Völker dahin lenkte nicht länger die unwürdigen Ketten ertragen zu wollen, daß er Muth, Hoffnung und liebevolle Begei|sterung in die Gemüther legte: ist auch unser Dank dann ein wahrer Dank, und kann auch unsere Freude eine Freude vor Gott sein, wenn seitdem diese Gesinnung, über die wir uns freuen, in unseren Herzen nicht mehr mit derselben Kraft waltet, wenn wir jezt nicht mehr von demselben Eifer ein würdiges und Gott wohlgefälliges gemeinsames Leben herzustellen beseelt sind, nicht mit einer jener ersten Begeisterung würdigen Beharrlichkeit das zu erhalten und zu vervollkommnen streben, was uns damals auf’s Neue durch Gottes Segen zu Theil ward? wenn wir jezt gleichgültiger geworden sind gegen den Unterschied zwischen dem, was des Menschen würdig ist, und was seiner unwürdig ist? wenn wir jezt umkehren, und nach der alten verkehrten Weise ein Jeder das Seine sucht, Jeder nur trachtet aus dem gemeinsam erworbenen Schaze so viel als möglich für sich zu bekommen, und nicht mehr mit jener ursprünglichen Liebe Alle vereint sind, um sich selbst verläugnend das gemeinsame Wohl zu suchen? Nein m. Gel. dann ist unsere Freude keine Freude vor Gott, denn Gott ist ein Gott der Wahrheit; dann muß das falsche Gemüth vor ihm zerschmelzen wie Wachs, und die leere Freude, mag sie sich zeigen, wie sie will, und sich fromm anstellen wie sie will, sie wird ihre Lust am meisten haben in der Lust dieser Welt; aber der Ausruf unseres Textes, die Gerechten müssen sich freuen und fröhlich sein vor Gott, wenn er in die falsche Seele klingt, so klingt er wie ein Wort des Rächers, der ihre Freude zerstört. Nur wenn der alte Eifer nicht erkaltet ist, nur, wenn das noch Wahrheit ist, was wir damals als die heiligste Wahrheit unseres Lebens fühlten, daß der Mensch nicht sich selbst da sei, sondern der gemeinsamen Sache, daß das Leben für die Brüder zu wagen der Ruf Gottes in der Seele sei, und daß nicht die Macht der Will|kühr, sondern die wohl verschlungenen Bande des Rechts die sichersten Stüzen der Frömmigkeit und des geistigen Wohles seien, nur wenn diese Ueberzeugung in uns jetzt noch wie damals lebt, dann freuen sich unsere Herzen vor Gott; dann vermögen wir auch, wenn nicht ohne Schmerz und Klage, doch wenigstens mit geläutertem Gefühle des Herzens, an den Preis dieses Kampfes zu denken, derer zu gedenken, welche die Erndte der Freude mit ihrem theuren Blute gedüngt, welche den Glauben und die Kraft, die uns beseelte, mit ihrem Tode besiegelt haben; das falsche Herz aber muß gewiß besonders bei dieser Erinnerung vor Gott zerschmelzen wie Wachs. – 10–11 vervollkommnen] vervollkommen
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Zweiter Theil. Aber unsere dankbare Freude vor Gott muß auch frei sein von Trägheit. Das scheint eigentlich überflüssig zu sagen; denn Trägheit und Freude stimmen schon nicht zusammen. Die Freude regt das Gemüth auf, so daß es nichts ist als Kraft und Leben, nichts als Thätigkeit; und Freude vor Gott kann noch viel weniger etwas anderes sein; denn es ist ja der immer Regsame, der immer Thätige, den wir dann vorzüglich im Herzen empfinden. Aber die Verkehrtheit des Menschen weiß auch das zu trennen, was Gott innig vereint hat, und das zu verbinden, was nach der natürlichen Ordnung sich widerstreitet. Ja, es giebt auch eine träge Freude über so große Begebenheiten, als die deren wir an Tagen, wie der heutige ist, gedenken. Wer sich nur freut, daß glücklich überstanden ist, was uns quälte, daß verstopft ist die Quelle mannichfaltiger Noth; Wer nach dieser glücklichen Wendung der Dinge auf den Früchten jener Anstrengungen ausruhen will | und sich jetzt vorzüglich dessen freut, daß die Zeit der Anstrengung vorübergegangen ist, und daß nun ohne Fortsetzung gleicher Anstrengung, ohne ununterbrochene Thätigkeit, nachdem die Hindernisse glücklich hinweggeräumt sind, das Wohlergehen Aller oder wenigstens sein eigenes von selbst erblühen müsse, der freut sich doch, wenn er sich überhaupt freut, mit einer trägen Freude. Und von dieser, mögen wir sie nun sonst denken können oder nicht, müssen wir doch das gewiß denken und empfinden, daß sie eine Freude vor Gott nicht sein kann. Vor dem Ewigen können wir uns dessen, daß etwas vorübergegangen ist, nicht freuen; was nur die Sache des Augenblickes war, verschwindet bei dem Gedanken an Ihn und ist mit demselben nicht zu verbinden. Daher ja rührt es auch, daß wir mit der bloßen Lust der Sinne, sofern sie nichts ist als das, den Gedanken an Gott gar nicht verbinden und uns deren vor Gott nie erfreuen können, weil die Lust der Sinne jeden Augenblick vergeht und jeden Augenblick erneut werden muß, wenn sie dauern soll. Die sich nun nicht besser an dem heutigen Tage als mit jener stumpfen Freude freuen, daß die vormalige Noth nicht mehr ist, wodurch können sie sie anders beleben wollen, was macht ihren Zustand noch der Freude ähnlich, als die Hoffnung nun die Lust des Lebens zu genießen statt der Noth? Und so können die Genußsüchtigen, die träge sind zum geistigen Thun, sich auf keine Weise freuen vor Gott. Aber auch unter denen, die sich einer wirklichen Theilnahme an den Thaten jener Zeit bewußt sind, deren Andenken uns heute zur Freude begeistert, müssen wir nachfragen, ob wir nicht einige Träge 11–12 Gemeint ist die Völkerschlacht bei Leipzig.
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finden. Gewiß wenigstens werden wir Alle zwei verschiedene Zustände zu unterscheiden wissen. Neben den Vielen, die, indem sie jeder nach seinem Verhältniß die An|strengungen jener Zeit theilten, auf eine ursprüngliche Weise mit ergriffen waren von dem gemeinsamen Eifer, gab es auch Andere, in denen eben diese Theilnahme nur ein vorübergehender Rausch war, die sich damals fähig zeigten, zu thun und zu tragen, was sie vorher nicht vermocht hätten und vielleicht jezt auch nicht wieder vermöchten. Aber wie schon damals in dem unsichern ihrer Gemüthsstimmung sich der ganze Wechsel der Begebenheiten abspiegelte, indem sie sobald ungünstige Umstände eintraten, gleich voll Furcht waren über die Dinge, die da kommen sollten, und geneigt im Voraus schon die Schuld des Unglücks auf diejenigen zu werfen, von denen auch sie waren fortgerissen worden; wie viel mehr muß seitdem, was auf eine so äußere Weise entstanden, in sich ohne Kraft nur das vergängliche Werk eines bedeutenden Augenblicks war, sich völlig abgestumpft haben! Und gewiß von allen, die nur so an jenen großen Thaten Theil genommen, können wir heute auch nur eine matte und stumpfe Freude darüber erwarten, welche nichts ist als die träumerische Erinnerung an einen ungewohnten Zustand, in dem sie sich eine kurze Zeit befunden, ohne zu wissen woher er gekommen war, und wohin er sich verloren hat, jezt aber recht gut wissen, daß sie sich nicht wieder zu demselben erheben könnten. Die Trägheit und Ohnmacht der eignen Seele bildet den innersten Kern ihres Lebens, der weder jezt noch je einen lebendigen Keim der Freude hervorzutreiben vermag; und wollen sie sich mit uns freuen, so erleiden sie auch dies nur durch Ansteckung wie jenes, so daß auch ihre Freude nur ein bleicher Widerschein ist von der wahren lebendigen Freude derer, in denen auch der Eifer wahr und lebendig gewesen ist, und die noch jezt beharrlich und unvertilgbar dieselbe Kraft in sich fühlen mit der sie wie damals die trägen Seelen | ergreifen und mit sich fortreißen möchten. Diesen nur allein gehört ihre eigene und auch jener Freude, und nur sie können sich heute wahrhaft vor Gott freuen, der wie der Lebendige und Waltende, so auch der Belebende ist und der Beseelende; jene Trägen aber würden es vergeblich versuchen mit ihrer kraftlosen Freude vor Gott zu treten, dessen Gedanken vielmehr ihr kaltes Herz nicht fest zu halten vermag. Freuen aber können wir uns nur vor ihm, wenn wir eine immer rege Kraft zum Guten in uns fühlen, sie fühlen als seine Gabe, als einen Ausfluß von ihm, als das Wirken seines Geistes in uns. Ja, nur wenn wir fortfahren in der Thätigkeit, die wir damals bewiesen, nur, wenn Jeder das Bild dessen, was Recht ist vor Gott und wohlgefällig vor den Menschen, denen, die sich in träger Ruhe vertiefen wollen, stets von Neuem vorhält, ihnen immer vor Augen stellt, was uns noch gebricht, wie viel Feinde noch
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zu besiegen sind durch die Kraft des Glaubens und der Liebe; nur wenn wir so gesinnt sind, können wir uns gemeinsam vor Gott alles Guten und so auch jener großen Tage erfreuen. Und nur solche Freude ist auch eine Freude von Herzen, wie ja das Herz der Quell des Lebens und der Thätigkeit im Menschen ist, aller Bewegung, die ihn durchströmt und von ihm aus sich über andere verbreitet. Daher wenn die Gottlosen vor dem Herrn schmelzen wie Wachs, so müssen wir wohl sagen, daß auch die Trägen Gottlose sind; wenigstens zerschmelzen sie schon vor uns wenn sie nicht auf’s Neue stets gestählt werden durch die in sie eindringende Kraft Anderer, viel weniger vermag ihre Freude den Gedanken an Gott zu ertragen. Denn was todt ist und träge fürchtet und meidet das Leben, wie das Falsche die Wahrheit. | Dritter Theil. Unsere Freude muß endlich frei sein von aller Eitelkeit. Es giebt nämlich, m. a. Fr. eine zwiefache Art die menschlichen Dinge anzusehen. Einerseits fühlen wir wohl, daß alles Irdische und Vergängliche an sich nichts ist, daß alles nicht nur seinen Ursprung von dem Ewigen hat, sondern stets auch von ihm wirklich getragen wird und gehalten, und nur in ihm leben, weben und sein kann. Wenn wir nun, was uns irgend betrifft, so betrachten und empfinden: so betrachten wir es in Gott, und es kann nicht fehlen, daß nicht die wahre Freude an dem Herrn in uns sei. Anderseits wirkt der Ewige nichts vor unseren Augen unmittelbar, sondern in menschlichen Dingen alles durch Menschen und durch die Einflüße der äußeren Natur. Darum zieht mit Recht immer wieder der einzelne Mensch und die einzelne Begebenheit unsere Aufmerksamkeit auf sich. In dieser Betrachtung werden wir denn von jedem Einzelnen auf ein Anderes damit verbundenes, von jedem späteren auf ein Früheres zurückgetrieben; aber je mehr wir diese Betrachtungsweise von jener trennen, je mehr wir uns in diesem Kreislaufe begnügen und wohlgefallen, um desto mehr sind wir vereitelt in unserm ganzen Sinn und Wesen, und es ist nur die Lust oder der Schmerz an dem vergänglichen, was unser Gemüth bewegt. Soll also die Freude die wir heute empfinden vor Gott bestehen, so darf sie nicht die Freude sein an dem, was dieser oder jener Einzelnes gethan hat; sie darf nicht zurückgehen, ich will nicht sagen, auf ein eignes Verdienst, auch nicht einmal auf das Verdienst einzelner Anderer. Denn sollen wir uns vor Gott freuen, so können wir uns nur freuen der That, die Er, der Herr, unter uns gethan hat. Freuen wir | uns 19 Vgl. Apg 17,28
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aber unseres eigenen Werkes, so freuen wir uns auch nicht mehr vor Ihm so vergeht uns das Gefühl des Ewigen, und das Werk des Herrn verwandelt sich uns in das eitle und unerklärliche Spiel irdischer Kräfte, Thaten und Leiden; ja je länger wir hinein sehn, um desto mehr glauben wir nur jenes Spiel des Zufalles zu erblicken, das sich dem Menschen immer zu seiner Strafe aufdringt, wenn er Gottes vergißt. Und wie eitel m. a. Fr. ist solche Freude! wie wenig besteht sie! wie zerrinnt jedes Verdienst des Menschen, das wir auch noch so uneigennützig erheben wollen, wenn wir denken, wie es oft gar nicht hätte erworben werden können, wenn irgend ein äußerer Umstand, über den Niemand Herr war, anders eingetreten wäre! Aber gewiß, zu unserm Trost sei es gesagt, ist irgend ein Zusammenfluß menschlicher Begebenheiten geeignet, uns von der Eitelkeit solcher falschen Freude zu heilen, so sind es jene großen Begebenheiten. Wer sich freuen will an menschlichem Wiz und Verstand, an vollendeter Kunst und wohlberechneter Geschicklichkeit, der möge sich einen andern Gegenstand suchen. Denn über diesen ist das entgegengesezte Gefühl viel zu allgemein, daß kein Einzelner ist, von dem man sagen könnte, er habe es gethan, keine einzelne Begebenheit, auch nicht die besondere der heutigen Feier, von der man sagen könnte, nachdem sie geschehen, sei nun alles sicher gewesen; sondern, sehen wir auf das Einzelne, halten wir uns das Menschliche darin vor, so werden selbst die Helden und Künstler des Krieges nicht leugnen, daß auch die schönsten Thaten überall durchwebt gewesen von Fehlern, und daß diese Gott eben so zum Segen hat gereichen lassen, wie das am besten ausgeführte. So daß hier auch jedem vorzüglich einleuchtet, wie allein Gott die Ehre gebührt, und wir uns hier am leichtesten frei halten | können von aller eitlen Freude. Und so kommen wir zurück auf dasjenige womit wir anfingen. Wollen wir unsere Freude von dem Inneren ablenken auf das Aeußere, von der Gesinnung auf den Erfolg: so wird ohnfehlbar auch die Eitelkeit anfangen, ihr Spiel zu treiben; jeder Einzelne kann sich dann dies und jenes zuschreiben und den Spuren der Mitwirkung nachgehen bis ins Unendliche, und Jeder sich unter denen, die am meisten mitgewirkt haben Einen aussuchen um ihn zum Götzen zu machen, dem er die Ehre giebt; denn ist die Eitelkeit einmal rege, so kann sie alles gestalten, wie sie will und mag. Ist aber unsere Freude auf Gott gerichtet, auf die Kräfte, die der Herr, damals erregte, dann werden wir zu einer entgegengesezten Ansicht getrieben, und es wird das Gefühl in uns lebendig, daß der Herr gab, nicht nur das Wollen, sondern auch das Vollbringen. Dann sehen wir ein, es ist sein Rath gewesen, 35 Einen] Eiuen
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in dem beschlossen war, was geschah; und dann fühlen wir auch, daß wir uns betrügen würden um die reinste Freude, wenn wir an Tagen, wie der heutige ist, der Eitelkeit den geringsten Spielraum lassen wollten. Nein aller leere Schein verschwinde unter uns! die Freude vor Gott besteht allein; auch die eitle Freude hat ihr Theil an jener Gottlosigkeit des Wesens, das zerschmilzt vor Gott, wie Wachs. Denn Dankbarkeit und Vertrauen sind zwei unzertrennliche Gefährten. Schreiben wir uns selbst und uns untereinander zu, was Gott Großes gethan, so können wir auch kein anderes Vertrauen hegen als das auf menschliche Kraft und auf menschlichen Rath. Laßt uns doch einmal fragen, ob die Sachen jetzt schon also stehen, durch das, was dazumal geschah, daß uns ein solches Vertrauen genügen kann? Müssen wir nicht wenn wir uns unsere Bedürfnisse unsere Wünsche | unsere Hoffnungen lebendig vor Augen stellen, auch jezt noch bekennen, Menschenhülfe ist kein Nutz, der Herr ists allein, auf den wir uns verlassen mögen? So ist es denn auch nur die von aller Eitelkeit ferne Freude vor Gott, aus der das rechte Vertrauen hervorgehen kann, ein Vertrauen, nicht daß er immer werde in den Zeiten der Noth die Begebenheiten wieder zu unserm Nuzen und Ruhm lenken, sondern ein Vertrauen, daß er uns nicht verlassen werde mit seinem Geiste, daß der der damals so viel aufopfernde Liebe, so viel reine Treue und Glauben unter uns aufgehen ließ, uns auch diesen Schaz bewahren und ihn uns immer aufs Neue hervorrufen werde durch die Kraft seines Geistes; nicht solch ein Vertrauen, daß nachdem die äußern Feinde besiegt sind, wir den menschlichen Dingen ihren Gang lassen dürfen, bis eine Zeit komme, wo es wieder Noth thut äußerlich zu kämpfen, sondern das Vertrauen, daß der Herr die Herzen der Seinen zusammenhalten werde zu einer lebendigen Einheit, daß er das Auge des Geistes erhalten werde, auf daß sie sehen, was Recht ist, daß er in der Zeit des Friedens so gut unter uns wirken werde, als er zu seinem Preise wirkte in der Zeit der Gefahr; das Vertrauen, daß der Herr mit den demüthigen Herzen ist, daß er die nicht verläßt, die sich nicht auf sich selbst verlassen, daß er seinen Ruhm nicht untergehen lassen wird unter denen, die sich nichts rühmen, als seiner Kraft, und daß in denen eine nie versiegende Kraft der Lust bleibt, die sich in allen Dingen nur Gottes freuen. – So laßt uns denn unsere Herzen reinigen von der Falschheit, von der Trägheit und Eitelkeit! denn, wir fühlen es, sind diese besiegt, so wird schon von selbst die reine und unvergängliche Freude vor Gott in uns erblühn. Darum ist auch heute unter uns aufgerich|tet der Tisch des heiligen Mahles. Vereinigt euch Alle im Geiste mit denen, die es heute genießen werden. Wenn wir uns einigen mit dem, der
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allein unter Allen, die vom Weibe geboren sind, sagen konnte, ich bin der Weg und die Wahrheit; wenn wir uns durchdringen lassen von dem, dessen Wahlspruch es war, der Vater wirkt und ich auch; wenn wir uns einigen mit dem der überall davon erfüllt war, daß ihm nur gezieme, des Vaters Willen zu thun, daß er in Gott lebe und Gott in ihm: dann werden wir uns dem ewigen, unvergänglichen Leben, der Befreiung von aller Eitelkeit immer mehr nähern, und immer würdiger werden der großen Dinge, die der Herr an uns that. Amen. Ja, Herr, dir sei Preis und Ehre gebracht, du hast uns aufgerichtet, da wir erdrückt waren und fast vergingen! du wollest uns wiederum gestalten zu einem Gefäß der Ehre, nachdem wir verachtet waren und gestaltet wie ein Gefäß des Zorns! du hast es allein gethan, dir seien Aller Herzen geweiht. Walte du in unserm Innern, wie du äußerlich unter uns gewaltet hast! gestalte uns durch deinen Geist immer mehr zu einem Volke deines Preises, zu einem königlichen und priesterlichen Volke! regiere uns durch dein Wort und deinen Geist, daß wir immer würdiger werden des höchsten Namens, den wir führen und der uns kommt von deinem Sohne. – So laß denn ferner unter uns gesegnet sein u. s. w. (wie das Kirchengebet lautet.) Amen.
[Lieder zur Predigt am 18. Oktober 1818:] Gesänge. Vor dem Gebet. – Mel. Herr Gott dich loben wir etc. [1.] Dich Gott dich preisen wir. / Dank Vater, dank sei dir! / Du führst die Sonnen ihre Bahn, / Dich fleht das Kind des Staubes an. / Hüllst du auch deinen Pfad in Nacht, / O so verherrlicht deine Macht / Doch segnend einst in Liebe sich, / Und frohe Herzen suchen dich. / Was sich auch hebt, was fällt, / Du bleibst der Herr der Welt; / Wie du es warst bis heut, / Bist du’s in Ewigkeit. // [2.] Auch wo auf blut’ger Schlachten Feld / Der Tod die grause Erndte hält, / Wo zwischen Brüdern furchtbarn Streit / Die heil’ge Pflicht uns selbst gebeut, / Auch da Herr waltet deine Macht, / Du lenkest jeden Sturm der Schlacht. / Ob stolz die Kraft, ob kühn der Muth / Viel angestaunte Thaten thut, / In deiner Hand nur ruht der Sieg, / Das Ziel von jedem Völkerkrieg. / Heil unsrer Brüder Heeren Heil, / Uns ward der Sieg durch dich zu Theil. // [3.] Wie furchtbar wie verheerend ist / Empörter Völker blut’ger Zwist! / Ach Angst und Noth und Tod umgab / Uns drohend, offen stand das Grab, / Und unsre Brüder sanken hin, / Bei Schaaren in das Grab dahin; / 1–2 Vgl. Joh 14,6
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Und Schmerz, der Mutterherzen brach, / Und Thränen flossen ihnen nach. / Gott schrecklich war der Völker Zwist! / Dank dir allgütiger, er ist / Durch dich, der Erd’ und Himmel trägt, / Zum Heile aller beigelegt. // [4.] Das Schwerdt, das Bruderblut vergoß, / Es ruht; aus deiner Güte Schooß, / Strömt uns schon lang des Friedens Ruh, / Und Ueberfluß und Seegen zu. / Hier liegen wir und beten an, / Dich Gott, der das an uns gethan. // [5.] Laß ihn laß ihn beständig sein, / Den Frieden, deß wir itzt uns freun! / In seinem Schooße laß uns nun / Und spät noch unsre Nachwelt ruhn. / O segne Gott das Vaterland, / Beglück’ und segne jeden Stand! / So lang du uns noch wallen heißt / Im Pilgerthal, laß deinen Geist / Den treuen Führer mit uns sein, / Dann führ’ zur ew’gen Ruh’ uns ein. Amen. // Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft etc. [1.] Herrscher dir der mächtig waltet, / Und überall mit Weisheit schaltet, / Der Herrschaft giebt und Herrschaft nimmt; / Dir, der bösen Anschlag wendet, / Und Heil der Erde Völkern spendet, / In Einklang jeden Mißlaut stimmt, / Dir Gott tönt unser Dank, / Dich preist der Lobgesang, / Hocherhabner, Allwaltender, der Welten Herr, / Sei unser Schirm Barmherziger. // [2.] Licht Gerechtigkeit und Wahrheit, / Umleuchte mit erhabner Klarheit, / Des Königs Herz, des Königs Thron! / Keinen Tag müss’ er verlieren! / Du höchster Herr, hilf ihm regieren, / Gieb du ihm Kraft, sei du ihm Lohn! / Sein milder Herrscherblick / Seh auf des Volkes Glück, / Wohlfahrt ströme im ganzen Land auf jeden Stand, / Durch seine seegensreiche Hand. // [3.] Weisheit wollst du Herr gewähren / Des Fürsten Räthen, und sie lehren, / Was recht was wahr ist, was beglückt. / Jeder achte das für’s größte, / Und jedem sei nur das das beste, / Was unser ganzes Land erquickt. / Der Eintracht festes Band / Verbinde Stand mit Stand, / Aufzuopfern gemeinem Heil sein eigen Theil, / Ist Christenpflicht ist Bürgerheil. // [4.] Redlichkeit und lautre Tugend / Zier’ unsre Männer unsre Jugend, / Und Wahrheit jegliches Gemüth; / Ernste Zucht und fromme Sitte / Wohn’ überall in unsrer Mitte, / Von Andacht sei das Herz durchglüht! / Des Glaubens helles Licht, / Entzeuch’ uns Vater nicht, / Denn es leuchtet zu Dir o Gott nur dein Gebot / Hinauf durch Noth durch Schmerz und Tod. // Unter der Predigt. – Mel. Lobe den Herren etc. Nahet anbetend dem Gnädigen, nahet beglückte, / Singt ihm, er ist’s der die Rettung vom Himmel uns schickte; / Preiset ihn hoch! / Weg ist das härteste Joch, / Das unser Vaterland drückte. // Nach der Predigt. – Mel. Allein Gott in der Höh’n [1.] Erhebt, erhebt Gott immerdar, / Den Geber aller Güter! / Er ist und bleibet wie er war, / Der Seinen Freund und Hüter; / Gleich herrlich so von Rath als That, / Hilft er wie er geholfen hat. / Ihm sei allein die Ehre. // [2.] Wir traun auf dich, nur wollst du auch / Uns wahre Weisheit lehren, / Daß deiner Güte rechten Brauch / Wir nicht in Mißbrauch kehren, / Und nicht durch das, was dir mißfällt, / Und nicht durch eitle Luft der Welt, / Uns eigne Noth bereiten. //
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Besonderheiten:
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24. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 13,2 Nachschrift; SAr 41, Bl. 49r–54r; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 161–181 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 665–676; 21843, S. 645–656. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 123–139. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, 4 S. 174–196; 1860, S. 154–173. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 80–90. – Eine Auswahl aus seinen Predigten, Reden und Briefen, ed. Stage, 1893, S. 25–36. – Werke, Bd. 3, 1910, 1911, 21927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 359–376. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 179–196; 21927, S. 359– 376 Nachschrift; SAr 52, Bl. 9r; Gemberg Teil der vom 31. Mai 1818 bis zum 15. November 1818 gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Vormittagspredigt am 1. Nov. 1818. M. A. F. Wir haben in einer Reihe von Betrachtungen das Wesentliche des christlichen Hausstandes nach Anleitung der heiligen Schrift uns vorgehalten und wenn das mancherlei Gegenstand zu ernstem Nachdenken wird gegeben haben, so hoffe ich, daß es viele Veranlassung gegeben hat, Gott zu preisen für die Gnade, die er uns als Christen in dem christlichen Hausstande erweiset. Denn wahrlich, wenn der christliche Hausstand so eingerichtet ist, wie das Wort Gottes verlangt, wenn der Geist der Liebe überall darin wohnt, wenn jedes Verhältniß als göttliches Gesetz, als nothwendig im Glauben ergriffen wird, wenn jeder seine Stelle im Hause ausfüllt, damit 2–7 Vgl. die bisherigen Predigten über den christlichen Hausstand am 31. Mai 1818 vorm., 14. Juni 1818 vorm., 28. Juni 1818 vorm., 12. Juli 1818 vorm., 26. Juli 1818 vorm., 9. August 1818 vorm., 23. August 1818 vorm.
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er seine Stelle im Reiche Gottes verdiene, dann ist solch ein Verein, mehr als der einzelne, auch der allervollkommenste Mensch es seyn kann, ein Tempel Gottes, in dem der Geist Gottes wohnt. Wohl könnte man sagen: wenn ein jedes Hauswesen diesem Bilde gleicht, so haben die, welche es bilden, so weit der Mensch das sagen kann, an sich genug so wie der Herr unter ihnen wohnt und sich ihnen gnädig erweiset, und je mehr sie diese Segnungen fühlen, desto weniger müssen sie scheinen, etwas außer ihrem Kreise zu bedürfen; aber der Mensch soll nicht seinem Bedürfniß allein leben, sondern dazu sind wir ein Volk von Brüdern, daß wir untereinander und aneinander Gott den Herrn preisen sollen. So wenig der Einzelne, der ein Tempel Gottes heißt, noch weniger soll ein christliches Hauswesen sich völlig verschließen, sondern im Gefühl des Reichthums der göttlichen Gnade bereit seyn, eben diese Gnade andern zu zeigen, damit auch Gott verherrlicht werde. Daß ein christliches Hauswesen sich nicht verschließt vor der Welt, daß es auch andre vorübergehend in sich aufnimmt und Verbindungen außer sich erhält, das finden wir überall, so weit das menschliche Geschlecht sich über die erste Rohheit erhoben hat, das ist die Gastfreiheit, welche die Menschen bildeten. Eben aber weil dies ein allgemeiner | Zug ist, wodurch sich das brüderliche Wesen der Menschen zu erkennen giebt, so muß es uns nothwendig und natürlich scheinen, daß die Gastfreiheit der Christen, die sich auf das Bewußtseyn bezieht, daß ihr Haus ein Tempel Gottes ist, etwas andres ist, ein ganz andres Gepräge an sich trägt und daß auch hierin sich etwas Höheres zeigen müsse, als was im Allgemeinen sich uns darbietet. So laßt uns denn auch darüber die Schrift hören und zu Herzen nehmen, was sie uns sagt. Tex t. Hebr. 13, 2. Gastfrei zu seyn, vergesset nicht, denn durch dasselbe haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.
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Die Ermahnung des heiligen Schriftstellers an die Christen, denen er schreibt, auch die Gastfreiheit als christliche Tugend zu üben, ist uns aus diesen Worten unzweifelhaft, aber der Beweggrund, den er hinzufügt, kann uns fremd erscheinen, weil wir es wohl wissen, daß wir keine Hoffnung haben, uns werde mehr als Menschliches begegnen und wir würden mehr als Menschliches unter uns aufnehmen können. Allein das war damals, als der Brief geschrieben wurde, auch schon so. Die Erzählungen von den Erscheinungen der Engel gehörten alle schon zur Kunde einer alten Zeit, deren Erinnerung nur bei besondrer Gelegenheit auf eigne Art aufgefrischt wurde und der natürliche Lauf der Dinge war in dem Umfange der Christenheit schon wieder eingetreten, sobald die Kirche gegründet war. Auch damals schon konnte keiner buchstäblich es hoffen, Engel zu beherbergen, wenn er gastfrei war, ja wenn wir auf jene heiligen Bücher sehen, auf deren Erzählungen der Apostel anspielt, wie selten geschah das selbst damals und
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wie wenig konnte das also ein allgemeiner Beweggrund seyn, damit alle darnach handelten. Wir müssen also den Sinn der Worte tiefer auffassen, nicht so bei dem Buchstaben stehen bleiben und so werden uns diese Worte sicher das eigenthümliche Wesen | der christlichen Gastfreiheit kund thun. I. Das erste, worin sich das kund giebt, ist das, daß der heilige Schriftsteller einer menschlichen Gewohnheit und Uebung, die überall einen leiblichen Anfang hat, ein geistiges Ziel vorhält. Einen leiblichen Anfang hat die Gastfreiheit überall in der menschlichen Gesellschaft; denn sobald erst jener Zustand verschwunden ist, in dem die Menschen jeden, der nicht unmittelbar der ihrige ist, anfeinden, offenbart sich auch die Milde gegen die, welche durch Unglücksfälle oder durch einen besondern Beruf oder innern Trieb gedrungen werden, die Ferne zu beschauen, kurz alle, die ihre Heimath verlassen, gegen diese offenbart sich die Milde in der Aufnahme. So liegt der erste Grund der Gastfreiheit in dem Gefühl des Bedürfnisses derer, die durch ihr Schicksal in die Ferne getrieben werden. Je mehr aber das Verkehr der Menschen zunimmt, desto mehr hört das Bedürfniß auf, je mehr es der Veranlassungen giebt, die den Menschen aus seiner Heimath treiben, desto leichter sind die Veranstaltungen, daß der, welcher nicht gerade dürftig ist, auch in der Ferne seine Bedürfnisse befriedigen kann, ohne andre zu belästigen. So theilt sich dann die Wohlthätigkeit gegen die Dürftigen und die Gastfreiheit gegen die Fremden, die jenes nicht sind. Aber auch so sehen wir, wie sie überall diese Seite beibehält. Wo auch ohne, daß von einem leiblichen Bedürfniß die Rede ist die sich näher Stehenden sich gegenseitig in ihr Haus aufnehmen, da ist die erste Gestaltung gleichsam die Erinnerung an jene erste Gestalt, daß sie sich leiblich erfreuen. So bleibt es zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Maaße und indem der Apostel der christlichen Gastfreiheit ein geistiges Ziel vorhält, wollte er ihr gewiß deswegen jenen leiblichen Anfang nicht nehmen. Hätte er verlangt, es solle die christliche Gastfreiheit sich von allem Leiblichen losmachen, so würde er das Geistige | doch untergraben und nicht die Stimmung hervorrufen können, in der allein uns jenes werden kann. Aber es hat dies zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sein verschiedenes Maaß und wir wollen nicht leugnen, daß es unserem Volke und unserem Zeitalter nachgesagt wird, daß in allen Erweisungen der Gastfreiheit das Leibliche sehr hervorstehe, mehr als nöthig sey und man es an andern Orten finde und man klagt oft, wie eben dies das Leben sehr erschwert. Aber wir wollen jetzt in diese Klagen nicht einstimmen. Es kann Unrecht seyn, wo dies zu sehr vorwaltet, Unrecht, wo es die Verhältnisse des Hausstandes überschreitet, wo es gegen die erste Regel des christlichen Lebens anstößt, daß jeder haben soll, um zu geben den Armen, aber es läßt sich nichts Allgemeines sagen,
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um das Maaß zu bestimmen und dem Erreichtwerden des geistigen Ziels der Gastfreiheit scheint das Reichliche in der äußern Seite derselben nicht zuwider zu seyn. Auch der Erlöser wir finden ihn nicht nur auf jenem mäßigen Gastmahle, wo der Wein ausging und er das Wasser in Wein verwandelte, wir sehen ihn auch an festlichen Tagen in den großen Städten von den Obersten des Volks geladen zum Mahle, wo es gewiß auch äußerlich recht reichlich zuging und wenn er auch diese Gelegenheit benutzte, um zu belehren und auf die Gemüther zu wirken und er auch manchelei Tadel aussprach gegen die Gastfreiheit damaliger Zeit, so ist es nicht der Ueberfluß, den er tadelt, gewiß in dem Gefühl, daß sich nichts Allgemeines dafür bestimmen lasse. Etwas aber ist es, was in dieser leiblichen Seite die Sache die geistige stören und sie verhindern kann. Ueberall wo wir sehen, daß die Aufmerksamkeit ganz und gar und zu ängstlich auf das Aeußerliche gerichtet ist, wo die Eitelkeit nur sich brüsten will, wo wir sehen eine solche minder edle und | geistige Denkart, die das Leibliche nicht als Mittel zu einem höheren Berufe betrachtet, nicht als die Grundlage eines geistigen Daseyns, sondern sich sinnlich nur an das Eine hält, da wird das Geistige gestört. Aber das geistige Ziel ist es doch, was der heilige Schriftsteller uns vorhält und das ist die erste Regel, die wir uns von ihm abnehmen müssen, unser Zusammenseyn so zu gestalten, daß das Leibliche überall dem Geistigen diene und nirgends vorherrsche, auch da nicht als das Ziel unsrer Bestrebungen, nicht als das Maaß erscheine, wornach wir den Werth des Lebens messen. Es ist das allgemeine Gefühl, daß die sinnliche Genußsüchtigkeit den Geist tödte und die geistige Mittheilung störe, daß die Ueberschätzung dessen, was zur Befriedigung der äußern Bedürfnisse gehört, kalt mache gegen das Geistige, denn wo jenes vorherrscht, da wird auf dieses kein Werth mehr gelegt. Wenn wir klagen, wie das so oft geschieht, über das Unerfreuliche in vielen und fast in allen großen, zufälligen Zusammenkünften, so ist der Grund davon vorzüglich darin zu suchen, wenn der Apostel sagt: gastfrei zu seyn vergesset nicht, denn dadurch haben etliche Engel beherbergt und es muß sich unsrer das Gefühl bemächtigen, daß eben jeder höhere, geistige Genuß durch das Ueberhandnehmen der sinnlichen Bestandtheile des Lebens verhindert und gestört werde. Jene Erzväter, die nach der Schrift das Glück hatten, Engel zu beherbergen, sie boten ihnen auch das Leibliche dar, und wenn wir auch sagen müssen, in die Einfalt jener Zeiten können wir uns nicht mehr zurückversetzen, so können wir doch eben so wenig leugnen, auch in jenen Zeiten wird es den Unterschied gegeben haben bei den Erweisungen der Gastfreiheit, wie in der gegenwärtigen. Die sinnliche Genußsüchtigkeit und die eitle | Pracht hätten die Engel sicher überall vermieden. In demselben Maaße streben auch immer die Bessern unter den Menschen, die hier ebenfalls das Geistige 4–5 Vgl. Joh 2,1–10
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suchen, sich immermehr von den Kreisen loszuziehen, wo das Geistige von dem Leiblichen erdrückt wird. Wollen wir uns dieses geistige Ziel offen halten, so laßt uns das festhalten, daß unter uns das Leibliche dem Geistigen diene und man überall darin ein auf das Geistige gerichtetes Gemüth erkenne, damit es klar werde, daß das Leibliche nicht das sey, was wir wollen, sondern der Geist nur nach dem strebe, was ihm Stärkung gewähren kann.
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II. Die zweite Regel, welche eben so klar in den Worten des Textes ausgesprochen ist, ist diese. Die Gastfreiheit fängt freilich überall mit dem Geben an, aber die heilige Schrift hält uns auch ein Nehmen und Empfangen als ihr Ziel vor; denn denen, welchen also gut ward, Engel zu beherbergen, denen war und blieb das etwas Großes für ihr ganzes Leben. Indem sie geben wollten, hatten sie empfangen und mehr als sie je geben konnten. So ist die Gegenseitigkeit das Ziel, das uns vorgehalten wird in der Gastfreiheit. Mit dem Geben fängt sie natürlich an, denn sie geht hervor aus dem Bewußtseyn der Genüge eines christlichen Hauswesens in sich und dem Bestreben, in dieser sich aufzuschließen, damit andre daraus schöpfen können. So war es mit den gesegneten Männern Gottes, die ihr Haus den Fremdlingen öffneten und dann nicht selten die Engel des Herrn beherbergten, weil sie selbst Gesegnete des Herrn waren und es wohl fühlten, wie ihr Hauswesen sich unterschied von den größtentheils rohen Menschen, unter denen die lebten. So drängten sie sich, andern ihr Haus zu öffnen, damit diesen außer dem leiblichen Seegen auch der geistige werde, damit sie sich freuten, wenn sie in ein Hauswesen schauten, wo der | Herr wohnt. Das ist es also, womit überall unter uns die christliche Gastfreiheit anfangen soll. Fängt sie mit dem Bewußtseyn an, daß der Hausstand in sich nicht Genüge hat, ist es das Bedürfniß, das uns treibt, einen größern Kreis zu suchen, in dem wir uns erfreuen könnten, dann wird meistens schon etwas Mangelhaftes dabei zum Grunde liegen. Das häusliche Leben bietet nie erschöpfte Gegenstände der Thätigkeit dar und keiner hat den Kelch je ganz geleert und so braucht keiner, der eine gesegnete Stelle im Hauswesen hat, etwas außer diesem zu suchen, er muß in ihm volle Genüge haben an und für sich. Aber das Beste eben zu geben soll es seyn, was das christliche Hauswesen auch andern öffnet, das Bestreben, daß auch aus andern Herzen der Dank gegen Gott aufsteigen soll für die Art, wie er sich an uns verherrlicht hat. Das Geben ist also und muß das erste seyn, wenn wir nicht in den Verdacht verderblicher Genußsüchtigkeit kommen wollen. Aber indem der heilige Schriftsteller sagt: seyd gastfrei, denn durch dasselbe haben etliche Engel beherbergt, so erinnert er daran, wie in den Erweisungen der Gastfreiheit die, von denen sie ausgehen, nicht nur geben, sondern auch nehmen. 18–22 Vgl. Gen 18,1–8; 19,1–3
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Also soll wie jenes der Anfang so dieses das Ende der Gastfreiheit und des geselligen Lebens seyn. Wir wären ja kein Volk von Brüdern, wenn dies nicht der Erfolg wäre. Indem wir uns so nennen, sprechen wir eine natürliche Gleichheit aus trotz aller persönlichen Verschiedenheit. Wer da giebt, der weiß es wohl, daß er auch bedarf zu nehmen und wenn der Apostel sagt, nur manche haben dadurch Engel beherbergt, so weiset das auf den Unterschied hin, daß ein christliches Hauswesen auch mehr zu geben hat, als es von den Einzelnen wieder empfangen kann. Aber so wie es verkehrt ist, wenn die Gastfreiheit mit dem Gefühle des Bedürfnisses, äußeren Kreisen | uns zu nähern anfängt, so wäre es geistiger Hochmuth andrerseits, wenn wir nicht das Verlangen hätten, da, wo wir geben, auch zu nehmen. Laßt uns fragen: was widerfuhr denn denen, die Engel beherbergten? O dem Einen ging auf ein Wort der Verheißung und Hoffnung auf ein Gut, das er, wiewol Gegenstand einer göttlichen Verheißung, schon aufgegeben hatte, dem Andern, der sich unter einem verkehrten Geschlecht befand, kam zu rechter Zeit durch die Engel, die er beherbergte, ein Wort der Warnung, daß er sich entziehen solle dem Zusammenseyn mit den Bösen, über die Gottes Zorn bald heranbrechen werde. Das klingt freilich als etwas Einzelnes und Besondres, aber wir finden dennoch, es ist das Gemeinsame, dasjenige, was allen Noth thut, und was alle durch die Gastfreiheit davon tragen. Wie rein und treu sich auch ein christliches Hauswesen halten möge, es ist nicht anders möglich, die Sorgen des Lebens finden auf irgend eine Weise auch hier ihren Eingang, die überall verbreiteten schlüpfen gewiß auch in dieses Heiligthum. Je mehr wir nun das Gute einsehen, desto mehr giebt es, was wir glauben aufgeben zu müssen, das Aufgeben aber, mag es sich nun verwandeln in ein gleichgültiges Gehenlassen, oder darin, daß in der Ungeduld des Herzens die Sehnsucht es stets vergegenwärtige, immer stört es die Freudigkeit des Lebens. Da muß sich dann von Zeit zu Zeit ein Wort göttlicher Verheißung erneuern, ein freudig gestimmtes Gemüth muß uns dann erheben und eine freudige Aussicht in die Zukunft die Sorge der Gegenwart mindern. Das ist es, was die geistige Seite der Gastfreiheit bereiten soll. So soll sich das Gleichgewicht in der Seele herstellen, in der es getrübt ist, die Hoffnung und Freude erwachen, die lange gehemmt war und das Leben einen neuen Schwung erhalten, wie es von dem Erzvater heißt, | daß der Herr seine Kraft aufs Neue gestärkt hatte, nachdem er Engel beherbergt. Thut uns aber nicht eben so Noth das Wort der Warnung? Es ist eine ungerechte Klage, wenn wir sagen, daß auch wir leben unter einem verkehrten Geschlecht. Es heißt verkennen das Reich Gottes, das sich unter uns erbaut hat, wenn wir immer klagen, es gebe nur wenige, die den Herrn suchen und daß die Erde noch immer wie damals nichts sey, als ein Jammerthal. Diese Klagen wollen wir nicht laut werden lassen, solche Empfin13–14 Vgl. Gen 18,10–15
15–18 Vgl. Gen 19,12–13
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dungsart soll das Leben eines Christen unter Christen nicht verbittern. Aber dennoch fühlen wir es wohl, daß das Reich Gottes und die Kinder dieser Welt noch immer untereinander sind, fühlen es, daß nicht alle, die denselben Namen und dieselben Zeichen mit uns theilen, von Herzen zu demselben Reiche gehören, zu dem sie sich äußerlich bekennen, fühlen es, daß wenn wir ohne Bedacht allen Menschen folgen wollten, auch manche Gefahr uns drohen könnte. Wir mögen nur bedenken, wie auch wir uns hüten müssen, daß nicht die leibliche Seite in unserm Leben das Geistige übertäube, so oft kommen wir immer mehr zurück von dem frohen Leben derer, die uns gleich gesinnt sind und es werden in unsern Kreis immer mehr diejenigen eindringen, die weil sie nur das Irdische suchen, unser besseres Leben hemmen müssen und die Gewalt eines verderblichen Beispiels über uns ausüben. Halten wir das Ziel im Auge, daß wir durch die Gastfreiheit auch Engel beherbergen wollen, so mögen es diejenigen seyn, die da, wo wir schwach sind, uns warnen und als Boten Gottes im Leben uns erscheinen. Wollen wir das, so müssen wir, so gut wie von der sinnlich drückenden Ueberladung, unser geselliges Leben auch frei halten von der | all zu nahen Verbindung mit dem Bösen. Die gehören nicht in jenen Kreis, und wir müssen es fühlen, daß wir gegen sie keine andre Verpflichtung haben, als die des alleräußerlichsten Lebens und daß wir sie an unserm häuslichen Leben keinen Antheil dürfen nehmen lassen. Aber allen denen besonders gern unsre Nähe zu gestatten und unsern Lebenskreis zu öffnen, die uns belehren, trösten, warnen und als Boten Gottes im Leben erscheinen können, das sey unser Ziel, das uns vor Augen stehe und dann werden wir in unserm Leben eben so gesegnet seyn, wie jene Erzväter. In demselben Maaße, als jene Sagen verklungen sind, daß einst nicht selten Engel zu den Menschen kamen, um sie dem Himmel zuzuwenden, in dem Maaße fühlen wir, daß wir einer dem andern sollen die Engel Gottes seyn, daß darum die Kraft seines Geistes unter uns ist, damit jeder das dem andern werde. Wenn sich im geselligen Leben, wo wir gedrückt sind, Freudigkeit vernehmen läßt, wenn, wo wir fallen wollen, ein ernstes Wort uns behütet, wenn eine höhere Erscheinung von der niedern Seite des Lebens uns wegführt und eine geistige Sehnsucht in uns erweckt, dann haben wir einen Boten Gottes beherbergt und das soll ja in dem geselligen Leben der Christen nichts Seltenes seyn. Laßt uns nur immermehr uns befreien von den Fesseln, die wir uns selbst auferlegt haben, daß nur diejenigen miteinander leben, die einander gehören durch die Gleichheit des Geistes der sie erfüllt, so daß sie von einer himmlischen Liebe belebt sind und ein Reich Gottes bauen wollen, dann wird im Gegensatz gegen jene alte Geschichte, wo die größten Bestrebungen der Menschen sich dadurch zerstörten, daß sie sich nicht mehr verstanden, | und daß der Herr ihre Sprache 39–1 Vgl. Gen 11,1–9
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verwirrte, dagegen wird, indem ein jeder anfängt in seinen häuslichen Kreis nur die Gleichgesinnten zu ziehen, ein immer weiter sich verbreitendes Bestreben, eine zunehmende Einigkeit der Gemüther und ein Verständniß der Geister in einer Sprache sich bilden und jeder wird dem andern kommend und gehend, freundlich nehmend und empfangend in den bedeutenden Augenblicken seines Lebens ein Engel Gottes seyn. Amen.
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Besonderheiten:
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26. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 4,28 Nachschrift; SAr 41, Bl. 54v–60v; Jonas Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten über den christlichen Hausstand, 1820; 21826, S. 182–206 (Vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 677–692; 21843, S. 657–672. – Predigten über den christlichen Hausstand. Vierte Sammlung, 1835, S. 140–160. – Predigten über den christlichen Hausstand, 31842, S. 197–225; 41860, S. 174–199. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 90–103. – Werke, Bd. 3, edd. Braun u. Bauer, 1910, 1911, 2 1927, Nachdruck der 2. Aufl. 1967, 1981, S. 377– 398. – Predigten über den christlichen Hausstand, ed. Bauer, 1911, S. 197–218; 21927, S. 377–398. – Kleine Schriften und Predigten, edd. Gerdes u. Hirsch, 1970, S. 407–421 Nachschrift; SAr 52, Bl. 8r–8v; Gemberg Ende der vom 31. Mai 1818 an gehaltenen Predigtreihe über den christlichen Hausstand (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Vormittagspredigt am 15. Nov. 1818. M. A. Z. Wir haben neulich gesehen, wie ein christliches Hauswesen mit aller Fülle der göttlichen Gnade, die darin wohnt, sich nicht in sich zu verschließen vermag und es auch nicht soll, sondern wie es an allem Guten und Schönen, was sich darin ausbildet durch die Gnade Gottes andre soll Theil nehmen lassen, damit durch alles, was Gott an uns thut, er unser Herr verherrlicht werde. Das eine betraf die geistigen Güter. Damit aber ist nahe verwandt alles, was das Leibliche betrifft. Es besteht kein christliches Hauswesen für sich und durch sich allein, die Hülfsmittel des Lebens werden nur in Verbindung mit anderen gefunden und in dieser entsteht und erneuert sich von selbst jene merkliche Ungleichheit unter den Menschen überall 2–7 Vgl. 1. November 1818 vorm.
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um so mehr, als die Herrschaft, die sie über die Erde haben, größer geworden, als ein größerer Reichthum von Hülfsquellen für das Leben eröffnet ist. In dieser Ungleichheit ist das Leben des Menschen stets unsicher. Wenige sind, die bestimmt sagen können, daß sie in Beziehung auf das äußere Leben vor andern beglückt sind, wenige sind, von denen das Gefühl, daß sie in Rücksicht dieser Güter zu kurz gekommen sind, nicht weicht; die meisten sind solche, die sich bald mehr zu haben scheinen als andre, bald weniger, als ihnen gebührt, die aber eben daher sich abnehmen können, daß sie haben, was ihnen gebührt und in einer glücklichen Mitte leben. Aber aus dieser Ungleichheit erzeugt sich natürlich die christliche Wohlthätigkeit, das Bestreben, denen zu helfen, die zu wenig bei der Vertheilung der äußern Güter erhalten haben, das Bestreben dasjenige, was einem ausgezeichnet Gutes widerfährt, den göttlichen Seegen auch im Aeußern für sich selbst genießbar zu machen dadurch, daß man denen hilft, die durch dieselbe Verbindung der Menschen, die den einen segnet, | an ihrem Theile scheinen verkürzt zu seyn. Diese Wohlthätigkeit ist aber nichts Zufälliges; sondern nach der Lehre der Schrift und der von Anfang an bestehendem Ausübung der Kirche soll sie etwas Wesentliches seyn in jedem christlichen Hausstande, etwas worauf bei aller Vertheilung des Erworbenen soll Rücksicht genommen werden. So schließen wir denn unsre Betrachtungen über das christliche Hauswesen mit einer Betrachtung über die Wohlthätigkeit.
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Es kann scheinen, als wären diese Worte besonders durch den Anfang nicht geeignet, die Betrachtung einer christlichen Versammlung über die Wohlthätigkeit zu leiten, da sie auf einen Zustand hinweisen, wo noch Vieles vom Christenthum nicht durchdrungen war. Allein ich habe diese Worte wohlbedächtig und absichtlich gewählt, weil es nur darauf ankommt, in dieser Beziehung eine Menge von falschen Ansichten, die unter uns herrschen, zu beseitigen und so viel, wenn man auf den äußern Erfolg sieht, auch gerühmt werden mag von der Wohlthätigkeit unter uns, durch die Gedanken, zu denen ich Veranlassung geben will, den Boden zu reinigen, auf dem eine Gott wohlgefällige Wohlthätigkeit erwachsen kann und so sind jene Worte dazu geeignet, daß sie uns hinführen zu der Einsicht in das, was in der gewöhnlichen unter uns herrschenden Art der christlichen Wohlthätigkeit Falsches ist, wovon wir uns losmachen müssen. I. Ich fange damit an, nach der Anleitung unsres Textes die falsche Unterlage, welche die Wohlthätigkeit oft hat, wegzuräumen. | Dazu veranlassen mich
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die Worte des Textes, die manchem zarten Ohr mögen anstößig gewesen seyn: wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr. Davon sollte eigentlich unter Christen, unter einem Volk von Brüdern nicht die Rede seyn und sehen wir auch ab von allem, was die Frömmigkeit wirkt in dem Menschen, so haben wir doch das Gefühl, daß schon bei einer gewissen Ausbildung des Lebens diese Beeinträchtigung der Gerechtigkeit nur noch von den rohsten Gemüthern kann begangen werden, deren in einer Versammlung von Christen nicht gedacht werden soll. Laßt uns aber dabei dessen eingedenk seyn, was wir in unsrer Kindheit schon hörten als die richtige Auslegung des Gebotes, in welchem dasselbe Wort vorkommt, wie damit nicht nur die ausdrücklichen Verletzungen des Eigenthums gemeint sind, sondern jede unrechtliche Art zu gewinnen, jedes bewußte Uebervortheilen, jede Art zu erwerben, die nicht den Weg der Gesetzmäßigkeit und des Rechts als den nachweisen kann, auf dem sie entstanden ist. Wo das noch nicht aus der Gesellschaft verschwunden ist, wo nicht überall eine strenge Rechtschaffenheit in allem gegenseitigen Verkehr obwaltet, so daß jeder das, was des andern ist, als sein Eigenthum ansieht, da wird noch gefehlt gegen das Wort des Apostels und wo das noch ist, da rede doch keiner von christlicher Wohlthätigkeit. Erst rechtschaffen seyn im strengsten Sinne des Worts, erst weder die Einzelnen noch das Ganze übervortheilen, erst sich keine zweideutige Auslegung aller allgemeinen Regeln erlauben, die als Grundsätze der Treue anerkannt sind und dann wohlthätig seyn. Wo aber das eine nicht ist und das andre seyn will, da ist es kein Ruhm, sondern eine Schmach, da ist es eine Uebertünchung der Gräber, wie der Erlöser sagt, da soll nur beschwichtigt werden vor sich selbst, | betäubt vor der Welt das unrechte Gut, von dem die milde Gabe oft nur der geringste Theil ist. Davon war der Apostel durchdrungen, als er dieses schrieb und auch er hat sicher nicht bloß an das Buchstäbliche gedacht. Was war es denn für ein Bild des christlichen Lebens, das ihm stets vor Augen schwebte? Das Bild eines lebendigen Ganzen, in welchem jeder Theil durch das Ganze und für dasselbe da ist und wo alles ankommt auf eine richtige Vertheilung aller belebenden Kräfte. Wer diese Vertheilung stört, sich mehr zuwendet und die Grenzen der Billigkeit überschreitet, der ist selbst Schuld an solchem ungesunden Zustande des Ganzen. Niemand wird glauben, daß, indem ich von einer gleichen Vertheilung dessen, was in der Gesellschaft vorhanden ist, geredet habe, ich meinte, es solle nicht der Reiche neben dem Armen seyn. Die Schrift sagt selbst, daß Gott den Armen neben den Reichen gemacht habe und was auch die Menschen träumten und wie sie sich auch die Träume mannigfach ausbildeten von einer Gleichheit der Menschen in äußrer Rücksicht, wir sehen, daß es ein Traum ist, den der Höchste nicht billigt. Denn könnte auch heute wirklich durch ein Wunder Gottes oder durch ein freiwilliges Zusammentreten der 23–24 Vgl. Mt 23,27
36–37 Vgl. 1Sam 2,7
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Menschen ein Gleichgewicht entstehen, morgen wäre die Ungleichheit wieder da. Denn Gott hat selbst den Armen neben dem Reichen gemacht und so wie sich immer viele in Beziehung auf das Aeußere auf eine vorwurfsfreie Art über die andern erheben, so ist es eben so wahr, daß eben so neben dem Reichen der Arme entstehen wird, nicht nur durch eigne Trägheit, oder Unwissenheit, oder Leichtsinn, sondern auch durch die dem Einzelnen unbegreifliche Verkettung der menschlichen Angelegenheiten, durch den Einfluß des Kleinen auf das Große und des Großen auf das Kleine und oft durch Unglücksfälle, die der Einzelne nicht | übersehen kann. So entsteht natürlich der Arme neben dem Reichen. Aber wenn der Eigennutz unrechtlich nur in seine eignen Scheuren sammelt, wenn dadurch, daß der Eine Viele übervortheilt die Vielen genöthigt werden, mehr zu arbeiten, damit sie nur die Unersättlichkeit des Habsüchtigen befriedigen, dann entsteht der Arme auf unrechtliche Weise, dann wird die christliche Wohlthätigkeit gehindert und nur ein schimmerndes Werk derer werden, die nicht wohlthätig sind, weil sie nicht gerecht waren. Das also sollte unser erstes Gefühl seyn, so oft wir daran denken, es giebt keine christliche Wohlthätigkeit, deren wir uns rühmen könnten als eines göttlichen Werkes, wenn nicht zuvor Treue und Rechtschaffenheit unter uns herrscht, wenn nicht allem unrechten Gewinn zuvor entsagt ist, wenn nicht alles erworben ist auf eine Gott wohlgefällige Weise. Laßt uns nicht sagen: ja wenn es auch Einzelne giebt, mit deren Wohlthätigkeit es also steht, so dürfen wir uns doch das nicht zurechnen. Nein das ist das Wesen des christlichen Lebens, daß es keine Tugend giebt, die einem Einzelnen, aber auch keinen Fehler, der einem Einzelnen gehöre, daß Alles gemeinschaftliches Verdienst ist, so weit das dem Menschen möglich ist zu sagen, aber alles auch gemeinschaftliche Schuld, so gewiß es Schuld giebt in menschlichen Dingen. So laßt uns das beherzigen und nicht verschweigen, soll unsre Wohlthätigkeit Gott gefällig seyn, so laßt uns alles Unrecht ablegen. Wer da Unrecht gethan hat, der thue es nicht mehr, damit seine Wohlthätigkeit nichts Unrechtes sey. II. Nachdem wir uns so verständigt haben über die falsche Unterlage, worauf keine Wohlthätigkeit kann gebaut werden, so laßt uns ferner den falschen Schimmer, der oft darauf ruht, betrachten, damit wir uns davor schämen. Was sagt der Apostel im Verfolg? | „sondern jeder arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes, damit er habe, zu geben den Dürftigen.“ Wie stellt er also dieses vor? Was sagt er, das die christliche Wohlthätigkeit sey? Nichts als das richtige Maaß unsrer Arbeit. So wenig wir uns unsrer Arbeit als etwas Großes rühmen, so wenig sollen wir uns der Wohlthätigkeit rühmen, da sie nichts ist, als das Maaß der Arbeit. Er will sagen: der würde zu wenig thun, der nur soviel arbeiten wollte, als für ihn genug ist; eben weil mancher andre nicht so viel arbeiten kann, als er braucht, darum soll jeder
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mehr schaffen, als er braucht, damit er habe zu geben den Dürftigen. Sehen wir zurück in die Geschichte des christlichen Lebens, gehen wir zurück in die Zeiten, die der Verbesserung der Kirche vorangingen, wenn wir auf den hauptsächlichsten Punct sehen, auf den die Verbesserer der Kirche ihr Hauptaugenmerk richteten, so finden wir als das Vorherrschende den verkehrten Stolz auf gute Werke, die Meinung, daß der Mensch sich Gott gefällig machen könne durch äußre Einrichtungen und eben daher eine Menge jetzt uns unbegreiflicher Werke und Stiftungen der Wohlthätigkeit, die nichts waren als der Ausdruck eines verkehrten Sinnes, als ein unzureichendes Hülfsmittel solcher, die entweder nicht wußten, wie der Mensch vor Gott gerecht wird, oder nicht Lust hatten, den sauren Weg der innern Reinigung des Herzens zu gehen, einer Selbstverleugnung und Hingebung an denjenigen, der uns allein durch die Gemeinschaft mit ihm vor Gott einen Werth giebt, die also Gott zu befriedigen glaubten und nicht selten ihr eignes Gewissen befriedigten durch solche äußre Werke. Was anders aber ist | zu allen Zeiten die Folge davon gewesen, als daß auf andre, aber Gott mißfällige Weise der Arme entsteht, daß, wenn der Mensch nicht auf seine Kraft verwiesen ist, sondern einen Schatz vor sich sieht, der ihm sicher geöffnet wird, er leichter den Weg des Verderbens einschlägt und sich freut, einer von denen zu seyn, die der Anstrengung nicht bedürfen, da er ein Gegenstand der öffentlichen Wohlthätigkeit ist und als solcher doch eigentlich nichts andres, als eine Befriedigung der Eitelkeit andrer. Darum sey unsre Wohlthätigkeit fern von allem Gepränge und eitlem Wesen. Wir sollen sie nicht höher achten als unsre äußre Arbeit, die wir leisten für das Bestehen der Menschen. Gelingt es uns zu schaffen mit den Händen, so daß wir haben zu geben dem Dürftigen, so sollen wir das nie ansehen als etwas, dessen wir uns rühmen dürfen, sondern hier sollen wir sagen: wir sind nichts als unnütze Knechte, die das ihrige gethan haben, denn wir haben nur das Maaß menschlicher Arbeit erfüllt. Daß das, was dem Apostel vorschwebt, nichts ist, als jenes richtige Maaß, das ist klar. Wenn wir in der Verbindung mit andern uns das verschaffen, was zu unserm Leben gehört, so ist das die Frucht unsres Fleißes, aber es ist nicht unser Fleiß allein, der es schafft, sondern der vermag es nur unter den Verhältnissen, die durch die gesellige Verbindung der Menschen entstanden sind. Aber eben dadurch entsteht auch die Armuth und die Sicherheit beruht nur darauf, daß der Armuth wieder abgeholfen werde und wir erfüllen die Arbeit nur, wenn wir mehr schaffen um zu haben für die Dürftigen d. h. damit wir die Sicherheit der Verhältnisse erhalten, auf denen die uns angewiesene Art unsres Erwerbes beruht. Würde den Dürftigen | nicht geholfen und jeder erwürbe nur, 23 Wesen.] Wesen? 26–27 Vgl. Lk 17,10
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was er für sich bedarf, so würde das Zunehmen der Dürftigen bald die Sicherheit der menschlichen Verhältnisse stören. Hier ist also nichts gestellt, als das natürliche Maaß unsrer Arbeit in den Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft, die Gott selbst gestiftet hat. Indem wir das Maaß erfüllen, thun wir nichts, dessen wir uns rühmen könnten und sehen ein, was jeder thut, um dem Dürftigen zu helfen, ist nichts als die Erfüllung einer Pflicht, die wir schon der richtigen Berechnung menschlicher Verhältnisse und des dauernden eignen Vortheils zuschreiben können. Ja noch mehr. Indem der Apostel die Wohlthätigkeit so darstellt, so bezeichnet er uns den Gegenstand, worauf die Wohlthätigkeit sich richten soll und dem Wohlhabenden wie dem Dürftigen werden so ganz gleichmäßig ihre Grenzen gezogen und Pflichten vorgeschrieben. Unter dieser Pflicht, die der Apostel vorschreibt, sind alle begriffen, diejenigen welche so wohlhabend sind, daß sie den meisten nicht scheinen arbeiten zu dürfen und auch die der Dürftigkeit nahn, auch sie sollen arbeiten, soweit ihre Kräfte reichen, auch sie sollen schaffen, was sie selbst bedürfen, damit sie nicht in die immer drückendere Lage kommen, bestehen zu müssen durch die Kraft andrer, aber sie selbst sollen auch haben zu geben dem Dürftigen. Die Gegenstände der Wohlthätigkeit werden erst dadurch bestimmt, daß jeder arbeitet so viel in seinen Kräften steht und nur diejenigen, welche nicht im Stande sind, sich zu verschaffen, was sie bedürfen, sind die rechten Gegenstände der christlichen Wohlthätigkeit. Wie kommen also die Menschen bei ihrer Ungleichheit in der Gesellschaft in Beziehung auf das Ziel der Wohlthätigkeit zu stehen? Der, der des rechtmäßigen Gutes so viel hat, daß er den meisten scheint als dürfe er gar nicht arbeiten und könne sich dem höhern, geistigen Leben | ungetheilter hingeben, dieser wird viel haben zu geben dem Dürftigen und sieht er das Leben und seinen Standpunct darin recht an, so wird er es auch thun. Wird er aber die Zufriedenheit haben, die unser Text andeutet? Es fehlt ihm das Bewußtseyn, daß er unter derselben Mühe geschafft habe, was mancher andre hat zu geben dem Dürftigen. Und der, der auf der niedrigsten Stufe steht und unter den ungünstigsten Verhältnissen erwachsen ist, sich aber treu an das Wort des Apostels hält und im Schweiß seines Angesichts schafft, um sich und die Seinigen zu ernähren und dann in einer Entfernung von allem Aufwande doch noch etwas erübrigt, um die zu unterstützen, die unter noch drückenderen Bedingungen das Leben führen, er wird wenig vertheilen, aber er verdankt seiner Lage ein Gefühl, was jener nicht haben kann und so werden die, welche ungleich sind vor der Welt wieder gleich vor dem Herrn. Der viel mittheilt, kann sich eines großen Erfolges seiner Gaben freuen, wer wenig mittheilen kann, aber dieses Wenige giebt als die Frucht seiner sauren Arbeit, der sieht freilich ein, daß dem Ganzen seine Gaben nicht von Erfolg seyn können, aber es ist eine Gesinnung und Treue in ihm, die allen denen, die um ihn sind, mit dem Lichte der ächt christlichen Bruderliebe leuchtet. Sie sind beide vor Gott und in
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der christlichen Gemeine wieder gleich. So wenig aber die geringen Gaben, die der Fleißige, den Gott nicht reichlich gesegnet hat, dem Dürftigen geben kann etwas sind, womit er äußerlich glänzen kann, eben so wenig soll der, der viel giebt von seinem Reichthum, das ansehen als etwas, womit er vor Gott und der Welt glänzen darf.
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III. Endlich laßt uns kennen lernen die falsche Ausübung der christlichen Wohlthätigkeit selbst. Der Apostel sagt: jeder arbeite, damit | er habe zu geben dem Dürftigen. Merkt wohl auf und glaubt nicht, daß ich gewaltsam etwas hineinlege. Der Apostel sagt: er schaffe, damit er habe zu geben, nicht: damit er gebe. Es war damals zu den Zeiten des Apostels so. Wer erworben hatte mehr, als er bedurfte, der gab es der Gemeine, die Gemeine allein gab es dem Dürftigen. Die aber, welche mehr Zeit erübrigen konnten, waren die Austheiler der Gemeine, sie gaben, was diese dargereicht hatte, sie waren die Vertheiler der gemeinsamen Gaben. So war es anfänglich in der christlichen Kirche und so hätte es bleiben sollen. Wäre es immer so geblieben, so wäre nicht das eitle Gepränge mit der Wohlthätigkeit getrieben, denn das entsteht nur aus den Verhältnissen, in welchen der Einzelne unmittelbar zu den Dürftigen steht, der so glaubt die Menge der Sünden zu bedecken durch diese Liebe, wie es die Schrift aber nie gemeint hat. So entsteht das Verkehrte der christlichen Wohlthätigkeit. Das konnte in der christlichen Gemeine aber anfangs nicht entstehen. Der Erlöser sagt: die linke soll nicht wissen, was die rechte thut. Dabei aber mögen wir nur bedenken, daß das Vergessenwollen dessen, was man selbst thut, keiner gebieten kann, aber die linke wirklich nicht weiß, was die rechte thut, wenn keiner selbst was er hat dem Dürftigen giebt, sondern wenn es durch die Hand der Gemeine geht. Was ist sonst noch Verkehrtes hineingekommen? Die Ausübung der Wohlthätigkeit muß so beständig begleitet seyn von Mißtrauen und Härte einerseits, von Schwäche und Unverstand andrerseits. Kann denn der Einzelne das Verhältniß des einen Dürftigen zu der Menge der andern Dürftigen klar durchschauen? Je mehr er selbst arbeiten muß, desto weniger ist das möglich. Da wird also der eine unverständig und schwach handeln, da er nicht wissen kann, wie der, | der ihn anspricht, es verdient und sich die Regel setzen, den zu befriedigen, der eben kommt; der andre, gewohnt sich selbst streng zur Rechenschaft zu ziehen, gewohnt auf die Fehler der Menschen zu sehen, aber weil er vielleicht mit schlechten Menschen zu thun gehabt, mißtrauisch und hart, weiset manchen von sich, den er für unwürdig hält und giebt weniger als er könnte, weil er nicht den herausfindet, der der Würdigere ist. So ist es und so entsteht in den Dürftigen, was 19–20 Vgl. 1Petr 4,8
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jene Härte rechtfertigt. Sie wissen es, daß der Einzelne nicht gerecht seine Wohlthaten austheilen kann, ihr Vortheil bringt es also mit sich, ihr Elend so groß als möglich darzustellen, damit sie die schwachen Gemüther gewinnen. Dieses ist oft genug eingesehen und beklagt, was ist aber daraus entstanden? Auch etwas, dessen wir uns schämen sollten, das, daß, weil man sah, wie wenig so der Dürftigkeit wirklich gesteuert werde, wie viel falsche Dürftigkeit so genährt ward, die Ausübung der Wohlthätigkeit eine Sache der bürgerlichen Gemeinschaft, der Obrigkeit ward, da sie vorher eine Sache der kirchlichen Gemeine war und dessen können wir uns nicht rühmen, sondern wir müssen uns dessen schämen. Rühmen können wir uns dessen nicht, weil die Sache so nur auf eine andre Art einen verkehrten Gang geht, denn was im Namen der Obrigkeit geht, das wird nach der jetzigen Lage der Dinge ein weitläufiges Geschäft; da muß auf strenge Rechenschaftsablegung gesehen werden, die sich nicht gründen kann auf gemüthliches Vertrauen, welches hier allein helfen kann. Deswegen können wir uns dessen nicht rühmen. Schämen müssen wir uns aber dessen darum, weil wir uns sagen müssen, es wäre nicht so gekommen, wenn die christlichen Gemeinen da gewesen wären. Als die erste apostolische | Kirche bestand, wie sie lange bestand, war die christliche Gemeine eine Verbindung auf festerem Grunde ruhend, auf festeren Regeln fortgehend, als die bürgerliche Verbindung. Aber seitdem ist die christliche Gemeine verschwunden und war immer nur in den Gotteshäusern, nirgend anders. Die zu einer Gemeine Gehörigen waren sich ferner, außer daß sie sich sahen in den Versammlungen der Andacht. Nicht überall freilich hat das bürgerliche Leben das kirchliche verdrängt aber bei uns ist es doch so und wir müssen uns schämen, daß die Obrigkeit der Kirche das Werk der Wohlthätigkeit abnahm. Laßt uns also dahin arbeiten, daß es so werde unter uns, wie es der Apostel andeutet. Wir sind jetzt auf mancherlei Weise aufgefordert, unsre kirchliche Verbindung enger zusammenzuziehen. Es währt nicht lange, so werden die Hausväter einer Kirchengemeine aufgefordert werden, sich zu versammeln und die zu wählen, denen sie ihr Vertrauen schenken in kirchlichen Angelegenheiten. Dann möge doch auch unsres Armenwesens gedacht werden, möge diese kirchliche Verbindung sich so gestalten, daß die Obrigkeit wieder mit Vertrauen die Armenpflege in die Hände derer gebe, bei denen sie sonst war! Dann wird ein gemeinsames Gefühl erwachen, daß unter dem, womit man der Noth zu Hülfe kommt, nichts Unrechtes sey, dann wird das eitle Gepränge mit der Wohlthätigkeit verschwinden. Jeder treibt ja nur jene Eitelkeit mit dem, was ihn persönlich umgiebt und was er persönlich darreicht, was aber gemeinsame Sache ist, das vertreibt die Eitelkeit. Dann wird eine richtige Vertheilung unsrer Gaben zu Stande kommen, die Armuth wird nicht stets weiter aufs Neue wachsen, so oft man nicht weiß, ob es mit Recht oder mit Unrecht geschieht, und | die christliche Wohlthätigkeit wird in jedem Hauswesen etwas Heiliges werden, jedes wird
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herbeischaffen, damit es habe zu geben dem Dürftigen und von dem Gemeinsamen wird gegeben werden, von dem ein jeder gern nimmt, da er weiß, daß er nichts wäre ohne dieses. So führt uns die Betrachtung dessen, was zur christlichen Gottseligkeit gehört im Hausstande auf den Zusammenhang mit der Gemeine zurück. Wenn wir sahen, daß das erste Beginnen des Hauswesens darauf sich gründete, daß der Seegen der christlichen Gemeine darauf ruhe, wenn wir sahen, daß die Verhältnisse aller Glieder des christlichen Hauswesens nur bestehen konnten, wenn alle sich ansehen als Glieder des großen Ganzen, so führt die äußere Seite desselben, das letzte im christlichen Hausstande auch dahin zurück, daß auch da keine Reinheit und Vollkommenheit ist, als in der lebendigen Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen. Dazu laßt uns alle, hier wo wir als Brüder in dem Einen Herrn und Meister erscheinen, wo die Zeichen der Gemeinschaft auf dem Tische seines Mahles unter uns aufgerichtet sind, dazu laßt uns uns vereinigen, daß jeder in seinem Hause nicht sich allein, sondern der Gemeine des Herrn lebe, der wir alle zur Ehre leben sollen und zur Freude. Amen!
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Vor dem 21. November 1818 Nr. 1 Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Unbekannt Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,24 Nachschrift; SN 623, Bl. 1r; Crayen Keine Keine Keine
Tex t : Ev: Joh: C: 21. V: 24.
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Welch einen großen Werth hat es für den Christen: daß die Jünger Jesu es aufzeichneten was er im täglichen Leben that! vorzüglich aber was er lehrte, und wie er in allen Verhältnißen des Lebens sich benahm. – Den allerhöchsten Werth haben seine Lehren für uns! so wie ein jedes Wort aus dem Munde Jesu; und nicht erst hätte es dieser Wunder bedurft, um ihn für den Meßias anzuerkennen! – Der Geist seiner Rede konnte uns schon davon überzeugen: daß er der von Gott Gesendete sei[.] – Und wenn wir in seinem Geist denken und handeln, so werden wir inne werden daß „seine Lehre von Gott sei“ – solch denken und handeln wird uns immer näher in Liebe zu ihm hinziehen, und mit ihm uns vereinen. – Johannes, welcher in seinem Wircken auf Erden ihm zur Seite stand, glaubte mit diesen einfach erzählten Begebenheiten aus dem Leben Jesu, genug gesagt zu haben, um, nach langen Jahren, in welchen diese Erzählungen sich aufbewahrt haben, uns von seiner Göttlichkeit zu überzeugen, und für seine Lehre zu gewinnen. – Einfach und schmucklos sollte der Rahmen sein, in dem das Bild Jesu uns aufgestellt ist! – Heilig aber sei uns alles was auf ihn sich bezieht – von ihm herrührt – auf ihn beruhet – und zu ihm uns hinleitet. –
9–10 Vgl. Joh 7,17
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Vor dem 21. November 1818 Nr. 2 Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Unbekannt Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 4,19 Nachschrift; SN 623, Bl. 7r; Crayen Keine Keine Keine
Tex t : „Laßet uns ihn lieben! Denn er hat uns zuerst geliebt.“ Gott lieben: das heißt, in Übereinstimmung mit seinem Willen denken und handeln – und so in seliger Gemeinschaft mit ihm stehn. – Wir können uns das Wesen Gottes durch nichts anderes – als durch seine Wirkungen und Offenbarungen dencken: Seine Allmacht und Weisheit zeigt sich zwar auch in seinen sichtbaren Schöpfungen – seine Liebe aber erkennen wir vorzüglich in seinen geistigen Einwirckungen, wovon er uns den anschaulichsten Beweis durch die Sendung Jesu gegeben – so wie durch alle die Segnungen welche er uns durch ihn fortdauernd bereitet. – Wir sollen Gott in dem lieben was von ihm ausging: Christus aber ist das höchste und segensreichste was von ihm ausgegangen ist! – „Und wer da liebet den der ihn gebohren hat – der wird auch lieben den der aus ihm gebohren ist! “ Und so werden wir auch lieben: Die durch ihn, aus Gott gebohren sind – und immer nur Das in ihnen lieben und schätzen: wovon wir erkennen daß es – aus Gott gebohren, in ihnen wohnt und wircksam ist. Auch werden wir nur dadurch unsern Brüdern wahre Liebe beweisen: wenn wir das – was, von Gott ausgegangen, in ihnen lebt – zu immer kräftigeren Wachsthum befördern.
11–13 Vgl. 1Joh 5,1
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Am 29. November 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
1. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,34–35 Nachschrift; SAr 52, Bl. 9v; Gemberg Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Berliner Intelligenz-Blatt: Vor der Predigt Vokalmusik
D. 1. Advent-Sonntag. Luc. 2, v. 34 und 35. Dr. Schleiermacher
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Wir feiern heut den Beginn eines neuen Kirchenjahres. Der kirchliche Text deutet auf Christi Leiden hin, und wir sehen doch jetzt erst auf seine Geburt hin. Allein das hat einen tiefen Sinn. Christi Erscheinung fassen wir nicht anders auf, denn als ein Leiden und ein Richten. Er ward in die Welt gesandt, das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen – Das ist aber nicht möglich, ohne Leiden. Eben so trifft das Weltgericht ein in dem Augenblick, wo er erstand und das ewge Wort des Lebens in die Gemüther drang. Da beginnt die große Scheidung der Bösen von den Guten, d. i. das Weltgericht. Dieses ist ein ewiges, nicht in der Zukunft zu setzen. Auch wir sollen leiden und richten, wie er, um seines Namens werth zu seyn.
[Liederblatt vom 29. November 1818:] Am ersten Advent-Sonntage 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Valet will ich etc. [1.] Erweitert eure Pforten, / Erhöht des Herzens Thor, / Und sucht an allen Orten / Der Blumen Füll’ hervor, / Die Straßen auszuzieren, / Durch die der Herr soll ziehn; / Baut prächtig Ehrenthüren, / Besteckt mit Wintergrün. // [2.] Willkommen großer König, / Willkommen Jesulein! / Mein Haus ist zwar zu wenig, / Mein Raum ist viel zu klein, / Mein Herr, dich zu bewirthen; / Doch weil du deinen Zug / Auch nimmst zu schlechten Hirten, / So ist hier Raum genug. // [3.] Herr wer allhier dich heget, / In Glauben und Geduld, / Wer deiner treulich pfleget, / Und trauet deiner Huld, / Dem hast du schon versprochen, / Das Haus der Ewigkeit, / Wird gleich allhie zubrochen / Die
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Hülle dieser Zeit. // [4.] Jetzt pflegst du einzukehren, / Durchs Wort und Sakrament, / Und wirst durch Kreuzeszähren, / An deinem Zug erkennt; / Einst aber wirst du kommen / Mit großer Pracht und Ruhm, / Und führen deine Frommen / Ins himmlisch Eigenthum. // (Stett. Ges. B.) Nach dem Gebet. Gemeinde. – Mel. Nun preiset alle etc. [1.] Laßt Gott uns preisen, / Schon seiner frühen Welt / Ward Er verheißen, / Der Friedefürst und Held, / Es harrten Völker ihm entgegen, / Hoffend auf Rettung und ewgen Seegen. // [2.] „Daß sie zerrissen, / Die Himmel“ war ihr Flehn / In Kümmernissen, / „Ach daß aus jenen Höh‘n / Der Heilige erschien auf Erden, / Aller Erretter und Trost zu werden!“ // [3.] Sie ward erfüllet / Die Zeit die Gott ersehn, / Es ward enthüllet / Das Heil aus seinen Höhn, / Gestillt das sehnende Verlangen, / Ewiges Licht ist uns aufgegangen! // [4.] Nun wird erledigt, / Was hart gebunden war; / Nun wird gepredigt / Des höchsten gnädiges Jahr; / Nun lohnt die duldenden ihr Hoffen; / Preis ihm! nun steht uns der Himmel offen. // (Jauer. Ges. B.) Chor. – Mel. Lobt Gott ihr etc. Er kommt, er kommt der starke Held, / Voll göttlich hoher Macht / Sein Arm zerstreut, sein Blick erhellt / Des Todes Mitternacht. // Siehe Finsterniß bedekket das Erdreich, und Dunkel die Völker; aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheinet über dir. // Eine Stimme. Tröstet mein Volk, spricht euer Gott: redet freundlich mit Jerusalem und predigt ihr, daß ihre Ritterschaft ein Ende hat, denn ihre Missethat ist vergeben. Es rufet die Stimme eines Predigers in der Wüste, bereitet dem Herrn den Weg, und macht auf dem Gefilde eine ebene Bahn unserm Gott. // Chor. Hoch thut euch auf, und öffnet euch weit ihr Thore daß der König der Ehren einziehe. Wer ist der König der Ehren? der Herr stark und mächtig im Streite, Herr Zebaoth, er ist der König der Ehren. // Gemeinde. Wer kommt, wer kommt? / wer ist der Held Voll göttlich hoher Macht? // Chor. Sieh Christus ists. Lobsinge Welt! / Dein Heil wird dir gebracht. // Gemeinde. Dir Menschgewordner singen wir, / Anbetung Preis und Dank! / Und weit umher erschalle dir, / Der Erde Lobgesang. // Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht‘ uns etc. Laß uns zu unserm ewgen Heil / An dir im wahren Glauben Theil / Durch deinen Geist erlangen, / Auch wenn wir leiden auf dich sehn, / Im Guten immer weiter gehn, / Nicht an der Erde hangen; / Bis wir zu dir mit den Frommen, / Ewig kommen, / Dich erheben, / Und in deinem Reiche leben. //
Am 13. Dezember 1818 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
3. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 15,15–16 Nachschrift; SAr 52, Bl. 9v–10r; Gemberg Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Den 3. Advent Sonntag. Joh. 15, v. 15–16. Dr. Schleiermacher.
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Wir fügen zur letzten Betrachtung noch die, was Christus dem Menschen seyn soll und will, und nach des Menschen Empfänglichkeit und des Herrn Gnade ihnen wirklich ist. 5
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1. Wir sind nicht seine Knechte, aber er ist unser Herr. Er ist das Haupt, dessen Leib wir sind – im Haupt ruht das Bewußtseyn, das alle Theile des Leibes regiert, welche bewußtlos sich bewegen. So Christus das Haupt der Kirche [ist], wir alle wissen nicht, wozu wir ihm folgen – es ist eine himmlische Gewalt, die uns treibt, ehe wir zum eigentlichen Bewußtseyn gelangt sind, und Christus wählt auch uns, nicht wir ihn. | Es ist ein Berg Gottes, dessen Haupt in die ewge Klarheit hinaufreicht, aber dessen Fuß in irdischen Verwicklungen liegt. Die Gesammtheit wogt auf und ab, wie der Geist, welcher ist Christus in ihr gebaut. Seine Kraft ists, die den Herrn herabzieht und ihm Wohnung in unsern Herzen macht. Aber 2. wir sollen ihm nicht Schüler bleiben, sollen ihm Freunde sein. Der Schüler folgt dem Gebot dessen, der seine Intelligenz ist. Aber wir leben im freien Gehorsam gegen Christus. Er erlöste die Welt, d. h. machte sie frei von der Knechtschaft der Sünde und des Buchstabens, daß sie im Glauben das Höchste in sich aufnehme. Wenn bei aller Verschiedenheit der Berufspflichten und der Anlagen und äußern Verhältnisse ein gemeinsames Zusammenwirken herrscht, und gleiche Gesinnung, so daß an einem nicht kalt vorüber geht, was den andern ergreift, so bildet das das Wesen der Freundschaft. So nennt uns Christus, indem er die Apostel so nennt. Fühlen können wir die ganze Bedeutung, aber nicht in Worten aussprechen. Wir 5–7 Vgl. 1Kor 12,12–26; Eph 4,15–16
13–14 Vgl. Joh 15,23; Eph 3,17
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sind ihm Freunde, wenn wir mit ihm leiden, und das Gericht halten, letzteres, indem wir die Gemeinschaft mit der Finsterniß vernichten und alles Böse ausstoßen in uns und in der Welt.
[Liederblatt vom 13. Dezember 1818:] Am dritten Advent-Sonntage. 1818. Vor dem Gebet. – Mel. Ach was soll ich etc. [1.] Kommst du, kommst du Licht der Heiden? / Ja du kommst und säumest nicht, / Weil du weißt was mir gebricht, / O du starker Trost im Leiden, / Jesu meines Herzens Thür / Steht dir offen, komm zu mir! // [2.] Ja du bist bereits zugegen, / Du Weltheiland Jungfraun Sohn! / Meine Sinnen spüren schon, / Deinen Gnadenvollen Segen, / Deine wunderthätge Kraft, / Deinen edlen Herzenssaft. // [3.] Adle mich mit deiner Liebe, / Jesu nimm mein Flehen hin, / Schaffe daß mein Geist und Sinn, / Sich in deinem Lieben übe, / Sonst zu lieben dich mein Licht, / Steht in meinen Kräften nicht. // [4.] Jesu rege mein Gemüthe, / Oeffne Jesu mir den Mund, / Daß dich meines Herzens Grund, / Innig preise für die Güte, / Die du mir, o Seelengast, / Lebenslang erwiesen hast. // [5.] Laß durch deines Geistes Gaben, / Liebe Glauben und Geduld, / Durch Bereuung meiner Schuld, / Mich zu dir sein hoch erhaben: / Dann so will ich für und für / Hosianna singen dir. // (Stett. Ges. B.) Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Beschränkt ihr Weisen dieser Welt, / Die Freundschaft immer auf die Gleichen, / Und läugnet, daß sich Gott gesellt / Mit denen, die ihn nicht erreichen, / Ist Gott schon alles und ich Nichts, / Ich Schatten, Er der Quell des Lichts, / Er noch so stark, ich noch so blöde, / Er noch so rein, ich noch so schnöde, / Er noch so groß, ich noch so klein: / Mein Freund ist mein, und ich bin sein. // [2.] Gott welcher seinen Sohn mir gab, / Gewährt mir alles in dem Sohne. / Sowol sein Leiden Kreuz und Grab, / Als seinen Thron und seine Krone, / Ja was er redet hat und thut, / Sein Wort und Geist, sein Fleisch und Blut; / Was er gewonnen und erstritten, / Was er geleistet und gelitten, / Das alles soll nun meine sein; / Mein Freund ist mein, und ich bin sein, // [3.] Ohn ihn ist mir der Himmel trüb, / Die Erd ein ofner Höllenrachen; / Hingegen er kann alles lieb, / Die Wüstenei zu Eden machen. / Ohn ihn wird unter aller Meng / Die Zeit zu lang, die Welt zu eng. / Ich bin, wenn alle Freunde fliehen, / Die Engel selber sich entziehen, / Zwar einsam aber nicht allein: / Mein Freund ist mein und ich bin sein. // [4.] Es zürn’ und st[ü]rme jeder Feind, / Er machet nicht daß ich erstaune, / Der Richter selber ist mein Freund / Drum schreckt mich nicht die Gottsposaune! / Ob Erd und Himmel bricht und kracht, / Ob Leib und Seele mir verschmacht; / Muß mein Gebeine gleich verwesen, / So ist doch meine Seel genesen. / Man liest dann auf dem Grabesstein, / Mein Freund ist mein und ich bin sein. // (Ges. B. d. Brr. Gem.)
Predigt über Joh 15,15–16
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Unter der Predigt. – Mel. O Gott du frommer etc. Ich hab ihn warlich lieb, und bleibe an ihm hangen / Er er ist meine Lust, mein einziges Verlangen, / Ich bleibe ihm getreu, und er soll noch an mir / Von Herzen sein vergnügt, er meine höchste Zier. // Nach der Predigt. – Mel. Mein Salomo etc. So ruh ich nun mein Heil in deinen Armen, / Du selbst sollt mir mein ewger Friede sein. / Ich wikle mich in deine Gnade ein, / Mein Element ist einzig dein Erbarmen, / Und weil du mir mein ein und alles bist, / So hab ich gnug wenn dich mein Herz genießt. //
Am 25. Dezember 1818 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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1. Weihnachtstag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 4,4 Nachschrift; SAr 52, Bl. 10v–11r; Gemberg Keine Keine Keine
Den 25. Dez. Erstes Weihnachtsfest Nachmittags (Dr. Schleiermacher) Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen! Unser heutiger Text steht im Brief Pauli an die Galater 4,4: Christus, der Herr, ist vom Weibe geboren, und dem Gesetz unterthan. Das stimmt nicht mit unserm Gesang, worin Christus Friedefürst p. heißt. Aber beides fassen wir zusammen, und betrachten heut den Stand der Erniedrigung Christi, morgen der Erhöhung. 1. er ist vom Weibe geboren, d. h. er war allen menschlichen Gebrechen unterworfen, er war uns in allem gleich, nur die Sünde ausgenommen. Er war der Liebe bedürftig, wenn der fromme Simeon das zarte Kind in seine Arme schloß, wenn seine Anhänger um ihn einen engen Kreis schlossen. Sein ganzes Leben war ein Kreislauf der göttlichen Kraft der Liebe. 2. er war dem Gesetz unterthan. Er erklärt bescheiden, er sei nicht gekommen, das Gesetz zu zerstören – und er blieb unter ihm, bis es erst unter seinen Jüngern zusammenstürzte. Er erhält es, um der Ordnung willen, nicht um der Strafe willen – so auch wir. Er sagt sogar: ich bin gesandt für meine Person zu hüten die verlornen Schaafe aus dem Stamme Israel. Zu erfüllen kam er das Gesetz, und den Geist der Liebe und des Glaubens hineinzubringen. Als ein äußerliches hingestellt ist jedes Gesetz ein unvoll4 die Galater 4,4:] Römer? ... : 2–3 Lk 2,14 als Kanzelgruß 18 Vgl. Mt 15,24
11–12 Vgl. Lk 2,25–28
14–15 Vgl. Mt 5,17
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Predigt über Gal 4,4
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kommnes, es wird bald zum todten | Buchstaben: der Geist macht lebendig. Trägt man den in sich, so braucht man sich dem Gesetz nicht zu entziehen, sondern wird es selbst vervollkommnen.
1 Vgl. 2Kor 3,6
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Predigten 1819
Am 4. Januar 1819 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Montag, 14 Uhr, Begräbnis St. Gertraudten-Kirche (Spittelkirche) zu Berlin Keiner Drucktext Schleiermachers; Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. GertraudtsKirche zu Berlin Dr. Hermes, 1819, S. 9–21 Wiederabdrucke: SW II/4, 21844, S. 858–864 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Begräbnispredigt für Dr. Justus Gottfried Hermes (gestorben am 30. Dezember 1818, vgl. Einleitung, Punkt I.7.) Liederabdruck (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin Dr. Hermes nebst der an seinem Sarge von dem Professor Dr. Schleiermacher gehaltenen Rede. Berlin, 1819. Gedruckt bei G. Reimer. |
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Wir verweilen hier, im Begriff die entseelte Hülle der Erde wieder zu geben, am Sarge eines vielverehrten, vieljährigen Dieners Gottes, weil,
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1–3 „Bei einigen der ehemaligen Zuhörer und Beichtkinder des seeligen Herrn Predigers Dr. Hermes entstand am Tage seiner feierlichen Bestattung der Wunsch, daß eine kurze Beschreibung derselben nebst der an seinem Sarge gehaltenen Rede des Herrn Professors Dr. Schleiermacher abgedruckt, und zugleich mit einem, in Kupfer zu stechenden Bildnisse, des Entschlafenen (von Herrn W. Hensel gezeichnet) zum Besten der verwaiseten Familie verkauft werden mögte. Die Ausführung dieses Gedankens hat von mehreren Seiten eine gütige, dankbar anzuerkennende Unterstützung gefunden. So konnten jetzt diese Blätter erscheinen, welche dem göttlichen Seegen und der christlichen Liebe empfohlen werden.“ Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin Dr. Hermes, S. 2 [Hervorhebungen im Original sind nicht wiedergegeben.] 3–7 Dr. Justus Gottfried Hermes wurde am 29. September 1740 in Petznick (Pommern) geboren und starb am 30. Dezember 1818 in Berlin. Seine Eltern waren der Pastor Georg Vincenz Hermes und Marie Lukrezia Becker. Am 15. Dzember 1781 heiratete er Johanne Charlotte Elisabeth Woltersdorf. 9–5 „Die Leiche ward am Sonntage (den 3ten Jan. 1819) gegen Abend in die dem Sterbehause ganz nahe gelegene St. Gertraudts-Kirche getragen. Vor dem Altare, an welchem der Verewigte so viele Jahre hindurch das heilige Abendmahl ausgespendet, und unter der Kanzel, von welcher herab er unzählige Worte des ewigens Lebens geredet hatte, stand der seine sterbliche Hülle einschließende Sarg bis zu der, auf den folgen-
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wenn gleich das Herz so voll ist, daß der Mund lieber nicht überginge, wir uns doch nicht still und stumm trennen können, auch nicht von diesen verweslichen Ueberresten, noch weniger von dem durch ihre Versenkung bezeichneten Ende der Wirksamkeit seines Geistes unter uns. Aber nicht voll Klagen sei das Herz in dieser Scheidestunde, indem wir ja nicht traurig sein sollen, wie die, welche keine Hoffnung haben. Und ich bin so entfernt Klagen anzustimmen, daß ich | sie auch nicht einmal beschwichtigen will durch meine Rede. Wie sollten wir klagen, Geliebte, da der Vollendete das Maaß des menschlichen Lebens, das 70 Jahre währt, wenns hoch kömmt, achtzig, auf eine so schöne Weise erfüllt, da Gott seine Berufsthätigkeit so reichlich gesegden Tag angesetzten feierlichen Bestattung. Montags, den 4ten Januar, Nachmittags um 2 Uhr, versammelte sich, unter starkem Zudrange der Menge, in der kleinen Kirche die evangelische Geistlichkeit der Stadt, und eine große Anzahl der Männer und Frauen aus allen Ständen, die um den Entschlafenen trauern.” Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin Dr. Hermes, S. 7–8 11 Vgl. Ps 90,10 12–2 „Durch das am 30sten December 1818 erfolgte Hinscheiden des seeligen Herrn Justus Gottfried Hermes, Doctors der Theologie und Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin, hat seine Gemeine und die große Anzahl derer, die um ihn trauren [sic!], einen sehr schmerzlichen, aber nicht unerwarteten Verlust erlitten. Bei dem Herrannahen seines achtzigsten Lebensjahres hatten sich körperliche Leiden, besonders Schwindel und Magenbeschwerden, als Vorboten einer baldigen Auflösung, häufiger bei ihm eingestellt. Hiezu kam im letztvergangenen Herbste ein seit fünfzehn Jahren verschwundenes hämorrhoidalisches Uebel, welchem weder die vom Arzte verordnete öftere Leibes-Bewegung, noch sonstige Heilmittel Einhalt zu thun vermochten. Während dieses bedenklichen Gesundheits-Zustandes ließ aber der theure Greis, so lange ihm Gott die Kraft dazu verlieh, nicht ab, sein Amt eben so treu, wie sonst, zu verwalten. Sein jedesmaliges regelmäßiges Wieder-Erscheinen am Altare und auf der Kanzel von einer Woche zur andern konnte von seiner Gemeine wohl als eine ganz ausgezeichnete göttliche Wohlthat betrachtet werden. Selten bemerkte man dabei Spuren von einer Abnahme seiner Fähigkeiten; vielmehr schien er an der heiligen Stätte immer wie verjüngt zu seyn, als ob die Kraft des göttlichen Geistes, der seine Predigten erfüllte, zugleich auch seine würdige Gestalt aufrecht erhielte, und seiner Stimme Stärke und Nachdruck gäbe. Als die letzte Adventszeit herankam, befand er sich zwar hinfälliger und leidender als jemals, aber nichts desto weniger geschickt und freudig, seine Kirchkinder auf das Fest der Geburt ihres Heilandes vorzubereiten. Davon zeugten seine schönen Predigten an den drei ersten Advents-Sonntagen, wobei er, wie gewöhnlich über die hergebrachten evangelischen und epistolischen Bibeltexte redete. Seine letzte Predigt hielt er am dritten Advents-Sonntage (den 13ten Decbr. 1818) Vormittags über Matth. c. 11. v. 2–10. Er hob darin ganz besonders den sechsten Vers hervor: Und selig ist, der sich nicht an mir ärgert. Die Schlußworte dieses evangelischen Textes: ‚Siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll‘ schienen in einem andern Sinne auf ihn anwendbar werden zu sollen, als er am folgenden Mittwoch zu der gewöhnlichen Nachmittags-Predigt die Kanzel nicht wieder betrat, und das schnell verbreitete Gerücht von einem bedeutenden Zunehmen seines Uebels die Ahndung seines nahe bevorstehenden Hinganges erregte. Er selbst hielt anfangs den nunmehr eingetretenen Krankheits-Zustand, der seine Thätigkeit hemmte, für vorübergehend, und meinte, dieselbe schon am Weihnachtsfeste wieder fortsetzen
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net hat, da ihm die Gnade geworden ist, sie bis kurz vor seinem Hinscheiden ununterbrochen fortsezen zu können? Wie sollten wir ihm nicht gönnen, daß er abgerufen wird, um in die Freude seines Herrn einzugehen, da wir ja wissen, daß die welche überleben werden bei der Zukunft unsers Herrn denen nicht zuvorkommen, welche im Herrn schlafen. Darum sage ich auch seinen Kindern und nächsten Angehörigen kein Wort des Trostes, sondern nur das Wort der Ermahnung, daß sie dankbar für sein langes Verweilen unter ihnen auf immer sein frommes Bild in ihrer Seele bewahren und auf dem Wege wandeln mögen, den Er ihnen gezeigt hat, damit auch immer sein Segen auf ihnen ruhe. Eben so wenig aber soll auch mein Mund übergehen von seinem Lobe, denn seine und unsers Herrn Stimme würde mir entgegenrufen „Niemand ist gut als Gott“; wir aber, wenn wir | alles gethan, was wir zu thun schuldig sind, sind wir unnütze Knechte gewesen. Mag es anderwärts schicklich und löblich sein der Verstorbenen rühmend zu gedenken; hier aber ziemt es uns nicht, wo einmal wie immer nur der Eine darf gerühmt werden, der alles ist. zu können. Auch äusserte sich sein Uebel zuerst noch weniger durch heftige Ausbrüche, als durch fast gänzliche Unfähigkeit, Nahrung zu genießen, und eine davon herrührende allmählige Entkräftung, die ihn erst nach Verlauf mehrerer Tage das Bette fortwährend zu hüten nöthigte. Noch immer war Hoffnung vorhanden, daß er sich wieder erholen könnte. ‚Ich liege auf Hoffnung‘ sagte er um diese Zeit einmal zu einem ihn besuchenden Amtsbruder, verstand aber wahrscheinlich im Allgemeinen darunter seine Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit, die seinen Leiden ein baldiges Ende machen würde. Diese mehrten sich nun von Tage zu Tage. Er empfand fast unaufhörlich heftige innerliche Schmerzen, besonders ein quälendes Brennen im Magen, und die Gelassenheit, womit er sie erduldete, wurde durch häufige Beängstigungen schwer geprüft. In einem solchen Augenblicke der Angst wandte er einmal in einem Gespräche auf sich selbst die strafenden Worte an, die Eliphas zu Hiob spricht: Siehe, du hast viele unterwiesen und lasse Hände gestärkt. Deine Rede hat die Gefallenen aufgerichtet, und die bebenden Kniee hast du bekräftiget. Nun es aber an Dich kommt, wirst Du weich, und nun es Dich trifft, erschrickst Du. Ist das Deine Gottesfurcht, Dein Trost, Deine Hoffnung, und Deine Frömmigkeit? (Hiob Kap. 4. V. 3. u. f.) Aber mitten in dieser Noth war sein Heiland ihm nahe und half ihm überwinden. Er betete oft und anhaltend, forderte auch die Seinigen auf, mit ihm zu beten. Unterdeß ging die Weihnachtszeit vorüber, und mit dem Ablaufe des Jahres neigte auch sein irdisches Leben sich zum Ende. Der Sonntag, Montag und Dienstag nach dem Feste waren seine letzten, aber auch höchst qualvollen Tage. Endlich nach einem erneuerten heftigen Anfalle von Schmerz und Angst ließ am Mittwoch (den 30sten Decbr.) früh sein Leiden nach, er ward ganz ruhig, verlor die Sprache und lag einige Stunden lang still und milde in Gottes Frieden. Man bemerkte, daß er dabei zuweilen lächelte und mit der Hand winkte, als gälte es einer himmlischen Erscheinung. So verschied er Mittags gegen 1 Uhr im Glauben an seinen Erlöser.“ Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin Dr. Hermes, S. 3–7 [Hervorhebungen im Original sind nicht wiedergegeben.] 4–6 Vgl. 1Thess 4,15 14 Vgl. Mk 10,18; Lk 18,19 14–15 Vgl. Lk 17,10
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Auch zu erzählen habe ich wenig von ihm und nur soviel als nöthig ist, um uns allen den Eindruck zu vergegenwärtigen von seinem ganzen äußeren Leben, daß es eben so schlicht und anspruchslos gewesen ist als sein Wirken unter uns. Justus Gottfried Hermes, im Jahre 1740 zu Petznick in Pommern geboren, war unter acht Kindern der jüngste Sohn eines Predigers; also wie die meisten, welche diesen Beruf wählen, mit äußern Hülfsmitteln, um sich dazu auszubilden, sparsam ausgestattet. Auf der Schule, die er besuchte, gehörte er dem Singechor an, und war zulezt dessen Präfect, wovon auch in sein Amt eine lebendige Theilnahme am Kirchengesang und seiner zweckmäßigen Leitung überging. Als er seine Schulstudien vollendet, fehlte es an Mitteln, um die Universität zu beziehen, und er mußte noch ein Paar Jahr im väterlichen Hause bleiben, bis er im Jahr 1769 nach Königsberg gehn | konnte, wo noch zwei von unsern Amtsbrüdern theils mit ihm gewohnt, theils nähern Umgang mit ihm gepflogen haben. Auch von dort mußte er aus Mangel an Mitteln früher zurükkehren und übernahm bald darauf, wie es auch den meisten künftigen Geistlichen begegnet, das Geschäft eines Hauslehrers. Aber auch bei einem Diener des Wortes, Herrn Woltersdorf, ehemals Prediger an dieser Gemeine, so daß er in dieser Vorbereitungszeit nicht, wie leider so viele, von seinem Beruf abkam, sondern vielmehr viel Gelegenheit hatte, sich in der Lehre zu üben. Auch darin ist ihm etwas gewöhnliches begegnet, daß er späterhin die jüngste Tochter aus diesem Hause geehelicht hat. Nachdem er einige Jahre jenem Geschäft obgelegen, trat er in das Predigtamt, welches er seit beinahe fünfzig Jahren zuerst zu Neuenhagen und Dahlwiz, dann zu Selow und seit den lezten 21 Jahren an dieser Gemeine verwaltet hat. Mit seiner Gattin, die ihm nur im lezten Jahre nach einer 37jährigen Ehe voranging, hat er 12 Kinder erzeugt, wovon aber nur fünf ihn überlebt haben und mit uns an seinem Sarge trauern. Das ist der schlichte Lebenslauf des theuern Mannes. In der gelehrten Welt | hat er nach keinem ausgezeichneten Platze gestrebt, und wiewol sie sein Verdienst ehrend anerkannt hat, wird doch der oft zweideutige Ruhm, der von ihr ausgeht, seinen Namen nicht verkündigen. In weltliche Händel ist er nicht verflochten gewesen, sondern hat still und zurückgezogen alle bedenklichen Zeiten durchlebt, und alle Kraft, Schönheit und Würde seines Lebens ungetheilt auf seine Amtsführung als Lehrer und Seelsorger gewandt. Und nur über diese möchte ich ein paar herzliche Worte reden zuerst zu seiner Gemeine im engern Sinne, die ihm anvertraut und befohlen 19–20 Johann Lucas Woltersdorf, geboren am 25. Juni 1721 in Berlin-Friedrichsfelde, starb am 22. Dezember 1771 in Berlin. Er war an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin von 1752–1771 Pastor. 27 Gemeint ist Johanne Charlotte Elisabeth Woltersdorf, Tochter des Pastors Johann Lucas Woltersdorf.
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war und im weiteren zu denen, welche das Wort der Lehre gern und zum Theil ausschließend von ihm zu vernehmen pflegten; dann aber auch zu uns, seinen Mitknechten im Dienste des Herrn. Theure Gemeine, schon ehe der gefürchtete Augenblick kam, bist du ein Gegenstand der innigsten Theilnahme aller Frommen unserer Stadt gewesen. Wir alle haben uns betrübt mit der verwaiseten Heerde, die solchen Führer und Lehrer verlieren sollte! und gewiß es soll dir schwer werden die Lücke zu ergänzen, welche dieser Rathschluß Gottes, wie wenig er dich auch unvorbereitet überrascht, in dein frommes Leben gerissen | hat! Aber was würde Er selbst gesagt haben, wenn ihm vergönnt gewesen wäre, von Euch insgesammt Abschied zu nehmen, und wenn dem demüthigen Manne euer Schmerz so gegenwärtig gewesen wäre, wie er uns ist? So glaube ich würde er gesagt haben „Tragt immer mein Andenken in einem feinen Herzen als das eines vorangegangenen älteren Bruders! bewahrt das empfangene Wort, und laßt es Frucht bringen auch noch nach meinem Hinscheiden. Aber wenn ich geschieden bin, so verlaßt deshalb nicht die Versammlungen der Christen. Sondern wenn Euch das vorzüglich lieb gewesen ist an mir, daß ich dem Worte Gottes nichts zugesetzt von meinem eigenen: so stellt nun mich dahinten, und vertraut aus eigner Erfahrung auch für die Zukunft dieser sich immer gleichen Kraft des Wortes. Und wenn Ihr es nun aus dem Munde anderer Lehrer vernehmt, so vergleicht nicht, als wodurch Ihr Euch selbst nur verkürzen würdet. Es lohnt auch nicht; denn die menschliche Seele und der menschliche Mund, durch welche das Wort Gottes hindurchgeht, ist nichts, sondern das lebendige Wort und das durstende Herz sind alles. Mit diesem fahret immer fort jenes zu suchen, so werdet ihr ferner | erquickt werden und gesegnet, und jeder wird auch früher oder später wieder finden, an wen er sich mit ganzem Herzen und vollem Vertrauen menschlicher Weise anschließen kann.“ Glaubt Ihr nun, daß er Euch mit solchen und ähnlichen Worten würde getröstet haben und ermahnt: so könnet Ihr ihm gewiß nichts lieberes thun als diesem Rathe folgen. Aber indem nun die gewohnten unmittelbaren Einwirkungen des Vollendeten auf Eure Seelen aufhören, steht Ihr demohnerachtet allerdings an einem wichtigen Abschnitt eures Lebens, und ein solcher soll an dem Christen niemals ohne prüfendes Nachdenken vorübergehn. Fragt Euch also noch hier an seinem Sarge, wie redlich Ihr dem Zug des Herzens, der Euch zu ihm zog, genügt habt, wie wenig er entweiht worden ist durch gedankenlose Gewohnheit; prüft auch, wie vielfältige Frucht sein Wort in Euch getragen hat, sowol überhaupt sofern es von der Kraft des Evangelii durchdrungen war, als auch besonders sofern es Euch durch seine eigenthümliche Art und Weise nahe gebracht ward. Habt Ihr gelernt alles in Euch und um Euch auf den
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wahren Glauben an den Erlöser beziehen, der nicht todt sein | kann, sondern durch die Liebe thätig ist, habt Ihr gelernt Euer Herz erforschen nach der Regel des göttlichen Willens, seid Ihr gekräftiget worden in der ungefärbten Liebe, ist Euch die heilige Schrift klarer und werther geworden von einer Zeit zur andern: so hat das der Geist Gottes in Euch gewirkt, wie er überall in seiner Kirche wirksam ist durch das Wort. Habt Ihr aber auch, abgesehn von dem besonderen Inhalt seiner Vorträge, jedesmal die Einfalt lieb und lieber gewonnen, und ehren gelernt was schlecht und recht ist; seid Ihr gleichgültig geworden gegen flüchtigen Glanz und unempfänglich für leeren Schein; habt Ihr gelernt wahr und streng sein gegen Euch selbst und jedesmal aufs neue allem Selbstbetrug und aller Eitelkeit abgesagt, habt Ihr jedesmal gefühlt, welch ein köstlich Ding es ist, daß das Herz fest werde und doch mild bleibe, wie schön es ist, Wahrheit suchen und lieben und doch jeden stehn und fallen lassen seinem Herrn: dann ist auch der Eindruck seines eigenthümlichen Wesens wirksam gewesen zu eurem Heil und Ihr verdient seine Hörer und Schüler gewesen zu sein in dem Herrn. Aber so gewiß der Mensch in diesem Weltgetümmel solche Eindrücke nicht oft ge|nug erneuern kann: so gewiß haltet sein theures Bild für immer fest in eurer Seele und laßt sein Andenken euren guten Engel bleiben euer Leben lang. Wir aber, meine Amtsgenossen, immer wohl sollen wir erfüllt sein von der Wichtigkeit unseres hohen Berufs, aber nicht leicht tritt uns dies Gefühl näher, als wenn wir einen in unsern Kreis aufnehmen und dann den ganzen Umfang unserer Pflichten und unserer Verantwortlichkeit überschauen, oder wenn wir einen würdigen Bruder zur Ruhe bringend, auf den reichen Segen hinblicken, der eine treue Amtsführung begleitet. Welch gesegnetes Feld hat dieser unser vollendeter Bruder bearbeitet. Wie oft ist mir, wenn er diese Stätte betrat, das Wort eingefallen, wie lieblich sind die Füße der Boten, welche Frieden verkündigen. Um des Friedens willen kam der Herr, das arme in sich zerrissene und von Gott abgewendete Herz zu stillen und seinem Vater zuzuführen. Dieses Friedens Diener sind wir Alle, und wie Er es mit uns gewesen ist, wie Er durch seinen klaren Verstand am Evangelium, durch seine richtige Einsicht in das menschliche Herz, Gaben, ohne welche freilich niemand dieses Amt | wählen soll und führen kann, aber doch mit wie besonderm Gedeihen unser Vollendeter mit diesen Gaben wirksam gewesen ist, um die Gemüther der Einen wahren Ruhe zuzuführen, das wissen wir; ja nicht nur einen treuen und wakkern Genossen haben wir an ihm verloren, sondern auch ein schönes Vorbild. Doch es bedarf wol einiger Rechtfertigung, daß ich mich dieses Ausdrucks bediene. Denn einmal Einen Grund giebt es nur, und 1–2 Vgl. Gal 5,6
13–14 Vgl. Hebr 13,9
30–31 Vgl. Jes 52,7
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einen andern kann niemand legen, das ist der Grund der Apostel und Propheten, an welchem Christus der Eckstein ist, und auf welchem sich der heilige Bau der Gemeine Gottes erhebt zu einem Tempel des Höchsten; und darin also ist keiner des andern Vorbild, sondern Einer ist unser Meister, Christus. Der Gaben hingegen sind wieder viele und mancherlei, der Herr bedarf ihrer aller, und theilt sie aus wie Er will. Keiner kann sein und keiner soll auch sein wollen was der andere ist, und somit kann auch hierin nicht leicht einer des andern Vorbild sein. Eines aber ist, meine Brüder, wofür man uns Alle halten soll, daß wir Haushalter sind über Gottes Geheimnisse. Von einem Haushalter aber wird nichts gefördert als daß er treu erfunden werde, | und darin kann einer der Andern Vorbild werden. Dazu gehört aber nicht nur, daß einer die ihm anvertraute Heerde nicht versäume, sondern wirklich weide, daß er beurtheile, wohin die Milch des Evangelii gehört und wohin die stärkere Speise, sondern vorzüglich auch, daß jeder das ihm eigenthümliche Pfund recht gebrauche. Und wie uns allen der Vollendete erwecklich gewesen ist in dem ersten: so war er besonders ein schönes Vorbild in dem lezten. Das wenigstens ist mir immer besonders herrlich in ihm erschienen, daß er ohne rechts oder links zu sehen, immer allein darauf gestellt war mit der Art und Weise, die ihm der Herr gegeben, das Wort, was jedesmal vor ihm lag, ins Licht zu stellen und in Kraft zu sezen. Nie wollte er einem andern nachstreben oder etwas anderes sein: und als seine Kirche anfing sich zu füllen auch mit den Höheren und Gebildeteren der Stadt, so hat er niemals um etwa auf diesen oder jenen eine stärkere Wirkung hervorzubringen, das mindeste geändert in seiner schlichten einfachen Weise, kurz niemals die Person angesehn. Und in dieser besonderen Treue, so wie in jener allgemeinen laßt uns seinem schönen Vorbilde folgen. Als treuen Haushaltern | Gottes sei es uns immer zu gering, wie wir von Menschen gerichtet werden oder von irgend einem menschlichen Tage; wollen wir immer unser heiliges Amt verrichten als vor dem Herrn, nicht den Menschen zu gefallen, sondern sie zu fördern und nichts anderes an ihnen sehend, als wie ihr Herz bedürftig ist der Nahrung aus dem göttlichen Wort, und wie es bereit ist sich mit uns vor Gott zu demüthigen und allein aus seiner Fülle zu nehmen Gnade um Gnade. So werden wir in Einem Geist mit ihm, der uns vorangegangen ist, handelnd jeder nach seinem Maaß, wie es den Zurückbleibenden ziemt, die leere Stelle auszufüllen suchen, und immer mehr von dem Herrn der Erndte eben so gesegnet werden wie Er es war. – 1 Vgl. 1Kor 3,11 1–4 Vgl. Eph 2,20 5–6 Vgl. 1Kor 12,1–11 14–15 Vgl. 1Kor 3,2; Hebr 5,12–13 35–36 Vgl. Joh 1,16
10 Vgl. 1Kor 4,1
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Am 4. Januar 1819 nachmittags
Und nun laßt uns den Leib der Erde geben, die Seele geht zu Gott, der Rechenschaft entgegen, welche wir alle abzulegen haben davon, 1 „[Es] wurde von zwanzig schwarz gekleideten jungen Männern, die ihrem entschlafenen Beichtvater und Lehrer diese letzte Ehre zu erweisen wünschten, der Sarg aufgehoben, um von ihnen bis an die Grabstätte getragen zu werden. Mit ihnen setzte sich unter Glockengeläute die gesammte Leichenbegleitung in Bewegung. An ihrer Spitze befanden sich Musiker mit Blase-Instrumenten. Dann folgte der Sarg, welchem ein schwarzes Kreuz und die von dem Verewigten täglich gebrauchte Bibel geöffnet durch Knaben vorangetragen wurde. Hinter dem Sarge gingen die Söhne des Verstorbenen, und an dieselben schloß sich paarweise die lange Reihe von einigen hundert Begleitern an, unter denen auch die oben erwähnten Geistlichen. Die sich abwechselnden Melodien der Lieder: ‚Jesus meine Zuversicht‘ und ‚Eine feste Burg‘ und anderer begleiteten den Zug, der sich langsam über die Spittelbrücke bis an den Dönhosschen Platz, und an dessen Ecke umbiegend durch die Kommandantenstraße, einen Theil der alten Jacobsstraße, und die Todten-Gasse nach dem neben der letztern belegenen Jacobs-Kirchhofe bewegte. Dort war dem Abgeschiedenen neben den Ruhestätten seiner ihm vorangegangenen Ehegattin und Kinder das Grab bereitet. Nachdem die Träger den Sarg herabgesenkt, und ihn mit Erde zu bedecken geholfen hatten, sprach der Herr Superintendent Küster noch folgende Worte: Der Staub muß wieder zur Erde werden, davon er genommen ist, Und der Geist zu Gott kommen, der ihn gegeben hat! So sinke denn nun nach des ewigen Vaters weisem Rathschluß die zerfallene Hülle dieses frommen und getreuen Knechtes ganz in Staub. Keiner, in welchem Christus lebt, wie er in diesem Verkündiger seines Evangeliums gelebt hat, wird darüber trauern, denn aus dem Staube entwickelt sich der verklärte Leib, in welchem er schauen wird das Angesicht Gottes und seines Heilandes. Wir freuen uns vielmehr des herrlichen Erbtheils, das seinem Geist in dem Heiligthum des Himmels zufallen wird, denn die treuen Lehrer werden dort leuchten, wie die Sonne, und die Viele zur Gerechtigkeit gewiesen haben, wie die Sterne immer und ewiglich. Mit der Christen Zuversicht und Freude rufen wir daher aus: Tod, wo ist dein Stachel? Grab, wo ist dein Sieg? Dir, Gott, sei Dank, daß Du uns den Sieg gegeben hast durch unsern Herrn Jesum Christum. Voll des Glaubens, den Er in uns entzündet hat, trocknen wir die Thränen der Liebe hier an dem Grabe Deines frommen und getreuen Knechts, den Du verkläret hast, damit er hinfort sei droben, wo Christus ist sitzend zu Deiner Rechten. Wir preisen Dich, Vater, für alles Gute, das Du an Deinem Erwählten, noch mehr aber für alles, das Du durch ihn zum Heil gläubiger Seelen gethan hast. Du wirst durch sein auf Erden nun vollendetes Wirken noch lange die Gemeine, welche um ihn trauert, erbauen und segnen. Wohl den Lehrern, die so fromm wandeln und so gesegnet entschlafen, wie er! Erhalte uns, die wir noch an dem Werke arbeiten, von welchen Du ihn abgerufen hast, fest und unbeweglich, daß wir immer zunehmen in dem Werke des Herrn, sintemal wir wissen, daß unsere Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn. Dir und dem großen Hirten der Schaafe durch das Blut des ewigen Testaments, unserm Herrn Jesu Christo, sei Ehre hier in dem Lande des Staubes und dort in dem Gebiete der Verklärung von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Vater unser u. s. w. Der Herr segne dein Gedächtniß und behüte deinen irdischen Theil zum Tage der Auferstehung! / Der Herr laß leuchten sein Antlitz über dir in jener Welt und sei dir gnädig! / Der Herr erhebe dich zu den Belohnungen seiner frommen Knechte und gebe dir des Himmels Frieden! Amen. Indessen hatte sich rings um das Grab ein weiter Kreis, meistens von jüngeren Leuten gebildet, welche, als der Geistliche schwieg, nach einem stillen Gebete, das Lied: Jesus, meine Zuversicht, unter Begleitung der Blase-Instrumente mit entblößten Häuptern sangen, bis am Schlusse desselben von den Todtengräbern der Hügel über dem Grabe vollends aufgeschüttet war.“ Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin Dr. Hermes, S. 22–25
Grabrede für Dr. Justus Gottfried Hermes
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wie jeder gehandelt bei Leibes Leben, und welche dieser getreue Diener seines Herrn so freudig ablegen kann, daß wir mit der heitersten Zuversicht sagen können: Wohl Dir, Du getreuer Knecht, der Du eingehst in Deines Herrn Freude! Er wird wissen, | worüber er dich zu setzen und wie Er uns zu versorgen hat. Ja Herr, der Du Arbeiter aussendest in deine Erndte und abrufst, wir preisen Dich für alle Förderung Deines Reiches unter uns, die von diesem Deinem selig vollendeten Diener ausgegangen ist. Aber wie Du abrufst, so sende auch wieder, und laß es Deiner Gemeine nie und nirgend fehlen an Lehrern, die wie dieser durchdrungen sind von dem Geiste Deines Sohnes. Und so segne der Herr dich, der du hinübergegangen bist und uns, die wir hier noch wallen! So erleuchte Er sein Angesicht über dir, da wo dem Gerechten das Licht aufgeht wie der Mittag und über uns auf den dunkeln Pfaden dieses Lebens! Er erhebe sein Angesicht auf uns und gebe dir den Frieden der Schauenden und uns den Frieden der Gläubigen. Amen!
3–4 Vgl. Mt 25,21.23 6 Vgl. Mt 9,38; Lk 10,2 17 Dem Druck ist als Anhang folgender Text sowie ein Kupferstich (S. 30), welcher den Verstorbenen auf dem Totenbett zeigt, beigegeben. „Matth. Cap. 11. V. 2–10. Wollt ihr Heil und Frieden finden: / Wendet euch zu Christo nur, / Nicht zu seiner Creatur, / Nicht als Blinde zu den Blinden. // Zweifelt ihr in eitlem Zagen / Ob Er helfen will und kann: / Bei Ihm selber fraget an, / Und Er wird’s getreulich sagen. // Darum auch aus dem Gefängniß / Sendete Johannes zween / Seiner Jünger, hinzugehn / Zu dem Retter von Bedrängniß; // Daß sie sprächen, sich zum Frommen: / ‚Bist Du, der da kommen soll, / Oder muß man zweifelsvoll / Harr’n auf eines andern Kommen?‘ // Jesus sprach mit holdem Munde / Und antwortet ihnen: Geht / Hin, und was ihr hört und seht, / Davon bringt Johanni Kunde. / Blinde schauen, Lahme gehen, / Und Aussätz’ge werden rein, / Taube hören wieder fein, / Todte können auferstehen. // Und den Armen wird verkündet / Froher Botschaft ew’ges Licht; / Selig aber ist, wer nicht / Sich an Mir zu ärgern findet. // * * * So hat der liebe Herr gesprochen: / Sein treuer Diener legt es aus, / Als er zuletzt vor wenig Wochen / Zur Predigt kam ins Gotteshaus. // Ja, das war seine letzte Predigt, / Das rief der Greis in unser Herz, / Bevor er, dieser Welt entledigt, / Gerufen wurde himmelwärts. // Auch er, ein Täufer und Verkünder / Wies’ weg von sich zum Bräutigam / Der Seelen die betrübten Sünder: / ‚Das, sprach er, das ist Gottes Lamm!‘ // Ihm wird der Herr das Zeugniß geben / Vor Seiner Auserwählten Chor: / „Du warst im ird’schen Windes-Weben / Kein hin und her getriebnes Rohr; // Du strebtest nicht nach stolzen Ehren, / Entbehrtest gern das weiche Kleid, / Und nur bedacht, Mein Reich zu mehren / Bliebst du, wie Ich, in Dürftigkeit. // Drum hatt’ Ich auch dich ausgekoren / Zum Werkzeug Meiner Gnadenkraft, / Die sich eröffnet taube Ohren / Und Licht in blinden Augen schafft. // Es sind durch dich in Meinem Namen / Der stillen Wunder viel geschehn, / Sind stark geworden viele Lahmen / Auf Meinem Weg’ einherzugehn. // Auch viele sind auf ihr Verlangen / Vom Aussatz schnöder Sünde rein, / Weil sie zum Heil von Mir empfangen / Aus deinen Händen Brod und Wein. // Von
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[Lieder zu der Begräbnisrede am 4. Janur 1819:] Vor der Predigt [1.] Einen guten Kampf hab’ ich / Auf der Welt gekämpfet, / Denn Gott hat sehr gnädiglich / Meine Noth gedämpfet, / Daß ich meinen Lebenslauf, / Seliglich vollendet, / Und die Seele Himmelauf / Gott dem Herrn gesendet. // [2.] Forthin ist mir beigelegt / Der Gerechten Krone, / Die mir wahre Freud’ erregt / In des Himmels Throne; / Forthin meines Lebens Licht, / Dem ich hier vertrauet, / Nämlich Gottes Angesicht / Meine Seele schauet. // [3.] Dieser bösen, schnöden Welt / Jämmerliches Leben / Mir nun länger nicht gefällt. / Drum ich mich ergeben / Meinem Jesu, da ich bin / Jetzt in lauter Freuden: / Denn sein Tod ist mein Gewinn, / Mein Verdienst sein Leiden. // [4.] Gute Nacht, ihr meine Freund, / Alle meine Lieben, / Alle die ihr um mich weint, / Laßt euch nicht betrüben / Diesen Hintritt, den ich thu / In die Erde nieder: / Schaut, die Sonne geht zur Ruh / Kommt doch morgen wieder. // Nach der Predigt [1.] Hier ist er in Angst gewesen! / Dort aber wird er genesen, / In ewiger Freud’ und Wonne / Leuchten wie die helle Sonne. // [2.] Nun laßen wir ihn hier schlafen / Und gehn allheim unsre Straßen; / Schicken uns auch mit allem Fleiß, / Denn der Tod kömmt uns gleicher Weis’. // [3.] Das helf uns Christus unser Trost! / Der uns durch sein Blut hat erlöst / Vons Teufels G’walt und ew’ger Pein; / Ihm sey Lob, Preis und Ehr allein. //
Meinem ewigen Erbarmen / War niemals deine Lippe stumm; / Geprediget hast du den Armen / Mein süßes Evangelium. // Dein Amt mit Seegen fortzutreiben / In einer eiteln, bösen Zeit / Ließ Ich dich lang auf Erden bleiben / Geschmückt mit Greises-Würdigkeit. // Daß Meiner Wahrheit mußte huld’gen / Wer in die Kirche zu dir kam, / Wo niemand mogte sich entschuldgen. / Der Aergerniß noch an Mir nahm; // Daß durch dein Lehren selig würden, / So viele als Mein Rath ersehn, / Bis du, befreit von allen Bürden / Zu Meinen Freuden konntest gehn; // Da schloß Ich liebend dein Gefängniß / Durch Meinen Todes-Engel auf, / Und setze dir nach dem Bedrängniß / Der Welt des Lebens Krone auf. //“ Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin Dr. Hermes, S. 26–29
Am 10. Januar 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
1. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,46–47 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 52; Bl. 11r–12r; Gemberg Keine Keine Beginn einer Predigtreihe bis zum 21. Februar 1819 über das Leben Jesu vor Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
D. 10. Januar 1819. Am 1. Sonntag nach Epiphanias. Aus dem Kirchentexte Lucas 2, v. 46 u. 47 v. Dr. Schleiermacher
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Einleitung: Wie wenige Stunden haben wir für die Betrachtung des Lebens Christi bis zu der über sein erlösendes Ende. Die Lehrer des Worts wären übel dran, wenn da sie auf dasselbe in ihren Vorträgen angewiesen sind, auf die Worte des Neuen Testaments, die doch jedem als bekannt vorausgesetzt werden müssen, wenn nicht in diesen Worten selbst eine unerschöpfliche Kraft des Glaubens läge, so daß das Alte immer mit neuer Fülle das Leben dessen, der es auffaßt, durchdringt. Gott segne auch diese Betrachtung. Aus dem Text fassen wir die Beziehung Christi, des Knaben, auf die Lehrer zwiefach auf: einmal, man ist im Wahn, und meint, Christus habe als 12jähriger Knabe im Tempel gelehrt. Allein diesen anmaßlichen Vorwitz der Jugend stellt Christus nicht dar. Das widerspricht den klaren Worten des Evangelisten; er forschte bei den Lehrern, und belehrte sich durch den gegenseitigen Tausch der Gedanken. Christus war uns auch hierin ganz gleich, daß die einzelnen Kräfte sich in ihm, wie in uns, allmählig | entwickelten, und so sein Wissen. Wie könnten wir ihn zum Vorbild uns aneignen, wenn in ihm sein geistiges Vermögen nicht Entwicklung gewesen wäre. Also hervorstechende einzelne Anlagen waren in ihn nicht von der Natur gelegt – sein Scharfsinn war nur das Werk des göttlichen Geistes in ihm. Wer den Geist in sich hat und die Liebe, der forscht rein und durchdringend, das Verkehrte und Wahre scheidend, und in dem gestaltet sich das ganze geistige Leben in höherer Potenz. Aber wie wir Christum nicht erreichen, so ist auch das Göttliche in uns nur ein Schatten von dem, wie es in Christo war –
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aber es ist in uns, sowahr wir Menschen sind, und je mehr es in uns hervortritt, desto mehr wird unser Wissen und unser Handeln dem des Erlösers gleich kommen. Er erkennt selbst seine Beschränkung, sagt: er wisse nicht Zeit und Stunde seiner Zukunft – das habe sich der Vater allein vorbehalten pp. Zweitens, Christus lernte zwar, aber in seinen Fragen lag schon die Richtung auf das, was in ihm klar heraustrat, als er zum Lehrer gereift war. Da beschämte und rügte er die Pharisäer pp., so daß sie ihm feind wurden. Christus forschte nach dem jüdischen Gesetz pp. – Man fragt: warum ist die neue Offenbarung nicht plötzlich in die Welt getreten, und hat sich an das Unvollkommne angeknüpft? Allein Christus sagt: ich komme, die verlorenen Schafe Israels zu sammeln, und: ich will nicht das Gesetz zerstören. Christus befolgt das Gesetz so streng, daß er selbst alle jüdischen Feste den hierusalimitischen Tempel besuchte, wo ihm | allerlei Schlingen gelegt waren. Seine Wirksamkeit war nicht zerstörend, sondern erhaltend. So sollen wir wirken. Wenn wir mit unsrer menschlichen Weisheit der göttlichen vorgreifen wollen, so bestraft sich der Vorwitz schwer. Jene Streitigkeiten in der unsre Kirche wegen der, die dem jüdischen Wesen anhingen, und denen, die sich als freie Kinder Gottes betrachteten – allein Christus und die Apostel erklären den Juden, daß sie die dem Abraham gegebenen Verheißungen nur erfüllen wollten, und den Heiden, daß ihre Vorfahren selbst gesagt: sie seien göttlichen Geschlechts, so daß in ihrer eignen Geschichte die Spur der waltenden Vorsehung liege. Die stellen die Zerstörung der schlechten Formen der göttlichen Weisheit anheim – und bald trat das Christenthum in seiner Glorie auf und Judenthum und Heidenthum stürzten zusammen durch die Kraft des christlichen Geistes. – Also soll Christus auch als Knabe uns ein Vorbild sein – denn der Geist und die Liebe in ihm wirkten, daß er auch lernend schon das Schlechte und Edle schied und nur das Göttliche aus den Lehren der Volkspriester schöpfen wollte. Diese Kraft des Göttlichen nahm in ihm zu, und er richtete, indem er das Böse an der Wurzel angriff. So sollen wir lernen, d. i. uns ans Alte anschließen, dessen schlechte Seite von selbst verschwindet – aber immer die Richtung aufs Gute bewahren, nie die Schlechtigkeit der Andern beschönigen, sondern immer der Wahrheit die Ehre geben. Amen
3–4 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32 22 Vgl. Apg 17,28
11–12 Vgl. Mt 15,24
12–13 Vgl. Mt 5,17
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[Liederblatt vom 10. Januar 1819:] Am ersten Sonntage nach Epiph. 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] O süßester der Namen all, / Die Menschenzungen nennen, / O du der Himmel Wiederhall, / Dem tausend Herzen brennen, / O Jesus, Jesus Christus, wie / Beugt tief genug sich unser Knie, / Vor dir, der Hohen Höchstem! // [2.] O du der ewig uns befreit / Von jedem Tod und Schmerzen! / Wer, Gottesvoller Heiland freut / Sich deiner nicht von Herzen? / Dein Nam’ ist Hülfe Heil und Huld, / Vor dir verschwindet Tod und Schuld! / Wo ist wie du ein Retter? // [3.] Messias Jesus, erster Sohn / Des Vaters aller Wesen! / Zum König auf Jehovas Thron / Eh Licht ward auserlesen! / Voll Gottesweisheit, Licht aus Licht, / Voll Kraft die darstellt wenn sie spricht, / Voll reinster Gottesliebe. // [4.] Hoch über alle Namen geht / Dein Name Weltregierer, / Der Priester erster, Urprophet, / Du aller Führer Führer! / Dein ist die Tiefe, dein die Höh, / O König aller Könige, / Dein Alles Jesus Christus! // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Nie kann mein Herz dich Jesu g’nug erheben, / Du bist d[e]r Weg, die Wahrheit und das Leben, / Durch dich kann ich der Sündenlast entnommen, / Zum Vater kommen. // [2.] Du brachtest, Gottes Sohn, des Segens Fülle, / Daß ich daraus den Durst der Seele stille, / Den Durst nach Gütern, die mein Herz erquicken, / Mich ganz beglücken // [3.] Mir fehlte Licht Gott richtig zu erkennen, / Froh zu verehren, Vater ihn zu nennen; / Du aber bist zum Lichte mir erschienen, / Gott recht zu dienen. // [4.] Vor deinem Glanz entfliehn die Todesschatten, / Die mich Verblendeten umgeben hatten, / Ich sehe nun erhellt durch deine Wahrheit, / Des Höchsten Klarheit. // [5.] Verschlossen hatt’ ich mir durch meine Sünden / Den Weg zu Gott um Trost an ihm zu finden, / Ich sehnte mich, von ihm durch Schuld geschieden, / Umsonst nach Frieden. // [6.] Dies große Elend hast du weggenommen, / Bist mir der Weg in Gottes Reich zu kommen: / Dein Opfer schafft mir der Vergebung Freuden, / Und Trost im Leiden // [7.] Die bessre Zukunft war vor mir verhüllet, / Kein Strahl der Hoffnung welche Seelen stillet, / Die sich unsterblich fühlen, schien dem Herzen / In seinen Schmerzen. // [8.] Du aber großer Mittler bist mein Leben, / Willst nach der Zeit zum Himmel mich erheben, / Mir ewges Heil für meinen Geist gewähren, / Den Leib verklären. // (Brem. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Ich singe dir etc. [1.] Also hat Gott die Welt geliebt, / Daß er aus freiem Trieb / Uns seinen Sohn zum Heiland gibt, / Wie hat uns Gott so lieb! // [2.] Was sein erbarmungsvoller Rath / Schon in der Ewigkeit / Zu unserm Heil beschlossen hat, / Vollführt er in der Zeit. // Nach der Predigt. – Mel. Mir nach spricht etc. Ich fl[e]he Herr gieb Kraft und Licht, / Daß ich mein Heil erkenne, / Dein wahrer Jünger sei, und nicht / Mich nur den Deinen nenne; / Damit ich deinem Vorbild treu, / Auch meiner Brüder Vorbild sei. //
Am 24. Januar 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
3. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,32–34 Nachschrift; SAr 38, S. 493–497; Jonas Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 12r–12v; Gemberg Teil einer Predigtreihe vom 10. Januar 1819 bis zum 21. Februar 1819 über das Leben Jesu vor Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Den 24. Jan. 1819.
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Die Worte der heiligen Schrift, die wir zum Grunde unsrer Betrachtung legen wollen finden wir im Ev. Joh. Cap. 1. v. 32–34. Und Johannes zeugte und sprach: ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht, aber der mich sandte zu taufen mit Wasser, derselbige sprach zu mir: über welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, derselbige ist es, der mit dem heiligen Geist taufet. Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn. Dies Zeugniß redet von der Taufe des Erlösers, einer Begebenheit, die mit Recht von jeher als eine sehr bedeutende gleichsam als Einweihung zu seinem großen Berufe anzusehen ist, und obwol nicht deutlich darin geredet ist von dem, was im Geist des Herrn dabei vorging, so wissen wir dies doch aus den übrigen Erzählungen des heiligen Geschichtschreibers und wir können es auch aus den Folgen ahnden, so daß wir dennoch unsre Betrachtung auf zweierlei hinwenden wollen. 1. darauf, daß wir fragen nach den Beweggründen die unser Erlöser haben könnte, sich taufen zu lassen, 2. daß wir sehen auf den Erfolg, den diese Handlung hatte und auf den Einfluß derselben auf sein Leben. I. Auf die Frage, weshalb sich der Erlöser habe taufen lassen, finden wir keine Antwort in der Rede des Täufers. Es könnte scheinen, als sey das der Zweck 3 32–34] 32–36
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gewesen, daß der Geist herabfahren sollte auf ihn und so ihn erst tüchtig machen für seinen künftigen Beruf. Doch ist dies wol nicht so, sondern das Herabfahren des Geistes so zu verstehen, daß es sich mehr auf den Täufer bezog, als auf den Erlöser; denn wer die Fülle des Geistes wie er in sich trug, auf den durfte nicht erst der Geist der Erleuchtung herabfahren. So sehen wir also, daß es ein Zeichen für Johannes war, das er erbeten hatte von dem Vater des Lichts, in dessen Namen er taufte, damit er mit fröhlichem Gesicht | das schaute, wovon er schon so lange geredet hatte. Johannes aber taufte zur Buße. Das war seine Rede: thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Das[,] sollten wir glauben, hätte den Erlöser müssen zurückhalten, sich taufen zu lassen, denn er bedurfte keiner Buße, der so reines Herzens war, der hätte sogar denken müssen, daß dies Bekenntniß ihm schaden würde in der Meinung bei seinem Volke. Allein das achtete er nicht, denn er war nicht wie ein Prophet, der die Glaubwürdigkeit sich erhalten mußte, sondern er sollte das Geschlecht erlösen und was darauf Bezug hatte, dem opferte er alles auf. Zur Buße konnte er sich nur taufen lassen, indem er der Welt Sünde auf sich nahm und sie anfing zu tragen, so daß er seinen Beruf auf diese Weise mit der Taufe anfing. So sagte denn der Täufer: sehet, das ist Gottes Lamm, das der Welt, nicht seine, Sünde trägt. Gehen wir zurück auf das was den Gegenstand unsrer neulichen Betrachtungen ausmachte, wo wir sahen, daß der Erlöser keine Stufe des menschlichen Lebens überspringen durfte, sondern geborn von einem Weibe unter das Gesetz gethan in die Welt trat und lernt im Knabenalter, wie jeder aus dem Volke, so knüpfen wir daran an, daß dies das Ende seines Lernens war, da er die Taufe mit seinem Volke empfing. Der Erlöser betrachtete sich niemals allein, sondern in Verbindung mit dem ganzen Geschlecht, für das er gesandt war. Er entäußerte sich auch jedes Vorzugs vor demselben, nicht nur des Vorzugs seiner Geburt, daß er aus dem Geschlecht Davids stammte, sondern auch des Vorzugs des weiseren Geistes. Er wollte zeigen, daß jeder Vorzug nichts gelte vor Gott und daß wir allein von dem Geist, den Gott über uns ausgießen will, das Heil der Welt erwarten sollen. So fing er an, der Welt Sünde zu tragen, so war er durchdrungen von den gemeinsamen Regungen des Volkes, indem er sich hier zuerst hinstellte als Theilnehmer und Vertreter. Außerdem | war wohl unleugbar die Absicht des Erlösers bei dem Annehmen der Taufe des Johannes die, daß er die letzten Regungen des Volks, das sich zur Buße taufen ließ nutzte, um den großen Zwiespalt der Gemüther zu heben durch seinen Beitritt und sein Beispiel. Wie sehr er auch überzeugt war, daß in denen, die die Taufe nahmen, nicht alles rein war, daß viele nur in einer Art Sinnenrausch hingingen, andre durch äußre Vorzüge getrieben wurden, so hielt er es dennoch nicht 9–10 Vgl. Mt 3,2 22–23 Vgl. Gal 4,4
19–20 Vgl. Joh 1,29
20–21 Vgl. 10. Januar 1819 vorm.
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seinem Berufe zuwider, sich anzuschließen, obgleich er über jeden wol sehr erhaben war. Mögen beide Gründe des Herrn uns in Liebe leiten! Möge keiner glauben, daß er nicht berufen sey, Theil zu nehmen an dem großen Geschäft, das Gute zu wirken, das Heil zu verbreiten! jeder muß fühlen, daß die Wahrheit in seiner Seele ein gemeinsames Gut ist und jeder der einen festen Glauben gefaßt hat muß lehren und reden, um dafür zu überzeugen, wenn er nicht das Pfund vergraben will, das der Herr ihm geliehen hat, damit er währe im Reich Gottes, oder wenn er nicht will das Göttliche in sich mit Muthwillen zerreißen und ausrotten.
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II. Welchen Erfolg diese Handlung des Erlösers in seiner Seele hatte ist uns in unserm Text auch nicht gesagt, allein wir können darauf schließen aus den Begebenheiten, die sich hernach zutrugen. Bis dahin hatte er ein stilles, beschauliches Leben geführt, so daß wir nicht einmal Kunde haben über diese Zeit. Am andern Tage aber schon gesellten sich seine Jünger zu ihm. Ferner legte Johannes Zeugniß ab und sagte: der ist mitten unter euch getreten, der mit Feuer und Geist taufen wird und dem ich nicht werth bin, die Schuhriemen aufzulösen. Der ist es, der zunehmen und wachsen wird, ich aber muß abnehmen. Dies war für das große Werk des Erlösers ein wichtiges Zeugniß, daß Johannes nun nicht mehr zweifelhaft war über die Zeit des herannahenden Himmelreichs, wovon er schon immer gepredigt hatte. Dadurch kam, wenn auch nichts weiter | daraus folgte Christus in die Bekanntschaft und Aufmerksamkeit des Volks, das ein Zeugniß des von Gott gesandten Propheten, wofür sie den Johannes hielten, hochachtete. Dies beides ist nun offenbar der Erfolg im Aeußern jener großen und bedeutenden Handlung, daß der Erlöser die Taufe nahm und auch in so fern als der Anfang seines hohen Berufs anzusehen. Sehen wir ferner auf den Erfolg im Aeußern, welche herrlichen Wirkungen muß solches öffentliche Bekenntnis gehabt haben! Nur da, wo der Einzelne nicht für sich allein steht, da wo er sich fühlt einem großen Ganzen angehörig, ist er großer Bewegungen fähig, aus denen gottgesegnete Werke hervorgehn. Hier können wir uns einer wehmüthigen Betrachtung nicht enthalten. Die Wahrheit müssen wir fühlen, wie unbedeutend in jeder irdischen Hinsicht das Leben wäre, wenn die Menschen zerstreut und einzeln lebten, wir müssen sehen, wie die großen Tugenden, die Gott preisen, gar nicht hervortreten könnten und ganz für uns verloren seyn würden. So ist es denn auch im geistigen Leben im Verhältniß des Menschen zu Gott. Schön ist es, wenn der Hausvater der Priester Gottes ist, wenn er seine Hausgenossen zusammenruft zum Lobe und Preise des Herrn, schön ist es, wenn der Mensch in sich einkehrt, die ganze Welt ihm verschwunden ist, und er allein ist mit Gott und seinem Herzen, aber 7 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,12–27
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dadurch allein erreichen wir nicht unsre große Bestimmung. Der Erlöser will nicht mit Einem allein seyn, sondern er sagt zu seinen Jüngern: mitten unter euch will ich seyn und wenn [er] auch sagt: wo zwei in dem Herrn versammelt sind, da will ich nicht fehlen, so heißt das gewiß nichts andres, als da will er auch seyn, aber größer und herrlicher will er allemal erscheinen in einer größern Gemeinschaft. Wie giebt es noch so viele, die sich zurückziehn und einzeln ihre Tage hinleben, statt sich dem Ganzen anzuschließen! O mögten sie es alle fühlen, wie groß die Freude der Gesellschaft ist, wenn Gott in tausend ihm geöffnete Thore einzieht! | wie dann jeder Entschluß schneller reift, wie dann jede Kraft erhöht ist! Sehen wir nun auf das, was im Innern des Erlösers vorging, so müssen wir wol glauben, daß er sehr bewegt war. Lukas sagt von ihm, der Erlöser betete, daß der Himmel sich aufthat. Er konnte also wol nicht, wie viele seines Volkes, geistlos hingegangen seyn zur Taufe, daß es ihm nur wie eine leere Form, vielleicht des äußern Beispiels wegen gewesen wäre. So war er ergriffen, daß der Herr das verheißene Zeichen daran knüpfen konnte und den Geist sandte, der sich auf ihn herabließ. Mögten alle aber, besonders in einer Zeit, wie die jetzige durchdrungen seyn von dem Gefühl, daß das Alte neu werden mögte! Aber auch von dem Glauben, daß das Himmelreich den Menschen immer näher trete und daß der Geist Gottes auf den Nächsten sich herabgelassen habe, damit wir uns alle verbinden können zu einer großen Gemeinschaft in dem Herrn! Mögte jeder, der ein Jünger des Herrn seyn will auch der aufopfernden stellvertretenden Liebe sein Herz öffnen, nach dem Beispiel des Erlösers für alle zu beten, alle nach seiner Kraft zu leiten und zu lehren, die der Herr mit ihm verbinden will! Dann würden sich die ersten Tage der Kirche erneuern und es würden alle immer inniger fühlen, daß kein andrer Name gegeben ist, darin wir können seelig werden, als der in Jesu Christo, worin der Mensch soll vollkommen werden! Amen.
[Liederblatt vom 24. Januar 1819:] Am dritten Sonntage nach Epiph. 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Ich ruf zu dir etc. [1.] O Jesu Christ mein schönstes Licht, / Der du in deiner Seelen / So hoch mich liebst, daß ich es nicht / Aussprechen kann noch zählen, / Gieb daß mein Herz dich wiederum / Mit Lieben und Verlangen / Mög’ umfangen, / 12 Lukas] Johannes 2–4 Vgl. Mt 18,20
12–13 Vgl. Lk 3,21
26–27 Vgl. Apg 4,12
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Und als dein Eigenthum / Nur einzig an dir hangen. // [2.] Gieb daß ich deine Lieb erwähl / Als meinen Schatz und Krone, / Gieb daß sonst nichts in meiner Seel’ / Als diese Liebe wohne! / Stoß alles aus, nimm alles hin, / Was mich und dich will trennen, / Und nicht gönnen, / Daß all mein Thun und Sinn / In deiner Liebe brennen. // [3.] Wie freundlich selig süß und schön / Ist Jesu deine Liebe! / Wenn diese steht, kann nichts entstehn, / Das meinen Geist betrübe, / Weil ich aus deines Mundes Zier / Kann reichen Trost empfinden, / Der die Sünden / Und alles Unglück hier / Kann leichtlich überwinden. // [4.] Wie du mich je und je geliebt / Und auch nach dir gezogen, / So daß, eh ich was gut’s geübt, / Du mir schon warst gewogen: / So laß doch ferner edler Hirt / Mich diese Liebe leiten, / Und begleiten, / Daß sie mir immerfort, / Beisteh auf allen Seiten. // (P. Gerhard.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Geweiht zum Christenthume / Sind wir auch dir o Gott geweiht, / Nur dir zum Preis und Ruhme / Zu führen unsre Lebenszeit, / Uns deiner Vaterliebe / Durch Christum zu erfreun, / Und deines Geistes Triebe / Gehorsam stets zu sein, / Damit wir schon auf Erden / Noch mehr in jener Welt / Des Heils theilhaftig werden, / Das nur der Christ erhält. // [2.] Wie viel hat deine Gnade / Von jeher, Gott, an uns gethan! / Auf diesem Pilgerpfade / Fing kaum sich unsre Wallfahrt an, / So gabst du schon uns Armen / An Christi Reiche Theil, / Und zeigst uns aus Erbarmen / Die Bahn zu seinem Heil; / Du schafftest unsern Seelen / Früh schon Gelegenheit / Zu kennen und zu wählen / Den Weg zur Seligkeit. // [3.] Herr auch für diese Güte / Gebührt dir unser Lobgesang! / Mit freudigem Gemüthe / Bringt unser Herz dir Preis und Dank, / Daß du uns durch die Taufe / Zu Christen hast geweiht, / Und uns zum Himmelslaufe / Mit deinem Licht erfreut. / Gieb daß wir oft ermessen, / Was uns dein Wort verspricht, / Und strafbar nie vergessen, / Die dir gelobte Pflicht. // [4.] Ja hilf du selbst uns allen, / In deinem Willen stets beruhn, / Und dir zum Wohlgefallen / Nach deines Sohnes Lehre thun! / Du wirst in diesem Leben, / Wie du bis jetzt gethan, / Was wir bedürfen, geben; / Verleih uns nur alsdann / Die beste deiner Gaben, / Daß wir durch Jesum Christ / Theil an dem Erbe haben, / Das unvergänglich ist. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr etc. Gottes Wahrheit wird bestehen, / Sein Wort bleibt gewiß und fest, / Sollte gleich die Welt vergehen! / Wohl dem, der sich drauf verläßt! / Wer auf diesen Grund gebaut, / Und nur seinem Gott vertraut, / Der wird fröhlich überwinden, / Und im Tod das Leben finden. //
Am 7. Februar 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Septuagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 4,1–11 Nachschrift; SAr 38, S. 498–504; Jonas Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 13r–14r; Gemberg Nachschrift; SBB Nl 481, Predigten, Bl. 52r–59v; Jonas Teil einer Predigtreihe vom 10. Januar 1819 bis zum 21. Februar 1819 über das Leben Jesu vor Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Den 7. Febr. 1819. Die Worte, die unsrem heutigen Text zum Grunde liegen, finden sich aufgezeichnet im
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Evangelio Matth. Cap. 4. v. 1–11. Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, auf daß er von dem Teufel versucht würde. Und da er 40 Tage und 40 Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Verführer trat zu ihm und sprach: bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brod werden und er antwortete und sprach: es stehet geschrieben, der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern von einem jeglichen Worte, das durch den Mund Gottes geht. Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinnen des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab, denn es stehet geschrieben: er wird seinen Engeln über dir Befehl thun und sie werden dich auf den Händen tragen, daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Da sprach Jesus zu ihm: wiederum stehet auch geschrieben: du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen. Wieder nun führte ihn der Teufel mit sich auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt in ihrer Herrlichkeit und sprach zu ihm: dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. Das sprach Jesus zu ihm: hebe dich weg von mir Satan, denn es stehet geschrieben: du sollst anbeten Gott deinen Herrn und ihm allein dienen. Da verließ ihn der Teufel und siehe, da traten die Engel zu ihm und dienten ihm. M. A. F. Diese Erzählung wird von den Evangelisten so einstimmig nach der Taufe des Herrn durch Johannes erzählt, daß wir die wir uns den Plan ge-
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setzt haben, die wichtigsten Momente aus dem Leben des Erlösers vor unser geistiges Auge zu führen, sie unmöglich in der Reihe derselben übergehen können. Sie hat aber viel Geheimnisvolles für uns, denn es ist schwer zu denken, auf welche Weise dem Heiligen Gottes das Böse habe so nahe treten können. Wenn es nun hier so manches giebt, so wie auch im Aeußern der Erzählung selbst, was wir nicht begreifen können, so laßt uns nur das fest halten, daß der Erlöser hier ganz so erscheint, wie wir, jedoch ohne Sünde und daß in seine heilige Seele auch nicht die leiseste Spur des Bösen kann hineingezogen seyn. Aber das Offenkundige in dieser Geschichte ist für uns alle PvonS größter | Bedeutung und so reichhaltig, daß wir es hier nicht erschöpfen können. Es ist eine vollständige Darstellung von der Art, wie das Böse uns versucht, und von der rechten Wehr und Waffe, wie es abzuwehren ist, so daß der Christ an dieser Geschichte nie auslernen kann und damit sie für jeden eine heilsame Lehre werde, so wollen wir nur zweierlei betrachten und sehen 1. auf die Angriffe, welche auf die heilige Seele des Erlösers gemacht sind 2. auf die Art, wie der Herr sich gegen das Böse vertheidigte. [I.] Was zuerst die Angriffe, die der Versucher gegen den Herrn gemacht, betrifft, so geht der erste aus von dem natürlichen menschlichen Bedürfnisse. Es wird gesagt, der Herr solle 40 Tage und 40 Nächte gefastet haben und es habe ihn gehungert. Da sey der Versucher zu ihm gekommen und habe gesagt: bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brod werden. Wäre etwas Unrechtes darin gewesen, wenn der Erlöser dieser Aufforderung gefolgt wäre? Hat er nicht die Kräfte die in ihm lagen zum Besten der Menschen empfangen? Sehen wir ihn nicht, sie nachher zur Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse andrer gebrauchen und soll er, was er für andre thut, nicht auch für sich selbst thun können? Zwar sehen wir ihn nachher sich selbst immer zurücksetzen. Des Menschen Sohn hat nicht, wohin er sein Haupt lege, sagte er, und doch ging er nicht aus seiner gewohnten Lebensweise fort. Als er nach der heiligen Stadt zog und am Wege ein Feigenbaum ohne Frucht stand ihn aber hungerte, ließ er lieber den Baum verdorren, als daß er sich zu Nutz Früchte hinanbrachte und sein ganzes Leben ist nichts, als die Fortsetzung von dem, was wir ihn hier thun sehn. Es liegt aber darin ein tiefer Sinn. Betrachten wir die Sache oberflächlich, so müssen wir sagen, hat ein jeder die Kräfte die ihm von Gott gegeben sind zu seinem Nutzen, so wird es nun eben so eine jener Wunderkräfte des Erlösers seyn, denn diese sind ihm nicht mehr, als den Menschen die ihnen verliehenen Kräfte. Aber genau betrachtet müssen wir zugeben, daß 7–8 Vgl. Hebr 4,15 Lk 11,12–14.20
30–31 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58
32–34 Vgl. Mt 21,18–19;
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der Mensch, der seine Kräfte um desto mehr wie es die geistigen sind in Bewegung setzt lediglich um seine irdischen Bedürfnisse zu befriedigen, diese immer auf eine gewisse Weise entheiligt und entheiligt sollte im Leben des Erlösers nichts werden. Je mehr es die geistigen Kräfte sind, die Gewalt und ein ungesundes Gemüth über andre übt, und gebraucht wird bloß um die irdischen Bedürfnisse zu befriedigen, desto mehr sehen wir das Göttliche herabgewürdigt und je mehr wir dieses erkennen, desto mehr müssen wir niedergedrückt werden | daß wir jene Kräfte, die uns zu so viel höhern Zwecken verliehen sind, so herabgewürdigt haben. Steigen wir eine Stufe weiter hinab zu den Kräften, welche dem Menschen gegeben sind, damit die Natur zu beherrschen, so sind auch diese nur gegeben, daß das Bild Gottes, welches in der Seele jedes Menschen liegt, in allem, was er bildet und schafft auf eine edle und herrliche Weise sich ausspreche. Schwindet dieses, gebraucht der Mensch die irdischen Dinge nur, um seine irdischen Bedürfnisse zu befriedigen, so geschieht dadurch jenem hohen Gefühle Eintrag. Der Mensch erscheint hier als Knecht der irdischen Bedürfnisse und so überall, auch wenn wir auf die mehr untergeordneten getrennten einzelnen Fertigkeiten sehen, übt diese der Mensch allein um sein äußres Bestehen zu sichern, so erniedrigt er sich mehr, als er soll. Ueberall, also auch hier, soll ihn ein göttlicher Beruf leiten, auch hier soll er seinen Weg sich nicht willkürlich gewählt haben, sondern nach richtiger Schätzung seiner Kräfte nicht zu seinem Vortheil, sondern zu dem der Menschen immer Gott, von dem alles kommt, im Auge behalten und der Sinn der Worte des Erlösers ist, nicht das Brod, von dem der Mensch lebt soll ihm ein Wort seyn, das durch den Mund Gottes gegangen ist. Ist dies, so kann er alle Anfechtungen des Verführers für sein eignes Bedürfniß etwas zu thun von der Hand weisen. Nur so kann, auch wenn er auf die niedrigste Stufe im Leben gestellt ist, sich die heilige Freiheit erhalten, die ihm durch den Erlöser zu Theil geworden ist. Der zweite Angriff des Versuchers war der, daß er den Erlöser stellt auf die Zinnen des heiligen Tempels, wo immer des Volkes viel vorauf war, zu einer Tageszeit mehr, zur andern weniger und ihn anreitzt, er solle sich da hinablassen, die Engel würden ihn auf ihren Händen tragen, wenn er der Sohn Gottes sey. Wäre der Gottessohn gefolgt, so hätte er ein gefährliches Unternehmen gewagt im Vertrauen auf den göttlichen Schutz. Hat er dies nicht oft im Leben gethan? So oft er durch seine Wunderkräfte das Leiden der Menschen lindern konnte unternahm er da nicht etwas im Vertrauen auf den göttlichen Beistand und zwar so etwas, daß wäre es ihm nicht gelungen, er der Verspottete alles Volkes gewesen seyn würde? Was ist nun der Unterschied zwischen diesem und dem, was er von sich wies? Dieses, daß so oft er seine Kräfte zu irdischen Zwecken in Wirkung setzte, er dieses immer that, dem allgemeinen Rufe der Menschenliebe folgend, hier aber 23 Auge] Augen
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wäre das Hinablassen von den Zinnen des Tempels | ein zweckloses Wagestück gewesen. Er hätte nur den Bewegungsgrund haben können, vor der Menge mit dem Schutz seines Vaters zu prangen. Das hat er aber zeitlebens von sich gewiesen. So oft er aufgefordert wurde vor den Menschen Wunder zu thun, damit sie an ihn glauben, so wies er dies immer mit den Worten ab, das sey ein schlechtes, verkehrtes Volk, welches Wunder vom Himmel sehn wollte. Wenn der Mensch sich heilig halten will in seinem irdischen Leben, wenn er sicher seyn will, daß die Sünde ihn nicht in ihre Gewalt bringe, so muß er sich hüten, in verderblicher Eitelkeit zu prangen mit irgend etwas Gutem, das Gott ihm gegeben. Der Sünde wegen muß der Mensch auf sich achten, in das Innerste seines Herzens dringen, und sich einen Spiegel seines Lebens vorhalten, daß ihm nichts entgehe, was darin noch Verkehrtes und Schlechtes ist. Wäre aber die Sünde nicht in uns, was könnten wir uns Schönres denken, als daß der Mensch gar nicht mehr auf sich zu achten braucht. Betrachtet der Mensch aber in einer andern Hinsicht sein Innerstes, als in einer solchen Beschämung zu fühlen, daß er mit den Gaben Gottes nicht so gewuchert, wie er gesollt, so wird ihm diese Betrachtung zur Sünde und er wird aufgefordert zu prahlerischen Werken, die nichts sind in den Augen Gottes, nur um zu zeigen, was in ihm sey und der kann kein reiner tadelloser Diener Gottes seyn. Hätte Jesus hier ein Werk der Eitelkeit vollbracht, wie jenes war, wozu der Versucher ihn verleiten wollte, so wäre er nicht Christus der Herr gewesen und hätte nicht die Menschen erlösen können, denn seine Seele wäre nicht rein und unbefleckt gewesen. O gewiß es bedarf keiner ausführlichen Worte der Ermahnung, um dieses zu einem Gegenstand [des] Nachdenkens zu machen, daß jenes Werk der Eitelkeit ihn von Gott entfernt und daß je mehr er sich der Eitelkeit hingiebt in der Welt, desto mehr sein ganzes Wesen dem Verderben Preis gegeben wird. Das dritte was der Versucher an dem Herrn wagte ist uns das Unbegreiflichste. Nachdem er zweimal abgewiesen war, wagte er es dem Herrn zu sagen, er solle ihn anbeten, der Heilige sich vor dem Bösen demüthigen und ihn anbeten. Wie konnte er das wagen und irgend einen Erfolg davon hoffen. Freilich bei dem Erlöser konnte ihm hier eben so wenig ein Erfolg werden, als bei dem vorigen. Aber wagen konnte dies der Versucher eben so gut, als das vorige und betrachten wir gerade diese Versuchung genauer, so werden wir hier auf eine| Tiefe des Herzens gewiesen, die nur oft verborgen bleibt, aber nicht bleiben sollte. Was bietet der Versucher hier an? Er führt den Erlöser auf einen hohen Berg und zeigt ihm alle Herrlichkeit der Welt und verspricht, ihn zum Herrn über das alles zu machen, so er niederfalle und ihn anbete. Konnte den Herrn gelüsten nach der weltlichen Herrschaft? Nein, ihn nicht, weil er der Heilige war. Aber welche schwere Prüfung 16 solchen] solchen, 4–7 Vgl. Mt 12,38–39; 16,1.4; Mk 8,11–12
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für uns dies seyn muß, das sollten wir wol anerkennen, wenn wir sehen, daß dies die letzte, schwerste Prüfung des Herzens ist. Wenn wir sehen, daß der Mensch die Gaben Gottes bloß zur Befriedigung seiner irdischen Bedürfnisse und zur PFröhnungS seiner Eitelkeit braucht, so würdigt er sich herab, wenn er aber begehrt, die Menschen zu beherrschen, eine recht bestimmte sichre Gewalt über sie ausüben zu können, so denkt er, weil er ihr Wohl fördern will, wenn er soviele bloß der Eitelkeit und Sinnenlust dienen sieht, so thut es ja wohl Noth, daß das Bessre der Menschen sie beherrsche und zum Guten leite? Wenn wir uns denken, es kann der Mensch gehoben werden durch einen Augenblick, der schnell wieder verschwindet, aber im Dienst des Bösen verleitet wurde, sich diesen Augenblick zu verschaffen und nachher in einem langen reichen Leben das Gute zu schaffen, o gewiß ist dieses die schwerste Prüfung! Wie mancher hat dieser Prüfung schon unterlegen? und wie schwer es seyn muß, sie zu bekämpfen, das sehen wir, daß selbst in dem Schooß der christlichen Kirche es immer nöthig war zu streben gegen die verderbliche Lehre der Mensch dürfe Böses thun, um Gutes zu fördern und wir müssen gestehen, dies ist die schwerste Versuchung; denn wenn durch einen einzigen Augenblick, wo man dem Bösen nachgiebt, ein langes Gutes hervorgebracht werden kann, so ist dies die Versuchung, der der Mensch selten widersteht und gegen die er stets gewaffnet seyn muß. Und wodurch können wir es mehr werden, als durch die Erzählung unsres Textes? Thut aber der Mensch einmal Böses, um Gutes zu fördern, so hat ihn das Böse in seiner Gewalt, denn er ist nicht sicher, daß er es zum andren Male nicht wieder thut. Darum von dem Augenblick an, wo der Erlöser den Bösen von sich wies, war er der König, der in die Welt gekommen war, aber dessen Reich nicht von dieser Welt war. Darum laßt uns ihm gleich werden, denn nur um diesen Preis können wir uns dem Dienste des feindlichen Wesens ganz entziehen. Wer aber einmal Böses thut um Gutes | zu fördern, der ist für den Dienst des Herrn verdorben und in dem Fleisch wird er das Verderben erndten. II. Nun laßt uns aber auch auf die Waffen sehen, deren der Herr in diesem Streite sich bediente. Ueberall schlägt er den Versucher mit dem Worte Gottes, welches er sonst selten thut. Ueberall, wo er den Menschen seine eigentliche Lehre bekannt machen will, bedient er sich seiner eigenen Worte, hier aber gegen den Versucher immer des geschriebenen Wortes Gottes. Auch jene eignen Worte des Erlösers sind Gottes Wort und um desto mehr ist jenes uns zur Lehre geschrieben. Je mehr wir uns andern geben wollen, desto mehr werden wir auch in eignen Worten den Sinn unsres Gemüths aussprechen und so ist viel Herrliches der Lehre, der Dichtkunst 19 Gutes] Gute 26–27 Vgl. Joh 18,36
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und des Gesanges in die christliche Kirche gekommen, wenn wir aber zum Bösen versucht werden, so ist nichts sicher, als daß wir vor den eignen Gedanken fliehen, ihnen nicht trauen und zu jenem köstlichen Schatz des göttlichen Worts unsre Zuflucht nehmen, um dort Pfeil und Schild zu unserm Schirm zu holen. In des Erlösers Seele kam das Böse nicht hinein, es stand nur äußerlich vor ihm da. Stehet es aber uns auch nur äußerlich vor, o so findet es in unserm Innern doch immer Verwandtes und verlassen wir uns da auf unser eignes Wort, so wird es schwer werden, zwischen unsern eignen Gedanken zu richten mit den eignen Gedanken. Darum laßt uns hier zum göttlichen Wort unsre Zuflucht nehmen, nach diesem unserm Entschluß und unsre Vertheidigung gegen das Böse modeln und gestalten, dann werden wir wie der Erlöser, den Sieg davon tragen. Aber nun führt der Böse bei der zweiten Prüfung selbst ein Wort Gottes an. Ja, dieses, M. F., ist die | tiefste Grube des Verderbens. Welch sichrer Leiter ist das Wort Gottes? wie oft sind wir im Leben nicht durch dasselbe aufrecht erhalten? und der Böse kann sich auch desselben bedienen? Ja, er kann es, und es gelingt ihm nicht selten, so den zu besiegen, der sich nur an den Buchstaben hält und nicht in den Geist eindringt. Der Buchstabe aber tödtet und nur der Geist macht lebendig. Ja, auch der Buchstabe des göttlichen Worts kann tödten, wenn ein Sünder ihn deutet. Darum soll das Wort Gottes allein es nicht seyn, auf das wir uns stützen, sondern der Geist soll es seyn, und hier werden wir gewiß, wenn wir nur suchen, bald einen andern Sinn finden, der jenen zweideutigen schlägt. Im Geist ist alles frei und hier aller Widerstand gehoben, aber dazu gehört auch, daß wir fleißige Hörer des göttlichen Worts sind, damit es uns in der Stunde der Versuchung nicht fehle. Was antwortete aber der Erlöser dem Versucher? Du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen. Das ist das Wort, welches den Menschen unter das heilige Gesetz und das Gefühl der göttlichen Allmacht beugt, und aus beiden zusammengenommen entsteht dann das Herrliche, daß der Mensch Gott allein anbeten, ihm allein dienen will. Wer hat uns das richtiger mitgetheilt als der, den wir durch diese Worte selbst den Versucher besiegen sehen, und indem er uns die tröstliche Verheißung gegeben hat, er wolle kommen mit dem Vater und Wohnung in unserm Herzen machen. Ein Tempel des göttlichen Geistes soll es seyn. Welche Aufforderung uns rein zu halten und heilig zu seyn, wie der Vater im Himmel, weil das Heilige nur im Heiligen wohnen kann. Haben wir aber beides, wem anders sollten wir noch dienen wollen, als dem, der uns alle zu sich ziehen will? So laßt uns ihm nachfolgen und durch ihn das Böse überwinden! Amen.
18–19 Vgl. 2Kor 3,6 37 Vgl. Joh 12,32
32–33 Vgl. Joh 14,23
33–34 Vgl. 1Kor 3,16
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[Liederblatt vom 7. Februar 1819:] Am Sonntage Septuages. 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Ach was soll ich Sünder etc. [1.] Jesus selbst mein Licht mein Leben, / Jesus meiner Seelen Zier / Spricht „Kommt her lernt all von mir“! / Jesus dem ich mich ergeben, / Mein Heil und Gerechtigkeit, / Lehrt mich selbst die Frömmigkeit. // [2.] Ach wie ist mein Herz verderbet, / Wie fest hält das Sündenband / Leib und Seel’ Sinn und Verstand! / Was von Adam angeerbet, / Sündlich Wesen Fleisch und Blut, / Bleibet Fleisch und thut nicht gut; // [3.] Pflanz’ o Herr in mein Gemüthe / Deine große Freundlichkeit, / Sanften Muth und Frömmigkeit, / Deine Liebe, deine Güte, / Andacht, Treu und Heiligkeit, / Wahrheit und Gerechtigkeit! // [4.] Laß mich dir zu Ehren leben / Jesu meines Herzens Licht, / Du mein Heil und Zuversicht. / Mach mich dir allein ergeben, / Laß mich sterben dieser Welt, / Laß mich thun was dir gefällt. // [5.] Führe mich auf deinen Wegen, / Gieb mir deinen guten Geist, / Der mir Hülf und Beistand leist! / Laß mich deine Gnad und Segen / Stets empfinden früh und spat, / Segne Denken Wort und That. // (Olearius.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Jesu dem die etc. [1.] Daß ich die heilge Höh erklimme, / Wo unten tief die Erde liegt, / Wo Glaube der Versuchung Stimme / Und jedes Hinderniß besiegt, / Wo in des Himmels reinem Scheine / Dies Eine Ziel nur glänzend steht, / Ach Gott erhöre mein Gebet! / Nur darum bet ich, flehe, weine. // [2.] Er stieg voran die steilen Stufen, / Der Menschensohn mit Kraft und Muth, / Er hört im Jordan sich gerufen, / Und nimmt den Ruf mit aus der Fluth; / Und geht, daß er zur That sich rüste, / Die außer ihm kein Mensch begreift, / Die nur in seiner Seele reift, / Zum stillen Denken in die Wüste. // [3.] Da steht er an dem Scheidewege / Vor ihm die schauderhafte Wahl, / Hier aller Leiden Donnerschläge, / Auf seinem Weg zum blut’gen Pfahl. / Er soll, was Menschen reitzt verlassen, / Selbst ihre Liebe; Müh und Noth / Und Angst und Schmach, zuletzt den Tod, / Mit seiner schärfsten Qual umfassen. // [4.] Dort liegt der Erde reicher Segen, / Dort hängt der Ehre schöner Kranz, / Bewundrung jauchzet mir entgegen, / Die Ruhe winkt, des Goldes Glanz! / Ich sehe von des Berges Spitze / Die schönsten Reiche ausgedehnt; / Auf folge, und Judäa krönt, / Dich kniend vor dem Königssitze. // [5.] Nein, Gott gebeut, weicht Erdenfreuden, / Fort Satan hebe dich von mir! / Ich tret’ in diese Nacht der Leiden, / Und hange Vater nur an dir. / Selbst in des Sturms ergrimmten Fluthen / Umschlingt dein Arm allmächtig mich. / Ich fühle dich, ich fühle dich, / Wenn alle meine Adern bluten. // [6.] Entschlossen nun voll innern Frieden, / Wirft er sich ins Gedräng der Welt, / Er kämpfet ohne zu ermüden, / Und überwindet als ein Held, / Und hält sein Werk nicht für geendet, / Bis er, nah an der Todesnacht, / Zum lauten Siegsgeschrei „Vollbracht“ / Den letzten Athemzug verwendet. //
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Nach der Predigt. – Mel. Schmücke dich etc. Laß mich Herr zu reichem Segen, / Deinen Wandel oft erwägen, / Laß mich in der Angst der Sünden / Trost und Hilfe bei dir finden. / Und, daß ich schon auf der Erde / Deinem Bilde ähnlich werde, / Heilige des Herzens Triebe, / Salbe sie mit deiner Liebe! //
Am 21. Februar 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Estomihi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 4,18–22 Nachschrift; SAr 52, Bl. 14v–15v; Gemberg Keine Keine Abschluss der am 10. Januar 1819 begonnenen Predigtreihe über das Leben Jesu vor Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am Sonntage Estomihi. Freier Text Matth. 4, v. 18–22. (Dr. Schleiermacher)
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Heut die letzte vormittägige Betrachtung, bevor wir zu der des Leidens Christi übergehn. Da ist aus seinem Leben vor seiner öffentlichen Wirksamkeit das wichtigste wohl noch, zu sehen, auf welche Art er seine Jünger gewann. Im Text ist die Rede von vier Jüngern, die uns nach den Erzählungen von ihnen die merkwürdigsten sind, von Petrus und Andreas, zwei Brüdern, und dem Jacobus und Johannes, zwei andern Brüdern, welche Jesus zufällig traf, und zu seinen Jüngern wählte. Sehen wir erstlich, wie sich das Natürliche und Wunderbare ineinander flechten, bei der Berufung, und 2., wie das irdische Leben von da an in das geistige sich umwandelt. [1.] Um das erste klarer zu sehn, vergleichen wir die verwandten evangelischen Erzählungen des Johannes und Lucas. Nach letzterm fing Petrus auf des Herrn Geheiß eine große Menge Fische, und vorher nicht er sprach dann: gehe hinweg von mir, ich bin ein sündiger Mensch p. Wir können mit Keinem rechnen, der dieses so nimmt, daß es ganz natürlich war – denn die Nacht hindurch waren keine Fische dagewesen. Ueberall wo Christus Wunder thut, mit Bewußtsein oder ohne sein Vorwissen, da ist es ein Zeichen des Herrn, das den Menschen erheben soll zum Höheren. Alles, was wir um uns her und in unserm Leben geschehen sehen als etwas | außerordentliches und wunderbares, ist eine seltene Fügung des Himmels, 14–15 Vgl. Lk 5,4–6
16 Vgl. Lk 5,8
18 Vgl. Lk 5,5
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um uns aufmerksam zu machen auf das Göttliche. So war dieses hier ein Zeichen, dergleichen jeder Christ hat, der wiedergeboren wird zum heiligen Wandel: Das Natürliche und Wunderbare tritt beständig mit einander hervor, nur eines stärker, aber das andre immer nur scheinbar verschwindend.
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2. Wandelte sich das irdische Leben in ein geistiges. Wie es ein Unterschied ist zwischen den vertrautesten Zwölf und den übrigen Christen, so noch jetzt zwischen den Christen, die es nur äußerlich sind und die innerlich dem Herrn angehören. Jene verließen das irdische Geschäft, und so wird jeder Mensch, der wiedergeboren ist, auch in seinen Bestrebungen ein andrer, und sein Leben gewinnt einen geistigen Gehalt. Das höchste und herrlichste aus dem Weltgesichtspunkt wird auch das höchste aus dem religiösen, wenn der Beruf hinzutritt, und der Mensch mit dem Pfunde wuchert: Petrus fing viele Fische, so wir, was wir auf des Herrn Geheiß thun, wird uns gelingen, so gewiß, was wir in seinem Namen bitten, uns gewährt wird. Christus wollte ihn zum Menschfischer machen. So wir. Tiefer Sinn liegt darin, daß es Fischer waren, in diesem stillen Handwerk begriffen, die der Herr wählte. | So soll jeder von uns in seinen engen Kreisen die Kraft des Glaubens wirken lassen, und das Reich Gottes gründen an seinem Theile, still und bescheiden. Darum ergeben wir uns Christo, so wird unser Glaube zur Staude werden vom Senfkorn, und unter deren Schatten werden die Vögel des Himmels sich schirmen.
[Liederblatt vom 21. Februar 1819:] Am Sonntage Estomihi 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Ein Herz das Gott erkennen lernet, / Und sein Gesetz recht lieb gewinnt / Das sich vom eiteln weit entfernet, / Und wahrhaft himmlisch wird gesinnt, / Dem gehet Gott vor allen Schäzen / Dem ist der Herr das höchste Gut; / Es findt in ihm allein Ergözen, / Er ists bei dem es sicher ruht. // [2.] Dies höchste Gut ist lauter Liebe, / Das rufet alle Kreatur, / Die Gott aus heilgem Liebestriebe / Uns dargestellt als eine Spur, / Die uns hinauf zu ihm soll führen / Und Zeuge sein von seiner Kraft, / Die Finsterniß mit Licht kann zieren, / Die alles aus dem Nichts erschafft. // [3.] Durch Lieb allein ward er bewogen, / Daß er die Menschenseele schuf, / Und die die Sünd’ ihm abgezogen, / Doch wieder rief mit heilgem Ruf. / So Seele sucht er auch noch heute / Wie 21–22 Vgl. Lk 13,19
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er mit Liebe dich umfah; / Die schenkt er dir zur süßen Beute / U[n]d bleibt dir stets in Gnaden nah. // [4.] Er überschüttet dich mit Seegen, / Er speiset dich mit Himmelsbrodt; / Er ist dein Licht auf allen Wegen, / Er führt dich mächtig aus dem Tod. / Er tränkt dich aus den Lebensbächen / In Nöthen stehet er dir bei, / Trost wird er dir im Kreuz einsprechen, / Und stets bleibt seine Liebe neu. // (Freilingsh. Gesangb.) Nach dem Gebet. – Mel. In dich hab ich gehoffet etc. [1.] Mein Geist und Sinn ist hoch erfreut / In Gott der mich hat benedeit, / In Christo seinem Sohne, / Den er zum Heil und besten Theil / Gesandt von seinem Throne // [2.] Er hat mich von der Welt erwählt, / Und seinen Kindern zugezählt, / Er wird mich nimmer lassen, / Die Gnadenfüll gibt was ich will, / Die Lieb ist ohne Maaßen. // [3.] Bin gleich ich Sünder das nicht werth, / Bleibt seine Huld doch unversehrt, / Sie hebt sie trägt sie duldet; / Auch trifft mich nicht das Zorngericht, / Das ich sonst wohl verschuldet. // [4.] Was meine Swachheit hat gethan, / Das sieht in Christo Gott nicht an, / Wenn ihn mein Glaube fasset, / Und alle Sünd, die sich noch findt, / Mit Ernst und Abscheu hasset. // [5.] Vielmehr er schenkt mir seinen Geist, / Der mir den Weg zum Leben weist, / Und Freud ins Herze gießet, / Die jeglich Leid und Traurigkeit / Vermindert und versüßet. // [6.] So ist er denn der beste Freund, / Ders treu und gut mit jedem meint, / Der Freund ohn alle gleichen, / Wer ihn erkennt und Vater nennt, / Von dem wird er nicht weichen. // [7.] Er ist mein Leben Trost und Licht, / Mein Fels mein Heil! drum acht ich nicht, / Was mir sonst könnte werden. / Nichts ist ohn ihn nach meinem Sinn / Im Himmel und auf Erden. // [8.] Er ist allein mein höchstes Gut / Mein Herz in seinem Herzen ruht, / Es ruht in sicherm Frieden, / Wir bleiben fort, so hier als dort, / Durch Christum ungeschieden. // (Bresl. Ges.) Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu etc. Selig sind die Gottes Wort / Hören und zugleich bewahren! / Laß mein Gott, mein Heil und Hort, / Mir dis Glück auch widerfahren, / Daß die Seel’ am Wort sich labe, / Und des Himmels Vorschmack habe. // Nach der Predigt. – Mel. Preis Lob Ehr Ruhm etc. Herr was wir sind das kommt von dir! / Du hast in Christo uns erschaffen! / Gieb nun zu deinem Lob, daß wir / In Gottes Kraft und Geistes Waffen / Aus reiner Lieb’ auf deinen Wegen gehn, / Und deinen Ruhm mit Herz und Mund erhöhn. //
Am 7. März 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Reminiscere, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 2,19–23 Nachschrift; SAr 53, Bl. 9r–17r; Gemberg Keine Keine Beginn der bis zum 4. April 1819 gehaltenen Predigtreihe zur Betrachtung des Leidens Christi aus der Sicht Petri (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Erste Passionspredigt Schleiermachers im J. 1819. über 1. Petri 2, 19–23. Gemberg |
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Vormittagspredigt am 7. März 1819. von Schleiermacher.
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Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes unsres himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sei mit uns Allen jetzt und immerdar. Amen.
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M. a. F. Indem ich heut zum ersten Male zu euch rede in diesem Jahre in der zur Betrachtung des Leidens Christi bestimmten Zeit, muß ich vermuthen, ihr werdet erwarten, daß ich immer der Reihe nach einen einzelnen Theil des Leidens zum Gegenstand der Betrachtung machen werde. Ich habe es aber für nützlich gehalten, unsere Betrachtungen einmal anders zu führen, nicht so, daß wir das eine Mal auf diesen, dann auf einen andern Theil des Leidens sehen, sondern so, daß, indem wir immer das ganze Leiden des Erlösers vor Augen haben, wir nun jedes mal eine andre Beziehung desselben heraus heben. Auf diese Weise wird vielleicht nicht so bestimmt als sonst alles Einzelne in den letzten Begebenheiten unsers Herrn unsre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber desto unmittelbarer werden wir davon durchdrungen seyn, in welcher Beziehung das ganze Leiden des Erlösers auf alle unsere Bestrebungen stehe, und so werden wir um so weniger in Gefahr seyn, mehr auf das | Einzelne und äußerlich Schmerzliche zu 6–8 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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sehen, als auf das, was in seiner Seele vorging. So laßt uns zu dieser Betrachtung Gott anrufen um seinen Segen. Tex t. 1. Petr. 2, 19–23. 5
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Es ist aus dem Zusammenhange deutlich, daß der Apostel den leidenden Erlöser uns Allen zum Vorbild darstellt, wenn auch wir in dieser Welt zu leiden haben. Es ist nicht selten geklagt, daß eben dies nur zu sehr in den Betrachtungen über das Leiden des Herrn hervorgehoben, und darüber die tiefern Beziehungen auf unsre Seelenruhe und Seligkeit vernachlässigt worden; aber der Gegenstand ist zu groß für das Herz des Menschen, um ihn auf einmal ganz zu fassen, und was der Apostel selbst als richtige Betrachtung des Leidens Christi aufstellt, wie sollte sie es uns Allen nicht auch seyn! Vorbehalten also das Uebrige für die künftigen Betrachtungen, wie denn auch den verlesenen Worten des Apostels noch andre folgen, laßt uns, wie er, damit beginnen, das Leiden des Erlösers als unser Vorbild anzusehen. Es sind aber vorzüglich zwei Beziehungen, die uns in den Worten des Apostels auffallen: 1. daß wer nach dem Vorbild Christi leiden will, sich hüten | muß, daß er nicht um der Sünde und Missethat willen leide, nämlich um der Sünde willen, die in ihm selbst gewesen. Deshalb sagt der Apostel: welcher keine Sünde gethan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden. 2. müssen wir uns, soll Christus unser Vorbild seyn, davor hüten, daß nicht aus dem Leiden in uns selbst wieder die Sünde entstehe, und deshalb sagt der Apostel: welcher nicht wieder schalt, als er gescholten ward u. s. w. In diesen beiden Beziehungen laßt uns aufmerksam seyn. I. Zuerst also, m. F. – denn was wäre das, wenn ihr um der Missethat willen littet? Wenn ihr aber um der Wohlthat willen leidet und erduldet, das ist Gnade bei Gott, denn dazu seid ihr berufen. Sintemal auch Christus für uns gelitten hat, er, der von keiner Sünde wußte. Ja, m. Fr., in dieser Betrachtung müssen wir es gleich fühlen, er sei allein der gewesen, der von keiner Sünde wußte, und in dessen Munde kein Betrug erfunden ist, und der, als die Feindschaft der Welt gegen ihn auftrat, um das Leiden hervorzubringen, das mit seinem Tode endigte, sagen konnte: wer kann mich einer Sünde zeihen? Aber wie weit sind wir noch davon entfernt? | Von demjenigen an, der überhaupt noch fern ist von dem, der auch ihn berufen hat, von dem an, der noch in der Gewalt der Sinnlichkeit steht, der deswegen in keinem Augenblick seines Lebens sicher sein kann, daß nicht die Lust in ihm die 35–36 Joh 8,46
39–1 Vgl. Jak 1,15
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Sünde empfange und gebäre, bis zu denjenigen, die sich allwegs der Gemeinschaft des Herrn erfreun, auch schon die Tempel Gottes geworden sind, aber doch niemals so rein sind, wie Tempel Gottes es sein sollten, in welchen sich oft noch die Macht des alten Verderbens regt, so daß sie mit dem Apostel ausrufen möchten: wer wird mich erlösen von diesem Leibe des Todes! – bis zu denen, die mehr gereinigt fest geworden im Innern und zur Vollkommenheit der Kinder Gottes hindurch gedrungen, aber dadurch auch ein schärferes Auge erhalten haben, das die feinsten Spuren des Verderbens nicht verfehlt, und eben deshalb auch in Allem, was der Geist Gottes wirkt, die Einmischung des Sündigen gewahr werden, und wenn sie sie auch nicht gewahr werden, dennoch ausrufen möchten: Herr, wer weiß, wie oft wir fehlen? Und sehn wir auch das zweite, das der Apostel rühmt, es sei nie ein Trug in seinem Munde befunden, o so können wir uns der Betrachtung nicht erwehren, daß wie der Mensch ein Knecht der Sünde, so auch ein Kind der Lüge ist, daß der | große Hauf noch immer in der Lüge lebt, und auch die Bessern zu oft dem ausgesetzt sind, sich selbst und andern zu heucheln, und wenn die menschlichen Gedanken sich untereinander entschuldigen und verklagen, sich das heilige Bild der Wahrheit in ihrem Innern zu verzerren. O. m. F., wie müssen wir also nicht fragen: wie soll der Mensch unsträflich wandeln, damit er gleich dem Herrn immer nur leide um Wohlthat willen? Und es giebt keine andre Antwort, als die schon der alte Sänger gegeben hat: „wenn er sich hält, Herr, an deinem Wort.“ Und worauf mehr könnten wir dieses anwenden, als nur auf das lebendige Wort, das Gott in die Welt gesandt hat? Ja, wenn wir uns nur an den Herrn halten, dann wird er uns auch das herrliche Vorbild sein, – wie wir zu leiden haben. Nur nicht, meine Freunde, statt seiner und statt des Worts Gottes, das doch überall theils von ihm ausgehet, theils auf ihn hinweiset, zum Maaßstab unseres Lebens zu machen, nur nicht statt dessen menschlicher Überzeugung sich gebeugt. Denn das ist eben die Freiheit der Kinder Gottes, daß jeder seine Ueberzeugung von dem, was Recht ist, nicht von anderen soll empfahen, sondern alle sollten von Gott gelehrt sein, und nur in dem Maaß werden wir sicher sein, nicht um Missethat willen zu leiden, wenn wir mit Hinblick allein auf das Wort Gottes zu lernen | suchen was Gott wohlgefällig ist. Folgen wir aber menschlicher Meinung, so werden wir niemals sicher sein, daß wir nicht um Uebelthat willen leiden, dann pflanzen wir alle Irrthümer der Menschen durch unser Handeln immer weiter fort, und wie kann es dann anders sein, da die Sünde das Übel erzeugt, als daß wir auch leiden müssen für die Sünde? so sei denn das allein unsere feste 20 dem] den
30 daß] das
5–6 Vgl. Röm 7,24 22 Vgl. Ps 119,9
11–12 Vgl. Ps 19,13
17–18 Vgl. Röm 2,15
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Zuversicht, und die Regel unseres Wandels, daß wir über den Willen Gottes sicher zu werden suchen aus seinem Wort und dem Beispiel des Herrn. Jedes Bild menschlicher Vollkommenheit, welches wir uns selbst entworfen haben, aber wie es äußerlich sichtbar ist, sowie es streitet mit dem Bilde des Herrn und mit den Worten aus seinem Munde, o dann gleich in eine genaue Prüfung unsrer selbst eingegangen, ob es nicht eine verborgene Sünde sei, die dies Bild anders gestaltet, dann gleich von dem Abgeleiteten auf das Ursprüngliche gegangen, damit wir so heilig sein und bleiben mögen, auch dann, wenn die Zeit des Leidens kommt. Aber wenn wir diese kommen sehen, wenn auch aus den Jüngern, denen es nicht besser gehen soll, wie dem Meister, wenn auch uns der Widerspruch der Sünde trifft, o dann laßt uns vorzüglich Acht haben auf unser eigenes Herz. Freilich nicht, m. F., als ob der Christ noch eines besondern Ansporns bedürfte zu seiner Heiligung unter diesen und jenen besondern Umständen; denn es ist ja nicht die wahre | Heiligung vor Gott, wenn er etwas anders im Sinn hat, als das Streben, werth zu sein und zu bleiben der Gemeinschaft des Erlösers, also freilich bedarf der Christ unter keinerlei besondern Umständen eines besondern Ansporns: aber doch werden wir niemals und am wenigsten in dieser Zeit, wo unser Herz auf das Kreuz des Erlösers gerichtet ist, das Gefühl verleugnen können, daß sein Kreuz das ewige Sinnbild ist, unter welchem immer er der Welt dargestellt wird, und daß auch uns, wenn das Kreuz sich uns nahet, ein heiliger Schauer durchdringen muß, ob wir es auch nicht entweihen. Das aber geschehe so, daß wenn die Verwirrungen des Lebens uns nahe kommen, dann nicht das heilige Kreuz des Erlösers und die Sünde der Welt sich unter einander mischen. Ja wohl mögen wir denen sagen: o es ist nicht anders möglich, kann der sterbliche Mensch das Gefühl der Sünde nicht los werden, o möge es sich flüchten in eine andre Gegend des Lebens, aber möge es weichen von da, wo wir leiden, möge da unser Gefühl verbleiben, und nicht das Bewußtsein uns quälen, daß wir nicht des Erlösers wegen, sondern nur der eignen Sünde willen leiden! Ja das sei der Ruf, der uns am Kreuz des Erlösers ertönt, darin bleibe er unausgesetzt unser Vorbild, daß wir nicht wegen unsrer eignen Schuld, sondern nur der Sünde der Welt willen leiden. | II. Das zweite, m. F., was sich uns in den Worten des Apostels vorgestellt hat, ist, daß nun auch aus dem Leiden nicht aufs neue die Sünde entstehe. Eben dieses, m. F., ist das trübe Schicksal, welches alle Menschenkinder umfaßt hält, bis sie durchgedrungen sind in das Reich der Gnade und der Wahrheit, das ist das trübe Schicksal, daß aus der Sünde nach der Ordnung Gottes das Übel hervorgeht, daß sie nicht anders kann, als den Tod erzeugen, aber daß dann aus den Nebeln und Widerwärtigkeiten des Lebens durch das Verderben des menschlichen Herzens sich die Sünde aufs neue erzeugt. Nur darin, m. F., konnte das Leiden des Erlösers das Heil der Welt sein, weil es
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zugleich der Widererzeugung der Sünde aus dem Übel die Gränze setzt, weil aus dem Uebel, das er erlitt, keine Sünde entstehn konnte. Und auch wir, wenn wir uns auch bis zum Leiden rein bewahrt hätten nach dem Vermögen des gebrechlichen Menschen, wenn wir auch sagen könnten, wir hätten um des Guten willen gelitten, aber das Leiden erzeugt dann in unserm Gemüthe wieder die Sünde, was hülfe uns die so lange bewahrte Reinigkeit? So laßt uns denn näher achten auf das Vorbild des Erlösers, um zu sehen, wie er uns darin vorangegangen ist, daß aus dem Uebel in ihm sich keine Sünde hat gestalten können. Es findet sich zweierlei, was unsre Aufmerksamkeit festhält. | Die erste Art, wie aus dem Uebel die Sünde zu entstehen pflegt, ist, wenn der Mensch das Gute in sich überwinden läßt vom Bösen, wenn die Vorempfindung vom Schmerz oder das erste Gefühl desselben die Gewalt über ihn hat, seine Treue wankend zu machen. Laßt uns, m. F., hinsehen auf jene Zeit, wo das Leiden des Erlösers begann, und wo kein Ausgang, als durch den Tod übrig war. Wie deutlich hat er es nicht vorhergesagt, was ihm begegnen würde, und er ging doch ungeachtet des bestimmtesten Vorgefühls von seinem Leiden nach Jerusalem, weil es seine Pflicht war, mit allen frommen Seelen des Volks an heiliger Stätte die heiligen Gedächtniß Tage des Volks zu begehen, weil es seine Pflicht war, die ihn erwarteten, zu lehren die Worte der Weisheit und Wahrheit. Sehr leicht hätte er der Verfolgung der Feinde entgehen können, aber nicht ohne diese heilige Pflicht zu verletzen, und darum blieb er, obgleich er seines Leidens gewiß war, und als er vor dem Hohenpriester und den Obersten des Volks stand, und nach mancherlei vergeblichen Beschuldigungen sie ihn fragten: so sage doch, ob du seist Christus, der Sohn des Hochgelobten? da, wohl wissend, daß sein freies Geständniß sie nicht etwa zum Glaube erschüttern, sondern ihnen nur die schwerste Verant|wortung zuziehen werde, indem sie ihrem Wahn mehr geglaubt hatten, als ihm, wie leicht es also ihm auch hatte seyn können, sich damit zu entschuldigen, er habe die Obersten des Volks nicht ins Verderben stürzen wollen, da wich er auch nicht einmal aus, wie er das nach der Kraft seines Geistes wohl konnte, und auch unter andern Umständen gethan hat, nein: du sagst es, sprach er, ich bin es. Und so bewies er seine Treue gegen die Wahrheit und das Vorgefühl des Todes erschütterte ihn nicht. Und als er hernach stand vor seinem weltlichen Richter, und dieser ihn fragte: sie sagen, du seist ein König, bist du es? wiewol er leicht Mißverstand bei Pilatus vermuthen konnte, doch fing er auch hier an mit der einfachen Bejahung ja, ich bin ein König, und dazu bin ich in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit verkündige, und durch sie herrsche. So, m. F., ist das das erste heilige Vorbild, einer unerschütterlichen Standhaftigkeit, zu beharren beim Willen Gottes, und in dieser Treue beim Vorgefühl des Leidens und, selbst beim Anblick des Todes[,] nicht im mindesten ab25–26 Vgl. Mt 26,63
33 Vgl. Mt 26,64; Lk 22,70
35–39 Vgl. Joh 18,33–37
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wendig machen zu lassen. Aber, m. F., dazu gehört dann auch solche feste Überzeugung, als der Erlöser hatte, und diese ist das erste, wonach wir trachten müssen, weil wir ohne sie auch nicht so stark seyn können. Es ist nur der feste Glaube, der den Menschen stark machen kann gegen | alles Böse, und darum ist das köstlichste Ding, daß das Herz fest werde. Ja, wollen wir, schwach wie wir sind, sicher sein, daß nicht die Furcht uns abwendig mache vom Guten, wollen wir mit unserm Kreuze, dem Kreuze des Erlösers Ehre machen, – vor allen Dingen laßt uns darnach trachten, daß das Herz fest werde. Ja, bei seinem Kreuze beschwöre ich euch, laßt euch nicht irren in den wechselnden Vorstellungen und Lehren der Menschen über das, was Recht ist, begnügt euch nicht mit einer halben Ueberzeugung, die vom Menschen kommt, sondern daß das Herz im Ganzen fest werde, daß ein unerschütterlicher Glaube euch beseele, dafür sorgt in den Augenblicken eurer Ruhe, aber in der Gegenwart Gottes und des Erlösers, damit ihr die unerschütterliche Ueberzeugung gewinnet von dem, was Gott wohlgefällig ist, denn nur die stärkt, und nur was so fest ist, als der Erlöser, kann so treu seyn. Aber die zweite Art, wie oft aus dem Uebel die Sünde zu entstehn pflegt, ist die, wenn das Gefühl des Unrechts den Menschen hinreißt, und auch das ist nichts andres, als daß er das Gute überwinden läßt vom Bösen. Darum erinnert der Apostel, daß der Erlöser nicht gescholten habe, als er gescholten ward. Er, m. F., der sonst wohl schalt auf die, welche die Schlüssel des Himmelreichs hatten, und keinen hinein ließen, | er dessen ungeachtet schalt nicht wieder, als er gescholten ward, sondern verstummte. Wie denn? konnte er den geringsten Verdacht gegen sich selbst haben, daß, wenn er nun schelten werde, etwas Sündhaftes sich hineinmischen werde? Diesen Verdacht konnte er nicht haben, und doch schalt er nicht wieder, warum nicht? Darum nicht, weil jeder Tadel, so nothwendig er ist in der Welt, und so heilig das Recht und die Pflicht dazu ist, weil jeder Tadel nur Gutes wirken kann nach der Stimmung, in welcher ihn die Menschen aufnehmen. Nicht nur der reine Eifer muß ihn aussprechen, sondern die Menschen müssen ihn auch anerkennen. Aber, m. F., wenn der Mensch immer das Mangelhafte und Böse, das in ihm ist, auch in Andern voraussetzt, können wir es den Menschen verargen, wenn sie voraussetzen, daß wir nicht den reinen Eifer haben, wo wir unsre eigne Sache führen? Und das war es, warum der Erlöser nicht wieder schalt, als er gescholten wurde, sondern verstummte. Das heilige Recht des Tadels gab er auf, um es nicht zu entweihen, als er selbst angegriffen war, und solche Festigkeit war in ihm, daß er sich das nicht nur erlaubt, sondern das sichre Gefühl hatte, sein Schweigen strafe in diesem Fall eben so hart, als in andern Fällen seine Rede. Wohlan, m. F., das sei unser Vorbild. Wir können das nicht an uns rühmen, was wir vom Erlöser | 5 Vgl. Hebr 13,9
22–23 Vgl. Lk 11,52
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rühmen können. Wer kann es wagen, zu sagen, daß in dem Augenblick, wo er selbst angegriffen wird, es auch der unverfälschte Eifer für die Sache der Wahrheit allein ist, was ihn der Welt entgegentreten läßt? wer möchte das behaupten? Darum thut es uns allen noch besonders weh, daß wir unsere Sache nicht selbst führen, sondern sie allein dem überlassen, der allein recht richtet. Lieber uns selbst hingegeben, als das thun, was nicht dem Blick des Erlösers gemäß seyn möchte. So lange wir noch unangefochten in der Welt stehen, da gestritten gegen alles Böse mit aller Kraft, aber wo wir selbst angegriffen werden, o daß nur da der reine Eifer für das Gute nicht verunreinigt werde! Und wahrlich, m. F., uns ist es und muß es viel leichter seyn, unsere Sache dem anheim zu stellen, der da recht richtet, da wir nicht so allein stehn, als der Erlöser stand. Denn schon jetzt ist sein Stuhl aufgerichtet zum Gericht, und nicht unser eignes Gefühl ist es, auf das allein wir uns verlassen müssen. Ein großes Bündniß ist um uns, dem wir angehören, und die christliche Wahrheit ist in dem Herzen der Menschen auf einen Thron gesetzt, den die Hölle nicht wieder umstürzen kann, und Christus selbst richtet durch seinen Geist, so daß wir um so sichrer schweigen können, | wo wir gescholten werden. Beobachten wir nur das beides, daß wir fest beharren beim Guten, aber auch, daß wir uns hüten, unsre eigne Sache zu führen, damit nicht in das Reine das Unreine sich mische, dann werden wir auch darin nach menschlichem Vermögen dem Erlöser ähnlich werden, daß aus unserem Leid nicht wieder die Sünde sich entwickelt. Aber ihr möchtet nun sagen, daß unsre Betrachtung das Wort des Apostels nicht in seinem vollen Umfange getroffen habe. Das freilich sehen wir nun wohl, wie wir es machen müssen, daß wir nicht um Missethat willen leiden; aber der Apostel hält es uns auch vor, um des Guten willen zu leiden, und ist darum in meiner Rede ein Wort, wie wir nach diesem Kreuze streben sollen? Nein, m. F., aber soweit sich der vom Erlöser entfernen würde, der um eigner Missethat willen leidet, eben soweit wird der von ihm entfernt sein, der lüstern die Leiden um des Guten willen sucht. Als der Apostel lebte, hatte das Gute offnen Widerstreit. Ist das nicht mehr, fliehen die Bösen vor den starken Dienern des Herrn, giebt es nichts zu leiden um des Guten willen, wohl uns dann ist ja die verheißene Zeit da, daß wir den Herrn sehen wie er ist, daß der solange das Schwert gebracht hat, nun den Friedenszweig bringt. Fühlen wir aber, daß der | menschliche Zustand hiervon noch weit ist, fühlen wir, daß der Sieg gewiß ist, aber nicht ohne Leiden, nun wohl, so laßt uns nicht bange seyn, jeder ist da gewiß noch berufen, um des Guten willen zu leiden, ohne daß er es sucht. Nur mit frischem Muth das Rechte auf der Stelle gethan, auf die der Herr uns gestellt hat, o es wird uns niemals fehlen das beseligende Theil an dem Kreuz des Erlösers! Amen.
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[Liederblatt vom 7. März 1819:] Am Sonntage Reminiscere 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Laß mir die Feier deiner Leiden, / O mein Erlöser, heilig sein, / Sie lehre mich die Sünde meiden, / Und dir mein ganzes Leben weihn; / Dir der so ruhig und entschlossen, / Für uns die Last des Kreuzes trug, / Deß Herz, als schon sein Blut geflossen, / Für uns in heißer Liebe schlug. // [2.] Ich will in Andachtreichen Stunden / An deinem Leidenshügel stehn, / Dort will ich für die Todeswunden, / Mit Dank und Thränen dich erhöhn; / Will tiefgerührt die Huld ermessen, / Womit dein Herz die Welt umfaßt, / Und niemals undankbar vergessen, / Was du für uns erduldet hast. // [3.] So werden diese Feierzeiten / Nicht ungenützt vorüberfliehn; / Indem wir dich zum Kreuz begleiten, / Wirst du uns näher zu dir ziehn; / Dein Leiden wird ein kräftger Segen, / Die Liebe zündet Liebe an, / Und froh gehn wir der Zeit entgegen / Wo jedem winkt die Leidensbahn. // (Meister.) Nach dem Gebet. – Mel. Jesu meiner Seele etc. [1.] Du der Menschen Heil und Leben, / Deß sich meine Seele freut, / Der für mich sich hingegeben, / Stifter meiner Seeligkeit! / Lieber wolltest du erblassen, / Als mich im Verderben lassen; / Ach wie dank, wie dank ich dir, / Mein Erlöser gnug dafür! // [2.] Du betratst für uns zu sterben / Willig deine Leidensbahn, / Stiegst uns Leben zu erwerben / Gern den Todesberg hinan; / Du vergaßest eigne Schmerzen, / Trugst nur uns in deinem Herzen; / Diese Liebe preisen wir, / Unvergeßlich sei sie mir. // [3.] Meinetwegen trugst du Bande, / Littest [f]recher Lästrer Spott, / A[chtete]st nicht Schmach noch Schande, / Zu versöhnen mich mit Gott; / Mich hast du der Noth entrissen, / Die mich hätte treffen müssen. / Wie verpflichtet bin ich dir, / Lebenslang mein Heil dafür. // [4.] Frevler krönten dich zum Hohne, / Deine Stirne blutete / Unter einer Dornenkrone, / König aller Könige, / Das hast du für mich gelitten, / Mir die Ehrenkron’ erstritten, / Preis Anbetung Dank sei dir / Ehrfurchtswürdigster dafür. // [5.] Du der tausendfache Schmerzen / Mir zu Liebe gern ertrug, / Deinem großmuthsvollen Herzen / War mein Heil Belohnung gnug, / Trost in meinen letzten Stunden / Floß auch mir aus deinen Wunden, / Herr ich dank ich danke dir / Einst im Tode noch dafür. // [6.] Ruh im Leben, Trost am Grabe, / Unaussprechlicher Gewinn, / Den ich dir zu danken habe, / Dir deß ich nun ewig bin! / Jesu dir mein Herz zu geben, / Deiner Treue nachzustreben, / Dir zu traun zu sterben dir, / Dies dies sei mein Dank dafür. // (C. F. Neander.) Unter der Predigt. – Mel. Freu dich sehr etc. O geheiligte Gemeine, / Blick zu deinem Haupt empor, / Zum Messias deinem Freunde, / Den zum Retter Gott erkohr! / Welche Wonn und Seligkeit / Weckt die stille Leidenszeit, / Sie entreißt uns dem Getümmel, / Hebt den Vorhang vor dem Himmel. //
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Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr etc. Leiden wie der Mittler, leiden, / Wollen wir zu Gott gekehrt; / Sterben wollen wir mit Freuden, / Wie sein Tod uns sterben lehrt. / Sehen werden wir dann ihn, / Tod o Tod du bist Gewinn, / Bist ein Ausflug in die Hütten, / Die er auch für uns erstritten. //
Am 21. März 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Laetare, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 2,24 Nachschrift; SFK 9, Bl. 1r–9r; Gemberg Keine Keine Teil der vom 7. März 1819 bis zum 4. April 1819 gehaltenen Predigtreihe zur Betrachtung des Leidens Christi aus der Sicht Petri (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Zweite Passions-Predigt von Dr. Schleiermacher, fürs Jahr 1819. über 1. Petr. 2, 24 Gemberg. |
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Vormittags-Predigt, gehalten am 21. März 1819.
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Die Gnade unsres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes unsres himmlischen Vaters und die trostreiche Gemeinschaft seines heiligen Geistes sei mit uns Allen jetzt und immerdar. Amen. 10
Die Worte der heiligen Schrift, welche wir zum Grunde unsrer Betrachtung legen wollen, lesen wir 1. Petr. 2, 24.
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Diese Worte, m. and. F., folgen auf diejenigen, die wir zuletzt zum Gegenstand unsrer Betrachtung gemacht haben, anfangend davon: daß alle Christen allein um des Guten willen leiden müßten. Dieser große Gedanke zieht den Apostel fort in die tieferen Betrachtungen des Leidens unsers Heilandes. Der Anfang: welcher unsre Sünde selbst geopfert hat an seinem Leibe auf dem Holz – ist in Uebereinstimmung mit mehreren ähnlichen Stellen, vorzüglich für die geschrieben, die vorher einen Dienst der Opfer dem Höchsten darbrachten, um ihnen zu zeigen, wie alles Frühere der Schatten 7–9 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
13 Vgl. 7. März 1819 vorm.
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gewesen, mit dem Herrn die Wahrheit gekommen, und wie nun kein Dienst der Opfer weiter nöthig sei. Mannichfaltig ist die Art, wie die Apostel sich dieses Bildes bedienen, | indem sie bald den Herrn selbst das Gott wohlgefällige Opfer nennen, und ihn bald darstellen als den Hohenpriester, der sich selbst als Opfer dargebracht habe. Hier sagt er, der Herr habe unsre Sünde geopfert an und mit seinem Leibe zugleich am Holz, indem er damit das ausdrückt, daß sie in Beziehung auf seinen Tod verschwinden solle. Dies drückt er deutlich aus in den folgenden Worten: auf daß wir der Sünde abgestorben der Gerechtigkeit leben. Dies ist die nächste allgemeine Beziehung des Leidens und Todes unsers Herrn für uns, die wir ihm angehören, daß mit seinem Tode auch wir der Sünde absterben und der Gerechtigkeit leben sollen. Laßt uns zuerst diesen Zusammenhang im Allgemeinen uns vor Augen stellen, und dann besonders sehen, wie dies eine ausgezeichnete und besondere Kraft und Wirkung des Todes unsers Herrn und Erlösers gewesen sei. I. Mit dem Tode unsers Herrn sollen wir der Sünde absterben und der Gerechtigkeit leben. Es drängt sich wohl einem Jedem von selbst auf, der Sünde absterben, heiße, aller Gemeinschaft mit ihr entsagen, sich von allem Antheil an ihr losmachen, und von den Freuden | die sie gewährt in dem verderbten Zustand der Menschen; und auch, wie das mit dem Tode des Herrn zusammenhängt, drängt sich wohl einem Jeden auf, weil nirgends mehr die Sünde der Menschen in ihrem unheilbringenden Wesen sich darstellt, als wie sie es war, die den Tod des Herrn bewirkte. Welche Fülle von Verschuldungen finden wir hier von dem Leichtsinn und der Ernstlosigkeit jenes großen Haufens an, der heute ihn pries und bewillkommnete als den von oben herab Gesandten, und morgen das: „kreuzige, kreuzige ihn“ – über ihn herabrief, bis zur unbegreiflichen Verblendung desjenigen, der bis jetzt zu den Treusten seiner Anhänger und Verehrer gehörend, auf einmal das verderbliche Werkzeug seiner Feinde wurde: von dem Stolz und Uebermuth der Obersten des Volks, die nicht leiden mochten, daß ihr Ansehn erschüttert würde durch einen, der nicht zu ihnen gehörte und um dies zu retten, sich verstockten gegen alle Erweisungen der göttlichen Gnade, bis zur Engherzigkeit jenes obersten Gewalthabers, der denen, über die er zu gebieten hatte, nicht abzuschlagen | wagte das Leben eines Mannes, den er zwar gering schätzte, aber doch für unschuldig erkannt hatte: und zwischen diesen äußersten Punkten, wenn wir bedenken, was alles der Erlöser gethan, welche Verdienste er sich erworben hatte um sein Volk, welche allgemeine Verhärtung des Herzens, welche allgemeine Nichtachtung des Höchsten und Göttlichsten! Ja wohl mögen wir es sagen, nirgends zeigt sich die 27 Lk 23,21
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Sünde so reich und gewaltig, nirgends so unheilbringend, als in demjenigen, was sie an unserm Herrn und Heiland vollbracht hat. Darum wie tief eingepflanzt den Menschen auch das Gefühl ist, das das Gute und Böse von einander scheidet, wie es selbst niemals so ganz erstorben war, daß nicht dieser Unterschied immer gedämmert hätte auch vor den sonst blinden Augen, nichts war im Stande, die Seele so zu erfüllen mit dem Abscheu vor dem Bösen, als jener Frevel, der die Ursache war von dem Tode des Herrn. Aber dies beides vermag kein Mensch zu vereinigen; sterben wir von diesem Gefühl ergriffen der Sünde ab, so müssen wir auch der Gerechtigkeit leben; und so ist nothwendig, wer der Sünde stirbt, | daß er der Gerechtigkeit lebe. Gewiß noch tiefer muß uns dieses ergreifen, wenn wir bedenken, daß das Leben der Menschen überhaupt ein gemeinsames ist, daß kein Einzelner eine Schuld allein trägt, daß die Sünde eines Zeitalters fortwirkt auf das andere, und daß wir nicht nur zu allem Bösen, das wir irgend außer uns sehen, den Keim und ein schwaches Ebenbild in unserm Innren finden, sondern auch einen natürlichen Zusammenhang zwischen allem Bösen aller Zeiten und aller Menschen. Darum wollen wir die Sünde bestreiten, so müssen wir auch ihr Werk vernichten, so müssen auch wir suchen, dies Werk der Sünde in Segen zu verwandeln, wie es dazu vom Vater bestimmt ist, so müssen auch wir überall in uns und außer uns die Sünde verfolgen, die sich also an dem Herrn verschuldet hat, und durch diesen beständigen Streit gegen das Böse den Herrn des Lebens lebend wieder zurückführen in die Welt. So ist dies beides eins, der Abscheu gegen die Sünde, die dem Herrn den Tod gebracht hat, und das Absterben der Sünde und das Leben in der Gerechtigkeit. Wir aber, m. g. F., kennen keine andere Gerechtigkeit, als | die des Glaubens, alles was nicht aus dem Glauben kommt, muß selbst wieder Sünde werden, denn es ist nur der Geist, der lebendig macht, und nur durch den Geist, der vom Herrn kommt, vermögen wir in der Gerechtigkeit des Herrn zu leben, der Buchstabe ists, der tödtet; drum finden wir in den Schriften der Apostel beides so oft in Verbindung, daß wir in Christo sollen aufleben und in ihm der Gerechtigkeit leben, und zweitens, daß wir in Christo sollen dem Gesetz absterben, und Gott leben und dem Glauben, und so unmittelbar es anderwärts in den Schriften der Apostel ausgesprochen wird, ist ein Theil desjenigen, was Petrus in den Worten des Textes sagen wollte. Ja wir können es nicht leugnen, das Gesetz gab den Vorwand, unsern Herrn und Heiland dem Tod zu weihen, und wie er hing an dem Holz, welches das Gesetz bezeichnet als einen Ort des Fluches, so war er durch die Kraft des Gesetzes eben dahin gebracht. Das Gesetz gab den Obersten des Volks den Vorwand, als er auf die Frage des Hohenpriesters: „bist du Gottes 30 Vgl. 2Kor 3,6 32–33 Vgl. Röm 7,6 37–38 Vgl. Gal 3,13 (mit Zitat von Dtn 21,23) 39–2 Vgl. Mt 26,63–68; Mk 14,61–65; Lk 22,70–71
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Sohn?“, mit Ja antwortete, ihn nach dem Gesetz als einen zu verurtheilen, der Gott gelästert habe; das Gesetz gab den Vorwand, ihn vor den heidnischen Richter zu führen, und die Ausführung des Gesetzes zu fordern; das Gesetz gab dem Richter den Vorwand, sich selbst in Unschuld zu waschen, die Schuld auf sie zurückzuwälzen, und ein Urtheil zu vollziehen, welches er selbst | für ungerecht erkannte. So ward der Herr verkauft und in den Tod gegeben durch das Gesetz. O, m. th. F., gehn wir von diesem Beispiel aus, welch einen nur zu reichen Schatz von traurigen Erfahrungen können wir daran anschließen, wie oft das Böse gethan ist unter dem Schutz und Vorwand des Gesetzes, wie oft das Gute verhindert ist unter dem Deckmantel des Gesetzes. Ja wenn wir sagen müssen, das Gesetz sei ein wichtiger Punkt in der göttlichen Ordnung, so müssen wir eben so gewiß sagen: sobald den Menschen etwas Höheres gegeben wird, und er noch an dem Niederen hängt, so wird, das früher Segen war, Fluch, was sich früher der Sünde kräftig entgegenstellte, selbst zur Sünde, und wir können keinen größern Abscheu haben vor der Kraft des todten Buchstabens, als vor der Kraft der Sünde überhaupt. Wir können es nicht leugnen, was das Gesetz bewirkt, hängt ab von der Gesinnung, mit der es von den Menschen aufgefaßt wird; ist es ihnen ein Spiegel des göttlichen Willens, dann helfen sie ihm in allen seinen Unvollkommenheiten nach; sehen sie es als die von Menschen gesetzte Schranke gegen das Böse an, dann suchen sie dem wahren Sinn desselben zu entgehen, und finden den | verderblichen Schutz gegen den Geist darin. Wo wir so das Gesetz gemißbraucht sehen, auf dieselbe Art, wie von den Feinden des Herrn, dann werden wir in derselben Kraft mit dem Apostel ausrufen: So bin ich mit Christo dem Gesetz abgestorben; und es hat keinen Theil mehr an mir! und uns wenden zu der allein seligmachenden Kraft des Glaubens. Eben so gewiß kann, wer in der Wahrheit der Gewalt des todten Buchstabens des Gesetzes abstirbt, nicht anders, als in der Kraft des Glaubens leben; denn allein kann der Mensch nicht stehen, einen Zusammenhang muß er haben, das zerstückelte Einzelne muß ihm ein lebendiges Ganze werden, und diesen Zusammenhang gibt nur eine bindende Kraft, aber diese ruht nicht mehr im Gesetz, wenn es sich einmal bewiesen hat als todten Buchstaben, sondern in der lebendigen Kraft des Glaubens. Das war es, m. g. F., was jene große Veränderung in der Welt hervorgebracht hat, daß die Jünger unsers Herrn und Heilandes durchdrungen wurden von heiligem Abscheu gegen eine Gewalt, die obwohl von Gott gekommen, so lange Zeit sich bewährt hatte als Leben und Sitte unter dem Volk erhaltend, sich nun zeigt als todten Buchstaben. Da warfen sie von sich das | Joch des Buchstabens, und wie sie es abgeschüttelt hatten, regte sich der kräftige Geist des Glaubens in ihrem Herzen; sie fühlten es, daß nicht aus der Kraft des Buchstabens göttliches Leben 2–3 Vgl. Mt 27,1–2; Mk 15,1; Lk 23,1
4–6 Vgl. Mt 27,24
25–26 Vgl. Röm 7,6
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hervorgehen könne. Darum abgestorben dem Gesetz, fragten sie nun das gläubige Herz und aus dem entwickelte sich wieder das Gesetz der Liebe, welches die Christen zusammenhält. Und so, m. g. F., muß auch uns immer beides einerlei seyn, der Sünde absterben und dem Gesetz: denn hat der Mensch nur ein äußeres Gesetz, dann findet er in demselben nur den Vorwand zur Sünde. In der Gerechtigkeit leben, zu welcher uns Christus von Gott gegeben ist, und in der lebendigen Kraft des Glaubens leben, die den lebendigen Geist aufnimmt und von Innen gestalten läßt, das ist die große Verwandlung, die von der ersten Stiftung der Kirche der Tod des Herrn entwickelte, so daß derselbe dargestellt wird als der Keim, aus dem alles Heilige hervorgeht. Und daß eben dies eine ausgezeichnete und eigenthümliche Kraft des Todes unsers Erlösers sei, darüber werden wir im zweiten Theil unsrer Betrachtung nachdenken. | II. Es könnte leicht Jemand sagen, der Erlöser ist allerdings durch die Gewalt der Sünde gestorben, aber wie oft ist ein Gleiches schon vorher geschehen, und wie oft hat sich dies wiederholt! Wie vielen von Gott gesandten Männern war das Nämliche begegnet vor ihm; wie finden wir oft dasselbe Schauspiel sich wiederholen an den Geschlechtern, die an der göttlichen Offenbarung des Herrn keinen Theil hatten, und unter denen doch solche aufstanden, die als ein Licht erschienen in der sie umgebenden Finsterniß; wie viele waren ein Opfer geworden der offnen Feindschaft des Bösen gegen das Gute, und sehen wir erst nach den Zeiten des Erlösers auf alle die Zeugen des Glaubens, die ihr Blut zu seiner Ehre und für seinen Namen vergossen, so sehen wir da dieselbe Fülle der Gewalt des Bösen. Trotz alles Guten, welches seine Lehre unter den Menschen gestiftet hat, sind selbst die Völker, die seinen Namen tragen, nicht frei davon, daß nicht eben so das Gesetz geltend gemacht würde gegen das Gute. Aber unser Glauben gegen den Erlöser beruht darauf, daß er in der That ein Einziger war in seiner Art. Sehen wir aber, m. g. F., auf diejenigen, die im Glauben an | den Erlöser geblutet haben, o dann müssen wir es fühlen, es ist seine Kraft, die sie belebte, er ist es selbst, der in ihnen wiedergelebt und gelitten hat. Darum bleibt der Apostel Petrus eben in diesem Gedanken, indem er dieses ausspricht: Leiden wir um des Guten willen, so soll auch unser Leiden angesehn werden als Theil und Fortsetzung von dem Leiden des Erlösers. So ist auch in dieser Hinsicht der Herr unser Vorbild, und wenn wir so leiden, daß dadurch die Menschen aufgeregt werden, der Sünde abzusterben, so leiden wir, wie er, und es ist nur der Zusammenhang des Leidens seiner Jünger mit dem Leiden des Herrn, wodurch es Abscheu erregen und ein Leben der Gerechtigkeit Andern einpflanzen kann. Betrachten wir andres menschliche 34–35 Vgl. 1Petr 2,20−21
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Leiden, abgelöset von denen des Erlösers, so müssen wir gestehen, kein andres hat jemals im Menschen das Absterben der Sünde bewirkt. Denn die Giftbecher und Blutbäder, worin andre treue Seelen den Tod fanden, [sind] doch nie die Führer geworden und Leitsterne zur Heiligung! Hat es niemals Einen gegeben, der so der Anfänger und Vollender des Glaubens geworden | wäre, so muß auch eine eigenthümliche Kraft in dem Tode des Erlösers liegen, und sie wird sich leicht zeigen. Denn sollen die Menschen der Sünde absterben, so muß erst die Gerechtigkeit, der sie leben sollen, erst da seyn. Aber wo haben wir die Gerechtigkeit erblickt, wo ist uns das Ebenbild Gottes erschienen, als in dem Einen? Jeder Andere hat seinen Theil an der Sünde auch getragen. Der mußte erst dasein, und leiden durch die Kraft der Sünde, welcher in allen Dingen versucht ist, gleich wie wir, aber frei gewesen ist von der Sünde: in ihm mußte sich die Gerechtigkeit lebendig zeigen. Es ist, m. g. F., eine natürliche Neigung im Menschen, das Unrecht zu entschuldigen; ist sie geheiligt durch das Trachten nach dem Reich Gottes, so ist es die heilige Liebe, die das geknickte Rohr nicht zerbrechen will. Sehen wir irgendwo die Gewalt der Sünde gegen das Gute sich erheben, haben wir aber das vollkommne Gute nicht vor Augen, ist das Ziel unsers Bestrebens noch unrein, so werden wir bald den Unterschied verschwinden sehn zwischen der Sünde und dem schwachen unreinen Guten, dem wir leben wollen. Das ist der Zustand, in welchem der Mensch ausruft: Wer wird mich am Ende erlösen von diesen Leiden des Todes? Darum konnte keines andern Menschen | hingebender Tod, keines Andern Vorbild das hervorbringen, daß die Menschen der Sünde absterben, sondern die Gerechtigkeit von oben mußte aufgehen in der menschlichen Gestalt, der Heilige mußte leiden, in welchem sich uns der Wille Gottes rein darstellt, damit wir wüßten, wem wir zu leben hätten, wenn wir der Sünde absterben wollen; es ist das Göttliche, was in ihm erschien, die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes, aus dem wir allein Gnade nehmen können. Aber so wie zuerst die Gerechtigkeit mußte aufgegangen seyn, so laßt uns nun fragen: woher sollte den Menschen die Kraft kommen, der Gerechtigkeit zu leben, wenn er auch den Entschluß dazu gefaßt hat? Habt ihr einen Menschen im Sinne, durch den ihr geistige Gaben von oben empfanget, meint ihr, daß es die Liebe zu ihm sei, die auch die Kraft geben könne, der Gerechtigkeit zu leben? Das sei uns zu wenig! Wenn wir einmal abgerissen haben die Seile des Verderbens, daß wir wieder dieselben anknüpfen, die uns einem unvollkommnen Menschen, wie wir, näher ziehen. Allein die Liebe zu Gott mußte ausgegossen werden in unsere Herzen, sollen wir der Gerechtigkeit leben, denn wir sehen ja, daß sie es allein ist, die dies | vermag. Heilig sollen wir zu werden suchen, wie unser Vater im Himmel heilig 5 Vgl. Hebr 12,2 38 Vgl. Röm 5,5
12–13 Vgl. Hebr 4,15
16–17 Vgl. Jes 42,3; Mt 12,20
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ist. Aber wo war die Liebe der Menschen zu Gott! ihre Herzen waren verfinstert: das Bewußtsein des ewigen Wesens war freilich nie ganz verschwunden aus der menschlichen Seele, es lebte doch in dieser Verunstaltung das Beste und Herrlichste, aber unter der Gewalt der Sünde waren alle Gaben Gottes wieder zur Sünde geworden, darum waren ihre Herzen ihm entfremdet, und Feindschaft gesetzt zwischen Gott und den Menschen, die Feindschaft, mit welcher unerfüllte Wünsche erfüllt sind gegen die verborgenen Kräfte. Darum mußte die Liebe Gottes wieder ausgegossen werden über die Menschen, und wodurch konnte dies geschehen? Eine neue himmlische Gabe mußte den Menschen gegeben werden, Einer mußte alles heiligen, was verunreinigt war durch die Sünde, Einer den Menschen die Augen öffnen über das Göttliche. Darum mußte sich die Liebe Gottes verherrlichen, daß er ihnen seinen Sohn schenkte, nicht nur, um ihnen voranzugehen als der Anfänger und Vollender des Glaubens, sondern er mußte sterben für sie, damit sie denjenigen wieder lieben konnten, der seines Sohnes | nicht verschonte, damit sie Vertrauen gewönnen zu demjenigen, von dem sie glauben mußten, daß er ihnen mit ihm alles Andre schenken würde. O, m. g. F., wie erhebt sich uns hier das Leiden des Erlösers über alle diejenigen, die auch um des Guten willen gestorben sind. Nur derjenige, der die Gerechtigkeit ans Licht gebracht, und die Menschen mit Gott wieder versöhnt hat, daß sie die verkehrte Feindschaft ihres Herzens fahren lassen und wieder umkehren zu Gott, der allein konnte ihnen die Kraft geben, der Sünde und dem Gesetz abzusterben. In diesem Sinne sagt der Apostel, er habe unsre Sünde geopfert an seinem Leibe am Kreuz. In uns lebt nun die heilige Kraft des Glaubens, da ist mit ihm für uns gestorben alles Gesetz und alle Gewalt des todten Buchstabens über die lebendige Seele; da ist ausgegangen der Tröster in unsre Seele, und entzündet in uns die Kraft, die den durch den Geist belebten Buchstaben der göttlichen Ordnung in der Welt erweckt. Er, dem wir es allein verdanken, daß wir nur durch ihn und mit ihm und für ihn der Gerechtigkeit leben, er, den uns der Herr gesandt hat, um durch ihn seine verlorenen Kinder ihm wieder zuzuführen, ihm sei Lob, Ehre und Preis in Ewigkeit. Amen
[Liederblatt vom 21. März 1819:] Am Sonntage Lätare 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht etc. [1.] Seele geh auf Golgatha, / Sez dich unter Jesu Kreuze, / Daß ein kräftger Trieb dich da / Zu erneuter Buße reize! / Wolltst du unempfindlich seyn, / O 14 Vgl. Hebr 12,2
17 Vgl. Röm 8,32
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so wärst du mehr als Stein! // [2.] Ja Erlöser, ohne Schuld / Hast du Pein und Tod erduldet, / Nur aus reiner Liebeshuld! / Was du littst hab ich verschuldet; / Nur der Sünde finstre Macht / Hat dich an das Kreuz gebracht. // [3.] Unbeflecktes Gotteslamm, / Tief verehr ich deine Liebe, / Schau auf deines Kreuzes Stamm, / Daß ich mich im Glauben übe, / Daß dein bittrer Todesschmerz, / Rein’ge mein beflecktes Herz! // [4.] Denn es giebt nur Einen Dank, / Daß ich dir mich ganz ergebe, / Und aus rechtem Liebesdrang / Deinem Reich auf Erden lebe; / Wie du mein, so will ich dein / Lebend leidend sterbend sein. // [5.] Kreuzige mein Fleisch und Blut, / Lehre mich die Welt verschmähen, / Laß mich dich o höchstes Gut / Allerwärts vor Augen sehen! / Daß ich zur Gerechtigkeit! / Sei in deiner Kraft bereit’t. // (Schmolke.) Nach dem Gebet. – Mel. O Gott du frommer etc. [1.] Seht welch ein Mensch ist das! Kommt Menschen hier zusammen, / Ihr Ungerechten seht die Unschuld hier verdammen, / Unheilge sehet hier den Heiligsten verhöhnt, / Mit Dornen nur zum Spott des Himmels Herrn gekrönt. // [2.] Seht welch ein Mensch ist das, in Schmach in Schmerz und Wunden! / Hat eure Knechtschaft nicht den freiesten gebunden? / Hat eure Lust nicht ihm der Schmerzen Füll’ erregt? / Ists eure Bosheit nicht, die an das Kreuz ihn schlägt? // [3.] Seht welch ein Mensch ist das! ja opfert Thränenfluthen / Denn eure Blutschuld macht des Heilands Herz verbluten! / Geht nicht vorüber hier! doch seht durch allen Schmerz, / Seht durch die offne Brust in eures Jesu Herz. // [4.] Seht welch ein Mensch ist das! Kommt Menschen hier zusammen / Zergeht in Dankbarkeit, erglüht in Liebesflammen! / So lang das Auge blickt, sei nie der Wunsch gestillt, / Die Herrlichkeit zu schaun, die ihn am Kreuz erfüllt! // [5.] Seht welch ein Mensch ist das! wie reich an Trost und Gnaden / Seht welche Segensfüll’ aus ihm sich will entladen, / Seit sein vergoßnes Blut der Sünde Macht bezwingt, / So oft sein Blick vom Kreuz in eure Seelen dringt. // [6.] Seht welch ein Mensch ist das! Zieht er nicht von der Erde / Euch nach? Fühlt ihr euch nicht zu Gott erhoben werden / Sterbt nicht der Sünd ihr ab, indem das Haupt er neigt / Lebt ihr nicht himmlisch auf, wenn er zum Himmel steigt! // (Liegn. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Nun laßt uns den Leib etc. [1.] Die Seele Christi heilge mich, / Sein Geist versenke mich in sich, / Sein ganzes Leiden Kreuz und Pein, / Mög’ immer meine Stärke sein. // [2.] O Jesu Christ erhöre mich! / Errette von mir selber mich! / Dein Leben flöße du mir ein / Ein’n Reben laß mich an dir sein. // [3.] Bis daß am Ende aller Noth / Du mich einführst zu meinem Gott, / Daß dort mit deinen Heil’gen All’n, / Mög’ auch durch mich dein Lob erschall’n. //
Am 4. April 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Palmarum, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 2,24–25 Nachschrift; SAr 52, Bl. 16v–17v; Gemberg Keine Keine Ende der vom 7. März 1819 an gehaltenen Predigtreihe zur Betrachtung des Leidens Christi aus der Sicht Petri (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am Sonntag Palm. Dr. Schleiermacher.
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1Petr. 2, v. 24 und 25 von den Worten an: durch dessen Wunden ihr heil geworden seid pp. 5
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Es liegt ganz im Zusammhang unsrer Leidensbetrachtungen des Herrn nach Petri Beispiel, heut davon zu reden, daß Christus auch den Schmerz vernichtet hat und wir in ihm ein freudreiches Leben führen. Christus ist auch Versöhner, d. h. mit ihm überwinden wir Schmerz und Uebel. Dieses ist er unmittelbar und mittelbar. a. unmittelbar: Es ist das allgemeine christliche Gefühl, daß der Schmerz der Sünden Sold sei. Nun sind wir in der Gemeinschaft mit dem Sündlosen, aber nicht frei von der Sünde, nur frei von der Herrschaft der Sünde, daher mit der nun noch in uns sich erneuernden Sünde auch ihre Nachwehen sich wiederholen. Der willige Schuldlose war nie ohne Schmerz. Nun aber nahm der Erlöser doch hierin Theil am Menschlichen; er hatte nicht die Schuld der Sünde in sich, und doch alle bittern Schmerzen. Dieser Schmerz ist der Tiefste, der uns treffen kann, daß unser Herr leiden mußte – es ist nicht ein sinnliches Gefühl der Theilnahme an seinen schmerzhaften Empfindungen, sondern dieser höhere Schmerz, daß der Heilige litt, um der Welt Sünden willen. Erkennen wir diesen Schmerz | als den höchsten, so kann kein andrer, der aus diesem Zustand als Mensch und als verkehrtes Geschöpf hervorgeht, uns ähnlich treffen, und wir müssen jedes Uebel mit Leichtigkeit ertragen. 10–11 Vgl. Röm 6,23
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Im Glauben an ihn haben wir ein schmerzloses Leben; er hat uns von der Sünde befreit, mithin sind wir auch nicht mehr Knechte des Schmerzes, und tragen ihn wie der Herr, der ganz schuldlos ihn willig übernahm. Bleiben wir so dem Gelübde treu, uns zu verleugnen, so haben wir das nicht früher auszusetzende, sondern in jedem Augblick der Bekehrung gewonnene ewige, d. h. freudreiche Leben. So gilt es, durch seine Wunden sind wir geheilt. Das sind aber nicht Wunden der Sünde, denn darin war er unverwundbar, sondern des Schmerzes, folglich auch die Heilung als Versöhnung zu fassen.
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b. mittelbar Schließen wir doch immer fester die Kette, die am Herrn hängt, an der er uns zu sich herauf ziehen will. Petrus sagt: ihr waret wie irrende Schafe, und seid nun bekehrt zum Hirten und Aufseher eurer Seelen. Oft daß jeder hierher und dahin für sich abgesondert geht, und nicht eine frohe enge Gemeinschaft der Christen stattfindet in der jeder die Zusammengehörigkeit Aller lebhaft empfindet, das ist die Ursach von dem Schmerzenszustand der Menschen. Einer hemmt, verderbt den andern, nicht handeln sie zusammen in Liebe und im Glauben an Einen Herrn, wie die Einzeln, so die Staaten. Hier gedenken wir | schmerzlich der Zwistigkeiten der Christen untereinander wegen ihres Glaubens. Gewiß, daß noch nicht die rechte Kraft des Glaubens in solchen ist, und nicht der Glaube an die Wahrheit der Ueberzeugung. Die günstigste Seite dieses Theils der Kirchengeschichte ist die, daß die Feinde sich mindern, die außerhalb des Christenthums stehen, sie einander versuchen und prüfen, wer mit der ächten Stärke seinem Glauben anhängt. Aber die Einzelnen haben es immer doch verschuldet, Gott läßt es zu als Versuchung, aber wären Alle auf dem wahren Punkt, so könnten sie so nicht handeln, und Zwietracht bestehen in der Mitte der Heerde Christi. Bei aller äußern Verschiedenheit in Sitte und Ansicht, überhaupt in Buchstaben, die jeder respectiren muß, können sie einander als Brüder tragen und in dem Einen Herrn leben.
[Liederblatt vom 4. April 1819:] Am Sonntage Palmarum 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Christus der uns etc. [1.] Seele mach dich heilig auf / Jesum zu begleiten! / Gen Jerusalem hinauf / Geh an seiner Seiten! / Folg ihm Schritt bei Schritte nach / Auf der Bahn der Leiden, / Bis aus allem Ungemach / Du ihn siehest scheiden. // [2.] Festlich geht das Gotteslamm / Hin den Tod zu leiden, / Wie geschmückt ein Bräuti-
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gam / Geht zu Hochzeitsfreuden! / Zions Töchter drängen sich, / Froh den zu begrüßen, / Ueber den bald bitterlich / Ihre Thränen fließen. // [3.] So zieht er ein König ein, / Freudenvoll empfangen, / Und der Zepter wartet sein, / Und des Purpurs Prangen! / Sieh da steht das Kreuz! der Thron / Drauf man bald ihn setzet, / Und man flicht die Dornenkron, / Die sein Haupt verletzet. // [4.] So besteht in dieser Welt / Christi Reich in Leiden, / Spott und Hohn ist ihm bestellt / Bis zum letzten Scheiden! / Aber herrlich überglänzt / Alles jene Krone, / Die sein siegreich Haupt bekränzt, / Ewig ihm zum Lohne. // (Liegn. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. O Gott du frommer. [1.] Du Heilger Schmerzensmann vom Vater hart geschlagen, / Herr Jesu dir sei Dank für alle deine Plagen, / Vom letzten Abendmahl bis an den Kreuzestod, / Für alle Seelenangst und alle Leibesnoth. // [2.] Denn dies dein Leiden hier beweiset unsern Herzen, / Wie lieb uns Gott gehabt; es werden deine Schmerzen / Der Freuden Quell für uns: erlöst ist nun die Welt, / Die Gnade wiederbracht, und Aller Heil bestellt. // [3.] Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben; / In deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben, / Dein Kreuz ist unser Trost, dein Schmerz ist unser Heil; / Und durch dein Leid wird uns die höchste Kraft zu Theil // [4.] Wer nun in dieser Kraft will Kampf und Leiden wagen / Wird unter Kreuzeslast nicht freudenlos verzagen, / Er trägt mit heiterm Muth wie du die Dornenkron’, / Und deine Liebe bleibt sein reicher Freudenlohn. // [5.] Dein Streit kommt ihm zu gut, wenn er im Streite lieget / Daß auch im Todeskampf er rüstig bleibt und sieget. / Durch deine Bande fühlt er sich, o Herr, befreit, / Der Schmerz entflieht, die Welt blüht auf in Seeligkeit. // [6.] Die Schwachheit ist geheilt durch deine Siegeswunden; / In deinem Wort „vollbracht“ ist Muth und Glaube funden! / Gieb daß an Keinem, Herr, dein Tod verloren sei, / Vollbringe jeder so, und leb und sterbe frei! // (Thebesius.) Unter der Predigt. – Mel. O daß ich tausend. etc. Getrost mein Herz, hier ist ein Tröster, / Der Freude dir für Trauern giebt, / In Christo heiß ich ein Erlöster, / In ihm, der mich zum Tod geliebt. / Versenke nun in seinen Tod, / So Leibes als der Seele Noth. // Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr, etc. Wachet auf ihr meine Sinnen / Wachet auf Herz Seel und Muth, / Lasset uns recht lieb gewinnen / Jesu theur vergoßnes Blut! / Lasset uns mit ihm zugleich / Eingehn in sein Freudenreich; / Lasst uns ihn so fest umfassen, / Daß er nimmer uns kann lassen. //
Am 9. April 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Karfreitag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,25–26 Nachschrift; SAr 52, Bl. 17v–19r; Gemberg Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am Charfreitage. Evang. Luc. cap. 24, v. 25 und 26. (Dr. Schleiermacher) Wir haben in dieser Zeit, welche der Feier der Leiden unsers Erlösers bestimmt ist, die erlösende, und die aussöhnende und beseligende Kraft derselben betrachtet, und gesehn, wie Christus auf Erden kam, um die Herrschaft der Sünde zu brechen, und um den Frieden und die Seligkeit zu geben. In seinem Tod kumulieren sich seine Leiden, daher wir an dem heutigen Gedächtnißtage desselben beides zusammenfassen, und die Nothwendigkeit seines Todes beleuchten. | Zwei Jünger des Herrn hatten das Gerücht von seiner Auferstehung vernommen, und begegneten auf dem Wege nach Emmaus dem Herrn, den sie nicht kannten, und sagten ihm, wie die Jünger nicht geglaubt hätten dem Gerücht. Da sagte Jesus: O ihr Thoren und träges Herzens p., Christus mußte solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen. Wohl mußte er es nach Gottes ewigem Rathschlusse, wenn die Welt erlöst und versöhnt werden sollte. Das ist die zweifache Kraft seines Todes; wer sie erkennt, erkennt die Nothwendigkeit seines Todes, und hat Glauben an denselben als den Erlösungstod. Wir haben durch eine große Reihe von Jahrhunderten die Kraft seines Todes sich äußern sehn, daher müsse nie der Vorwurf uns treffen, daß wir Thoren seien und träges Herzens. Die Jünger traf der, aber für sie läßt sich anführen, daß jene Kraft in ihren ersten Anfängen sich da erst kund gab. Sie sahn den Sündlosen zum schmachvollsten und schmerzlichsten Tode verurtheilt, und waren Zeugen des bittersten Hohnes, der da sprach: du wolltest den Tempel in 23 Tempel] Leib 23–2 Vgl. Mk 15,29–31. Das Schreibversehen Leib statt Tempel stammt wohl aus Joh 2,19–21.
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drei Tagen aufbauen, wohlan so rette dich! und du hast Todte erweckt, nun befreie dich selber. So sahn sie den Sieg der Bosheit, und den Heiligen schmählich enden. So wankte ihr Glaube an Christum, den Erlöser (und Erlöser war er nur durch seine Leiden, durch die er in seine Herrlichkeit einging). Aber er hätte nicht wanken sollen; denn in Christo war das Göttliche sichtbar bis zum Tode, er ging fest und ruhig ein in den Willen Gottes, den schon die | heiligen Söhne der Juden verkündigt, und sein heitres Vertrauen hätte ihnen wohl den Glauben an den Sieg der Erlösung bewahren sollen. Möge der von uns nimmer weichen. Zweitens aber mußte Christus sterben; denn in seinem Leiden liegt die Kraft der Versöhnung. Schon die Propheten verkündigten die kommende Seligkeit, die vom Volke Gottes über alle Geschlechter ausgehen würde. Wir sahen durch die Geschichte diese Kraft beurkundet, und dürfen daher nimmer zweifeln an der Göttlichkeit Christi bei der Betrachtung seiner schmerzlichen Leiden, so daß man uns tadeln könnte: ihr Thoren und trägen Herzens, dem Wort Gottes zu glauben. Aber die Jünger zweifelten, denn sie waren Zeugen des (wenn nicht körperlichen) geistigen Schmerzes Christi über das Mißlingen seiner großen Entwürfe, und hörten ihn rufen: mein Gott, warum hast du mich verlassen? Indessen hätten sie doch nicht wanken sollen, da sie gar hörten, daß Christus dem Schächer das Paradies verheißt, und indem er ihm die Thore des Himmels öffnet, selber die Seligkeit des Himmels in sich tragen, und daher den Frieden Gottes fühlen muß. So sagt er: es ist vollbracht, die Beseligung und Verherrlichung der Menschen geschehen, auch darin spricht sich das Gefühl der höchsten Zufriedenheit aus. Dann: Mutter, der ist dein Sohn pp., so schlang er das Band der Liebe um beide im Beisein der übrigen Verwandten p. So also, wie Christus, sollen wir leiden und sterben, dann werden | auch wir den Eingang gewinnen zur Seligkeit, die wir schon hienieden haben, je nachdem wir den Glauben haben an die ewige Verheißung, die an alles Große und Herrliche geknüpft ist.
[Liederblatt vom 9. April 1819:] Am Charfreitage 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Nun ruhen alle Wälder etc. [1.] Was hast du Herr empfunden! / O trauervolle Stunden, / Seid meinem Geiste nah! / Ich steh erstaunt und bete / An der geweihten Stätte, / Am 18–19 Vgl. Mk 15,34; Mt 27,46 25 Vgl. Joh 19,26–27
20–21 Vgl. Lk 23,43
23 Vgl. Joh 19,30
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jammervollen Golgatha. // [2.] Hier seh ich dich gelassen / Zu meinem Heil erblassen, / Sanft neiget sich dein Haupt! / Wohl mir in Todesleiden, / Wohl mir im letzten Scheiden, / Wohl jedem welcher an dich glaubt. // [3.] Dir folgen meine Thränen / Mit meiner Liebe Sehnen, / Und fallen auf dein Grab; / Hier will ich dich zu ehren / Dir neue Treue schwören, / Hier sterb ich jeder Sünde ab. // [4.] Drum darf ich nicht verzagen, / Auch in den bängsten Tagen, / Ich sterbe wie du starbst, / Und weiß, daß, wenn ich sterbe, / Ich jenes Heil ererbe, / Die Seeligkeit, die du erwarbst. // (Jauersch Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Nachdem sein Leben hier auf Erden / Nur Liebe war in jeder That, / Soll Jesus nun ein Opfer werden / Zu unserm Heil nach Gottes Rath. / Den zu vollziehn ging er mit Freuden / Den Weg des Todes und der Leiden, / Den unsre Rettung ihm gebot; / Blieb voll Erbarmen gegen Feinde, / Und liebte seine schwachen Freunde / Troz ihrer Schwachheit bis in Tod. // [2.] Mit unerschütterlicher Treue / Verzieh er dem verirrten Freund, / Sobald gepreßt von Schmerz und Reue / Er bitterlich den Fall beweint. / Sein Blick voll Majestät und Gnade / Ruft den verirrten von dem Pfade / Des Leichtsinns und der Sicherheit; / Immitten eigner Pein den Schwachen / Durch sanften Zuspruch stark zu machen, / War für ihn Trost und Seligkeit. // [3.] Er hängt am Kreuz, durchgrabnen Händen / Entströmt das Blut, der Feinde Spott / Sucht seine Pein in Hohn zu wenden: / ,,Er steig herab, ist er von Gott“. / Doch er mit himmlisch sanften Mienen / Fleht laut „Vergieb mein Vater ihnen; / Was sie jetzt thun, verstehn sie nicht.“ / Es strömt auf ihn von tausend Zungen / Das schwarze Gift der Lästerungen, / Er aber schweigt und rächt sich nicht. // [4.] Der Schächer fleht: Herr denke meiner! / Und schon indem der Todt ihn hält, / Hört er das Flehn, erbarmt sich seiner / Und öffnet ihm die künftge Welt. / Durch Angst und Nacht sieht er die Seinen / Untröstbar seinen Tod beweinen, / Und fühlet ganz der Freunde Schmerz; / Er dessen Quaal kein Herz erweichet, / Dem niemand nur ein Labsal reichet, / Spricht den Verlaßnen Trost ins Herz. // [5.] Drum mich zur Liebe zu entzünden / Erheb ich mich nach Golgatha, / Die Selbstsucht ganz zu überwinden / Erwäg ich still was dort geschah. / Wer Jesu Namen nennet, trete / Still mit mir an sein Kreuz, und bete / Ihn mit des Dankes Thränen an. / Hier lerne jeder ohne Klagen / Die Lasten seiner Brüder tragen, / Und siegen auf der Leidensbahn. // (Sturm.) Unter der Predigt. – In eigner Melodie. O Lamm Gottes unschuldig / Am Stamm des Kreuzes geschlachtet, / Allzeit erfunden geduldig, / Wiewohl du warest verachtet, / All Sünd hast du getragen, / Sonst müßten wir verzagen, / Erbarm dich unser o Jesu. // Nach der Predigt. – Mel. Der Tag ist hin etc. [1.] Dir sterb ich einst, wenn ich dir Jesu lebte, / O daß dein Bild im Sterben mich umschwebte, / O ging ich dann in Gott getrost wie du, / Und für gerecht erklärt zur Grabesruh. // [2.] O weiht ich dann durch freudig selig Sterben / Die Seelen rings um mich zu Himmelserben, / Wenn sich an mir verherrlicht deine Kraft, / Die auch im Tod aus Jammer Wonne schafft. //
Am 11. April 1819 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Ostersonntag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 5,6–8 (Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 52, Bl. 19r–20r; Gemberg Keine Keine Keine
Epistel am Ostersonntage. 1Cor. 5, v. 6–8. Nachmittagspredigt von Dr. Schleiermacher.
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Wenn wir heute das Fest des ins neue Leben erstandenen Erlösers feiern, so können wir wohl nicht würdiger Ostern halten, als indem wir froh sind auch unsers neuen geistigen Lebens, in welches wir aus dem alten der Sünde übergegangen sind, und indem wir unsern Antheil an der Erlösung rein und voll bewahren. Die Juden feierten die Ostern zum Andenken der Befreiung aus ägyptischer Dienstbarkeit, und indem wir an den Erstandnen denken, können wir zugleich nur an unsere Wiedergeburt denken, und Bedacht nehmen, daß wir nicht im alten Sauerteig, sondern im Süßteig der Lauterkeit und der Wahrheit Ostern halten. Aber wie können wir so ganz ein neuer Teig werden, da ein wenig Sauerteig den ganzen Teig versäuert? Diese Fordrung scheint uns zu hoch. Denn wenn wir auch frei sind von der Knechtschaft der Sünde, so verschwindet sie doch nicht so, daß ihre auch noch so schwachen Spuren nicht das ganze Leben wieder verunreinigen sollten. | Wir müssen bedenken, daß der Apostel alles darauf bezieht, daß wir in Lauterkeit und Wahrheit Ostern halten. 1. Dieses können wir nur, wenn auch der Krieg nicht aufhört im Leben zwischen dem Gesetz in unsern Gliedern und dem höhern Gesetz des Geistes. Wie wir unsre Nebenmenschen so, wie uns selber, lieben sollen, so auch aufrichtig und offen ihnen kein Hehl haben unsrer Verschuldungen und Schwächen, wie gegen uns selbst nicht. Verheimlichen wir nicht, was sündhaft in uns sich regt, so häufen wir nicht die Sünde, und machen uns geschickt, des Erstandnen Gedächtniß zu feiern. 19–20 Vgl. Röm 7,22–23; 8,2
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2. Hier, m. F., wir mögen in uns oder um uns schauen, umhüllen den innern Blick dunkle Nebel, und das Wesen, das ist, begreifen wir nicht, sowenig in der Natur als in den Fügungen des Höchsten im Menschleben. Eine Sehnsucht nach der Vollendung, wo lichtes Schauen ist, liegt in uns, und erwacht besonders am heutigen Tage. Die Seligkeit in diesem Hoffen und Verlangen ist ein Vorschmack der vollendeten, aber nur dann, wenn dieses Verlangen kein träges unthätiges ist. Beseelt es uns thatkräftig, dann ists wohl ein Schein, der jenseit des Grabes in unsre Seele herüberleuchtet, denn wir leben der Wahrheit, deren Vaterland droben ist. Der erstandne Erlöser ist der Schimmer der Wahrheit aus dem Jenseit herüber: die Jünger, indem sie ihn Angesichts schauten, wie konnten sie es wohl anders, als mit Lauterkeit und Wahrheit? Hätten sie ihm, der aus dem Grabe zum | Leben wiederkehrte, wohl anders ins Auge fassen können, als daß die kein Hehl hatten dessen, was ihnen vorgegangen war? Und so war es denn auch. Erheben wir nun unsern Blick zum Erstandenen auf, und schauen in ihm den Glanz der Wahrheit, so wie wir doch heute feiernder als je thun, so trachten wir ja, daß unsre Seele im Süßteig der Lauterkeit und Wahrheit sich freue, auf daß wir die Ostern nicht entweihen. 3. Endlich sehn wir ja, daß lautre Wahrheit die Bedingung ist, unter der wir die Wirkungen der Erlösung in uns tragen. Wir sind uns bewußt unsres Antheils an der Lebensgemeinschaft mit dem Herrn, aber durch jene ist dieser Antheil erst bedingt. Denn der Apostel befaßt die Erlösung in ihrer Wirkung als Glaube, Liebe und Hoffnung, aber könnten wir den Glauben haben, wenn Unwahrheit in uns ist, in der wir nur unsicher hin und herwanken, und können die Liebe haben, indem wir mit Lug und Trug umgehen gegen den andern, und Hoffnung, in der Vollendung die Wahrheit zu schauen, wenn sie nicht hienieden schon sich in uns wiederspiegelt? Leben wir nun auch in diesem Süßteig, m. F., so hüten wir uns, daß er nicht wieder zum Sauerteig werde, wie der Teig, der der Luft lange ausgesetzt ist. Der Teig muß durchs Feuer gehn, wenn er nicht versauern soll, so müssen wir in Trübniß und Leiden bestehn, und hie uns lauter und wahr zeigen, so erst werden wir aus den Schmerzen in die Seligkeit mit dem Erlöser auferstehen.
23 Vgl. 1Kor 13,13
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Am 12. April 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Ostermontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,44–48 Nachschrift; SAr 58, Bl. 1r–4r; Woltersdorff Keine Nachschrift; SN 622, Bl. 4v–5r; Crayen Nachschrift; SAr 52, Bl. 20v–22v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Berliner Intelligenz-Blatt: Vor der Predigt Vokalmusik
Aus der Predigt am 2. Ostertage 1819. Luc. 24 v. 44–48.
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Das Leiden der Tod, und die Auferstehung des Erlösers werden von den Aposteln in so genaue Verbindung gesetzt daß sie von beiden zusammen gewöhnlich nur redeten. Sie hielten das Erlösungswerk und den Erfolg erst für vollendet durch die Auferstehung, ihr Glaube an den Herrn war durch sie erst ganz fest geworden. Wir haben in der dem Andenken der Leiden des Erlösers geweihten Zeit mit einander geredet von der heiligenden und beruhigenden Kraft seines Leidens, daß wir das können zeigt daß wir hierin einen großen Vorsprung haben vor den Jüngern des Herrn, wir haben die herlichen Folgen derselben vor uns, wir wissen es welche Segnungen und welches Leben aus seinem Tode hervorgegangen sind. Sie aber hatten nicht den tröstlichen Erfolg und die Früchte vor sich. Sie hielten alles für verloren und mußten trauern und zagen und für uns giebt es keinen so großen Schmerz der dem ihrigen könnte gleich kommen. In Beziehung aber der Auferstehung sind wir im entgegengsetzten Verhältniß mit ihnen; Sie waren Augenzeugen derselben gewesen, waren selbst mit dem Herrn umgegangen, er hat ihnen nach der Auferstehung erst ganz die Schrift und ihr Verhältniß zum Vater und zu ihm aufgeklärt, hat da erst ihren geknickten Muth erhoben. Für uns aber trit diese Begebenheit in dunkle Ferne zurück. Doch sollten wir uns nicht fragen? Ob der Erlöser uns Thoren und trägen Herzens würde schelten können, wenn sie auf unser Gemüth nicht eben so seegensreich wirkte wie damals auf die Jünger. – In den Worten unsers Textes haben wir, abgesehen von dem was der Herr einigen Einzeln ihrer beson21–22 Vgl. Lk 24,25
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dern Eigenthümlichkeit wegen war, einen kurzen aber ganz das bezeichnenden Auszug von dem was er seinen Jüngern im allgemeinen war, nach der Auferstehung. Nach Anleitung desselben wollen wir nun betrachten und uns fragen: | 1. Giebt es ein ähnliches Verhältniß, einen ähnlichen Umgang zwischen dem Erlöser und uns jezt wie damals zwischen ihm und den Jüngern welche er durch sein Erscheinen erfreute. 2. In wie fern es für uns einen solchen Umgang giebt, wie kann er uns dasselbige sein was er seinen Jüngern war nach der Auferstehung? 1. Können wir uns in eine ähnliche Lage versetzen wie die Jünger? Der Erlöser sah seinen Umgang mit ihnen nach der Auferstehung nicht mehr an wie den vor seinem Tode, denn er sagt: da ich noch bei euch war, es war also ihr Verhältniß zu ihm wol ein persönliches aber kein sinnliches, von der sinnlichen Gegenwart des Herrn mußten sie sich entwöhnen. Auch war seine Gegenwart nur aus Augenblicken bestehend, nicht anhaltend sondern flüchtig, und auch nicht jedes mal allen Jüngern erschien der Herr. Sein Leben in der Welt war wirklich mit seinem Tode beschlossen. So waren es also nur besonders schöne Augenblicke, in denen der Herr in voller Verklärung vor ihnen stand und so sich ihnen kund gab als den, dessen geistige Nähe sie stets umschwebe. Dadurch ward ihnen volle Gewißheit daß er immer mitten unter ihnen sei, und davon nährte ihr Glaube sich, ihr ihm geweihtes Leben. So aber ist der Herr noch immer unter uns, wir fühlen seine unmittelbare Nähe oft deutlicher als gewöhnlich, und in manchen Augenblicken steht das Bild des Erlösers in voller Verklärung vor unsrer Seele, wir werden dann lebhaft uns bewußt was er ist, und was er uns ist, und wir genießen dann wirklich seinen persönlichen Umgang, unsre Verbindung mit ihm knüpft sich fester und inniger, unser Gefühl und Gedanke ist ganz mit ihm beschäftigt und von solchen Augenblicken verbreitet sich Licht und Kraft über unser ganzes Leben. Wol nicht alle Christen haben sich eines so persönlichen Umgangs mit dem Erlöser zu erfreuen, nicht allen erscheint er auf gleiche Weise. | Manche halten sich mehr an seiner Lehre und an der Geschichte seines Lebens auf Erden als daß ein unmittelbares Herzens Verhältniß auch noch sollte statt finden. Ihr kälterer Verstand sucht was ihm genügt, doch ihr Herz nährt sich von dem was andre an ihren Gemüthern erfahren von den unmittelbaren Einwirkungen des Erlösers. Sie sind seine eben so geliebten Jünger wie diese, und auch seine eben so getreuen ob sie seines Umgangs auf diese oder jene Weise genießen. Nach eines jeden Eigenthümlichkeit richtet sich das besondre Verhältniß zum Erlöser, doch Gemeingut wird auch sein persönliches Dasein unter uns durch die Liebe. – 30 Umgangs] Umgang
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Wie auch die Jünger alle sich erhoben fühlten dadurch was einige erschaut hatten. Und wie die ersten Jünger Jesu grade dann wenn sie einer besonderen Haltung am meisten bedurften sich einer solchen Erscheinung des Erlösers am ersten zu versehen hatten eben also bestätigt sich auch uns dieses – still und geräuschlos – in der Tiefe des Gemüthes pflegt solch ein seliges Erscheinen sich uns kund zu thun – gleichwie es dem Paulus sich kund gab – wir wissen nicht: war es ein körperliches Erscheinen – doch können wir sagen: Christus offenbarte sich seinem Gemüthe in der heiligsten überzeugendsten Klarheit. – Eben so thun seine Erscheinungen sich von Zeit zu Zeit ganzen Völckern kund und doch nur allmählig wie dazumahl: zuerst durch Johannes dem Täufer sein Erscheinen vorbereitet wurde in dem: „Er ist schon mitten unter euch“ und als er selbst ihn späterhin in Verklärung erblickte und ihn nur seinen vertrautesten Freunden bezeichnete als „das Lamm Gottes daß der Welt Sünde trägt“ – und wie Christus selbst von sich sagt: Ich bin gesandt zu den Schaafen des Hauses Israel, zunächst. – Da aber die Seinen ihn nicht aufnahmen: er allen Völckern sich offenbarte – so kann auch jetzt die Förderung des Reiches Christi auf Erden nur in allmählichen Fortschritten sich bewircken. – so brennend auch das Verlangen diejenigen beseelt welche mit Eifer daßelbe herbeizuführen wünschen so daß sie ausrufen möchten „O daß du die Himmel zerreißest! und führest her nieder“ – doch nur im stillen und geräuschlos verkündigt es sich in der Tiefe der Gemüther dieses Herannahen – denn ist es laut und öffentlich: so geschieht es meist nur mit dem Schwerd in der Hand. | 2. Lasset uns nun noch sehen ob dieser Umgang auf uns dasselbige wirkt wie damals auf die Jünger. – Als sie ihn sahen da ward ihnen mit einemmal alles klar, sie verstanden was ihnen bis dahin dunkel gewesen war; der Herr eröfnete ihnen nun die Schrift und sagte ihnen alles was sie sonst noch nicht hatten tragen gekonnt. Als es ihnen nun verständlich ward sprach er: das sind die Reden die ich zu euch sagte, da ich noch bei euch war. So ist es nun auch bei uns in solchen Augenblicken der Erscheinung des Herrn, auch uns tritt dann ins Leben was früher für uns todter Buchstab war, alle Zweifel schwinden dann, unser Verhältniß zum Vater ist dann erst ganz beseeligend für uns. Wol muß um solche Augenblicke zu erzeugen, manches Wort der Lehre, mancher stille Gedanke und das Bewußtsein von früherer Erfahrung zusammen kom34 schwinden] schwinden, 13–14 Vgl. Joh 1,26 Jes 63,19
15–16 Vgl. Joh 1,29
16–17 Vgl. Mt 15,24
22 Vgl.
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men. Der Erlöser kann dann auch zu uns also sprechen wie zu den Jüngern. Ja die ganze Vergangenheit klärt sich auf vor unsern Blicken, wir finden Zusammenhang, Maaß, Ordnung und Einklang in dem wie Gottes Wille die Geschlechter vor uns, von Anbeginn geführt hat. Wir verstehen es weshalb es grade so und nicht anders kommen mußte, wir wissen es was Recht und Unrecht war im Thun der Menschen und durch welche Mittel Gott alles zum besten lenkte. Und so auch wird uns die Zukunft erhellt, auch diese ist uns nicht mehr dunkel wenn der Strahl aus der Höhe sie durchleuchtet, wir sehen da im Voraus schon wie Gott das Menschengeschlecht und jeden Einzeln führen wird. Nicht als wüßten wir nun schon alles und säßen gleichsam im Rathe mit Gott, sondern nur überhoben sind wir der trostlosen Weisheit der Kinder dieser Welt, welche am Ende all ihres Grübelns und ihrer Betrachtungen ausrufen müssen: es ist Alles eitel!: welche in den Veränderungen und Umstaltungen nur ein geistloses Treiben, ein immer wieder von neuem beginnen und von vorn anfangen ohne Zusammenhang Ziel und Zweck. So ist ihnen Alles vergänglich und es erscheint ihnen | das Einzelne der Begebenheiten zu wichtig weil sie nicht einsehen daß es nur Mittel ist um uns zu bilden für das Reich des Herrn, und das Ganze zu unwichtig weil sie nicht wissen, daß es alles geschieht um das Menschengeschlecht zum Herrn zu führen. Uns aber ist durch den Erlöser geworden, und wird immer wieder durch sein persönliches Erscheinen die trostreiche Gewißheit, daß sein Reich sich verbreiten soll durch Alles was geschieht, daß alles dazu beiträgt das zu fördern und nichts es stören kann. Und wenn wir nichts anders wollen als daß sein Reich immer mehr komme, dann fühlen wir auch daß hierin Alles uns zum Besten dienen muß. In der Gemeinschaft aber des Herrn können wir ja gar nichts anders wollen. – Solche Augenblicke wo das Bild des Erlösers verklärt vor unsrer Seele steht, sind Aufforderungen für uns in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden zu verkünden. Wie die Jünger sollten von Jerusalem anfangen mit der Verkündigung; weil es so nach dem Gesetze der göttlichen Ordnung natürlich war, denn von da aus mußte sich Christi Reich verbreiten, davon zeugt alles früher Geschehene. So sollen wir auch bei uns selbst anfangend diese Verkündigung allmählich betreiben. Daß wir dies nicht unterlassen können ist die natürliche Wirkung des uns Erscheinens des Erlösers; denn wenn die höchste Klarheit uns erscheint, dann leuchtet sie ja auch in die tiefste Tiefe unsrer Seele und wir sehen darin alles sich noch darin befindende Verwerfliche. Unser ganzes Leben hellt sich auf vor unsern Blicken wir erfahren mit einemmale genau was darin recht und unrecht war, aller Schein flieht, ihm gegenüber erkennen wir unsre ganze Sündhaftigkeit, und das Verlangen nach seiner | Reinheit und Gerechtigkeit, erzeugt in uns die bitterste Reue. So büßend lernen wir einsehen wie nur der Herr durch Leiden und Tod uns erlösen und versöhnen konnte, wie nur sein Gebet für uns Vergebung der Sünde uns verschaffen kann und seine hohe Liebe er-
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kennend, welche uns der Liebe des Vaters hat theilhaftig gemacht, und fühlend die Befreiung von der Sünde und ihrer Folgen, nehmen wir dankbar die Vergebung derselben. Tief in die Seele des Petrus drang der Blick des Erlösers, augenblicklich kehrte er um, bitterlich weinend, aber bald die Liebe des Herrn fühlend, ward ihm wieder Muth und Kraft mit ihm umzugehn, der da weiß was in den Menschen ist. So wird auch uns, mag unser Herz uns auch verdammen, wieder Freudigkeit zu Theil werden von ihm der unsre Liebe kennt und unser Gebet erhört. Da der nun, wem viel vergeben ist, viel liebt, so ist unsre Liebe zu ihm nach solchem Augenblicke der Erscheinung des Herrn stärker als zuvor und in dieser Liebe unsre Seeligkeit findend und fühlend verkünden wir dieselbe, uns selber unbewußt, ja sie selbst die Seeligkeit verkündet sich. Indem nun unsre Heiligung fortgesetzt und unsre Seeligkeit vermehrt wird, erregt dieselbe in anderen das Verlangen und die Sehnsucht darnach wenn sie ihrer noch ermangeln. Nach dem Grunde dieser Seeligkeit forschend wird ihnen bald klar werden, daß sie eines Erlösers bedürfen, und dies Bedürfniß dringt sie ihn näher kennen zu lernen und das Verlangen nach ihm wirkt Buße in ihnen. – So predigt denn jeder Christ im Namen Jesu Buße und Vergebung der Sünde, auch schon ohne besondre Mittel. Und so verbreitet sich das Reich Gottes allmählig in der Welt. Dieses allmählige verbreiten nun ist eben der Wille Gottes, das natürliche und ewige Gesetz seiner Ordnung will es nicht anders, und obgleich er sich auch besondre Zeugen seiner Herlichkeit erwählt deren ganz besondrer Beruf es dann ist davon zu zeugen, so will er doch nicht, daß irgend auf seltsame Weise, durch Mittel welche der Verstand ersonnen oder durch Macht und Gewalt etwas gewirkt werden soll. Das Wunderbare ihm überlassend sollen wir auf dem von ihm vorgezeichneten Wege wandeln und wirken und wer es anders | will, dem ist nicht das Bild des Erlösers, sondern ein Trugbild erschienen, und er schwebt im schrecklichsten Wahne. Hat uns aber das reine, heilige, verklärte Bild des Erlösers angeblickt, o es muß ja dasselbe auf uns wirken wie damals auf die Jünger. Wir zeugen dann davon was wir an uns selbst erfahren haben. Nicht mehr mit ungläubigen Armen werden wir ihn umfassen um unsre Finger in seine Nägelmale zu legen, sondern liebend und glaubend ihn festhalten, und von den Augenblicken seines Erscheinens aus, wird auf unser ganzes Leben die feste Zuversicht übergehen, daß er bei uns ist alle Tage bis ans Ende der Welt.
26 vorgezeichneten] vorgezeichnetem 8–9 Vgl. Lk 7,47
33 Nägelmale] Nägelmal
33–34 Vgl. Joh 20,25
36 Vgl. Mt 28,20
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Am 12. April 1819 vormittags
[Liederblatt vom 12. April 1819:] Am zweiten Ostertage 1819. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Der Tod entflieht, es siegt das Leben, / Des Grabes Raublust ist gestraft! / Seht Jesum hier sein Haupt erheben! / Wie er sich aus dem Kerker rafft, / Läßt er uns diese Losung hier, / Ich leb und ihr lebt auch mit mir. // [2.] Und wie der Tod zu meinen Füßen, / Liegt auch die Sünde hingestreckt, / Er weiß die Gräber aufzuschließen. / Er stürzet alles was mich schreckt! / Drum steht auf seinem Siegspanier, / Ich leb und ihr lebt auch mit mir. // [3.] Mein Jesus, Wahrheit Weg und Leben, / Der Leben hat und Leben giebt, / Wie soll ich den Triumph erheben, / Der Rach an meinen Feinden übt? / Sie liegen dort, du rufest hier, / Ich leb und ihr lebt auch mit mir. // [4.] Wolan belebe deine Glieder, / Erstorben bleibe keins zurück, / Die Lebenssonne leuchte wieder, / Verklär uns in das reinste Glück! / Dein Wort bestehe für und für, / Ich leb und ihr lebt auch mit mir. // (Schmolke.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Wach auf an seinem Grabe / Mein Psalter! singe Jesu Dank, / Den ich beweinet habe, / Der für mich mit dem Tode rang! / Jetzt Freudenthränen rinnet, / Sein finstres Grab ist leer, / Das Morgenroth beginnet, / Und Jesus schläft nicht mehr. / Ihm jauchzt der Himmel Freude, / Die frohe Erde bebt; / Und dankbar fühlen beide, / Daß ihr Erbarmer lebt. // Chor. Gott hat den Herrn auferwecket und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft. // Eine Stimme. Er schwand dahin aus dem Lande der Lebendigen, und um die Missethat des Volkes ward er geplaget. Doch du ließest ihn im Grabe nicht, du ließest nicht zu, daß dein Heiliger Verwesung sehe. Die Frevler wähnen ihn im Grabe. Doch sieh! er dringt allmächtig aus dem Fels hervor, Und steiget auf zu Himmelshöhen. // Chor. Nun strahlet Licht und Majestät, / Vom Mittler den sein Gott erhöht, / Sein Auge flammt, die Frechen beben, / Der Fromme steigt mit ihm empor zum Leben. // Recit. Denn wer will verdammen? Christus ist hie, der auferweckt ist, und ist bei Gott, und vertritt uns. // Chor. Durch ihn werd’ ich zum Throne dringen, / Wo Gott mein Heil sich offenbart, / Ein heilig heilig heilig singen, / Dem Lamme das erwürget ward! / Und Cherubin und Seraphim, / Und alle Himmel jauchzen ihm. // Choral. So lobet nun den Herren Christ, / Sein Auferstehung euer ist. / Zerstöret ist der Feinde Macht, / Und Gottes Friede wiederbracht. //
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Gemeine. – Mel. Vom Himmel hoch. [1.] Willkommen auferstandner Held, / Der du des Todes Macht gefällt! / Willkommen siegreich Seelenheil, / Mit der erworbnen Beute Theil! // [2.] Willkomm, du dessen Siegesfreud / Erquicken kann in allem Leid, / Den welcher aufstehn will mit dir / Zum neuen selgen Leben hier. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel. Herr dir sei Preis und Ehre, / Und dem der Reich und Thron dir gab, / Die Feinde deiner Lehre / Sind jetzt besiegt so wie dein Grab! / Lamm Gottes Preis und Ehre! / Dein Heil und dein Gericht / Erblicken jene Chöre / Schon itzt in hellerm Licht; / Doch was du uns gegeben / Durch deinen Tod und Pein, / Wird selbst in jenem Leben / Noch unerforschlich sein. // (Jauer. Ges. B.)
Am 18. April 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Quasimodogeniti, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 28,12–15 Nachschrift; SAr 51, Bl. 82r–89r; Maquet Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 22v–23v; Gemberg Nachschrift; SBB Nl 481, Predigten, Bl. 60r–67v Beginn einer Predigtreihe bis zum 16. Mai 1819 über die Umgebungen des Erlösers, die ihm den Tod brachten (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Predigt von F. Schleiermacher im Auszuge dargestellt. |
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Nachdem wir, m. a. Fr., in einer Reihe von Betrachtungen uns erbaut haben an der heiligenden und reinigenden Kraft, welche vom Kreutze des Heilandes auf uns herabströmte, nachdem wir gesehen, wie er gelitten und in den Tod gegangen um des Guten willen und weil die Sünde nicht Macht hatte über ihn, nachdem wir uns gestärkt und beseeligt gefühlt haben durch die Kraft und die Herrlichkeit des Göttlichen und durch das Gedächtnis der Gnade des himmlischen Vaters, welcher den Sohn hingab, auf daß uns ein neues Leben geschenkt werde; – mag es heute unser Zweck sein, die Umgebungen des Erlösers, welche ihm den Tod brachten, zu beachten, um zu erforschen, wie es denn geschehen konnte, daß die Gemüther derer, welche um ihn und mit ihm lebten und dadurch berufen waren, unmittelbar Theil zu nehmen an dem großen Werk der Erlösung, dennoch sich verschlossen der mächtigen Stimme, welche ihnen rief, uns daran ein warnendes Beispiel zu nehmen, daß auch wir nicht dem göttlichen Rufe, wenn er an uns ergeht, unser Ohr versagen und der göttlichen Gnade, die uns überströmt, unser Herz verschließen. – Die Worte der heiligen Schrift, welche wir unserer heutigen Betrachtung zum Grunde legen wollen, finden wir
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Hier wird uns gesagt, wie die Hohen im Volk, abhold dem | Reiche Gottes, sich bestrebt hätten; dem Volke das große Ereigniß der Auferstehung in seinem wahren Zusammenhange zu verheimlichen und dagegen gleich alltägliche Begebenheiten es ihm als durch menschliche Kraft und selbst nie-
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derer Kunstgriffe vollbracht darzulegen, damit nicht die Gläubigen davon eine neue Stütze, die Schwankenden einen Ruf nahmen, dem sie folgten, und die bisher dem neuen Lichte feindseelig sich abgewandt hätten, dem Zweifel Raum geben möchten. Durch die Mittel aber, welche jene wählten, um ihren Zweck zu erreichen, werden wir hingeführt auf die Finsternisse des menschlichen Herzens und des menschlichen Lebens, durch welche solches auszuführen allein möglich war und die sich uns auf drei verschiedene Weisen offenbaren, nehmlich: 1. durch die Handlungen der Kriegsknechte, 2. durch das Benehmen des Pilatus, 3. durch die Gesinnungen des Volkes. I. Offenbar gehörten die Hüter, welche von den Hohen im Volke zur Lüge aufgefordert wurden, zu der Gattung von Menschen welche in ihrer niedern, feigen Gesinnung den Blick nur auf äußere Vortheile richten und nur durch diese sich in ihren Handlungen bestimmen lassen. So vertauschten diese den Ruhm, Zeugen gewesen zu sein | der großen Begebenheit, durch welche die göttliche Macht sich herrlich offenbarte, und den Stolz, Werkzeuge zu sein und bei zu tragen zu dem großen Werke der Erlösung, der Stimme ihres eigenmüthigen und gewinnsüchtigen Herzens folgend, gegen die niedern Vortheile, welche die Hohen im Volk ihnen entgegen hielten und welche sie sich außerdem von deren Gunst und Dankbarkeit versprechen durften. Was hatten sie – so überlegten sie – zu erwarten von der Aufdeckung des wahren Zusammenhanges der großen Begebenheit, welche unter ihren Augen sich zugetragen? Kein sinnlicher Genuß, keine äußere Freude konnte ihnen daraus entstehen; und ein anderes Ziel ihrer Handlungen kannten sie nicht. Daher ward die Stimme des Guten, welche ihnen die Wahrheit zu verkünden gebot, nur schwach und leicht zu beschwichtigen, zumal, wenn ihre Obern, diejenigen allein von denen die Bestimmung ihrer äußern Lebensverhältnisse abhing, sie ersticken wollten. Diese Feigheit des Herzens aber mußten auch die Oberen selbst schon voraussetzen in ihnen, als sie ihnen auftrugen, eine Lüge auszusprechen, welche noch außerdem die Schande und den Vorwurf der Pflichtvergessenheit auf sie laden mußte. So finden wir denn in den Handlungen dieser Kriegsknechte die eine Art der schlechten Gesinnung, nehmlich | die Kraftlosigkeit und Feigheit des Herzens, welche auch unter uns noch nicht ganz verschwunden ist. Viele Menschen weichen ohne das Böse zu wollen, ab vom Wege des Guten, weil sie nicht Kraft haben es fest im Auge zu behalten und den Sinn sich blenden lassen durch das Traumgesicht und den falschen Glanz, unter welchen ihnen die äußern Lebensvortheile und Genüsse und 24–25 welche unter] welche sie unter
30 wollten] wollte
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die Gunst der Großen erscheinen. Viele wagen nicht ihre Stimme zu erheben, weil sie sich scheuen, die Mächtigen zu erzürnen und deshalb, ihren eigenen Glauben und ihre Ueberzeugung aufgebend, immer bemüht sind, sich dem Willen dieser anzuschmiegen, und so die Stimme in ihrem Innern durch die Stimme der Welt übertönen lassen und dann diese allein hören.
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II. Indem die Hohenpriester aber also den Kriegsknechten zuredeten, konnte ihnen nicht entgehen, wie, wenn diese sich bereden ließen durch ihre Worte zugleich kund werden müsse, daß sie, indem sie geschlafen, ihre Pflicht verletzt und sich mithin der Strafe schuldig gemacht hätten, was auch die Hüter selbst fürchten | mußten. Wollten also jene wirklich diese zur Lüge bereden, so mußten sie sie zunächst von der Furcht vor der Strafe befreien, welche größer war, als die Vortheile, welche sie ihnen versprachen; und das Mittel, welches sie hiezuerwählten, führt uns auf eine andere Art der schlechten Gesinnung. Sie versprachen nehmlich den Hütern, den Landpfleger schon zu beschwichtigen, und von ihm dahin zu bringen, daß er sie mit aller Strafe verschone. Wie konnten sie aber dies hoffen, und wie konnte dies Wort von den Hütern geglaubt werden, wenn sie nicht die Ueberzeugung hätten, daß derjenige, welcher die Strafe verhängte, es hier nicht so genau nehme und umso eher durch die Finger sehen werde, da es ihnen an Gründen nicht fehlte ihn zu überzeugen, daß, wenn er die Knechte der Strafe losspräche, er dennoch seine Pflichten als Landpfleger nicht verletzt habe? Und so stand es wirklich. Pilatus nehmlich war gebeten worden, zur Hütung des Leichnams die Kriegsknechte zu gestellen; er konnte die Bitte gewähren, er konnte sie abschlagen, ohne auf irgend eine Weise die | Pflichten, welche er durch sein Amt über sich genommen hatte, zu verletzen; in der Bewilligung lag mithin nur Gefälligkeit, nur Gnadenbezeugung, in Hinsicht welcher er von den höhern Staatsbeamten ganz unabhängig war. Galt die aber schon von der Anordnung der Sache im Allgemeinen, um wieviel mehr mußte er in der Ausführung im Einzelnen sich leicht von aller Verantwortung frei machen können, zu der er wegen Nichterfüllung seiner Berufspflichten möchte gezogen werden, und indem er so diejenigen Handlungen nur vermied, welche eine offenbare Uebertretung des Gesetzes waren, versank er aber in die zweite Gattung niederer Gesinnungen, die wir leider nicht an ihm allein, sondern zu allen Zeiten unter den Menschen vorgefunden haben und finden. Viele nehmlich ziehen den Begriff der auf ihnen ruhenden Pflichten viel zu enge Grenzen, indem sie glauben, nur dasjenige läge ihnen ob, zu thun und zu unterlassen, aus dessen Unterlassung und Thun gleich eine damit angedrohte Strafe erfolgen müsse, und ihre Handlungsweise so einrichten, daß sie die Vorwürfe, die ihnen gemacht 23–24 Vgl. Mt 27,62–65
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werden möchten, zurückzuweisen vermögen. So auch Pilatus; er meinte es nicht böse mit dem Erlöser, wie uns mehrere Aussprüche | der Evangelisten darüber außer Zweifel setzten; ja, er erkannte selbst gewissermaßen die Größe desselben; denn als die Hohenpriester Jesum ihm anklagten, sprach er zu ihnen: „ich finde keine Ursache an diesem Menschen“; und eben so sagte er „ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht, als der das Volk abwende; und siehe ich habe ihn vor euch verhört und finde an dem Menschen der Sachen keine, der ihr ihn beschuldigt; Herodes auch nicht; denn ich habe euch zu ihm gesandt; und man hat nichts auf ihn gebracht, das des Todes werth sei; darum will ich ihn züchtigen und loslassen“ und als sie dennoch in ihn drangen, daß er Jesum kreuzige, da rief er, ihnen nachgebend, und die Hände vor dem Volke waschend: „ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten, seht ihr zu.“ – Allein es gebrach ihm an der Kraft, sich dem Strome entgegen zu stemmen, und das was er im Innern lebhaft fühlte, auch äußerlich darzustellen, ohne Berücksichtigung der Hindernisse, welche ihm in den Weg traten, noch der Menschen, besonders der Großen, die er bekämpfen mußte. Dazu fühlte er sich nicht berufen, dem Hohenpriester zu enthüllen, welche grenzenlose Willkühr, welche empörende Ungerechtigkeit in der Vermuthung des Erlösers [lag], obgleich er von dieser Ueberzeugung durchdrungen; aber er schwieg, weil das Gesetz zu reden nicht gebot. Ihm war es fremd, daß es gerade die Hauptpflicht jedes Menschen sei, die innere Ueberzeugung aus zu sprechen nichts im Innern fest zu halten, was den | Blick der Welt scheuen könnte. Möchte doch auch uns diese Pflicht nie aus den Augen kommen, darzulegen an äußern Handeln, was in unsrem Herzen lebt, immer die Stimme der Wahrheit ertönen zu lassen, und ihr hohes Licht zu verbreiten, mit allen Kräften die uns zu Gebote stehen. Ja, durch sie, durch die Wahrheit allein besteht alle Ordnung der Dinge, nur dadurch können wir aneinander halten, daß wir mit der Wahrheit uns entgegen kommen, was auf sie gebaut ist, ist ewig; aber das Werk der Lüge ist ohne Bestand, den Keim der Vernichtung in sich tragend von Anbeginn, und ihr nimmer entrinnend. Darum laßt denn auch uns der Wahrheit hohen Werth erfassen, und stets uns innig durchdrungen sein von der Pflicht, mit allen unsern Kräften ihr allein zu dienen, und, welche äußere Macht sich uns auch entgegenstellen möchte, alles daran zu setzen, um das, was wir als wahr erkannt auch im äußern Leben zu gestalten und in unsrem Handeln erscheinen zu lassen, und eher alles zu dulden, als dem Werk der Lüge den Nacken zu beugen und über uns Herr werden zu lassen; denn warlich nimmer kann der von Schuld frei sich fühlen, der sie verhehlte, selbst wenn äußere Gewalt ihn, sie kund zu thun, nicht verpflichtet. 17 dem] den 5 Vgl. Lk 23,4
6–10 Vgl. Lk 23,14–16
12–13 Vgl. Mt 27,24
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Am 18. April 1819 vormittags
III. Daß aber die Hohenpriester vor das Volk die Lüge mit | Erfolg brachten, wie des Erlösers Leichnam von seinen Jüngern geraubt sei, auf daß das todte Wort erfüllt werde, denn der Evangelist sagt: solches ist eine gemeine Rede geworden bei den Juden bis auf den heutigen Tag – darinn zeigt sich die dritte Art schlechter Gesinnungen, die welche dem Volke eigen war, nehmlich der Unglaube. Nimmer hätte es jenen gelingen können, also die Begebenheit der Auferstehung zu verheimlichen, hätte derjenige, zu denen sie sprachen, vermocht, den Glauben an die göttliche Macht in seinem ganzen Umfange zu ergreifen, um von ihm aus die große Begebenheit zu erklären, ehe als daß sie in der Schlechtheit ihrer Mitbrüder davon den Grund suchten. So aber glaubten diese lieber, daß wie unwahrscheinlich es auch war, (denn an dergleichen Dienste durch lange Uebung gewöhnt, mit der Strenge der Kriegsgesetze bekannt, konnten die Kriegsknechte in den Verdacht einer so großen Pflichtvergessenheit nicht leicht kommen, zumal da mehrere derselbe Vorwurf traf ), daß diese das Gesetz außer Acht gelassen, die Furcht vor der Strafe abgelegt, bei so geringer Anstrengung der Natur unterlegen hätten, lieber; daß die Jünger mit gemeinen, niedern Mitteln was von Gott bestimmt, durch Christus ausgesprochen war, selbst an der Erlösung durch die göttliche Kraft verzweifelnd, ausgeführt und an der Heiligkeit ihres Herrn und Meisters | sich versündigt hätten, ihn aus der ehrenvollen Behausung raubend, wohin ihn die Liebe und der Glaube gelegt, und das alles nur, um, den göttlichen Geist von sich stoßend, den Buchstaben des Gesetzes erfüllt zu sehen glaubten, lieber, daß der Erlöser selbst nur Worte der Lüge geredet, lästernd sich die göttliche Kraft angemaßt habe, als daß Gott durch die überschwengliche Fülle seiner Macht, dessen Wort die Wahrheit ist, ausführend wie er verheißen, an seinem Sohne das gethan habe, was erlebt zu haben, noch kein Sterblicher sich rühmen konnte, und was in seiner Unendlichkeit zu erfassen, nur die gläubige Seele vermochte. So schwach war ihr Glaube, daß sie an eine Lüge, die selbst das unbefangene Gemüth zu enthüllen, leicht im Stande gewesen wäre, ihn gaben, und so von dem Göttlichen sich lossagend, ihn von sich stoßend und ihre Stütze verloren und hinsanken in das Reich der Finsterniß und des Unglaubens. Wenn wir aber die Mitwelt unseres Heilands solcher Gesinnungen hingegeben sehen, wenn wir in ihr Feigheit, Lüge und Unglaube vereint wirken finden, dann freilich müssen wir uns wohl verwundert fragen, wie es dennoch möglich gewesen, daß dort die Jünger | des Herrn vermochten, seinen Tempel aufzurichten, und niederzukämpfen jene Feinde, denen die Künste der Hölle zur Seite standen. Aber leicht wird uns die Antwort; eben weil es Werke der Finsterniß waren, die entgegen standen, so konnten sie 9–10 ganzen] ganzem
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nicht widerstehen der Hoheit und Reinheit, welche von dem neuen Glauben ausflossen; darum finden wir denn das ganze Streben der Jünger zurückgeführt auf die beiden großen Worte, welche von ihnen ausgingen, das eine welches sie zum Reden antrieb „wir glauben, darum reden wir“, die andern womit sie sich zum Widerstande rüsteten und stählten „wir sollen Gott mehr gehorchen denn den Menschen“. Indem sie riefen, wir glauben darum reden wir, sprachen sie aus, was in der Tiefe ihres Herzens sich bewegte, erfüllt von der Kraft des göttlichen Glaubens und des göttlichen Geistes. Da strömte denn auch nur Wahrheit von ihren Lippen, sich weiter und weiter breitend, welche Feinde sich ihm auch entgegen stemmen wollten, unwiderstehlich schaffend und bildend. Ja durch die Wahrheit allein ist das hohe Werk der Erlösung vollendet, sie ist ihr Grundstein, sie der Quell ihres Lebens; und wenn wir wahr sind, können wir [nie] schwankend und unsicher dasRechteverfehlen,denninihristkeinFehl.Darumscheuensieauchnur,| diejenigen, welche abnehmend von der Bahn des Rechten, nur durch die Lüge bestehen können. Aber nicht mag uns, und sollte auch ihre äußere Uebermacht den Untergang drohen, ihr Widerstand zurückschrecken, erstikken das Wort, das aus dem Innern hervorgehend, auf den Lippen sich meldet und tödten die Kraft des Geistes. Nein, frei hinaus in die Welt die innere Ueberzeugung, furchtlos reden und handeln dem Innern gemäß, die letzten Funken der Kraft ihr widmen, mit freudiger Hingebung Alles, selbst das Leben einsetzen, wenn es zu vertheidigen und auszuüben gilt, was wir als wahr und recht erkannten, um frei dem Tode ins Auge zu sehen, wenn wir nur das Leben des Geistes retten, über das der Tod keine Macht hat, das sei unseres ganzen Lebens Wahlspruch. Wenn dann die äußere Macht die Wahrheit fürchtend, scheu zurücktretend von dem, was ihrem Auge aufgedeckt ist, uns sich entgegen wirft, und Schweigen gebietet, dann mag uns unbekümmert um den Ausgang des Kampfes so lange wir ihn theilen, das zweite Wort, wie es von den Jüngern des Erlösers ausging, beseelen und Kraft | verleihen: „wir sollen Gott mehr gehorchen denn den Menschen“. Amen
[Liederblatt vom 18. April 1819:] Am Sonntage Quasim. 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht’t etc. [1.] Wie herrlich strahlt der Morgenstern! / O welch ein Glanz geht auf vom Herrn / Wer sollte sein nicht achten? / Glanz Gottes der die Nacht durch11 schaffend ... bildend] schaffen ... bilden 4 Vgl. 2Kor 4,13
5–6 u. 30 Vgl. Apg 5,29
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bricht, / Du bringst in finstre Seelen Licht, / Die nach der Wahrheit schmachten! / Dein Wort Jesu ist voll Klarheit, / Führt zur Wahrheit / Und zum Leben, / Wer kann dich genug erheben! // [2.] Du hier mein Heil und dort mein Lohn, / Sohn Gottes und des Menschen Sohn, / Du großer Himmelskönig, / Von ganzem Herzen preis’ ich dich; / Hab ich nur dich, so rühret mich / Das Glück der Erde wenig. / Gläubig komm’ ich, warlich keiner / Tröstet deiner / Sich vergebens, / Wenn er dich sucht Herr des Lebens. // [3.] Dir welcher Höll und Tod bezwang, / Dir müsse froher Lobgesang / Mit jedem Tag erschallen, / Dir, der für uns gestorben ist, / Dem Freunde der uns nie vergißt, / Zum Ruhm und Wohlgefallen. / Tönet, tönet Jubellieder, / Schallet wieder, / Daß die Erde / Voll von seinem Lobe werde. // (Riga. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Lobsinge meine Seele / Dem Auferstandnen, bet ihn an. / Lobsing ihm und erzähle, / Was er zu deinem Heil gethan. / Er hat für dich gerungen, / Durch seine Macht hat er / Des Todes Macht bezwungen, / Gestürzt der Hölle Heer. / Nun liegt ihr Troz darnieder, / Sein Sieg hat uns befreit; / Uns krönet Gott nun wieder / Mit Huld und Seeligkeit. // [2.] Froh führte seine Sonne / Den festlich frohen Tag herauf, / Da stand er meine Wonne, / Da stand er mein Erlöser auf. / Gedanke der zu Freuden / Des Himmels mich erhebt, / Gedanke der in Leiden / Mit wahrem Trost belebt! / Des höhern Lebens Quelle, / Mein Schild in jeder Noth! / Wo ist dein Sieg o Hölle? / Wo ist dein Stachel, Tod? // [3.] Der Felsen Grund erbebet, / Die Wächter fliehn, das Grab ist leer, / Der todt war, sieh er lebet, / Er lebt und stirbt hinfort nicht mehr. / Die schwachen Jünger wanken, / Er stärkt die wankenden; / Sie sehen ihn, freun sich, danken / Dem Auferstandenen. / Sie sehn empor ihn steigen, / Und gehn, wie er gebot, / Mit Freuden hin, und zeugen / Von ihm bis in den Tod. // [4.] Herr deine Boten siegen, / Von dir und deinem Geist gelehrt; / Die Gözentempel liegen, / Der Erdkreis wird zu Gott bekehrt. / Ich weiß an wen ich glaube, / Bin freudenvoll ein Christ; / Ihn bet ich an im Staube, / Ihn der mein Retter ist. / Ich werd ihn ewig schauen, / Wenn er auch mich erhebt, / Der Herr ist mein Vertrauen, / Er starb für mich und lebt. // (Neander.) Nach der Predigt. – Mel. Wachet auf etc. Unser Herz darf nun nicht wanken, / Die bangen zweifelnden Gedanken, / Besiegt des Glaubens Zuversicht, / Wie ein Fels des Herrn im Meere, / Steht unerschüttert Jesu Lehre, / Umglänzt mit Seeligkeit und Licht. / Die Herrlichkeit der Welt, / Der Himmel Bau zerfällt, / Alles schwindet; doch fort und fort, / Steht Jesu Wort, es bleibt der Seele treuster Hort. //
Am 2. Mai 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Jubilate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,24–29 Nachschrift; SAr 52, Bl. 23v–24r; Gemberg Keine Keine Teil einer Predigtreihe vom 18. April 1819 bis zum 16. Mai 1819 über die Umgebungen des Erlösers, die ihm den Tod brachten (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am Sonntag Jubilate. Evang. Joh. c. 20, v. 24–29. Dr. Schleiermacher.
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Früher sprachen wir vom Unglauben, der ist aber anderer Art, als der unsers Textes. Dieser leugnet die göttliche Offenbarung in Anderen, die er nicht in sich auch gehabt, und leugnet keineswegs alle Offenbarung, wie jener. Betrachten wir näher diesen Unglauben des Apostels, und zwar in Beziehung auf seine Veranlassung, dann in Beziehung auf das, was zu seiner Entschuldigung gesagt werden kann, und endlich in Beziehung auf die Art, wie ihn | der Herr zurechtweiset. Die Jünger waren zum Gottesdienst zusammen gewesen und Thomas nicht unter ihnen. Ihnen hatte sich der Herr offenbart, was ihnen Thomas nicht glauben wollte. Nach Verlauf einer Woche hielten sie wieder gottesdienstliche Versammlung, und da erschien der Herr auch ihm, so daß er glaubte. So gibts viele Fälle im Leben, wo einem der Höchste sich kund gibt, was der andere nicht erkennt. Aber man muß wissen, daß jeder auf besondre eigenthümliche Weise den Höchsten in sich erkennen und tragen kann, der eine, der mehr in der stillen Betrachtung lebt, der andere mehr im Sturm des Lebens, der eine mehr in der Erfahrung der Gesetze des Daseins, der andere mehr in beschaulichen Gefühlen, alle schauen das Höchste. Diese Mannichfaltigkeit der göttlichen Offenbarung sollen wir nun nicht leugnen, sollen glauben, daß der Herr in Allen sich gleichmäßig, und auf verschiedene Weise kund gebe, und daß jeder ihn so schaut, wie wir auf unsre Weise. Daher sind selig, welche nicht schauen, wie mit dem Einzelnen der Höchste in Berührung steht, und doch glauben. Das wahre Schauen, wie Gott wirket alles in allem, wird uns erst jenseit werden.
23 Vgl. 1Kor 12,6
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[Liederblatt vom 2. Mai 1819:] Am Sonntage Jubilate 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Herr Jesu Christ dich zu etc. [1.] Gelobt gelobt sei Jesus Christ, / Daß er vom Tod erstanden ist; / Sein Wort ist wahr, der Sieg ist sein, / Und wir Gott Vater, wir sind dein. // [2.] Sie, die mit ihm gestorben schien, / Ward nur gesät um aufzublühn, / Die Lehre Jesu Christi lebt, / Sie die uns Himmelan erhebt. // [3.] In dem Erstandnen stand sie auf, / Um zu beginnen ihren Lauf, / Und bald erschallt sie weit und breit, / Und währet bis in Ewigkeit. // [4.] Er steht, der Tempel, den man brach, / Den Jesus zu erbaun versprach, / Heil dem Vollender, der’s vollbracht, / Der Alles alles wohlgemacht. // [5.] Die Jünger voll von Christi Geist / Der jedem Zweifel sie entreißt, / Scheun keine Drangsal, keine Müh, / Der Geist des Herrn belobet sie. // [6.] Es strahlet ihnen Licht von Licht, / Sie schauen ihn von Angesicht; / Was ehmals unbegreiflich war, / Wird ihnen kund und offenbar. // [7.] Dies helle Licht verkläret den, / Des Wege wir oft nicht verstehn, / Es kläret unsern Lebenslauf, / Und seine dunkeln Stellen auf. // (Riga.Ges. B.) Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Mein Jesu dem die Serafinen, / Wenn dein Befehl an sie ergeht, / Nur mit verdecktem Antlitz dienen, / In Scheu vor deiner Majestät: / Wie sollten irdisch blöde Augen, / Die der verhaßten Sünde Nacht / Mit ihrem Schatten trübe macht, / Wol jenes Licht zu schauen taugen? // [2.] Doch gönne meinem Glaubensblicke, / Den Eingang in dein Heiligthum, / Daß deine Gnade mich erquicke, / Zu meinem Heil und deinem Ruhm! / Ich weiß, du kannst mich nicht verstoßen, / Wie könntest du nicht gnädig sein. / Dem den dein Blut von Schuld und Pein / Befreit, als du’s am Kreuz vergossen? // [3.] Ich bin gerecht in dir erfunden, / Und bin mit Gott versöhnt durch dich; / Bleib’ immer ich mit dir verbunden, / So kann auch nichts verdammen mich. / Ach laß mich deine Weisheit leiten, / An sie lehn’ ich mich gläubig an, / Und auf der ganzen Lebensbahn / Stell deine Gnade mir zur Seiten. // [4.] Daß bis ans Ende treu ich wandle, / Und mit den Brüdern in der Zeit, / Nach deinem Wort und Willen handle, / In Lieb’ und Herzensfreundlichkeit. / Doch reich auch Waffen aus der Höhe, / Und stärke mich durch deine Macht, / Wenn Stärk’ und List der Feinde wacht, / Daß ich im Glauben siegreich stehe. // [5.] Laß mich im Glauben zu dir steigen, / Du steig in Liebe mir herab, / Konntst du dich sonst zur Erde neigen, / Den Himmel tauschen mit dem Grab: / So heilge nun mein Herz, o Leben, / Und laß es deinen Himmel sein, / Bis du, wenn dieser Bau fällt ein, / Mich wirst zu dir in Himmel heben. // (Deßler.) Nach der Predigt. – Mel. Nun danket alle Gott etc. [1.] Der Glauben ist der Sieg, der alles überwindet, / Und nach so manchem Streit die Friedenspalmen bindet. / Wer Christi Heil ergreift, und dann nur gläubig wagt, / Dem bringt der Glaube Sieg, bald ist der Feind verjagt. // [2.] Der Glauben ist der Sieg! die Welt meint obzusiegen, / Wenn sie uns Fallen stellt, doch muß sie unterliegen, / Dem welcher Fleisch und Welt durch Gottes Gnade dämpft, / Und bis der Glaube siegt um jene Krone kämpft. //
Am 5. Mai 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Bußtag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 13,35 Nachschrift; SAr 54, Bl. 7r–13r; Schirmer Keine Nachschrift; SAr 52‚ Bl. 24v–25r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am Bußtage 1819.
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Tex t. Ev. Joh. 13, 35. Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habt. 5
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M. a. Fr., wir wissen alle, in welcher besonderen Hinsicht wir heute versammelt sind. Weßwegen, m. Th., schreiben christliche Fürsten und Obrigkeiten, bald in längerem, bald in kürzerem Zeitraume öffentliche und allgemeine Tage der Buße und des Gebetes aus? Weil sie es fühlen, daß in dem großen Werke, zu dem sie berufen sind und welches sie nur in treuen und redlichen Werken aller ihrer untergebenen Kräfte schaffen können, der Sieg nur von oben kommt. Denn während ehedem auch unter uns Christen bei nicht Wenigen der Gedanken zum Grunde lag, daß alle Mühe zum Schaffen unserer irdischen Wohlfahrt vergeblich sei, wenn Gott nicht die Kräfte der Natur zum Besten leite, wenn er nicht die allgemeinen Plagen ganzer Völker und Länder gnädig abwende, und vorzüglich darauf das allgemeine Gebet gerichtet wurde, daß die Barmherzigkeit des Ewigen uns davor bewahren möge: so haben, je mehr die menschlichen Angelegenheiten fortgeschritten sind, je mehr die Herrscher gelernt haben, die Kräfte | der Natur, die sonst unbekannt waren, zu beherrschen, sie zu ihren Zwecken zu benutzen und durch gemeinschaftliche Kräfte den Schaden, den sie angestiftet, unschädlich zu machen, desto leichter alle fühlen lernen, daß der Seegen von Gott nicht anders wirksam und kräftig sein könne, als durch die Herzen und Gesinnungen der Menschen; daß sie es sind, durch welche Gott, freilich oft auf unerforschliche Weise, die menschlichen Angelegenheiten regiert. Lassen sich von diesem Geiste, den Gott unter uns ausgegossen, die Menschenkinder nicht regieren, kommt ihren Wünschen, welche sie vor seinen Thron bringen, die eigene Thätigkeit nicht zu Hülfe: so ist alles Wünschen,
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wie alles Thun, welches aus anderen Beweggründen entsteht, für das Wohl der Menschen vergeblich, ja verderblich. Darum ist der eigentliche Sinn eines solchen Tages, wie der heutige, daß wir uns prüfen sollen, ob in uns der Sinn lebt, ob in uns die Kraft sich wirksam erzeigt, ohne welche Recht und Ordnung, Weisheit und Verstand von oben doch immer vergeblich sind. Das also ist der Gegenstand unserer Betrachtung. Aber wir haben, um diese Frage zu beantworten, keine andere Regel, als die unseres Herrn und Meisters. Das wissen wir: verdienen wir seine Jünger zu heißen, dann gewiß ist auch alles in uns, | was wir von unserer Seite thun können, um unser gemeinschaftliches Wohl zu befördern, und diese Regel ist auf das Kürzeste und Lebendigste enthalten in den vorgelesenen Worten des Textes. Und gewiß, m. gel. Fr., hätten wir jemals, so haben wir jetzt Ursache, es mit dieser Frage recht ernstlich zu nehmen, und an einem Tage, wo es jedem darauf ankommen muß, nicht sich selbst zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, sondern sich recht zu erkennen, muß ich Euch zu muthen, ohne Scheu in das Innere hineinzusehen, und darum laßt uns fragen, ob wir Liebe untereinander haben und dabei an die Worte des großen Apostels denken, welche das gesungene Lied in Erinnerung bringt. Der giebt uns die Kennzeichen der Liebe an, woran jedermann erkennen könne, ob wir Jünger Christi sind. 1. Das erste herrliche Wort jenes Apostels, welches ich in unser Gedächtniß zurückrufen will, ist dies: die Liebe suchet nicht das Ihre. Ich bin weit entfernt, m. gel. Fr., hier die Frage aufzuwerfen, ob es nicht leider auch unter den Christen solche gäbe, welche dem ganz gemeinen irdischen Eigennutz fröhnen und in Beziehung auf die allervergänglichsten Güter des Lebens immer nur das Ihre suchen; nein, es sind höhere Betrachtungen, die sich an jenes Wort knüpfen, es ist die Frage, ob auch | mit der Erkenntniß, die jeder zu haben glaubt, ob mit seiner Überzeugung von dem, was das Beste der Menschen hervorbringen werde, ein jeder unter uns nur das Seine und nicht das des Anderen wahrnehme. – Es ist ja natürlich, es ist recht und billig, daß diejenigen, welche eine Überzeugung mit einander theilen, auch näher ihre Kräfte mit einander verbinden. So ist es erfreulich, wenn die, welche ein Geschäft des irdischen Lebens treiben, sich miteinander näher verbinden, um von einander zu lernen, daß einer auf den anderen achte zum Vortheile und zur größten Vervollkommnung ihres Geschäfts. Aber wenn sie sich nur dazu vereinigen, um sich, ihr Geschäft, ihren Stand geltend zu machen und zu dem, was ihr besonderes Wohl ist, ihre Kräfte zu verbinden, dann achten wir alle einen solchen Verein schädlich für das Gemeinsame. So ist es auch natürlich, daß diejenigen, welche eine Überzeugung mit einander theilen, sich näher mit einander verbinden, aber nur, um immer gründlicher einer den anderen zu belehren, um über die Reinheit 22 Vgl. 1Kor 13,5
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ihrer Absichten zu wachen. Vereinigen sie sich aber, um mit einander stärker dazustehen gegen diejenigen, welche von anderen Ansichten geleitet werden, um sich eine größere Herrschaft zu bereiten, so | ist ein solcher Verein der Gemüther ein Verderben für das allgemeine Wesen. Die Liebe, an der wir erkennen können, daß wir Christi Jünger sind, die nicht das Ihre sucht, ist nur diejenige, welche die Menschen dazu vereint, daß sie durch die Stärke ihrer Liebe hervorleuchten, daß sie suchen und seelig machen wollen, was verloren ist und desto wirksamer alle Menschen einladen, dahin zu gehen, wo sie gestärkt und erquickt werden, um das schwere Joch der Sünde abzuwerfen und das leichte Joch der Wahrheit und der Liebe auf sich zu nehmen. Dazu verband der Herr die Herzen derjenigen, welche seine himmlische Liebe zuerst um sich her versammelte, dazu sandte er sie aus; und was sie gewirkt zur Erleuchtung, Heiligung und Bekehrung so vieler zu dem Erlöser, dem ihr Herz zugewandt war, alles haben sie in der Kraft dieser Liebe ausgerichtet. So sandte er sie aus und so haben sie gewirkt, in dem Sinne, daß auch sie gekommen seien, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und mit vereinten Kräften Gott und der Wahrheit zu dienen. Das, m. gel. Fr., ist die Liebe, die nicht das Ihre sucht, und so laßt uns alle fragen, ob auch wir diese Liebe haben und uns selbst das Zeugniß geben können, daß man daran erkennen könne, daß wir Jünger Christi sind. | 2. Das zweite Wort, woran ich Euch erinnern will ist dies: die Liebe blähet sich nicht auf. Derselbe Apostel, m. geliebten Fr., klagt an einer anderen Stelle darüber, daß das Wissen ohne die Liebe die Menschen pflege aufzublähen, und so wollen wir auch in dieser Stunde daran nicht gedenken, ob es solche giebt die im Stande sind, sich aufzublähen, weil sie dem Fleischlichen nach höher geachtet werden, oder sich aufblähen über geringere Vorzüge des Geistes, die an und für sich wenig vermögen, um das Reich Gottes zu fördern. Aber die Frage dürfen wir nicht vorbeigehen lassen, ob auch unser Wissen, das ein jeder zu besitzen glaubt, vor dem, was das gemeine Wohl fördern könne, das Schädliche zu vermeiden und das Heilsame immer mehr zu verbreiten, von der Kraft der Liebe im Zaum gehalten, uns nicht aufblähe. M. th. Fr., alle irgend ausgezeichneten Menschen, auch schon ehe unser Herr und Meister in der Welt erschien, um das ewige, uns alte und doch neue Gebot der Liebe zu geben, haben erkannt, je mehr der Mensch wisse, um desto mehr fühle er, daß er nur wenig wisse, und um desto liebreicher müsse er sein, wegen dieses geringen Unterschiedes. Aber wir, denen das Licht von oben herabgege|ben ist, in deren Herzen unser Herr mit seinem Vater verheißen hat zu kommen und Wohnung zu machen, 28 vorbeigehen lassen] vorbeigehen 5 Vgl. 1Kor 13,5 7–8 Vgl. Lk 19,10 15–16 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23 21–22 Vgl. 1Kor 13,4 23–24 Vgl. 1Kor 8,1 37–38 Vgl. Joh 14,23
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sollen es nicht fühlen, was er so oft gesagt hat, daß alle Wahrheit nur bei Gott ist und von Gott komme; daß der Vater, der Quell der Wahrheit, den Geist der Wahrheit jedem Einzelnen nur geben könne in einem gewissen Maaße, weil er mehr zu fassen nicht im Stande sei? Wir sollten es nicht fühlen, daß der Herr in seiner Heerde Schafe habe nicht aus einem und demselben Stall und bei denselben Ansichten und Meinungen aufgewachsen, wir, die wir fühlen, daß der Dienst eines jeden nothwendig sei, damit der geistige Leib des Herrn wachse und zunehme? Wir sollten es also nicht auch ohne, daß in dieser irdischen Welt die ganze Wahrheit nur ist in der vereinten Erkenntniß aller Menschen; daß jeder, wie er im Stande ist, zu geben, auch ein Bedürfniß hat zu empfangen, daß der bald verliert, was er hat, der nicht empfänglich ist aufzunehmen, und in dem die Liebe das nicht bewirkt, daß er den Spuren der Wahrheit und des Lichtes überall nachgeht? Darin, m. gel. Fr., kann und muß jenes große Werk bestehen: „es ist ein köstliches | Ding, daß das Herz fest sei, daß wir uns nicht sollen hin- und herwehen lassen von jedem Winde der Lehren.“ Aber eben, damit jeder seiner eigenen Überzeugung desto sicherer werde, eben deßwegen muß er auch das Recht der Überzeugung in anderen anerkennen, und wo sie ihm scheinen zu irren, freundlich die Wahrheit und die Verständigung über ihre Verschiedenheit suchen und ungeachtet der Mannigfaltigkeit der Ansichten in der Einheit der Liebe vereint bleiben. Wie wir es ja wissen, m. theur. und von dem Ewigen nicht andres glauben können, als daß das Böse nichts anderes ist, als nur die Verunstaltung des Guten selbst, und uns die Liebe treibt, überall, wo wir den Irrthum sehen, in diesem Bösen das Gute aufzusuchen: so müssen wir ja auch überzeugt sein, daß es keinen Irrthum in der Welt giebt, den eine feindliche Gewalt der Finsterniß erschaffen habe, sondern daß aller Irrthum an der Wahrheit ist, und darum muß uns die Liebe treiben, überall, wo wir den Irrthum sehen, nicht uns aufzublähen, daß wir die Wahrheit haben, die jenen fehlt, sondern die Wahrheit auch in ihnen aufzusuchen und zu erkennen. – In diesem Geiste ermahnte der Herr selbst alle diejenigen, welche ihn hörten, sogar auf die Worte jener Schriftgelehrten, deren verderbliche Ansichten er überall verbesserte, zu merken und unter allen | Verunstaltungen das Wahre aufzusuchen. Und so sehen wir, wie mit dem Bestreben, in seiner Überzeugung fest zu stehen und mit dem ernsten Kampfe gegen das Unrecht und den Irrthum die Liebe muß bestehen können, die sich nicht aufblähet. Denn bei allem Ernst, bei aller Strenge, wie liebreich begegnet der Herr denen, die er widerlegt, wie stellt er sich ihnen gleich, wie geht er in das ein, was sie verlangen, wenn sie es nicht in der Bosheit ihrer Herzen, um ihn in Versuchung zu führen, thun? Das, m. gel. Fr., ist die Liebe, welche sich nicht aufblähet; das ist der treue, feste Kampf gegen alles Unrecht, in welchem überall die Kraft der Liebe 5–6 Vgl. Joh 10,16
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sich wirksam beweiset und mitten in der Vertheidigung der Wahrheit immer erfüllt bleibt von dem allgemeinen Gefühl der menschlichen Fehlbarkeit, von der Demuth, die wohl weiß, wie wenig das ist, was wir erkennen, gegen das, was uns verborgen ist. Ja, gerade in unserer Zeit, wo von allen Seiten die Verschiedenheit der Meinungen in den Kampf gegen einander tritt, laßt uns vor dem Angesichte Gottes uns fragen: haben wir die Liebe, die sich nicht aufbläht? führen wir unsere Sache nicht weniger mit Ernst und Standhaftigkeit, als mit Liebe und Demuth? und kann man an ihr erkennen, daß wir Jünger Christi sind? 3. Das dritte Wort des Apostels, woran ich Euch erinnern will, ist dies: die Liebe läßt sich | nicht erbittern. Wodurch, m. th. Fr., wird der Mensch am leichtesten erbittert? Durch erlittenes Unrecht, das fühlen wir alle, und am meisten dann, wenn, indem wir das Unrecht leiden, ein Schein des Unrechts auf uns selbst zurückgeworfen wird. Ja, dies sind die Verhältnisse, um welche das menschliche Herz am leichtesten mit einer Bitterkeit erfüllt wird, die ihm selbst und der Gemeinde zum Verderben gereichen muß. Wem, m. gel. Fr., ist es mehr so ergangen, als unserem Herrn und Meister selbst, so lange er öffentlich lehrte! Wie oft sind die herrlichen und göttlichen Worte seines Mundes ihm zum Nachtheil verdreht worden, um den Schein des Unrechts auf ihn zu werfen! Wie oft wurde ihm das freudigste Bekenntniß von seinem Verhältniß zu seinem Gott und Vater angerechnet als Lästerung; wie oft sein Bemühen, sein Volk emporzurichten, ausgelegt als Verrätherei an seinem Vaterland, als das Bestreben, die heiligen Offenbarungen Gottes auszutilgen! Kann es etwas geben, wodurch ein menschliches Herz mehr erbittert werden könnte, als eben dieses? Aber in seinem Gemüthe siegte die eine Empfindung, daß er weinete, weil die Menschen nicht bedächten, was zu ihrem Frieden dienet; und diese seine Liebe geleitete ihn bis zum Tode am Kreuz und erhielt ihm die Freiheit des Gemüthes, daß er seine letzten Augenblicke noch dazu | anwenden konnte, die Seele eines ihm fremden Menschen vom Tode zu erretten. Das kann nur die Liebe, die sich nicht erbittern läßt; an der nur erkennen wir, daß wir wahrhafte Jünger unseres Herrn sind. Ja, m. gel. Fr., wenn es auch uns begegnet, daß das Beste und Reinste verbannt und verdreht wird auf ähnliche Weise, die Liebe läßt sich nicht erbittern, und den Jünger Christi mag man nur daran erkennen, daß er sich nicht erbittern läßt. Kein anderes Gefühl soll uns erfüllen, als das unseres Herrn und Meisters; bedauern sollen wir, wenn es uns vorkommt, also ob das Geschlecht dieser Tage nicht verstünde, was zu seinem Frieden dient. So laßt uns denn fragen, m. gel. Fr., wie es um uns steht; ob nicht eben durch die gegenseitige Erbitterung der Gegensatz sich 6–7 Vgl. 1Kor 13,4 30 Vgl. Lk 23,43
11 Vgl. 1Kor 13,6
26–27 Vgl. Lk 19,42
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immer stärker anspannt, und laßt uns bei Zeiten umkehren, damit wir nicht die Fähigkeit, im Geiste des Erlösers zu wirken, immer mehr verlieren; laßt uns tief fühlen, daß wir an der Liebe, die sich nicht erbittern läßt, erkennen werden, wer ein Jünger Christi sei, und wer nicht.
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4. Endlich das letzte Wort des Apostels, welches ich Euch nicht ersparen kann, zu vernehmen, ist dies: die Liebe freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern der Wahrheit. Wie, m. gel. Freunde, dies sollte auch nur möglich sein können, | der Mensch könnte so tief sinken, daß er sich der Ungerechtigkeit freute? Aber der Apostel hat es gesagt, und laßt uns nun in das Innere unseres Herzens hineinschauen und fühlen, ob es möglich oder ob es ein vergebliches Wort der Warnung sei. Das ist unser gemeinsamer Wunsch, dies gemeinsame Ziel aller unserer Mittheilungen unter einander, daß das Rechte als recht, das Wahre als wahr, das Verderbliche als verderblich erkannt werde. Wenn wir aber lange genug vergeblich danach getrachtet und alle unsere Bestrebungen nichts gefruchtet haben, dann schleicht sich das Gefühl der Hoffnungslosigkeit in unser Herz ein, dann meinen wir wohl: es komme über Euch, was Ihr verdient; und wenn dann die Ungerechtigkeit zum Vorschein kommt und das Böse seine verhaßten Früchte trägt, so freut sich denn derjenige, daß ihm die That ein Recht giebt, der lange vergeblich gekämpft, freut sich, daß diejenigen, die sich von ihm nicht wollten widerlegen lassen, nun widerlegt und bestraft werden von der ganzen Welt. Ist dies nicht Ungerechtigkeit? sollten wir nicht auch dabei die gemeinsame Schuld fühlen und uns selbst fragen: hast du auch eifrig genug geredet und gekämpft, um deine Überzeugung zu verbreiten? ist deine Stimme ebenso ernst als liebevoll gewesen? Aber ist es nicht wahr, sind wir nicht nur zu geneigt | uns der Ungerechtigkeit zu freuen? Doch ich will in diese beschämende Betrachtung nicht eingehen und es der stillen Betrachtung eines jeden überlassen; aber faßt, m. gel. Fr., dieses Wort ja recht auf: die Liebe freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern der Wahrheit. Dies, m. gel. Fr., sind die Betrachtungen, von denen ich glaubte, daß sie vorzüglich in Zeiten, wie die unsrigen, dem heutigen Tage geziemten. Aber laßt uns zu dem einen Mittelpunkte zurückgehen und dabei festhalten, daß darauf alles ankommt, daß wir Jünger Christi sind, daß wir uns dies freudige Zeugniß geben und daß auch die Welt es anerkennen müsse, denn lange hat sie niemals widerstanden. Lassen wir uns erkennen als Jünger Christi, dann wissen wir es, er ist es, den die Menschen in uns sehen, und nicht wir selbst; und dann können wir des festen Glaubens leben, daß auch wir Theil haben werden an den Siegen über die Welt. Dann wird immer fester und lebendiger in uns sein der Glaube, von dem er selbst gesagt hat, 6–7 Vgl. 1Kor 13,6
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er sei der Sieg, der die Welt überwindet. So laßt uns Ihn allein bekennen und Ihm allein nachfolgen; laßt uns unsere Stimme zum Schweigen bringen und seine Stimme allein in uns reden; dann wird es uns auch an der Liebe nicht fehlen, an der wir erkennen, daß wir seine Jünger sind. Amen.
[Liederblatt vom 5. Mai 1819:] Am Bettage 1819. Vor dem Gebet. – Mel. Schmücke dich etc. [1.] Herr du wollest unsrer schonen, / Nicht nach Werken uns belohnen! / Wolltest du zu rechten gehen, / Wer vermöchte zu bestehen! / Keiner keiner ist zu finden, / Frei und rein von Schuld und Sünden, / Alle mögen flehend sprechen, / Herr begehre nicht zu rächen. // [2.] Sündlich sind wir ja geboren, / Haben Herr dein Bild verloren; / Wo ist Rettung nun zu finden, / Aus dem schnöden Joch der Sünden? / Herr dich suchen wir mit Thränen, / Mit Maria Magdalenen / Fallen wir zu deinen Füßen, / Sie mit Thränen zu begießen. // [3.] Vor dir wollen wir erscheinen / Wie einst Petrus, bitter weinen / Ueber das was wir begangen, / Hoffend Gnade zu erlangen. / Ja, die Sünd’ ist uns vergeben, / Christus hat geschenkt das Leben! / Ja es schwinden Angst und Leiden, / Christus schenkt uns Himmelsfreuden. // (Stett. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Sollt ich meinem etc. [1.] Unter allen Himmelsgütern, / Die uns Christus zugetheilt, / Ist die Lieb in den Gemüthern / Wie ein Balsam der sie heilt, / Wie ein Thau der mild befeuchtet, / Wie ein Kleinod dessen Preis / Niemand zu benennen weiß, / Wie die Schönheit die uns leuchtet, / Wie die Macht die jedermann / Zwingen und erfreuen kann. // [2.] Liebe kann uns alles geben, / Was uns ewig nüzt und schmückt, / Kann die Seele so erheben, / Daß sie himmlisch ist entzückt. / Menschen oder Engelzungen, / Wo sich keine Liebe findt, / Wie beredt sie sonst auch sind, / Wie beherzt sie angedrungen, / Sind ein flüchtiger Gesang, / Sind ein Erz und Schellenklang. // [3.] Was ich von der Weisheit höre, / Die in alle Tiefen dringt, / Von geheimnißvoller Lehre, / Von dem Glauben, dem gelingt, / Daß er Berge gar versezet; / Was sich sonst in uns verklärt, / Es verlieret seinen Werth, / Ja es wird für nichts geschäzet, / Wenn sich nicht dabei der Geist, / Der in Liebe wirkt, erweist. // [4.] Hätt’ ich alle meine Haabe / Den Bedrängten zugewandt, / Ständ ich ohne Furcht am Grabe, / Scheut ich keiner Flammen Brand, / Gäb’ ich meinen Leib auf Erden / Ihnen zu verzehren hin, / Und behielt den kalten Sinn: / Könnt es nichts mir nüze werden, / Bis mich Liebe ganz durchdringt, / Und zu Werken Gottes zwingt. // [5.] Glaubenssieg und Hoffnungsblüthe / Unterstüzt uns in der Welt, / Bis das irdische Gebiete / Und der Menschen Bau zerfällt. / Nur der Liebe weite 1 Vgl. Joh 16,33
4 Vgl. Joh 13,34–35
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Grenzen, / Strecken sich in Ewigkeit, / Ihre Kinder werden weit, / Alles andre überglänzen; / Glaub und Hofnung bleiben hier, / Liebe währet für und für. // [6.] O du Geist der reinen Liebe / Senke du dich in mein Herz, / Laß mich spüren deine Triebe / Wie in Freuden so in Schmerz! / Alles was sich selbst nur suchet, / Es nicht gut mit andern meint, / Sein es Freunde oder Feind, / Laß mich halten als verfluchet! / Geist der Liebe, meinen Sinn / Lenke ganz zur Liebe hin. // (Freil. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Auf auf mein Geist etc. Was sich in uns hat gegen Gott gerüstet, / Das falle nun mit Schanden in sein Nichts! / Der Eigenwillen, wie er sich gebrüstet, / Er fühle nun die Flamme des Gerichts! / Laßt Selbstgefallen untergehn, / Und rechte Demuth auferstehn, / Und jede Liebe dieser Erden, / Ein Opfer seiner Liebe werden! //
Am 16. Mai 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Rogate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,1–8 Nachschrift; SAr 52, Bl. 25v–26r; Gemberg Keine Nachschrift; SN 622, Bl. 3v–4r; Crayen Abschluss der am 18. April 1819 begonnenen Predigtreihe über die Umgebungen des Erlösers, die ihm den Tod brachten (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Evang. Rogate. Freier Text Joh. 21, v. 1–8. Dr. Schleiermacher.
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Bisher zwischen der Feier der Auferstehung des Herrn und seiner gänzlichen Entfernung von der Erde betrachteten wir den Unglauben unter seinen Widersachern und unter seinen Jüngern. Hier sehn wir den gläubigen Genuß der Jünger an der Gegenwart ihres Meisters, Johannes spricht: es ist der Herr. 1. Was zwischen den Jüngern und dem Herrn hier vorfiel, hat auch seine Bedeutung für uns. In ihren irdischen Geschäften hatten sie den Segen seiner Gegenwart. So gibts auch in unserm werkthätigen Leben Augenblicke, wo wir uns in der Erwartung des Herrn freuen, und plötzlich gehoben sind durch sein lebendiges Bild. So werden wir auf einmal auf etwas hin trachten, und einen segensreichen Gewinn haben. Wir finden, so lange der Erstandne in Judäa war, die Jünger, denen er sich offenbarte beisammen. In Galliläa waren sie zerstreut. Hier ist unter ihnen einer, von dem es zweifelhaft ist, ob er zu ihrer Zahl gehörte, und andre zwar, die Johannes nicht nennt, wahrscheinlich weil er voraussetzt, daß diese den Lesern unbekannt sein werden. Wir finden hier die genannten Jünger in der Fischerei, demselben | Geschäft, von welchem sie der Herr abgezogen hatte zum Menschenfang. Hier waren sie zu ihrem alten Geschäft zurückgekehrt, ohne aber gewiß uneingedenk zu sein ihres Auftrags, das Evangelium zu predigen. Nach der Himmelfahrt kehrten alle Jünger nach Jerusalem zurück, und lebten wieder in der engsten Gemeinschaft. | 3–5 Vgl. 18. April 1819 vorm.; 2. Mai 1819 vorm.
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2. Es ist eine merkwürdige Aehnlichkeit dieses Vorfalls mit einem andern, der den Jüngern auch begegnet war in der ersten Zeit der öffentlichen Erscheinung Christi nach seiner Taufe. | Wenn der Glaube keimt, so ist das ganze Herz voll. Dann wird der heilige Geist das Princip des Lebens, welches sich nun eigenthümlich gestaltet. Hier sagte Johannes, Petrus, das ist der Herr. Dies ist der Glaube, gestärkt durch eine Reihe von Erfahrungen. Erst war Petrus voll Vertrauen, als er die Bekanntschaft des Herrn machte. Später war er sogar fähig, ihn zu verleugnen. Aber sein Schmerz darüber spricht sich aus, wie Christus ihn fragt: hast du mich lieb?, und: weide meine Schaafe. So spricht auch Christus zu jedem von uns, und dann sollen auch wir seine Lämmer weiden. Die Lämmer sind besonders die jüngern Glieder der Heerde. v. 18 im 21 cap. hat Johannes v. 19 erklärt, ob er recht hat, oder die andern, die es so auslegen, daß die Verbreitung des Glaubens anders gehn werde, als Petrus sich gedacht, wenn er alt sein würde. So sollen wir alle das Reich Gottes finden und Christi, in dessen Namen allein Seligkeit ist.
[Liederblatt vom 16. Mai 1819:] Am Sonntage Rogate 1819 Vor dem Gebet. – In bekannter Melodi[e]. [1.] Gott des Himmels und der Erden, / Vater Sohn und heilger Geist, / Der es Tag und Nacht läßt werden, / Sonn’ und Mond uns scheinen heißt, / Dessen starke Hand die Welt / Und was drinnen ist erhält. // [2.] Gott ich danke dir von Herzen, / Daß du mich in dieser Nacht / Vor Gefahr Angst Noth und Schmerzen / Hast behütet und bewacht, / Mich bei aller meiner Schuld / Immer trägst mit Vaterhuld. // [3.] Gleich der Nacht laß meine Sünden / Vor der Gnade Glanz vergehn, / Die durch Christum Alle finden, / Welche gläubig auf ihn sehn, / Der für unsre Missethat / Sich am Kreuz geopfert hat. // [4.] Hilf daß ich an diesem Morgen / Geistlich auferstehen mag, / Und für meine Seele sorgen, / Daß wenn einst dein großer Tag, / Uns erscheint und dein Gericht, / Ich davor erschrecke nicht. // [5.] Führe mich, o Herr, und leite / Meinen Gang nach deinem Wort; / Sei und bleibe du auch heute / Mein Beschüzer und mein Hort! / Nirgends als bei dir allein / Kann ich recht bewahret sein. // Nach dem Gebet. – Mel. Kommt her zu mir etc. [1.] O du des ewgen Vaters Sohn, / Ich wage mich vor deinen Thron, / Lamm Gottes, Heil der Sünder. / Ich unwerth nur zu nennen dich, / Vor deiner Ho1–3 Vgl. Lk 5,4–6
8 Vgl. Mk 14,66–72
9–10 Vgl. Joh 21,17
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heit neig’ ich mich, / Ich Sterblicher, ich Sünder. // [2.] Mir wird so wohl, so leicht ums Herz, / Und Ruh und Freude wird mein Schmerz, / So oft ich dir mich nahe. / Ich fühle neu lebendig mich, / Umfaßt mein Geist voll Glauben dich, / Den nie mein Auge sahe. // [3.] Ach außer dir, wie todt und matt / Ist alles was ich thu und that! / Wie gibst du allem Leben! / Wie anders lieb’ und leb’ ich, wenn / Ich an dich glaub, ich dich erkenn, / Und nur nach dir will streben! // [4.] Wann wann hats’ je mein Herz bereut / Hatt’ es sich glaubend dein gefreut, / Gefreut auch dein im Leiden? / Wann war ich fern von Kraft und Ruh? / Ach dann, wann ich dich flohe, du, / Du süßeste der Freuden. // [5.] O du, der einst mit Bruderlust / Johannem drückt’ an seine Brust, / Vollendeter durch Leiden! / Mit Preis gekrönter nach dem Schmerz, / Noch schlägt den Deinigen dein Herz / Im Meer der Gottesfreuden. // [6.] An dich zu glauben, Herr, an dich, / Wie sehnt, wie sehnt die Seele sich / Die Schatten zu verlassen, / Dein Licht, du Quell des Lichts zu sehn, / Vertraulicher zu dir zu flehn, / Dich reiner zu umfassen // [7.] Sei du mein Vorbild du mein Licht, / Du Stab mir, Fels und Zuversicht! / Ja wenn ich steh und wanke, / Wenn Glück und Unglück mich umgiebt, / Sei du der ewig ewig liebt, / Mein süßester Gedanke. // (Lavater.) Nach der Predigt. – Mel Sollt ich meinem etc. Dank sei dir von allen Frommen, / Preis und Dank sei dir geweiht! / Herr durch dich ist Heil gekommen / In das Land der Sterblichkeit. / Wer mit dir durchs Leben gehet, / Schmeckt schon hier des Himmels Lust, / Freude wohnt in seiner Brust; / Wird er einst zu Gott erhöhet, / Dann mischt sich der Liebe Dank / In der Engel Preisgesang. //
Am 20. Mai 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Himmelfahrt, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 16,15–19 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 52, Bl. 26v–28r; Gemberg Keine Nachschrift; SN 622, Bl. 5v–6v; Crayen Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Berliner Intelligenz-Blatt: Vor der Predigt Vokalmusik
Am Himmelfahrtstage. Kirchentext. Markus cap. 16, v. 15–19. (Dr. Schleiermacher.) Die Begebenheiten in dem Leben Christi fesseln auf zwiefache Weise unsre Aufmerksamkeit. Bald treten sie uns von der Seite mehr entgegen, daß wir sie auf die ewige Bestimmung des Erlösers selbst beziehen, und der Betrachtung nachgehen über den Rathschluß des Ewigen, bald mehr von der Seite, daß wir auf das hingezogen werden, was die Jünger dabei empfanden, und in ihre Gefühle theilnehmend eingehen. Beides ist aber ganz ein und dasselbige. So ists mit derjenigen Erscheinung seines Lebens, wo er leiblich den Augen der Seinigen entrückt wurde. Mit dem Gefühl der Wehmuth mußten sie den göttlichen Lehrer aus ihrer Mitte scheiden sehen, aber zugleich die Beziehung dieser Trennung auf seinen ewigen Beruf erkennen. Seitdem er leiblich entschwunden, war er geistig den Seinigen umittelbar nahe, und sein Geist durchströmte die Jünger, daß sie gingen und das Heil predigten. Wir wissen von keinem, daß er je den Erlöser leiblich zurückgewünscht; wir besitzen ihn gar wahrhaft, wenn er in unserm Gemüthe wohnt und sein Bild kann nimmer aus uns verschwinden. So ists ein fröhliches Fest, das wir begehen, das Fest der Himmelfahrt unsers Heilandes. Prägen wir uns ein die heiligen Worte seines Vermächtnisses, welche er | gar auch zu uns gesprochen hat. Dieses Vermächtniß enthält ein Gebot und eine Verheißung. 1. Das Gebot ist: gehet hin in alle Welt und prediget aller Kreatur das Evangelium. v. 16 sagt, worin dieses besteht, nämlich in der Seligkeit, wie sie aus Glauben und Taufe entspringt. Nur an Wenige von uns ergeht der heilige Beruf, Angehörige und Vaterland zu verlassen, und das Licht des Heils in das Dunkel der Erde zu tragen. Aber daran allein dachte wohl der
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Erlöser nicht, wenn er sagte: in alle Welt. Darin liegt eben so sehr die innere Verschiedenheit der Menschen. Viele (wir hoffen viele) stehn fest im Glauben, aber auch ihnen kommen manche Augenblicke der trüben Unruhe und Angst, wo der, in dem es leichter ist, ihm zu predigen hat das Heil. Viele mögen noch im Unglauben liegen, auch da sollen wir predigen, nicht sehend auf den Erfolg, jeder auf seine Art. 2. Die Verheißung ist: die Gläubigen werden die bösen Teufel austreiben und Kranke heilen, und das Tödtliche wird ihnen nicht schaden. Dieses gilt zunächst und besonders von den Jüngern, mit der Gewalt des Geistes, der ihnen durch ihren Meister ward, wird ihnen zugleich die Wunderkraft. Dieses war natürlich, denn mit der Kraft des Glaubens und der Liebe, welche aus der Höhe ihnen zuströmte, mußten auch die ungewöhnlichen Kräfte ihnen werden, mit welchen der Herr die Natur beherrschte. Aber auch | nothwendig war es. Christus sagt: Keiner hat Gewalt, mir das Leben zu nehmen, denn der Vater. So war es. Oft hatten Lebensgefahren ihn befangen, wie die Jünger, aber er litt den Tod erst, als die Zeit erfüllt war. So die Jünger. Ihr Leben durfte nicht so rasch dahinschwinden, es mußte seinen bestimmten Kreis durchlaufen, bis es seinen Beruf vollendet. Wir kennen nicht den geheimnißvollen Zusammenhang zwischen dem Geistigen und Leiblichen, aber eine tägliche Erfahrung lehrt, wie das tröstliche Wort des Freundes die Gesundheit des Leidenden oft eher fördert als alle irdische Arznei. Wunderbar wirkt der Geist auf den Leib, und kann sicherer die Hemmungen desselben überwinden, als physische Mittel. Aber wie der überschwengliche Geist des Glaubens schwächer wurde in den Einzelnen, nachdem die Kirche sich gestaltet, wie was Gott durch Wunder erst herbeiführte und durch ungewöhnliche Kräfte der Einzelnen, hernach Natur wurde, so nahm auch die Wunderkraft in der Kirche ab. So wird die Verheißung für uns nicht sein. Aber nicht buchstäblich wollte der Herr es wohl verstanden wissen, wenn er sagt: das Tödtliche wird euch nicht schaden. Denn durch Gewalt endeten gar mehrere seiner Jünger und er selber. Der Christ erkennt keinen mächtigern Schaden, als der sein inneres Heil gefährdet. Hat er den Glauben, so wird er nichts zu befürchten haben von mancherlei Uebeln, welche das Seelenheil behindern und in den Schwächern ersticken könnten. | Das also ist unser Leben, welches uns Niemand nehmen kann, wenn wir den wahren Glauben haben. Dieses Gebot und diese Verheißung laßt uns festhalten. Sie sind das letzte, das der Erlöser zu den Menschen geredet auf Erden, bevor er aufgefahren ward zum Himmel. Jetzt sitzt er zur Rechten Gottes, und vertritt uns, indem er nicht hier oder dort, sondern indem er in dem unendlichen Gan21 als] alle
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zen ist, indem er unser geistiges Wesen durchdringt, und unsere Gedanken zum ewigen Vater emporhebt. Ihm sei Preis und Ehre. Amen.
[Liederblatt vom 20. Mai 1819:] Am Himmelfahrtstage 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht etc. [1.] Jesus ist das Licht der Welt, / Aller Menschen Heil und Leben. / Wer ihn nicht im Glauben hält, / Den hat Nacht und Tod umgeben, / Er ist nur der Weg allein, / Der uns führt zum Leben ein. // [2.] Alles außer ihm ist Nacht; / Nacht, was Eitelkeit uns zeiget, / Wo man ihm nicht wacht, ist Nacht, / Nacht wo seine Stimme schweiget, / Ja, wer ihn nicht kennen mag, / Hat im Herzen keinen Tag. // [3.] Darum seufz’ ich Herr zu dir / Aus den Nächten dieser Erde, / Daß durch deiner Gaben Zier / Ich ein Kind des Lichtes werde. / Du des ewgen Lebens Stern, / Treib von mir die Schatten fern. // [4.] Hier bin ich im finstern Thal, / Aber du der Seele Sonne, / Droben in dem Himmelssaal, / Mach mein Herz voll Freud und Wonne, / Dann weicht jede Dunkelheit, / Vor dem Glanz der Seligkeit. // (Jauers. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Vollendet ist dein Werk, vollendet. / O Welterlöser unser Heil, / Uns liebet Gott der dich gesendet, / Und seine Huld wird uns zu Theil; / Verklärt erhebst du dich vom Staube, / Dir schwingt sich nach der Deinen Glaube, / O Sieger in dein himmlisch Licht. / Dich krönt nach Thränen und nach Leiden / Dein Gott mit seinen Gottesfreuden, / Vor aller Himmel Angesicht. // [2.] Ich seh empor zu dir, Vertreter! / Dich bet ich still mit Thränen an, / Ich weiß, daß auch ein schwacher Beter / Im Staube dir gefallen kann. / Zwar fallen vor dir Engel nieder, / Doch auch der Engel höhre Lieder / Verdrängen nicht mein schwaches Lied; / Von meinen aufgehobnen Händen / Wirst du nicht weg dein Antliz wenden, / Du siehst den Dank, der in mir glüht. // Chor. Wir haben einen solchen Hohenpriester, des da sizet zur Rechten auf dem Stuhl der Majestät im Himmel, und ist ein Pfleger der heiligen Güter und der wahrhaftigen Hütte, welche Gott aufgerichtet hat und kein Mensch. // Choral. So wahr als Jesus Christus lebt, / Wir werden mit ihm leben, / Sein Sieg auch uns gen Himmel hebt, / Uns die Gott ihm gegeben. / Dem Sieger Dank, / Und Lobgesang, / Wir gehn durch Kampf und Leiden / Mit ihm zu seinen Freuden. // Arie. Herr ich glaube, daß dein Lieben / Dich vom Himmel hat getrieben, / Herr ich glaube, daß dein Blut / Du vergossen mir zu Gut. / Ja du hast o Herr gefangen / Das Gefängniß, eingegangen / Bist zum Himmel du, empfangen / Als der höchste Siegesfürst; / Und ich hoffe voll Verlangen, / Daß du auch von meinen Wangen / Alle Thränen trocknen wirst. //
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Chor. Hallelujah Hallelujah! denn Gott der Herr regiert allmächtig. Der Herr wird König seyn. Das Reich der Welt ist nun des Herrn und seines Christ. Und er regirt von nun an auf ewig, Herr der Herrn, der Götter Gott, Hallelujah. // Gemeine. – Mel. Wie schön leuchtet etc. Du Herr bist unser Haupt, und wir / Sind deine Glieder; nur von dir / Kommt Wahrheit Heil und Leben! / Der Liebe Kraft, des Glaubens Licht, / Und Hoffnung Freud’ und Zuversicht, / Wird uns durch dich gegeben! / Preis dir, daß wir schon auf Erden, / Können werden / Gottes Kinder, / Und des Todes Ueberwinder! // Nach der Predigt. – Mel. Jesu der du meine etc. Großer Mittler, sey erhoben! / Weil wir leben, wollen wir / Dich mit Herz und Munde loben, / Dir nur folgen, leben dir, / Stets auf deine Stimme hören! / Hilf daß wir dich treu verehren, / Bis der ganz verklärte Geist / Dich mit allen Himmeln preist. //
Am 31. Mai 1819 nachmittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Pfingstmontag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 17,18 Nachschrift; SN 622, Bl. 7r–8r; Crayen Keine Keine Keine
Evang: Joh: Cap: 17. v: 18. „Gleichwie Du mich gesandt hast in die Welt – so sende ich sie auch in die Welt.“ Die Beschaffenheit des Gemüths worin diejenigen stehen müßen die da fähig sein wollen den Beruf ihrer Sendung in die Welt zu genügen, drückt der Erlöser hier aus in dem: Gleichwie in ihm die Herrlichkeit seines Vaters wohne – und er ihn mit derselben ausgerüstet in die Welt gesandt, also auch müße in denen die da fähig sein wollten sein Reich auf Erden zu fördern: die stille Herrlichkeit aus ihm wohnen. – Zwar ist dieselbe für uns nur erst ein Gefühl des Glaubens – zu deßen völligen Anschauen wir erst dann gelangen: wenn erscheinen wird, „was noch nicht erschienen ist.” Aber so gewiß als der Erlöser nicht allein vermöge seiner menschlichen Natur, im stande hätte sein können: uns zu dem Vater hinzuziehen – eben so wenig vermögen auch wir – wenn nicht seine Herrlichkeit in uns aufgegangen ist – unsre Brüder, zu denen wir von ihm gesandt sind, zu ihm hinzuziehen. Diese aus ihm in uns übergegangene stille Herrlichkeit aber besteht darin: daß durch die von Gott uns geoffenbarte Erkenntniß der Göttlichkeit, seines von ihm uns gesandten Sohnes, unser Herz fest in der Krafft der Liebe und des Glaubens geworden ist; – und daß diese Liebe zu ihm, alles Andre überwiegt. – Obgleich aber nur allmählig dieses sich in uns bewircken kann, so sind wir dennoch auch schon in unserer Unvollkommenheit – in der Krafft seines uns unterstützenden Geistes – im stande, thätig einzuwircken auf die Förderung seines auf Erden gestiffteten Reiches. – Aber gleichwie er den Vater kennen mußte um ihn uns zu offenbaren – also auch, muß von Christo ein reines Bild uns einwohnen, wenn 11 Vgl. 1Joh 3,2
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wir fähig sein wollen daßelbe unsern Brüdern mitzutheilen: – | „Wer mich siehet – der siehet den der mich gesandt hat!” so rein und vollkommen spiegelte sich in ihm das Bild seines Vaters, daß Christus dieses von sich sagen konnte. Auch nur unser ganzes, von Christo beseeltes Sein, vermag der Welt, in der wir, von ihm gesendet, da stehen, sein Bild darzustellen, und den Glauben an ihn in unsern Brüdern zu erwecken. – Durch die Predigt aber seines Wortes entsteht dieser Glaube – so wie auch dadurch mehr und mehr in der Tiefe der Gemüther sein Bild sich offenbart: und wie daßelbe nun – aus einer tief von demselben ergriffenen Seele hervorgegangen ist – als ein aus der Seele kommender Ausdruck des Bewußtseins, so tragen wir daßelbe am wircksamsten über in die Seelen unsrer Brüder. Indem aber der Erlöser seine Jünger sendet „gleichwie der Vater ihn gesandt” so giebt er ihnen dadurch auch die Weisung: daß „wie er – der Sohn – nichts anderes verkündiget als was er von dem Vater gehört” – auch sie es nur von dem „Seinen nehmen sollten, um es ihren Brüdern zu verkündigen; und daß nur das was von dem Seinigen genommen wäre, auch einer segensreichen Wircksamkeit sich zu erfreuen haben würde. ” – Darum sei es immer nur der reine Nachhall seiner Worte womit wir auf unsre Brüder einzuwircken streben – denn der Jünger vermag es ja nicht: größer zu erscheinen als sein Meister. | Auf diese Weise aber werden wir auch die von ihm auf uns übergegangene Herrlichkeit in der Art mit ihm theilen, wie es die Worte ausdrücken: „Er kam in sein Eigenthum – und die ihn aufnahmen, denen gab er Macht Gottes Kinder zu sein” denn auch wir sollten die Welt in die er uns sendet, unser Eigenthum nennen; denn wem anders gehörte der Besitz der ganzen Welt menschlicher Seelen, als dem der sie ihm als Kinder Gottes zuführt? Und daß diese Krafft seines göttlichen Geistes in uns lebt, und aus uns wirckt, darin spricht sich die Ähnlichkeit aus, seiner und unsrer Sendung.
1–2 Joh 12,45 Joh 1,12
13–14 Vgl. Joh 8,28
15–17 Vgl. Joh 17,20–21
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Am 9. Juni 1819 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Mittwoch, 16 Uhr St. Gertraudten-Kirche (Spittelkirche) zu Berlin Hebr 4,12 Nachschrift; SAr 52, Bl. 28r–28v; Gemberg Keine Keine Vakanzpredigt (Gnadenjahr Hermes, vgl. Einleitung, Punkt I.7.)
Zum 9. Junius 19. Gertraudtkirche. Nachmittags 4 Uhr von Dr. Schleiermacher. Tex t. Epistel an die Hebräer c. 4, v. 12. Das Wort Gottes sollen wir festhalten. Hier ist ein zwiefacher Grund angegeben, den letzteren nehmen wir zuerst.
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1. Das Wort Gottes ist schärfer denn ein zweischneidiges Schwerdt, und scheidet Seele und Leib, und richtet die Gedanken und Sinnen des Herzens. Das ist eigentlich die Wirkung des Gesetzes, daß es uns die Erkenntniß gibt von Recht und Unrecht. Aber auch das Evangelium thut das. Denn das Wort Gottes ist das Bild des Erlösers, dessen, der ohne Sünde war. Wem er vor dem inneren Auge steht, der weiß, wie es um ihn steht, | und scheidet Sünde und Tugend. 2. Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig. Das Gesetz kann dem Menschen nicht die Kraft der Heiligung geben, aber das Wort Gottes kann es allein. Ein Gesetz kann sich der Mensch machen, aber das Wort nicht, denn Gott sandte den Erlöser unter uns. Leitet er unsre Gedanken, so ist er in uns gegenwärtig, und wir leben der Heiligkeit. Das Bild im gesungenen Liede ist also bewährt, daß das Wort Gottes der Same ist, das menschliche Herz der Acker, und die Heiligung die Frucht. Wie der Same die Pflanze, Blüthe und Frucht im Keime in sich schließt, so das Wort Gottes das Heil des Menschen. Aber den Samen muß man in den Acker streuen, so das Wort mit dem Herzen aufnehmen, und dies zubereiten, wie den Acker, damit reichliche Frucht hervorsprieße.
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Am 13. Juni 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
1. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 4,16–30 Nachschrift; SAr 54, Bl. 15r–21r; Schirmer Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 29r–30r; Gemberg Beginn einer Predigtreihe bis zum 14. November 1819 über das Bestreben des Herrn, zu suchen, was verloren war (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am ersten Sonntage nach Trinitatis 1819.
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Tex t. Luk. 4,16–30.
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Ihr wisset wohl, m. th. Fr., daß, wenn die Zeit unserer hohen Feste vorübergegangen ist, ich den übrigen Theil unseres kirchlichen Jahres mit einer mehr oder minder zusammenhangenden Reihe von Betrachtungen auszufüllen pflege. Wie ich im vorigen Jahre mich beschäftigt habe mit solchen Veränderungen der Apostel unseres Herrn, welche sich auf das häusliche Leben bezogen, so laßt uns in diesem Jahre zur Geschichte unseres Herrn und Heilandes selbst zurückkehren. Noch manchem wird erinnerlich sein, daß ich vor noch nicht langer Zeit solche Abschnitte ausgewählt hatte, wo wir den Erlöser fanden unter den Widersachern seiner großen Angelegenheit. Aber auch wir, wenn wir auf der einen Seite auch schon Streiter unseres Herrn sind, fühlen doch auf der anderen noch immer ein Widerstreben gegen sein Reich in uns, fühlen, daß es uns Noth thut, noch in nähere Verbindung mit ihm zu treten, und daß unser Leben immer ein Wechsel ist von größerer Annäherung zu dem Herrn und vorübergehender Entfernung und Entfremdung von ihm. Nun war es aber in seinem ganzen Leben das Bestreben des Herrn, zu suchen, was verloren war, zu verkündigen das Evangelium den Armen, einzuladen die Mühseligen und Beladenen aller Art, damit sie sich von ihm | erquicken ließen. Wenn wir ihm in diesen Bemü6–8 Anspielung auf die Predigtreihe über den christlichen Hausstand vom 31. Mai 1818 bis zum 15. November 1818 9–12 Anspielung vermutlich auf die Predigtreihe über den Erlöser in seinem Streite gegen die, welche ihm entgegen waren, vom 16. Juni 1816 bis zum 28. Juli 1816 18 Vgl. Lk 19,10 19–20 Vgl. Mt 11,28
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hungen folgen und untersuchen, welches die Ursachen des Gelingens und Mißlingens derselben waren, so werden wir davon eine heilsame Anwendung auf unser eigenes Leben machen können. Laßt uns Gott dazu um seinen Segen und Beistand anflehen in dem Gebete des Herrn, wenn wir zuvor gesungen haben u. s. w.
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Der Abschnitt der heiligen Schrift, den wir zum Grunde unserer Betrachtung legen wollen, findet sich im Evangelium Lucä 4, 16–30.
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Dies, meine andächtigen Fr., war ein Versuch unsers Erlösers, diejenigen aus seinem Volke, die, weil sie Mitgenossen seines früheren jugendlichen Lebens gewesen waren, ein besonderes Anrecht auf ihn zu haben schienen, lehrend, warnend und ermahnend zu sich einzuladen; ein Versuch, der anfangs wohl zu gelingen schien, denn es wird gesagt, sie hätten alle gut Zeugniß von ihm gegeben und sich verwundert der holdseligen Worte, die aus seinem Munde gingen, aber der doch bald eine nachtheilige Wendung nahm, so daß diejenigen, die anfangs aufmerksame Zuhörer gewesen waren, sich in entschiedene Gegner von ihm verwandelten. Hier haben wir also ein trauriges Beispiel einer flüchtigen, unvollkommenen Annäherung an den Erlöser, auf die eine desto stärkere Entfernung folgte. Laßt uns | dies zum warnenden Beispiele nehmen, in dem wir die Gründe aufsuchen wollen, warum die, welche ihn erst gepriesen hatten und verwundert waren über die holdseligen Worte seines Mundes, doch so bald sich wieder von ihm entfernten. 1. Das Erste, womit diese Entfernung und Umstimmung begann, war offenbar, daß seine Zuhörer anfingen, über den Ursprung seiner Weisheit zu klügeln. Es ist uns von der ganzen Rede des Erlösers über den Spruch des Propheten nichts in der Erzählung übrig geblieben, als der erste Anfang, indem der Erlöser seine Rede mit den Worten begann: heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren. Es wird uns darauf nur die erste gute Wirkung geschildert, welche der Verlauf seiner Rede auf die Versammlung machte. Was uns aber von dem Beschluß der Rede des Erlösers gesagt wird, hat nicht mehr das Gepräge der Holdseligkeit und Milde, sondern das des Ernstes und der Strenge, und es mußte daher etwas von ihnen vorangegangen sein, was ihn zur Umwandelung seines Tones vermochte. Und dies, finden wir darin, daß sie fragten, woher diesem die Wahrheit gekommen sei. Ist er nicht eines Zimmermannes Sohn? fragten sie, wie es an einer anderen Stelle heißt; heißt nicht seine Mutter Maria? und seine Brüder Jakob und Joses und Simon und Judas | und seine Schwestern, sind sie nicht alle bei uns? Woher kommt ihm denn das alles? Und nun nach diesen Fra34–1 Vgl. Mt 13,54–56
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gen wendet der Erlöser auf einmal die ganze Art seiner Rede um, und die edle Milde verwandelt sich in einen tadelnden und warnenden Ernst. Nun scheint aber das etwas ganz Unschuldiges und Tadelloses, daß die Freude an der Holdseligkeit seiner Worte sich verband mit der Verwunderung, wie doch dieser zu seiner Weisheit gekommen sei. Aber laßt uns diesen Schein der Unschuld nicht täuschen, sondern uns darauf verlassen, daß an dem, was der Erlöser selbst geredet und gethan hat, auch nicht der geringste Schein von einem Unrecht oder Irrthum haften könne, und laßt uns den Keim des Verderbens in dieser Frage aufsuchen. Und wenn wir achten auf das, was mit uns vorgeht: so wird es uns wohl nicht entgehen. Es freut uns wenn recht viele Menschen der Einladung folgen, sich mit uns zu versammeln da, wo auch uns das Evangelium gepredigt wird, wo auch wir uns von den Geschäften und Sorgen dieses Lebens erholen, in dem herrlichen Bewußtsein von dem angenehmen Jahr, womit der Herr uns erfreut. Aber wie, wenn sie sich dann besinnen und forschend fragen: was soll denn aber und kann eigentlich in diesen Versammlungen in den Häusern Gottes Besonderes und Eigenthümliches sein? wenn | wir uns anderwärts, sei es in besonderen und geheimen Gesellschaften, oder in dem natürlichen Vereine des häuslichen Lebens vereinigen und da Einem auftragen, uns unsere Pflichten vorzutragen, ist da nicht ebenso gut Gott unter uns? empfinden wir da nicht auch die belebende Kraft zum Guten? und wenn wir im häuslichen, frohen Kreise beisammen sind, unschuldige Freuden zu genießen, wer gedachte da nicht des Gebers, von dem auch diese hinabkommen? und wenn uns die Natur durch ihre Schönheit herauslockt aus dem engen Verschluß der Mauern ins Freie, wenn die Sonne in ihrer Pracht erscheint, der Welt einen neuen Tag zu bringen, wäre das nicht ebenso gut? wird unser Herz nicht ebenso aufgeregt und empfänglich gemacht für die himmlischen Wahrheiten, als wenn wir im Hause des Herrn beisammen sind? und gedenken wir erst jener Zeit, wo wir die Leiden des Vaterlandes auf das Lebendigste empfanden und uns verbanden, Alles zu thun und zu leiden und erglühend in dem Einen Gefühl, in dem Einen Streben nach der Menschen heiligsten Gütern, alles dafür aufzuopfern bereit waren? – war da nicht der göttliche Geist ebenso in uns, wie er es sein wird nach der Verheissung des Herrn in den Versammlungen, die er geboten hat? – Dürfen wir es läugnen, woher diese Fragen entstehen? Wo | sich erst der Unglaube einschleicht, da ist wenig Hoffnung, daß die eigenthümlichen Früchte des Geistes werden zur Reife kommen. Erfreulich ist es, wenn recht viele mit uns theilen die Überzeugung von der Herrlichkeit der heiligen Schrift, mit uns einsehen, daß sie ein unerschöpflicher Quell der Gottseligkeit sei, und mit uns bald von diesem, bald von jenem, wenn auch schon oft gehörten, aber noch nie recht tief und reiflich bedachten Wort der heiligen Schrift ergriffen und begeistert werden. Aber wenn sie, statt sich diesem Eindruck hinzugeben, fragen: „Aber was
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ist es denn Besonderes mit diesen Büchern?“ rühren sie nicht her von jenen Fischern und Ungelehrten? sucht man nicht vergebens in ihnen manche tiefe Untersuchung über Gott und heilige Dinge? giebt es nicht manche Weise alter und neuer Zeit, die, ohne aus diesem Quell geschöpft zu haben, doch dieselbe Wahrheit lehrten? hat man nicht schon vor der Schrift es gelehrt, daß wir heilig sein sollen, wie unser Vater im Himmel heilig ist? – Das heißt dann, so wie jene von Christus fragten, ist er nicht Josephs, des Zimmermanns, Sohn? ebenso auch die heilgen Schriften in den Kreis menschlicher Richtungen herabziehen, und da wissen wir es wohl, daß auch ihr Segen von diesen nicht genossen werden kann. Und machen es viele Menschen mit dem Erlöser | selbst anders? O wie oft rührt sie das Bild seiner hohen, herrlichen Unschuld, seiner Selbstverläugnung, seiner heiligen Hingebung für seinen Zweck; aber bald, fangen sie an zu fragen: was soll es doch Besonders sein mit diesem Jesu? Freilich ist er ein reiner, vortrefflicher Mensch gewesen, aber warum sind wir an ihn allein gewiesen? ist er nicht, wie wir, ein Mensch, vom Weibe geboren? hat er nicht auch zu kämpfen gehabt mit den Unvollkommenheiten und Schwachheiten des Lebens? mußte er nicht auch, wenn auch frei von der Sünde, doch ihre Folgen auf sich nehmen? Und dann, wann wir betrachten das Wenige, Unzusammenhangende, was uns von seinem Leben übrig geblieben ist, es ist freilich alles herrlich und schön; aber wie Vieles müssen wir doch suchen aus anderen Quellen zu ergänzen, was nicht unmittelbar in der Schrift gegeben ist? – Solche gleichen denen, die aus einer Stadt mit dem Erlöser waren und sich seiner frühen Jugend und Verbindung mit ihnen erinnerten; Bürger dieser Erde und einer gesammten Vaterstadt betrachten sie ihn auch nur als einen solchen und beginnen zu zweifeln an dem Eigenthümlichen und Erhabenen, was ihn auszeichnete. Und wo dieser Zweifel einmal eingerissen ist, da kann keine edle, reine Theilnahme an der Erlösung des Herrn stattfinden. | Darum, m. gel. Fr., jene Ahnung des Erlösers, daß, sobald die Bürger seiner Vaterstadt anfingen, zu fragen: ist das nicht Josephs Sohn? und wohnen seine Brüder und Schwestern nicht unter uns? woher ist ihm solche Weisheit gekommen? er nun keinen weiteren, großen Erfolg von seinen Lehren und Thaten unter ihnen erwarten dürfe. Und diese Ahnung ist, wie unsere tägliche Erfahrung und die aller Zeiten lehrt, nun auch wirklich in Erfüllung gegangen. Darum müssen wir es natürlich finden, daß sogleich die holdselige Einladung des Erlösers sich verwandelte in den warnenden Ton. Dies drückt er aus durch die Worte: kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande. Was heißt das anders, als, wer unser Prophet sein will, muß aus der Fremde sein. Aber unser gemeinsames Vaterland ist die Erde. War er also von der Erde allein, so konnte er freilich unser Prophet, der 7–8 Vgl. Mt 13,55
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untrügliche Lehrer und Mittler und Erlöser nicht sein. Betrachten wir ihn also allein so, wie ein Bürger der Erde den anderen, als einen Mitgenossen der Schwachheiten und Leiden der Erde, so können auch wir der Segnungen seiner Lehre nicht theilhaftig werden, und, wie sehr er auch uns angezogen hat, bald werden wir ihn anderen gleichsetzen und in dieser Gleichsetzung uns schon von ihm entfernen. 2. Das Zweite, m. a. Fr., woraus die Entfernung derer, welche dem Erlöser zugehörten, entstand, war unstreitig dies, daß er die Ansprüche, | welche sie an ihn machten, und die Rechte, welche sie zu haben glaubten, streng von der Hand wies. Denn, wenn der Erlöser sagte, Ihr werdet freilich zu mir sagen das Sprichwort: Arzt hilf Dir selber, denn wie große Dinge haben wir gehöret zu Kapernaum geschehen, thue also auch hier in Deinem Vaterlande: so werden diese Worte in unserem Texte allerdings dem Erlöser beigelegt, aber so, daß er sie aus der Seele seiner Zuhörer muß herausgenommen haben, wie dies zusammenhangt mit der Frage: woher hat er denn solche Weisheit? so mag er uns einen Beweis geben davon, daß er Gottes Sohn sei; und so meinten sie, dies gebe ihnen ein Recht zu fordern, er solle auch unter ihnen Zeichen und Wunder thun, und dies Recht leugnete er ihnen ab. Und nun konnte er daraus wohl schließen, daß sie pochen würden auf das Recht, das ihnen zukomme als Söhnen Abrahams; wenn wirklich das angenehme Jahr des Herrn gekommen sei, wenn wirklich, was der Prophet im Geiste geschauet, nun in die Wirklichkeit getreten sei: so müsse es ihnen auch zu Gute kommen, weil sie an der Verheißung Gottes Theil hätten. Da führte er ihnen aber zu Gemüthe, wie viele Leidende gewesen wären zu jener Zeit allgemeiner Bedrängniß, und Elias sei gesandt worden zu einer Fremden, und wie viele Kranke in Israel zu des Propheten Elisä Zeiten, | deren keiner geheilt ward, denn der Syrer Naeman. Da ergrimmeten sie im Geist und standen auf und stießen ihn hinaus. Auch hierin können wir leicht die Anwendung machen auf das, was noch heute geschieht von denen, welche den Namen unseres Herrn führen. Wenn ihnen gepredigt wird von dem angenehmen Jahr des Herrn; wenn ihnen gepredigt wird das Evangelium, daß gesandt sei der Heiland der Welt zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu verkündigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sei sollen; wenn ihnen gepredigt wird von dem Reiche des Herrn, daß es nahe gekommen sei, und daß der Herr bereit sei aufzunehmen alle, die an ihn glauben: o das finden sie alles holdselige Worte und vernehmen es gern. Aber wenn hinzugefügt wird, was Petrus zu denen sagte, welche er einlud, an dem Reiche Gottes Theil zu nehmen, daß sie umkehren und Buße thun, daß sie den alten Adam ausziehen und einen 39–1 Vgl. Apg 3,19
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neuen Menschen anziehen sollten in der Kraft der Wahrheit und Heiligkeit: Dann finden sie an dem Rechte, was sie zu haben glauben sich gekränkt, dann meinen sie, man wolle die Zeiten verwirren, jetzt sei die menschliche Vernunft erleuchtet und der Weg, den jeder | wandeln solle, liege deutlich ihm vorgezeichnet und indem der Wille Gottes allen kund sei, so sei keine Buße und keine Sinnesänderung nothwendig. Wenn man ihnen da entgegensetzt das Ähnliche von dem, was der Erlöser sagt; wenn man sagt, freilich in gewissem Maaße vermöge jeder das zu thun, was dem Willen Gottes gemäß sei, und keiner in dem Christenthum könne ganz ausgeschlossen sein von frommen Empfindungen; aber es komme darauf an, ob dies etwas Vorübergehendes sei, oder etwas Bleibendes; es komme nicht darauf an, wie wenige oder wie viele gute Thaten jeder aufzuweisen habe, sondern ob sie aus einem ganz gereinigten und auferstandenem Herzen herkommen; und wenn man ihnen sagt, viele sind berufen, aber wenige auserwählet, das gelte noch, und sie sollten sich selbst prüfen und bedenken, daß der Mensch nun geboren werden müsse, jeder in seinem Innerem aus dem Geist, denn ein anderes Recht, als dies, gäbe es nicht an den Segnungen des Evangeliums – : dann entsteht in ihnen eben die Widrigkeit gegen eine, wie sie meinen, so enge beschränkende Ansicht und Lehre, und sie suchen sich ganz aus derselben zu entfernen. Jene aber, m. gel. Fr., die so voll Zornes wurden und aufstanden und Christum hinausstießen mit einem solchen Ungestüm, daß sie ihn an den Rand des Berges führten, auf die Gefahr, daß er hinabstürzen möge, | denn sie hatten wohl eigentlich nicht die Absicht, ihn zu tödten, was aus ihnen geworden, wir wissen es nicht. Ob sie doch noch gewonnen sind späterhin für die heilbringende Lehre des Evangeliums, wir müssen es dem uns unbekannten Rath der göttlichen Barmherzigkeit anheim stellen, aber damals, das wissen wir, ging Christus weg und kam nicht wieder. Und ebenso, wo dieser Widerwille eingekehrt ist, da geht wenigstens für jetzt Christus mitten durch die hin, und sie haben nicht Theil an dem angenehmen Jahr des Herrn, an dem Evangelium, das die Herzen der Armen und Gefangenen erquickt und los und ledig macht von allem irdischen Zwang und aller persönlichen Beschränktheit. Alles dieses Guten und Herrlichen sind sie nicht theilhaftig, bis sie umkehren und gläubig werden an demjenigen, von dem jene Güter allein herkommen. Aber, gel. Fr., manche werden hier bei sich selbst denken, ich sei ganz abgewichen von meiner gewöhnlichen Weise, welche darin besteht diejenigen, welche hier zu gemeinschaftlicher Erbauung versammelt sind, als solche zu betrachten, die eben, weil sie hier sind, ihr Heil nur in Christo, und nirgend anders suchen. Aber sowenig ich allen denjenigen ihren Antheil am Christenthum absprechen will welche auf die eine oder die andere Weise 14–15 Vgl. Mt 22,14
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in diese Verblendung verflochten sind, den Erlöser als einen ihresgleichen anzusehen, | auf das äußere Recht am Christenthum allein zu pochen und nach einer Veränderung im Inneren des Menschen weniger zu fragen: ebenso wenig möchte ich auch auf der anderen Seite sagen, die Absicht meiner Betrachtung sei weniger auf diejenigen gerichtet gewesen, die sich auf eine so bestimmte Weise darüber aussprechen, als darauf, jeden von uns vor der Annäherung an eine solche Verblendung zu warnen: Ja, meine Fr., eher sind wir nicht sicher des Besitzes der Gnade des Herrn, als bis wir erkennen, daß keiner ein Recht daran jemals gehabt noch durch irgend etwas, was er gethan oder gelitten, sich erworben habe. Wollen wir eines reinen und ungestörten Gemüthes der holdseligen Worte des Erlösers sicher sein, so laßt uns niemals das Bewußtsein des Göttlichen in ihm von dem des Menschlichen trennen, damit er uns in jedem Augenblicke der Sohn Gottes bleibe, damit uns die Milde, zu der er immer herabgestiegen ist niemals verleite zu dem Übermuthe, nach welchem wir ihn betrachten und ansehen wollen als unser Einen. In demselben Maaß, als wir ihn unseren Herrn und Meister zu nennen aufhören, wird auch das Band zwischen ihm und uns loser. Das laßt uns aus dieser Geschichte lernen und niemals uns von ihm entfernen, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit, zur Heiligkeit und zur Gerechtigkeit. Amen.
[Liederblatt vom 13. Juni 1819:] Am 1sten Sonntage nach Trinit. 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht etc. [1.] Seele was ermüdst du dich / An den Dingen dieser Erden? / Was so ganz veränderlich / Kann dir nur gefährlich werden. / Suche Jesum und sein Licht; / Alles andre hilft dir nicht. // [2.] Sammle den zerstreuten Sinn, / Daß du dich zu Gott aufschwingest, / Richt ihn stets zum Himmel hin, / Daß du in die Gnade dringest! / Suche Jesum und sein Licht, / Alles andre hilft dir nicht. // [3.] Banget dich nach wahrer Ruh, / Das gestörte Herz zu stillen: / Eil zum Lebensquell hinzu, / Dich mit Labung zu erfüllen. / Suche Jesum und sein Licht, / Alles andre hilft dir nicht. // [4.] Fliehe die unselge Pein, / Die der Sinne Lust gebieret; / Lerne dich der Lust erfreun, / Die der Glaube mit sich führet. / Suche Jesum und sein Licht, / Alles andre hilft dir nicht. // [5.] Geh einfältig stets daher, / Laß dir nichts das Ziel verrücken: / So wird aus dem Liebesmeer / Oft den Schwachen Gott erquicken. / Suche Jesum und sein Licht, / Alles andre hilft dir nicht. // (J. G. Wolf.) 19–20 Vgl. 1Kor 1,30
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Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Zu dir erheben sich die Seelen, / Du Freund der Menschen Jesus Christ, / Der, daß des Weges wir nicht fehlen, / Der Welt ein Vorbild worden ist. / Du warst der Menschheit größter Segen, / Du brachtest Frieden ihr entgegen, / Und Licht in ihre Dunkelheit. / Nur Wohlthun war dein Erdenleben, / Dein Zweck, dein eifrigstes Bestreben, / War deiner Menschen Seligkeit // [2.] Nicht schrecklich waren deine Werke, / Du kamst nicht Sündern zum Gericht. / Du warst der blöden Seelen Stärke, / Und der Bedrängten Zuversicht; / Dein Blick war so wie dein Gemüthe, / Voll Mitleid Freundlichkeit und Güte, / Du spendetest was jedem Noth; / Du sahst die Thränen der Betrübten, / Die Sehnsucht derer die dich liebten, / Auf deinen Wink entfloh der Tod. // [3.] Du fühltest deiner Brüder Leiden, / Mehr als du eigne Noth empfandst, / Du dachtest nicht an Ruh und Freuden, / So oft du Menschen leidend fandst. / Nichts nichts beschränkte dich, die Thaten, / Die Gottes Beistand laut verrathen, / Sie gaben Allen Zuversicht; / Du halfst den Kranken wie den Armen, / Und warntest gerne voll Erbarmen, / Daß keiner käme ins Gericht. // [4.] So folgten dir auf jedem Schritte / Erbarmen Huld und Güte nach; / Sie folgten in des Armen Hütte, / Und unter des Bedrängten Dach / Der Tempel wie die öden Wälder, / Die Städte wie die freien Felder, / Bezeugten deine Gütigkeit, / Du bliebst Beschüzer deiner Freunde, / Und gern verschontest du der Feinde, / Stets zum Vergeben ganz bereit. // [5.] O Jesu wäre doch mein Leben / Dem deinen gleich! wär ich wie du, / So ganz d[e]r Liebe nur ergeben, / So selbstvergessen nur wie du! / Drum stärk in mir die edlen Triebe, / Der Sanftmuth und der Menschenliebe, / Und gieb mir deinen milden Sinn; / So ziert mein Wandel deine Lehre, / Und mein ist, Herr, die hohe Ehre, / Daß ich dein Freund und Jünger bin. // (Sturm.) Unter der Predigt. – Mel. Allein Gott in etc. O höchstes Gut, sei hier und dort / Mein Reichthum Lust und Ehre! / Gieb daß in mir sich fort und fort / Das Sehnen nach dir mehre! / Daß ich dich stets vor Augen hab, / Mir selbst und allem sterbe ab, / Das mich von dir will ziehen. // Nach der Predigt. – Mel. Seelennräutgam etc. [1.] Wecke mich recht auf, daß ich meinen Lauf, / Unverrückt in dir fortseze, / Und mich nicht in seinem Neze / Satan halte auf, fördre meinen Lauf. // [2.] Deines Geistes Trieb in die Seele gieb, / Daß ich wachen mög und beten, / Freudig vor dein Antliz treten! / Ungefärbte Lieb in die Seele gieb. //
Am 27. Juni 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
3. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 4,31–35 Nachschrift; SAr 52, Bl. 30r–31r; Gemberg Keine Keine Teil der Predigtreihe über das Bestreben des Herrn, zu suchen, was verloren war, vom 13. Juni 1819 bis zum 14. November 1819 (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Evang. am 3. Sonntag n. Trin. Dr. Schleiermacher. Lucas, c. 4, v. 31–35.
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Dieser Gegenstand schließt sich unmittelbar an unsre letzte Morgenbetrachtung an. Wir finden Christus hier lehrend an dem Ort, an dem er sich meist aufhielt, in Capernaum. Unter den bewundernden Hörern findet sich einer, der nicht in seinem, sondern im Namen des bösen Geistes in ihm spricht: Heiliger Gottes p. Diesen heilt er daher auch nicht, sondern tritt in Kampf | mit dem unsaubern Geist und macht ihn verstummen. Sehen wir a. wie er denselben erkannte? b. wie er denselben behandelte? a. der Mensch ruft: ich weiß, wer du bist, der Heilige Gottes – und dennoch: was haben wir mit dir zu schaffen, du willst uns verderben p. – das scheint zwar ein Widerspruch, aber doch finden wir es oft im Leben so, daß einer das Bessere erkennt, und dennoch seiner alten Weise folgt und jenes für schädlich hält. Nur wo die eitle Selbstgefälligkeit ganz gefallen ist, wo das ächte Leben in Gott, da ists möglich, die Stimme des Elenden zu erkennen. Der Reine weiß den Ruf des saubern und unsaubern Geistes wohl zu scheiden. So wir, wenn wir die Reinheit Christi anstreben. b. Christus bedräuet den bösen Teufel, greift den schlechten Geist, der aus dem Menschen sprach, offen an, so daß er verstummt. So auch wir, wo wir das Schlechte finden, befehden wir es, doch mit leitendem Hinblick auf die Genesung des entsündigten Menschen. 3–4 Vgl. 13. Juni 1819 vorm.
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Es war eine krankhafte Erschütterung in dem Unglücklichen. | Der unsaubre Geist flieht ihn und thut ihm keinen Schaden. Das ist auch die herrlichste Wirkung des göttlichen Geistes im Menschen, wenn das Schlechte leise und allmählig auszieht, und ohne zerstörende Erschütterungen. Nicht können wir so gewiß des Erfolges sein, wie der Sohn Gottes, aber das Bedräuen soll unsre Sache bleiben, den Erfolg mögen wir in Gottes Hand stellen.
[Liederblatt vom 27. Juni 1816:] Am 3ten Sonntage nach Trinit. 1819 Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Dich will ich lieben, meine Stärke, / Dich will ich lieben meine Zier! / Dich will ich lieben mit dem Werke / Der immer brennende Begier; / Dich will lieben schönstes Licht, / Auch wenn das Herz im Tode bricht. // [2.] Ach daß ich dich so spät erkannte, / Du hochgelobte Schönheit, du! / Daß ich so spät erst mein dich nannte, / Du höchstes Gut, du wahre Ruh! / Ich bin im Herzen tief betrübt, / Daß ich dich, Herr so spät geliebt. // [3.] Ich lief verirrt und war verblendet, / Und was ich suchte, fand ich nicht; / Denn ach, ich war von dir gewendet, / Und liebte das geschaffne Licht; / Nun aber ists durch dich geschehn, / Daß ich im Glauben dich gesehn. // [4.] Ich danke dir, du wahre Sonne, / Daß du von oben Licht gebracht: / Daß du mich reif zur Himmelswonne, / Daß du mich froh und frei gemacht! / Laß nun auch Geist Sinn und Verstand, / Dir immer bleiben zugewandt. // [5.] Ja leite mich auf deinen Wegen / Und laß mich nicht mehr irre gehn! / Laß meinen Fuß auf deinen Wegen, / Nicht straucheln oder stille stehn, / Erleuchte Leib und Seele ganz, / Du Weisheit mir und Himmelsglanz. // (Schäffer.) Nach dem Gebet. – Mel. Christus der uns etc. [1.] Von des Himmels ewgem Thron / Kam zu uns auf Erden / Jesus Christus, Gottes Sohn, / Unser Heil zu werden. / Menschensohn ward er, wie wir; / Daß wir seelig würden, / Uebernahm er willig hier / Schwerer Leiden Bürden. // [2.] Nun herrscht er dem Vater gleich, / Und regiert in Frieden / Weisheitsvoll das große Reich, / Das ihm Gott beschieden. / Ehrfurcht und Gehorsam soll / Ihm der Mensch bezeigen; / Aller Knie sich demuthsvoll / Vor dem Mittler beugen. // [3.] Wer den Sohn ehrt, ehrt zugleich / Gott durch den wir leben, / Weil des Vaters Macht und Reich / Ihm ist übergeben. / Wer Herr Herr zu Jesu spricht, / Und doch Böses übet, / Kennt ihn und den Vater nicht, / Der nur Fromme liebet. // [4.] Ewig liebe dich mein Herz, / Göttlicher Erbarmer. / Denn durch deinen Todesschmerz / Leb und sieg ich Armer. / Du du kennst o Menschenfreund / Unsre Leidensstunden, / Und wie ein Bedrängter weint, / Hast du selbst empfunden. // [5.] Du den in der Niedrigkeit /
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Noth und Angst umgaben, / Kannst nun in der Herrlichkeit, / Mitleid mit uns haben. / Wenn Gebet und Angstgeschrei / Nun zum Himmel dringen, / Stehst du mitleitsvoll uns bei, / Hilfst den Sieg erringen. // [6.] Weich Erbarmer nicht von mir / Bis auch ich einst ende, / Daß ich meinen Weg zu dir / Freudig dann vollende! / Doch laß weil ich hier noch bin, / Und von Noth umgeben, / Deinen muthgen Glaubenssinn / Meinen Geist beleben. // (Jauer. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Ein feste Burg etc. Herr deine Kirche streitet noch, / Hilf deiner Kirche siegen! / So schwer ihr Kampf ist, müsse doch / Kein Streiter unterliegen! / Hör ihr kindlich Flehn, / Eil ihr beizustehn, / Daß sie standhaft sei, / Stets deiner Wahrheit treu. / Hilf deiner Kirche siegen. //
Am 11. Juli 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Evang. am 5. Sonntag n. Trinit. Freier Text. Lucas c. 5, v. 16–25.
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5. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 5,16–25 Nachschrift; SAr 52, Bl. 31r–32r; Gemberg Keine Keine Teil der Predigtreihe über das Bestreben des Herrn, zu suchen, was verloren war, vom 13. Juni 1819 bis zum 14. November 1819 (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Wenn der Herr leibliche Wohlthaten spendete, so waren auch geistige eingemischt. Hier hat die Heilung des Gichtbrüchigen eine geistige und leibliche Seite. Manche meinen: heile die Seele, und der Körper wird auch frei von Leiden werden, denn die Uebel sind Folgen der Sünde. Andere: verbessre den leiblichen Zustand der Menschen, befreie sie von dem sie beschwerenden äußern Druck, und ihr Herz wird freier und sonniger werden. Auch am letztern ist etwas Wahres. Darum müssen wir den Menschen auf beiden Wegen helfen, bald vom Innern bald vom Äußern ausgehend. | Christus stellt den innern Weg an die Spitze, und das ist die christliche Ansicht von der Sache. Die Eilfertigkeit, mit der man den Kranken zu ihm brachte und seine vertrauende Sehnsucht konnten ihm nicht unentdeckt bleiben, und er spricht: deine Sünden sind dir vergeben, d. h. du hast den Glauben, und die Scheidewand zwischen dir und dem Vater ist gefallen. Diese Macht der Sündenvergebung sprach Christus auch den Aposteln zu, und wir alle haben sie, wenn wir den Verstockten erreichen, den Schwachen fördern p., dann haben wir einen Beitrag zu dem: Mensch, deine Sünden sind dir vergeben. So nämlich klingt die Stimme Gottes in der Brust des Gebesserten. Die Sündenvergebung ist, womit die geistige Wiedergeburt des Menschen beginnt, und ihr höchster Gipfel, denn alle Gaben des Verstandes und der Erde, was sind sie gegen jenes selige Gefühl, daß wir in Gott leben und er in uns? Darauf heilte der Herr auch leiblich, aber ohne 16 Vgl. Joh 20,23
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jene geistige Kraft des Glaubens, die der Herr zuerst angefacht hatte, wäre ihm schwerlich das letztere gelungen. PHeileS Menschen, die nicht einen Gegensatz kennen zwischen solchen, welche im Dienste des Erlösers wandeln und denen, die dagegen verhärtet sind, werden nicht ahnen die Kraft des Geistigen, und PleiblicheS | Heilung für ein größeres erachten. So die Pharisäer. So ist die Weise der Welt. Wir sollen in und unter ihr wirken, soviel wir geistig vermögen, und dann auch, wie der Erlöser, kräftig ihr leibliches Wohlseyn fördern, weil aus dem auch das Bessere für sie erwachsen kann.
[Liederblatt vom 11. Juli 1819:] Am 5ten Sonntage nach Trinit. 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Mir nach spricht etc. [1.] Das ist ein theuer werthes Wort, / Ein Wort sehr lieb zu hören; / Daß Jesus ist der Sünder Hort, / Und will die Armen lehren, / Das ist ein theuer werthes Wort, / Daß Jesus ist der Sünder Hort. // [2.] Er Jesus nimmt die Kranken an, / Und heilet allen Schaden, / Er stellt als Gast sich jedermann, / Der ihn zu sich will laden. / Das ist ein theuer werthes Wort, / Daß Jesus ist der Sünder Hort! // [3.] Er Jesus ist ein treuer Hirt, / Er suchet was verloren, / Er holt zurück was ging verirrt, / Er pflegt was neu geboren / Das ist ein theuer werthes Wort, / Daß Jesus ist der Sünder Hort. // [4.] Er Jesus ist als Gottes Sohn, / Des neuen Bundes Gründer, / Das Osterlamm der Gnadenthron, / Der geistgen Gotteskinder. / Das ist ein theuer werthes Wort, / Daß Jesus ist der Sünder Hort. // [5.] Verleih Herr, daß ich deine Gnad / Und meine Sünd’ erkenne, / Daß ich, dein Schäflein, früh und spat / Nach dir in Lieb’ entbrenne; / Denk an das theuer werthe Wort / Daß Jesus ist der Sünder Hort. // (Neuß.) Nach dem Gebet. – Mel. O du Liebe etc. [1.] Menschenfreund nach deinem Bilde / Bilde sich mein ganzer Sinn; / Deine Sanftmuth deine Milde, / Neig auch mich zur Liebe hin! / Unwerth wär ich dich zu kennen, / Liebt ich meine Brüder nicht; / Unwerth mich nach dir zu nennen, / Ehrt ich nicht der Liebe Pflicht. // [2.] Wie du dich nur Menschen nahtest, / Folgte Wohlthun deiner Spur. / Wo du segnend Gutes thatest, / In den Hütten auf der Flur, / An dem Lager kranker Brüder, / Wo du je nur hingeblickt, / Kehrte Freud und Hoffnung wieder, / Und die Menschheit ward erquickt. // [3.] Jesu Gütigster von allen, / Keinen hast du je verschmäht; / Wer verirrt war und gefallen, / Wer um Trost zu dir gefleht, / Hat für seines Herzens Wunden, / Herr, in deiner treuen Hand / Rettung Heil und Trost gefunden, / Hülfe die er nirgend fand. // [4.] Brüder kommt in meine Arme, / Wer da leidet, ruhe hier, / Wenn ich sein mich nicht erbarme, / Wende sich mein Gott von mir. / Ohne Lieb’ ist ja kein Leben, / Liebend nur gleich ich
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dem Herrn; / Sein Verschonen, sein Vergeben / Ueb’ auch meine Seele gern. // [5.] Nimmer soll mein Herz ermüden, / Christi Jünger so zu sein! / Das nur schafft den rechten Frieden, / Wahrer Liebe sich zu weihn. / Wer nach Dank und Lohn nur ringet, / Hat schon seinen Lohn dahin, / Wen das Herz zur Liebe dringet, / Erndtet daurenden Gewinn. // [6.] Zwar auch ihm wollt wenig sprossen, / Der so reiche Saat gestreut, / Daß auch seine Zähren flossen, / Weil das Feld ihm wenig beut. / Doch des Seegens seiner Güte / Freut er nun sich nun ewge Zeit, / Denn es steigt die Saat zur Blüthe, / Und das Reich des Herrn gedeiht. // (Jauer. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt etc. [1.] Wenn ich ihn den Heiland habe / Wenn er ganz mein eigen ist, / Wenn mein Herz bis hin zum Grabe, / Seine Treue nicht vergißt, / O dann weiß ich nichts von Leide, / Fühle nichts als Lieb’ und Freude. // [2.] Wenn ich ihn den Heiland habe, / Laß ich alles andre gern, / Folg an meinem Pilgerstabe / Treu gesinnt nur meinem Herrn / Ohne Furcht und ohne Grauen, / Weil ich immer ihn soll schauen. //
Am 25. Juli 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
7. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 5,27–35 Nachschrift; SAr 38, S. 509–516; Jonas Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 32r; Gemberg Teil der Predigtreihe über das Bestreben des Herrn, zu suchen, was verloren war, vom 13. Juni 1819 bis zum 14. November 1819 (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Vormittagspredigt am 25. Juli 1819. Tex t. Luc. 5, 27–35.
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Den Haupteindruck, den der erste Theil unsres Textes auf jedes christliche Gemüth machen muß, haben wir schon durch das Lied, das wir gesungen im Voraus ausgesprochen, und ich kann darauf rechnen, daß eben das Gefühl einen jeden unter uns schon ergriffen hat, wie der Erlöser gekommen ist zu suchen und seelig zu machen das Verlorne, die Sünder zur Buße zu rufen, die Mühseligen und Beladenen zu erquicken. Diesen Eindruck festhaltend laßt uns unsre Aufmerksamkeit in der folgenden Betrachtung gleichmäßig auf die beiden Theile des Textes, wie sie zusammengehören, richten. Wo finden wir da etwas Gemeinsames? Das Erste und das Andre ist eine Frage, die dem Erlöser vorgelegt ward in Beziehung auf seine und seiner Jünger Handlungen, die den herrschenden Vorstellungen der damaligen Zeit über das was Recht und Unrecht, dem Gesetz gemäß und demselben zuwider war, zu widersprechen schienen, Vorstellungen, die freilich in das Innere der Sache nicht eindrangen, die wir als Vorurtheile, als einseitigen Wahn ansehen müssen, und es muß uns, die wir in demselben Verhältnisse, wie der Erlöser leben, die wir es fühlen, daß die Wahrheit, die zur Gottseligkeit leitet, sich stets durchkämpfen muß durch ähnliche Vorurtheile und Einseitigkeiten der Menschen, uns muß es wichtig seyn zu beherzigen, wie der Herr, und zwar eben, weil er kam, die Sünder zur Buße zu rufen, auf die 2 27–35] 27–36 4 Vgl. Liederblatt im Anhang nach der Predigt
7 Vgl. Lk 19,10
8 Vgl. Mt 11,28
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Fragen antwortete und sich hier verhielt. Damit uns aber dabei das Wichtigste nicht entgehe und wir um so genauer uns an die Erzählung halten mögen, so laßt uns jede der beiden Fragen, die dem Erlöser vorgelegt wurden und die Antworten die er gab, nacheinander erwägen.
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I. Zuerst fragten die Schriftgelehrten und Pharisäer den Erlöser, wie er dazu komme, zu essen und zu trinken mit den Zöllnern und Sündern. Es ist den Lesern der heiligen Schrift aus vielen Stellen bekannt, daß dies eine Classe von Menschen war, gegen die sich ein allgemeines Vorurtheil festgesetzt, weil sie unmittelbar der fremden Gewalt dienten, die das jüdische Volk unterjocht hatte, weil sie sich gebrauchen | ließen und zwar ihres Vortheils wegen, das auszuführen, was mehr oder minder allgemein als drückend anerkannt war und so in mancherlei mit der Strenge des Gesetzes nicht verträglichen Verbindungen stehen mußten mit den Ungläubigen und Heiden. Solche Vorurtheile gegen einzelne Stände finden sich in der menschlichen Gesellschaft mannigfaltig zu allen Zeiten, die, wie jene im öffentlichen Dienst begriffen und eben deswegen solchen nachtheiligen Urtheilen ausgesetzt waren. Je fremder die Herrschenden und Beherrschten einander sind, je weniger Uebereinstimmung es unter ihnen giebt, je mehr Willkür der höchsten Gewalt beigemischt ist, desto mehr wird bald das, bald jenes als drückend gefühlt und die, die es ausführen sollen, trifft ein ähnlich hartes Urtheil. Solche Urtheile aber, die wir wol Vorurtheile nennen müßten, sind selten ganz ohne Grund und haben etwas in der Natur der Sache für sich. Es giebt Beschäftigungen, die das menschliche Herz allmählig gegen die Regungen der brüderlichen Liebe, gegen den Antheil an dem höhern Wohl der Menschheit zu verhärten scheinen. Dennoch finden wir, daß der Erlöser, diesem immer nicht ungegründeten Urtheil seiner Zeitgenossen entgegen, hier und in andern Fällen sich nicht scheute, im geselligen Leben mit denen zusammenzutreffen, auf die das Urtheil fiel. Aber fragen wir, wie der Erlöser sich in dieser Hinsicht rechtfertigte, so müssen wir sagen, es war nicht die gewöhnliche Entschuldigung, die wir in ähnlichen Fällen so oft hören, man müsse ja leben können mit allerlei Menschen, man dürfe nicht alle Gefühle seines Herzens immer laut werden lassen, man müsse manchmal suchen, das Unrecht nicht zu sehen, das man doch sieht. Nein, so entschuldigt sich der Erlöser nicht. Noch weniger fängt er einen Streit gegen das allgemeine Urtheil an, der nicht nur vergeblich würde gewesen seyn, sondern dem auch sein Herz hätte widersprechen müssen, sondern er giebt es zu, daß die, mit denen er eben gesellig umging, Kranke waren und nicht Gesunde, Sünder und nicht Gerechte, aber daß er eben deswegen mit ihnen esse, weil er gekommen sey, die Kranken zu heilen und die Sünder zur Buße zu rufen. Laßt uns wohl bemerken, daß er nicht das für sich rechtfertigt, daß er mit ihnen esse,
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sondern zugleich auf den Grund, auf dem dieser sein Umgang mit ihnen ruhte, hinweist. Der Evangelist hat uns den Zusammenhang der | Begebenheit deutlich gemacht. Der Erlöser hatte Einen jenes Standes aufgefordert, sein Geschäft und alle seine Vortheile liegen zu lassen und ihm zu folgen, und dieser hatte den Ruf angenommen und wahrscheinlich im Gefühl der Freude darüber ein Mahl angerichtet, bei dem sich mehrere seiner Standesgenossen einfanden. Aber das konnten ja keine andern seyn, als solche, die einen herzlichen Antheil daran nahmen, daß Einem unter ihnen solch Heil widerfahren und er nun zu der vertrauten Freundschaft dieses großen Lehrers (wenn die den Erlöser auch nur als einen solchen ansahen) gehöre, und indem der Erlöser das Zeugniß gab, daß sie Kranke seyen und Sünder, mit denen er esse und trinke, weil er gekommen sey, die Sünder zur Buße zu rufen, so müssen wir schließen, daß er nicht eben nur mit ihnen aß und trank und sich der geselligen Freude überließ, alles andre aber mit Stillschweigen überging, sondern auch an ihnen sein großes Geschäft übend, ihnen fühlbar zu machen die geistige Krankheit, an der sie litten, mit aller der Herzlichkeit und Milde, aber auch mit aller der Strenge, die wir an ihm kennen, sie zur Buße gerufen habe. Eben das ist es, was wir für alle ähnlichen Fälle und wir brauchen nicht bei dem stehen zu bleiben, was diesem buchstäblich ähnlich ist, dem Erlöser abzulernen haben, sofern wir in seinem heiligen Geschäft, die geistig Kranken zu heilen und die Sünder zur Buße zu rufen, Antheil nehmen sollen. Die Menschen um uns, sie mögen seyn, wie sie wollen, sie mögen treiben welches Geschäft sie wollen, mögen sich zugezogen haben einen kleinern oder größern Antheil an dem, was öffentlich getadelt wird, wir sollen sie nicht von uns stoßen, uns ihnen auf keine Weise entziehen, wenn sie noch solche sind, die sich wie jene durch den Mund des Erlösers, so jetzt noch durch das Wort Gottes, das uns allen gegeben ist, strafen lassen und zur Buße rufen, wenn sie, wie jene es seyn müßten, weil sonst der Erlöser mit ihnen nicht würde gegessen haben, zum Gefühl gekommen sind dessen, woran sie leiden, das vielleicht lange verhärtete Herz erweicht haben und im Begriff sind, die Augen aufzuschließen für das Reich Gottes und für die herrliche Freiheit der Kinder Gottes in demselben, wenn sie also, um in das Reich einzugehen, jene Stimme des göttlichen Worts, die sie zur Buße ruft, vernehmen | und wie jene spätern Zuhörer des Apostels rufen: ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun? Dann sollen wir uns auch den Zöllnern nicht entziehen, sollen alle Menschen in den Bund der Freundschaft und der Liebe aufnehmen, uns keines Verhältnisses mit ihnen schämen, sie auf dem Wege, den sie einschlagen wollen, weiter zu bringen, und sie mit demselben Abscheu wider alles Verkehrte und Sündhafte zu erfüllen, wovon wir selbst erfüllt sind. Wie weit ist dieser Ernst des Erlösers entfernt 33 Vgl. Röm 8,21
36 Vgl. Apg 2,37
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von jenem Leichtsinn, den wir so oft unter uns finden und der gern das Ansehn der Aehnlichkeit mit diesem Ernst des Erlösers an sich nähme, ich meine jene Gleichgültigkeit, die ohne darnach zu fragen, ob die Kranken wollen geheilt seyn, ihnen doch die geselligen Kreise öffnet, die der reine, Gott gefällige Mensch nur denen, die auch so seyn und bleiben wollen, öffnen sollte, sich mit ihnen einläßt in die, wenn auch weiteren Verbindungen, die doch allen Werth verlieren, wenn das Herz keinen Theil daran nehmen kann und durch welche die Sünde aus einem Herzen in das andre eindringen muß. Ist das Herz derer, die dem Wahne, dem Unrecht, der Gewalt sich zu Werkzeugen hingeben, ist dies nicht der Buße geöffnet, dann zieht aus solchen Herzen in unser Herz mancherlei Gift ein. Sind aber jene Herzen der Reue und Buße geöffnet, und unsre doch mitten unter den Freuden des geselligen Lebens rein, des Erlösers, Gottes und seines Geistes immer voll, sind sie immer im Scherz, wie im Ernst, in der Freude, wie im Geschäft, im Dienste der Gerechtigkeit, dann wird mit der Buße und durch die Buße der Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit, für Unschuld und Gottseligkeit aus unsern Herzen in jene eindringen. Aber laßt uns nicht nur aus dem Gesichtspuncte dies betrachten, wenn wir dem Erlöser angehören und als seine Werkzeuge an seinem Geschäft Theil nehmen, sondern auch aus dem, daß er nie aufhören darf, wenn wir nicht in die Irre zurückkehren sollen, eben das große und heilige Geschäft an uns zu verrichten. So muß sich denn in uns das Gefühl der Krankheit, die er allein heilen kann, nie verlieren, so muß sich in uns beständig erhalten der bußfertige Sinn, an den der Genuß aller seiner Wohlthaten und die Fortdauer jenes freundlichen Verhältnisses, in dem wir zu ihm stehen, gebunden ist. Wenn uns | einerseits das Bild des Erlösers stets gegenwärtig ist, andrerseits die Augen nicht verschlossen gegen den Zustand der Welt, in der wir leben, da noch immer den Reichthum der Sünde und des Verderbens wahrnehmen, die der Erlöser heilen soll durch seine himmlische Kraft, so müssen wir beides auf das innigste in jedem Augenblicke unsres Lebens vereinigen, einerseits mit ihm handeln, wirken, reden, um die Kranken zu heilen und die Sünder zur Buße zu rufen und nach dem Maaße, als sein Geist uns durchdringt, der Demüthigen und Mühseligen Herz zu erleichtern und zu erquicken, andrerseits zu ihm hinaufsehend uns zu seinen Füßen werfen und jeden Augenblick in dem durch den Anblick der Sünde sich in uns erneuernden Gefühl von unserm Antheil an der Sünde zu sprechen: Herr! Ich bin nicht werth der Gnade und Barmherzigkeit, die du an mir gethan hast! und vor ihm uns darstellen auch als die noch nicht gesund sind, noch der Heilung bedürfen, noch nicht durchdrungen sind von seinem Geiste, sondern in den Seelen es noch diese und jene Falte giebt, in welche die wahre Buße noch nicht eingedrungen ist und die noch ausgeglättet werden muß durch die Kraft der Wahrheit.
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II. Nun laßt uns zu der zweiten Frage übergehen, die dem Erlöser vorgelegt wurde, warum des Johannes Jünger so oft fasteten und so viel beteten, womit verbunden war der Begriff der Zurückziehung in die Einsamkeit, während seine Jünger nichts thäten, was sie von dem gewöhnlichen Gange des Lebens trennte oder unterschiede. Darauf antwortet der Erlöser: ihr werdet die Hochzeitsgäste nicht zum Fasten treiben, so lange der Bräutigam bei ihnen ist. Wie einfach ist nicht diese Zurechtweisung des Erlösers und wie deutlich zeigt sie uns zu seiner Rechtfertigung, daß wiewol in der geselligen Freude begriffen, sein Herz doch stets voll war, nicht nur seines Berufs, sondern auch der Kenntniß davon, wie sich der irdische Theil desselben nach Gottes Anordnung enden müsse; denn da er sagt, es komme die Zeit, wo er seinen Jüngern, die er hier darstellt als die Gäste eines großen Festes, der, der es ihnen bereitet, werde genommen werden und dann würden auch sie traurig seyn und fasten und sich der Freude verschließen, giebt er zu erkennen, wie voll zu aller Zeit | sein Herz war von dem Wege, den Gott, der himmlische Vater ihm verordnet hatte zu gehen, wie das Bewußtseyn dessen, was ihm bevorstand, ihn nicht verließ selbst in den frohesten Augenblicken. Aber wie einfach ging er nicht dem herrschenden Wahn, der sich in jener Frage aussprach, entgegen. Die Jünger des Johannes hatten, so wie er selbst, den Beruf auf sich genommen, das Ende des bisherigen Zustandes, so wie das nahe Herbeikommen des göttlichen Reichs zu verkünden, und es war die allgemein herrschende Vorstellung, daß der, dessen Gemüth besonders erfüllt war von den Segnungen einer künftigen Zeit, alles das geringschätzen und sich dessen enthalten müsse, und daß der Beruf, jene neue Zeit zu verkündigen und die Vorahnung ihres Geistes zu verbreiten unter den Menschen, nothwendig verbunden seyn müsse mit einer strengen Zurückhaltung von der Welt und von dem, was zwar das menschliche Gemüth erfreut, aber nur aus dem Gefühl entspringen zu können scheint, daß die Gegenwart ihren ungestörten Gang nehme. Der Erlöser giebt in seiner Antwort zu erkennen, daß alles, was seiner Natur nach nur ein äußerliches sey und seyn könne, nur einen Werth habe, sofern es mit dem innern Zustande des Gemüths zusammenhange, aus demselben natürlich entspringe und für die unbefangene Welt ein Spiegel des Innern sey. Darum tadelt er auch die Jünger des Johannes nicht, als die Schriftgelehrten von ihnen sagten, sie fasteten viel und beteten, denn obgleich wir nicht wissen, in welche Zeit des öffentlichen Lehramts Christi diese Begebenheit fällt, so ist doch gewiß, daß wenn auch Johannes damals noch nicht zum Tode verurtheilt war, er doch schon gefangen war. Wie konnten also nicht seine Jünger, wie mußten sie nicht in dem Gefühl dieser unerhörten Gewaltthätigkeit, dieser grundlosen Wilkür, sich dem gewöhnlichen Gange des freudigen Lebens entziehen und eben dadurch auf alle Weise ihre Mißbilligung an dem Geschehenen zu erkennen geben. Aber eben so macht der
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Erlöser aufmerksam darauf, daß man nicht dasselbe auf gleiche Weise von seinen Jüngern fordern könne. Für sie, sagt er, ist das Leben mit mir ein beständiges Fest, | da ist nicht nur Ruhe und Unbefangenheit, sondern Heiterkeit und Fröhlichkeit an der Ordnung und darf nicht fehlen. Woher sollten die traurigen Geberden, woher ein ängstliches Zurückziehen kommen? Ihr werdet die Hochzeitsgäste nicht zum Fasten treiben, so lange der Bräutigam bei ihnen ist. Auch in dieser Hinsicht befinden wir uns in einem ähnlichen Falle mit dem Erlöser und den Seinigen damals. Es hat sich in der christlichen Kirche, in der freilich die Stimme der Wahrheit niemals verhallt, in der das große Wort nie ganz verschwunden ist, daß nicht äußere Werke der Zucht, sondern nur die Gerechtigkeit des Glaubens den Menschen Gott gefällig mache, aber es hat sich auch in ihr zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Maaße ein ähnlicher Wahn, wie damals, erhalten, der auf manches Aeußerliche, insofern schon, als eine Entsagung und Zurückziehung von dieser Welt darin zum Vorschein kommt, einen Werth legt, ohne Rücksicht darauf, wie es aus dem Innern entsprungen ist und wir können nicht fest genug halten an diesem Wort des Erlösers, in dem so deutlich der Sinn liegt, daß alles Aeußere nur beurtheilt werden darf nach dem Maaß des Innern, aus dem es hervorging. Aber die Aehnlichkeit geht noch weiter. Unter den Jüngern des Erlösers waren mehrere seiner Liebsten und Vertrautesten, die vorher auch waren Jünger des Johannes gewesen, die den Weg dieses Mannes Gottes, der gekommen war, dem Erlöser, ihrem Herrn, die Wege zu bereiten, wohl erkannten und die es ihm nie genug danken konnten, daß seine Stimme zuerst es war, die ausrufend: das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünden trägt! sie von dem Geringern zum Größern, von dem Vorläufer zu dem der da kommen sollte, hingewiesen hatte. Sie hatten also dieselbe Ursach zu trauern und dennoch will der Erlöser nicht, daß sie traurig seyn sollten und wendet vielmehr allen Tadel von ihnen ab, weil, nachdem sie den Größren gefunden und erkannt hatten, der Geringere allerdings doch nicht mehr denselben Werth bei ihnen haben konnte und sie wohl fühlen mußten, selbst Johannes, von dem der Erlöser gesagt hatte, er sey größer als jeder andre Prophet, sey entbehrlich, seitdem der Herr gekommen, auf dem alle Hoffnungen der Menschen ruhten und durch den allein sie sollten erfüllt werden. Darum wie sehr sie den Johannes liebten, verlangte der Herr doch nicht von ihnen, daß sie traurig seyn sollen über die Art, wie Gott ihm beschieden, im Dienste der Wahrheit und in der Verkündigung des Besseren, das da kommen sollte seinen irdischen Lauf zu beschließen. Ja so und nicht anders ist es noch jetzt immer in der Welt. Wir die wir glauben an das Reich Gottes, das durch den Erlöser gegründet ist, wir sehen alles andre noch so herrliche und wichtige Menschliche nur an, als jenem Reiche die11–13 Vgl. Gal 2,16
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32–33 Vgl. Lk 7,28
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nend, um seinetwillen da und mehr nicht werth, als was es beiträgt, um jenes Reich zu halten und zu fördern. Und was in diesem Gebiet der untergeordneten menschlichen Dinge sich Trauriges begiebt, unser Herz soll nicht unempfindlich dagegen seyn, aber die, die den Einen Herrn gefunden haben, die es fühlen, daß nachdem er einmal | in den Tagen seines Lebens den Tod gelitten hat und von den Seinen genommen ist, erhöht zur Rechten Gottes seitdem auf eine herrliche und keiner Veränderung unterworfenen Weise im Geiste unter ihnen lebt, die sind schon hier auf Erden die Genossen eines ewigen und unvergänglichen Festes, bei dem, eben weil der Bräutigam, der das Mahl bereitet, die Seinen nie verläßt, auch die Freude ewig währe und durch nichts gehemmt und erschüttert werden kann. Mag sich noch eben so wie damals gegen den treuen Diener Gottes die menschliche Willkür und Ungerechtigkeit regen, mag manches geschehen, was ein Sieg zu seyn scheint des Unedlen, manches geschehen, wodurch uns Hülfe kommt, wie viel Verderben die Unkenntniß der göttlichen Gebote stiftet, unsre Freude soll nie vergehn und nie haben wir Ursach, die Zeichen der Trauer und Verzagtheit zu tragen. So lange der Bräutigam nicht von uns genommen ist, und ewig ist er bei uns, so lange kann die Freude nicht von uns genommen werden. Laßt uns nun aber auch das andre Wort betrachten, das der Erlöser sagt: wenn aber der Bräutigam von ihnen genommen wird, dann werden sie fasten. Er zwar bleibt ewig bei uns, aber daß auch wir bei ihm bleiben, daß nicht unser Herz von ihm entfernt, wir nicht hingerissen werden auf die Bahn, die ihm fremd ist, unser Leben sich nicht verliere von dem, der da ist die Wahrheit und das Leben, damit wir mit immer froherem Muth die Freude festhalten können! ja im Gefühl unsrer Schwachheit, in dem Gefühl, wie leicht Sünde die Sünde erzeugt, und wie wir von der Sünde umgeben sind und die Keime derselben in uns noch nicht erstorben sind, in dem Gefühl laßt uns wachen und beten, beständig uns selbst fragen, ob auch der Bräutigam, der Heilsfreund der Seele, der uns das Fest bereitet hat, ob auch der noch bei uns ist, oder vielmehr wir bei ihm, ob nicht unsre Theilnahme an den Dingen der Welt, ob nicht die Leichtigkeit, aufgeregt zu werden, wie es seiner Sanftmuth und Liebe zuwider ist, unser Herz schon von seiner alten Bahn entfernt habe, ob alles, was wir sinnen und thun, eher gut heißen könne, ob wir es belegen können mit seinem Wort und darin fühlen seinen Geist – darnach laßt uns fragen, damit die Freude nicht von uns genommen werde, damit, wenn wir noch krank sind, wir ihm allein uns zur Heilung hingeben, und wenn wir noch Sünder sind, durch ihn allein uns zur Buße rufen lassen, damit wir immer enger mit ihm verbunden werden und immer weniger die Freude des himmlischen Festes aus unsrem Herzen könne genommen werden und auch wir immer treuer in seinem Dienst die Sünder zur Buße rufen und sein 24 Vgl. Joh 14,6
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Reich auf Erden befördern können. Ja das verleihe er uns allen durch die Kraft seines Geistes, die er verheißen hat zu geben denen, die an ihn glauben. Amen.
[Liederblatt vom 25. Juli 1819:] Am 7ten Sonntage nach Trinit. 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Komm o komm etc. [1.] Meines Herzens beste Freude, / Ist der Himmel, Gottes Thron; / Meiner Seele Trost und Weide, / Ist mein Jesus, Gottes Sohn. / Was mein Herze recht erfreut, / Ist in jener Herrlichkeit // [2.] Andre mögen sich erquicken / An den Gütern dieser Welt, / Ich will nach dem Himmel blicken, / Und zu Jesu sein gesellt; / Denn der Erden Gut vergeht, / Jesus und sein Reich besteht. // [3.] Reicher kann ich nirgend werden, / Als ich schon in Jesu bin, / Alle Schäze dieser Erden / Sind nur schnöder Angstgewinn; / Jesus ist das rechte Gut, / Welches wohl dem Herzen thut. // [4.] Glänzet gleich das Weltgepränge, / Und ist lieblich anzusehn, / Währt es doch nicht in die Länge, / Kann nicht in die Tiefe gehn; / Leichtlich pflegt es aus zu sein / Mit des Lebens Glanz und Schein. // [5.] Aber dort des Himmels Gaben, / Die mein Jesus innen hat, / Können Herz und Geist erlaben, / Machen ewig reich und satt. / Es vergeht zu keiner Zeit / Jenes Lebens Herrlichkeit. // (Freil. Ges. B.) Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Mein Heiland nimmt die Sünder an, / Die unter ihrer Last der Sünden / Kein Mensch kein Engel trösten kann, / Die nirgends Ruh und Rettung finden. / Wenn ihnen selbst die Welt zu klein, / Sie Gott und sich ein Gräuel sein, / Wenn das Gesez den Stab gebrochen, / Und die Verdammniß ausgesprochen, / Dann wird die Freistatt aufgethan, / Mein Heiland nimmt die Sünder an. // [2.] Sein mitleidvolles Bruderherz, / Trieb ihn von seinem Thron auf Erden, / Ihn drang der Sünder Weh und Schmerz, / Sollt’ er zum Fluch für sie auch werden, / Er senkte sich in ihre Noth, / Und schmeckt für sie den bittern Tod. / Nachdem er so sein eigen Leben / Zu ihrer Rettung hingegeben. / Für aller Heil genug gethan, / So heißt’s, er nimmt die Sünder an. // [3.] O könntest du sein Herze sehn, / Das nach der Sünder Reu sich sehnet, / Wenn sie noch in der Irre gehn, / Wenn schon ihr Auge nach ihm thränet! / Wie streckt er sich nach Zöllnern aus! / Wie eilt er in Zachäus Haus! / Wie tief sein Petrus auch gefallen; / Er kann nicht kalt vorüberwallen, / Da Petrus bitter weinen kann; / Mein Heiland nimmt die Sünder an. // [4.] So komme denn wer Sünder heißt, / Und gern der Sünde Joch entfliehet, / Zu ihm, der keinen von sich weist, / Wer sich um seinen Schuz bemühet! / Denn er ist immer einerlei, / Gerecht und fromm und ewig treu; / Wie ehmals unter Schmach und Leiden, / So ist er auf dem Thron der Freuden, / Den Sündern
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liebreich zugethan. / Mein Heiland nimmt die Sünder an! // [5.] Drum zeuch uns selber recht zu dir / Holdselig süßer Freund der Sünder! / Erfüll mit sehnender Begier / Nach dir nun alle Menschenkinder! / Es führe sie der Reue Schmerz / An dein getreues Liebes-Herz; / Und wer sein Elend konnte sehen, / Den laß nun nimmer stille stehen, / Bis jeder fröhlich sagen kann: / Gottlob, auch mich nahm Jesus an. // (Ges. B. d. Br. Gem.) Nach der Predigt. – Mel. Valet will ich etc. Wer kann o Freund dir gleichen? / Wer kann den hohen Sinn, / Von deiner Huld erreichen? / Ich sinke dankbar hin. / Bewundre dein Erbarmen, / Das auf den Staub noch sieht, / Und voller Huld mich Armen, / Für jene Welt erzieht. //
Am 31. Oktober 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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21. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 9,57–62 Nachschrift; SAr 58, Bl. 5r–7v; Woltersdorff Keine Keine Teil der Predigtreihe über das Bestreben des Herrn, zu suchen, was verloren war, vom 13. Juni 1819 bis zum 14. November 1819 (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Aus der Predigt am 21. S. nach Trinit. 1819 Luc. 9. v. 57–62. Wir haben neulich betrachtet wie der Erlöser sich gegen diejenigen verhielt, welche noch zweifelhaft, ob er der Heiland sei, oder ob sie eines andern warten sollten, ihm naheten. Heut soll unsre Aufmerksamkeit gerichtet sein auf die Behandlung des Herrn derjenigen deren Glauben schon entschieden ist, die also gar keinen Zweifel mehr in sich tragen. Sie nahen sich dem Erlöser mit regem Wunsche ihm zu folgen um jedes Wort seiner göttlichen Weisheit zu hören, oder sich in seinem Dienst gebrauchen zu lassen. Obgleich diese von den Ersteren sich gar sehr unterscheiden, so haben sie doch in ihrem Wesen und Sinn etwas, daß der Herr nicht kann zufrieden sein mit ihnen. Wol zeigten sie Eifer für das Göttliche doch es schien derselbe nicht aus rechtem Triebe des Herzens hervorzugehn, sondern ein übereilter und darum vorübergehender zu sein. Ihre Herzen waren nicht ganz von Christo eingenommen, sondern noch getheilt, und das verweist er ihnen. – Wolan so lasset uns betrachten: wie der Erlöser diejenigen behandelt deren Eifer in seiner Nachfolge sich nicht darthut als solcher, welcher sich bewähren kann, 1. Muntert er auf zu ernster Selbsterkenntniß. – 2. Verweist er ihnen daß sie noch etwas anders suchen als seine Nachfolge allein.
3–5 Zur Predigt vom 17. Oktober 1819 über Lk 7,18–23 vgl. Einleitung, Punkt I.1.
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[1.] Zuerst also sollen sich die, welche dem Dienst des Herrn sich weihen wollen, prüfen ob es ihnen möglich sei alles andre deshalb hintenan zu stellen, und unbedingt dem Herrn zu folgen, wie und wo er sie führen möge. Dazu fordert Christus im allgemeinen den auf, welcher am ersten von diesen dreien Bereitwilligen sich ihm erbot, denn er wußte daß der Trieb ihm zu folgen doch nur oberflächlich war, ihn aufmerksam machend auf die Art seines Lebens wovon er Genosse werde wollte. – | „Des Menschen Sohn hat nicht wo er sein Haupt hinlege“: Es scheint daß diese Erinnerung zunächst den dürftigen Zustand des Herrn auf Erden betraf, doch finden wir daß es nicht immer der Fall gewesen, daß er nicht hatte; denn oft wurde der Herr auf seinen Reisen mit großer Freude Gastfrei aufgenommen und mit Eifer bedient, also hat er wol nur mit diesen Worten die Unsicherheit seines Zustandes gemeint. Sein großes Ziel im Auge habend war keine Ruhe ihm wünschenswerth, so ist der Hauptbegriff hievon der der Rastlosigkeit, und dieser ist gar sehr auf unser Verhältniß anwendbar. – Die meisten Menschen, wenn sie sich dem Herrn ergeben, behalten sich dennoch etwas vor, sind sie auch bereit zu Anstrengungen und Aufopferungen, so ist es doch etwas woran ihr Herz hängt, das, meinen sie, könne ihnen nie genommen werden, da es ja ihre einzige Zuflucht, ihr einziger Trost in allen Leiden sei, so werde der Herr den Verlust desselben nicht verlangen. Er allein ist Zuflucht und Trost. Doch der Herr kann getheilte Herzen nicht gebrauchen und so sind sie untüchtich in seinem Dienst, sie würden ablassen wo die Gefahr Alles zu verlieren ihnen drohete. – Die Untüchtigkeit andrer liegt darin daß sie sich ein Ziel setzen, meinend auf die Zeit der Anstrengungen werde eine Zeit des dankbaren Genusses folgen. Diese Meinung ist der Nachfolge Christi höchst verderblich. Wer Nachfolger Christi ist, hat gar kein Ziel, darf nicht haben wo er sein Haupt hinlege. Die Thätigkeit darf nie unterbrochen werden, weil sein Werk auf Erden ein unendliches ist. Wir haben in der Geschichte der christlichen Kirche Zeiten erlebt, wo sie in besondrer Gefahr stand, weshalb es viel zu thun und zu erdulden gab, da wurden die größten Anstrengungen und Opfer nicht gescheut, doch viele wurden nur getrieben durch die Hoffnung nachher die Früchte derselben in unthätiger Ruhe genießen zu können, meinend dann werde der Dienst des Herrn keine große Anstrengungen mehr bedürfen, und der Zustand nach den Anstrengungen verhielte sich zu dem Vorigen | wie die Herlichkeit jenes zu der Herlichkeit dieses Lebens. Allein die Erfahrung lehrt, daß nie Zeiten eintreten wo es nichts zu thun gäbe, sondern wenn eins beseitigt ist so steht das andre auf. Zu jeder Zeit giebt es zu arbeiten im Weinberge des Herrn, auch im fruchtbarsten Theile desselben. Die Ursach daß so viele lässig werden liegt nicht etwa darin, daß der Mensch ein Maaß habe von Anstrengungen worüber hinaus sein Vermögen 7 wollte] wollten
30 besondrer] besondre
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aufhöre und er eine Zeit der Ruhe haben müsse bis wieder etwas begonnen werden könnte von geistiger Thätigkeit, sondern weil sie vorher der Meinung waren, hernach haben zu können wo sie ihr Haupt hinlegen mögen, nicht bedenkend daß der Dienst des Herrn ein rastloser ist und nie so weit gedeihe daß das Ziel unsrer Wünsche und Neigungen dadurch erreicht werde. Jedes an das Irdische hangende hat sein Ziel und die darauf sich beziehenden Wünsche und Neigungen können erreicht werden, also das Streben darnach aufhören und ein ruhiger Besitz des Ersehnten eintreten. Das Ziel aber geistiger Thätigkeit kann während des Erdenlebens nicht erreicht werden, also giebt es dafür hier gar keins. Nur in dem immerwährenden Streben darnach können wir uns als Diener Gottes und von seinem Geist belebt fühlen. Ob wir zu dieser Rastlosigkeit bereit sind darauf uns zu prüfen, fordert der Herr alle auf, und wer diese Selbstprüfung nicht anstellt, wird oberflächlich und getheilt dem Herrn gehören, und ob er auch die Nachfolge Christi wünsche, es ist ein leeres Wünschen. Das ist die Folge daß der Mensch an sich selbst und daß andere an ihm irre werden. Was frommt der Muth, die Tapferkeit und Selbstüberwindung wenn nachher die Lässigkeit eintrit. Folgt dem früheren Eifer nicht die Ausdauer bei jedem, so müssen unter den sonst Gleichgestimmten Mißverständnisse entstehen und Verwirrung bei dem Bau des Reiches Christi auf Erden. Die sich ändern sind nicht sein; denn er ist Christus gestern, heut und in Ewigkeit. Wie er derselbe bleibt, so auch bleiben seine Anforderungen ewig dieselben. – | 6v
2. Die beiden andern im Evangelium ergeben sich dem Herrn zur Nachfolge auf eben so bedingte Weise wie von ersteren mit Recht zu vermuthen. Sie sprechen ihre Bedingung grade zu aus und der Herr verweist ihnen mit Ernst und Strenge dieselbe. – Das Verlangen des Ersteren von diesen beiden, zuvor seinen Vater zu begraben, ist der kindlichen Liebe angemessen, erscheint uns also billig und die Verweigerung desselben hart. Wir müssens deshalb näher erwägen. Die Sitte jenen Volks ist, ihre Todten am Tage ihres Ablebens zu bestatten, so hätte denn dies Geschäft den Sohn nicht an der Nachfolge Jesu gehindert, da er eine Tagreise die der Herr voraus hatte leicht wieder nachholen können. Daraus sehen wir daß der Vater noch nicht todt, sondern nur alt und schwach also wahrscheinlich in den letzten Jahren seines Lebens war, und der Sohn ihn nicht verlassen wollte, meinend es sei wenn der Vater das Zeitliche gesegnet habe, für ihn noch Zeit genug dem Erlöser zu folgen. – Da dies nun nicht der Fall war, sagte der Herr: laß die Todten ihre Todten begraben, du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes. Da30 ihres] ihren
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21 Vgl. Hebr 13,8
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durch sprach der Herr aus, daß wenn der Vater Glauben habe, also ein höheres Leben in sich trage, er mit Freuden seinen Sohn dem Dienst des Reiches Gottes hingeben werde, ja es werde die höchste Freude seines Alters sein dazu ihn erzogen zu haben. Sei er aber nicht gläubig, er ein erstorbnes Glied des Reiches Gottes sei, also, da er gegen die Ausbreitung desselben gleichgültig ist, werde es ihn freilich betrüben daß der Sohn ihn verlasse. Dadurch aber soll dieser sich nicht gebunden fühlen; denn es giebt Menschen genug denen die Forderungen des Reiches Gottes zu hoch sind, diese können am besten weil sie gleichgestimmt sind ihre Trauernden trösten: daß sind die Todten die ihre Todten begraben. – Ernst zwar und strenger ist dieser Ausspruch des Herrn aber nicht ungerecht und hart. – So mußte verfahren werden, wenn das Werk der Erlösung guten Fortgang haben sollte. Es ist eine gar sehr betrübte Erfahrung daß so oft durch die welche selbst unfähig sind zur Verbreitung des Guten, ihrer Engherzigkeit wegen, auch | noch die Fähigen zurückgehalten werden welche natürliche Pflichten den höheren vorziehen. Die, welche nur auf solche Werth legen und solchen Dienst überall verlangen meinen so lange wir in der Welt leben seien wir doch weltlich und müßen ihrem Beruf leben, zu höherem Beruf sei es im künftgen höhern Leben Zeit genug. Wer sich solche Vorstellungen macht von dem Verhältniß dieses und jenes Zustandes, der wird auf alle Weise dem Guten entgegen arbeiten. Gegen diese Irthümer sollen wir muthig ankämpfen, und nicht zu weichherzig und milde die behandeln, welche noch nicht ergriffen sind kräftig genug, und durchdrungen vom Geiste des Herrn – Bedenklichkeiten einander widerstrebender Pflichten sollte sich keiner machen, der seine Kräfte kennt die ihm der Herr verliehen, sonst wird das abblühende Geschlecht uns immer zurückhalten auf dem Wege den Gott uns führen will. – Ähnlich der Bedingung des Ersten ist die des Andern „Herr erlaube mir daß ich zuvor einen Abschied mache mit denen die in meinem Hause sind“: Aus der Antwort des Herrn sehen wir, daß damit gemeint sei er wolle bevor er dem Herrn folgete, in seinem Hause und Geschäft Ordnung machen und sorgen daß alles gehörig fortgehe während seiner Abwesenheit. Wer aber nicht verlasset Haus und Hof um des Reiches Gottes willen ist nicht geschickt dazu. So kann auch dieser von dem Gefühle nicht recht durchdrungen gewesen sein welches ihn trieb dem Herrn zu folgen; denn damals vertrug sich nicht die Sorge fürs Irdische mit der Höhern. Auf dem Wege des Herrn wird das Andenken seiner irdischen Angelegenheiten die Aufmerksamkeit welche er fordert getheilt haben, so konnte er nur halb auf das gerichtet sein was der Herr ihm befohlen. Darum weiset er ihn zurück, mit den Worten: wer seine Hand an den Pflug leget und siehet zurück der ist nicht geschickt zum Reich Gottes. – Obgleich nun jezt der Beruf der 6 gleichgültig ist,] gleichgültig, ist
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Nachfolge Christi kein besondrer Beruf ist, so ist dennoch dies Wort auf unser Verhältniß ebenso anwendbar. Auch wir sind oft in dem Zustand des | getheilten Herzens. Es bedarf jezt nicht um den Dienst des Herrn daß irgend ein Geschäft und Besitz aufgegeben werde denn alles ist Werkzeug dazu und soll es sein. Jeder Beruf soll sein ein Theil des höhern Berufs. Allein oft theilen wir diesen von jenem, und wenden alle unsre Kräfte auf den irdischen, abgesehen davon in welchem Verhältniß er zum Höheren stehe. So ist unser Treiben mag es auch noch so angestrengt sein, ein nichtiges. – Unverwandt soll unser Blick gerichtet sein auf den Weg des Herrn. – Wer seine Hand an den Pflug leget und siehet zurück der kann nicht grade Furchen ziehn in dem Gebiet welches aufgelockert werden soll, damit der Saame des göttlichen Worts hineinfalle und gedeihe. Ein getheiltes Herz begehrt der Herr nicht und kann es nicht gebrauchen, diese strenge Lehre laßt uns auffassen, damit wir nicht uns selbst durch uns selbst täuschen. Wer es über sich gewinnt jede andre Liebe der Liebe zum Erlöser aufzuopfern nur dessen Herz kann fest werden. Nur so weit er es erlaubt laßt uns lieben und nur in Beziehung auf ihn alles andre. Dann werden wir geschickt zu seiner Nachfolge und der Herr wird uns nicht zurückweisen sondern uns gesegnete Diener sein lassen um sein Reich zu verkündigen auf Erden.
[Liederblatt vom 31. Oktober 1819:] Am 21sten Sonntage nach Trinit. 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt. [1.] Unser Herrscher, unser König, / Unser allerhöchstes Gut, / Herrlich ist dein großer Name, / Weil er Wunderthaten thut; / Hochgelobt von nah und ferne, / Von der Erd bis an die Sterne. // [2.] Wenig sind zu diesen Zeiten, / Welche dich von Herzensgrund / Lieben, suchen und begehren; / Aus des zarten Säuglings Mund / Hast du dir ein Lob bereitet, / Welches deine Macht ausbreitet. // [3.] Es ist leider! zu beklagen, / Ja wem bricht das Herze nicht? / Wenn man sieht so viele tausend / Fallen an dem hellen Licht. / Ach wie sicher schläft der Sünder, / Und wie schmerzt es deine Kinder! // [4.] Aber ich, mein Herr, mein Herrscher, / Will nun treulich lieben dich, / Denn ich weiß, du treuer Vater, / Daß du ewig liebest mich, / Zeuch mich kräftig von der Erden, / Daß mein Herz mag himmlisch werden. // [5.] Herr, dein Nam ist hoch gerühmet, / Und in aller Welt bekannt; / Wo die warmen Sonnenstrahlen / Nur erleuchten einig Land, / Da ruft Himmel, da ruft Erde, / Hochgelobt der Vater werde! // 16 Vgl. Hebr 13,9
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Vor der Predigt. – Mel. Wie schön leucht uns etc. [1.] Nun ist die Finsterniß entflohn, / Die Heiden sehn den Morgen schon, / Und finden den Erretter. / Er, den Gott in die Welt gesandt, / Besiegt mit seiner Allmacht-Hand, / Die Heere falscher Götter, / Gott wird / Selbst Hirt / Seiner Heerde; Himmel, Erde sehn mit Freuden / Gottes Sohn die Menschen weiden. // [2.] Es deckte Finsterniß die Welt, / Du hast, mein Heil, sie aufgehellt, / Bist uns zum Licht erschienen. / Vom Aufgang bis zum Niedergang, / Erschallt der Völker Lobgesang, / Sie kommen dir zu dienen. / Wie blind, / Herr, sind, / Die dich hassen, sich nicht lassen, Gott, belehren, / Und zu dir sich fromm bekehren. // [3.] War Armuth gleich dein irdisch Loos, / So sieht mein Glaube dich doch groß, / Voll Wahrheit, Huld und Gnade. / Dein Wort, das meine Seel’ erfreut, / Entdeckt mir deine Herrlichkeit / Auf meinem dunkeln Pfade; / An dich / Glaub ich, / Trotz dem Spötter! sonst kein Retter ist auf Erden, / Durch den Sünder selig werden. // [4.] Mein Glaube sei mein Dankaltar, / Hier bring ich mich zum Opfer dar / Dir, der Verlaßnen Tröster. / Ich bete demuthsvoll dich an; / Wer ist der mich verdammen kann? / Ich bin ja dein Erlöster! / Von dir / Strömt mir / Gnadenfülle; Ruh und Stille, Licht und Segen, / Bringt mir deine Lieb’ entgegen. // [5.] Versichre mich durch deinen Geist, / Daß du für mich erhöhet seist, / Und Seligkeit mir schenkest! / Dann bin ich meines Heils gewiß, / Wenn du bei allem Hinderniß / Mein Herz zum Glauben lenkest. / Für mich / Kann ich / Nichts vollbringen; hilf mir ringen, Freund der Seelen! / Ich will deinen Ruhm erzählen. // Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir o Freund. Gieb meinem Glauben Muth und Leben, / Sich über Erde, Welt und Zeit / Mit starken Flügeln zu erheben / Zu dir in deine Herrlichkeit. / Du meines künftgen Lebens Sonne, / Der Erde und des Himmels Wonne, / Durch den sich Gott mit uns vereint, / Du aller Welten Herr und Führer, / Der Geister ewiger Regierer, / Du bist mein Bruder, bist mein Freund! //
Am 7. November 1819 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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22. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 4,1–4 Nachschrift; SAr 58, Bl. 8r–8v; Woltersdorff Keine Keine Teil der vermutlich bis zum 26. März 1820 gehaltenen Homilienreihe zum 1. Petrusbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Aus der Predigt am 22. nach Trinit. 1819 Nachm. Gesang No. 453. 1. Petr. 4 v. 1–4. Diese Worte stehen im Zusammenhange mit denen des vorigen Cap. wo die Leiden Christi beschrieben sind, und können nur in dieser Verbindung erklärt werden; denn der Apostel kann das nicht so wörtlich gemeint haben: wer leidet höret auf von Sünden: da die Erfahrung lehrt daß es nicht also ist. – Er hat also dabei nur im Sinne gehabt die Leiden, um Wohlthat willen, welche uns von denen welche irdisch wandeln zugefügt werden eben weil wir nicht mit ihnen wallen. In jeder Zeit hat jeder Stand in der Welt seine besonderen Sünden, sind es nicht die welche der Apostel hier nennt so ist es vielleicht Eitelkeit und Selbstsucht, Uebermuth und Stolz oder Lauigkeit und Trägheit. Sagen wir uns nun von dem eben herschenden los, so ärgert sie das, weil sie dadurch zum Bewußtsein ihrer Schuld kommen, und das mögen sie nicht, darum lästern sie unser Thun und Wirken in Christo, verdrehen unsre Worte damit sie lieblos und gesetzwidrig erscheinen, wodurch dann natürliche oder gesetzliche Strafe über uns verhängt wird, und so ist das Leiden fertig. In diesem Leiden nun tröstet uns der Apostel uns aufmerksam machend daß dieselben beweisen daß wir aufgehört haben müssen zu sündigen und nimmt ihnen dadurch den Stachel welchen sie 2 Vgl. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 453: „Sey Gott getreu“ (Melodie von „Was mein Gott will, das gescheh“) 4–5 Vgl. 1Petr 3,13–18; zu dieser Stelle gibt Woltersdorff folgende Randnotiz: „Die letzten Verse des vorigen Cap. sind übergangen weil sie schwer verständlich also nicht unmittelbar zur christlichen Erbauung anwendbar sind[.]“ Die Notiz bezieht sich sehr wahrscheinlich auf die Verse 1Petr 3,19–22, die in der späteren Zeit mit der Vorstellung von der Höllenfahrt Christi (decensus Christi ad inferos) in Verbindung gebracht wurden.
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haben würden, wenn Schuld von unsrer Seite und sei es auch nur Unvorsichtigkeit dabei zum Grunde läge. Wie sie durch unsre Unschuld zum Bewußtsein ihrer Schuld, so kommen wir durch die Leiden welche ihre Schuld uns bereitet, zum Bewußtsein unsrer Unschuld. Wir können uns also ihrer freuen, nicht aber allein darum sondern auch weil sie Sünde vertilgend sind, durch die Verbindung mit den Leiden Christi. Diese Verbindung besteht nun darin, daß wir ganz rein von Schuld sind in dem wofür wir leiden, zwar nie können wir uns frei sprechen von Sünde, aber doch von einzelnen Sünden, sind wir nun frei von denen, welche zu bekämpfen wir leiden so ist eben unser Leiden der Sieg in diesem Kampf, denn andre müssen dadurch zur Erkenntniß der Sünde kommen. In dem Maaße wir um Freiheit von Sünden leiden, leiden wir mit Christo und haben Theil am Erlösungswerke. Die Sünde vertilgend opferte er uns Gott, das heißt: er machte uns Gott zum Geschenk, machte uns wieder angenehm vor Gott. | Da nun wir Theil haben sollen am Werk Christi auf Erden, mahnt der Apostel uns zu waffnen mit demselbigen Sinn welcher dem Herrn die Leiden bereitete. In und außer uns sollen wir kämpfen gegen die Sünde und kein Leiden scheuen. Denn solch Leiden steht in Verbindung mit dem Wohlgefallen Gottes. – Als Christus sich dem Leiden weihete, sprach Gott sein Wohlgefallen über ihm aus, und das Gefühl davon stärkte den Sohn Gottes so, daß er Ueberwinder ward. Uns mit demselbigen Sinn waffnend wird es auch uns werden und durch seine Kraft werden wir überwinden. So lasset uns ihm danken der uns aufnehmen will in die Gemeinschaft seiner Leiden und seiner Seeligkeit.
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Am 14. November 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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23. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 16,21–23 Nachschrift; SAr 54, Bl. 23r–29v; Schirmer Keine Nachschrift; SAr 58, Bl. 9r–11r; Woltersdorff Abschluss der am 13. Juni 1819 begonnenen Predigtreihe über das Bestreben des Herrn, zu suchen, was verloren war (vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am 23. Sonntage nach Trinitatis 1819. Tex t. Matth. 16,21–23 Indem wir, meine christlichen Freunde, beim herannahenden Schluß des Kirchenjahres die Reihe der bisher angestellten Betrachtungen schließen müssen, zu der noch manches hätte hinzugefügt werden können, um zu zeigen, wie der Herr gekommen sei, wieder zu gewinnen was verloren war, und wie er dabei das glimmende Tocht nicht ausgelöscht und das geknickte Rohr nicht gebrochen habe: so fühle ich wohl, daß die eben gelesenen Worte am wenigsten dürften übergangen werden. Denn es hat wohl jetzt einen merklichen Eindruck auf uns gemacht, mit welcher Strenge der Erlöser gerade den Jünger, von welchem er so viel hoffte für die Gründung seines Reiches auf Erden, der ihm der Fels sein sollte, auf dem er seine Kirche bauen wollte, wie er den mit so bitteren Worten von sich weiset. Laßt uns auf dies Gespräch des Erlösers mit dem Jünger unsere Aufmerksamkeit richten und sehen, was für eine Bewandniß es habe mit dieser seiner Strenge gegen die Weichlichkeit und Zärtlichkeit für ihn, die in den Worten des Petrus sich aussprachen. Wir müssen uns aber zuerst darüber vereinigen, was es gewesen sei, was Christus hier an seinem Jünger tadelte und dann welches die Gründe waren, weßhalb er, | und zwar so strenge und zurückstoßend den Tadel aussprach. 1. Bleiben wir zuerst bei der Frage stehen wogegen doch eigentlich Christus hierbei, so herb tadelnd, gerichet gewesen sei: so möchten wir 7–8 Vgl. Jes 42,3; Mt 12,20
12–13 Vgl. Mt 16,18–19
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vielleicht im ersten Augenblick nicht fühlen, womit Petrus ein so strenges Wort verdient habe. Denn was anderes veranlaßte ihn doch zu jener sorglich mahnenden Äußerung: Herr, schone Deiner selbst! als die Furcht und Besorgniß, seinen Lehrer, dessen er und seine Genossen zu jeder Zeit so nöthig hatten, zu verlieren? Und hätte er nichts anderes gesagt, als: Herr, das widerfahre Dir nur nicht! so könnten wir glauben, daß er nichts anderes verlangt habe, als warum Christus selbst zu seinem Vater betete, als seine Leiden herannaheten: mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber! Aber wie der Erlöser da hinzusetzte: nicht mein, sondern dein Wille geschehe! so sagte Petrus hier: schone Dein selbst, so daß wir sagen müssen, er wollte durch das, was er ihm zumuthete, der Erlöser solle seinen Willen durchsetzen gegen den anerkannten göttlichen Willen. Denn ungeachtet er eben nur den göttlichen Willen und Rathschluß gezeigt, indem er über die Nothwendigkeit seines Hinganges gesprochen hatte, so war es ja die weichlich schonende Liebe, welche | gegen das erkannte Recht dennoch verhüten und von sich abweisen will, was dafür geschehen und gehandelt werden muß. Und diese tadelt der Erlöser. – Aber ebenso ist es ein Zweites was der Erlöser tadelt und was wir ausgedrückt finden in den Worten: du suchest nicht was göttlich, sondern was menschlich ist. Wir dürfen hier wohl weniger das hervorheben und darauf ein Gewicht legen, daß Petrus voll gewesen sei von Erwartungen eines Reiches irdischer Macht, das der Erlöser stiften würde, sondern wir müssen uns vorzüglich an jenes Gefühl der Jünger überhaupt halten, daß sie noch nicht sicher waren auf dem Wege, den sie zu gehen hatten, daß sie nicht fest waren in ihrem Bewußtsein und erleuchtet überall durch die eigene Geisteskraft, daß sie sich noch nicht daran gewöhnen konnten, das sie stärkende und beseeligende Zusammensein mit ihrem Herrn und Meister zu missen, daß sie schwankten und unsicher waren. Und dies Gefühl ist es gewesen, welches aus dem Petrus die Worte hervorgelockt hat: Herr, schone Deiner, damit wir stark sein können durch dich und daß uns die Welt nicht leer werde ohne dich und es uns gebreche an der Fülle der Weisheit und des Muthes, derer wir bedürfen. Aber das ist es eben, was der Erlöser meint: Du | suchest nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Dieses Göttliche war Christus gekommen unter uns zu stiften, aber dazu sollte er nur den ersten Grund legen und seine Jünger, mit seinem Geiste erfüllt, sollten das Werk weiter fortführen. Daß nun hier Petrus fühlte, wie schwach er darin sein werde, getrennt von seinem Meister, und daß er daher Christo auf jene Weise rieth, sein selber zu schonen, dies Menschliche ist das Zweite, was der Erlöser neben jenem weichlichen Sichschonenwollen tadelt. 8–10 Vgl. Mt 26,39; Lk 22,42
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Wenn wir nun auch nicht leugnen können, es wäre eines Jüngers würdiger gewesen, wenn er so fest an dem Worte gehalten hätte, was er ja kurz zuvor noch aus seines Meisters Munde vernommen hatte, er solle vor allem mit das Reich Gottes bauen helfen, so fest, daß er, statt zu sagen: schone Deiner, daß Du mit uns seiest! gesagt hätte: ist es der Wille des Herrn, so möge er Dich fortnehmen, wie er Dich gegeben hat, er sei gelobt in allen Dingen, und ist es nothwendig, so will ich mit Dir in den Tod gehen; es wäre das freilich herrlicher gewesen, wenn er ein so unerschütterlich festes Bewußtsein gehabt hätte, daß, mochte auch sein Meister von ihm genommen werden, er doch des Glaubens lebte, er | werde bei ihm sein alle Tage bis an der Welt Ende und ihn überall das Rechte finden lassen, sein Bild werde um ihn sein und aller Wege ihn begleiten – das wäre herrlich, das wäre schöner gewesen und eines, den Christus so ausgezeichnet, würdiger. Allein, wenn wir auch dies zugestehen müssen, so bleibt uns doch fremd, worauf der herbe Eifer sich gründet, mit dem der Erlöser den Jünger anließ, und wir wundern uns, dieselben Worte zu hören, mit welchen er in der Versuchungsgeschichte den bösen Geist von sich wies; wir wundern uns, daß er eben damit den Jünger abweiset, da doch in diesem keine Absicht, ihn zu versuchen, sein konnte und keine sträfliche Neigung, sein Reich zu hindern, sondern nur Verblendung und Irrthum, wogegen, wie es uns scheinen könnte, der Erlöser ihn hätte eher warnen, als so hart strafend und zurückweisend behandeln sollen. 2. Wir müssen aber nun zweitens auf die Gründe achten, durch welche der Herr bewogen ward, das harte Wort über die Äußerung des Jüngers auszusprechen. Es überwältigte ihn das Gefühl des strengen Unwillens, einmal, weil er in seiner menschlichen Seele fühlte, welche gefährliche Versuchung es sein muß für jeden, der nicht, so wie er, von der Sünde ausgeschlossen ist, | da zu schwanken und unentschlossen zu sein, wo er um des Guten willen Leiden tragen soll, und dann weil er wußte, daß, wenngleich nicht in Petrus der Wille war, sein Reich zu stören, dies dennoch mußte zu Grunde gehen durch eine solche Gesinnung, wie sie sich hier in Petrus entwickelt. Sehen wir auf das Erste, so konnte das freilich für den Erlöser keine Versuchung sein: Herr das widerfahre Dir nur nicht, schone doch Deiner selbst; aber er fühlte wohl, wie damit auch die eifrigsten Diener für seine Sache in Versuchung kommen und ihr unterliegen könnten. Ach, meine Freunde, wer im Leben nichts anderes sucht, als seine Stelle im Weinberge des Herrn treu und gewissenhaft auszufüllen, und wer mit aller seiner Thätigkeit dafür geschäftig ist, wie er sich als Arbeiter und Besteller darin erhalte, damit das Werk gedeihe, auch dem kann der Irrthum kommen, als 2–4 Vgl. Mt 16,18
10–11 Vgl. Mt 28,20
16–17 Vgl. Mt 4,10
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ob er für seine Person unentbehrlich wäre, wenn seine Stelle sollte recht ausgefüllt werden. Kommt einer nun in die Zeit, wo es gilt zu kämpfen, wo die Geister der Finsterniß rege geworden sind gegen den Geist des Lichtes, und kommt dann ein anderer und ermahnt ihn: schone doch Deiner selbst, schone und erhalte doch | Deine Kräfte noch für ein längeres Ziel; gehe doch ein wenig dem Sturm aus dem Wege, sieh Dich doch vor, wie hier eins und dort ein anderes mit Dir fallen und zerstört werden würde: o wie leicht erliegt der Mensch dann dieser Versuchung. Und steht das einmal im Gemüthe fest, man dürfe sich den Leiden und dem Tode entziehen, um nicht die Wirksamkeit für das Reich Gottes, in der man bisher gewesen, ganz aufzuheben, ach wie weit dehnt sich dann eine solche Versuchung aus, und mit allen unseren Kräften sind wir dann jedem menschlichen Fühlen und Irren Preis gegeben. Wenn nun unsere Wirksamkeit auch noch davon abhangt, daß die Tüchtigkeit und Vortrefflichkeit an uns anerkannt werde von Anderen wie leicht entsteht dann das Zweite, daß die Stimme der Versuchung uns zuruft, wenn Du gefehlt und geirret hast, so widerfahre Dir das nur nicht, daß Du den Irrthum bekennst und den Fehlgriff eingestehst und also gestört werdest in deiner Wirksamkeit. Das ist aber das verderblichste Gift der Schmeichelei, das auch den Reinsten oft beschleicht, das ist die Schmeichelei, welche die Mächtigen, wie die Kleinen, die nur irgend etwas gelten in der Welt gefährlich ergriffen hat; in der stecken sie alle und kennen | die Folgen daraus nicht, auch die reinen Gemüther sind darin verstrickt. Darum, m. gel. Fr., hatte der Erlöser wohl Recht zu sagen: Hebe dich weg von mir, Satan, nicht also ob du mich irre führen könntest, sondern weil Tausende durch eine solche Versuchung von der reinen Thätigkeit für das Reich Gottes werden abgehalten werden und für ihn verloren gehen. Und ebenso, wenn wir auf den zweiten Vorwurf sehen, den Christus dem Petrus macht, daß er, was menschlich, nicht was göttlich sei, suche, darf auch hier uns nicht befremden, daß der Erlöser das Wort des Petrus als eine schwere und verderbliche Versuchung ansieht. Wir kennen das Göttliche nur in menschlicher Gestalt, das Wort mußte Fleisch werden und wir nehmen von dieser leibhaftigen Fülle des Göttlichen Gnade um Gnade; und alles, was der Herr gewirkt und noch wirkt unter den Seinen, es muß uns etwas Menschliches werden; seine Stimme, sein Geist, sie müssen menschlich vernommen werden und menschliche Gestalt annehmen, ja sein Bild selbst, wie es der Seele einwohnt, es ist menschlicher Art. Aber die Seinigen sollen in dem Menschlichen immer das Göttliche suchen. Wenn wir das aber nicht thun, so sind wir von dem Wege, | auf welchem der Erlöser uns finden will, abgekommen, der zu bald nur auf die breite Straße des Verderbens führt. Denn sobald unser Herz irgend etwas Menschliches 32–33 Vgl. Joh 1,14.16
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gefesselt hat, so ordnen wir das Göttliche dem Menschlichen unter, und nur das Menschliche suchen, nur das verfolgen und sich mühen, daß das bleibe, das ist die verführende Versuchung, in der viele das Göttliche welches der Kern ist, fahren lassen und sich halten an das Menschliche, das zu jenem nur die Schale ist. Und diese Versuchung in ihrem ganzen Umfange sah der Erlöser in Petrus sich aussprechen in jenen Worten: Herr, schone Dein. Er wollte, daß die Jünger in ihm nicht das Menschliche, sondern das Göttliche sehen sollten und das verfolgen. Aber auch zweitens das erregte jenen lebhaften Eifer des Erlösers, daß er fühlte, wenn die Worte seines Jüngers gälten, so könne sein Reich nicht gegründet werden, sondern müsse untergehen. Denn wie er von der Nothwendigkeit seines Leidens eben kurz zuvor nur noch geredet, und wie er gezeigt, daß nach dem Leiden Herrlichkeit und nach dem Tode Unsterblichkeit sein warte, so war doch das, was dazwischen liegt, seiner Seele nicht verborgen und er verweiset selbst die Jünger darauf, | es werde ihnen nicht besser ergehen, als dem Meister; auch sie müßten sich hingeben und ihr Kreuz auf sich nehmen und sich selbst verleugnen. Aber die Liebe nun, die nur sich selbst schonen will, und die weichliche Zärtlichkeit, die, wenn Übel sollen getragen werden, spricht: Das widerfahre Dir nur nicht, und in der jeder den anderen zurückhält, zu leiden, was gelitten werden muß für das Reich Gottes – die würde zerstört haben das mühsam angefangene Werk, und so wäre nimmermehr vollendet worden und zu allen hindurchgedrungen die siegende Kraft des neuen Heiles, die nur aus dem Leiden hervorgehen konnte. Und dies gilt nicht nur für jene Zeit allein, sondern auch jetzt unter den gegenwärtigen Verhältnissen, denn jene erste Zeit der Erscheinung Christi unter uns, sie erneut sich, nur auf verschiedene Weise und in verschiedenem Maaße, immer wieder. Bisweilen verbirgt es sich, daß der Erlöser gekommen ist, das Schwert zu bringen und es scheint der Friede herrschen zu wollen unter den Menschen; bald aber verschwindet dieser Schein wieder, der auch, wenn er lange anhielte, nur verderblich sein könnte, weil nur zuleicht eine träge und erschlaffende Ruhe die Seelen | einschläfert, wo sie nicht im Streite die Kraft zu üben genöthigt sind. Darum weiß denn auch der Herr den Streit immer zu wecken unter uns, dazu bedient er sich der Bösen, damit in dem Kampfe erregt worden durch sie, das Fleisch gereinigt und geläutert werde, so dass immer durch solche Gährung der Sauerteig aus dem Herzen sich ausscheidet. Scheuen aber die Menschen diesen Streit und halten sie sich fern von allem, was sie in denselben verwickeln könnte, indem sie, wenn sie Leiden und Übel dadurch für sich herannahen sehen, sich zurufen: schone doch Dein selbst, das widerfahre Dir nur nicht: o dann kann das Böse nicht durch das Gute überwunden werden und so 15–16 Vgl. Joh 15,20
16–17 Vgl. Mt 16,24
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würde das Reich des Herrn zertrümmert und auf eine unscheinbare Wirkung zurückgesetzt werden. Denn wenn wir nur das suchen, was unser ist und gebunden an unsere eigene Persönlichkeit, so muß darüber das, was Gottes ist, zerstört werden. Noch einmal ging es dem Petrus auch so, daß er das Göttliche über dem Menschlichen verkannte und statt jenes dieses suchte; als er auf dem Berge, wo der Herr seinen Jüngern in der Verklärung erschien, Hütten | bauen wollte, um in dem irdischen Glanze zu verweilen; aber da trieb der Erlöser seine Jünger hinunter in das Getümmel der Welt hinein in den Kampf und Streit mit seinen Gegnern und auf diesem Wege hieß er sie folgen seinen Fußtapfen. Je mehr nun aber in anderen Zeiten das Göttliche ganz Eins geworden zu sein scheint mit dem Menschlichen, beides einander nicht widerstreitend, sondern mit einander gehend, um so mehr ist auch hier wieder Gefahr, daß, weil das Göttliche nur an dem Menschlichen ist, wir dieses suchen und verfolgen und darüber dann jenes verlieren. Darum, welche Ruhe es auch sein mag die wir suchen, wie und woran wir sie auch mögen festhalten wollen, jede Anhänglichkeit an eine vergängliche Gestalt der Dinge muß dem Reich des Herrn schaden und es zerstören, weil das Menschliche es ist, was für sich selber gelten will, und nicht dienen und sich unterwerfen dem Göttlichen. Darum, meine Freunde, die Ihr außer dem einen Namen, welcher allen, die da erlöset sind, gegeben ist, auch an irgend einem menschlichen Namen hangt, der die weichlich nachgiebige Liebe nähren möchte in Euch und um deßwillen Ihr abweisen | und scheuen möchtet den Kampf und aus demselben hervorgehend die Leiden dieser Welt; die Ihr von der Gemeinschaft mit dem Einzelnen nicht lassen wollt und darüber Euch verschließt gegen andere Anforderungen des göttlichen Geistes, hört! der Herr ruft auch Euch es zu: Ihr sucht nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Denn so geht Ihr den Weg, welchen Paulus, als zum Verderben führend, also bezeichnet, indem er von den Spaltungen und der Anhänglichkeit an allerlei Weisheit und Lehre spricht: Ihr seid apollisch und Ihr nennt Euch nach dem Kephas und Ihr nach dem Paulus, und darüber vergesset Ihr, Euch Christi zu rühmen und ihn zu suchen. Ihr, die Ihr Euch entfernt halten möchtet von der Welt, Ihr dienet Euch selber, hört es! auch Euch ruft der Herr zu: hebt Euch fort von mir, denn Ihr suchet nicht das Göttliche; indem Ihr Euch zurückzieht von dem Schauplatze des Lebens, auf dem gekämpft und gerungen werden soll, so entfernt Ihr Euch von mir und seid mein nicht werth, denn die göttliche Kraft und den Geist aus Gott werdet Ihr nimmer gewinnen, weil Ihr Euch dem entzieht, wodurch allein Ihr sie gewinnen könntet, und was Ihr treibt, ist nicht göttlich, sondern menschlich. | 6–8 Vgl. Mt 17,4; Mk 9,5; Lk 9,33
31–33 Vgl. 1Kor 3,21–23
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O laßt uns meiden, mit falscher, irdischer Liebe an dem Einzelnem zu hangen, die wahre Liebe verlangt der Herr für alle, und so soll uns denn nichts Einzelnes fesseln und nichts zurückhalten, auch alles daran zu setzen und aufzugeben, was menschlich ist, sobald der höhere Ruf an uns ergeht. So nur werden wir die Versuchung überwinden, vor der der Erlöser in der Person seines Jüngers uns warnt, und so werden auch wir dann unser Kreuz auf uns nehmen und ihm allein folgen und so nur durch Leiden werden wir dann eingehen können in die Herrlichkeit, gegen welche alle Trübsale dieser Welt für gering zu achten sind. Amen.
[Liederblatt vom 14. November 1819:] Am 23sten Sonntage nach Trinit. 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Zwar klagt etc. [1.] Sieh mich flehend zu dir kommen, / Gnädig neige dich zu mir! / Ach wie ist mein Herz beklommen, / Ach wie seufzt mein Geist zu dir, / Helfer, o mein Heiland! ja, / Wenn wir flehn ist Hülfe nah, / Sinkenden reichst du die Hände, / Und bist bei uns bis ans Ende. // [2.] Hilf doch mir dem schwachen Kinde, / Das oft strauchelt wankt und fällt; / Mächtig ist in mir die Sünde, / Noch voll Reiz ist mir die Welt, / Unbezähmt mein Fleisch und Blut; / Und der Feind, der niemals ruht, / Weiß von allen diesen Seiten / Gegen meinen Geist zu streiten. // [3.] Einer nur kann mich befreien, / Der die Hölle überwand, / Einer nur kann mich erneuen, / Der uns seinen Geist gesandt! / Du nur, Jesus Christus, du, / Deinen Frieden, deine Ruh / Gieb mir, wenn sich Wetter thürmen, / Gottes Fried’ in allen Stürmen. // (Jauris. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf! ruft uns etc. [1.] Jesus kommt von allem Bösen / Uns seine Christen zu erlösen, / Er kommt mit Macht und Herrlichkeit. / Dann an seinem großen Tage / Verwandelt sich der frommen Klage / In ewige Zufriedenheit. / Sei fröhlich Volk des Herrn! / Er kommt, er ist nicht fern, / Dein Erretter! dein Schmerz ist kaum / Ein Morgentraum, / Ihm folgt dann ewge Seligkeit. // [2.] Augenblicke dieser Leiden, / Was seid ihr gegen jene Freuden / Der unbegrenzten Ewigkeit! / Seht die Kron am Ziele prangen, / Und kämpft und ringt sie zu erlangen, / Die ihr dazu berufen seid! / Euch halt in eurem Lauf / Kein Schmerz des Lebens auf! / Ueberwinder, das Ziel ist nah, / Bald seid ihr da, / Und alle Sorgen sind zerstreut. // [3.] Der sich euch zum Volk erwählet, / Der eure Thränen alle zählet, / Stritt auch mit unerschöpftem Muth. / Wie hat Jesus nicht gerungen! / Wie tief war er von Angst durchdrungen, / Wie seufzt er, ach wie floß sein Blut, / Doch sahn die Feinde nicht / Auf seinem Angesicht / Bange Schrecken; 8–9 Vgl. Röm 8,18
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er nahm den Lauf / Zu Gott hinauf, / Ihn nimmt der Himmel jauchzend auf! // [4.] Wohl uns wenn wir mit ihm leiden! / Dann erndten wir, auch wir einst Freuden / Mit ihm dem Ueberwinder ein! / Laßt uns kämpfen, laßt uns ringen, / Mit unserm Herrn hindurch zu dringen, / Und seines Himmels werth zu sein! / Der Hülfe schafft ist er; / Sein großer Nam’ ist, Herr, / Unsre Stärke! die ihm vertraun, / Die werden schaun, / Wie er die Seinen kann befrein. // [5.] Ja du kommst von allem Bösen / Uns deine Christen zu erlösen! / Wir freuen uns und danken dir. / Auch in noch so trüben Tagen / Soll unser Herz doch nie verzagen, / Auf deine Zukunft hoffen wir. / Wir wissen, wer du bist; / Wir traun dir Jesu Christ, / Und sind stille, wenn gleich die Welt / Zu Trümmern fällt, / Du bists der uns allmächtig hält. // (Dresd. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Mir nach spricht etc. [1.] Ein solches Beispiel hast du mir, / Zum Vorbild hinterlassen, / Daß ich gesinnet sei gleich dir, / In meinem Thun und Lassen. / Nimm, sprichst du, nimm mein Kreuz auf dich, / Komm folge mir, ich stärke dich. // [2.] Ich komme Herr, gieb Kraft und Licht, / Daß ich mein Heil erkenne, / Dein wahrer Jünger sei, und nicht / Mich nur den deinen nenne; / Hilf daß ich, deinem Vorbild treu, / Für Andre auch ein Beispiel sei. //
Am 21. November 1819 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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24. Sonntag nach Trinitatis (Totensonntag ), 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 4,5–8 Nachschrift; SAr 58, Bl. 11v–13v; Woltersdorff Keine Keine Teil der vermutlich bis zum 26. März 1820 gehaltenen Homilienreihe zum 1. Petrusbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Aus der Predigt am Feste aller Todten Nachmittag. Fortsetzung Petri Brief 1. Petr. 4 v. 5–8. Diese Worte schließen sich unmittelbar denen der letzten Betrachtung an, worin der Apostel die Christen auffordert zu einem dem Leiden des Herrn würdigen Leben und macht sie aufmerksam, daß sie allerdings auch von denen umgeben sind, welche sie verleiten mögten zum eitlen Wandel nach der Väter Weise, worin sie selbst noch begriffen sind. Dieser Rede giebt er eine andre Wendung in den Worten: „Denn dazu ist auch den Todten das Evangelium gepredigt: auf daß sie gerichtet werden“: So stellt er jenen, die noch den Versuchungen ausgesetzt sind, die gegenüber, welche allen Versuchungen der Welt dadurch entkommen sind daß sie hinweggenommen sind durch den Tod. Und in Beziehung auf diesen, nun auch die Christen auffordert wachsam zu sein. – Diese Wendung ist der heutigen Betrachtung sehr angemessen, da dieser Tag dem Andenken derer geweiht ist, welche nach dem göttlichen Willen und nach der menschlichen Ordnung durch den Tod abgerufen sind aus unsrer Mitte; denn diese Worte legen uns alles dar wodurch unser Andenken an die Verstorbnen fruchtbar gemacht, und heilig werden kann. Darum lasset uns nach deren Anleitung betrachten: 1. Unser Andenken an die Verstorbnen müsse zugleich die Erinnerung sein an das Ende aller menschlichen Dinge – wie auch: alles irdisch geistigen – 5 Vgl. 7. November 1819 nachm.
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2. Es ist zugleich die Mahnung an die Rechenschaft welche wir in Beziehung auf sie zu geben haben. 3. Ist es die große Aufforderung zur christlichen Weisheit und zur Nüchternheit zum Gebet. – 5
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[1.] Also zuerst ist das Andenken an die Verstorbnen eine Erinnerung an das Ende aller Dinge. – Der Apostel sagt: Es ist nahe kommen das Ende: Wir können uns keine Vorstellung machen von einem plötzlichen Aufhören alles dessen was wir wahrnehmen mit den Sinnen, woran man sonst glaubte und welches man erwartete. Später hat man es bestreiten wollen daß diese Erwartung dagewesen sei, wiewohl es hervorzugehen scheint, daraus, daß die ersten Jünger des Herrn mit dem Jüngsten Tage die Wiederkunft des Herrn als etwas ihnen nahe bevorstehendes betrachteten. Da im Laufe der Zeit die Erfahrung gelehrt hat, daß aus Altem immer wieder Neues wird so ist nach und nach dieser Glaube verschwunden. Aber in der Erinnerung an den Tod vergegenwärtigt sich unmittelbar das Andenken der allgemeinen Vergänglichkeit als dasjenige wovon wir alle umgeben sind. | Denn das Ende des Menschen ist zugleich das Ende aller Wirkungen und Kräfte durch welche sein Dasein bedingt war. Wie ist der Mensch so sehr der Zögling und Pflegbefohlne der Naturkräfte! alles Irdische findet seine höchste Veredlung darin, das es in das Menschliche übergeht und dieser Kreislauf von Wirkungen ist nothwendig zur Bildung jedes Menschen, wenn nun der Mensch aufhört zu leben so ist das Ende aller Kräfte, welche auf ihn wirkten auch da, weil sie nun nicht mehr wirken können, an jedem Einzelnen finden sie wieder ihr Ende. – Noch mehr wenn wir im Gebiete des menschlichen Gemüths forschen, finden wir daß alles menschliche aufhört. O wie ist jeder da der Zögling und Pflegbefohlne der Kräfte welche sich im menschlichen Geiste selbst gestalten: der Liebe und der Weisheit: Die muß ihn ergreifen und leiten und immer bedarf er ihrer. Aber auch diese Kräfte müssen aufhören zu wirken auf menschliche Weise. Verlieren wir die Gegenstände unsers Wirkens, so geht auch dies verloren. Wird die junge Pflanze der Obhut und Pflege entrissen, o wie viele Anstrengungen und Aufopferungen der väterlichen und mütterlichen Liebe, wie viele freudige Aufkeime der Gegenwart und herliche Bilder der Zukunft nehmen dadurch ihr Ende. Und wenn der welcher in der vollen Kraft des Lebens, wenn der welcher in sich aufgenommen die Fülle der Weisheit, welche immer wieder vom abblühenden Geschlecht auf das aufblühende übergeht, dasteht, nun abgerufen wird von dem Schauplatz der Thätigkeit, welch ein Kreislauf des Gebens und Empfangens findet da sein Ende! Jeder Sterbende mit dem wir lebten nimmt einen Theil unseres eignen Lebens mit sich hinweg, weil mit ihm aufhören muß eine Art unsrer menschlichen Wirksamkeit 23 jedem] jeden
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nach einer Seite hin, und weil seine auf uns aufhört. – Sehen wir auf die Masse der Menschen und bedenken wir, wie unaufhörlich die Diener des Todes beschäftigt sind, kaum einen hinausgetragen schon den andern holen müssen, da ergreift uns die Erinnerung der Vergänglichkeit. Zu manchen Zeiten bleibt der Tod in den Schranken des Gewöhnlichen und der natürlichen Gesetze, dann aber kommt ja zuweilen eine Zeit wo es scheint als wollte der Tod das Leben überwältigen, dann müssen wir fühlen welch ein zartes Ding es sei um das herrliche Gebilde der Schöpfung. Und eben so unbegreiflich wie uns das Aufhören des Ganzen vorkommt und wir uns davon keine Vorstellung machen können, so ists auch mit dem Ende jedes Einzelnen. Wir begreifens nicht, obgleich wir in diesem Wechsel zwischen Tod und Leben das Ende aller menschlichen Dinge fühlen müssen. | Wie dieses eine Betrachtung zu sein scheint, welche uns niederdrückend sein müßte, so ist es dennoch eine Solche, welche das Andenken an die Verstorbnen heiligt und es fruchtbar macht; denn wie könnten wir dessen gedenken, wie tief die göttlichen Geheimnisse verschlossen sind, ohne dessen zu gedenken, daß sie der göttlichen Weisheit aufgeschlossen sind. Und wie müssen wir dabei es fühlen wie der menschlichen Schwäche die göttliche Allmacht gegenübersteht. – Indem wir derer gedenken welche im heut zu beschließenden Kirchenjahr gestorben sind, so mögen wir sie und uns auf gleiche Weise in die göttliche Allmacht und Weisheit versenkt fühlen, und so getrost ausrufen: der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, sein Name werde gelobt! 2. Der Gedanke an die Rechenschaft welche wir Gott abzulegen haben wird aufgeregt durch das Andenken an die Verstorbnen[.] – Wir erinnern uns heut zunächst derjenigen, welche aus unsrer Mitte, aus dem Gebiete der christlichen Kirche geschieden sind, und diesen Standpunkt wollen wir nicht verlassen, weil die Rede ist von dem Gericht welches auf Christum sich bezieht. Aber die Kirche des Herrn besteht auch in dem Bestreben sich zu verbreiten, darum dürfen wir nicht ausschließen, die, welche von dem fröhlichen Genuße ihrer Segungen am weitesten entfernt gewesen sind, doch nicht über die Grenzen der äußern Kirche hinaus haben wir nöthig unsern Blick zu richten, da sie noch gar viele in sich schließt welche nur ihren Namen zu tragen scheinen. – Beweinen einige unter uns einen Verlust, wohl ihnen wenn die welche sie beweinen in der Kraft des Glaubens an Christum, in dem Gefühl seiner Gemeinschaft und von ihm zum Vater gezogen das Zeitliche verlassen haben. Doch mögen wir alle auch solche haben hinscheiden sehen, welche das Beispiel eines nicht christlichen Sin5 den] die 22–23 Hiob 1,21
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nes darstellten bis in den Tod, die das Himmlische nicht gesehen haben sondern im Taumel der Leidenschaften verharrten bis dicht vor die dunklen Abschnitte des Todes. Auch sie gehören in unsre Betrachtung; denn ihnen ist das Evangelium verkündet damit sie gerecht werden. Darum lasset uns auf die sehen welche den Versuchungen entgangen sind durch Leiden also schon hier gerichtet sind nach dem Fleisch, aber im Geiste Gott lebten und also über ihren Tod uns gute Zuversicht gelassen haben, bis zu denen, deren Tod uns nicht befriedigt hat, welche gewandelt sind als wäre die Stimme des Evangeliums nie in ihr Ohr gedrungen. Und in der Erinnerung an sie lasset uns nicht nur gedenken der Rechenschaft welche sie selbst zu geben haben oder schon abgelegt haben, sondern diese Rechenschaft ansehen als die auch wir abzulegen haben für diejenigen welche der Tod von uns genommen. | Denn wir müssen uns fragen: wie ist ihnen das Evangelium verkündet? Durch uns sollte es ihnen verkündet werden. Haben wir es ihnen auf die rechte Weise verkündet, und grade denen am meisten welche dessen am Bedürftigsten waren? Oder haben wir uns von ihnen zurückgezogen? so sind wir nicht dem Beispiele dessen gefolgt der nicht zu den Gesunden gekommen ist sondern zu den Kranken. Halten wir uns nicht selbst zu sehr an die welche uns selbst helfen und lehren? – Nur in dem Maaße wie wir den Schwachen geholfen und die Verblendeten und Verstokten erweckt haben, können wir uns frei fühlen in Bezug auf sie, fehlten wir aber hierin so haben wir für uns selbst das göttliche Erbarmen anzurufen. – O laßt es uns bedenken wie schnell das menschliche Leben vorübergeht, damit wir nicht versäumen zu benutzen was der Herr uns dargereicht hat zum Heile. Sein heilges Wort das ist das uns allen anvertraute Pfund, womit jeder wuchern soll nach seinen Kräften, daß es Frucht bringe zum ewigen Leben. Laßt uns jeder Gelegenheit hiezu wahrnehmen und so immer ähnlicher werden dem der gekommen ist zu suchen und seelig zu machen das verloren war, und zu ihm, dem Richter der Lebenden und der Todten, sagen können: hier sind diejenigen die du mir anvertraut hast, sie haben dich erkannt, und von den andern, wie einst Christus selbst: oft hab ich sie sammlen wollen zu dir mein Gott, aber sie haben nicht gewollt. – 3. Nach der Aufforderung des Apostels soll das Andenken an die Verstorbnen nun noch sein die Aufforderung zur christlichen Weisheit und zur Richtung unsers Herzens aufs Gebet. – Nur wessen Sinn schon im Leben 31 selbst:] selbst, 17–18 Vgl. Mt 9,12; Mk 2,17; Lk 5,31 25–27 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,11–27 28–29 Vgl. Lk 19,10 29–30 Vgl. Apg 10,42 32–33 Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34
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zum Himmel gerichtet ist, wer die Ruhe dazu in sich trägt, alles Zeitliche von sich abgestreift und frei von Leidenschaft, ungeblendet vom Schimmer der Welt und unberauscht von Furcht und Hoffnung ist, der nur kann in der Todesstunde zum Himmel gerichtet und ruhig sein, denn augenblicklich läßt sich nicht dämpfen was die Seele unordentlich bewegt. – Darum wenn wir einen Sterbenden sehn, bei dem sich nicht zeigt die Ruhe und Nüchternheit der zum Himmel gerichteten Seele, dann meinen wir, wenngleich wir ihm nicht absprechen können daß er theilgenommen an den Segnungen des christlichen Glaubens, etwas müsse seinem Gemüth doch fehlen und sein Glaube könne wol nicht fest sein, denn die Gaben des Geistes müßten ja wol im Tode sich recht verklären da der Geist nun bald ganz befreit sei und der Ewigkeit gehöre. Doch wir dürfen auch hier nicht zu schnell urtheilen; denn wol mag der Körper im Augenblick der Auflösung des Zusammenhangs mit dem Geiste, noch oft seine Gewalt verstärkt zeigen zum letztenmale | über den zum Himmel gerichteten Geist. Aber daß er siegen werde im Todeskampf dürfen wir hoffen, wenn es unser tägliches Streben ist, daß die Geisteskraft immer herschender werde. Dazu helfe uns der Ueberwinder des Todes!
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Am 28. November 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
1. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 16,13–19 Drucktext Schleiermachers; Predigt am ersten Adventsonntag 1819, 1820, S. 1–21 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 87–99; 21844, S. 120–132 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 69–80 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 32v–33r: Gemberg Besonderheiten: Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Berliner Intelligenz-Blatt: Vor der Predigt Vokalmusik
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Predigt am ersten Adventsonntag 1819. Gesprochen von Schleiermacher. Berlin, 1820. |
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Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes, unseres himmlischen Vaters, und die Gemeinschaft seines Geistes sei mit uns allen. Amen.
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Text. Matth. 16, 13–19. Da kam Jesus in die Gegend der Stadt Cäsarea Philippi, und fragte seine Jünger und sprach, Wer sagen die Leute, daß des Menschen Sohn sei? Sie sprachen, Etliche sagen du seist Johannes der Täufer, die andern, du seist Elias, etliche du seist Jeremias oder der Propheten Einer. Er sprach zu ihnen, Wer sagt denn ihr, daß ich sei. Da antwortete Petrus und sprach, du bist Christus des lebendigen Gottes Sohn. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm, Selig bist du Simon, Jonas Sohn, denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbaret, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir auch, du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeine, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben. Alles was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein. | 4–6 2Kor 13,13 als Kanzelgruß
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Am 28. November 1819 vormittags
Meine geliebten Freunde, wir beginnen heute einen neuen Jahreslauf für unser kirchliches Zusammensein überhaupt und besonders an den Stätten unserer gemeinsamen Gottesverehrung. Da stehen uns im Geiste vor Augen die herrlichen Tage unserer hohen christlichen Feste, an denen sich, wie wir es ja in dankbarer Erinnerung an die Vergangenheit erkennen müssen, die göttliche Gnade besonders an uns zu erweisen pflegt, und dann auch die sie umgebenden wöchentlich wiederkehrenden Tage des Gebetes und der Erbauung, an denen wir das Gefühl, daß der Herr mit uns ist, und Wohnung in unsern Herzen gemacht hat, gemeinschaftlich zu erneuen suchen. Alle diese Segnungen für unser geistiges Leben, diese Erhebungen des Herzens von dem vergänglichen zum ewigen, wir erwarten sie nicht nur als Menschen überhaupt von dem Gotte, der nicht fern ist von einem jeglichen unter uns, sondern auch als Christen von dem, welchen Gott gesendet hat zum Heilande der Welt, und welcher versprochen hat da zu sein, wo viele oder wenige in seinem Namen versammelt sind. Dies beweisen wir auch dadurch, daß wir mit der Vorbereitung auf das frohe Fest seiner Erscheinung auf Erden das neue kirchliche Jahr beginnen. Daher ist auch natürlich bei der frohen Erwartung eines reichen Segens christlicher Erbauung für dies beginnende Jahr unser Blick vornehmlich auf ihn, den Anfänger und Vollender unseres Glaubens, gerichtet; und es kann uns nicht entgehen, eben weil er nach der unerschöpflichen Fülle seines Reichthums auch seine Verheißungen immer erfüllen will, daß dasjenige, was wir aus dieser Fülle wirklich schöpfen werden, nach keinem andern Maaß gemessen wird, als nach dem unseres Glaubens. So viel wir glauben, so viel werden wir auch genießen und gefördert | werden, denn nur wie wir glauben, so sind wir auch in seinem Namen versammelt. Das sagt Er uns selbst, indem er für die Seinigen bei seinem Vater bittend ihnen das Zeugniß giebt, ,,Sie haben das Wort angenommen, das du mir gegeben hast, und erkannt wahrhaftig, daß ich von dir ausgegangen bin, und glauben daß du mich gesendet hast.1 Dieses Zeugniß nun bezieht sich auf der einen Seite auf das genaueste auf unsere Erwartungen für das beginnende Jahr; denn wir sehen, Christus bittet nur für die, und so giebt er auch sich selbst nur denen, die an ihn glauben. Auf der andern Seite aber hängt es eben so genau mit denen Worten zusammen, welche ich uns vorher zu unserer heutigen Betrachtung zugeeignet habe. Denn von dem, was hier Petrus in seinem und der übrigen Jünger Namen bekannte, giebt 1
Joh. 17, 8.
9–10 Vgl. Joh 14,23 12,2
13–14 Vgl. Apg 17,27
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ihnen dort Jesus Zeugniß, und gründet auf dies Zeugniß seine gnadenreiche Bitte. Wenn also auch wir dasselbe wünschen, was er dort schon auch für uns gebeten hat: so müssen wir uns die Frage vorlegen, ob wir auch mit dem rechten Glauben an ihm hangen. Auf diese Frage nun, welches der rechte Glaube an den Erlöser sei, von dem die Erfüllung seiner Verheißungen abhängt? enthält unser Text die Antwort. Es ist der Glaube, den Petrus bekannte, daß er sei Christus der Sohn des lebendigen Gottes. Und dieser ist der rechte Glaube deshalb, Erstlich, weil es ein Glaube ist, den nicht Fleisch und Blut offenbart, sondern nur der Vater im Himmel, und Zweitens, weil dies allein der Glaube ist, auf den der Herr seine Gemeine bauen kann, und zwar so, daß wie in ihr und durch sie eben so auch im Himmel alles gebunden bleibt und gelöset. | I. Der Glaube, den Petrus bekannte, daß Jesus sei Christus der Sohn des lebendigen Gottes, ist der, den nicht Fleisch und Blut offenbaren kann, sondern allein der Vater im Himmel. In den Worten unseres Textes ist von mancherlei Glauben die Rede. Der Herr hatte seine Jünger ausgesendet, um auch einmal, ohne daß er bei ihnen war, das Reich Gottes zu verkündigen; und als sie sich nun wieder um ihn versammelt hatten, fragt er sie, wer denn die Leute sagten, daß er sei? und was sie sagen gehört zu haben als die Meinung der Menschen, das ist allerdings ein Glaube an Jesum, ein Zugeständniß großer Vorzüge, wodurch er sich auf eine ausgezeichnete Art vor andern unterschied. Wenn der Eine sagte, Jesus sei Johannes der Täufer, so meinte er also, Gott habe ihn gesendet, um das ganze Volk zur Buße aufzufordern, und diese Aufforderung sei eine so dringende Veranstaltung Gottes, weil nämlich, wie Johannes sagte, dem Baume schon die Axt an die Wurzel gelegt sei, daß eben deshalb selbst der Tod keine Gewalt über den Gesendeten habe ausüben dürfen, sondern Gott ihn wieder erweckt habe. Wenn ein anderer sagte, Jesus sei Elias, so bezog sich das auf die, wie wir aus andern Schriftstellen sehen, weit verbreitete Meinung, ehe der Messias käme, müsse Elias kommen. Der war, wie wir wissen, einer der herrlichsten Propheten der alten Zeit, welcher mit den bittersten Wahrheiten und den strengsten Drohungen auch das Ohr der Könige, wenn sie mißfälliges vor Gott thaten, nicht verschonte. Und für einen solchen strengen aber gerechten Richter auch alles Hohen auf Erden ward also Jesus von einigen gehalten. So war auch Jeremias eine herrliche Blüthe, die sich aus dem Schutthaufen der Zerstörung erhob, eine wehmüthig klagende | Stimme, die sich in der Gemeinschaft mit Gott über das allgemeine Verderben zu trösten suchte, aber auch bis zum eignen 27–28 Vgl. Mt 3,10
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Am 28. November 1819 vormittags
Untergang nicht aufhörte, den herannahenden Untergang zu verkündigen, und sich mit treugemeintem Rathe seinem Volk fast aufzudringen; denn die Stimme Gottes ward ihm wie ein brennendes Feuer in seinen Gebeinen, wenn er schweigen wollte.1 Und für welchen andern der alten Propheten, oder auch wenn Jesus für einen neuen gehalten wurde, es lag der Glaube darin, daß der seit langer Zeit in dem verfallnen Volk erloschene Geist der Weissagung wieder erwacht sei, und daß sich die göttliche Stimme wieder vernehmen lasse, die nie anders als zum Heil könne gehört werden. So sollte man ja denken, auch aus solchem Glauben müsse eine Bereitwilligkeit hervorgegangen sein, den Lehren Jesu zu folgen und sich seinen Forderungen zu fügen, und es könne also der rechte Glaube sein. Aber der Herr spricht kein „selig“ aus über die, von denen ihm solcher Glaube berichtet wurde, sondern er schließt sie davon aus, und zwar – denn das liegt doch in seinen Worten an Petrus – weil ihren Glauben ihnen auch Fleisch und Blut könne offenbart haben. Fleisch und Blut aber heißt in der Sprache jener Zeit nicht mehr und nicht weniger als Mensch, und zu Petro sagt Jesus demnach, sein Glaube sei nicht menschlichen Ursprunges, sondern das Werk und die Offenbarung Gottes in dem Herzen dieses seines Jüngers, jenen Glauben aber könne jeder auch selbst ausgedacht oder sich überredet, oder ihn von Andern angenommen haben. Und darin werden wir ihm wohl sehr leicht folgen können. In Zeiten eines allgemeinen Verfalls aller wichtigen menschlichen Angelegenheiten, und wenn Noth und Elend aller Art überhand nehmen, dann | kommt wol die Einsicht, daß dies mit der Gottvergessenheit und den Sünden der Menschen zusammenhänge, auch ohne daß es eine Offenbarung Gottes in der Seele sei, und wenn einer kommt, der die Sünden der Menschen straft und sie zur Buße ruft: so können sich viele daran freuen und einen solchen für einen Gesendeten Gottes halten, ohne daß aus diesem Glauben eine Seligkeit entstehe. Denn sie wünschen die Verringerung des Bösen nur, damit auch das Uebel aufhöre, und sie wünschen das Gute nur wegen des damit verbundenen Wohlbefindens; und ist nur die drückendste Last erst von ihnen genommen, so werden sie auch gleichgültiger gegen Gutes und Böses, und werden auch das letzte wieder einschleichen lassen und hegen, wenn es ihnen vortheilhaft ist. In diesem Sinne sind gewiß Viele hinausgegangen zu Johannes dem Täufer, um sich taufen zu lassen, und eben so können Manche geglaubt haben, Jesus sei der wiedererschienene Johannes, ohne daß der Erlöser Ursache gehabt, sich dieses Glaubens zu freuen. – Und wieviel bloß fleischliche Ursachen kann es nicht geben, sich eines unerschrockenen Elias zu freuen, der auch 1
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zu denen kräftig redet, vor welchen Alle zu schweigen pflegen, und kraft geistiger Gewalt diejenigen demüthiget, vor deren irdischer Gewalt sich alles ohne Widerstand beugen muß; der, als der König ihn fragt, Bist du es, der Israel verwirrt? kühnlich antwortet, Nicht ich, sondern du und deines Vaters Haus.1 – Und um den Erlöser für einen Propheten zu halten, dazu gehörte wenig mehr, als das gesunde natürliche Gefühl für die Klarheit seiner Rede, die leichte Erfahrung von den Wirkungen, die derjenige hervorbrachte, der mächtig war in Thaten und Worten vor allem Volk, und gewaltig | redete, nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer; und mancher konnte dieses Urtheil gefällt haben, der hernach doch das „kreuzige“ mit ausrief; wie ja der Erlöser seinen Zeitgenossen vorwirft, daß sie eben so bereit wären, die Propheten zu steinigen wie ihre Väter gewesen. Aller Glaube solcher Art kann also rein menschlichen Ursprunges sein, von Fleisch und Blut her, und so mögen auch jezt noch gar viele unter denen, die sich Christen nennen, keinen andern als solchen Glauben haben. Denn wenn sie auch glauben, wieviel von Christo lernen und empfangen zu können, aber sie denken nur von ihm zu lernen wie von einem andern Lehrer, wenn gleich dem hellsten und reinsten, wie von einem andern Sittenrichter, wenn gleich dem schärfsten, und zu empfangen, wie von einem andern Stifter heilsamer menschlicher Dinge: so ist das nicht zu unterscheiden von dem allgemeinen natürlichen Bestreben der Menschen, besseres und nüzliches stückweise aufzunehmen hie und da, wo sie es finden; und solcher Glaube ist nicht der, den Petrus bekannte, Jesus sei Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Damit aber, indem wir uns jezt die Frage beantworten sollen, was denn nun in diesem Glauben besonders selig zu preisendes und nur von Gott geoffenbartes liege, niemand zu viel erwarte: so muß ich euch vorher folgendes zu bedenken geben. Es kann wohl keinem unbekannt sein, wie viel Streit in der Christenheit darüber von Anfang an gewesen ist und auch noch ist, wie viel denn eigentlich der Ausdruck, daß Jesus der Sohn Gottes oder der eingebohrne Sohn Gottes heißt, bedeute, und auf welche Weise nun das menschliche und das göttliche in ihm mit einander vereint sei. Wenn es nun eine allgemein wichtige Sache für alle Christen wäre, hierüber eine richtige Erkenntniß zu haben, wo möglich: | so sollte man wol denken, ehe der Herr würde Petrum selig gepriesen und ihm gesagt haben, seinen Glauben habe ihm der Vater im Himmel offenbart, müßte er ihn wol erst näher gefragt haben, Aber in welchem Sinne nennst du mich denn den Sohn 1
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Gottes, und wie denkst du über die Vereinigung des göttlichen und menschlichen in mir? Das thut er aber gar nicht. Und daß nur nicht jemand sage, der Erlöser habe danach nicht gefragt, weil er es, wie alles andere, schon gewußt; denn so müßte er ja auch nicht gefragt haben, was die Leute sagten, und was die Jünger selbst dächten. Sondern deswegen fragte er nicht danach, weil es ihm darauf nicht ankam, ohnerachtet er wol voraus sehn konnte, nach seiner Kenntniß von dem menschlichen Herzen im Allgemeinen wie im Einzelnen, wieviel die Kirche zerstörender Streit darüber würde geführt werden, und damit sich keiner von denen, die unchristlicher Weise Andere wegen solcher Abweichungen verdammen und dadurch Israel verwirren, auf ihn berufen könne, daß auch er haarscharf nach diesen Dingen gefragt habe. Und deshalb demnächst unterließ er das Fragen, damit auch Petrus, wenn er anders eine genügende Antwort gehabt hätte, doch wenigstens gewiß nicht glauben konnte, was der Erlöser von seinem Glauben rühmen wollte, das seien eben diese genauen und fast spizfindigen Bestimmungen. Dergleichen also erwarte ja niemand von mir, sondern mehr werden wir unserm Vermögen und auch dem Sinne des Erlösers gemäß handeln, wenn wir nur bei dem stehen bleiben, wodurch sich Petrus Glauben von dem mancherlei Glauben, von dem wir vorher gesprochen haben, wesentlich unterschied. – Wenn also Petrus sagte, Jesus sei der Christ: so verstand jedermann seine Meinung dahin, er sei nicht wie Johannes | der Täufer nur gesandt, um die Annäherung des Reiches Gottes zu verkünden, sondern um es selbst zu begründen und auf seinen eigenen Namen zu bauen; er sei nicht nur gesandt wie Elias und Andere, um seinen Zeitgenossen das vergessene Gesez vor Augen zu halten und sie um ihre Vergehungen zu strafen, sondern um das Vollkommnere an die Stelle des Unvollkommnen zu sezen, und nach Maaßgabe dessen, was Gott, um die Welt mit sich zu versöhnen, durch ihn offenbaren würde, den ganzen Erdkreis zu richten; er sei nicht nur gleich anderen Propheten ein bessere Zukunft verheißender Tröster in Zeiten des Elends und der Buße, und an geistiger Kraft und Anmuth hervorragend die Blüthe des Volkes, sondern er sei die ewig kräftige und schöne Blüthe der ganzen Menschheit, derjenige, in welchem alle Weissagung ihre Vollendung findet, so daß jede künftige nur immer ihn wiederholen kann, der, von welchem alle Begeisterung ausgeht, und in welchem aller geistige Trost so im Voraus für alles gegeben ist, daß niemand etwas bedürfen kann, was nicht aus seiner Fülle zu schöpfen wäre. – Was aber das andere Bekenntniß des Petrus betrifft, Jesus sei des lebendigen Gottes Sohn, so müssen wir uns zuvörderst an jene Worte des Erlösers erinnern, als einstmals seine Zuhörer ihn darüber zur Rede stellten, daß er sich Gott auf eine besondere Weise als Vater angeeignet, und sich
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seinen Sohn genannt habe, wie er sie zurückverwies auf die Schriften des alten Bundes, in denen auch gewöhnliche Menschen Kinder Gottes, Söhne Gottes genannt werden, wenn doch solche, zu denen das Wort Gottes geschah, Söhne Gottes genannt werden, wie viel mehr nicht er solle der Sohn Gottes heißen.1 Da unterscheidet er sich dem|nach von denen, an welche das Wort Gottes erging, als derjenige, der zwar auch nichts von ihm selbst thue aus menschlicher Eigenmacht und Willkühr, aber an den für keinen besonderen Fall das Wort Gottes zu ergehen brauche, weil er nämlich alles wisse und erkenne, was der Vater thut und gebietet, als denjenigen, in welchem eben dieses Wort Gottes so Fleisch geworden ist, daß auf der einen Seite alles Leben aus Gott war, was er that, und alles göttliche Wahrheit, was er redete, und daß er auf der andern unser Bruder war in aller menschlichen Schwachheit, ausgenommen die Sünde. Dies zusammengenommen, m. geliebt. Fr., ist der Glaube, den Petrus bekannte, und um deswillen der Erlöser ihn selig pries; aber eben dies ist ein Glaube, den nicht Fleisch und Blut, sondern nur der Vater im Himmel offenbaren kann. Denn schon überhaupt einen solchen Sohn des lebendigen Gottes unter den Menschen zu ahnden und zu hoffen, und die Vorstellung eines solchen, wenn sie dargeboten wird, mit Beifall aufzunehmen, das ist nicht die Sache von Fleisch und Blut. Das menschliche Herz an und für sich ist und bleibt ein troziges und verzagtes Ding, und wir finden es immer auf dem einen oder dem andern Abwege. Bald zu verzagt, um an eine solche göttliche Offenbarung zu glauben, verwirft es den Gedanken, es könne mitten aus den Unreinen Ein Reiner aufstehn, mitten unter den Kindern des Verderbens Ein Sohn der Liebe hervorgehn, um sie alle zu reinigen und zu beseligen; sondern, wie doch alles in der Welt Stückwerk ist, will es sich lieber auch hier mit dem Stückwerk begnügen, von dem einen dieses, von dem andern jenes lernend und nehmend, und ungewissen Muthes auf die Nachsicht Gottes mit allem Stückwerk auf Erden hoffen; bald zu | trozig, um sich Einem allein hinzugeben und zu unterwerfen, verwirft es die Zumuthung, Heil und Leben von dem Einen anzunehmen, sucht auch das herrlichste tadelnd und verringernd zu sich herabzuziehn, und will das Gute nicht anders anerkennen, als vertheilt unter viele, um sich Allen gleich zu stellen, indem es Alle beurtheilt. Darum je mehr der Mensch Fleisch und Blut ist, um desto unfähiger ist er dieses Glaubens, und niemand kann zum Sohne kommen, es ziehe ihn denn der Vater. Oder ist es nicht ein göttlicher 1
Joh. 10, 34–36.
28 Vgl. 1Kor 13,9–10
38–39 Vgl. Joh 14,6
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Zug und Trieb in uns, wodurch allein wir an eine solche Gemeinschaft des göttlichen mit dem menschlichen zu glauben vermögen? Ist es nicht das verborgene Werk der ursprünglichsten göttlichen Verheißungen, wenn sich unser Herz der Hoffnung öffnet, aus der Mitte des sündlichen Geschlechtes könne Einer eine solche überschwengliche Fülle und Quelle der Gnade sein, daß alles frühere nur Vorbereitung auf ihn wäre, und alles spätere nur Ausfluß aus ihm; aus Einem könne Allen Leben und Seligkeit aufgehn, und Einer, uns gleich, könne so schaffend und belebend der Sohn des Höchsten sein? Sehen wir aber erst auf die Person des Erlösers, daß Jesus von Nazareth soll der Sohn des lebendigen Gottes sein: so müssen wir wol bekennen, solcher Glaube konnte weder damals, noch kann er auch jezt noch im Fleisch und Blut des Menschen entstehen. Denn denken wir uns den Menschen noch auf der Stufe des sinnlichen Lebens in das niedere irdische versunken, so sind es auch nur äußere Vorzüge, denen er seine Verehrung darbringt und seinen Gehorsam weiht. Hier aber ist kein äußerer Glanz, keine Herrlichkeit und Ehre, sondern nur Schmach und Spott, und eine vielfältig verachtete äußere Gestalt. Denken wir ihn aber gesteigert zu einem | verständigen Bewußtsein, genährt mit dem, was wir in dem mannigfaltigsten Sinne Bildung nennen, ja dann sind es auch vornehmlich diese Vorzüge des mit der Welt beschäftigten in ihrer Erforschung und Bearbeitung lebenden Geistes, was ihm Verehrung abdringt. Hier aber ist keine ausgezeichnete Höhe menschlicher Weisheit und Kunst; sondern statt aller Kunst ist nur die himmlische Liebe und statt aller Wissenschaft nur der Weg zum Leben, die leitende Kenntniß des göttlichen Willens. Hier sind keine überraschenden blendenden Gaben, sondern statt aller nur die einfache Kraft der Wahrheit. Darum ist auch der Glaube an Jesum als den Sohn Gottes der menschlichen Weisheit, wenn sie nicht von Gott erleuchtet ward, von Anbeginn eine Thorheit gewesen. Wer daher Jesum von Nazareth für den Sohn Gottes erkennen soll, der muß zunächst die Welt verläugnen und alles irdische für nichts achten, fühlend, damit der Mensch seine Seele gewinne, dazu sei ganz etwas anderes nöthig, als das, dem die Welt am meisten huldigt, dann aber muß er auch fühlen, daß alle menschliche Einsicht und Weisheit selbst dem irdischen und eitlen angehört, wenn sie nicht die Gemeinschaft des Menschen mit Gott und den Gehorsam gegen dessen Willen als das einzige Hohe und Würdige anerkennt. In welcher Seele aber dieser Trieb aufgeht als eine Sehnsucht, welche sie nicht durch sich selbst befriedigen kann, die fängt an von dem Vater gezogen zu werden zu dem Sohne, und wenn sie dieser Einladung folgt, und ihn erkennt wie 28–30 Vgl. 1Kor 1,23
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er ist, so wird dann auch sie mit Petrus ausrufen, Herr du hast Worte des ewigen Lebens, du bist der Sohn des lebendigen Gottes.
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II. Dieser Glaube nun, wie er nur vom himmlischen Vater offenbart werden kann, so ist er auch der einzige, | auf den der Erlöser seine Gemeine erbauen kann, nicht aber jener mannigfaltige Glaube der Menschen, der ihn bald diesem bald jenem vergleicht. Denn die Gemeine des Herrn wird zuerst dadurch erbaut, daß die Gläubigen auf seinen Namen in herzlicher Liebe verbunden bleiben, und zu Erreichung des gemeinsamen von ihm uns vorgesteckten Zweckes ihre Kräfte vereinigen; je fester dieser Verband besteht, je weiter er sich verbreitet und fortpflanzt, um desto mehr blüht die Gemeine. Nun hat es zu allen Zeiten gar viele solche Vereinigungen von Menschen gegeben, welche einem Höheren und Vortrefflicheren als sie selbst Treue und Gehorsam gelobten. Und wenn nur dieser sie zu etwas wahrhaft Gutem verbunden hatte, so ist das immer gesegnet gewesen. Aber es gilt davon auch das Wort des Erlösers, wer einen Propheten aufnimmt als im Namen eines Propheten, der wird den Segen eines Propheten davon tragen, und wer einen Gerechten aufnimmt in eines Gerechten Namen, der wird eines Gerechten Lohn davon tragen.1 Dies alles nämlich ist und bleibt etwas vergängliches. Ausgezeichnete Menschen, welche die Gemüther recht zu ergreifen und zu binden wissen, können eben durch solche Verbindungen, welche auf ihren Namen bestehn, sehr schöne und bleibende Wirkungen hervorbringen. Aber diese können doch nur so lange bestehen, als der Name und das Bild des Stifters begeisternd und erhebend auf die Genossen wirkt. Tritt aber sein Bild in zu große Entfernung zurück, daß die eigenthümlichen Züge desselben nicht mehr erkannt werden; oder ist das Geschlecht so weit fortgeschritten, daß es sich ihm nicht mehr auf dieselbe Weise unterordnen kann, weil viele weiter sehn, als ihm vergönnt war; so stumpft sich auch die verbin|dende Liebe ab, und dann löset sich die Verbindung auf; oder wenn man sie aus übertriebener persönlicher Verehrung länger fortsezen will, so wird sie ein todter Buchstabe, hemmt anstatt zu beflügeln, drückt nieder anstatt zu erheben. So ist es zu allen Zeiten und unter allen Völkern gegangen. Wo sind alle Schulen der Weisen und der Propheten? Wo sind alle Vereine der Gerechten? Sie konnten nur eine Zeitlang bestehen, und diese ist vorüber. Wäre uns also auch Jesus von Nazareth nur ein ausgezeichneter Weiser, ein großer Prophet, und nähmen wir uns also unterein1
Matth. 10, 41.
1–2 Joh 6,68
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ander auf im Namen eines Propheten und eines Gerechten: so hätte vielleicht seine Gemeine lange geblüht, und lange Zeit hätten sich vielleicht seine Getreuen verfolgen lassen und plagen und tödten um seines Namens willen, ja vielleicht blühte sie auch noch. Aber nach grade müßten wir uns wundern, und es müßte uns ein schlimmes Zeichen sein, daß sie sich noch nicht auflösen wollte. Wie? so lange schon ist es her, daß er auf Erden wandelte, so viel großes ist seitdem geschehen, so viel Fortschritte gemacht in der Kenntniß der Werke Gottes, so viel Erfahrungen von seinen Wegen, so viel neue Seiten des menschlichen Geistes haben sich erschlossen, und noch immer sollten wir nicht weiter sein, als dieser Jesus von Nazareth uns führen kann? Wie viel menschlicher Ruhm auf dem Gebiete des menschlichen Geistes ist seitdem untergegangen, wie viel alte Kunst und Weisheit ist verdunkelt worden durch neue, und Er allein sollte bleiben? Darum könnte nun je länger je mehr seine Gemeine nur gebaut werden, als etwas das bald untergehn müßte, und was so gebaut wird, das kann auch nicht bestehen. Wer damals an ihn glaubte wie an Johannes, nun der wartete gleich eines andern, und baute von vorne her | an seinem Werk als an einem vergänglichen; aber eben das müßten jezt Alle thun, denen er nur ein Prophet und ein Weiser gewesen. Und eine solche Verbindung zu trennen, ein solches Reich zu zerstören, dazu bedürfte es gar nicht der Macht der Hölle, das natürliche Geschick alles irdischen, das ja immer sich abstumpft und schwächt, müßte dazu hinreichen; denn schon bei der ersten Entstehung trägt sie den Keim des Todes in sich. Seine Gemeine sollte eine ewige sein, auch die Macht der Hölle soll sie nicht überwinden; also muß sie auch auf einem andern Glauben ruhen, und das ist nur der Glaube des Petrus, der Glaube, daß kein anderer Name den Menschen gegeben ist, darin sie sollen selig werden, denn der Name des Sohnes Gottes. In dem allein ist eine unerschöpfliche Fülle, den allein können wir nie erreichen, und wissen, daß ein auf ihn gegründeteter Bau nicht vergehn darf. Keines Menschen Schüler sollen die andern bleiben ewiglich, sondern die Söhne immer besser sein als die Väter, und jedes menschliche Ansehn, welches sich erhebt innerhalb seiner Gemeine, wie ehrwürdig auch der Name sei, wie wohlthätig es auch gewirkt habe, von den ältesten Vätern und Märtyrern an bis auf die neuesten Zeugen der Wahrheit und Verbesserer der Kirche herab, es besteht nur seine Zeit, und Meister sollen wir uns unter einander gar nicht nennen: aber daß Christus der Sohn Gottes unser aller Meister bleibt ewiglich, daß wir das Le15–17 wartete] wärtete 27–29 Vgl. Apg 4,12
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ben, welches wir als Glieder seines Leibes führen, mit keinen eignen unabhängigen vertauschen wollen, das kann nur unser Gewinn sein und unser Ruhm, und darum ist es auch dieser Glaube allein, auf dem die Gemeine Christi sich bauen kann. Sie baut sich aber ferner dadurch, daß in ihr, wie | der Herr sagt, schon auf Erden gebunden und gelöset wird wie im Himmel. Denn ich brauche wol unter uns nicht erst weitläufig zu erinnern, daß der Herr das nicht dem Petrus allein sagte; sondern wie er zuerst nicht gefragt hatte, was aber denkst denn du Petrus, sondern was denkt ihr, und Petrus auch zwar allein, aber der Frage gemäß für alle geantwortet hatte; so erwiedert der Herr auch dieses nicht ihm allein, sondern allen. Dies Binden und Lösen aber will, um es im Allgemeinen kurz zusammen zu fassen, nichts anderes sagen, als daß wir für die Beurtheilung und Behandlung des würdigen und unwürdigen keinen andern Maaßstab haben sollen, als den göttlichen und himmlischen selbst. Wieviel aber hievon abhängt, um alles gute und göttliche zu fördern, das ungöttliche aber abzuhalten und so die Gemeine zu bauen, das sieht wohl jeder; da ja das eigne Streben eines jeden und seine Würdigung Anderer so genau zusammen hängen. Wie ist es aber, wenn Menschen sich auf den Namen eines Menschen verbinden? nicht so, daß derselbe dann auch ihr Vorbild ist, und sie allen Werth der Menschen in ihrem Vereine nach der Aehnlichkeit mit jenem abmessen? Wenn nun keiner ohne Sünde ist, und Böses und Gutes nicht etwa leicht zu unterscheiden neben einander liegen im Menschen, sondern in jedem seine Schwächen und Gebrechen, und sein Gutes und Schönes zusammenhängen: so wird dann, wie das Vorbild unvollkommen ist, so auch der Maaßstab nicht nur einseitig und mangelhaft, sondern die Sünde schleicht sich mit ein in das, was empfohlen und gefördert wird. Kann und soll nun auf solchem Grunde etwas ewiges gebaut werden? oder muß man nicht vielmehr den Menschen, die einem solchen Vorbilde folgen, noch ein anderes daneben | wünschen, welches ergänze, was jenem fehlt, und gut mache, was jenes verdirbt? Und, wenn doch wahr ist, was der Erlöser sagt, daß Niemand zweien Herren dienen kann, und mit gleicher Liebe anhangen; muß dann nicht ein solches Urbild auf das andere folgen? die Liebe zu dem einen allmählig erkalten, und das Herz für ein anderes erwärmt werden? das heißt ein Gebäude verfallen, damit man auf seinen Trümmern ein anderes erbaue? Anders also kann es auch denen nicht ergehen, welche an Christum nur als an einen Propheten oder Weisen oder Tugendhelden glauben, dem oder jenem schon da gewesenen menschlichen Bilde ihn vergleichend. Diese können nicht glauben, daß die 33–34 Vgl. Mt 6,24; Lk 16,13
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Regel des Christenthums, sei sie auch auf das genaueste aus dem Worte und dem Bilde Jesu genommen, so löse und binde, wie im Himmel gebunden und gelöst wird, sondern sie suchen und grübeln mit Recht, wo sie etwas einseitiges und gebrechliches darin finden. Sie glauben an ihn als an einen, nach dem noch ein anderer kommen muß, und sie können nicht wünschen, daß auf seinen Grund immer fort gebaut und nach seinem Maaß immer gemessen werde. Darum kann die ewige Gemeine auf jenen Glauben nicht gebaut werden, sondern nur auf den Glauben des Petrus, daß Jesus ist der Sohn Gottes. Denn dazu gehört wesentlich, daß er, wenn gleich uns in allem gleich, doch von der Sünde ganz ausgeschlossen war, und alle Vollkommenheit und Tugend, die sich in ihm offenbarte, von aller fremden Beimischung völlig rein. Er also ist das ewig unerreichbare Vorbild, dem sich aber von seinem Standort aus jeder annähern möge nach Vermögen, an dem das ganze Geschlecht der Menschen für alle Zeiten genug hat, und kein Fortschreiten auch das gesegnetste nicht kann uns jemals nöthigen, | die Regel, die wir von ihm nehmen, gegen eine andere zu vertauschen, ja erst durch die Beziehung auf ihn können wir uns irgend eines menschlichen Vorbildes erwecklichen Wirkungen ohne Bedenken überlassen. Je mehr wir sein Bild, so weit es die menschliche Schwachheit leidet, rein ins Auge fassen, um desto weniger wird unsere Liebe und unser Urtheil irren, um desto weniger werden wir uns von einem falschen Schein, mit dem sich das ungöttliche irgend umgeben möchte, blenden lassen; aber eben so wenig auch irgend etwas wahrhaft Gutes auch in der uns fremdesten und fernsten Gestalt verschmähen oder verdächtig zu machen suchen, weil ja alles nothwendig ist, um so viel möglich in der Gesammtheit einzelner zerstreuter Züge das Bild des Göttlichen darzustellen. Und dieses nun ist das rechte himmlische Binden und Lösen aus dem Wort des Erlösers selbst, daß wir eines Theils nicht richten die unvermeidlichen Mängel alles menschlichen im Vergleich mit jenem göttlichen, damit nicht auch wir gerichtet werden, andern Theils aber auch eben so fest überzeugt sind, wer nicht glaube, der sei schon gerichtet. Denn wem dieser rechte Glaube an den Erlöser als an den Sohn Gottes fehlt, dem fehlt es auch für seinen Lauf an einem festen Ziel, das er nicht zu verrücken braucht, und an sichern Schranken, aus denen er nicht weichen kann, für seine Hoffnung an einen festen Anker in der unergründlichen Tiefe, und für sein ganzes Bewußtsein an der Ueberzeugung von einer Offenbarung des himmlischen Vaters in seinem Herzen. Dieser Glaube ist es daher, von welchem wir alle Segnungen zu erwarten haben, welche Jesus gekommen ist, den seinigen zu bringen, 16 kann] kann,
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auch die, welche er unsern Zusammenkünften in seinem Namen verheißen hat. Nur | wenn wir in diesem Glauben bei einander sind, werden wir wahrhaft in seinem Namen versammelt sein, und nicht nur in dem eines Propheten oder eines Gerechten oder in sonst einem menschlichen Namen. Möge sich dann dieser Glaube auch in dem neuen Kirchenjahr immer mehr unter uns befestigen und immer weiter auf der Erde verbreiten: so werden wir auch in unsern Versammlungen immer reichlicher die Seligkeit erfahren, welche Jesus mit diesem Glauben verbunden hat, und in welcher jeder Gläubige mit Wort und That den Herrn verkündend, auch eine feste Stüze seines Reiches auf Erden sein wird. Amen.
[Liederblatt vom 28. November 1819:] Am ersten Advent Sonntag 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Von Gott will ich nicht etc. [1.] Erhebt den Herrn, ihr Frommen, / Er hält was er verspricht, / Der Heiland ist gekommen, / Der Völker Trost und Licht! / Gott, der uns nicht verstößt, / Hat uns zum Heil und Leben / Selbst seinen Sohn gegeben; / Durch ihn sind wir erlöst. // [2.] Er kommt zu uns auf Erden / In tiefer Niedrigkeit / Und träget die Geberden / Der schwachen Menschlichkeit, / Entsaget aller Macht, / Entbehret Himmelsfreuden, / Bis er durch Todesleiden / Das große Werk vollbracht. // [3.] Du Freund der Menschenkinder, / Verwirf uns, Jesu’, nicht! / Dein Name Heil der Sünder, / Ist unsre Zuversicht! / Sind wir auf ewig dein, / So kann uns nichts mehr fehlen: / Es werden unsre Seelen / Im Glauben selig sein. // Nach dem Gebet. Chor. Er kommt, er kommt, der starke Held / Voll göttlich hoher Macht, / Sein Arm zerstreut, sein Blick erhellt, / Des Todes Mitternacht. // Gemeine. – Mel. Lobt Gott, ihr Christen etc. Wer kommt, wer kommt? wer ist der Held / Voll göttlich hoher Macht? // Chor. Sieh Christus ist’s! lobsinge Welt, / Dein Heil wird dir gebracht. // O du des Guten Verkünderin Zion, / Des Heiles Botin Jerusalem, / Erhebe die Stimme mit Macht! / Verkünde den Städten Juda / Er kommt eur Gott! / Wohlan die Herrlichkeit des Herrn / Geht auf über dir! // Recitat. Wir sind nun Gottes Kinder; doch es ist / Noch nicht erschienen, was wir werden sein. / Das aber ist das ewge Leben, Ihn / Den wahren Gott zu kennen, und den Herrn, / Den er gesendet, Jesum Christum. //
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Arie. Erwache zu Liedern der Wonne, / Frohlocke du Tochter Zion, / Und jauchze du Tochter Jerusalem! / Blick auf! dein König kommt zu dir, / Er ist ein Gerechter und ein Helfer, / Und bringet Heil allen Völkern. // Chor. Hoch thuet euch auf, und öffnet euch weit ihr Thore / der Welt, daß der König der Ehren einziehe! // Wer ist der König der Ehren? / Der Herr, stark und mächtig im Streit, / Gott Zebaoth! er ist der König der Ehren. // Gemeine. – Mel. Lobt Gott, ihr Christen etc. Wohl dem, der voll Vertraun und Muth, / Zu seiner Fahne schwört! / Des Glaubens Sieg ist hohes Gut, / Und jedes Kampfes werth! // Nach der Predigt. – Mel. Jesu meine Freude etc. Laßt uns niederfallen, / Danken, daß er allen, / Freund und Bruder ist! / Gott auf seinem Throne / Liebt uns in dem Sohne, / Hilft durch Jesum Christ. / Welch ein Heil, an Christo Theil, / Theil durch seiner Sendung Gaben / An Gott selbst zu haben! //
Am 5. Dezember 1819 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
2. Sonntag im Advent, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 4,8–11 Nachschrift; SAr 58, Bl. 15r–16v; Woltersdorff Keine Keine Teil der vermutlich bis zum 26. März 1820 gehaltenen Homilienreihe zum 1. Petrusbrief (vgl. Einleitung, Punkt I.1.)
Aus der Predigt am 2. Advendt 1819. 1. Petr. 4. v. 8–11
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Diese Worte enthalten Ermahnungen und Anweisungen zur christlichen Liebe, woran überhaupt die Bücher des neuen Bundes so reich sind, so sind wir also zu vielen Betrachtungen darüber aufgefordert. Doch soll jede dieser Ermahnungen und Anweisungen unsre Aufmerksamkeit auf eine andre Seite lenken, je nachdem der Zusammenhang in welchen sie gegeben und der Gesichtspunkt von welchem aus sie für nöthig erachtet, es gebietet. So haben wir bei der vorliegenden auf zweierlei zu sehen, und zwar fragen wir 1. Wie hat wol der Gedanke an das nahe herbeigekommne Ende, an das Ende aller Dinge die Ermahnung zur Liebe dem Apostel abgedrungen? 2. Wie hat die Vorstellung von dem Streite der Christen Theil daran? Denn daß auch dieses ihm noch nicht aus dem Sinne war indem er die Ermahnungen ertheilt, sehen wir leicht daraus, daß er nach dieser Rede fortfährt von dem Streit zu sprechen, die Christen warnend sich die Hitze desselben nicht befremden zu lassen. – Die Beantwortung dieser Fragen liegt in der Beziehung beider Vorstellungen auf die Darstellung der christlichen Kirche. Fragen wir also: Wie hat ihn die Vorstellung von dem Ende aller Dinge dahin geleitet, so finden wir in der Beziehung diese Antwort: Weil aber, wenn das Ende aller menschlichen Dinge da ist, die Kirche vor Gott soll dargestellt werden, vollkommen und ohne Runzeln und Flecken, diese Vollkommenheit aber nur erreicht werden kann durch die Liebe. Und, 16–18 Vgl. 1Petr 4,12
22–23 Vgl. Eph 5,27
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als Beantwortung der 2. Frage, weil eben diese Vereinigung der Kräfte uns allein in den Stand setzen kann, auf einer Seite allen Versuchungen und Verführungen, und auf der andern, allen Verfolgungen Widerstand zu leisten. Diesen Gesichtspunkt wollen nun auch wir nicht verlassen bei unsrer Betrachtung. Das Erste was der Apostel hier als Eigenschaft der Liebe aufstellt, ist: sie decket auch der Sünden Menge: – Man hat diesem Ausspruch oft einen doppelten Sinn abzugewinnen gesucht, und gefragt, ob der Apostel meine wie Paulus in seiner bekannten Lobpreisung der Liebe | zu meinen scheint sie bezöge sich auf menschliches Sündenvergeben allein, oder weil auch von Gott gesagt wird, daß die Liebe es sei um derer Willen er selbst unsre Sünden zudecket. Es scheint aber sonderbar genug, beides trennen zu wollen und zu glauben der Apostel habe dies oder das gemeint, da es doch eins ist, Gott kann unsre Sünden nur vergeben, indem wir auf dem Wege der Heiligung gefördert werden durch die Kraft des Glaubens und der Liebe. Vergeben ist also frei machen von der Sünde wie wir auch beten: Vergib uns wie wir vergeben: der Grund des Vergebens muß ja allerdings derselbe sein. Immer und auf allen Seiten ist die Wirkung der Liebe dieselbe. Der hier zu uns redet es war derselbe Apostel welcher einst dem Herrn die Frage that: Herr wie oft muß ich denn vergeben, ists genug sieben mal? und der Erlöser ihm antwortete: ich sage dir nicht sieben, sondern siebenzig mal sieben mal: um eben das Unermüdliche der Liebe darzustellen. Manche meinen nun daß es nicht genug sei Sünde zu vergeben, sondern es müsse doch auch dazu gethan werden daß der Sünde weniger werde. Es ist aber beides eins und dasselbe; – denn das Vergeben oder die Thätigkeit der Liebe ist auf nichts anders gerichtet als, daß des Bösen weniger und des Guten mehr werde auf Erden. Der Apostel zeigt in dem was er als Liebeserweisung aufstellt, daß sie eine mittheilende Gabe ist, und zwar mittheilend das was jeder empfangen hat von Gott. Wo die christliche Liebe herscht, ist jeder unablässig bemüht, daß die Segnungen des Christenthums überall verbreitet, daß Gemeingut werde das uns von Gott in Christo dargereichte Heil, und daß alles der christlichen Weisheit entgegenstehende weichen müsse. Indem nun die christliche Liebe so auf Verringerung des Bösen gerichtet ist hat sie ein Recht die sich zeigenden menschlichen Verirrungen und Schwächen milder zu behandeln als es da geschehn kann wo sie nicht ist, es erregt nicht Furcht und banges Schrecken jede Sünde und Ungerechtigkeit in ihrem Gebiete, weil so sie der Sünde Menge decket. Darauf soll alle Ermahnung zur Liebe wirken. Und diese Anwendung haben wir besonders in dieser Zeit zu machen, wo so viel von verborgnem Wesen, von noch in Gedanken der Menschen verschlossnem Bösen die Rede ist. Daß dieses zu erforschen, daß Vermuthungen als | Beweise anzunehmen, die menschlichen Strafgerichte bemüht sind, und daß sie da den 8 Vgl. 1Kor 13
16 Vgl. Mt 6,12; Lk 11,4
19–21 Vgl. Mt 18,21–22
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Ausbruch des Bösen vermuthen wo der Keim fehlt, es ist Folge der Furcht und des Mangels an Vertraun der Kraft der christlichen Liebe. Wenn diese Kraft in allen ist, so hat keiner mehr nöthig zu strafen; denn vorbeugend und verhindernd und befreiend wirkt sie stets. Diese Thätigkeit der Liebe meint der Apostel wenn er sagt: sie decket auch der Sünde Menge: und in diesem Sinne meint auch Paulus: sie eifert nicht, sie ist langmüthig und freundlich: eben weil sie dazu berechtigt ist, durch ihre Wirksamkeit die die Sünde zerstört. Wenn nun hier von so hohen Dingen die Rede ist, scheint es vielleicht auf den ersten Blick wunderbar daß der Apostel an so geringfügig scheinende Liebesdienste erinnert als da ist die Gastfreiheit. Doch in jenen ersten Zeiten des Christenthums war sie es allein welche die Gemeinschaft der Christen und also gegenseitiges Wirken beförderte. Jezt da die Gemeinschaft der Christen ausgebreitet ist, bedürfen wir so ihrer freilich nicht sehr; doch es giebt auch eine geistige Gastfreiheit, welche darin besteht daß wir gern recht viele aufnehmen in die Gemeinschaft unsrer Gedanken und in den Verkehr unsers Geistes. Diese Gastfreiheit ist nothwendige Eigenschaft der rechten christlichen Liebe. Durch sie allein kann die geistige Gemeinschaft gefördert werden. Wenn Erfahrung, Bewußtsein und Verhältniß der geistigen Kräfte des einen, dem andern offenbar ist, wenn er anschauen darf das geistige Leben des Bruders, so wird er dadurch angeregt, daß er eben so sein Heil suche in dem Einigen. Und so können sie dann vereint immer mehr wirken. Das ist die Gastfreiheit des Gemüths zu welcher der Apostel auffordert damit jeder befreit werde vom engherzigen Sichverschließen welches nimmer Guts wirkt. Die Erfahrung lehrt daß die welche sich in kleine Kreise abschließen nicht diejenigen sind, welche vorzugsweise der Kraft des Herrn sich zu erfreuen haben; aus dem Wahn daß es so sei werden wir oft aufgeschreckt durch plötzliches Hervortreten der Verkehrtheit des menschlichen Herzens. – Das Gebot des Herrn ist: nehmet euch unter einander auf: So soll also kein ein|seitiges Verhältniß stattfinden. Jeder soll dienen mit der Gabe die er empfangen hat, und jeder sich dienen lassen von denen durch welche Gott ihn bilden will. Keiner soll, meinend er könne allein seine Heiligung fördern, sich dem Wirken der christlichen Liebe entziehn, sondern ihr freien Spielraum lassen, damit keine Anlage in ihm ungebildet bleibe und alles geheiligt werde durch sie. Alles aber soll uns gethan werden als aus dem Vermögen das Gott darreicht auf daß in allen Dingen Gott gepreiset werde. Soll die Liebe walten so müssen wir verwalten die himmlischen Güter, und nichts als aus eignem Vermögen thun. Nur wenn der Herr selbst durch uns wirkt kann das Wirken kräftig und fruchtbar sein, mischt sich aber der Dünkel ein als könnten wir durch 22 Das] Daß 6–7 Vgl. 1Kor 13,4
28–29 Vgl. Röm 15,7
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unsre eigne geistige Persönlichkeit irgend zum Heil der Brüder wirken, dann ists nicht die Liebe zu Christo, welche waltet; denn den Eigendünkel treibt eben wie die Furcht die Liebe aus. Nur wenn wir uns selbst verleugnend, allein das Werk des Herrn zu fördern bemüht sind, haben wir die Sicherheit des Gelingens: So jemand redet daß ers rede als Gottes Wort. – Dann verfehlts den Zweck nicht. Ja wenn wir so mit dem lebendigen Glauben den Heiland aufnehmen, wenn wir in christlicher Liebe wirken, daß alles was wir thun in ihm gethan ist, so wird er von uns gepriesen werden von einer Zeit zur andern immer herlicher und kräftiger.
2–3 Vgl. 1Joh 4,18
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Am 12. Dezember 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
3. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 17,20 Nachschrift; SAr 52, Bl. 33v–34v; Gemberg Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Evang. am 3. Advent-Sonntag. Dr. Schleiermacher Matth. 17, 20.
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Zuletzt betrachteten wir die Beschaffenheit des Glaubens, heut die Wirksamkeit desselben. Die besteht darin, daß der Glaube Berge versetzt. Das ist nicht buchstäblich zu nehmen, denn das fördert nicht die Seligkeit im Reiche Gottes. Der Sinn ist dadurch ausgedrückt, daß solchem nichts unmöglich sei. Aber was Noth thut, ist das Bewußtsein von der Kraft des Geistes, der im Gläubigen wohnt. Dieser Glaube zeigt sich wirksam in mancherlei Fällen. Sehen wir, wo der Erlöser den Sinn unseres Textes ausspricht. 1. in unsrer Stelle wird nach der Verklärung ein Mondsüchtiger dem Herrn zugeführt, den die Jünger nicht heilen konnten, weil sie noch des ächten Glaubens ermangelten, und worauf der Erlöser die Worte des Textes sprach. Solche Krankheit rührt her vom Uebergewicht der äußern Natur über den Menschen, der keinen PerstenS geordneten Willen hat, und jenen Einflüssen unterliegt. Diesen kann nur heilen, wer die Kraft des Glaubens hat, wenn auch nur im Keime. Es ist der Glaube an die Gemeinschaft mit Christo, daß er auch immer allen nahe sei, | und der Geist, der die Gemeine, den Leib, beseelet. Oft sehn wir den Geist unterthan dem Fleisch. Da sollen wir nicht verzagen – haben wir den Glauben, so wird er selber den Geist entzünden im Schwächeren – denn nicht unsre Kraft vollbringt es, sondern der Geist Gottes durch uns. 2. In einer andern Stelle der heiligen Schrift sieht Jesus den Feigenbaum mit grünen Blättern, aber ohne Frucht, und verwünscht ihn und er verdorret. Die Jünger wundern sich des, und er sagt das Nähmliche. So bei 3 Vgl. 28. November 1819 vorm. 25 Vgl. Mt 21,19–21
11–12 Vgl. Mt 17,14–19
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Am 12. Dezember 1819 vormittags
uns im Leben. Oft finden wir den falschen Schein, der innerlich faul und todt ist, aber äußerlich Leben birgt auf anmuthige Weise. Gemeinschaft halten wir, die Bessern, nicht mit solchen, aber wir müssen auch, wie Christus, verwünschen, d. h. den Schein zerstören, das Leere entlarven, damit die Welt sich darin nicht täusche. Das werden wir, wenn wir den Glauben haben, und das Selbstbewußtsein der Kraft desselben in uns.
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3. ist noch eine Stelle, wo Christus ermahnt, daß wir einander mit Liebe und Nachsicht dulden, und auf die Frage nach dem Umfang derselben antwortet, die Liebe sei | ein unendliches, und daß nur der Glaube sie haben könnte, der Berge versetze. Das ist die nothwendige Ergänzung des Früheren. Wenn ich den Glauben habe, so kann ich nicht allein zerstören den Trugschein, ich muß das anscheinende Todte ersticken und das schlummernde Leben wieder anfachen. Aber auch dieß ist eine Frucht des Glaubens, den wir aus der Predigt, der Verehrung und dem Verständniß des göttlichen Wortes empfangen.
[Liederblatt vom 12. Dezember 1819:] Am dritten Advent Sonntag 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine Seele etc. [1.] Stärke, denn oft will er wanken, / Meinen Glauben, Gott an dich. / O wie wird mein Herz dir danken, / Wie frohlocken! höre mich! / Laß mich nicht an dir verzagen, / Immer kühnre Bitten wagen! / Sinkt mein Glaube; gieße du / Oel dem schwachen Lichte zu! // [2.] Aechten Glauben schenk vor allen / Andern Gnaden, Vater mir! / Wem er fehlt, muß dir mißfallen; / Wer ihn hat ist eins mit dir. / Er belebe meine Triebe, / Sei der Stab, die Hand der Liebe! / Ich besiege wie ein Held / Durch ihn Satan Fleisch und Welt! // [3.] Glauben, wie wenn ich dich sehe, / Flöße mir mein Heiland ein; / Im Gefühl von deiner Nähe / Laß mein Herz sich täglich freun! / Jesus, willst du dich nicht zeigen? / Hörst du mich, wie kannst du schweigen? / Gieb mir Glauben, nahe dich / Meinem Geist und stärke mich. // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Alle Menschen etc. [1.] Du solst Glauben, o du Armer! / Und du zweifelst? Zweifle nicht! / Du solst beten zum Erbarmer, / Und du kannst, du kannst es nicht? / Kindlich solst du hier vertrauen, / Dort erst wirst du Ausgang schauen; / Jesu Ausgang ward erst klar, / Als er auferstanden war. // [2.] Glaube giebt der Andacht Flügel, / Glaube hebt zu Gott empor! / Glaube bricht des Grabes Riegel, / 7–10 Vgl. Lk 17,3–6
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Predigt über Mt 17,20
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Selbst der Ewigkeiten Thor. / Glaube geht durch Flamm’ und Fluthen, / Ließ die Zeugen Jesu bluten; / Doch sie überwanden weit, / Sicher ihrer Seeligkeit. // [3.] Glaube hilft durch alles siegen, / Macht die schwerste Prüfung leicht; / Alles muß zu Füßen liegen, / Selbst gewohnte Sünde weicht. / Ob du auch im Kampf erlagest, / Schon an Glaubenskraft verzagest, / Kämpfe stärker, kämpfe mehr, / Deine Hülfe ist der Herr! // [4.] Wirst du selbst des Harrens müde, / Weil die Zweifelsucht sich mehrt: / Nah ist Gott und Gottes Friede, / Nahe der, der alles hört. / Aus Gehorsam mußt du hoffen, / Erd’ und Himmel steht dir offen; / Glaube fest, der alles schafft, / Giebt dir auch zum Guten Kraft. // [5.] Hast du nicht des Wunderbaren / Wunderausgang oft gesehn? / Sahst du nicht den Unsichtbaren, / Groß durch Thaten, bei dir stehn? / Mußt du denn ihn immer sehen? / Gleich des Ewgen Rath verstehen, / Gleich dich seiner Hülfe freun, / Würde dies dein Bestes sein? // [6.] Glaube dann noch, wenn zu glauben / Fast kein Hoffnungsstrahl mehr bleibt. / Laß dir nicht sein Machtwort rauben: / Selig, selig ist wer gläubt. / Ach, die ersten dort am Throne / Glaubten ohne Schaun die Krone, / Rangen, starben, wankten nie, / Und empfingen – Sei, wie sie! // (Reiber.) Nach der Predigt. – Mel. Jesu der du meine etc. Schau doch aller Helden Glauben, / Meine Seele, glaubend an! / Laß nichts deine Krone rauben, / Leid’ und klimm zu ihr hinan! / Keine Trübsalstiefen scheiden, / Weder Tod noch Leben scheiden, / Nichts, was jetzt und künftig ist, / Scheidet mich von Jesus Christ. //
Am 25. Dezember 1819 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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1. Weihnachtstag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 4,4–5 Nachschrift; SAr 58, Bl. 17r–18v; Woltersdorff Keine Keine Keine
Aus der Predigt am 1. Weihnachtstage 1819. In diesen Worten giebt der Apostel den Entzweck an, der Sendung Christi, und zwar so daß er aufmerksam macht auf den Zustand in welchem er die Menschen fand, nemlich, sie waren unter dem Gesetz. Nun könnte es scheinen als ob dieses mehr im Einzelnen von dem jüdischen Volke gesagt wäre, daß er gekommen sei die Menschen von dem Gesetz zu erlösen, allein dieser Schein schwindet schon dadurch, daß er die Erlösung vom Gesetz so als Entzweck seiner Sendung aufstellt, daß wir dies für den ganzen Inbegriff derselben erklären müssen. Nicht nur das jüdische Volk war unter dem Gesetz, sondern so weit die Menschen ein höhers Wesen über sich anerkennen, bilden sie sich Gesetze durch deren Erfüllung allein sie des Wohlgefallens desselben theilhaftig zu werden hoffen. Diesen Zustand stellt uns der Apostel dar als den Zustand in welchem Christus die Menschen fand und aus welchem er sie erlösen sollte. Indem wir nun die Ankunft unsers Erlösers auf Erden als Anfang dieser Erlösung ansehen, so laßt uns betrachten: 1. In wie fern wir, da wir unter dem Gesetz standen, der Erlösung von demselben bedurften. – 2. Worin diese Erlösung bestanden habe. 1. Es ist nicht nöthig vorzubeugen das Mißverständniß als wäre das Gesetz so vertilgt durch die Erlösung daß da z. B. gesagt ist: du sollst nicht tödten: nun erlaubt wäre zu tödten, so mißverstehen kann nur der, welchem der Geist des Evangeliums ganz fremd ist. Und nicht ist die Besorgniß zu widerlegen, daß die Rede des Paulus eine gefährliche Lehre sei, denn jeder weiß ja daß Paulus ein Schüler dessen war welcher viel mehr von den Menschen forderte als das Gesetz, sondern wir haben nur zu bedenken wie der 20–21 Vgl. Ex 20,13; Dtn 5,17
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Predigt über Gal 4,4–5
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Apostel es gemeint habe, daß wir einer Erlösung von Gott bedurften. Das Gesetz läßt den Menschen die Sünde erkennen. Aber das ist es eben daß es nichts weiter vermag als den Menschen zur Erkenntniß der Sünde zu bringen, es giebt die Kraft nicht die Sünde zu vermeiden. Darin liegt seine Unzulänglichkeit, daß es nicht vor Gott gerecht machen kann. Wenn wir einem Menschen immerfort nur die Gesetze vorhalten wollten, ihm sagen was recht und unrecht ist so wird er freilich einsehen wie wenig er sie erfüllt. | Soll der Mensch aber weiter gehen, soll ein heiliges Leben in ihm aufgehn so muß nicht das äußre Gesetz als solches betrachtet ihn treiben. Steht er unter dem Gesetze so bleibt er dabei seine Sünde zu erkennen; denn gerecht kann es ihn nicht machen weil er es nicht vollkommen erfüllen kann. Wol übt es ein Ansehn über uns aus aber es kann nicht gerecht machen vor Gott. Mancher mag meinen es könne nicht von allen Gesetzen gelten, daß sie nicht können erfüllt werden, so bleibt doch wahr daß durch die Kraft des Gesetzes das Gesetz nicht kann erfüllt werden. Gesetzt, der Mensch wäre im Stande das Gesetz vollkommen zu erfüllen so wird dadurch doch keiner gerecht, weil keine andere Kraft im Gesetze liegt als die der Furcht vor Strafe welche das Gesetz droht, und die der Hoffnung auf Belohnung welche es verheißt. Der Bewegungsgrund das Gesetz zu erfüllen ist ein äußrer, so kann das Herz dadurch nicht rein und heilig werden. So ist der Mensch auch bei der treusten Erfüllung des Gesetzes nicht gerecht vor Gott, weil Gott das Herz ansieht. – Weil Strafe droht läßt der Mensch was das Gesetz verbietet, sonst würde er es nicht lassen, und weil es Lohn verheißt thut er was es gebietet sonst würde er es nicht thun, so bleibt er in der Liebe und im Haß immer gegen das Gesetz – soll der Mensch vor Gott gerecht werden so muß er erst mit dem Gesetz gehen muß lieben was es gebietet und hassen was es verbietet. Innre Nothwendigkeit muß ihm die Erfüllung sein, dann aber ist das Gesetz kein Gesetz mehr für ihn. Nur in einem Zustande in welchem der Mensch dem Gesetze abgestorben ist kann das Leben der Gerechtigkeit in ihm beginnen, nur dann wenn Furcht und Hoffnung nicht mehr in ihm herschen sondern reiner freier heilger Wille. Ohne Christus aber würden wir nicht im Stande sein zu diesem Zustande zu gelangen. So lasset uns sehen 2. wie denn er uns vom Gesetz erlöst habe. – Im Anfange des Evangeliums des Johannes ist uns gesagt daß er, der vom Vater voller Gnade und Wahrheit kam uns Gnade und Wahrheit brachte. Von da an sollte Gnade und Wahrheit die Stelle des Gesetzes einnehmen. Wie Johannes sagt: das Gesetz ist durch Mosem | gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Christum worden: Wenn wir uns fragen was 9 solches] solcher 2–5 Vgl. Röm 3,20
15 das] daß 22 Vgl. 1Sam 16,7
35–37 Vgl. Joh 1,14
38–39 Joh 1,17
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in der Beziehung Gnade heiße so haben wir dabei nicht an das knechtische Wesen zu denken, welches das Gnade nennt, daß uns die göttlichen Wohlthaten ohne unser Verdienst überkommen, eben so wenig an das was in Beziehung auf das Gesetz Gnade genannt werden kann, und welches nur zerstörend auf dasselbe wirkt weil es die Nichterfüllung duldet. Sondern was Johannes hier mit Gnade meint ist das im göttlichen Wesen welches eine zurückwirkende Kraft auf uns hat. Gnade, Freundlichkeit, Liebe, Barmherzigkeit Gottes ist eins, es ist die Liebe welche in uns Liebe erwekt. Das Leben welches auf uns eine belebende Kraft hat. In Christo hat uns Gott höhere Kraft geschenkt, wie sollten wir ihn der uns so hoch geliebt nicht wieder lieben. Wen wir lieben dem trachten wir ähnlich zu werden, und so wird innres Bedürfniß das Leben der Gerechtigkeit, welches ist die Gemeinschaft mit Gott. Daß Gott uns aufnehmen will in seine Gemeinschaft, daß er mit Christo kommt bei uns Wohnung zu machen, das ist seine Gnade. Darum ermahnt Paulus die Gnade Gottes nicht vergeblich sein zu lassen an uns, und Petrus, indem er sagt: so ihr die Freundlichkeit Gottes geschmekt habt: meint, so ihr die Seeligkeit der Gemeinschaft mit Gott gefühlt habt. – So hat uns auch Christus die Wahrheit offenbart welche mit der Gnade in Verbindung steht. Wahrheit ist, das Bewußtsein des Menschen von dem was da ist, seine innerste Ueberzeugung von dem was wirklich ist. Nun ist durch Christum uns Gott anschaulich gemacht, er selbst sagt: wer mich sieht der sieht den Vater: – Sind wir also durch ihn von dem göttlichen Wesen überzeugt[,] haben wir ihn erkannt, sind wir durch die Gemeinschaft mit ihm uns seiner bewußt, so haben wir die Wahrheit, das Bewußtsein von dem Dasein Gottes, die göttliche Wahrheit. Der innre Trieb des Herzens ist dann auf Gott gerichtet, er selbst ist dann Bewegungsgrund unsers Lebens. | Die Liebe zu Gott also das ist die Gnade und das ist die Wahrheit welche durch Christum uns geworden ist. Wer diese erreicht hat der ist von dem Zustande der Knechtschaft erlöset und wiedergeboren zu dem der Kindschaft Gottes. Indem Gott sich uns mittheilt, wir einen Theil seines Wesens in uns aufnehmen, werden wir seine Kinder. Die der Geist Gottes treibt die sind Gottes Kinder. So ist die Sendung des heiligen Geistes, eins mit der Gnade und Wahrheit, und in dieser Verbindung schließt sich der Kreislauf des Lebens Christi auf Erden. Gnade und Wahrheit begann mit dem Erscheinen und die Sendung seines Geistes war das Vermächtniß Christi. Sollen wir dieses Fest der Erscheinung Christi mit aufrichtiger Freude feiern so kann es nur sein weil wir auch christliche Pfingsten werden feiern können. Lasset das Bewußtsein Gottes uns festhalten und ihn preisen durch welchen uns Gnade und Wahrheit geworden, und immer mehr eins mit ihm werden, 14 Vgl. Joh 14,23 15–16 Vgl. 2Kor 6,1 31–32 Vgl. Röm 8,14
16–17 Vgl. 1Petr 2,3
21–22 Joh 14,9
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damit wir zu der Würde der Kinder Gottes mit ihm emporsteigen. Sein Geist verkläre sich in uns immer herlicher, daß das Himmlische schon hier offenbar werde.
Am 26. Dezember 1819 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Predigt am zweiten Weihnachtstage 1819. |
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2. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,13–14 Nachschrift; SN 596/1, Bl. 1r–12v; Andrae Keine Nachschrift; SAr 53, Bl. 19r–30r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen. Eben diese Worte sind es, die wir zum Grunde unsrer Betrachtung legen wollen; wir lesen sie.
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Lukas 2 v.13.–14. Und alsobald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Herrscharen die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
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Diese Worte, m. g. F., die hier den himmlischen Herrschaaren in den Mund gelegt werden, stehen in offenbarer Verbindung mit der großen Verkündigung, die der Engel des Herrn den Hirten auf dem Felde gegeben hatte: Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Khristus der Herr, in der Stadt Davids. Und so wie sie der gewöhnliche Weihnachtsgruß der Khristen geworden sind, mögen nun auch die himmlischen Herrschaaren sie ausgesprochen haben als einen Wunsch, der die Erscheinung des Herrn bezwekte, oder als eine lobpreisende Verkündigung | dessen, was wirklich geschehen ist, und von dem Augenblik an anheben soll: so müssen wir wohl sagen: wir vermögen uns der Ankunft unsers Erlösers auf Erden mit dem Glauben an ihn, daß er sei der Sohn des lebendigen Gottes, nur dann recht zu erfreuen, wenn wir von ganzem Herzen in diesen Lobgesang einstimmen, wenn das auch unser Gefühl ist, nun sei wirklich Gott in der Höhe die Ehre, 7 war] wir 2–3 Lk 2,14 als Kanzelgruß
13–14 Vgl. Lk 2,11
20 Vgl. Mt 16,16; Joh 6,69
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seit er auf Erden erschienen ist, nun sei wirklich den Menschen Friede und Wohlgefallen. So laßt uns denn dies jetzt mit einander erwägen, ob und inwiefern wir in diesen Lobgesang der himmlischen Herrschaaren einstimmen können. Zweierlei ist es, freilich beides sehr genau mit einander verbunden, was sie verkündigen: die Ehre Gottes in der Höhe, und der Wohlgefällige Friede auf Erden unter den Menschen. So laßt uns denn jetzt jedes einzeln erwägen. I. | Fragen wir uns also, m. g. F., ist das wahr und in welchem Sinne ist es wahr, daß mit der Ankunft des Herrn auf Erden die Ehre Gottes in der Höhe erst recht begonnen hat; fragen wir uns, was wir uns denn unter der Ehre Gottes denken können: so ist das freilich auch nur eine von den menschlichen Arten von dem Ewigen zu reden. Aber was kann denn anders seine Ehre sein als dasjenige, was die lebendigen Wesen, denen er seine Erkenntniß mitgetheilt hat, von ihm und über ihn denken und fühlen? denn das Todte preiset den Herrn nicht. Dasjenige aber, dessen Bewußtsein des Ewigen in seinem vernünftigen Willen lebt, und alles andre Bewußtsein begleitet und beherrschet, das ist, wenn irgend etwas, seine Ehre zu nennen. Und in diesem Sinne also laßt uns fragen: wie denn die Geburt des Herrn der rechte Anfang sei von dieser Ehre Gottes in der Höhe? Da können wir auf der einen Seite nicht | anders als uns lebendig in die Zeit seiner Erscheinung auf Erden zurükversezen. Wie war da der größte Theil der Menschen in den finstersten Aberglauben und in die tiefste Unwissenheit versunken, und wenn auch niemals ganz das Verlangen des menschlichen Herzens den Ewigen zu fassen ausgetilgt werden konnte, so hatte sich doch der größte Theil der Menschen, wie der Apostel es ausdrükt, die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes getrübt und verwandelt in ein irdisches Bild. Und wie so die Vorstellung des Ewigen getheilt war und zersplittert in mannichfaltige unter einander streitende menschliche Gedanken, so können wir freilich nicht sagen, daß dies die Ehre Gottes in der Höhe gewesen wäre, sondern es war die tiefste Schmach des menschlichen Wesens. Sehen wir auf das Eine Volk, welches dazu auf bewahrt war, daß aus seiner Mitte der Erlöser der Welt sollte geboren werden, und unter welchem | sich eben deßwegen und dazu der Name des Einigen Gottes erhalten hatte; allein wir sehen zugleich, wie auf der einen Seite sich dieses Volk dachte Gott als einen eifrigen Gott, der die Mißethat der Väter heimsuchte an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, und vor dessen Zorn alles beben müsse was da lebt, wenn wir 2 dies] dis
28 Vorstellung] Verstellung
15–16 Vgl. Jes 38,18 37 Vgl. Jer 10,10
26–27 Vgl. Röm 1,23
36–37 Vgl. z. B. Ex 20,5
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auf der andern Seite sehen, wie es auf eine beschränkte Weise diesen Gott sich aneignete als den Einigen, wenn gleich über sie erhebend, auf alle Weise ihn doch gegenüber stellend jenen falschen Göttern der Heiden – so müßen wir sagen: auch das war nicht die Ehre Gottes in der Höhe, sondern eine beklagenswerthe Verdunkelung des Lichtes, welches er für die Menschen geschaffen hatte, als er sprach: es werde Licht. Freilich gab es unter diesem Volke und unter jenem Einzelne, die sich zu erheben wußten über die Irrthümer und über die Unwißenheit ihrer Zeit, es gab Einzelne, denen das richtige Gefühl des Einigen und Ewigen laut wurde | in ihrer Brust und der Gedanke an ihn hell im Innern ihres Verstandes, die sich bestrebten mit gewählteren und reineren Worten diese Erkenntniß und dieses freudige Gefühl des Herzens mitzutheilen ihren Brüdern. Aber eben weil es nur Einzelne waren, eben weil das, was in ihnen lebte, die Menge nicht zu durchdringen vermochte, eben weil jenes reinere und edlere Gefühl übertäubt wurde von dem verworrenen Haufen der Menschen und verstummen mußte, so sehr [sich] auch die Wahrheit zu verbreiten strebte gegen den Irrthum: so müssen wir sagen, die Ehre Gottes in der Höhe begann erst, als der erschien der da gekommen ist, um diese große Ungleichheit unter den Menschen, und jenen großen Unterschied einzelner Auserwählter und der großen Menge der Uebrigen aufzuheben, und die Zeit herbeizuführen, wo keiner unter ihnen würde Meister sein, die andern aber Schüler, sondern er allein der Meister, durch ihn alle von Gott gelehrt. Das vermochte Menschenwort nicht, sondern nur das Wort, | welches Fleisch geworden ist; das ewige Wort, das bei Gott war von Anfang, das nur vermochte die Herrlichkeit des Vaters, die er geschaut hatte, so den Menschen kund zu thun, daß auch sie alle das Wort von ihm nehmen könnten und erkennen Gott den Vater, wie er ihn ihnen beschrieb; dieses Fleisch gewordene Wort nur vermochte den Vater herabzuziehen in die Herzen der Menschen, damit er Wohnung machen könnte in denselben. Und von da an, wo er erschienen ist, um mitzutheilen und zu offenbaren den Menschen was der Vater ihm gegeben hat, von dieser Zeit an nun müssen wir nicht sagen, daß immer mehr jene Dunkelheit gewichen ist von dem menschlichen Geschlecht? müssen wir uns nicht freuen darüber, daß fast bis an die äußersten Enden der Erde das Wort von dem Ewigen erschollen ist, und immer mehr sich ihm die Herzen der Menschen geöffnet haben? Und wenn wir | mit einander vergleichen wollen, wie wenig jene früheren unvollkommenen Vorstellungen von dem höchsten Wesen gleichsam im Leben der Menschen Raum einnehmen, wie ihr meistes Thun, ihr Tichten und Trachten doch immer getrennt war und blieb von dem Gedanken an Gott, und nur 24 nur] und 6 Vgl. Gen 1,3
34 dem] den 21–22 Vgl. Mt 23,8
23–24 Vgl. Joh 1,1.14
29 Vgl. Joh 14,23
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bisweilen sie zu den Altären, die der Anbetung höherer Wesen gewidmet waren, hineilten, um sich zu entsündigen für dieses gottesleere Leben und dieses eitle Tichten und Trachten, was sie gewöhnlich trieben, wenn wir dies vergleichen wollen damit, wie jetzt, wo das Wort des Erlösers verbreitet ist, das Bewußtsein Gottes den Menschen durchdringt bis in sein Inneres, wie wir uns, wenn wir uns nur selbst recht prüfen, keinen besonnenen Augenblick unsers Lebens finden, ohne daß unser Herz Gottes gedenke auf diese oder auf jene Weise, wie nun nicht mehr die kurze Zeit, wo das menschliche Gemüth sich ausschließend der Betrachtung Gottes, seiner Werke | und seiner Wege aufthut, im Gegensaz ist mit dem übrigen Leben, welches wir führen, und seinem Antheil an den Dingen dieser Welt, sondern diese Augenblike jetzt nur die höchste Blüthe – oder daß ich mich so ausdrüke – die reifste Frucht eines Lebens sind, in welchem immer und überall, wenn gleich nicht mit derselben Deutlichkeit und Klarheit, der Gedanke Gottes gefühlt wird, und wie jetzt der Fromme vor sich selbst erschrikt, wenn er sich findet in einem Beginnen, das den Gedanken Gottes nicht ertragen kann; wenn wir das überlegen: so müssen wir sagen, nun ist die Ehre Gottes in der Höhe gegründet in den menschlichen Gemüthern, nun ist der Thron seiner Herrlichkeit aufgeschlagen auf Erden; und je mehr wir uns Alles aneignen, was sein Sohn uns geoffenbaret hat, desto mehr sind wir selbst mit unserm gemeinsamen und jeder mit seinem eigenthümlichen Leben nichts anders als die Ehre Gottes in der Höhe. Indem ich dies, m. g. F., ausgesprochen habe als etwas, was da ist, habe ich gewiß | in mancher – und warum sollte ich nicht sagen in jeder? – Brust ein wehmüthiges Gefühl erregt, welches dem widersprechen will, daß dies so sei. Wohl, es soll auch und kann sich der Mensch, der unvollkommne Sohn der Erde, nicht freuen ohne Wehmuth; und wie gewiß wir es ausrufen: „Ehre ist Gott in der Höhe“, ohne dieses Gefühl vermögen wir es nicht. Aber auch dies ist uns das Zeichen, daß wir einer noch innigern Vereinigung mit Gott fähig sind, daß der Höchste noch mehr kommen kann, Wohnung zu machen in unserm Herzen, und daß wir noch mehr uns selbst und unser ganzes Dasein ihm heiligen können. Und um daran mit voller Freude zu denken, um jene Wehmuth des fühlenden Herzens in Freude des Himmels zu verkehren, dürfen wir uns nur zu dem wenden, dessen Geburt wir in diesen festliche Tagen mit einander feiern; denn er ist es, aus dessen Fülle wir alle nehmen | können Gnade um Gnade, Wahrheit um Wahrheit, er ist es, der immer mehr die Herzen der Gläubigen seinem Vater verklären will, wie er durch ihn von Anfang verklärt worden ist – nur zu ihm dürfen wir gehen, um zu wachsen in der Seligkeit, so daß dadurch die Herrlichkeit und die Ehre Gottes in der Höhe zunehme unter uns. 30–31 Vgl. Joh 14,23
35–36 Vgl. Joh 1,16
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II. Und nur nachdem ich dies bevorwortet habe, wage ich es den zweiten Theil unserer Betrachtung zu entwikeln. Denn die Worte: „Friede auf Erden“, o wie viel weiter ist es noch entfernt, daß wir diese sollten aussprechen können als etwas das da ist unter uns. Und doch, m. g. F., doch hat der Erlöser den großen Namen Friedensfürst von Anbeginn an geführt. Und wenn er gleich selbst sagt: „ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“, so hat er das in einem solchen Zusammenhange gesagt, daß wir deutlich sehen, er hat nur jene ersten Zeiten der Verkündigung des Evangeliums gemeint | wo der alte hergebrachte Gehorsam an dem unvollkommenen Gesez auf der einen Seite, und der sündliche Wahn der verirrten heidnischen Gemüther auf der andern gegen die Wahrheit des Evangeliums kämpfen würde mit dem äußeren irdischen Schwert. Aber daß sein Reich ein Reich des Friedens sein sollte, daß, wo er sich mitten unter den Seinigen fand, das sein Wort war: „meinen Frieden gebe ich euch, meinen Frieden lasse ich euch“, das hat uns so oft schon erfreulich und tröstlich in unserm Herzen geklungen. Aber wie? ist denn das Reich des Erlösers selbst, diese so weit verbreitete Kirche, die seinen Namen führt, ein Reich des Friedens? Wie? müssen wir nicht sagen und gestehen, es ist noch immer die Fülle des Streites und der Zwietracht unter den Menschen, ohnerachtet er gekommen ist, ihnen den Frieden zu bringen, ja nicht nur ohnerachtet, sondern wir müssen sogar sagen, sein Wort selbst und der Glaube an ihn hat den Menschen eine neue Quelle werden müssen des Kampfes und Streites. | Und der Geist, das lebendige Wort des Friedefürsten selbst, hat aufs neue den Frieden aus dem menschlichen Herzen verdrängt. O in welche Ferne, können wir sagen, müssen jene himmlischen Herrschaaren gesehen haben, als sie sprachen: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“! O wie viele Geschlechter werden noch vergehen müssen wie viele schon vergangen sind seit der Erscheinung des Erlösers, ehe diejenigen aufstehen werden aus dem Schoße der Erde, die das Reich des Friedens schauen! Aber wie m. g. F., sollten wir nicht auch hier wieder ein tröstliches Bild finden? Jene Worte des Erlösers: „meinen Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch“, sollten sie nicht wahr geworden sein unter uns, und schon lange Zeit wahr gewesen unter denen, die an seinen Namen glauben? Wir können nicht anders als dies freudig bekennen, wenn wir nur zuerst von dem allgemeinen Getümmel der Welt unsern Blik in das Innere | der einzelnen Gemüther zurükziehen. Wie? müssen wir ihm nicht das Zeugniß geben, m. g. F., daß, so oft wir seiner gedenken, so oft er, der Fürst des Friedens, unserm Herzen nahe ist und gegenwärtig, o so oft vertreibt er aus 6 Namen] Mann 6 Vgl. Jes 9,5
7–8 Vgl. Mt 10,34
15–16 Vgl. Joh 14,27
32–33 Vgl. Joh 14,27
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der Seele, die bestimmt ist ein Tempel des Friedens zu sein, allen Streit und Hader, wie er einst in heiligem Eifer aus dem Hause seines Vaters diejenigen stieß, die irdisches Wesen darin zu treiben gekommen waren? Denn nichts anders ist alle Zwietracht und aller Streit als jenes irdische Wesen, das sich in den Tempel Gottes, wo er mit seinem Geiste wohnen will, gewaltsam hineingedrängt. Betritt aber der Erlöser das Haus seines Vaters, kehrt der Friedefürst ein in die gläubige Seele, o so vertreibt er, was Zwietracht und Hader in ihr angerichtet hat, gleich bei seinem Eintritt heraus; und so gewiß sie eine gläubige ist die liebevolle, die seinen Geist aufgenommen hat, so gewiß kehrt auch der Friede in sie ein. Und eben so, m. th. F., wenn wir mit dieser Ueberzeugung gestärkt durch das Bewußtsein, wie viel seligen Frieden wir auf | diese Weise schon selbst geschmekt haben durch den, der der Fürst des Friedens ist, unsre Blike zurükwerfen auf die Welt und das Reich Khristi auf der Erde, o so werden wir doch vermögen mit festem Glauben zu sagen, auch unter den Menschen im Allgemeinen, auch auf der Erde überall in dem Maße, als sie jetzt schon des Herrn ist, ist der Friede gegründet. Gehen wir zurük in die früheren Zeiten vor der Erscheinung des Herrn, so müssen wir sagen: es war nicht einmal der Wunsch nach dem Frieden in den Herzen der Menschen aufgegangen; jedes Volk, jedes Geschlecht der Menschen lebte ein feindliches Leben; das Gefühl, daß alle Menschen Brüder seien und alle geeint durch den Einen, von welchem sie kommen, dieses Gefühl war der menschlichen Brust fast überall fremd; und wie es nur einzelne Wenige waren, in denen sich das Bewußtsein des höchsten Wesens erhalten und befestigt und fortgepflanzt hatte, so auch waren es immer nur einzelne Wenige, die da fähig waren | den Gedanken des Friedens zu fassen. Aber nun m. g. F., seit er erschienen ist auf Erden, können wir nicht leugnen, daß der Wunsch des Friedens in den Seelen der Menschen wieder und allgemein lebendig geworden ist. Seit sie gelernt haben in ihm alle sich Brüder zu nennen und als Brüder sich zu fühlen, o so führen alle diejenigen, die sich diesem Gefühl geöffnet haben, den Unfrieden, den Hader, den blutigen Zwist niemals ohne das wehmüthige Gefühl, daß unter ihnen ist, was nicht sein soll. Und so kommt der Friede immer mehr aus dem innersten Herzen der Menschen in ihr gemeinsames Leben; so lernen sie immer mehr sich alles dessen schämen, was die Fakel der Zwietracht aufs neue unter ihnen anzünden will; so lernen sie immer mehr mit mildem Sinne unter sich schlichten und brüderlich vertragen, was sonst nur durch die Schärfe des Schwertes entschieden werden konnte. Und so ist auch von dieser Seite | das Herz wieder beruhigt und wir können 5 gewaltsam] gewaldsam 2–3 Vgl. Mt 21,12–13; Mk 11,15–17; Lk 19,45–46; Joh 2,14–16
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fühlen die Wahrheit des Wortes, daß durch ihn Friede auf Erden und Wohlgefallen den Menschen geworden ist. Nur Eins m. g. F., wovon ich schon vorher geredet habe, ist noch nicht beseitigt, und da scheint jene Wehmuth, die jedes erhebende Gefühl unserer Brust niederdrükt, ihren festen Siz aufgeschlagen zu haben, nämlich daß der Glaube an den Fürsten des Friedens selbst, das Bestreben ihn zu verherrlichen unter den Menschen, das Bestreben sein Wort in der größten Reinheit darzustellen und aufzufassen, von Anbeginn fast seit der Gründung seiner Kirche eine Veranlassung zum Hader und Streit gewesen ist. Ja m. g. F., das gehört mit zu dem Geheimniß, daß das Wort Fleisch geworden ist; aber es ist freilich die wehmüthige, die betrübende Seite dieses Geheimnisses, daß in ihm zwar das Wort Fleisch geworden ist, so daß er in Allem unser Bruder aber ausgeschlossen war auf alle Weise von der Sünde, in allen andern Menschen aber, eben weil sie nur Menschen sind und Söhne der Erde, und weil der Geist Gottes nur allmälich ihr Herz zu reinigen vermag, auch das Wort | selbst Theil nehmen muß nicht nur an der Schwachheit, sondern auch an der Sünde, weil bei uns keine Schwachheit ist ohne Sünde. Aber eben dies, m. th. F., wie es uns erschüttern muß auf das gewaltigste, so soll es uns auch auf das tiefste aufregen. Können wir uns das nicht bergen, so ist der Mensch, sofern er Fleisch ist, versenkt in die Unvollkommenheit alles Irdischen und alles dessen, was noch so tief unter ihm ist, so versunken in den Unfrieden, den wir überall auf dem Gebiete des Lebens sehen, daß auch das Heiligste, was er besitzt, daß auch das Wort Gottes selbst ihm eine Veranlassung zum Unfrieden wird; fühlen wir daß dies nicht anders sein kann, und müssen wir sagen, was freilich der Mensch oft nur böse meint, oder was mit dem Bösen in ihm zusammenhängt und daraus hervorgeht, das wendet der Herr immer und überall zum Guten, und auch aus diesem verderblichen und beklagenswerthen Unfrieden ist doch immer wieder aufs neue gereinigt das Wort Gottes hervorgegangen, müßen wir das sagen, tieffühlend die Unvolkommenheit des Irdischen auf der einen Seite, aber auch getröstet durch die alles durchdringende | göttliche Milde und Barmherzigkeit auf der andern – so müssen wir sagen, wie viel mehr werden wir zu hüten haben alles Andre, was dem Menschen gegeben ist, daß es nicht eine Quelle des Unfriedens und der Zwietracht werde. – Und wenn wir darauf zu sehen haben, wie wir doch Rechenschaft Gott geben müßen von den Gaben, die er uns verliehen hat, und wie wir sie eigentlich verwalten müssen von diesen heiligsten an bis zu den gewöhnlichsten, daß der Unfriede nicht aufs neue entstehe im Reiche des Friedens, und daß nicht alles, was dem Menschen zu seinem Frieden und zu seiner Seligkeit 36 eigentlich] eigenlich 10–11 Vgl. Joh 1,14
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gegeben ist, ihm zum Verderben gereiche, eben wenn und weil es den Unfrieden erzeugt; und wenn wir mit diesen Gedanken den Erlöser aufs neue bewillkommen auf der Erde; wenn wir bedenken, wie auch er, so lange er auf Erden wandelte, gelitten hat, unter dem Unfrieden der Menschen, wie er aber auch leiden mußte auf alle Weise, nicht nur um zu seiner Herrlichkeit einzugehen, sondern auch um den Menschen seinen Brüdern überall den Frieden zu geben: o so laßt uns dies auf uns selbst anwenden, und es uns oft vorhalten. Ja das | wird und kann uns allen nicht fehlen, und jemehr wir streben dem Erlöser ähnlich zu werden, desto mehr werden wir in der Gemeinschaft seiner Leiden ihm ähnlich sein. Das kann uns nicht fehlen, daß wir zu leiden haben unter dem Unfrieden, der die Welt beherrscht; es kann uns nicht fehlen, daß wir drükend zu leiden haben, daß wir selbst wie er mit dem Bestreben den Frieden zu gründen und auszutreiben als die Thäter des Unfriedens erschienen. O wenn nur wie in seiner so in unsrer Brust sein Friede wohnt, wenn nur nicht bis in unser Inneres der Hader und der Zwiespalt sich einschleicht, dann können wir sicher sein auf seinen Wegen zu gehen, und nicht nur mit Muth, sondern auch mit dem freudigen Bewußtsein des inneren Friedens dem äußern Unfrieden entgegengehen, mit der seligen Gewißheit, daß eben wie der Erlöser so jeder wahrhaft an ihn glaubende und ihn innig liebende Khrist, wenn er unter die Freunde des Erlösers tritt, entfernt von dem | Getümmel der Welt, Frieden in ihre Seele bringt, und den Frieden des Herrn in dem ihrigen fühlt. Und so gewiß der Fürst des Friedens, indem er diesen inneren Frieden des gläubigen Herzens brachte, den Frieden der Welt gegründet hat, dem wir mit festem zuversichtlichem und lebendigem Glauben immer näher zu kommen überzeugt sind, so gewiß können wir fühlen die Wahrheit des Wortes, daß nur durch ihn der wohlgefällige Friede gekommen ist unter die Menschen. O daß ihr Leben immer mehr sich möchte in das seinige gestalten, der da gekommen ist, um mit mildem Stabe des Friedens und der Liebe ihre Seelen zu reinigen! Möchte seine Liebe immer eher jeden andern Wunsch aus ihrem Herzen vertreiben, als nur den Einen, das Heil zu finden und im reichsten Maße zu genießen, welches in dem Frieden liegt, den er gebracht hat. Dann wird das Wort jener himmlischen Herrscharen immer in unserm Munde sein; dann wird es mit freudigem Herzen ertönen „Ehre ist Gott in der Höhe, Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen;“ dann werden wir immer mehr fühlen, wie jedes Wort, was sein ist und von ihm, | ewige Wahrheit ist, eine Wahrheit, die sich von Tage zu Tage immer heller verklärt denen, die an ihn glauben. Amen. Preis und Dank dir, gütiger Gott, der du uns gesandt hast den, der dich, den Vater des Lichtes, in unserm Herzen verklärt und seine Herrlichkeit 27 wohlgefällige] wohlgefälligen
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angezündet hat auf Erden, daß du uns den gesandt hast, der der entzweiten Erde den Frieden mit dir und den inneren Frieden des Herzens und den seligen Frieden seiner Gläubigen gebracht hat. O daß durch ihn das Reich des Friedens immer fester gegründet werde und immer weiter sich ausbreite, und daß so von einem Jahre zum andern reiner werde die Freude, mit welcher wir ihn aufs neue bei seiner Ankunft auf Erden begrüßen, und das Gefühl unsers Herzens immer ähnlicher jenem himmlischen Lobgesang. Ja Vater, wie du ihn uns gegeben hast, so verkläre ihn in unserm Herzen, und komm mit ihm Wohnung zu machen in unserm Herzen. Amen.
[Liederblatt vom 26. Dezember 1819:] Am zweiten Weihnachtstage 1819 Vor dem Gebet. – Mel. Kommt her zu mir etc. [1.] Gepriesen sei die große Nacht, / Die uns das heilge Kind gebracht, / Das Kind voll Lieb und Treue, / Mit Wemuth schaut es auf uns hin, / Enthüllt uns seines Vaters Sinn, / Daß sich der Bund erneue. // [2.] Es spricht zu uns mit süßem Ton, / „Ich bin des Vaters lieber Sohn, / Und will euch ewig halten, / Ihr ward verwaist, jetzt seid ihrs nicht, / Die Erde grünt, ein neues Licht / Wird ihre Schön’ entfalten. // [3.] Ihr Müden hörts, und kommt zu mir, / Ich bin die einzig rechte Thür, / Zum stillen Friedensthale, / Bleibt nur in mir, wie ich in euch, / Daß düstrer Gram und Kummer fleuch, / Vom frohen Lebensmahle.“ // [4.] Gepriesen sei der neue Bund! / Wir waren todt, und sind gesund / Aus finsterm Grab erstanden! / Die Liebe dringt von Land zu Land, / Wir reichen uns die Bruderhand, / Befreit von allen Banden. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Vom Himmel hoch etc. [1.] Dies ist der Tag von Gott gemacht, / Sein werd in aller Welt gedacht; / Ihn preise, was durch Jesum Christ / Im Himmel und auf Erden ist. // Chor. [2.] Die Völker haben dein geharrt, / Bis daß die Zeit erfüllet ward, / Da sandte Gott von seinem Thron, / Das Heil der Welt, dich seinen Sohn. // Gemeine. [3.] Wenn ich dies Wunder fassen will, / So steht mein Geist vor Ehrfurcht still, / Er betet an, und er ermißt / Daß Gottes Lieb’ unendlich ist. // Chor. Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß, Gott ist offenbaret im Fleisch. // 9–10 Vgl. Joh 14,23
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Recitat. In unserm Fleisch erscheinst du Herr der Welt, / Wirst arm und schwach zur Rettung deiner Kinder, / Erfüllst der ewgen Weisheit Rath, / Das Himmelreich erschließest du uns wieder, / Wer Glaubensvoll gehofft, kann jezo dich empfangen, / Du kennst und stillst sein sehnendes Verlangen. // Arie. O selig, wem sein Gott gewähret, / Den Heiland, den das Herz begehret, / Den Göttlichen zu sehn! / Mit sehnsuchtvollen Thränengüssen, / Tief hingebeugt zu seinen Füßen, / Ihn dankend zu erhöhn! // Chor. Daran ist erschienen die Liebe Gottes gegen uns, daß Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, daß wir durch ihn leben sollen. // [4.] Zu retten eine Sündenwelt, / Erscheinst du Friedefürst und Held, / Wirst unser Freund und Bruder hier, / Und Gottes Kinder werden wir. // Gemeine. [5.] Gedanke voll von Majestät, / Du bist es der das Herz erhöht! / Gedanke voll von Seligkeit, / Du bist es der das Herz erfreut! // [6.] Durch Eines Sünde fiel die Welt, / Ein Mittler ists der sie erhält! / Was zagt der Mensch, wenn der ihn schüzt, / Der in des Vaters Schooße sizt? // [7.] Jauchzt Himmel, die ihr ihn erfuhrt, / Den Tag der heiligen Geburt! / Und Erde, die ihn heute sieht, / Sing ihm dem Herrn ein neues Lied. // Nach der Predigt. – Mel. Wir Christenleut etc. [1.] Rath Kraft und Held, / Durch den die Welt, / Und alles ist im Himmel und auf Erden! / Die Christenheit, / Preist dich erfreut, / Und aller Knie soll dir gebeuget werden. // [2.] Erhebt den Herrn, / Er hilft uns gern, / Und wer ihn sucht, den wird sein Name trösten. / Hallelujah, / Hallelujah, / Freut euch des Herrn, und jauchzt ihm ihr Erlösten! //
Verzeichnisse
Editionszeichen und Abkürzungen Das Verzeichnis bietet die Auflösung der Editionszeichen und Abkürzungen, die von Schleiermacher und den Bandherausgebern sowie in der zitierten Literatur benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten, im Kopftext zu den einzelnen Predigten oder im Literaturverzeichnis erfolgt. Nicht verzeichnet werden die Abkürzungen, die für Vornamen stehen. Ferner sind nicht berücksichtigt Abkürzungen, die sich von den aufgeführten nur durch das Fehlen von Abkürzungspunkten oder Spatien, durch Klein- bzw. Großschreibung oder die Flexionsform unterscheiden. | /
// [] ] )* PS [] 1Joh 1Kön 1Kor / 1Cor / 1 Corinth. 1Makk / I. Makkab. 1Petr / 1. Petr. / 1. Petri 1Sam 1Thess 1Tim 2Kor 2. Pet. / 2Petr / 2. Petr. 2Tim Abk. Apg / Apostgesch.
Seitenwechsel Zeilenwechsel in Liedern, Markierung zwischen Band und Teilband, zwischen mehreren Editoren, zwischen Erscheinungsorten, zwischen Reihengliedern Absatzwechsel in Liedern Ergänzung des Bandherausgebers Lemmazeichen Streichung unsichere Lesart Lücke im Manuskript Der erste Brief des Johannes Das erste Buch der Könige Der erste Brief des Paulus an die Korinther Das erste Buch der Makkabäer Der erste Brief des Petrus Das erste Buch Samuel Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher Der erste Brief des Paulus an Timotheus Der zweite Brief des Paulus an die Korinther Der zweite Brief des Petrus Der zweite Brief des Paulus an Timotheus Abkürzung Die Apostelgeschichte des Lukas
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Verzeichnisse
Apr. Aufl. Augbl. / Augenbl. Aug. a. Z.
April Auflage Augenblick August andächtige Zuhörer
Bair. Ges. B. Bd. Bl. Brem. Ges. B. Bresl. Ges.
Baierisches Gesangbuch Band Blatt Bremer Gesangbuch Breslauer Gesangbuch
c. C. / Cap. cet.
cuius Capitulum (Kapitel) cetera
Dan Dec. / Dez. d. h. d. i. Dr. Dresd. Ges. b. Dtn
Das Buch Daniel Dezember das heißt das ist Doktor Dresdener Gesangbuch Deuteronomium (Das fünfte Buch Mose)
ed. / edd. Eph / Ephes. Epiph. etc. Ev. / Evang. Ex
edidit / ediderunt Der Brief des Paulus an die Epheser Epiphanias et cetera (und so weiter) Evangelium Exodus (Das zweite Buch Mose)
f. Febr. Fr. Freil. Ges. B. / Freilingsh. Gesangb.
folgende Februar Freunde Freylingshausensches Gesangbuch
Gal / Galat. gel. Gemeinsch. Gen Gesangb. d. Br. Gem. / Ges. B. d. Brr. Gem. Ges. B. gest. g. Fr.
Der Brief des Paulus an die Galater geliebte Gemeinschaft Genesis (Das erste Buch Mose) Gesangbuch der Brüdergemeine Gesangbuch gestorben geliebte Freunde
Editionszeichen und Abkürzungen Hebr hl. Hiob
Der Brief an die Hebräer heilig Das Buch Hiob (Ijob)
Invocav.
Invocavit
J. Jak Jan. Jauer. / Jauersch. Ges. B. / Jauris. Ges. B. Jer / Jerem. Jes Jg. Joel Joh / Ev. Joh. Jos
Jahr Der Brief des Jakobus Januar Jauersches Gesangbuch Der Prophet Jeremia Der Prophet Jesaja Jahrgang Der Prophet Joel Das Evangelium nach Johannes Das Buch Josua
Kap. KGA Kj Kol / Coloss.
Kapitel Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe Konjektur Der Brief des Paulus an die Kolosser
Liegn. Ges. B. Lk / Luc. / Luk. / Ev. Luc.
Liegnitzsches Gesangbuch Das Evangelium nach Lukas
m. m. a. F. / m. a. Fr. / m. and. F. m. a. Z. Mel. m. F. / m. Fr. m. Gel. m. g. F. / m. g. Fr. / m. gb. Fr. / m. gel. Fr. Mis. Dom. Mk / Marc. Mt / Matth. / Ev. Matth. m. Th. m. th. F. / m. th. Fr. / m. theur.
meine meine andächtigen Freunde
n. nachm.
meine andächtigen Zuhörer Melodie meine Freunde meine Geliebten meine geliebten Freunde Misericordia Domini Das Evangelium nach Markus Das Evangelium nach Matthäus meine Theuren meine theuren Freunde
nach nachmittags
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Verzeichnisse
Nl No. Nov. Nr. n. Trin. / n. Trinit. Num
Nachlass Numero (Nummer) November Nummer nach Trinitatis
Oct. Offb
Oktober Die Offenbarung des Johannes
p. Palm. p. epiph. Phil / Philipp. Phlm pp. Pred Prof. Ps
perge (und so weiter) Palmarum post epiphaniam Der Brief des Paulus an die Philipper Der Brief des Paulus an Philemon perge perge (und so weiter und so weiter) Der Prediger Salomo (Kohelet) Professor Psalm
Quasim.
Quasimodogeniti
r Rec. Riga. Ges. B. Röm
recto (Vorderseite bei Blattangaben) Rezensent Rigaer Gesangbuch Der Brief des Paulus an die Römer
S. S. nach Trinit. Sach SAr
Seite Sonntag nach Trinitatis Der Prophet Sacharja Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Schleiermacher-Archiv, Depositum 42a (mit folgender Angabe der Mappennummer) Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz scilicet Septuagesimae Seraphinen Sexagesimae Schleiermacher-Nachlass (= Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Nachlass F. D. E. Schleiermacher) Sonntag nach Epiphanias Sonntag nach Trinitatis sogenannt Sprüche / Sprichwörter Salomos (Proverbia)
SBB sc. Septuages. Seraph. Sexag. SN SnE SnT / Sonnt. n. Trin. sog. Spr
Numeri (Das vierte Buch Mose)
Editionszeichen und Abkürzungen sqq. Stett. Ges. B. SW
sequentes (folgende) Stettiner Gesangbuch Schleiermacher: Sämmtliche Werke
Tit Trin. / Trinit.
Der Brief des Paulus an Titus Trinitatis
u. u. f. u. s. w.
und und folgende und so weiter
v v. vermutl. Vf. vgl. vorm.
verso (Rückseite bei Blattangaben) versus (Vers) / von / vor vermutlich Verfasser vergleiche vormittags
z. B. zwanzigst.
zum Beispiel zwanzigster
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Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Schriften auf, die in Schleiermachers Texten, den editorischen Beigaben (Apparaten und Predigtkopftexten) und in der Einleitung der Bandherausgeber genannt sind. Die jeweiligen Titelblätter werden nicht diplomatisch getreu reproduziert. Folgende Grundsätze sind besonders zu beachten: 1. Verfasser- und Ortsnamen werden in einer heute üblichen Schreibweise angegeben. 2. Ausführliche Titel können in einer sinnvollen Kurzfassung angeführt werden, die nicht als solche gekennzeichnet wird. Entsprechendes gilt für die Archivalien. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so werden die Gesamtausgaben vorangestellt. Alle anderen Titel werden chronologisch angeordnet. 4. Bei anonym erschienenen Werken wird der Verfasser in eckige Klammern gesetzt. Lässt sich kein Verfasser nachweisen, so erfolgt die Einordnung nach dem ersten Titelwort unter Übergehung des Artikels. 5. Bei denjenigen Werken, die für Schleiermachers Bibliothek nachgewiesen sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern die Angabe „SB“ (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek) mit der Listennummer hinzugefügt. 6. Die im Band benutzten Archivalien werden gesammelt im Anschluss an die Druckschriften aufgeführt, geordnet nach Archiven und deren innerer Systematik.
* * * Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5, Leipzig 1774–1786 [SB 8] Albrecht, Christoph: Schleiermachers Liturgik. Theorie und Praxis des Gottesdienstes bei Schleiermacher und ihre geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, Veröffentlichungen der Evangelischen Gesellschaft für Liturgieforschung 13, Göttingen 1963 Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle/Leipzig 1785–1849 [vgl. SB 2234]
Literatur
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Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30sten October von ihr zu haltende Abendmahlsfeier, Berlin 1817 Amts-Blatt der Königlich-Preußischen Regierung zu Berlin, Jg. 2, 1817 Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam, Jg. 2, 1817 Annalen der Preußischen innern Staats-Verwaltung, ed. Karl Albert von Kamptz, Bd. 1–23, Berlin 1817–1839 Arndt, Andreas/Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Schleiermacher-Archiv 11, Berlin/New York 1992 Aus Schleiermacher’s Leben: s. Schleiermacher Bibliothek deutscher Canzelberedsamkeit, Bd 1–20, Gotha [u.a.]/New York 1827–1835 Deegen, Johann Mathias Daniel Ludwig: s. Jahrbüchlein Entwurf der Synodalordnung für den Kirchenverein beider evangelischen Confessionen im Preußischen Staate, o. O. o. J. [Berlin 1817] Foerster, Erich: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenbildung im deutschen Protestantismus, Bd. 1–2, Tübingen 1905–1907 Franke, Richard: Zur Geschichte und Beurteilung des Totensonntags. Mit Berücksichtigung heidnischer Totenfeste und des katholischen Allerseelentages, in: „Halte was du hast.“ Zeitschrift für Pastoral-Theologie, Jg. 12, Berlin 1899, S. 14–28.66–81 Geck, Albrecht: Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzungen um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen (1799–1823), Unio und Confessio 20, Bielefeld 1997 Geistliche und Liebliche Lieder, Welche der Geist des Glaubens durch Doct. Martin Luthern, Johann Hermann, Paul Gerhard, und andere seine Werkzeuge, in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen Der Königl. Preuß. und Churfl. Brandenburg. Lande bekannt, und mit Königl. Allergnädigster Approbation und Privilegio gedrucket und eingeführet worden; Nebst Einigen Gebeten und einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 1811 Graff, Paul: Beiträge zur Geschichte des Totenfestes, in: Monatschrift für Pastoraltheologie zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens, Jg. 1, Berlin 1905, S. 62–76 Heinrici, Georg: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889 Herz, Geist und Leben des Menschen, oder Worte der Liebe und Wahrheit über die wichtigsten Vorfälle und Beziehungen des Erdenbürgers. Aus
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Verzeichnisse
den Werken der vorzüglichsten deutschen Kanzelredner, ed. J. T. Unger, Prag 1834 Hoffmann, Heinz: Totengedächtnis und Totenfeier am Anfang des 19. Jahrhunderts. Quellen und Dokumente im Zusammenhang mit der Einführung des Totenfestes in Preußen 1816 (Typoskript), o. O. 1976 Jahrbüchlein der deutschen theologischen Literatur, verfaßt und herausgegeben von J. M. D. L. Deegen, Pastor der evangelischen Gemeinde zu Kettwig, Bd. 1–7, Essen 1819–1830 Jungklaus, Rudolf: Wie die Ereignisse der Freiheitskriege zu ihrer Zeit in Berlin kirchlich gefeiert worden sind, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte, Jg. 11–12, Berlin 1914, S. 304–330 Kamptz, Karl Albert von: s. Annalen Lenz, Max: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1–3 in 4, Halle 1910 Meckenstock, Günter: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlags G. Reimer, Zweite Auflage, in: Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 15, S. 637–912 Meding, Wichmann von: Kirchenverbesserung. Die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817, Unio und Confessio 11, Bielefeld 1986 : Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, SchleiermacherArchiv 9, Berlin/New York 1992. Neue Theologische Annalen, ed. J. F. L. Wachler, Frankfurt am Main 1798– 1823 [SB 1359] Platon: Werke, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Bd. 1–2 in 5, 2. Aufl., Berlin 1817–1826 [SB 2458] Porst, Johann: s. Geistliche und Liebliche Lieder Reetz, Dankfried: Schleiermacher im Horizont preussischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002 Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Schleiermacher-Archiv 12, Berlin/New York 1992 Rezension von: Nachricht von der Bestattung des Predigers an der Gertrudskirche Dr. (Just. Gottfried) Hermes, nebst der an seinem Sarge von dem Professor, Dr. Schleiermacher, gehaltenen Rede, Berlin b. Reimer 1819, in: Neue Theologische Annalen 1820, ed. J. F. L. Wachler, Bd. 1, S. 113
Literatur
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Rezension von: Predigt am zweyten Tage des Reformations-Jubelfestes in der Dreyfaltigkeitskirche gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin 1818. – Predigt am 18. Weinmond (des Weinmonds) 1818. in derselben Kirche gesprochen von Schleiermacher. B. 1819. – Predigt am ersten Adventsonntag 1819. Gesprochen von Schleiermacher. B. 1820., in: Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1820, herausgegeben von einer Gesellschaft Gelehrter und besorgt von Christian Daniel Beck, Erster Band, 5. Stück, Leipzig 1820, S. 384 : Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1820, Vierter Band. Die Ergänzungsblätter dieses Jahrgangs enthaltend, Halle/Leipzig 1820, Sp. 591–592 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Sämmtliche Werke, 3 Abteilungen, 30 Bde. in 31, Berlin 1834–1864; Abt. II. Predigten, Bd. 1–4; 2. Aufl., Berlin 1843–1844 : Kritische Gesamtausgabe, edd. H.-J. Birkner/H. Fischer/G. Meckenstock u. a., bisher 4 Abteilungen, 37 Bde. in 41, Berlin/New York 1980ff : Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804 : Glückwünschungsschreiben an die Hochwürdigen Mitglieder der von Sr. Majestät dem König von Preußen zur Aufstellung neuer liturgischer Formen ernannten Kommission, Berlin 1814 : Predigten. [Erste Sammlung], 3. Aufl., Berlin 1816 : Ueber die neue Liturgie für die Hof- und Garnison-Gemeinde zu Potsdam und für die Garnisonkirche in Berlin, Berlin 1816 : Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung. Einige Bemerkungen vorzüglich der protestantischen Geistlichkeit des Landes gewidmet, Berlin 1817 : Ueber die Schriften des Lukas, ein kritischer Versuch. Erster Theil, Berlin 1817 : Predigt am zweiten Tage des Reformations-Jubelfestes in der Dreifaltigkeits-Kirche gesprochen, Berlin 1818 : Nachricht von der Leichenbestattung des wohlseligen Predigers an der St. Gertraudts-Kirche zu Berlin Dr. Hermes nebst der an seinem Sarge von dem Professor Dr. Schleiermacher gehaltenen Rede, Berlin 1819 : Predigt am 18ten Weinmond 1818 in der Dreifaltigkeits-Kirche gesprochen, Berlin 1819 : Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher, in: Reformations Almanach auf das Jahr 1819, ed. F. Keyser, Erfurt [1819], S. 335–381 : Ueber die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen, in: Theologische Zeitschrift, Erstes Heft, Berlin 1819, S. 1–119 : Predigt am ersten Adventsonntag 1819, Berlin 1820
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Verzeichnisse : Predigten. Vierte Sammlung. Predigten über den christlichen Hausstand, Berlin 1820; 2. Aufl. 1826; 3. Aufl. 1842; 4. Aufl. 1860 : Christliche Festpredigten. Erster Band, Berlin 1826 : Predigten, Sammlung 1–7, Reutlingen 1835 [nach der Ausgabe ‚Sämmtliche Werke‘] : Schleiermacher’s christliche Lebensanschauungen, in einer Blüthenlese aus seinen Kanzelvorträgen für die Gegenwart dargebracht von Albert Baur, Prediger zu Belzig, Weimar 1846 (Nachdruck Leipzig 1868/1882) : Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, ed. J. Frerichs, SW I/13, Berlin 1850 : Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852 : Friedrich Schleiermacher’s literarischer Nachlaß. Predigten, Sechster Band, ed. A. Sydow, SW II/10, Berlin 1856 : Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1–2, 2. Aufl., Berlin 1860; Bd. 3–4, edd. L. Jonas/W. Dilthey, Berlin 1861–1863 (Nachdruck Berlin/New York 1974) : Hausandachten aus Schleiermacher’s Predigten, in täglichen Betrachtungen nach der Ordnung des Kirchenjahres zusammengestellt von Franz Remy, Bd. 1–2, Berlin 1861–1862 : Sämmtliche Werke, Reihe I. Predigten [einzige], Bd. 1–5, ed. E. Grosser, Berlin 1873–1877; 2. Aufl., Bd. 1, 1876 : Pädagogische Schriften, ed. C. Platz [2. Aufl. von SW III/9, ergänzt um die drei Predigten zur Kinderzucht], Langensalza 1876; 3. Aufl. 1902 (Nachdruck Osnabrück 1968) : Auswahl seiner Predigten, Homilien und Reden, ed. von W. v. Langsdorff, Die Predigt der Kirche. Klassikerbibliothek der christlichen Predigtliteratur, Bd. 7, Leipzig 1889 : Eine Auswahl aus seinen Predigten, Reden und Briefen, ed. C. Stage, Religiöse Volksbibliothek I,5, Berlin 1893 : Aus einer bisher unbekannten Predigt Schleiermachers vom Sonntag Invocavit, 8. Februar 1818, ed. J. Bauer, in: Die Christliche Welt, Jg. 24, 1910, Nr. 6 vom 10.02.1910, S. 121–123 : Über Freundschaft, Liebe und Ehe. Eine Auswahl aus Schleiermachers Briefen, Schriften und Reden, ed. A. Saathoff, Halle [1910] : Werke. Auswahl in vier Bänden, edd. O. Braun/J. Bauer, Bd. 1–4, Leipzig 1910–1913; 2. Aufl., 1927–1928 (Nachdruck Aalen 1967/1981) : Predigten über den christlichen Hausstand, ed. J. Bauer, Leipzig 1911 : Friedrich Schleiermacher, ed. R. Wickert, Greβlers Klassiker der Pädagogik, Bd. 28, Langensalza 1912 : Kant und Schleiermacher als Pädagogen. Eine Auswahl aus ihren Schriften, ed. H. Barckhausen, Pädagogische Schriftsteller, Bd. 17, Bielefeld/Leipzig 1914 : Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe, ed. H. Meisner, Bd. 1–2, Gotha 1922–1923
Literatur
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: Kleine Schriften und Predigten, edd. H. Gerdes/E. Hirsch, Bd. 1–3, Berlin 1969–1970 : Predigten, ed. H. Urner, Berlin 1969 Schmidt, Bernhard: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, Schleiermacher-Archiv 20, Berlin/New York 2002 : Schleiermachers Liederblätter 1817. Edition, Analyse und Kommentar eines einzigartigen Phänomens, Schleiermacher-Archiv 23, Berlin/New York 2008 Schnackenburg, Rudolf: Das Johannesevangelium, Bd. 1. Einleitung und Kommentar zu Kapitel 1–4, Freiburg im Breisgau u.a. 1965; 7. Aufl. 1992 Treitschke, Heinrich von: Aus der Zeit der Demagogenverfolgung, in: ders., Historische und Politische Aufsätze, Bd. 4. Biographische und Historische Abhandlungen vornehmlich aus der neueren deutschen Geschichte, Leipzig 1897, S. 365–373 Unger, Johannes T.: s. Herz, Geist und Leben des Menschen Virmond, Wolfgang: Liederblätter – ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers, in: Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposium on Schleiermacher at Herrnhut, ed. R. D. Richardson u.a., Lewiston u.a. 1991, S. 275–293 : s. Arndt, Andreas Wachler, Johann Friedrich Ludwig: s. Neue Theologische Annalen Wappler, Klaus: Reformationsjubiläum und Kirchenunion (1817), in: Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1. Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), ed. J. F. G. Goeters/R. Mau, Leipzig 1992, S. 93–115 Wolfes, Matthias: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Teil II, Arbeiten zur Kirchengeschichte 85/II, Berlin/New York 2004
* * * Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin Nachlaß F. D. E. Schleiermacher: Nr. 147 Gedankenheft 1817–1819 Nr. 596 Predigten zum Lukas-Evangelium. Nachschriften 1815–1832, 49 Bl. 4° Nr. 605 Predigtnachschriften (diverse) Nr. 622 Predigtnachschriften Crayen Nr. 623 Predigtnachschriften und Briefe Crayen
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Verzeichnisse
Schleiermacher-Forschungsstelle der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel Nr. 9
Zweite Passions-Predigt von Dr. Schleiermacher fürs J. 1819 über 1. Petr. 2,24, Gemberg
Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Schleiermacher-Archiv Depositum 42a (Angaben nach Archivverzeichnis): Mappe 37 Jonas A (1816–1817) Mappe 38 Jonas B (1816–1819) Mappe 39 Jonas C (1816–1817) Mappe 40 Jonas D (1817–1818) Mappe 41 Jonas E (1818) Mappe 42 Balan A (1816) Mappe 43 Balan B (1816, in Kopie 1819) Mappe 44 Balan C (1816–1817) Mappe 45 Balan D (1816) Mappe 46 Balan E (1816–1817) Mappe 47 Balan F (1817) Mappe 48 Balan G (1817) Mappe 49 Balan H (1817) Mappe 50 Balan I (1818) Mappe 51 Maquet (1818–1822) Mappe 52 Gemberg A (1818–1824) Mappe 53 Gemberg B (1818–1821) Mappe 54 Schirmer A (1818–1831) Mappe 58 Woltersdorff A (1819) Nachlass 481 (Schleiermacher-Sammlung): Bd.: Predigtnachschriften
Namen Das Namenregister verzeichnet die in diesem Band genannten historischen Personen in einer heute gebräuchlichen Schreibweise. Nicht aufgeführt werden die Namen biblischer, literarischer und mythischer Personen, die Namen von Herausgebern, Übersetzern und Predigttradenten, soweit sie nur in bibliographischen oder archivalischen Angaben vorkommen, die Namen der an der vorliegenden Ausgabe beteiligten Personen, soweit ausschließlich die Arbeit an dieser Ausgabe betroffen ist, sowie der Name Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. Bei Namen, die im Schleiermacherschen Text oder die sowohl im Text als auch im zugehörigen Apparat vorkommen, sind die Seitenzahlen recte gesetzt. Bei Namen, die in der Bandeinleitung oder den Apparatmitteilungen der Bandherausgeber genannt werden, sind die Seitenzahlen kursiv gesetzt. Adelung 285 Albrecht XXXII–XXXIII Altenstein XXV Ammon XXII Andrae LXXII–LXXIII.LXXXIV Arndt, Andreas XVII–XVIII.XXV Arndt, Ernst Moritz XXI Balan LXXIII–LXXIV Beck LVII Becker 543 Blanc XVII.XIX.XXII.XLVI.LIX. LXI Bretschneider XXIX–XXX Brinckmann XLIII Crayen LXXIV–LXXV Cumberland LXI Deutz 122 de Wette XXIX.LXI Döring XXXIV Dohna XXI–XXII.XXV Dürre 366 Ehrenberg XXI.XLV–XLVI Eylert LI–LII
Foerster XIX.XLI.XLIV.XLIX Franke XXXVIII Friedrich I. LII Friedrich Wilhelm I. XLIX.LII Friedrich Wilhelm III. XVIII–XIX. XXI–XXII.XXVI.XXXV– XXXVIII.XLI–XLV.XLVII. XLIX–LIV.50.263.271.281 Garve XXXIV Gaß XIII.XVI.XVIII.XXIV– XXV.XXXV.LVI–LVII.LIX Geck XLVI–XLVII.LIII.LXI Gemberg LXXV–LXXVII Georg Wilhelm LII Graff XXXVIII.XL Grahl LVII Hanstein XXXIV.XLVI.LI.LIII. LXI Harms XXII Hecker XIV.XXVIII.XLVI Heinrici XVII–XVIII.XXI.XXX. LVIII Hensel LX.543
726
Verzeichnisse
Hermes, Dr. Justus Gottfried 543.546.XII.LIX–LXI.544– 545.550–552 Hermes, Georg Vincenz 543 Herzberg XIV.XXVIII Hoffmann XXXVIII.XLI–XLII. XLIX Ishodad 122 Jahn XXVI Johann Sigismund LII Jonas XII.XV.XIX.XXII–XXIII. XXXVI.LXXVII–LXXX. LXXXII.LXXXIV Jungklaus XXXIX König LXXXI–LXXXIII Kotzebue XXV–XXVI Küster XXVIII.XLVI.LX.550 Lindenberg XIII Leobschütz 366 Ludwig XVIII. 41 Lücke XXIX Luther 242.244.253.L.LV Maquet LXXXIII Marheineke XXVIII Marot XLVI.LXI Meckenstock LXVIII Meding XLIX–L Mühlenfels XIII Napoleon XXIV.39–41.138. 163.229.233 Nicolovius XVII Offelsmeyer XVIII Pelkmann LX–LXI Pischon XIV Reetz XIII.366
Reich XIII–XIV.XVI–XVII. XXXVI.LXI Reimer XI.XIV.XXIII.LVIII Ribbeck XLVI.LIII Riemann 366 Sack XLIX.LI Sand XXV–XXVI Schirmer LXXXIII–LXXXIV Schleiermacher, Anna Maria Louise XXI Schleiermacher, Hildegard Maria XXI Schmalz XVII Schmidt XXX.XXXIII–XXXV Schuckmann XVII.XXI–XXII.XLI. XLIV.XLIX.LI Schumann XXVIII Schultheß XXIX–XXX Stein XXXV–XXXVI.XLIII Süvern XLIII Sydow XII.LXXVII–LXXVIII. LXXXI–LXXXII.LXXXIV.213. 215–216 Treitschke XXVII Twesten XVII–XVIII.XXI.XXVI. XXIX–XXX.XLIV.LVIII Virmond XVII–XVIII.XXV.XXX– XXXI Voß LVIII Wappler LI.LIV Weber, Johann Gottlieb Wilhelm 365.XXIV.LXXXIV Weber, Kaspar Friedrich XXIV Wellington 42 Winterfeld LVI–LVII Wolfes LIX Woltersdorf, Johanne Charlotte Elisabeth 543.546 Woltersdorf, Johann Lucas 546 Woltersdorff LXXXIV–LXXXV. 660
Bibelstellen Halbfett gesetzte arabische Seitenzahlen weisen Bibelstellen nach, über die Schleiermacher gepredigt hat. Die in Schleiermachers Texten vorkommenden Bibelstellenangaben werden durch recte gesetzte arabische Seitenzahlen verzeichnet. Kursiv gesetzte arabische und römische Seitenzahlen geben solche Bibelstellen an, die im Sachapparat und in der Bandeinleitung genannt sind. Die Abfolge der biblischen Bücher ist an der Lutherbibel orientiert. Das erste Buch Mose (Genesis) Gen 1,3 1,26 1,27 1,31 2,2–3 2,7 2,17 3,1–24 3,15 9,13–17 11,1–9 12,1–8 18,1–8 18,10–15 19,1–3 19,12–13 49,1–28
702 314 262.315.419 314 317 151 315 315.418 318 130 520 262 517.518 519 517.518 519 462
Das zweite Buch Mose (Exodus) Ex 3,1–4,17 6,2–13 7–12 14 17,3 20,5 20,13
323 323 326 326 325.327 701 696
Das vierte Buch Mose (Numeri) Num 14,29–30
327
Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium) Dtn 5,15 5,17 21,23 30,11–14 34,4
285 696 350.583 346 173
Das Buch Josua Jos 24,15
489
Das erste Buch Samuel 1Sam 2,7 16,7
524 697
Das erste Buch der Könige 1Kön 18,17–18
679
Das Buch Hiob (Ijob) Hiob 1,21 4,3–4 38,11
50.672 545 408.418
Der Psalter Ps 10,3–4 19,13 23,2–4
226 574 226
728 24,4 33,9 34,9 68,3–4 90,10 95,7–11 119,9 119,105 143,10
Verzeichnisse 107 14 175 503–513 544 322 574 226.241.248.252. 256 101.431
Die Sprüche Salomos (Sprichwörter) Spr 2,5 14,34 16,13–14
248 407 163–164.XXXVI
Der Prediger Salomo (Kohelet) Pred 1,9 7,16 11,12
102 208 LIX
Der Prophet Jesaja Jes 9,5 9,6 11,2 38,18 40,3 42,3 52,7 53,5 53,6 53,12 54,13 56,7 63,19
704 317 248 701 111 586.662 548 409 427 380.468 439 157 599
Der Prophet Jeremia Jer 7,11 10,10 17,9 20,9
157 701 58.336 678
Das Buch Daniel Dan 9,18
174
Der Prophet Joel Joel 2,28 3,1
226 226
Der Prophet Sacharja Sach 13,7
465
Das erste Buch der Makkabäer 1Makk 3,1–9 9,6–10 9,10
51 51 50–55.XXXIX
Das Evangelium nach Matthäus Mt 1,7 2,1–12 2,13–18 3,2–3 3,2 3,3 3,7–10 3,10 3,11 3,17 4,1–11 4,10 4,16 4,18–22 4,19 5,1–7,29 5,8 5,13 5,16 5,17 5,19 5,44–45 5,45 6,3 6,10 6,12 6,24 6,33 7,15 7,21
174 348 348 35 171.172.557 111 172 677 112 425 561–568.128.343 664 343.352 569–571 14 187 49.476 460 189 184–191.45.261. 296.353.538.554 184–191 106 227 528 211 690 685 19 203 21
Bibelstellen 8,20 8,34 9,8 9,12 9,37 9,38 10,2–4 10,21 10,24 10,34 10,38 10,41 11,2–10 11,11 11,15–17 11,18–19 11,27 11,28–30 11,28 11,29–30 12,14–15 12,20 12,34 12,38–39 13,12 13,13 13,24–30 13,25 13,54–56 13,55 15,24 16,1 16,4 16,13–19 16,15–16 16,16 16,17 16,18–19 16,18 16,21–23 16,21 16,22 16,24–25
562 208 38 673 380 551 121 317 394.397 294.317.666.704 74.129 683 544.551 171 705 46 112.310 112 186.318.391.426. 631.645 189 214 586.662 425 564 434 335 194 460 632 634 187.226.538.554. 599 564 564 675–688.LXII 117.393 216.700 393 662 98.312.342.347. 664 662–669 117 118.393 166
16,24 17,4 17,14–19 17,20 18,3 18,5–6 18,5 18,11 18,16 18,20 18,21–22 19,3–12 19,4 19,8 19,13 19,14 19,15 19,16–20 20,1–16 20,20–21 21,12–13 21,12–17 21,13 21,18–19 21,19 21,21 22,11–12 22,14 22,21 23,8 23,13 23,23 23,27 23,37 24,11 24,18 24,23 24,24–26 24,25 24,36 25,10 25,14–30
729 129.222.377.426. 615.666 667 693 693–695 467 241–259.LV.LVII 471 264 276 203.319.339.449. 559.676 690 452 LXXII 451–456 467 465–469.XXIV. 246.462.476 467 206 82 113 705 156 157 562 693 469 232 636 318 702 37 47 524 673 113 107 113 113 107 180.217.387.401. 554 232 152.272.342.497. 558.673
730 25,19 25,21 25,23 26,31 26,38–39 26,38 26,39 26,40–46 26,41 26,50–53 26,62–63 26,63–64 26,63–66 26,63–68 26,63 26,64 26,69–75 26,75 27,1–2 27,3–5 27,24 27,46 27,51 27,54 27,62–65 28,12–15 28,16–20 28,18 28,20
Verzeichnisse 344 196.272.551 196.272.551 465 380 215 215.387.402.663 107 160 213 214 216 397–403 583 214.576 576 9 9 584 85 584.607 593 151 417 606 604–610 11–15 118.308.342 94.137.182.203. 208.252.258.319. 601.664
Das Evangelium nach Markus Mk 1,3 1,7 1,11 1,15 1,17 1,24 2,12 2,16 2,17 2,18–22 3,1–7 3,6–7 3,16–19
111 174 425 111 14 128 38 47 673 62–67 73–78 214 121
3,17–19 4,25 5,17 5,19 8,11–12 8,33 8,34–35 8,34 9,5 10,14 10,17–22 10,18 11,15–17 11,15–19 11,17 11,23 12,17 13,6 13,12 13,21–23 13,23 13,32 14,34 14,37–42 14,38 14,61–65 14,66–72 14,72 15,1 15,29–31 15,34 15,38 15,39 16,15–19 16,19–20
122 335 208 123 564 393 166 129.222.377.426. 615 667 246.462.476 206 545 705 156 157 469 318 113 317 113 113 180.217.387.554 215 107 160 583 9.622 9 584 592 593 151 417 624–627 180
Das Evangelium nach Lukas Lk 1,79 2,11 2,13–14 2,14 2,18 2,25–28 2,29–32 2,30–32
343 700 700–709 306.313.539.700 415 538 295 287–293
Bibelstellen 2,34–35 2,34 2,46–47 3,4 3,7–9 3,16 3,21 3,22 4,16–30 4,31–35 4,34 5,1–11 5,4–6 5,5 5,8 5,16–25 5,18–26 5,27–29 5,27–32 5,27–35 5,31 6,13–16 6,17–49 6,27–28 6,40 6,45 6,46 7,18–23 7,28 7,33–34 7,47 8,11 8,18 8,37 8,39 9,23–24 9,23 9,33 9,37–43 9,49 9,50 9,54 9,57–62 9,58 10,1–12 10,2
533–536 294–300 553–555 111 172 112.174 559 425 631–638 639–641 128 116–120 569.622 569 117.569 642–644 34–38 121–125 44–49 645–653 673 121 187 106 394.397 425 21 XXVI.654 170–177.650 46 601 57 335 208 123 166 129.222.377.426. 615 667 199 200 198–205 113 205–212.654–659 562 262 380.551
10,13–14 10,17–20 10,21–24 10,22 10,41–42 11,2 11,4 11,12–14 11,15 11,19 11,20 11,23 11,24–26 11,42 11,52 12,37 12,51 13,19 13,34 14,27 15,7 15,8–9 15,17–19 15,22–23 16,10 16,13 17,3–4 17,3–6 17,10 17,20 18,9–14 18,13 18,16 18,18–23 18,19 19,10 19,11–27 19,12–27 19,16 19,26–27 19,30 19,42 19,45–46 19,45–48 19,46
731 229–235 261 260–267.LIV 310 161 211 690 562 200 201 562 198–205 202 47 37.577 148 294 570 673 74.129 89 123 468 123 147 685 274–280 694 181.526.545 113 46 158.230.462 246.476 206 545 186.203.218.222. 225.264.287.389. 615.631.645.673 272.497.673 558 319 593 593 617 705 156 157
732 20,25 21,8 22,42 22,45–46 22,49–51 22,51 22,54–62 22,62 22,70–71 22,70 23,1 23,4 23,14–16 23,21 23,35 23,43 23,44 23,45 23,46–48 23,46 24,1–6 24,20–21 24,22–26 24,25–26 24,25–27 24,25 24,26 24,27 24,31–32 24,44–48 24,47 24,49 24,50–53
Verzeichnisse 318 113 663 107 213 383–388 9 9 583 576 584 607 607 582 412–417 593.617 126–131 151 412–417 126–131 132–139 424 140–143 592–594 4 393.597 17.215.217.380 145 424 144–150.597– 603.XX.140 226 22.429 180
Das Evangelium nach Johannes Joh 1,1 1,12 1,14–15 1,14 1,16 1,17 1,18 1,19–42
702 263.312.629 261 128.665.697.702. 706 109.128.149.312. 319.549.665.703 697 310 111
1,23 1,26 1,27 1,29–34 1,29 1,32–34 1,35–39 1,35–40 1,39 1,40–42 1,40 1,45–51 2,1–10 2,13–17 2,14–16 2,16 2,19–21 3,10 3,17 3,18 3,36 4,14 4,23–24 4,34 5,24 5,31 5,36 6,15 6,38 6,45 6,47 6,51 6,63 6,68 6,69 7,1 7,17 8,12 8,28 8,29 8,31–32 8,32 8,36 8,46 8,58
111 171.599 174.558 112 14.112.113.114. 557.599.650 556–560 116 111–115 467 116 111 121–125 517 156 705 155–162 592 290 186.319 186.297 211 467 53.57.159.189. 296.468 222 211.316 425 296.425 384 377 439 137.211.316 467 414 393.683 216.700 384 531 L 629 296 L 60.312 305 573 315
Bibelstellen 8,59 10,14–16 10,16 10,18 10,30 10,31 10,34–36 12,23 12,24 12,31 12,32 12,45 12,46 12,47–48 12,47 13,10 13,16 13,23 13,34–35 13,34 13,35 14,6 14,9 14,17 14,23–27 14,23
14,24 14,25–26 14,27 14,28 15,4 15,5 15,15–16 15,18–21 15,20 15,23 15,26 16,1–4 16,7–8 16,7 16,8 16,12–14
208 421–428 203.355.616 213 10 208 681 226.390 389–396 392.418 390.566 629 308 297 186 318 394 117 619 228.284 613–620.274.279 151–152.22.60. 208.245.305.318. 512.651.681 151.698 251 440–442 151–152.174. 299.336.434.566. 615.676.698.702. 703.708 315 362 423.704 151 419 107.130.318.394 536–538 16 666 536 251 16–19 276 438–439.289 392 127.362
16,12 16,13 16,14–15 16,20 16,33 17,1–26 17,8 17,18 17,20–21 17,22–23 18,25–27 18,33–37 18,36 19,10–11 19,26–27 19,30 20,17 20,19–29 20,19 20,21–23 20,22–23 20,22 20,23 20,24–29 20,25 20,29 21,1–8 21,1–14 21,16–17 21,17 21,24
733 399.438 34.251 426 136 318.619 423 676 628–629 629 104 9 576 565 497 593 215.593 420 141 22 424 277 438 642 3–6.611–612 601 465 621–623 5 118 7–10.622 531
Die Apostelgeschichte Apg 1,1–11 1,6–7 1,6–8 1,7 1,8 1,21–22 2 2,4 2,7 2,12–13 2,12 2,14–41 2,17
180 401 429–430 148.180 226 361 22 226 21 23 21 12 226
734 2,32–33 2,32 2,37–38 2,37 2,39 2,42 2,43 2,44–45 3,19 4,12 4,19 4,32–35 4,32 5,29 9,1–2 9,1–19 9,5 9,15 10 10,34 10,42 10,47 15,10 16,11–40 17,27 17,28 17,31 21,14 22,1–16 22,3–4 22,3–21 22,3 22,10–13 26,9–18 26,14 27,34
Verzeichnisse 21 21 28 24.415.647 25 23 23 211 634 15.559.684 388 211 23 23.388.609 59 12.32.69.180 296 192.262 28 29 673 28.186 189 153 676 226.286.509.554 186 211 116–120 296 180 359 31 180 296 475
Der Brief des Paulus an die Römer Röm 1,17 1,21 1,23 2,7 2,15 3,20 3,22–24 3,22
296 288 701 137.305 392.574 472.697 405 296
3,23 3,28 4,16 5,5 5,8 5,10 5,12–19 5,17 5,19 6,1 6,2–4 6,3–4 6,4 6,8 6,10–11 6,23 7,6 7,19 7,22–23 7,22–24 7,22 7,23–24 7,23 7,24 7,25–8,1 8,2 8,7 8,9 8,11 8,14 8,17 8,18 8,21 8,22 8,28 8,31–34 8,32 8,33–34 9,20 9,30 10,4 10,17 11,25–32 12,1 12,21
239.406 58.70.350 296 472.586 404 404 405 137 418 291 292 240 140.290 409 392 589 583.584 289 406.494.595 424 289.500 255 246 246.289.387.392. 574 289 595 304 73 73 698 218 223.377.409.416. 668 251.257.299.647 316 97.149.319 404–411 287.587 418–419 97 296 184 67.69.108.146 394 189.234 106
Bibelstellen 13,1–5 13,12 14,4 14,8 15,7
XXXVI L 303 90.204 691
15,51–52 15,56 15,57–58 15,57 16,13–14
735 181 136 L 246 L
Der erste Brief des Paulus an die Korinther
Der zweite Brief des Paulus an die Korinther
1Kor 1,3 1,23
2Kor 3,6
1,30 2,4–5 3,2 3,11 3,16 3,21–23 4,1 5,6–8 6,19–20 6,19 7,17–24 7,20–23 7,22 8,1 10,3–4 12,1–11 12,4 12,6 12,12–13 12,12–26 12,12–31 12,27 13 13,1 13,4 13,5 13,6 13,7 13,9–10 13,13 15,1–8 15,8–10 15,19 15,20
268 351.378.394.414. 682 130.284.637 203 549 305.316.549 73.97.477.566 667 549 595–596 84–90 97.477 26.337 486–492 496.500 614 226 549 20–24.431–437. 362 611 25–29 535 106.107 27 690 135 615.617.691 614.615 617.618 453 681 303.596 180 357–364 387 132
3,17 4,4 4,6 4,13 5,17 5,19 5,20 6,1 12,9 13,4 13,13
13,14
296.302.539.566. 583 438 258 258 609 127.239.291.304. 316.410 476 427 698 14.137 305 91.126.140.144. 165.178.198.206. 294.301.321.333. 348.357.374.383. 389.404.412.443. 451.457.479.486. 572.581.675 240
Der Brief des Paulus an die Galater Gal 1,1–5 1,6–10 1,11–24 1,13–14 1,15 2,1–10 2,11–21 2,16 2,19–20 2,19 3,3 3,10–14 3,10 3,13–14 3,13
30–33 56–62 68–72.180 59.296 358 79–83.XV XV 58.70.350.650 413.414 186.350 338 352 349 348–356 583
736 3,26 4,4–5 4,4 5,2 5,6 6,2 6,14–15 6,14 6,15–16 6,15 6,16
Verzeichnisse 263 696–699.32.349. 696 538–539.185. 349.557.634 185 548 189 304 362 32 239.291 190
Der Brief des Paulus an die Epheser Eph 1,4 1,22–23 2,8–9 2,20–21 2,20 3,17 4,14 4,15–16 4,15 4,22–24 4,28 5,8 ff 5,21–33 5,22–31 5,23 5,27 5,30 6,1–3 6,2 6,4 6,5–6 6,9 6,10–13 6,16
423 137.173.181.342 58 435 549 434.535 616 107.318.535 173.181.270 239 522–530 L 453 443–450 137 291.689 228 479–485 462 470–478.458 26.342 496 39–43 337
Der Brief des Paulus an die Philipper Phil 1,1–11 1,9 1,12–14
153–154 240 153
1,12–20 1,18 1,20 1,21–27 1,22–23 1,22–24 1,24–26 1,27–30 2,1–4 2,5–11 2,12–18 2,12 2,19–24 2,19–30 2,20 2,22 2,25–30 3,1–11 3,7–9 3,7–11 3,9 3,12–14 3,12 3,13 3,14 3,15–21 3,20 4,1–3 4,4 4,6–7 4,8–23 4,15
165–169.178 117 179.183.192 178–183 173 192 193 192–197 LXXXIII 213–218. LXXXIII 219–223 112.341.344 224 224–228 224 224 225 236–240.LVI.281 309 282 296 281–286.301. XLII 268–273.XLVII 215.302.338.380 302 301–305 299 306 306–312.86.136. 236.341 341–347 369–373 173
Der Brief des Paulus an die Kolosser Kol 1,12–20 1,16–17 1,24 2,9 3,14 3,21 3,22 4,1
314 313–320 219 283.408.417 269 457–464.471 493–502.26 493–502.26
Bibelstellen Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher 1Thess 4,15–17 4,15 5,2 5,8 5,19
180 545 95 303 361
Der erste Brief des Paulus an Timotheus 1Tim 1,2 1,18
224 224
Der zweite Brief des Paulus an Timotheus 2Tim 1,2 1,7 1,10 2,1 4,8
224 128.164 305 224 234
Der Brief des Paulus an Titus Tit 2,14
351.476
3,19–22 4,1–4 4,5–8 4,8–11 4,8 4,12 5,7
737 660 660–661 670–674.XLIII 689–692 528 689 344.345
Der zweite Brief des Petrus 2Petr 1,19 3,3–9 3,10 3,13–14 3,13
226 91–98.102 95 101–110 316
Der erste Brief des Johannes 1Joh 3,2 3,20 4,9 4,10 4,14 4,16 4,18 4,19 5,1
140.180.628 472 319 319 319 476 164.448.472.498. 692 532 532
Der Brief des Paulus an Philemon Phlm 15–16
26
Der erste Brief des Petrus 1Petr 1,20 2,2 2,3 2,9 2,19–23 2,19–25 2,20–21 2,21 2,24–25 2,24 3,13–18
423 246 698 290.351.409 572–580 XXVIII 585 284 589–591 581–588. LXXVI.409 660
Der Brief an die Hebräer Hebr 1,3 2,10 2,14–18 2,17 3,6 3,8–11 3,12–14 4,1–11 4,6–7 4,9 4,12 4,15 5,12–13 5,12
227 465 311 220 337.338 321–329 333–340 317 341–347 318 630 220.305.311.408. 562.586 549 246
738 10,1 12,1–3 12,2 13,2 13,4 13,8 13,9
Verzeichnisse 354 374–382 130.203.221.223. 355.389.586.587. 676 514–521 449 656 387.548.577.616. 658
Der Brief des Jakobus Jak 1,15 1,17 1,20 5,11
572 105.294.339.342. 475 385 50–55.XXXIX
Die Offenbarung des Johannes Offb 3,11
L