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German Pages 843 [844] Year 2013
Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe III. Abt. Band 8
Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Ulrich Barth, Lutz Käppel, Notger Slenczka
Dritte Abteilung Predigten Band 8
De Gruyter
Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher Predigten 1824
Herausgegeben von Kirsten Maria Christine Kunz
De Gruyter
ISBN 978-3-11-031685-8 e-ISBN 978-3-11-031686-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach ⬁ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Einleitung der Bandherausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schleiermachers Predigttätigkeit 1824 . . . . . . . . . 2. Schleiermacher und die Dreifaltigkeitsgemeinde im Agendenstreit 1824–1825 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Agendenstreit im Spiegel der Predigten Schleiermachers von 1824 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten . .
X XI XIV XX XXII
II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXX 1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen XXX A. Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXX B. Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . . XXXII C. Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIV D. Sachapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXV E. Editorischer Kopftext . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVI F. Liederblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVI 2. Druckgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVII A. Seitenaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVII B. Gestaltungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVII 3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen . . . . . . . . . . . XXXVIII A. Ediertes Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIX a. Schleiermacher-Texte . . . . . . . . . . . . . . . XXXIX b. Andrae-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . XLII c. Sobbe-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . XLIX B. Nicht edierte Parallelzeugen zu Leittexten . . . . L a. Crayen-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . L b. Gemberg-Predigtnachschriften . . . . . . . . . LI c. Saunier-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . LI d. Woltersdorff-Predigtnachschriften . . . . . . . LII C. Predigtreihen des Jahres 1824 . . . . . . . . . . . . LIII
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Inhaltsverzeichnis
Predigten 1824 Am 01.01. vorm. (Neujahr)* Hiob 38,11 . . . . . . . . . Am 04.01. früh (SnN) Joh 3,22–30 . . . . . . . . . . . . . Am 11.01. vorm. (1. SnE)* Lk 2,51 . . . . . . . . . . . . Am 18.01. früh (2. SnE) Joh 3,31–36 . . . . . . . . . . . Am 25.01. vorm. (3. SnE)* Mt 3,13–15 . . . . . . . . . . Am 01.02. früh (4. SnE) Joh 4,1–10 . . . . . . . . . . . . Am 08.02. vorm. (5. SnE)* Joh 15,16 . . . . . . . . . . . Am 15.02. früh (Septuagesimae) Joh 4,11–19 . . . . . . Am 22.02. vorm. (Sexagesimae)* Apg 10,36–38 . . . . Am 29.02. vorm. (Estomihi)* Lk 18,31–43 . . . . . . . Am 14.03. früh (Reminiscere) Joh 4,20–24 . . . . . . . . Am 21.03. vorm. (Oculi)* Mt 26,55–56 . . . . . . . . . Am 21.03. nachm. (Oculi) Eph 5,1–9 . . . . . . . . . . . Am 28.03. früh (Laetare) Joh 4,25–34 . . . . . . . . . . . Am 04.04. vorm. (Judica)* Mt 26,63–66 . . . . . . . . . Am 11.04. früh (Palmarum) Joh 4,35–42 . . . . . . . . . Am 15.04. mittags (Gründonnerstag), Konfirmation, 1Kor12,13–14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 16.04. vorm. (Karfreitag)* Hebr 10,8–12 . . . . . . Am 18.04. früh (Ostersonntag) Lk 24,1–3 . . . . . . . . Am 19.04. vorm. (Ostermontag)* Lk 24,30–32 . . . . . Am 02.05. vorm. (Misericordias Domini)* Lk 24,33–43 Am 09.05. früh (Jubilate) Joh 4,43–54 . . . . . . . . . . . Am 12.05. vorm. (Bußtag)* Röm 6,12–18 . . . . . . . . Am 12.05. (Bußtag) Begräbnis Lipcke . . . . . . . . . . . Am 16.05. früh (Cantate) Joh 5,1–15 . . . . . . . . . . . Am 23.05. vorm. (Rogate)* Lk 24,44–48 . . . . . . . . . Am 27.05. früh (Himmelfahrt) Lk 24,51–53 . . . . . . . Am 30.05. vorm. (Exaudi)* Apg 1,4 . . . . . . . . . . . . Am 06.06. früh (Pfingstsonntag) Joh 16,12–15 . . . . . Am 07.06. vorm. (Pfingstmontag)* Apg 2,14–21 . . . . Am 13.06. früh (Trinitatis) Joh 5,16–23 . . . . . . . . . . Am 20.06. vorm. (1. SnT)* 1Joh 4,16–18 . . . . . . . . Am 27.06. früh (2. SnT) Joh 5,24–30 . . . . . . . . . . . Am 04.07. vorm. (3. SnT)* Lk 17,3 . . . . . . . . . . . . Am 11.07. früh (4. SnT) Joh 5,31–40 . . . . . . . . . . . Am 18.07. vorm. (5. SnT)* Mt 16,24–25 . . . . . . . . . Am 25.07. früh (6. SnT) Joh 5,41–47 . . . . . . . . . . . Am 25.07. vorm. (6. SnT) Mt 5,23–24 . . . . . . . . . . Am 01.08. vorm. (7. SnT)* Mt 14,28–31 . . . . . . . . . Am 08.08. früh (8. SnT) Joh 6,1–15 . . . . . . . . . . . .
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3 15 24 45 54 66 78 91 101 112 123 135 148 156 165 179
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Inhaltsverzeichnis
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Am 15.08. vorm. (9. SnT)* Lk 14,26 . . . . . . . . . . . Am 10.10. vorm. (17. SnT)* Eph 4,1–3 . . . . . . . . . . Am 17.10. früh (18. SnT) Joh 6,16–26 . . . . . . . . . . Am 24.10. vorm. (19. SnT)* Eph 5,10–11 . . . . . . . . Am 31.10. früh (20. SnT) Joh 6,27–35 . . . . . . . . . . Am 07.11. vorm. (21. SnT)* Lk 21,15 . . . . . . . . . . Am 14.11. früh (22. SnT) Joh 6,36–44 . . . . . . . . . . Am 21.11. vorm. (23. SnT; Totensonntag)* Phil 3,20–21 Am 28.11. früh (1. SiA) Joh 6,45–51 . . . . . . . . . . . . Am 05.12. vorm. (2. SiA)* Röm 15,8–9 . . . . . . . . . . Am 05.12. (2. SiA) Trauung Hecker / Sommerfeld . . . Am 12.12. früh (3. SiA) Joh 6,52–60 . . . . . . . . . . . . Am 19.12. vorm. (4. SiA)* Mt 11,4–6 . . . . . . . . . . . Am 25.12. früh (1. Weihnachtstag) Lk 1,78–79 . . . . . Am 26.12. vorm. (2. Weihnachtstag)* Mt 10,34 . . . . Vor 1825, Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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526 544 575 586 612 622 655 665 687 695 706 710 720 733 742 752
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759 764 774 776
Verzeichnisse Editionszeichen und Abkürzungen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachschrift der Predigt vom 1. Januar 1824 vormittags, FHDS 34, 101/1, Bl. 2r, Andrae
Einleitung der Bandherausgeberin Die Kritische Gesamtausgabe der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Friedrich Schleiermachers, die seit 1980 erscheint, ist gemäß den Allgemeinen Editionsgrundsätzen in die folgenden Abteilungen gegliedert: I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente. Die III. Abteilung dokumentiert Schleiermachers gesamte Predigttätigkeit von seinem Ersten Examen 1790 an bis zu seinem Tod 1834. Die Predigten werden chronologisch nach ihrem Vortragstermin angeordnet. Nur die von Schleiermacher absichtsvoll geordneten sieben „Sammlungen“, alle im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung bzw. im Verlag von G. Reimer erschienen (Berlin 1801– 1833), bleiben in dieser Anordnung erhalten und stehen am Anfang der Abteilung. Demnach ergibt sich für die Abteilung „Predigten“ folgende Gliederung: 1. Predigten. Erste bis vierte Sammlung (1801–1820) 2. Predigten. Fünfte bis siebente Sammlung (1826–1833) 3. Predigten 1790–1808 4. Predigten 1809–1815 5. Predigten 1816–1819 6. Predigten 1820–1821 7. Predigten 1822–1823 8. Predigten 1824 9. Predigten 1825 10. Predigten 1826–1827 11. Predigten 1828–1829 12. Predigten 1830–1831 13. Predigten 1832 14. Predigten 1833–1834 sowie Gesamtregister Der vorliegende Band enthält Predigten zu 56 Terminen des Jahres 1824 sowie ergänzend 28 dazugehörige Liederblätter Schleiermachers. Mit Ausnahme seiner Kasualpredigten und zweier im Urlaub gehaltener Kanzelreden ist Schleiermachers Predigttätigkeit damit für diesen Zeitraum lückenlos dokumentiert. Die Leittexte der vorliegenden Edition bilden zum einen ein Autograph und Drucktexte Schleiermachers, zum anderen qualitativ hochwertige Nachschriften, die mehr-
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Einleitung der Bandherausgeberin
heitlich auf den Theologiestudenten Johann Gottfried Andrae zurückgehen. Zu 22 Predigtterminen waren bisher keine Texte bekannt. Außerdem werden hier zu 17 Drucktexten Schleiermachers erstmals abweichende Vorlagen ediert.
I. Historische Einführung In den 1820er Jahren befand sich Schleiermacher auf dem Höhepunkt seiner Berliner Wirksamkeit. Er war seit 1809 Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, seit der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität 1810 Professor für Theologie und Philosophie1 und Leiter der dortigen neutestamentlich-exegetischen Abteilung sowie ordentliches Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften2. Darüber hinaus entwickelte er eine bedeutsame publizistische Tätigkeit3 und war außerdem in der seit 1817 bestehenden Gesangbuchkommission an der Herstellung eines neuen Liederwerkes4 beteiligt. Politisch war die Zeit von dem restaurativen Umschwung der nachnapoleonischen Ära geprägt. Schleiermacher kam, nach seinem Verhör wegen demagogischer Umtriebe5, im Verlauf des Jahres 1823 nur langsam zur Ruhe und schätzte seine Lage schließlich Anfang 1
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Folgende Vorlesungen hielt Schleiermacher 1824: WS 1823/24: Die christliche Glaubenslehre (73 Hörer); SS 1824: Praktische Theologie (70 Hörer), Das Evangelium des Matthäus (67 Hörer), Das System der Sittenlehre (Hörerzahl unbekannt); WS 1824/25: Die Briefe des Paulus an die Epheser, Kolosser und Philipper, 2. Timotheusbrief und Philemonbrief (69 Hörer), Die christliche Sittenlehre (144 Hörer). Vgl. Arndt / Virmond, Briefwechsel nebst Liste, S. 319–321 Zu Schleiermachers Wirken an der Akademie der Wissenschaften vgl. KGA I/11, S. XII–XXX Herausragend und epochemachend in den 1820er Jahren war das Erscheinen der zweibändigen Glaubenslehre „Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ (1821/22); vgl. KGA I/7. Neben der Herausgabe der vierten Sammlung Predigten (1820) erschienen die zweite und dritte Sammlung in inzwischen zweiter Auflage (1820/1821); vgl. KGA III/1. Eine Neuauflage erfuhren auch die Monologen (1822); vgl. KGA I/3 sowie Schleiermachers Platonübersetzung, 2. Teil, 2. Bd. (1824); vgl. KGA IV/6. Außerdem war Schleiermacher Mitherausgeber der Theologischen Zeitschrift und des „Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden“. Kirchenpolitisch relevant wurde sein Werk „Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus“ (1824); vgl. KGA I/9 sowie unten S. XVIII. Das „Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen“ [Berlin 1829] sollte als erstes offizielles Reformgesangbuch für beide protestantischen Kirchen gelten und der Unzufriedenheit mit den damals gebräuchlichen Gesangbüchern abhelfen. Zum Projekt vgl. Seibt, Gesangbuch, S. 21–23 Vgl. KGA III/7, Einleitung, Punkt I.2
I. Historische Einführung
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1824 diesbezüglich stabil ein; er fürchtete nun allerdings für seine Person wie für seine Gemeinde neue Bedrohungen durch den sich zuspitzenden Agendenstreit6 und beobachtete mit Sorge die geplanten Maßregelungen der Universitäten7.
1. Schleiermachers Predigttätigkeit 1824 Schleiermacher als reformierter Prediger und sein lutherischer Kollege Philipp Konrad Marheineke8 hatten im Jahr 1822 an der Dreifaltigkeitskirche, die bis dato von Reformierten und Lutheranern als Simultankirche genutzt worden war, die erste Gemeindeunion Preußens vollzogen. Seitdem waren sie gemeinsam für die etwa 12.000 Gemeindeglieder, die zu einem Großteil aus der wohlhabenden Bevölkerungsschicht Berlins stammten, zuständig. Gottesdienste fanden sonntäglich um 7 Uhr (Frühgottesdienst), 9 Uhr (Vormittags- bzw. Hauptgottesdienst) und um 14 Uhr (Nachmittagsgottesdienst) statt. Hinzu kamen Festtags-, Kasual- sowie gelegentlich Sondergottesdienste (Stadtverordnetenwahlen, Gedenktage 6
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Vgl. Schleiermachers Einschätzung seiner Lage im Brief an seine Schwägerin Ch. v. Kathen vom 9. April 1824, Briefe 2, edd. v. Willich / v. Schwerin, S. 383–384. Dass jedoch auch die politische Verfolgung für Schleiermacher noch nicht gänzlich ausgestanden war, belegt ein Protokoll aus der Akte des Innenministers Schuckmann zu Schleiermachers „demagogischen Umtrieben“ über die Vernehmung einiger Studenten im Köpenicker Schloss, die Aussagen zu einem gefährlichen Jugendund Männerbund machen sollten; vgl. GStA, HA I, Rep. 77, Ministerium des Innern, Sekt. 11, Nr. 6, abgedruckt in: Reetz, Schleiermacher im Horizont preußischer Politik, S. 501–503. Zum Agendenstreit s.u. Punkt I.2 Über die Situation an der Universität schrieb Schleiermacher nach seiner Rückkehr von Rügen am 22. Oktober 1823 an seinen Freund J. Chr. Gaß: „Nun kommt es mir aber gleich etwas arg. Nicht nur die Aussicht auf die vortrefflichen Bundestagsbeschlüsse über das Unterrichtswesen (schon als die schmählichste Aufopferung der Souveränität höchst verwerflich), sondern auch schon vorher die – freilich nicht unerwartete – Fortdauer der Regierungsbevollmächtigten, und die Anmuthung [...] von einer nähern Anleitung der Studirenden, wobei deutlich für einen Kenner solcher vorläufigen Verfügungen die Absicht durchschimmert, in jeder Facultät einen Papst einzusezen, der den Studenten die Collegia bestimmt, und also seine Collegen von anderer Denkungsart lahm legt. Wenn also Tholuck oder Marheineke hier Papst würden: könnte ich nur mein Buch zumachen.“ (Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 322) Philipp Konrad Marheineke (geb. 1780 in Hildesheim; gest. 1846 in Berlin), war in Erlangen und Heidelberg als Professor tätig gewesen, als er 1811 den Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der neu gegründeten Universität Berlin erhielt. Seit 1819 war er zudem Kollege Schleiermachers an der Dreifaltigkeitskirche, wo er nach dessen Ableben 1834 die erste der beiden unierten Pfarrstellen erhielt und bis zu seinem Tod 1846 wirkte. Er stand der Regierung nahe und war – in Opposition zu Schleiermacher – überzeugter Hegelianer. Vgl. EPMB 2, S. 532; ADB 20, S. 338–340; NDB 16, S. 172–174. Zu den anderweitigen Spannungen zwischen Schleiermacher und Marheineke s.u. S. XVII–XVIII.
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Einleitung der Bandherausgeberin
etc.). Die beiden hauptamtlichen Pastoren waren im wöchentlichen Wechsel für den jeweiligen Früh- bzw. Hauptgottesdienst zuständig und verrichteten nach demselben Muster Taufen und Trauungen.9 Am 4. Januar 1824 rückte Adolf August Kober10 auf die seit November 1822 vakante Hilfspredigerstelle11 nach, mit der die Durchführung der Nachmittagsgottedienste sowie Unterstützung bei Taufen und Trauungen verbunden war12, und brachte die dringend nötige Entlastung.13 Außerdem erhielt Kober die Erlaubnis, Konfirmandenunterricht erteilen zu dürfen14 und bekam von Marheineke einen Teil seiner Amtsgeschäfte übertragen15. Das Schema des wöchentlichen Wechsels zwischen Haupt- und Frühgottesdienst lässt sich für Schleiermacher auf das Jahr 1824 gesehen deutlich nachvollziehen.16 Eine Unterbrechung, die am 29. Februar durch eine Vertretung für Marheineke in einem Hauptgottesdienst bedingt war, glich Schleiermacher dadurch aus, dass er sich in der darauffolgenden Woche vormittags von Konsistorialrat Dr. Ritschl vertreten ließ. Hilfsdienste leistete Schleiermacher außerdem am 21. März in der Sophienkirche (Nachmittagsgottesdienst; Vakanz Agricola) und am 25. Juli in der Friedrichswerderkirche (Hauptgottesdienst; Vertretung Küster). 9
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Vgl. Unionsstatut für die Dreifaltigkeitsgemeinde vom 10. Januar 1822, §7 und 8, in: GStA, HA X, Brandenburg, Rep. 40, Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876, Bl. 86r–90v; abgedruckt in: Reich, Pfarrer, S. 482–488. Eine Ausnahme stellten Kasualgesuche dar, die direkt an einen der Pastoren gerichtet waren. Adolf August Kober (geb. 1798 in Langendorf bei Zeitz, gest. 1877 in Berlin) war nach seinem Studium an der Universität Leipzig auf die dritte Predigerstelle an der Dreifaltigkeitskirche berufen worden, die er ab 1824 offiziell innehatte. 1835 rückte er auf die Stelle Marheinekes nach, der nach Schleiermachers Tod die erste der beiden unierten Pfarrstellen übernahm, wurde 1843 Superintendent für Friedrichswerder und erhielt nach Marheinekes Ableben schließlich 1847 die erste Pfarrstelle an der Dreifaltigkeitskirche. Vgl. EPMB 2, S. 423; Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 123–124 Der vormalige Inhaber dieser Stelle, David Friedrich Georg Herzberg, war am 23. November 1822 unerwartet verstorben. Vgl. Unionsstatut, §7 und 8 Schleiermachers Anteil an Taufen in der unierten Gemeinde sank durch Kobers Einsatz 1824 gegenüber dem Vorjahr um 18 %, an Trauungen gar um 25 %; vgl. dazu die statistischen Übersichten zu Schleiermachers Kasualpraxis in: Reich, Pfarrer, S. 535–536. Vgl. dazu den Brief Kobers vom 27. April 1824, in: ELAB, Bestand 14 (Konsistorium), Nr. 4014; abgedruckt in: Reich, Pfarrer, S. 449–500 Kober arbeitete bis 1828 eng mit Marheineke zusammen, der ihm zur Gehaltsaufbesserung nicht nur den Großteil seiner Konfirmanden, sondern auch einen Teil seiner Frühpredigten übergab, während Schleiermacher seine Aufgaben in unumschränktem Umfange selbst ausführen wollte. Vgl. Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 123 Vgl. KGA III/1, Anhang (Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers)
I. Historische Einführung
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Weitere Unterbrechungen im Predigtrhythmus ergaben sich durch eine kurze Reise, die Schleiermacher im April für sechs Tage zu Freunden nach Halle führte17, sowie durch den längeren Herbsturlaub, den er mit seiner Familie vom 20. August bis 6. Oktober auf Rügen und im dortigen Umland verbrachte18. Dabei nutzte er die Gelegenheit, am 29. August in Sagard und am 3. Oktober in Wusseken auf die Kanzel zu steigen. In Berlin ließ er sich in dieser Zeit in den Frühgottesdiensten von Kandidaten vertreten, während die Hauptpredigten von den Predigern Ziehe, Deibel und Pischon gehalten wurden19. Die Wahl seiner Predigttexte stand Schleiermacher auch nach der Union frei.20 Eine Orientierung an der Perikopenordnung21 ist dabei die Ausnahme und wurde in erster Linie bei Vertretungsdiensten vorgenommen. Allerdings ließ sich Schleiermacher gelegentlich von den vorgegebenen Texten inspirieren und lehnte seine Auslegung durch veränderten Textzuschnitt an die Perikopenordnung an. Selbst auferlegten Vorgaben folgten 1824 die Frühpredigten, in denen Schleiermacher die 1823 begonnene Homilienreihe über das Johannesevangelium von Joh 3,22–30 bis Joh 6,52–60 weiterführte; eine Ausnahme sind hier lediglich die an Ostern, Pfingsten und Weihnachten gehaltenen Frühpredigten. Thematisch orientierte Reihen bilden die Predigten zwischen Ostern und Himmelfahrt (19. April bis 23. Mai), in denen Schleiermacher die Geschichte der Emmausjünger rekapituliert, sowie die vom 20. Juni bis 15. August gehaltenen Vormittagspredigten über Liebe und Furcht.22 Seit Ende 1809 ließ Schleiermacher seine beliebten Kanzelvorträge, die er stets in freier Rede ohne Vorlage hielt,23 von Gottesdienstbesuchern mitschreiben. Ab 1820 nahm der Theologiestudent Johann Gottfried Andrae24 die Rolle desjenigen ein, der Schleiermacher regelmäßig mit qualitativ hochwertigen Nachschriften versorgte. Sie stellten die Bearbeitungsgrundlage für Schleiermachers eigene Pre17 18 19 20 21
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Vgl. Schleiermachers Eintragungen im Tageskalender zum 20.–26. April 1824 Zu den Umständen des Urlaubs s. Briefe 2, S. 384 sowie Schleiermachers Notizen im Tageskalender Vgl. Berliner Intelligenz-Blatt Vgl. Unionsstatut, §11 In Berlin galten die sog. Altkirchlichen Perikopen. Eine Übersicht aller in Preußen gebräuchlichen Ordnungen findet sich in: Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, Jg. 39, 1890, S. 576–599. Zu den Predigtreihen s.u. Punkt II.3.C Zum Beginn dieser Praxis vgl. Schleiermachers Brief an seinen Vater vom 10. Februar 1793, in: KGA V/1, Nr. 209,12–25 S.u. Punkt II.3.A.b
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Einleitung der Bandherausgeberin
digtpublikationen dar und wurden offensichtlich sowohl von ihm als auch von Andrae selbst weiterverbreitet.25 Die zu den zahlreichen Kasualgottesdiensten gehaltenen Reden hingegen sind überaus selten nachschriftlich belegt – für 1824 gar nicht. Aus dem „Magazin- von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden“ (Bd. 2 und 3) können für diese Zeit allerdings eine Begräbnis- (12. Mai), eine Trau- (5. Dezember) und eine Taufansprache (undatiert, vor 1825) entnommen werden. Ansonsten geben die Kirchenbücher Auskunft über diejenigen Personen, denen Schleiermacher 1824 den Segen spendete oder die er beerdigte. Bekannte Namen sind hier Boeckh (20. Mai, Taufe), Marheineke (29. Juli, Trauung) und Reimer (19. April, Taufe). Ein besonderes Ereignis im Jahre 1824 war außerdem die Eröffnung des neuen Friedhofs der Dreifaltigkeitsgemeinde in Friedrichshain-Kreuzberg26, auf dem Schleiermacher die erste Bestattung vornahm (12. Mai).
2. Schleiermacher und die Dreifaltigkeitsgemeinde im Agendenstreit 1824–1825 Mitte der 1820er Jahre erreichten in Preußen die Auseinandersetzungen um die von Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1816 erlassene und dann stetig umgearbeitete neue Gottesdienstordnung ihren Höhepunkt, wobei Schleiermacher eine Hauptrolle in der Opposition gegen diese Liturgie einnahm. Hintergrund der Agendenreform war der Wunsch des Königs nach Vereinheitlichung der unübersichtlichen und vielfältigen in der Preußischen Landeskirche gebräuchlichen Gottesdienstformulare27, u.a. um die Kirchenunion zu befördern. 25
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Davon zeugt die breite Überlieferung der Andrae-Texte (s.u. Punkt II.A.b.ba). Schleiermacher selbst, aber auch Henriette Herz sandte nachweislich Andrae-Nachschriften nach Schlobitten; vgl. Bauer, Ungedruckte Predigten, S. 5–6. Interessant ist auch eine Bemerkung Sydows zur Predigtnachschrift vom 20.06.1824 vorm. in SAr 88, Bl. 1r: „Collationirt mit einem Exemplar von v. Bernuth“. Offensichtlich war dieser nicht erhaltene Text mit dem Andrae-Text identisch. Zu dem seit 1742 existierenden Dreifaltigkeits-Friedhof I mit einer Größe von 7.750 m2 wurde 1825 der Dreifaltigkeits-Friedhof II eröffnet. 1855 wurde dieser Alleequartierfriedhof erweitert und erstreckt sich heute über eine Fläche von 55.112 m2. Vgl. Mende, Berliner Grabstätten, S. 86.90 Die ehemals reiche lutherische Messe Kurbrandenburgs war seit dem Übertritt des brandenburgischen Hofes zum reformierten Bekenntnis 1613 an den schmucklosen und liturgisch ärmeren reformierten Gottesdienst angepasst worden. In diesem Zusammenhang war der Gottesdienst auch äußerlich stark reduziert worden (kein Kreuzschlagen, keine Leuchter, kein Altargesang, keine lateinischen Texte usw.). Außerdem hatten die gottesdienstlichen Formulare – ebenso wie die der Reformierten – durch die Aufklärung eine Elementarisierung und Modernisierung erfahren. Vgl. Schmidt, Festgottesdienst, S. 319
I. Historische Einführung
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Um 1800 war das rationalistische liturgische Schema „Lied – Gebet – Lied – Predigt – Lied“ für den Predigtgottesdienst weitgehend konfessionsneutral in Gebrauch.28 Schleiermachers Liederblätter bezeugen seine Verwendung auch in der Dreifaltigkeitskirche, wo sich der reformierte Gottesdienst bis zur Gemeindeunion 1822 an der „Kirchen-Agenda“ (1713) und den „Kirchen-Gebethen“ (1717) Friedrich Wilhelms I. orientierte, während die Lutheraner sich Formularen aus dem Jahr 1774 bedienten.29 Für den Zusammenschluss hatte Schleiermacher eine beide Traditionen vereinigende Spezialagende geschaffen, damit „jede Gemeinde in sämtlichen Formularen etwas von dem findet, woran sie gewöhnt ist.“30 Die Veränderungen bezogen sich dabei auf Morgengebet, Abendmahlsritus und die Kasualien. Während die Reformierten mit der Union den lutherischen Kirchenschmuck übernommen hatten,31 war der sonntägliche Gottesdienst vor wie nach der Vereinigung in beiden Gemeindeteilen reformiert-schlicht, „ohne Präfationen, Collecten, Responsorien etc., ja auch ohne Bibellesung vor dem Altar“ und die Gemeindeunion unter der Bedingung vollzogen worden, „daß in den bisherigen Formen des Gottesdienstes möglichst wenig sollte verändert werden.“32 Die Unionsagende war von Anfang an als Interimisticum gedacht und sollte zu gegebenem Zeitpunkt von der offiziellen neuen Agende abgelöst werden.33 Dennoch verteidigte Schleiermacher sie vehement 28 29
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Vgl. Schmidt, Festgottesdienst, S. 320 Vgl. Schleiermachers Erklärung an das Konsistorium vom 13. September 1825, KGA I/9, S. 290–291. Zu einem genaueren Nachweis der lutherischen Kirchenagende sah er sich nicht imstande – dieser gelingt auch heute nicht. Vgl. Anschreiben der Superintendenten Küster und Marot an das Konsistorium anlässlich der Übergabe der unierten Agende für die Dreifaltigkeitskirche vom 23. Februar 1822, in: GStA, HA X, Brandenburg, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876, Bl. 91r. Die Agende ist abgedruckt in: KGA III/3, Anhang. Vgl. „An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörigen Gemeinden“, KGA I/9, S. 205 Schleiermachers Erklärung an das Konsistorium vom 13. September 1825, KGA I/9, S. 291. Der Ablauf eines Schleiermacher’schen Predigtgottesdienstes (Hauptgottesdienst) ist für 1824 nicht endgültig rekonstruierbar. Einerseits schätzte Schleiermacher die Stabilität des liturgischen Gesamtablaufs, der für ihn die Kircheneinheit repräsentierte, andererseits war ihm in den einzelnen Stücken gestalterische Freiheit wichtig. Vermutlich folgte nach einem Orgelvorspiel und einem Gemeindelied das Adjutorium als Eröffnung. Ihm schloss sich das Morgengebet (nach Spezialagende) an. Nach einem weiteren Lied dürfte es zu dieser Zeit eine Lesung gegeben haben, die Schleiermacher wohl frei wählte. Die Predigt, die ebenfalls einem frei gewählten Text folgte, wurde mit dem Allgemeinen Kirchengebet abgeschlossen. Mit einem weiteren Gemeindegesang und dem Segen endete der Gottesdienst. Vgl. Schmid, Festgottesdienst, S. 325.343.350.357–358 Vgl. Anschreiben der Superintendenten Küster und Marot an das Konsistorium anlässlich der Übergabe der unierten Agende für die Dreifaltigkeitskirche vom 23. Februar 1822, s.o. Anm. 30
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gegen das liturgische Werk Friedrich Wilhelms III. Seine Opposition hing eng mit seinen eigenen jahrelangen Bemühungen für eine synodale Kirchenordnung zusammen, die das landesherrliche Summepiskopat ablösen sollte.34 Dabei hatte er stets den Grundsatz vertreten, dass eine Mitbestimmung des Kirchenvolks die elementare Voraussetzung für innerkirchliche Veränderungen sei, was er auch bei der Spezialunion an der Dreifaltigkeitskirche in besonderer Weise berücksichtigt hatte.35 Mit Blick auf die Situation seiner Gemeinde wandte er sich außerdem gegen Form und Inhalt der neuen Agende, da diese ab 1820 stark an den alten lutherischen Mess-Typus angelehnt war,36 der generell den Reformierten, und speziell an der Dreifaltigkeitskirche auch den Lutheranern, fremd war.37 Die Anfrage des Konsistoriums Anfang des Jahres 1822, ob Schleiermacher die Agende annehmen wolle, beantwortete er – unter Verweis auf die neuen Spezialformulare – klar negativ. Eine ausführliche Darstellung seiner Bedenken behielt er sich vor.38 Weil die meisten Geistlichen Preußens ähnlich 34
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1808 hatte sich Schleiermacher im Rahmen der Preußischen Reformen in der Denkschrift „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staate“ (KGA I/9, S. XXV–XXX.1–18) für eine Kombination von presbyterial-synodalen in Verbindung mit episkopalen Elementen ausgesprochen. Im Januar 1812 war dem Kultusdepartement schließlich von der Berliner Provinzialregierung ein von J. Chr. Gaß unter dem Beirate von Schleiermacher verfasster Entwurf einer Synodalordnung überreicht und gleichzeitig war die Aufstellung einer neuen Kirchenagende beschlossen worden. Die Angelegenheit geriet jedoch durch die Befreiungskriege Preußens gegen das napoleonische Frankreich ins Stocken. So fanden die Verhandlungen zur Gemeindeunion zwischen Superintendenten, Predigern sowie lutherischen und reformierten Gemeindevertretern statt. Aus ihnen ging der Unionsplan hervor, zu welchem sich die Gemeindeglieder binnen einer Einjahresfrist äußern konnten, ehe er den Behörden zur Genehmigung vorgelegt wurde. Während die ersten Versuche einer Agende von 1816 und 1817 sich im Wesentlichen an dem Ablauf des Gottesdienstes orientierten, der sich mit reformiertem Einfluss allgemein in den lutherischen Gemeinden eingebürgert hatte, hatte der König ab 1820 eigenständig und ohne theologischen Beirat auf Basis fast unbekannt gewordener Agenden seiner Regierungsvorfahren die „Kirchenagende für die Königlich Preußische Armee“ geschaffen, die Weihnachten 1821 im Druck erschien und zuerst probeweise in der Garnisonkirche, dann in der Domkirche eingeführt wurde; vgl. Foerster, Landeskirche 2, S. 56–59. Vgl. Schleiermachers Erklärung an das Konsistorium vom 13. September 1825, KGA I/9, S. 294 Vgl. Schleiermacher an Marot betr. die neue Agende, 31. März 1822, Archiv Superintendentur Friedrichswerder A 5,2, Bl. 6; abgedruckt in: Reich, Pfarrer, S. 489– 490. Schleiermacher plante in dieser Zeit die Veröffentlichung einer Rezension zur Agende in den „Neuen Theologischen Annalen“, um „das Ding darzustellen wie es ist, damit diejenigen, welche sich im gewissen verpflichtet fühlen möchten zu protestiren [...] etwas haben, worauf sie sich berufen können.“ (Briefe 4, S. 286) Aus Zeitgründen konnte er sie jedoch letztlich nicht verfertigen; außerdem war er von Freunden angesichts seiner schwierigen Lage zur Zurückhaltung ermahnt worden. (Vgl. Briefe 4, S. 296)
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ablehnend reagierten,39 hoffte der König durch eine zweite Auflage40 und einen Anhang zur Agende41 auf mehr Zustimmung und ordnete Ende Februar 1824 eine erneute Umfrage an, die nun jedoch mit der Drohung verbunden war, er werde eine Ablehnung der Agende „nicht ungerügt lassen“42. Eine Stellungnahme Schleiermachers ist nicht überliefert. Er verfolgte besorgt die heftige Auseinandersetzung des Berliner Magistrats, der das eigenmächtige Verhalten einiger Geistlicher rügte, die neue Agende ohne Rücksprache mit den Gemeinden in den städtischen Patronatskirchen eingeführt zu haben, mit dem Ministerium43 und sah den Ausgang auch für die Dreifaltigkeitsgemeinde als relevant an.44 Während er sich vermutlich auf seine zuvor gemachte Aussage zurückzog und seine Gemeinde hinter sich wusste, zeigte sein Kollege Marheineke eine deutliche Neigung hin zur Linie des Königs.45 Die Differenz zwischen den beiden Männern trat im Verlauf des Jahres 1824 auf das Deutlichste hervor und wurde wohl auch in der 39
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Lediglich ein Sechzehntel der Geistlichen in Preußen wollte sich nach der ersten Umfrage (1822) zur Einführung der neuen Agende bereit erklären. Vgl. Gesamtbericht des Ministeriums über die Aufnahme der Agende vom 7. Oktober 1823; im Auszug abgedruckt in: Foerster, Landeskirche 2, S. 350–361 Kirchenagende für die Hof- und Domkirche in Berlin, Berlin 21822. Neben kleineren Modifikationen enthielt die Neuauflage erweiternd die Formulare für Taufe, Trauung, Ordination, Konfirmation, Krankenabendmahl und Begräbnis sowie drei altkirchliche Glaubensbekenntnisse, einen Katechismus und einen Musikanhang. Vgl. dazu Foerster, Landeskirche 2, S. 62–67 Anhang von Gebeten, Sprüchen u.s.w. aus mehreren ältern Agenden zusammengetragen und zum Gebrauche für die Liturgie an Sonn- und Festtagen eingerichtet; nebst einem Auszuge aus der Liturgie für Kirchen, denen es am Notwendigsten mangelt, um sie vollständig abzuhalten, Berlin, 1823 Kabinettsorder vom 24. Februar 1824; im Auszug abgedruckt in: Foerster, Landeskirche 2, S. 98 Der Magistrat beschwerte sich am 25. Juni 1824 beim Ministerium über das Vorgehen der Geistlichen an der Dorotheenstädtischen und der Friedrichswerderschen Kirche, da das Konsistorium sich nicht imstande sah, dort den Gebrauch der neuen Liturgie zu verhindern. Außerdem richtete er am 13. Juli 1824 sowohl eine offizielle Eingabe als auch ein Privatschreiben an Minister Altenstein und argumentierte scharf gegen das ius liturgicum des Königs, wurde aber dennoch nur auf die bereits im Juni beschiedene Ablehnung verwiesen. Zur Auseinandersetzung vgl. Foerster, Landeskirche 2, S. 102–115 Vgl. Schleiermachers Brief an K. H. Sack vom 24. April 1824, in: Briefe an einen Freund, S. 27 Vgl. Briefe an einen Freund, S. 27. Marheineke hatte bereits am 11. Februar dem König seine dem Superintendenten eingereichte Erklärung persönlich zugesandt, worin er zum einen nachdrücklich das ius liturgicum des Landesherrn sowie die Untertanenpflicht, sich den Anordnungen des Monarchen zu fügen, betonte, und zum anderen sein unbedingtes Vertrauen zur höchsten Autorität, da er inkompetent sei, die Liturgie zu beurteilen; vgl. Foerster, Landeskirche 2, S. 133, Anm. 1.
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Einleitung der Bandherausgeberin
Gemeinde wahrgenommen: Im Sommer hatte sich Schleiermacher zu der pseudonymen Publikation „Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus“46 entschlossen. Darin behandelte er die Grundsatzfrage des ius liturgicum und wendete sich mit scharfer Polemik gegen das am königlichen Hofe hoch gelobte pro-agendarische Werk „Kritik der neuen Preußischen Agende“ des Bonner Theologieprofessors J. C. W. Augusti, wodurch er ein erneutes Disziplinarverfahren riskierte.47 Marheineke veröffentlichte daraufhin im Dezember 1824 eine Gegenschrift zum „Pacificus“,48 mit der er sich allgemein sehr viel Unwillen zuzog49. Obwohl sich zum Jahresende 1824 Schleiermachers Position durch das Bekanntwerden seiner Identität mit Pacificus Sincerus stark verschlechterte,50 beobachtete er die Entwicklung der Agendenangelegenheit weiterhin kritisch51 und widersetzte sich auch im Folgejahr den Maßnahmen zur flächendeckenden Einführung der königlichen Agende: Um den (rechtlich problematischen) landesherrlichen Befehl zur Einführung des Agendenwerkes zu umgehen, sollten die Geistlichen nun vor dem Hintergrund des (unangezweifelten) ius circa sacra des Landesherrn, das auch die Genehmigung aller Abweichungen vom Bestehenden beinhaltete, vor die Entscheidung gestellt werden, entweder wörtlich zu den zuletzt für sie von höchster Autorität genehmigten Gottesdienstformularen zurückzukehren oder die neue Agende anzunehmen, wobei bei letzterer noch provinzelle Erweiterungen in Aussicht stünden.52 46 47
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Vgl. KGA I/9, S. LXXI–LXXXI.211–269 Vgl. Schleiermachers Briefe an J. Chr. Gaß vom 22. Oktober 1824, Briefe 4, S. 323, und an L. G. Blanc vom 26. Oktober 1824, Briefe 4, S. 325. Gleichzeitig war sich Schleiermacher sicher, dass keine politischen Verdächtigungen mehr gegen ihn gehegt würden; vgl. Briefe 4, S. 327. Ueber die wahre Stelle des liturgischen Rechts im evangelischen Kirchenregiment. Prüfung der Schrift über das liturgische Recht der evangelischen Landesfürsten von Pacificus Sincerus, Berlin 1825. Vgl. dazu KGA I/9, S. LXXVIII Vgl. Schleiermachers Briefe an J. Chr. Gaß vom 28. Dezember 1824, Briefe 4, S. 329–330, und an W. M. L. de Wette vom 2. Februar 1825, Briefe 4, S. 333 Vgl. Schleiermachers Bericht an J. Chr. Gaß, Briefe 4, S. 328–329 sowie seinen Brief an W. M. L. de Wette vom 2. Februar 1825, Briefe 4, S. 332. Schließlich wurde gegen Schleiermacher zu Jahresbeginn 1826 ermittelt, indem Altenstein ihn zu einer Erklärung über den Pacificus Sincerus aufforderte (abgedruckt in: KGA I/9, S. LXXII, Anm. 210). Schleiermacher bekannte sich, trotz großer Bedenken aus seinem persönlichen Umfeld, freimütig zu der Verfasserschaft; vgl. dazu seinen Brief an J. Chr. Gaß vom März 1826, Briefe 4, S. 341–342. Eine Reaktion aus dem Ministerium blieb aus; vgl. Brief an Gaß vom 1. April 1826, Briefe 4, S. 345. Vgl. Schleiermachers Brief an L. G. Blanc vom 22. November 1824, Briefe 4, S. 327 Vgl. Foerster, Landeskirche 2, S. 126–127
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Am 21. Juli 1825 zu einer Erklärung aufgefordert,53 beanspruchte Schleiermacher in seinem Antwortschreiben vom 13. September54 für seine Gemeinde einen dritten Weg: Sie bedürfe keiner Rückkehr zu alten Agenden, da die mit der Union 1822 eingeführte Sonderagende vom Konsistorium angenommen worden sei und ihrerseits auf älteren, von höchster Autorität genehmigten Agenden basiere. Er verteidigte auch bezüglich dieser Agende seine liturgische Freiheit und schloss aus, sich „gegen irgend jemanden zu einer knechtischen Buchstäblichkeit zu verpflichten“55, da sonst die Liturgie zu einer reinen Äußerlichkeit verkomme. Wegen des ihr zugrunde liegenden Typus der lutherischen formula missae, sprach er sich schließlich explizit gegen die neue Agende aus. Obwohl der Dreifaltigkeitsgemeinde, die sich ab Juni 1825 in einer Renovierungs- und Umbauphase befand, durch diese Haltung finanzielle Probleme drohten,56 legte Schleiermacher in der Folgezeit gemeinsam mit elf weiteren gegen die Agende opponierenden Berliner Geistlichen in mehreren an Ministerium und König gerichteten Versuchen die Gründe seiner Haltung dar57, womit eine langjährige Reihe zäher Vernehmungen und Verhöre58 begann. 53 54
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Vgl. Briefe 4, S. 446, Anm. Vgl. KGA I/9, S. LXXXIV–LXXXV.285–294. Der Vorbereitung zu dieser Erklärung diente wohl die seinerzeit unveröffentlichte kleine Denkschrift zur Agende in SN 457; vgl. KGA I/9, S. LXXXI–LXXXIV.271–283. KGA I/9, S. 293 Vgl. Briefe 4, S. 337; KGA III/9, Einleitung Die erste gemeine literarische Unternehmung der „Zwölfe“ (Couard [Georgenkirche], Hetzel [Luisenstadtkirche], Hoßbach [Jerusalems- und Neue Kirche], Ideler [Sophienkirche], Jablonski [Parochialkirche], Lisco [Gertraudenkirche], Noodt [Nikolaikirche], Pischon [Kirche des Großen Friedrichs-Waisenhauses], Schleemüller [Jerusalems- und Neue Kirche], Schleiermacher [Dreifaltigkeitskirche] Schultz [Sophienkirche], Wilmsen [Parochialkirche]) war die „Vorstellung der unterschriebenen Berlinischen Prediger vom 7. Oktober 1825 an das Konsistorium der Provinz Brandenburg“ (vgl. KGA I/9, S. LXXXV–XCVII.295–334; zur Datierung s. ebd. S. XC; zur möglichen Verfasserschaft Schleiermachers s. ebd. S. LXXXVII). Nachdem die Eingabe ohne Erfolg gewesen war, regte General J. W. von Witzleben, der zu den Protestierenden abgesandt worden war, eine neue, direkt an den König gerichtete Vorstellung an. Das „Memorandum der zwölf unterschriebenen Berliner Prediger vom 1. März 1826 an König Friedrich Wilhelm III.“ wurde von Schleiermacher verfasst; vgl. KGA I/9, S. XCVII–CI.335–359 (hier auch zum vorangegangenen Entwurf). Als die Protestierenden merkten, dass ihr Memorandum kein Einlenken des Königs zur Folge hatte, entschlossen sie sich zu einem weiteren Schritt, um auf eine Verfügung vom 14. April einzugehen, welche die Durchsetzung der Agende mittels besonderer Stellenbesetzungspolitik zum Zweck hatte (vgl. Kamptz, Annalen 10 [1826], S. 348). Am 27. Juni richteten sie daher ein von Schleiermacher verfasstes Protestschreiben an Minister Altenstein (vgl. KGA I/9, S. CI–CX.361–379), wobei nun Deibel (Prediger am Kadetten-Korps) anstelle von Lisco seine Unterschrift leistete. Zu den Vernehmungen und brieflichen Zeugnissen Schleiermachers aus dieser Zeit vgl. KGA I/9, S. LXXXCII–XCVI.CIV–CIX
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3. Der Agendenstreit im Spiegel der Predigten Schleiermachers von 1824 Schleiermachers Predigtstil ist grundsätzlich als dogmatisch-abstrakt zu bezeichnen. Geschehnisse der Politik oder auch des Alltags kommen selten oder allenfalls indirekt zur Sprache. Auf diese Weise schützte sich Schleiermacher auch gegen das feindliche Ansinnen der Regierung, die seine Gottesdienste seit 1819 von Spitzeln überwachen ließ, um ihn der Demagogie überführen zu können.59 Bei seinen Predigten in der Dreifaltigkeitskirche im Sommer 1824 geht Schleiermacher wie gewohnt nicht über Anspielungen zum aktuellen Geschehen hinaus – das Thema Agendenstreit schimmert jedoch immer wieder durch. So erörtert er beispielsweise in der Predigt vom 15. August über Lk 14,26, was der Erlöser damit meine, wenn er gebietet um seinetwillen zu hassen. Die Antwort bestehe darin, das Herz vor allen denjenigen zu verschließen, die anders als auf dem Weg der freundlichen Überzeugung den Glauben mit Drohungen und Versprechungen biegen wollen. Ungewöhnlich direkt äußerte sich Schleiermacher hingegen bei seiner Vertretungspredigt in der alten Friedrichswerderkirche am 25. Juli 1824, die wahrscheinlich besonders gut besucht war, weil sie im Rahmen des letzten Gottesdienstes vor dem Abriss des Gebäudes stattfand.60 Die Friedrichswerdergemeinde stand im Zentrum der o.g. Auseinandersetzung zwischen Magistrat und Ministerium, denn zahlreiche angesehene Gemeindeglieder hatten sich dem Ansinnen des Magistrats angeschlossen und Minister Altenstein wegen der Einführung der neuen Agende um Entbindung ihrer Gemeindezugehörigkeit gebeten.61 Schleiermacher nutzte ausgewählte Verse der Sonntagsperikope Mt 5,20–26, um auf diese akute Situation einzugehen und bezieht das Gebot Jesu, die Versöhnung mit dem Bruder dem Opfer vorzuziehen, direkt auf die „öffentliche(-) und gemeinsame(-) Andacht“ (S. 494, Z. 36f.).62 Geschickt betont er, dass es dabei um die Wohlgefälligkeit der Versammlungen vor Gott und nicht um die Schuldfrage gehe (S. 494, Z. 19ff.) und fragt vor dem Hintergrund der Spaltung in der Friedrichswerdergemeinde: „Kann aber, m. g. F., 59
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Vgl. die Aufzeichnungen der Polizeiagenten über Schleiermachers Gottesdienst am 14. November 1819, in: Treitschke, Aufsätze 4, S. 366–367. Zur politischen Verfolgung Schleiermachers vgl. KGA III/7, S. XVI–XX S.u. S. 470–471, Sachapparat Vgl. Foerster, Landeskirche 2, S. 107.113 Die Seiten- und Zeilenzahlen beziehen sich auf den vorliegenden Band.
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Wahrheit sein und Treue in diesem gemeinsamen Nachdenken [...] wenn wir besorgen müssen, daß einer unter unsern Brüdern etwas wider uns habe in seinem Herzen, so daß er nicht möchte in einer solchen Gemeinschaft des Glaubens und des Gebetes mit uns stehen, so daß er lieber von uns sich trennete in dieser heiligen Beziehung als sich mit uns vereinigte?“ (S. 495, Z. 1ff.) Solche Veranstaltungen seien Gott nicht wohlgefällig und „nicht ein kleiner Theil der Schuld fällt darauf, daß wir vorher nicht abklären unsere brüderliche Liebe von allem, was sei es klein oder groß, sie in dem Laufe des Lebens stört, daß wir vorher nicht, könnten wir uns auch noch so rein und unschuldig dünken, das Herz jedes Bruders zu erweichen suchen in seinem Innern, der etwas wider uns hat.“ (S. 495, Z. 35ff.) Dann entwickelt er den direkten Bezug zur Liturgiereform, die er grundsätzlich lobenswert findet, aber anmahnt, der Vollkommenheit „nicht anders als in Liebe und Frieden“ (S. 497, Z. 13f.) nachzutrachten. Abschließend stellt er rhetorische Fragen in den Raum: „Soll nun das, m. g. F., was zu einem Vereinigungsmittel dienen soll unserer Herzen vor Gott, eben eine Veranlassung dazu werden, daß Widerwärtigkeiten des Einen gegen den Andern entstehen? Soll es uns mehr darauf ankommen, daß etwas Vergängliches und Mangelhaftes unseren Anordnungen entzogen wird als darauf, daß wir hartnäkig auf demjenigen bestehen, was jedem Einzelnen das Beste zu sein dünkt? Sollen wir es darauf anlegen Kränkungen der Gemüther, Störungen der ruhigen gemeinsamen Erhebung zu Gott, Trübungen der khristlichen Freudigkeit, Spaltungen in der khristlichen Gemeine zu erregen? Wie große Freude auch der Einzelne daran haben kann, wenn das was nach seiner Ueberzeugung das Bessere ist, sich geltend zu machen weiß in der Gemeine der Khristen, o wie könnte er hinzutreten zu dem Altar des Herrn, um diese neue schöne Gabe darzubringen, wenn er dabei denken müßte, daß er, sei es durch einen heftigen Streit oder durch einen lebhaften Widerspruch oder sonst wie, eine Ursach davon gewesen ist, daß Einer oder mehrere unter seinen Brüdern etwas wider ihn haben in ihrem Herzen, oder wenn es auch gewesen wäre ohne seine Schuld, daß er doch ohne seine Schuld nicht lieber den unnüzen Widerspruch und den verderblichen Streit fahren gelassen hat und danach gestrebt, das Band der Liebe fester zu knüpfen und die Einheit des Geistes immer mehr zu stärken.“ (S. 496, Z. 19ff.) Diese radikale Predigt, in der Schleiermacher die Befürworter des königlichen Agendenwerks ausdrücklich zur Zurückhaltung mahnt, ist nicht nur ein eindrucksvolles Zeugnis seines Denkens im Jahr 1824, sondern ermöglicht im Vergleich mit ihrer 1829 im Festmagazin
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erschienenen literarischen Version63 einen Einblick in die Entwicklung seiner Sichtweise sowie seiner Versöhnungsbereitschaft.
4. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten Schleiermacher veröffentlichte auf Grundlage von Nachschriften insgesamt 20 Predigten des Jahres 1824. Die Predigt vom Totensonntag (21.11. vorm.) erschien 1825 als Einzeldruck im Verlag G. Reimer und außerdem 1833 in Schleiermachers siebenter Sammlung Predigten. Diese Predigt und die vom 11.01. vorm., die Schleiermacher von Ernst Zimmermann in einem Sammelband zur Unterstützung der 63
Festmagazin Bd. 4, 1829, S. 263–276. Die literarische Predigt, in der sich das Ende des Agendenstreites (durch die Herausgabe provinzieller Agenden und Berücksichtigung der reformierten Gottesdienstordnung) widerspiegelt, weist zahlreiche markante Änderungen gegenüber ihrer Vorlage auf. So ergibt sich bereits aus der Überschrift, dass die Predigt nun Befürworter und Gegner der königlichen Agende gleichermaßen als Adressaten hat („Christi Vorschrift, wenn einer etwas wider uns hat.“). Besonders eindrücklich ist auch folgender Auszug: „Nun leben wir jetzt gerade in einer Zeit, wo die beste Art und Weise der Einrichtung unserer öffentlichen Gottesverehrung [...] ganz auf’s Neue sowohl ein Gegenstand reiferen Nachdenkens und genauerer Erwägung geworden ist, als auch Stoff zu mancherlei Vorschlägen und Versuchen gegeben hat. Leider aber bringt auch hier die menschliche Schwachheit mit sich, daß je mehr an den Tag kommt, wie weit die Ansichten der Einen und der Anderen über das Beste und Zweckmäßigste und über die richtige Art, es geltend zu machen, auseinandertreten, daraus auch störende Reibungen und widrige Empfindungen beider Theile gegeneinander entstehen. Fern sey es von mir, reinen und löblichen Eifer dämpfen zu wollen, zumal um einen so wichtigen Gegenstand; vielmehr wäre es die Gleichgültigkeit, welche am meisten müßte getadelt werden. [...] Unmöglich werden Alle gleich das Alte verwerfen; unmöglich werden ihm Alle treu bleiben, weil doch das Neue nothwendig Einigen muß wahr und gut erschienen seyn, oder es hätte gar nicht können zum Vorschein kommen. Soll also vielleicht, um jede Trennung zu vermeiden, Alles immer bleiben, wie es gewesen ist? Auch das können wir nicht behaupten, weil es sonst überall keinen evangelischen Gottesdienst geben würde; wiewohl allerdings bei allem Gemeinsamen weder möglich noch nothwendig oder auch nur rathsam ist, jede Unvollkommenheit sogleich auszumerzen, wenn Einer oder wenige Einzelne sie als solche erkannt haben. Eine Grenze aber zieht uns der Erlöser in unserem Texte auf das Allerbestimmteste. Wie lebhaft auch Jemand überzeugt sey: dasjenige, dem er sich entgegensetzt, sey nicht nur unvollkommen, sondern verderblich; oder wieviel Gutes sich Einer davon versprechen mag, – wenn er das, was nach seiner Ueberzeugung das Bessere ist, geltend machen könnte in den christlichen Versammlungen: werden sie wohl, dieser, wenn er das Seinige glücklich durchgesetzt, jener, wenn er das Alte glücklich beseitigt hat, hinzutreten können zu dem Altare des Herrn, um die neue ihnen selbst wohlgefällige Gabe darzubringen, wenn sie sich doch der Besorgniß nicht erwehren können, daß eben deßhalb, gleichviel ob Einer oder Viele, etwas gegen sie habe?“ (S. 273–274). Zur kritischen Edition der Predigt vgl. KGA III/2
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evangelischen Gemeinde in Mühlhausen64 edieren ließ, sind dabei die einzigen eigentlichen Sonderpublikationen. Im „Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden“, das Schleiermacher von 1823 bis 1829 gemeinsam mit Johann Friedrich Röhr und Johann Georg Jonathan Schuderoff herausgab65, erschienen in den Bänden 3–6 (1825–1829) die Predigten vom 12.05. nachm. (Begräbnis), 30.05. vorm., 20.06. vorm., 04.07. vorm., 18.07. vorm., 25.07. vorm., 01.08. vorm., 15.08. vorm., 10.10. vorm., 24.10. vorm., 07.11. vorm. und vom 05.12. (Trauung). Eine nicht genau datierbare Taufpredigt, die aber vor 1825 anzusetzen ist, wurde 1824 im Festmagazin Bd. 2 publiziert. Weiterhin veröffentlichte er in seiner fünften Sammlung Predigten (1826) die Vormittagspredigten vom 01.01., 21.03., 16.04., 19.04. und vom 26.12.1824. Auf das Erscheinen der Predigt am 23sten Sonntage nach Trinitatis 1824 (am Todtenfeste) in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen von Dr. F. Schleiermacher (1825) wurde in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“66 mit ausführlicher Inhaltsangabe hingewiesen. Der Verfasser des Artikels verzichtet auf eine Bewertung und setzt „die Predigtweise des berühmten Vfs. bey unsern Lesern als bekannt voraus(-)“. (Sp. 188) Der Rezensent der „Kritischen Prediger-Bibliothek“67 hingegen konstatiert, die Gedankenfülle der Predigt sei eines Auszuges nicht fähig, „aber lesen muß diese Predigt Jeder, der über einen dem menschlichen Herzen so wichtigen Gegenstand nach christlichen Lichte verlangt; er wird sich dem würdigen Vf. zum innigsten Danke verbunden fühlen“. (S. 820) Darüber hinaus entwirft der Rezensent im Panorama zeitgenössischer Kanzelredner das Idealbild eines christlichen Predigers, welcher „Schleiermachers tiefe Innigkeit und biblischen Geist“ haben müsse. (S. 818) Ausdrücklich lobt er, dass der untergelegte Text durchgängig das leitende Prinzip des ganzen Vortrags sei und diese der neueren homiletischen Mode entgegengesetzte Predigtweise bei Schleiermacher selbst in Kasual- und Festpredigten zu finden sei. (S. 820) Die insgesamt positive Rezension 64
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Predigten über sämmtliche Sonn- und Festtags-Evangelien des Jahres: Eine Gabe christlicher Liebe der neuen evangelischen Gemeinde in Mühlhausen dargebracht von jetzt lebenden deutschen Predigern, Bd. 1, ed. E. Zimmermann, 1825, 21826, S. 154–170 Zu der Zusammenarbeit vgl. Schleiermachers Brief an J. Chr. Gaß vom 20. Dezember 1823, in: Briefe 4, S. 318 sowie Schleiermachers Brief an K. H. Sack vom 18. Juli 1823, in: Briefe an einen Freund, S. 24 Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 1826, Ergänzungsblätter Nr. 24 (Februar 1826), Sp. 188–189 Kritische Prediger-Bibliothek, Jg. 1826, Bd. 7, H. 1, S. 819–821
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endet mit einer Kritik der Schleiermacher’schen Auslegung von „unser nichtiger Leib“, die der Verfasser als gezwungen empfindet; er empfiehlt, den Ausdruck nicht zu eng zu fassen und ihn auf „die ganze Zeitlichkeit – mit einbegriffen sowohl das irdische, leibliche Menschenleben, als das zeitliche Leben der Kirche“ zu beziehen. (Sp. 820–821) Die Predigt vom 11.01.1824 vorm., die 1825 in Ernst Zimmermanns „Predigten über sämmtliche Sonn- und Festtagsevangelien des Jahres. Eine Gabe christlicher Liebe der neuen evangelischen Gemeinde in Mühlhausen 6 8 dargebracht von jetzt lebenden deutschen Predigern, Bd. 1“ erschien, erfuhr durch diesen Umstand eine breite Wahrnehmung und dürfte zur weiteren Bekanntheit Schleiermachers beigetragen haben. Zwar findet sich keine direkte Reaktion auf speziell seine Predigt, der Sammelband aber „ist seiner Zeit mit so beispiellosem Beifall aufgenommen worden, daß die Zahl der Subscribenten aus allen Ländern Europas nahe an 13.000 sich belief.“69 Bereits 1826 wurde Bd. 1 nochmals aufgelegt, wobei beispielsweise die „Leipziger LiteraturZeitung“70 auf eine ins Detail gehende Darstellung u.a. auch von Schleiermachers Beitrag aus Bekanntheitsgründen verzichtet. (Sp. 1154) Im „Wegweiser älterer und neuerer gemeinnütziger Schriften“ von 185871 wird über das Werk rückblickend gesagt, man habe durch die Sammlung verschiedenster Predigtformen der Anhänger der abweichendsten theologischen Systeme Störung für erbauungsuchende Gemüter befürchtet. Diese Sorge sei jedoch deswegen unbegründet gewesen, weil der eine christliche Geist, der sich in wohl keiner Pre68
69 70 71
Über die Ereignisse in Mühlhausen an der Würm informiert u.a. auch ein Predigtdruck Schleiermachers von 1824 („Ueber die Worte des Erlösers: Hast du mich lieb?“), der ebenfalls zugunsten der dortigen Gemeinde erschien, „an welchem früher ganz Katholischen Orte bekanntlich im April des verflossenen Jahres über 40 Familien, nebst ihrem Grundherrn, dem Freyherrn von Gemmingen mit seiner Familie, und ihrem bisherigen Pfarrer, Aloysius Henhöfer, durch dessen biblische Vorträge in ihnen der Geist der christlichen Freiheit geweckt war, zur Evangelischen Kirche übergetreten sind; welchem Beispiele seitdem auch noch einige andere Familien gefolgt sind [...]. Diese aber, obwohl sie die Hälfte der ganzen Gemeinde ausmachen, haben auf allen Antheil an dem Eigenthum ihrer bisherigen Kirche Verzicht leisten müssen und willig Verzicht geleistet; daher ihnen, bei der Entfernung des Ortes von andern Evangelischen Gemeinden, die Sorge nicht nur für die Errichtung einer neuen Kirche und einer Pfarr- und Schulwohnung, sondern auch für die Besoldung ihres Evangelischen Pfarrers und Schullehrers obliegt.“ Vgl. KGA III/7, S. 751–752 Bekanntmachungsblatt der kritischen Prediger-Bibliothek, Jg. 1835, Nr. IV, S. 5 Leipziger Literatur-Zeitung, Jg. 1826, Nr. 145, Sp. 1153–1155 Wegweiser älterer und neuerer gemeinnütziger Schriften 1, ed. C. G. A. Freude, 1858, S. 46
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digt vermissen lasse, alle verschiedenen Lehrsysteme verbinde und der Streit sich nur auf dem Gebiet des Wissens und der Wissenschaft bewege. Das Festmagazin, welches ursprünglich mit dem Ziel herausgegeben wurde, durch die Zusammenschau unterschiedlicher Predigtweisen die Urteilskraft junger Predigtkandidaten zu fördern und ihnen als vielfältige Quelle für eigene Gedanken zu dienen, wurde zunehmend auch von Familien für den Hausgebrauch gekauft.72 Es wird in zeitgenössischen Rezensionsorganen zumeist bandübergreifend besprochen. Zwar wird bei der Beurteilung in der Regel zwischen den drei Herausgebern unterschieden, auf einzelne Predigten aber eher selten Bezug genommen. Band 2 des Festmagazins findet in der Literatur insgesamt lobende Erwähnung. Dabei bezieht sich das durchweg positive Urteil der „Allgemeinen Literaturzeitung“73, die die „treffliche Predigtsammlung“ als „kräftige Nahrung für Geist und Leben“ (Sp. 38) bezeichnet, ebenso wie das gemischte Urteil im „Journal für Prediger“74, in dem Schleiermacher einerseits für Gründlichkeit und Ausführlichkeit gelobt, andererseits aber für seine Weitschweifigkeit getadelt wird (S. 96), vor allem auf die Predigten aus den Hauptgottesdiensten. Die kleine Taufrede unbekannten Datums wird zusammen mit den anderen in Bd. 2 gedruckten Amtsreden aller drei Herausgeber von Rezensent „E.“ im „Journal für Prediger“ negativ bewertet: „Alle scheinen uns der Wärme und Lebendigkeit zu ermangeln, welche der Zweck solcher Reden offenbar erfordert, die nichts lehren und zeigen, sondern fromme Gedanken in den Gemüthern sammeln, heilige Gefühle und Gesinnungen wecken und beleben sollen“. (S. 99) Der Rezensent des „Theologischen Literaturblattes“75 hingegen ist voll des Lobes einerseits für das Magazin an sich, andererseits für die drei Herausgeber und ihre jeweils spezifische Predigtweise. Hier wird betont, dass sich unter den kleineren Reden „viel Köstliches“ befinde. (Sp. 171– 172) Die Bände 3 und 4 des Festmagazins, die Schleiermachers Nachmittagspredigt vom 12.05. sowie die Hauptpredigten vom 30.05., 20.06., 04.07., 18.07., 01.08., 15.08., 24.10. und vom 05.12.1824 enthalten, wurden 1826 im „Theologischen Literaturblatt“76 in einer Sammelrezension aller bis dato erschienenen Bände besprochen. Dem 72 73 74 75 76
Vgl. Wegweiser älterer und neuerer gemeinnütziger Schriften 1, ed. C. G. A. Freude, 1858, S. 41–42 Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 1825, Nr. 5, Sp. 37–40 Journal für Prediger, Jg. 1825, Bd. 66, Stück 1, S. 89–99 Theologisches Literaturblatt, Jg. 1824, Nr. 21, Sp. 169–172 Theologisches Literaturblatt, Jg. 1826, Nr. 75, Sp. 609–616
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Einleitung der Bandherausgeberin
Verfasser „P. p.“ der knapp 7 Spalten umfassenden Besprechung scheint es „fast überflüssig“ die Arbeiten der drei Herausgeber, „über welche sich längst ein Urtheil gebildet hat, noch einer besonderer Kritik zu unterwerfen“. (Sp. 610) Den Lesern „reichen Genuß und volle Befriedigung“ zusichernd, analysiert er im Folgenden die Anwendung des homiletischen Grundsatzes von Schrifterklärung und Schriftanwendung und kommt zu dem Schluss, „daß Herr D. Schleiermacher [Hervorhebung im Original] ihn am treuesten und gelungensten befolgt“ habe. (Sp. 612) Des weiteren nimmt er an, „daß dieser ausgezeichnete, das ganze Gebiet der Theologie und der Kirche umfassende Geist ihn auch wohl selbst für den anerkennt, der obenanzustellen und dessen Befolgung keinem Diener am göttlichen Worte zu erlassen ist.“ Als Beleg nennt er u.a. folgende Predigten der Bände 3 und 4 aus dem Jahr 1824: „Über die Selbstverläugnung“ [18.07.], „Über das Gebot Christi um seinetwillen zu hassen“ [15.08.] und „Über das Warten des Christen“ [30.05.]. Im Anschluss untersucht Rezensent „P. p.“ die Christlichkeit der im Festmagazin gedruckten Predigten und konstatiert, Schleiermacher unterscheide sich von Röhr und Schuderoff, die Christus als Lehrer in den Mittelpunkt stellten, dadurch, dass er sich auf Christus als Erlöser konzentriere: „In den Schleiermacher’schen Reden nämlich bezieht sich Alles auf die höhere Würde Christi und auf die Kraft seiner versöhnenden Liebe, als von welcher alles ausgeht und wodurch jeder Gedanke Stellung, Ton und Farbe erhält. Dadurch entsteht ihm ein vester Zusammenhang, in welchem alle Vorträge unter einander stehen, dadurch die überreiche Gedankenfülle, welche eine wiederholte Lesung nothwendig macht, dadurch die stäte Beziehung alles Einzelnen auf das Reich Gottes und auf die geistige Gemeinschaft der Christen untereinander und mit Christo, dadurch endlich neben der großen Ruhe in einigen, die kräftigste Bewegung in anderen [...].“ (Sp. 613–614) Abschließend wird knapp auf den jeweils spezifischen Predigtaufbau der drei Herausgeber Bezug genommen. Für Schleiermacher gilt, dass „wie sich in allen Darstellungen Gehalt und Inhalt gegenseitig bedingen, so auch in jeder Predigt Anordnung und Gedankengang durch die behandelte Schriftstelle und durch den daraus abgeleiteten Hauptgedanken allein richtig bestimmt werden können.“ Dabei nimmt der Rezensent Schleiermacher vor Kritikern in Schutz, die über „häufig zu lange Perioden in den Predigten“ klagten und verweist auf die eigentümliche Entstehung der Lesepredigten durch Hörernachschriften; dies zeuge bei Schleiermacher von seltener und reicher Begabung. (Sp. 614) Letztgenannter Vorwurf erschien auch in der Besprechung der Festmagazin-Bände 2 bis 4 in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“77 von 1827. 77
Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, Jg. 23 (1827), Bd. 4, Nr. 216, Sp. 285–288
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Die Schleiermacher’schen Vorträge, die sich allgemein durch einen „philosophisch[en], minder populär[en], jedoch freymüthig sich aussprechende[n] Geist“ (Sp. 285) auszeichneten, zeugten gerade in einigen „homilienartig ausgearbeiteten Vorträgen“ [gemeint sind die in Bd. 3 erschienenen Predigten zum Thema Liebe und Furcht; s.u. Punkt II.3.C] zwar „von tiefer Kenntniß des menschlichen Herzens sowohl, als der Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens“, seien aber teilweise zu philosophisch und unverständlich für die Kanzel, „auf welcher immer die Mischung vor Augen zu behalten ist, welche unter den Zuhörern Statt findet, gesetzt auch, diese wären in der Mehrzahl gebildet“. (Sp. 286) Über die kleineren Amtsreden, zu denen in Festmagazin Band 3 die Traurede für M. F. Sommerfeld und J. S. H. Hecker sowie die Grabrede für C. Chr. Lipcke bei der Einweihung des neuen Dreifaltigkeitsfriedhofes gehören, urteilt der Rezensent „7. 4. 5.“, der als Johann Christian Große identifiziert werden kann,78 sie seien „insgesammt ihrer Vff. würdig, und könnten in Absicht auf Inhalt, Darstellung und Längenmaß als musterhaft empfohlen werden“. Schleiermachers Vormittagspredigten in Band 4 des Festmagazins (darunter 30.05., 15.08. und 24.10.1824) betreffend, kommt Große zu dem Ergebnis, sie seien „tief durchdacht und mit Gelehrsamkeit ausgearbeitet“ und beschäftigten den Verstand, ließen aber das Herz leer. (Sp. 287–288) Er rät an, das Material auf andere Weise zu bearbeiten, damit es in „Herz und Leben der Zuhörer“ eindringe und begrüßt, dass nicht jedermann Schleiermachers Gelehrsamkeit und Scharfsinn besitze, weil derartige Predigten nicht überall auf die Kanzel kommen sollten. (Sp. 288) Zwar gesteht er zu, die Schleiermacher’schen Predigten würden „mehr Christenthum enthalten“ als die Röhr’schen, im Vergleich ergebe sich für sie jedoch eine „nicht zweckmäßige Länge“. (Sp. 288) Rezensent „E.“ urteilt im „Journal für Prediger“79 über Bd. 3 ähnlich, wenn er sonderbare Ausdrucksweise, Unverständlichkeit und schwerfälligen Vortrag bemängelt. (S. 272) Knapp, aber sehr positiv, äußert sich die „Leipziger Literatur-Zeitung“80, für die sich eine detaillierte Besprechung der FestmagazinsBände 1–4 aufgrund der Bekanntheit der Herausgeber erübrigt. (Sp. 399) Anders als „7. 4. 5.“ bescheinigt der Rezensent jedem der 78
79 80
Vgl. Bulling, Rezensenten 3, S. 96. Johann Christian Große (geb. 1770 in Wittenberg; gest. 1847 in Nossen), war von 1802–1811 Pastor zu Betten bei Finsterwalde, ab 1811 dann zu Nossen in Sachsen, wo er 1820 Superintendent wurde; vgl. Leipziger Repertorium der Deutschen und Ausländischen Literatur, Jg. 1847, Bd. 17, H. 4, S. 159–160. Eine ausführliche Lebensbeschreibung findet sich in: Allgemeine Kirchenzeitung Jg. 26 (1847), Bd. 1, Nr. 53, Sp. 453–456. Journal für Prediger, Jg. 1825, Nr. 67, 2. Stück, S. 270–272 Leipziger Literatur-Zeitung, Jg. 1828, Nr. 50, Sp. 398–399
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Einleitung der Bandherausgeberin
geschätzten Homileten „im Geiste des großen Meisters das Evangelium desselben Geist und Herz ansprechend“ zu verkündigen und erhebt die Prediger weiterhin über Amtsgenossen „vom gewöhnlichen Schlage“. (Sp. 339) Band 5 des Festmagazins, in dem Schleiermachers Predigt vom 10.10.1824 abgedruckt ist, wurde 1828 wiederum von J. Chr. Große knapp in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“81 besprochen. Schleiermachers Predigten dieses Bandes nennt er „streng- und erschöpfend-biblisch“ (Sp. 215). Verglichen mit denen Röhrs, die nach Ansicht des Rezensenten mit dreizehn bis sechzehn Seiten das rechte Längenmaß hätten, seien Schleiermachers Vorträge mit sechzehn bis über zweiundzwanzig Seiten ermüdend. (Sp. 215–216) Welche Wirkung das Festmagazin in der politisch brisanten Zeit nach außen hatte, ist nur noch in Ansätzen greifbar. Dem Ende der oben in Anm. 75 genannten Rezension im „Theologischen Literaturblatt“ von „P. p.“ aus dem Jahre 1826 ist zu entnehmen, dass die Predigtsammlung durchaus politisch verdächtig war: „Zwar will verlauten, Hr. Schuderoff, als der eigentliche Redacteur dieser Sammlung sei über Einzelnes in derselben mit der Censurbehörde in Magdeburg in Differenz gerathen, wir können dieß aber nicht glauben; denn sonst müßten wir fragen, ob man denn will, daß die Steine schreien, wenn auch auf der Kanzel die Stimme der Wahrheit verstummen soll!“ (Sp. 615) Über den Anteil, den Schleiermachers Predigten an der Sachlage hatten, können nur Vermutungen angestellt werden. Die „Sammlung Bd. 5“, eine Zusammenstellung von Festpredigten, mit der Schleiermacher an seine letzte eigene Sammelpublikation von 1820 anknüpfte, enthält die – gegenüber den im vorliegenden Band gebotenen Nachschriften – stark bearbeiteten Texte der Predigten vom 01.01, 21.03., 16.04., 19.04. und 26.12.1824. Angaben zu dem teilweise theologisch und inhaltlich ins Detail gehenden Stimmungsbild der Rezensenten sind dem Band KGA III/2 zu entnehmen. Die „Sammlung Bd. 7“, die als zweiter Band von Festpredigten an die fünfte Sammlung anknüpft, enthält aus dem Jahr 1824 einen Wiederabdruck der o.g. Totenfestpredigt vom 21.11., die bereits als Einzeldruck erschienen war. Nachklappend sei hier noch auf zwei Rezensionen verwiesen, die in den Jahren 1825 bzw. 1826 zur Predigt „Ueber die Worte des Erlösers: Hast du mich lieb? Joh. 21, 16. Predigt am Sonn81
Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, Jg. 24 (1828), Bd. 3, Nr. 147, Sp. 215–216
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tage Cantate 1823 in der Dreifaltigkeitskirche gehalten von D. Friedr. Schleiermacher, Berlin 1824“ erschienen sind. Die erste Rezension erschien 1825 in den Ergänzungsblättern zur „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“.82 Ihr Autor kann über sein Kürzel „HIKL“ als Johann Christian Friedrich Dietz identifiziert werden.83 Die kurze Besprechung fällt durchweg negativ aus: Bereits den Titel hätte Dietz gern anders formuliert. (Sp. 311) Schleiermachers Hauptthese, „die Liebe zu Christo sey allein hinlänglich, den Beruf des Christen zu erfüllen“, findet er insofern nicht korrekt „da eine lebendige Liebe zu dem Erlöser nicht ohne eine fleissige Beschäftigung mit dem Worte seyn kann, und die ganze Berufsthätigkeit eines jeden Christen mit dem Werke des Erlösers in Verbindung steht“. (Sp. 311) Im Ganzen findet Dietz die Ausgangsfrage, ob die Liebe zu Christus hinreiche, um den Beruf des Christen zu erfüllen, „für die Kanzel ein wenig zu spitzfindig behandelt zu seyn, welches, der Gründlichkeit unbeschadet, wohl hätte vermieden werden können“. (Sp. 312) Weiterhin konstatiert er: „An Klarheit würde auch der ganze Vortrag gewonnen haben, wenn der Vf. den Begriff der Liebe zum Erlöser nicht so sehr im Halbdunkel gelassen hätte.“ Dietz versucht daraufhin, Schleiermachers Verständnis auf den Grund zu gehen; für die Predigt aber kommt er zu dem Schluss: „Das Wahre, das in dieser Vorstellungsart liegt, scheint uns aber auf eine andere Weise fasslicher und überzeugender vorgestellt werden zu können“. Abschließend kritisiert Dietz undeutliche Formulierungen Schleiermachers, die dem Leser Verständnisschwierigkeiten bereiten könnten. Seine Rezension beendet er jedoch mit einer unterschwelligen Leseempfehlung: „Uebrigens bedarf eine Predigt Schleiermacher’s [Hervorhebung im Original] unserer Empfehlung nicht.“ (Sp. 312) Die zweite Rezension zur Predigt „Über die Worte des Erlösers: Hast du mich lieb?“ erschien 1826 im Theologischen Literaturblatt84 und fällt positiv aus. Ihr unbekannter Autor mit dem Kürzel „p. P.“ nennt die Publikation eine „schöne Predigt“ und lobt ausdrücklich ihren Zweck, die evangelische Gemeinde in Mühlhausen85 zu unterstützen: „Diese wohlthätige Absicht, zusammengenommen mit ihrem innern Gehalte, sichern ihr [sc. der Predigt] gewiß die verdiente weite 82 83
84 85
Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, Jg. 1825, Ergänzungsblätter Nr. 227, Sp. 311–312 Vgl. Bulling, Rezensenten 3, S. 56. Johann Christian Friedrich Dietz (geb. 1765 in Wetzlar, gest. 1833 in Ziethen), war nach seiner Tätigkeit als Rektor und Subrektor am Gymnasium Güstrow und der Domschule Ratzeburg ab 1812 Pastor in Ziethen; vgl. Sehlke, Pädagogen, S. 80 Theologisches Literaturblatt, Jg. 1826, Nr. 8, Sp. 64 S.o. Anm. 68
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Einleitung der Bandherausgeberin
Verbreitung. Wenn auch die Wahl dieser Predigt zu dem angegebenen Zwecke als zufällig erscheint, so stimmt doch der Gegenstand derselben [die Liebe zum Erlöser] mit jenem auf das herrlichste zusammen [...]“. Im Folgenden wirft „p. P.“ einen Blick auf den Aufriß und den Gedankengang der Predigt, um seine knappe Besprechung mit einer Leseempfehlung für die Zeitgenossen zu beenden: „Möge dieser kurze Auszug unsern Lesern eine Veranlassung werden, sich mit dem Gedankenreichthume dieser recht eigentlich in die innere Verwirrung der christlichen Kirche hineinschauenden Rede bekannt zu machen.“
II. Editorischer Bericht Der editorische Bericht informiert über die einheitlich für alle Bände der III. Abteilung geltenden Grundsätze zur Textgestaltung (1.) und zur Druckgestaltung (2.), außerdem über die Quellentexte des vorliegenden Bandes und die spezifischen Verfahrensweisen angesichts der jeweiligen Textbeschaffenheit (3.).
1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen Die allgemeinen Regeln der Textgestaltung für alle Textzeugen werden für Manuskripte spezifiziert und zwar in einem abgestuften Verfahren. Die von Schleiermachers Hand geschriebenen Predigtentwürfe und Predigtverschriftungen werden mit ausführlichen Nachweisen zum Entstehungsprozess versehen. Die Nachschriften von fremder Hand erhalten in einem vereinfachten Editionsverfahren nur knappe Apparatbelege. A. Allgemeine Regeln Für die Edition aller Gattungen von Textzeugen (Drucke und Manuskripte) gelten folgende Regeln: a. Alle Textzeugen werden in ihrer letztgültigen Gestalt wiedergegeben. b. Wortlaut, Schreibweise und Zeichensetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise und Zeichensetzung, wo häufig nicht entschieden werden kann, ob eine Eigentümlichkeit oder ein Irrtum vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung und Abfolge von Zeichen (z.B. für Abkürzungen oder Ord-
II. Editorischer Bericht
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nungsangaben), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, in der Regel stillschweigend vereinheitlicht. Verweiszeichen für Anmerkungen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben. Nach Ziffern und Buchstaben, die in einer Aufzählung die Reihenfolge markieren, wird immer ein Punkt gesetzt. Sekundäre Bibelstellennachweise, editorische Notizen und Anweisungen an den Setzer werden stillschweigend übergangen. Dasselbe gilt für Kustoden, es sei denn, dass sie für die Textkonstitution unverzichtbar sind. c. Offenkundige Druck- oder Schreibfehler und Versehen werden im Text korrigiert. Im textkritischen Apparat wird – ohne weitere Angabe – der Textbestand des Originals angeführt. Die Anweisungen von Druckfehlerverzeichnissen werden bei der Textkonstitution berücksichtigt und am Ort im textkritischen Apparat mitgeteilt. Für Schleiermachers Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand formuliert die Regel B.n. einige Sonderfälle. Bei den Predigtnachschriften fremder Hand gilt generell die Regel C.g. d. Wo der Zustand des Textes eine Konjektur nahelegt, wird diese mit der Angabe „Kj ...“ im textkritischen Apparat vorgeschlagen. Liegt in anderen Texteditionen bereits eine Konjektur vor, so werden deren Urheber und die Seitenzahl seiner Ausgabe genannt. e. Sofern beim Leittext ein Überlieferungsverlust vorliegt, wird nach Möglichkeit ein sekundärer Textzeuge (Edition, Wiederabdruck) oder zusätzlich ein weiterer Zeuge unter Mitteilung der Verfahrensweise herangezogen. f. Liegt ein gedruckter Quellentext in zwei oder mehr von Schleiermacher autorisierten Fassungen (Auflagen) vor, so werden die Textabweichungen in einem Variantenapparat mitgeteilt. Dessen Mitteilungen sollen in der Regel allein aus sich heraus ohne Augenkontakt mit dem Text verständlich sein. Zusammengehörige Textveränderungen sollen möglichst in einer Notiz erfasst werden. Leichte Ersichtlichkeit von einzelnen Textveränderungen und deutliche Verständlichkeit von neuen Sinnprofilierungen sind für den Zuschnitt der Notizen maßgeblich. Der Variantenapparat wird technisch wie der textkritische Apparat gestaltet und möglichst markant mit dem Text verknüpft. g. Hat Schleiermacher für die Ausarbeitung eines Drucktextes eine Predigtnachschrift genutzt, so wird diese Nachschrift, falls sie im Textbestand deutlich abweicht, zusätzlich geboten. Für die beiden Textzeugen gelten die jeweiligen Editionsregeln.
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Einleitung der Bandherausgeberin
B. Manuskripte Schleiermachers Für die Edition der eigenhändigen Manuskripte Schleiermachers gelten folgende Regeln: a. Abbreviaturen (Kontraktionen, Kürzel, Chiffren, Ziffern für Silben), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) in der üblichen Schreibweise ausgeschrieben. Die Abbreviaturen mit ihren Auflösungen werden im textkritischen Apparat oder im Editorischen Bericht mitgeteilt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und n, auch wenn diese Überstreichung mit einem U-Bogen zusammenfällt, wird stillschweigend vorgenommen. Abbreviaturen, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird gegebenenfalls im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. In allen Fällen, wo (z.B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei verkürzten Endsilben) aufgrund von Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abbreviatur zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. b. Geläufige Abkürzungen einschließlich der unterschiedlichen Abkürzungen für die biblischen Bücher werden im Text belassen und im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. Für die Abkürzungen in Predigtüberschriften (zu Ort und Zeit) erfolgt die Auflösung im editorischen Kopftext der Predigt, in den Apparaten oder im Abkürzungsverzeichnis. Der oftmals fehlende Punkt nach Abkürzungen wird einheitlich immer gesetzt. c. Unsichere Lesarten werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: PnochS) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: PauchS] oder PnochS) vorgeschlagen. d. Ein nicht entziffertes Wort wird durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. e. Überlieferungslücken. Weist ein Manuskript Lücken im Text oder im Überlieferungsbestand auf und kann die Überlieferungslücke nicht durch einen sekundären Textzeugen gefüllt werden (vgl. oben A.e.), so wird die Lücke innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Eine grössere Lücke wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spa-
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tium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. f. Auffällige Textgestaltung wird im Editorischen Bericht oder bei Bedarf im textkritischen Apparat beschrieben (beispielsweise Lücken in einem fortlaufenden Satz oder Absatz). g. Belege für den Entstehungsprozess (wie Zusätze, Umstellungen, Streichungen, Wortkorrekturen, Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. Wortkorrekturen, Streichungen und Hinzufügungen werden, wenn sie zusammen eine komplexe Textänderung ausmachen, durch die Formel „geändert aus“ zusammengefasst. h. Zusätze, die Schleiermacher eindeutig in den ursprünglichen Text eingewiesen hat, werden im Text platziert und im textkritischen Apparat unter Angabe des ursprünglichen Ortes und der Formel „mit Einfügungszeichen“ nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der ursprüngliche Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. i. Sind im Manuskript Umstellungen von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen und Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. j. Streichungen. Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern mitgeteilt und dabei der Ort im Manuskript relativ zum Bezugswort angegeben (z.B. durch die Formel „folgt“). Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen. k. Korrekturen Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein).
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l. Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare Entstehungsstufen vor, so werden sie in der Regel jeweils vollständig aufgeführt. m. Fehlende Wörter und Zeichen werden in der Regel im Text nicht ergänzt. Fehlende Wörter, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im textkritischen Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ vorgeschlagen. Fehlende Satzzeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern hinzugefügt. Sofern das besonders gestaltete Wortende, das Zeilenende, das Absatzende oder ein Spatium innerhalb der Wortfolge offensichtlich ein bestimmtes Interpunktionszeichen (Punkt, Komma, Semikolon, Gedankenstrich, Doppelpunkt) vertritt, werden solche Zeichen stillschweigend ergänzt. Genauso ergänzt werden fehlende Umlautzeichen sowie bei vorhandener Anfangsklammer die fehlende Schlussklammer. n. Sofern Schleiermacher bei seiner Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand vereinzelt offenkundige Schreibfehler und Versehen der Nachschrift nicht korrigiert oder irrtümlich eine Streichung falsch vorgenommen hat, wird stillschweigend der intendierte Textbestand geboten. Anweisungen zur Textgestaltung, die Schleiermacher bei der Überarbeitung notiert hat, werden stillschweigend berücksichtigt. C. Predigtnachschriften Für die Edition der nicht von Schleiermacher stammenden Predigtnachschriften gelten folgende Regeln: a.–f. Die vorangehend unter Nr. B. a.–f. genannten Editionsregeln gelten unverändert. g. Offenkundige Schreibfehler und Versehen werden im Text stillschweigend im Sinne der üblichen Schreibweise und ohne Apparatnachweis korrigiert, entweder wenn die Korrektur durch einen zuverlässigen Paralleltext bestätigt wird oder wenn es sich, falls kein Paralleltext überliefert ist, um Verdoppelung von Silben, Worten oder Wortgruppen, um falsche Singular- bzw. Pluralbildung, falsche Kleinschreibung oder Großschreibung von Wörtern, falsches Setzen oder Fehlen von Umlautzeichen, falsche graphische Trennung von Wortbestandteilen oder Verknüpfung von Wörtern, Fehlen des Konsonantenverdoppelungsstrichs, um unvollständige Zitationszeichen (fehlende Markierung des Zitatanfangs oder Zitatendes), unvollstän-
II. Editorischer Bericht
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dige Einklammerung und Ähnliches handelt. Sind offenkundig bei Streichungen und Korrekturen versehentlich Fehler unterlaufen, so wird der intendierte Textbestand stillschweigend geboten. h. Einzelheiten des Entstehungsprozesses (Streichungen, Zusätze, Korrekturen, Umstellungen und Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat nicht nachgewiesen, auch nicht der Wechsel von Schreiberhänden und die Unterschiede in der graphischen Gestaltungspraxis. Nicht einweisbare Zusätze oder Anmerkungen auf dem Rand werden in Fußnoten mitgeteilt. i. Fehlende Wörter und Zeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern ergänzt. j. Hervorhebungen bleiben unberücksichtigt. Die thematische Gliederungsübersicht innerhalb einer Predigt wird in der Regel als Block eingerückt. k. Textüberarbeitungen Schleiermachers. Bei einer von Schleiermacher markant und ausführlich bearbeiteten Nachschrift wird sowohl der von Schleiermacher hergestellte Text als auch der zugrunde liegende Text der Nachschrift ediert. Hat Schleiermacher in einer Nachschrift nur vereinzelt Korrekturen, Ergänzungen oder Kommentierungen vorgenommen, so werden diese möglichst gebündelt als Fußnoten mitgeteilt. D. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen. a. Zitate und Verweise werden im Sachapparat nachgewiesen. Für die von Schleiermacher benutzten Ausgaben werden vorrangig die seiner Bibliothek zugehörigen Titel berücksichtigt.86 b. Zu Anspielungen Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist. c. Bei Bibelstellen wird ein Nachweis nur gegeben, wenn ein wortgetreues bzw. Worttreue intendierendes Zitat gegeben wird, eine paraphrasierende Anführung von biblischen Aussagen vorliegt oder auf biblische Textstellen förmlich (z.B. „Johannes sagt in seinem Bericht …“) Bezug genommen wird. Geläufige biblische Wendungen 86
Vgl. KGA I/15, S. 637–912
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Einleitung der Bandherausgeberin
werden nicht nachgewiesen. Für den einer Predigt zugrunde liegenden Bibelabschnitt werden in dieser Predigt keine Einzelnachweise gegeben. Andere Bibelstellen, auf die in einer Predigt häufiger Bezug genommen wird, werden nach Möglichkeit gebündelt nachgewiesen. Weicht ein ausgewiesenes Bibelzitat vom üblichen Wortlaut ab, so wird auf diesen Sachverhalt durch die Nachweisformel „vgl.“ hingewiesen. E. Editorischer Kopftext Jeder Predigt – ausgenommen sind die gedruckten „Sammlungen“ (vgl. KGA III/1–2) und die Manuskripthefte „Entwürfe“ (vgl. KGA III/3) – wird ein editorischer Kopftext vorangestellt. a. Bestandteile. Der editorische Kopftext informiert über den Termin, den Ort, die ausgelegten Bibelverse, den Textzeugen sowie gegebenenfalls über Parallelzeugen und Besonderheiten. Die Textzeugen werden durch das Genus, die Archivalienangabe und gegebenenfalls den Namen der Autoren / Tradenten von Nachschriften charakterisiert. Sind Autoren und Tradenten verschiedene Personen und namentlich bekannt, werden beide mitgeteilt. b. Verfahrenshinweise. Bei Nachschriften wird gegebenenfalls über vorhandene Editionen des vorliegenden Textzeugen, bei Drucktexten gegebenenfalls über Wiederabdrucke Auskunft gegeben. Bei Wiederabdrucken von Druckpredigten werden keine Auszüge oder Referate berücksichtigt, sondern nur vollständige Textwiedergaben bibliographisch mitgeteilt. Wenn von einer in der jetzigen Publikation als Textzeuge genutzten Predigtnachschrift bereits eine leicht abweichende Version desselben Tradenten ediert worden ist, so wird diese frühere Publikation unter dem Stichwort „Texteditionen“ aufgeführt und als „Textzeugenparallele“ charakterisiert. Wird zu einem Drucktext Schleiermachers eine vorhandene Predigtnachschrift nicht als Textzeuge ediert, so wird diese Nachschrift unter dem Stichwort „Andere Zeugen“ genannt. Die Angaben zum editorisch ermittelten Bibelabschnitt können von den Angaben des Textzeugen abweichen. F. Liederblätter Die von Schleiermacher für die Berliner Dreifaltigkeitskirche herausgegebenen Liederblätter, soweit sie den edierten Predigten zugeordnet werden können, werden am Predigtende anhangsweise als Lesetext ohne textkritische Nachweise und ohne Literatur- und Sacherläuterungen mitgeteilt.
II. Editorischer Bericht
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2. Druckgestaltung Die Druckgestaltung soll die editorische Sachlage bei den unterschiedlichen Gattungen von Textzeugen möglichst augenfällig machen. A. Seitenaufbau a. Satzspiegel. Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals gegebenenfalls mit Fußnoten, gegebenenfalls Variantenapparat, textkritischer Apparat, Sachapparat. Text, Fußnoten und Variantenapparat erhalten eine Zeilenzählung auf dem Rand. b. Die Beziehung der Apparate auf den Text erfolgt beim textkritischen Apparat und beim Variantenapparat dadurch, dass unter Angabe der Seitenzeile die Bezugswörter aufgeführt und durch eine eckige Klammer (Lemmazeichen) von der folgenden Mitteilung abgegrenzt werden. Beim Sachapparat wird die Bezugsstelle durch Zeilenangabe bezeichnet; der editorische Kopftext samt vorangestellter Überschrift wird als Zeile Null gezählt. B. Gestaltungsregeln a. Schrift. Um die Predigtnachschriften fremder Hand graphisch von den Drucktexten Schleiermachers sowie von seinen eigenhändigen Manuskripten abzuheben, werden erstere in einer serifenlosen Schrift (Myriad) mitgeteilt. Dies gilt auch für die Fälle, in denen eine Predigtnachschrift nur in Gestalt eines nicht von Schleiermacher autorisierten Drucktextes als sekundärer Quelle vorliegt. Der Text des Originals wird einheitlich recte wiedergegeben. Bei der Wiedergabe von Manuskripten wird deutsche und lateinische Schrift nicht unterschieden. Graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ordinalzahlen, die durch Ziffern und zumeist hochgestellten Schnörkel oder Endung „ter“ (samt Flexionen) geschrieben sind, werden einheitlich durch Ziffern und folgenden Punkt wiedergegeben. Sämtliche Zutaten des Herausgebers werden kursiv gesetzt. b. Die Seitenzählung des Textzeugen wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich (|) markiert; im Lemma des textkritischen Apparats und des Variantenapparats wird diese Markierung nicht ausgewiesen. Müssen bei Textzeugenvarianten zu derselben Zeile zwei oder mehr Seitenzahlen notiert werden, so werden sie nach
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Einleitung der Bandherausgeberin
der Position der Markierungsstriche gereiht. Wenn bei poetischen Texten die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im fortlaufenden Zitat. c. Unterschiedliche Kennzeichnung von Absätzen (Leerzeile, Einrücken, großer Abstand in der Zeile) wird einheitlich durch Einrücken der ersten Zeile eines neuen Absatzes wiedergegeben. Abgrenzungsstriche werden – außer bei den gedruckten „Sammlungen“ und „Reihen“ – nur wiedergegeben, wenn sie den Schluss markieren; versehentlich fehlende Schlussstriche werden ergänzt. Die Gestaltung der Titelblätter wird nicht reproduziert. d. Hervorhebungen Schleiermachers (in Manuskripten zumeist durch Unterstreichung, in Drucktexten zumeist durch Sperrung oder Kursivierung) werden einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht. e. Der zitierte Bibelabschnitt einer Predigt, der samt Stellenangabe in den Drucken und Manuskripten vielfältig und unterschiedlich gestaltet ist, wird einheitlich als eingerückter Block mitgeteilt, wobei die Bibelstellenangabe mittig darüber gesetzt und in derselben Zeile das Wort „Text“, falls vorhanden, gesperrt und mit Punkt versehen wird. Ist die Predigt verbunden mit Gebet, Kanzelgruß oder Eingangsvotum, so werden diese Begleittexte als Block eingerückt wiedergegeben. f. In Predigtentwürfen Schleiermachers und Dispositionen fremder Hand werden die Gliederungsstufen, die optisch unterschiedlich ausgewiesen sind, einheitlich durch Zeileneinrückung kenntlich gemacht.
3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen Im Folgenden wird eine Übersicht der für den vorliegenden Band ausgewerteten Materialien geboten. Unter Punkt A werden Gestalt, Umfang und inhaltliche Qualität der edierten Leittexte sowie ggf. Besonderheiten im editorischen Verfahren benannt. Unter Punkt B werden diejenigen Texte aufgeführt und in ihren Eigenarten beschrieben, die nicht zur Edition gekommen sind. Außerdem erfolgt unter Punkt C eine Aufstellung der Termine zu den in den Frühgottesdiensten 1824 gehaltenen Predigten der Johanneshomilienreihe (1823–
II. Editorischer Bericht
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1827)87, zu einer kleinen Predigtreihe über Lk 24 in der Zeit zwischen Ostern und Himmelfahrt sowie zu der Themareihe über Liebe und Furcht, die Schleiermacher in dem Zeitraum vom 20. Juni bis 15. August 1824 parallel zu ersterer in den Hauptgottesdiensten hielt. A. Ediertes Material a. Schleiermacher-Texte Im vorliegenden Band sind 15 Drucktexte Schleiermachers sowie eine von ihm stark bearbeitete Hörernachschrift, die daher als Autograph gelten kann, ediert. Es handelt sich um folgende Texte: 11.01. vorm. 12.05. Begräbnis / Friedhofseinweihung 30.05. vorm. 20.06. vorm. 04.07. vorm. 18.07. vorm. 25.07. vorm. (Drucktext) 25.07. vorm. (Autograph)
01.08. vorm. 15.08. vorm. 10.10. vorm. 24.10. vorm. 07.11. vorm. 21.11. vorm. 05.12. Trauung Vor 1825, Taufe
aa. Quellenbeschreibung Schleiermachers eigene Predigtveröffentlichungen basierten seit seiner Zeit an der Dreifaltigkeitskirche auf Hörernachschriften, die er nachträglich als Lesepredigten bearbeitete. In den 1820er Jahren bediente er sich hierfür nachweislich der Nachschriften von J. G. Andrae (vgl. unten Punkt II.A.b). Können die Publikationen der Hauptgottesdienste sämtlich auf den begabten Theologiestudenten zurückgeführt werden,88 ist ein Zusammenhang mit der Überlieferung der Kasualpredigten (Taufe, Trauung, Begräbnis) zumindest fraglich. Für derartige Feierlichkeiten, die verhältnismäßig selten textlich belegt sind, liegen die 87 88
Vgl. KGA III/7, S. LXV–LXIX Im Nachlass von Schleiermachers Witwe (SAr 77–81.83–93) befanden sich zahlreiche Andrae-Texte, die teilweise schon von Schleiermacher im Ansatz bearbeitet bzw. mit einem Vermerk zur Publikation versehen worden waren; vgl. SAr 121, Bl. 5v– 6v. Zu den o.g. Publikationen von Hauptgottesdienst-Predigten existiert jeweils mindestens eine Parallele aus Andraes Privatbesitz, durch deren Existenz auf Schleiermachers Vorlage geschlossen werden kann. Eine Ausnahme bilden die Publikationen vom 01.08. und 15.08., die allein von einer unbekannten Person namens Sobbe überliefert sind. Zum möglichen Abhängigkeitsverhältnis Andrae–Sobbe siehe unten Punkt II.A.b Von Schleiermacher bearbeitete Nachschriften sind in der Regel nach dem Setzen vernichtet worden.
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Einleitung der Bandherausgeberin
Drucke Schleiermachers in der Regel als einzige Quelle vor. Inwiefern sie eine nachträgliche Bearbeitung erfahren haben, ist nicht mehr zu erheben; vermutlich wurden jedoch bei Kasualpredigten aufgrund ihrer Kürze und ihres besonderen Charakters kaum editorische Eingriffe vorgenommen. Ein eindrückliches Zeugnis für Textbearbeitung durch Schleiermacher generell bietet die einzigartige Quellenlage zur Predigt vom 25.07.1824 vorm. Auf dem Höhepunkt des Agendenstreites gehalten und zu diesem Thema explizit Stellung nehmend,89 kam dieser Predigt für Schleiermacher eine besondere Relevanz zu. Neben dem ursprünglich in der Friedrichswerderkirche gesprochenen Text sind zwei in unterschiedliche Richtungen gehende Nachschrift-Bearbeitungen überliefert, die Schleiermacher für das Festmagazin vorgenommen hatte (vgl. unten S. 468–495 die Edition aller drei Texte sowie das Faksimile S. LVI) und von der eine zum Druck kam. Sie beweisen eindrücklich, wie er die Predigt inhaltlich verändert und sie auf ein erweitertes Publikum zuzuschneiden versucht. Die Fassung, die schließlich im Festmagazin Bd. 6 (1829) erschien, unterscheidet sich in einigen Details in der Schreibweise von der Vorlage. Da die Möglichkeit zum Vergleich bei anderen Schleiermacher’schen Publikationen nicht gegeben ist, muss bei diesen (zumindest teilweise) ebenfalls mit Änderungen folgender Art gerechnet werden: Druckvorlage
Festmagazin Bd. 6 (1829)
eine, jede, alle ...
Eine, Jede, Alle ...
-z
-tz
Altar, Gemüth ...
Altare, Gemüthe ...
laßt ...
lasset ...
dies, weswegen ...
dieß, weßwegen
sein
seyn
grade, unsern
gerade, unseren
wol
wohl
k
ck
Darüber hinaus wird im Festmagazin eine eigene Kommasetzung verwendet, die weitgehend dem heutigen Empfinden entspricht, während 89
Vgl. oben Punkt II.2
II. Editorischer Bericht
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Schleiermacher mit Interpunktion eher restriktiv verfährt. Außerdem gibt es Differenzen bei der Getrennt- und Zusammenschreibung einiger Worte. Seine Predigt vom 21.11.1824 vorm. veröffentlichte Schleiermacher 1825 als Einzeldruck und 1833 ein zweites Mal in seiner siebenten Sammlung Predigten (Festpredigten); vgl. KGA III/2. Die beiden Drucke unterscheiden sich voneinander in zahlreichen kleineren Varianten, die vor allem Groß- und Kleinschreibung und Zeichensetzung, aber oftmals auch Satzbau, Wortwahl und kleinere Ergänzungen betreffen. Folgende Auswahl von bedeutenderen Stellen soll davon einen Eindruck vermitteln: Einzeldruck (1825)
Siebente Sammlung (1833)
Das erste ist etwas Allgemeines in der ganzen christlichen Kirche; das leztere ist eine unserm Lande eigenthümliche, aber gewiß uns allen theure Einrichtung.
Das erste ist etwas der gesammten christlichen Kirche in diesen Gegenden gemeinsames; das leztere eine neue unserm Lande noch eigenthümliche aber gewiß uns allen schon sehr theuer gewordene Einrichtung.
Tichten und Trachten
Streben und Genießen
..., daß wir derjenigen Gemeine der Christen angehören, welche von dem Verdunkelnden und Verunstaltenden, was lange diesen irdischen Leib verhüllt hatte, vieles schon von sich geworfen hat und sich eines reineren Lichtes des Evangeliums rühmt und erfreut.
..., daß wir derjenigen Gemeine der Christen angehören, welche von dem verdunkelnden und verunstaltenden, was lange diesen irdischen Leib verhüllt hatte, vieles schon von sich geworfen hat, und sich dessen rühmt und erfreut, daß in reinerem Lichte das Evangelium bei uns erkannt wird.
... unserm Streben, seine Gemeine zu reinigen und zu verherrlichen ...
... unserm Streben nach Reinigung und Verherrlichung seiner Gemeine ...
Bibliographische Informationen zu den o.g. Publikationen und ihren Wiederabdrucken sind den jeweiligen editorischen Kopftexten sowie der Historischen Einführung Punkt 2 zu entnehmen, unter welchem ihre zeitgenössische literarische Rezeption beschrieben wird.
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Einleitung der Bandherausgeberin
b. Andrae-Predigtnachschriften Johann Gottfried Andrae (geb. 1799; Todesjahr unbekannt), ab 1832 Prediger am Arbeitshaus in Berlin,90 war von Oktober 1822 bis August 1825 Theologiestudent an der dortigen Universität.91 Seine Nachschreibetätigkeit beginnt nachweislich 1820 und endet vermutlich 1827.92 Die Aufzeichnungen bilden aufgrund ihrer Ausführlichkeit und Worttreue die wichtigste Überlieferung für die Predigten Schleiermachers in den 1820er Jahren und lassen sich in zwei Hauptstränge untergliedern: Das umfangreiche ehemalige Andrae-Konvolut in der jetzigen „Sammlung Witwe Schleiermacher“ und die sog. Andrae-Bände. Darüber hinaus existieren Texte in Sammlungen anderer Tradenten, als Druck sowie als versprengte Einzelüberlieferungen. Dank dieser breiten Basis und Mehrfachbezeugungen können AndraeTexte verhältnismäßig leicht identifiziert und Abschreibfehler oftmals zuverlässig ermittelt werden. Zu nahezu allen Predigtterminen Schleiermachers aus dem Jahr 1824 werden in diesem Band Leittexte ediert, die auf Nachschriften Andraes zurückgehen. Eine Ausnahme bilden lediglich folgende sechs Termine: Datum
Zeugen
12.05. Begräbnis / Friedhofseinweihung
Drucktext Schleiermachers (Festmagazin)
01.08. vorm.
Drucktext Schleiermachers (Festmagazin) Sobbe-Predigtnachschrift
15.08. vorm.
Drucktext Schleiermachers (Festmagazin) Sobbe-Predigtnachschrift
05.12. Trauung
Drucktext Schleiermachers (Festmagazin)
26.12. vorm.
Drucktext Schleiermachers (Fünfte Sammlung, vgl. KGA III/2) Sobbe-Predigtnachschrift
Vor 1825, Taufe
Drucktext Schleiermachers
90 91 92
Vgl. EPMB 2, S. 10 Vgl. Matrikel 1, ed. P. Bahl, S. 216. Weitere biographische Angaben s. KGA III/1, S. LXIII Zur Komplexität der Andrae-Überlieferung vgl. KGA III/1, Einleitung zur III. Abteilung
II. Editorischer Bericht
XLIII
Es ist jedoch zu bemerken, dass auch hier eine Urheberschaft Andraes nicht ausgeschlossen werden kann bzw. sogar nahe liegt: Die in der Auflistung genannten Termine zu Hauptgottesdiensten („vorm.“) sind textlich sowohl als Schleiermacher’scher Druck bzw. als Nachschrift von „Sobbe“ überliefert. Da Schleiermacher, seiner sonstigen Praxis in den 1820er Jahren entsprechend, generell auch 1824 seine Lesepredigten auf Grundlage von Andrae-Nachschriften anfertigte, ist nahe liegend, dass auch hier eine solche Vorlage vorhanden war. Möglicherweise sind die Sobbe-Texte eine Parallele dieser Vorlagen (und somit kein eigener Zeugen-Strang), denn zum einen existieren für die vier übrigen Sobbe-Nachschriften des Jahres 1824 wörtliche Parallelnachschriften in der Andrae-Tradition und zum anderen lässt sich (zumindest beim 01.08.) noch eine deutliche Nähe zu Schleiermachers Drucktext erkennen.93 Wer dagegen die wohl nicht weiter bearbeiteten Nachschriften für Schleiermachers Kasual-Publikationen geliefert hat, ist nicht eindeutig zu erheben, da keine Vergleichstexte existieren. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Predigtnachschrift vom 23.05. vorm. aus dem ehemaligen Andrae-Konvolut das ursprüngliche Titelblatt fehlt. Da das Konvolut keine Johannes-Homilien enthielt, könnte die Kasualrede vom 12.05. vorangegangen sein. Mit ihrer Verwertung für den Druck wäre dann das Titelblatt der Folgepredigt verloren gegangen. Ähnliches könnte auch in Bezug auf die Traupredigt vom 05.12. gelten. Zwar fehlt der Folgepredigt vom 19.12. ebenfalls das Titelblatt, aber es ist auch denkbar, dass jener die als Einzeldruck publizierte Predigt vom 21.11. vorm. voranging. ba. Quellenbeschreibung Nachschriften der Andrae-Tradition aus dem Jahr 1824 befinden sich in der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) im Schleiermacher-Archiv (SAr), außerdem im Geheimen Staatsarchiv (GStA), welches ehemalige Bestände des Fürstlichen Hausarchivs Dohna-Schlobitten (FHDS) beherbergt, sowie im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) im dortigen Schleiermacher-Nachlass (SN). Des Weiteren sind auf verschollene Vorlagen zurückgehende Texte als Druck in den Sämmtlichen Werken (SW) Bd. 894 erhalten. 93
94
Zu der Sobbe-Nachschrift zum 26.12. vgl. SAr 89, Bl. 107v: Dieses noch erhaltene Titelblatt der von Schleiermacher für den Druck bearbeiteten und verloren gegangenen Andrae-Nachschrift stimmt mit der Titelformulierung der Sobbe-Nachschrift (SAr 109, Bl. 25r) überein. Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke, Abt. 2: Predigten, Bd. 8; ed. A. Sydow Berlin 1837
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Einleitung der Bandherausgeberin
SBB, SAr 86–89: Diese Manuskripte sind Teil der umfangreichen „Sammlung Witwe Schleiermacher“, deren Bestand der Verleger Georg Andreas Reimer im Juni 1834 zwecks Herausgabe einer vollständigen Ausgabe der Werke Schleiermachers von dessen Frau angekauft hat. Sie beinhalten 33 auf losen Einzel- und Doppelblättern geschriebene und zumeist in Lagen gelegte Predigtreinschriften aus dem Zeitraum vom 25. Januar 1824 bis 26. Dezember 1824, die vermutlich zeitnah zu ihrem Vortrag auf Basis verlorengegangener Vorlagen von insgesamt vier unbekannten Schreiberhänden zu Papier gebracht wurden. Die Texte wurden an Schleiermacher geliefert und von ihm teilweise als Bearbeitungsgrundlage für Publikationen zurückgelegt.95 Diejenigen Texte, die letztlich in überarbeiteter Form tatsächlich in den Druck gegeben wurden, sind bis inklusive der Predigtnachschrift zum 30. Mai 1824 verlorengegangen. Ab dem 20. Juni hingegen ist aus dem Besitz Schleiermachers in der Regel ein zweites Exemplar seiner Bearbeitungsgrundlage erhalten.96 Die Texte des ersten Halbjahres 1824 stehen in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zu denen des Andrae-Bandes in SAr 105, der mit Pfingsten endet. Sie weisen ihnen gegenüber eine unkonventionelle, in seltenen Fällen auch altertümliche sowie inkonsequente Schreibung von Worten und Zeichen auf. Besonders auffällig ist hier das „Kh“ in „Khristus“ und „khristlich“. SBB, SAr 105: Diese Mappe beinhaltet einen von insgesamt sechs Halbleder-Bänden mit Predigtmanuskripten aus dem Privatbesitz Andraes (SAr 100–105). Er umfasst auf 305 Blatt eine umfangreiche Sammlung von Nachschriften der Zeit von Advent 1823 bis Pfingsten 1824, die von unbekannter Schreiberhand in Reinschrift angefertigt wurden. Da der Band von Adolf Sydow97 für die Edition der 95 96
97
Vgl. SAr 121, Bl. 5v–6v Diese Zweitexemplare sind von insgesamt drei unterschiedlichen, bisher in der Predigtüberlieferung nicht vorkommenden Schreiberhänden gefertigt. Ein Beleg dafür, dass es sich um Nachschriften der Andrae-Tradition handelt, ergibt sich für ein Manuskript aus der Überlieferungslage der Hauptpredigt zum 25. Juli 1824. Zu diesem Termin ist ausnahmsweise Schleiermachers Druckvorlage (ein Andrae-Text von der seit 1820 typischen Schreiberhand) erhalten geblieben und ermöglicht so den direkten Vergleich. Darüber hinaus zeugt das allein überlieferte Titelblatt der Frühpredigt vom 25. Juli, das von neuer Schreiberhand geschrieben ist, dafür, dass Sydow für die explizit auf Andrae-Nachschriften basierende Edition der JohannesHomilien Texte dieser Schreiberhand verwendete; vgl. SW II/8, S. VII. Die anderen beiden Schreiberhände können über Paralleltexte des Jahres 1825 aus der Nachschriftensammlung Charlotte Gruners (SAr 112) bei gleichzeitigem Vergleich mit den Publikationen Schleiermachers und den im ABBAW wieder aufgetauchten Nachschriften aus Schlobitten (vgl. KGA III/1, S. LXXI–LXXII) identifiziert werden; vgl. KGA III/9, Einleitung. Zur Biographie Sydows vgl. KGA III/1, S. LXIX
II. Editorischer Bericht
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Predigten in den Sämmtlichen Werken angekauft und verwertet wurde, ist er heute unvollständig; sein Buchblock ist gebrochen und einige Lagen und Blätter sind lose. Die Manuskripte stehen in enger Beziehung zu den Andrae-Texten der „Sammlung Witwe Schleiermacher“. Sie gehen möglicherweise auf eine gemeinsame Vorlage zurück und wurden zeitnah zueinander angefertigt. Anders als bei den Manuskripten, die an Schleiermacher geliefert wurden, sind Schreibweise und Zeichensetzung in den Bänden in der Regel einheitlich und entsprechen dem heutigen Empfinden. Typische Fehler im Abschreibeprozess hingegen treten geringfügig häufiger auf als bei den Parallelen in der „Sammlung Witwe Schleiermacher“. Im Ganzen sind beide Überlieferungsstränge in qualitativer Hinsicht als gleichwertig einzustufen. SBB, SAr 109 (Sobbe): Diese Mappe beinhaltet sieben von einer nicht näher bekannten Person namens Sobbe gesammelte Predigten zu jeweils vier Blatt in Fadenheftung von unbekannter Schreiberhand. Für das Jahr 1824 können die vier Hauptpredigten vom 01.01., 16.04., 19.04. und 30.05. aufgrund erhaltener Paralleltexte der Andrae-Tradition zugeordnet werden, wahrscheinlich haben aber auch die übrigen drei Nachschriften Andrae als Urheber (s.o. Punkt II.3.A.b). Anders als die übrigen neben den beiden Hauptsträngen existierenden Andrae-Überlieferungen der Jahre 1822 und 1823, sind die Sobbe-Texte generell von sehr guter Qualität und durchaus als ihnen gleichwertig einzustufen; eventuell gab es eine gemeinsame Vorlage. Die Handschrift der Sobbe-Texte weist besondere Merkmale auf, die jedoch nicht konsequent durchgehalten werden. Dazu gehört die markante Verwendung von „ß“ statt „s“, z.B. in „erlößt“ oder „preißen“ oder auch die Schreibung von „-zz“ statt „-tz“, z.B. in „sizzen“. SBB, SAr 54 (Schirmer): Diese Mappe beinhaltet auf 187 Blatt 18 Predigtmanuskripte der Jahre 1818 bis 1831, die überwiegend einzeln in Fadenheftung und mit geklebtem Falz vorliegen. Die in Reinschrift verfassten Texte sind vermutlich durch Diktat des Prenzlauer Predigers Karl Friedrich August Schirmer entstanden98 und im Zusammenhang mit der geplanten Predigtedition in den Sämmtlichen Werken für Adolf Sydow angefertigt worden, der sie im März 1835 über Ludwig Jonas99 erhielt.100 Insgesamt drei der Predigten sind durch Vergleich mit Parallelzeugen als Andrae-Nachschriften zu identifizieren, darunter die Predigt vom Zweiten Weihnachtstag 1824. Der Text ist qualitativ hochwertig, hat aber keine gemeinsame 98 99 100
Zur Biographie Schirmers vgl. KGA III/1, S. LXVIII Jonas war Schüler und enger Freund Schleiermachers. Zur Biographie vgl. KGA III/1, S. LXV–LXVI Vgl. SAr 121, Bl. 7v
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Vorlage mit den Paralleltexten aus SAr 89 und FHDS 101/4, da sich gemeinsame Fehler dieser beiden Texte hier nicht finden. Es gibt außerdem kleinere Varianten und Änderungen in der Wortstellung. Vereinzelte typische, durch den Vervielfältigungsprozess bedingte Fehler, wie z.B. aberratio oculi, treten in allen Texten mit gleicher Häufigkeit auf. In einigen Fällen sind bei Schirmer redundante, schleiermachertypische Wortwiederholungen weggefallen. GStA, FHDS 34, Nr. 101–102: Im ehemaligen Hausarchiv der Fürsten Dohna zu Schlobitten sind fünf fadengeheftete Predigtreinschriften der Andrae-Tradition aus dem Jahr 1824 von verschiedenen Schreiberhänden erhalten. Die Texte der Predigten vom 01.01. vorm., 15.04. mittags, 16.04. vorm., 14.10. vorm. und 25.12. früh gelangten wohl durch Schleiermacher selbst oder durch Henriette Herz postalisch nach Schlobitten.101 Adressat war Graf Alexander zu Dohna-Schlobitten102, der die Nachschriften teilweise mit Blatt- bzw. Seitenzählung versah und Unterstreichungen, (teilweise fehlerhafte) Korrekturen, Ergänzungen, aber auch Verzierungen von Worten vornahm. Auf der Rückseite des Titelblattes der Nachschriften vom 01.01., 16.04. und 24.10. ist jeweils ein Notizzettel Johannes Bauers103 eingeklebt, auf welchen er zwecks Edition seines Bandes „Ungedruckte Predigten“ (1909) vermerkt hat, wo sich analoge Predigtveröffentlichungen Schleiermachers befinden. Die Predigtnachschrift FHDS 34, 101/1 (01.01.) ist von unbekannter Schreiberhand verfasst. Sie ist qualitativ sehr hochwertig und weist gegenüber der ihrer Parallele in SAr 105 einige wenige Lesefehler sowie einmal die Auslassung eines Teilsatzes auf. In der Schreibweise hebt sie sich ihr gegenüber vor allem durch vermehrte Kommatasetzung ab. Die Nachschrift FHDS 101/2 (16.04.) ist von demjenigen Schreiber verfasst, der von Februar 1820 bis Mai 1824 als typischer Nachschreiber der Andrae-Überlieferung aus der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ (SAr 74–81.83–87) bekannt ist. Sind diese Manuskripte oftmals etwas sorgfältiger angefertigt als diejenigen der Andrae-Bände, ist in diesem konkreten Fall allerdings wegen vermehrter 101 102
103
Vgl. Bauer, Ungedruckte Predigten, S. 5 Karl Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu Dohna-Schlobitten (geb. 1771 auf Schloss Finckenstein (Westpreußen); gest. 1831 in Königsberg) wurde 1807 Präsident der Kriegs- und Domänenkammer und 1808 auf H. F. K. Steins Vorschlag dessen Nachfolger als Innenminister. Als Generallandschaftsdirektor der Provinz Ostpreußen veranlasste er 1820 einen Protest gegen die Karlsbader Beschlüsse und unterstützte ab 1824 in den Landtagen die liberale Opposition. Vgl. NDB 4, S. 53 Johannes Christian Ludwig August Bauer (geb. 1860 in Wiesloch, gest. 1933 in Heidelberg) war evangelischer Pfarrer, Professor für Praktische Theologie in Marburg, Königsberg und Heidelberg sowie Mitglied der badischen Kirchenleitung.
II. Editorischer Bericht
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Wort- und Satzteilauslassungen sowie Schreibfehlern SAr 105 der Vorzug zu geben. Die Nachschrift weist außerdem eine fehlerhafte Blattzählung Graf Alexanders auf (Blatt 5 ist doppelt gezählt). Die von unbekannter Hand niedergeschriebene Predigt vom 24.10. zum Gedenktag der Leipziger Völkerschlacht in FHDS 34, 101/3 ist mit einem blaugrauen Schutzumschlag versehen und von Graf Alexander auf den Tag des eigentlichen Sieges gegen die Franzosen (18.10.) fehldatiert. Sie ist qualitativ sehr hochwertig und steht in dieser Hinsicht auf einer Stufe mit ihrer Parallele in SAr 89. Es gibt keine nennenswerten Differenzen in Hinblick auf Orthographie oder Interpunktion und keine wichtigen Wortvarianten. Typische Fehler wie Auslassungen von Wörtern und Teilsätzen sowie Lesefehler weisen beide Texte gleichermaßen auf. Die Manuskripte sind nicht von einander abhängig. Es könnte eine gemeinsame Vorlage existieren, was aber aufgrund der Breite der Andrae-Überlieferung nicht zwingend ist. Die in FHDS 34, 101/4 befindliche Nachschrift zum 25.12. ist von derselben unbekannten Schreiberhand wie Nr. 101/3 verfasst. Sie ist etwas unsauberer geschrieben als das Parallelexemplar in SAr 89 (Wortauslassungen, kleinere Schreibfehler), hat aber vermutlich die gleiche Vorlage, denn ein Vergleich mit SAr 54 ergibt einige Besonderheiten, die sich nur auf diese Weise erklären lassen (s.o.). Die in FHDS 34, 102 archivierte Einsegnungsrede vom Gründonnerstag (15.04.) ist ebenso wie die Predigt zum darauf folgenden Karfreitag (s.o. FHDS 101/2) von dem typischen Schreiber der AndraeTradition in der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ verfasst, in welcher zu dem Datum derselbe Text von derselben Schreiberhand ein weiteres Mal vorliegt. Die Texte sind von gleich guter Qualität; es handelt sich aber nicht um Vorlage und Abschrift, sondern die Manuskripte basieren auf derselben Textgrundlage. ABBAW, SN 57 / SM-DLA 58.368: Bei SN 57 handelt es sich um die erste, von Schleiermacher bearbeitete, Hälfte einer Predigtnachschrift zum 25.07. vorm. von der für die „Sammlung Witwe Schleiermacher“ typischen Schreiberhand (s.o.). Ebendort befindet sich auch die zweite Hälfte der Nachschrift (SAr 88, Bl. 87r–88v); hier endet Schleiermachers Überarbeitung abrupt. Die Nachschrift wurde verworfen, anhand einer weiteren Vorlage erneut überarbeitet und schließlich 1829 publiziert (Festmagazin Bd. 6, S. 263–276). Diese Druckvorlage befindet sich heute im Schiller-Nationalmuseum in Marbach (SM-DLA 58.368) und ist von demselben Schreiber verfasst wie SN 57 und das dazugehörige Teilstück in SAr 88. Es handelt sich nicht um eine Abschrift des zuerst von Schleiermacher verwendeten
XLVIII
Einleitung der Bandherausgeberin
Textes, sondern wahrscheinlich liegt den beiden ursprünglichen Manuskripten dieselbe Vorlage zu Grunde. SW II/8: Die von A. Sydow in SW II/8 publizierten 35 Homilien über die ersten sechs Kapitel des Johannesevangeliums gehen – mit Ausnahme der Predigt Nr. XXXV – vollständig auf Manuskripte Andraes zurück. 19 davon stammen aus dem Jahr 1824; ihre im Zuge des Druckprozesses verlorengegangenen Vorlagen sind den AndraeBänden (s.o. SAr 105) und der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ (s.o. SAr 86–89) entnommen. Zur Bewertung der gedruckten Predigten sind die Aussagen Sydows zu berücksichtigen. Im Vorwort zu SW II/8 sagt er bezüglich der Johanneshomilien: „Wer mit Schl.’s Darstellungsweise vertraut ist, wird zu der äußeren Versicherung bald auch das innere Zeugniß gewinnen, daß die Treue dieser Nachschriften bis zur wörtlichen Uebereinstimmung geht. Nur an wenigen Stellen hatte ich dieses Zeugniß nicht, wo etwa äußere Zufälligkeiten den Nachschreibenden an der genauen Auffassung gehindert hatten; aber es sind deren sehr wenige und sie umfassen höchstens einige Sätze. In diesen Fällen habe ich im Context dasjenige hingestellt, was aus der Nachschrift wahrscheinlich und dem Gedankengange nothwendig schien. Wo etwa, wie es dem Verewigten doch auch zuweilen, wenngleich nicht häufig, begegnete, eine fallen gelassene Construktion oder eine andere unwesentliche Unvollkommenheit des Ausdrucks sich vorfand, habe ich dieselbe mit Freuden über die Treue meiner Quelle, die auch dies wiedergab, unbedenklich verbessert.“104 Dass diese Aussage allgemein als korrekt anzusehen ist, legt ein Vergleich von vier erhaltenen Paralleltexten aus der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ zu Johannes-Predigten aus dem Jahr 1823 nahe.105 bb. Editionsbesonderheiten Aufgrund der nachträglichen Autorisierung durch Schleiermacher wird die Tradition der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ in der Regel gegenüber anderen Andrae-Texten bei der Edition bevorzugt. Fehlende Worte und Satzteile können oftmals mithilfe paralleler Andrae-Traditionen identifiziert bzw. rekonstruiert und im Text ergänzt werden. Auf die Hinzufügung bzw. den Nachweis kleinerer Worte und Partikel (z.B. „auch“, „so“, „also“, „zuerst“) wird jedoch verzichtet, insofern sie für den Text nicht sinnrelevant sind. Dasselbe gilt für Ellipsen. Offenkundige Fehler in der Editionsvorlage, die in einer Parallele korrekt geboten werden, werden stillschweigend korrigiert, in104 105
SW II/8, S. VII–VIII Vgl. 30.11., 14.12., 25.12. und 28.12.1823, in: KGA III/7
II. Editorischer Bericht
XLIX
sofern der Fehler nicht sinnverändernd ist. Stillschweigend angepasst wird generell auch fehlerhafte Getrennt- und Zusammenschreibung von Worten sowie die häufig undifferenzierte Verwendung von „wieder“ und „wider“. Differenzen in Wortlaut oder Wortfolge zweier oder mehrerer Andrae-Texte werden nur mitgeteilt, wenn sie von inhaltlicher Bedeutung sind; Synonyme sowie Redundanzen bleiben daher unberücksichtigt. Differenzen in der Schreibweise werden nicht mitgeteilt. Das gilt auch für Varianten im Numerus. Eigentümlichkeiten wie die für die Andrae-Tradition der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ typische Großschreibung nach „M. a. F.“ zu Beginn einer Predigt bleiben erhalten. Fehlerhafte Zeichensetzung wird in der Regel durch den TAP oder mittels eckiger Klammern korrigiert. Eingriffe werden auch vorgenommen, wenn der Lesefluss beeinträchtigt ist. Unterstreichungen werden im Text belassen, insofern sie für die Betonung relevant sind. Kleinere Lücken am Zeilenende können in den beiden Andrae-Hauptüberlieferungssträngen (hier SAr 86–89 und 105) nicht eindeutig als Absatz identifiziert werden und bleiben daher unberücksichtigt. c. Sobbe-Predigtnachschriften Wer sich hinter dem Namen Sobbe verbirgt, ist nicht mehr festzustellen. Es handelt sich allerdings nicht um einen Nachschreiber, sondern um einen Sammler oder eine Sammlerin der Schleiermacher’schen Predigten. Vermutlich 1834 oder 1835 gelangten 37 Predigtnachschriften der Jahre 1824–1826 (SAr 109–111) an A. Sydow, der sie im Rahmen der Vorarbeiten für die Predigtabteilung der Sämmtlichen Werke verwahrt und bewertet hat (vgl. SAr 121, Bl. 12r–12v). Für 1824 sind sieben Predigten von unbekannter Schreiberhand überliefert (SAr 109). Sydows Listen ist zu entnehmen, dass er die Sobbe’schen Texte vielfach als nicht wortgetreu einschätzte und daher „der Sicherheit wegen“ Paralleltexte von Andrae ankaufte.106 Ein Vergleich der Sobbe-Texte mit den von Sydow erworbenen Andrae-Parallelen aus dem Jahr 1824 ergibt jedoch, dass Andrae ebenfalls als ihr Urheber anzusehen ist.107 Die Andrae-Überlieferung bei Sobbe geht nachweis106 107
Vgl. SAr 120, Bl. 8r; SAr 121, Bl. 12r Vgl. oben Punkt II.3.b
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Einleitung der Bandherausgeberin
lich bis in das Jahr 1825 hinein,108 wobei ab März /April die meisten Texte mangels Vergleichsmaterial nicht mehr direkt zugewiesen werden können und zu der bisher üblichen Schreiberhand eine weitere hinzukommt. Aus SAr 109 sind in dem vorliegenden Band folgende Leittexte ediert: 01.08. vorm. 15.08. vorm. 26.12. vorm. B. Nicht edierte Parallelzeugen zu Leittexten a. Crayen-Predigtnachschriften Von Caroline Crayen, einer bis auf ihren Namen ansonsten unbekannten Verehrerin Schleiermachers und regen Nachschreiberin,109 sind aus dem Jahr 1824 nur zwei eigenhändige Predigtnachschriften (07.06. vorm. und 25.12. früh) überliefert. Crayen war 1824 in erster Linie an der Bearbeitung der Texte ihrer Freundin Woltersdorff 110 beteiligt. Die beiden Manuskripte Crayens befinden sich im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) im Schleiermacher-Nachlass (SN) unter der Nummer 620/2 bzw. 621/4. Die Texte sind jeweils Bestandteil eines kleinen Büchleins im Querformat, in dem 5 bzw. 7 weitere Predigten zeitlich ungeordnet von Crayen selbst notiert wurden. SN 620/2 umfasst 8, SN 621/4 6 Seiten. Bei beiden Manuskripten handelt es sich um eine nachträgliche Abschrift einer verloren gegangenen Vorlage. Die Büchlein sind vermutlich um 1830 entstanden und Schleiermacher bald darauf als Geschenk übersandt worden.111 Die Texte geben seinen Gedankengang in weitgehend freien Worten wieder und fallen in Hinblick auf die Interpunktion und Orthographie vor allem durch zahlreiche Gedankenstriche in unterschiedlicher Funktion bzw. durch die häufige und markante Schreibung von „-ck“ statt „-k“ auf. Bemerkenswert an der Crayen-Tradition ist generell eine überaus große Fülle von Zitaten bzw. Anspielungen auf die Bibel, wobei der Vergleich mit zuverlässi108
109 110 111
Die Vormittagspredigten vom 30. Januar, 13. Februar, 27. Februar, 27. März und 29. Mai 1825 können aufgrund vorhandener Andrae-Parallelen als dieser Tradition zugehörig identifiziert werden; vgl. KGA III/9. Zu Crayen vgl. auch KGA III/1, S. LXIII–LXV S.u. Punkt II.B.d Vgl. Crayens Briefe an Schleiermacher, in: SN 623, Bl. 8r–9r
II. Editorischer Bericht
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geren Paralleltexten die Frage aufkommen lässt, ob diese nicht zumindest teilweise auf Crayen selbst zurückzuführen sind. b. Gemberg-Predigtnachschriften Von dem Kandidaten August Friedrich Leopold Gemberg (geb. 1797; gest. 1850), ab 1827 Pastor in Seebeck und Struvensee und ab 1832 Oberprediger in Meyenburg,112 liegen für das Jahr 1824 insgesamt 20 knappe Dispositionen vor. Sie befinden sich im Schleiermacher-Archiv (SAr) der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) unter der Nummer 52 und sind Teil eines kleinformatigen Heftes mit insgesamt 185 Predigt-Dispositionen, die auf 168 losen, zumeist in Lagen ineinander gelegten Einzel- und Doppelblättern niedergeschrieben wurden. Die Texte sind in schlecht leserlicher Schrift fortlaufend, aber nicht immer chronologisch notiert und basieren auf Predigten Schleiermachers ab 1818. Teilweise finden sich in dem Heft aber auch Aufzeichnungen über andere Prediger und Notizen. Schleiermachers Vorträge liegen hier als sehr knappe, aus der Erinnerung niedergeschriebene Aufrisse vor, in denen der Gedankengang grob skizziert wird, und die unter rhetorischem Aspekt keinerlei Wert besitzen. Gembergs Aufzeichnungen enden im Mai 1824 mit dem Antritt einer längeren Studienreise, die er gemeinsam mit einem Freund nach Schottland unternahm113. c. Saunier-Predigtnachschriften Von dem Domkandidaten Johann Carl Heinrich (Jean Charles Henry) Saunier (geb. 1801; gest. 1825)114 ist aus dem Jahr 1824 die lückenlose Reihe der Johannes-Homilien von Joh 3,22–30 bis Joh 6,52–60 überliefert. Die Nachschriften befinden sich im Schleiermacher-Nachlass (SN) der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) unter der Nummer 55 und laufen dort unter dem Namen Schirmer.115 Dieser hatte die Aufzeichnungen seines früh verstorbenen Freundes in der vorliegenden Reinschrift zu Papier bringen lassen und sie A. Sydow im Juli 1836 für die Edition der Sämmtlichen Werke zukommen lassen. Zwar lobt Schirmer explizit Sauniers Sorgfalt und Genauigkeit,116 dennoch entschied sich Sydow für den Ankauf der JohannesNachschriften von J. G. Andrae, dessen Aufzeichnungen sich insge112 113 114 115 116
Vgl. EPMB 2, S. 238. Weitere biographische Angaben s. KGA III/1, S. LXV Vgl. Gemberg, Nationalkirche, S. X–XII Vgl. Französisch-Reformierte Friedrichstadt-Gemeinde, Totenbuch 1823–1832, in: ELAB 14/54. Weitere biographische Angaben s. KGA III/1, S. LXVIII S.o. Anm. 99 Vgl. SAr 139, Bl. 1r
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Einleitung der Bandherausgeberin
samt bis einschließlich Kapitel sechs erstreckten und schließlich in SW II/8 publiziert wurden. Lediglich eine Überlieferungslücke in der Andrae-Tradition füllte Sydow mit einer Nachschrift Sauniers auf, die er aber ausdrücklich als nicht wortgetreu bezeichnet.117 Von Sauniers eigener Hand ist kein Predigtmanuskript mehr erhalten. Die Abschriften aus dem Jahr 1824 sind in Schriftbild und Zeichensetzung unauffällig. d. Woltersdorff-Predigtnachschriften „Demoiselle Woltersdorff“118 ist namentlich nicht näher zu ermitteln; möglicherweise war sie die Tochter des Professors Ernst Gabriel Woltersdorff, welche 1835 als Lehrerin im „Allgemeinen Wohnungsanzeiger“ verzeichnet ist.119 Bei den ihr zugeordneten Predigtnachschriften handelt es sich um die Arbeit eines Schreiberkreises. Dem Zirkel, der nachweislich von 1819 bis 1832 tätig war, gehörten insgesamt mindestens sechs Personen an, die wohl ausschließlich weiblich waren. Aus dem Jahr 1824 sind 17 Predigtnachschriften von Woltersdorffs Hand erhalten, die teilweise kleinere Einfügungen von Caroline Crayen (s.o. Punkt II.3.B.a) enthalten. Die entsprechende Mappe im Schleiermacher-Archiv (SAr 63) der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) umfasst 68 Blatt, die teilweise in Fadenheftung, teilweise als lose Doppelblätter vorliegen. Die im Juli und August 1834 von Woltersdorff an A. Sydow übergebenen Texte120 sind aufgrund ihres Auszugscharakters von nur mittelmäßiger Qualität121. Im Schriftbild fallen die Woltersdorff-Texte neben Silbenkontraktionen gelegentlich durch eine altertümliche Schreibweise auf, bei der Doppelkonsonanten nur einfach wiedergegeben sind. Außerdem gibt es vielfach Mehrdeutigkeiten: Ein langer Strich kann ein Interpunktionszeichen vertreten, für eine gedachte Fortführung im Sinne von „und so weiter“ oder auch für einen Absatz stehen, ein Lückenfüller nach einer Einfügung sein oder ein schlichter Gedankenstrich. Vieldeutig ist auch der Doppelpunkt, der neben seiner geläufigen Funktion vor Zitaten, Aufzählungen, Erläuterungen oder Zusammenfassungen auch nach einem Zitat stehen kann, wo er sowohl das Interpunktionszeichen ersetzen als auch in Funktion eines Anführungszeichens das Ende markieren kann. 117
118 119 120 121
Vgl. SW II/8, S. VIII. Für die Veröffentlichung weiterer Predigten aus der JohannesHomilienreihe wartete Sydow darauf, dass sich weitere Quellen auftun würden, und konnte schließlich für SW II/9 auf Nachschriften A. F. W. Königs zurückgreifen; vgl. SW II/9, S. XI. Vgl. SAr 121, Bl. 1r. 3r Weitere biographische Angaben s. KGA III/1, S. LXIX Vgl. SAr 121, Bl. 1r. 3r Vgl. auch die Bewertungen Sydows in SAr 121, Bl. 1v–2r
II. Editorischer Bericht
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C. Predigtreihen des Jahres 1824 Die Predigtreihe, die das Jahr in erster Linie dominiert, ist die Auslegung des Johannes-Evangeliums, die Schleiermacher am 13. April 1823 begonnen hatte und ihn insgesamt fünf Jahre beschäftigen sollte.122 An folgenden Terminen predigte er 1824 in diesem Rahmen über das Johannesevangelium: Datum 04.01.1824, früh
Sonntag SnN
Predigttext Joh 3,22–30
18.01.1824, früh
2. SnE
Joh 3,31–36
01.02.1824, früh
4. SnE
Joh 4,1–10
15.02.1824, früh
Septuagesimae
Joh 4,11–19
14.03.1824, früh
Reminiscere
Joh 4,20–24
28.03.1824, früh
Laetare
Joh 4,25–34
11.04.1824, früh
Palmarum
Joh 4,35–42
09.05.1824, früh
Jubilate
Joh 4,43–54
16.05.1824, früh
Cantate
Joh 5,1–15
13.06.1824, früh
Trinitatis
Joh 5,16–23
27.06.1824, früh
2. SnT
Joh 5,24–30
11.07.1824, früh
4. SnT
Joh 5,31–40
25.07.1824, früh
6. SnT
Joh 5,41–47
08.08.1824, früh
8. SnT
Joh 6,1–15
17.10.1824, früh
18. SnT
Joh 6,16–26
31.10.1824, früh
20. SnT
Joh 6,27–35
14.11.1824, früh
22. SnT
Joh 6,36–44
28.11.1824, früh
1. SiA
Joh 6,45–51
12.12.1824, früh
3. SiA
Joh 6,52–60
Neben dieser gründlich angelegten Homilienreihe hielt Schleiermacher in der Zeit zwischen Ostern und Himmelfahrt eine kurze Reihe von drei Predigten zur Geschichte der Emmausjünger (Lk 24,30–48). 122
Zur Überlieferungslage und gesamten Terminauflistung vgl. KGA III/7, S. LXV– LXIX
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Einleitung der Bandherausgeberin
Zu dieser dürfte er sich spontan entschieden haben, nachdem er seinen Predigttext am Ostermontag in Anlehnung an die Perikopenordnung gewählt hatte. Es handelt sich um folgende Termine: Datum 19.04.1824
Sonntag Ostermontag
Predigttext Lk 24,30–32
02.05.1824
Misericordias Domini
Lk 24,33–43
23.05.1824
Rogate
Lk 24,44–48
Interessanterweise beschäftige sich Schleiermacher in den Frühgottesdiensten am Ostersonntag (18.04.) mit Lk 24,1–3 und an Himmelfahrt mit Lk 24,51–53. In den Vormittagspredigten zu Exaudi (30.05.) und Pfingstmontag (07.06.) sprach er über Apg 1,4 bzw. Apg 2,14–21, verbleibt also beim lukanischen Erzählstrang. Ebenfalls spontan entschied sich Schleiermacher Anfang Juli 1824, an die am 20.06. in der Dreifaltigkeitskirche gehaltene Hauptpredigt anzuknüpfen123 und in einer insgesamt fünf Termine umfassenden Themareihe über Liebe und Furcht zu sprechen. Folgende Termine können als dazu gehörig betrachtet werden: Datum 20.06.1824
Sonntag 1. SnT
Predigttext 1Joh 4,16–18
04.07.1824
3. SnT
Lk 17,3
18.07.1824
5. SnT
Mt 16,24–25
01.08.1824
7. SnT
Mt 14,28–31
15.08.1824
9. SnT
Lk 14,26
123
S.u. S. 404, Z. 3–9; S. 416, Z. 7–14
Inhalt Die Völligkeit der Liebe treibt die Furcht aus Liebe und Furcht im Strafen und Vergeben Liebe und Furcht in der Nachfolge Christi Liebe und Wankelmut im Handeln des Christen Liebe und das Gebot Christi, die Verwandten zu hassen
II. Editorischer Bericht
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Die ersten vier Termine sind in überarbeiteter Form im Festmagazin Bd. 3 (1825) S. 289–348 enthalten. Die Predigt zum 15.08. eröffnet, ebenfalls überarbeitet, die Reihe Schleiermacher’scher Predigten im Festmagazin Bd. 4 (1826) S. 231–243. Möglicherweise ist dies einzig durch publikationspraktische Gründe verschuldet; das Festmagazin Bd. 3 erschien zur Ostermesse 1825.
* * * Nach den mühevollen und langwierigen Vorarbeiten für KGA III/7 konnte ich für diesen Band auf die Ergebnisse und Erfahrungen der vorangegangenen Edition zurückgreifen. Mein besonderer Dank gebührt dem Leiter der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle, Prof. Dr. Dr. Günter Meckenstock, der meine Tätigkeit seit nunmehr fünf Jahren mit seiner inzwischen 35-jährigen Schleiermacher-Editionserfahrung und viel Geduld begleitete. Außerdem danke ich meinen Kollegen Patrick Weiland und Dr. Dirk Schmid für die Diskussion zahlreicher kleinerer Fragestellungen, bereichernde Inspirationen sowie für ein angenehmes und fröhliches Miteinander. Herausragende Arbeit haben wieder einmal die studentischen Hilfskräfte der Forschungsstelle geleistet: Judith Ibrügger, Tobias Götze und Christoph Karn haben das Entstehen des vorliegenden Bandes von Beginn an in vielerlei Hinsicht mit viel Akribie und Ausdauer begleitet. Wichtige Unterstützung erhielt ich darüber hinaus von Merten Biehl und Sven Rehbein. Ich danke Ihnen allen herzlich und freue mich auf weiterhin gute Zusammenarbeit. Kiel, im Februar 2013
Kirsten Maria Christine Kunz
Nachschrift der Predigt vom 25. Juli 1824 vormittags, SN 57, S. 7; Andrae mit Bearbeitungen Schleiermachers
Predigten 1824
Nachschrift der Predigt vom 16. April 1824 vormittags, FHDS 34, 101/2 Bl. 17r; Andrae mit Bearbeitungen des Grafen Alexander zu Dohna-Schlobitten
Am 1. Januar 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
Neujahr, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hiob 38,11 Nachschrift; SAr 105, Bl. 47r–60r; Andrae Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Fünfte Sammlung, 1826, S. 138–170 (vgl. KGA III/2); die Edition geht auf eine von Schleiermacher stark bearbeitete Textzeugenparallele zurück. Wiederabdrucke: SW II/2, 1834; 21843, S. 85–103 – Predigten. Fünfte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 108–132 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 65–80 – Kleine Schriften und Predigten, ed. Gerdes u. Hirsch, Bd. 3, 1969, S. 157–175 Nachschrift; FHDS 34, 101/1, Bl. 1r–15v; Andrae Nachschrift; SAr 109, Bl. 1r–4r; Andrae, in: Sobbe Nachschrift; SAr 52, Bl. 154r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
[Titelblatt fehlt] Tex t. Hiob XXXVIII, 11. Und sprach: Bis hieher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen. 5
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M. a. Fr. Diese Worte sind genommen aus einer erhabenen Rede, welche dem höchsten Wesen, dem Schöpfer und Erhalter der Welt selbst in den Mund gelegt wird. Er antwortet darin dem Hiob aus einem Wetter als dieser sich, wiewohl in ehrerbietiger Bescheidenheit, darüber beklagt hatte, daß der Herr sich nicht finden lasse von den Menschen, daß er von seiner guten Sache ihnen dennoch keine Rechenschaft ablege, und daß ihnen deshalb nichts übrig bleibe, als ihn in der Stille zu fürchten. Da trat der Herr aus dem Wetter hervor, und redete mit Hiob über seinen Unverstand, und aus dieser Rede sind die Worte unseres Textes genommen. Auch wir, m. g. Fr., wenn wir an einem Tage wie der heutige zurücksehen in die vergangene | Zeit, welche Menge von unerwarteten Unfällen, von unerfüllt gebliebenen Hoffnungen, von 10 ihn] Ergänzung aus FHDS 34, 101/1, Bl. 2r; SAr 109, Bl. 1r
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Am 1. Januar 1824 vormittags
vereitelten Wünschen! Wie oft hat der Herr durch den Erfolg etwas ganz anderes herbeigeführt, als was nicht etwa immer nur menschlicher Eigennutz und menschliche Selbstsucht, sondern auch die aufrichtige Liebe und die besten Wünsche für das allgemeine Wohl der Menschen es geglaubt und geahndet. Auch wir, die so in die Vergangenheit zurücksehen, sind immer versucht zu denken wie Hiob: der Herr läßt sich nicht finden von den Menschen und will uns keine Rechenschaft ablegen, unerforschlich sind seine Wege, und unbegreiflich seine Gedanken. Wollte aber der Herr, m. g. Fr., daß wir uns in dieser scheinbaren Ergebung beruhigen sollten, dann würde er nicht aus dem Wetter heraus geantwortet haben dem Hiob, dann würde sein Sohn nicht zu uns haben sagen können: ihr seid nun nicht mehr Knechte, sondern ihr seid Freunde, denn ihr wisset, was euer Herr thut. | Achten wir aber auf den ganzen Sinn jener erhabenen Rede, so ist ganz dasselbe, was wir in wenigen Worten als einen Auszug derselben gelesen haben. Der Herr stellt sich darin überall dar als denjenigen, der allem in der Welt, so wie er Alles hervorgerufen hat, daß es sei, so wie er Alles trägt durch sein allmächtiges Wort, so auch Allem sein Maaß gegeben habe und seine Ordnung; nichts darf sich weiter ausbreiten, nichts weiter erstrekken als er es gebietet: Bis hieher und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen. So laßt uns denn dies, m. g. Fr., jetzt mit einander näher erwägen, wie das der Geist sei und der Sinn aller göttlichen Rathschlüsse, das das große Geheimniß der göttlichen Weltregierung, daß der Herr Allem sein festes und bestimmtes Maaß gesetzt hat. Laßt uns, m. g. F. zuerst sehen, wie wir darin unseren besten Trost finden, wenn wir aus der Vergangenheit in die Zukunft hinaus sehen; dann aber auch zweitens, wie wir darin unsere heiligste und theuerste | Vorschrift finden, das große Gebot, nach welchem auch wir unser ganzes Leben im Dienste Gottes einzurichten haben. I. Ein großer Theil von der Rede, die Gott dem Herrn in den Mund gelegt wird in jenem alten heiligen Buche, beschäftigt sich mit den Werken der Natur, und stellt dar, wie eben in der natürlichen Schöpfung Gott der Herr Allem sein Maaß gesetzt habe. Wie er, als die Welt auf seinen Ruf wurde und sich gestaltete, die unendliche Menge von Kräften, aus deren lebendiger Bewegung Alles besteht, frei ließ, so hat er sie auch gebunden. Jede für sich ist ein solches stolzes und unbändiges Wesen, und möchte sich überall weiter ausbreiten und immer weiter über Alles andere herrschen. Da rief der Herr das Entgegengesetzte hervor, und band das Eine durch das Andere. So hat er gesondert, so hat er vereint, 12–13 Vgl. Joh 15,15
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Predigt über Hiob 38,11
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so schied er das Licht von der Finsterniß, aber er ließ stehen den wohlthätigen Wechsel von Tag und Nacht, so sonderte er das Feste von dem Flüssigen, | aber beides trägt, hält und befruchtet einander. Aber sehen wir, m. th. Fr., in die natürliche Welt, wie sie vor uns liegt, so finden wir nach den übereinstimmenden Zeugnissen derer, die sich um diese natürlichen Dinge bekümmern, wir finden darin die Spuren wiederholter, großer Zerrüttungen. Das Meer, dem der Herr die Thore verschlossen hatte, und es zusammenfaßte mit seinen Dämmen, das hat sich wieder ergossen, aber nur, damit eine neue Trennung des Festen und des Flüssigen die Erde erst vollkommen gestalte, und sie fähig mache, die ganze Masse von Leben zu tragen und zu nähren, die sich auf derselben bewegt. Und noch von Zeit zu Zeit, wiewohl jetzt ein großer Theil dieser natürlichen Kräfte schon gebunden ist durch den Geist des Menschen, läßt der Herr sie sich wieder ergießen, daß man besorgen möchte, es wolle die eine eine zügellose Herrschaft ergreifen und alle übrige aufreiben. Oft noch stürzen die Wasser zusammen von oben herab, ergießen sich weit über | ihre gewöhnlichen Ufer, zerstören die Werke der Menschen und drohen die Feste der Erde zu verschlingen, aber der Herr bindet sie auf’s neue mit seinen Dämmen und schließt sie in seine Thore, und überall ist er es, der das rechte Maaß findet, und immer und überall sehen wir aus der scheinbaren Zerstörung eine neue und bessere Ordnung hervorgehen. Wo Eins sich zügellos entreißt, nachdem es schon gebunden gewesen war, und mit der weiteren Kraft dem Übrigen droht, da erblicken wir die Gewalt der Natur, und es umfängt uns das Gefühl unserer Ohnmacht, und wie unbedeutend der Mensch sei gegen jene allgemeinen Kräfte. Wo aber das Thor wieder verschlossen wird und der Damm die natürlichen Kräfte zwingt, und das Ergossene wieder gebeugt wird unter sein Maaß, da erblicken wir den Herrn; er ist es, der Ordnung setzt und hält, er ist es, der das Maaß bestimmt, und wenn er denn gesprochen hat: „Bis hieher und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen“: dann | beginnen wir auch in diesen scheinbaren Zerstörungen nicht mehr die bloße Natur zu sehen, sondern den gebietenden Willen dessen, der da wollte, daß die Wellen so weit gehen und so weit sich ergießen sollten, um das rechte Maaß in einer jeden Zeit zu finden. Aber alles Natürliche ist für uns vorzüglich ein Sinnbild des Geistigen, und so laßt uns denn sehen auf die Schöpfung, welcher der Herr den lebendigen Odem eingehaucht hat, auf den Menschen, den er gebildet hat zu einer vernünftigen Seele. O da ist es aber eben vorzüglich, m. g. Fr., wo uns die Wege des Herrn so oft unerforschlich erscheinen und unbegreiflich seine Gedanken. Was in Liebe gebunden sein soll, 1–3 Vgl. Gen 1,4–7
37–39 Vgl. Gen 2,7
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Am 1. Januar 1824 vormittags
das theilt sich in stolzem und selbstsüchtigem Eifer, was einander dienen soll, das trennt sich, und jedes will herrschen über das andere. Wilde Leidenschaften bewegen die arme, zerrüttete Seele, daß sie ihr Maaß und die wahre Einheit ihres Wesens verliert. So sehen wir auch auf diesem Gebiete die Natur | im Begriff sich selbst zu zerstören. Und wenn entgegengesetzte Ansichten über menschliche Dinge, über die tiefste Quelle des Wohl’s und Weh’s, über die besten Mittel jenes zu fördern und dieses zu dämpfen, wenn entgegengesetzte Ansichten darüber mit Gewalt einander gegenübertreten, welche Zerrüttungen erfahren dann die menschlichen Dinge! Wie eilen dann diejenigen, die nicht sich selbst bewußt sind, daß sie bauen wollen, um zu zerstören! wie sehen wir dann dicht am Abgrunde große Theile des menschlichen Geschlechts! Aber sei es die stolze Selbstsucht und die frevelnde Herrsucht, seien es wilde Leidenschaften und der entbrannte Zorn, sei es die sinnliche Begierde und die niedere Lust, oder sei es nur der verleitete und durch die Verleitung entbrannte bessere Wille des Menschen: „Bis hieher und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.“ Zerstören läßt der Herr nicht mehr das Reich der Vernunft und | des bessern Lebens, welches er gegründet hat in der menschlichen Natur. Wenn diese über ihr Maaß ausbricht und sich über ihre Grenzen ergießt, er ist es, der das Maaß wieder ordnet, indem er das Eine gegen das Andere aufregt, und das Eine durch das Andere dämpft. Aber auch wenn wir in die stillere Tiefe der menschlichen Seele hineinschauen, wenn wir den Menschen betrachten, wie er in sich selbst sinnt und die Welt, in welcher er lebt, zu verstehen sucht, die Gesetze derselben zu erforschen, in das innerste Wesen der Dinge einzudringen, und dann findet, wie viel edler diese Beschäftigung sei als dasjenige, womit der größte Theil unserer Brüder, von den Sorgen des täglichen Lebens gedrängt, sich abmüht, wenn er dann übermüthigt wird in dem Gefühl der hohen Stufe, die er erstiegen hat, wenn er dann denkt wie jene, die in dem Buche Hiob mit einander streiten um den göttlichen Rath und um die göttliche Ordnung, er habe das Geheimniß des Herrn er|gründet, und das höchste Wesen selbst sei seiner Seele nicht mehr verborgen: o dann verirrt er sich auch so aus den Grenzen der menschlichen Natur, und auf die schwindelnde Höhe hinaufgeklimmt, steht er am Rande des gefährlichsten Abgrundes. Auch dann ruft der Herr: „Bis 1 stolzem und selbstsüchtigem] stolzen und selbstsüchtigen 8 wenn] Ergänzung aus FHDS 34, 101/1, Bl. 6r; SAr 109, Bl. 2r 29 übermüthigt] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, 2 1796, Sp. 1355 30–32 Vgl. die Gespräche Hiobs mit den Freunden Elifas, Bildad, Zofar und Elihu; Hiob 3,1–28,28; 32,1–37,24
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hieher und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen“, indem er dem Menschen zeigt durch neue und unbekannte Erscheinungen in der menschlichen Natur, in dem was uns zunächst auf Erden umgiebt, wie wenig er noch das ergründet hat, was ihm am nächsten liegt, wie unverständig er geredet, und wie ihm nichts geziemt als sich in seiner Unvollkommenheit zu demüthigen vor dem, der allein waltet. Und so legen sich auch die stolzen Wellen des menschlichen Geistes, und allem, auch dem, was zum Himmel dringen will und ihn erstürmen, allem setzt der Herr Maaß und Ziel. | Doch, m. g. F., könnten wir abbrechen ohne der neuen Schöpfung Gottes zu gedenken, die sich erst gebildet seitdem das Wort Fleisch geworden ist, und der eingeborene Sohn des Höchsten uns seine Herrlichkeit gezeigt hat, der neuen Schöpfung, die der Geist Gottes in den Herzen der Menschen gründet, und von der wir je länger je mehr einen neuen Himmel und eine neue Erde erwarten? O, m. g. F., wenn der Geist Gottes in die menschliche Seele dringt und von ihr Besitz nimmt, des Gottes, der eben Allem sein Maaß und Ziel setzt, der Alles aufregt und dämpft: dann sollte wohl Alles sich nur in seinem natürlichen Maaße bewegen und halten, in diesem Gebiete sollte keine Ausweichung sein, die erst müßte gedämpft werden, kein Losreißen, das erst müßte gebunden werden. Aber so war es nur in dem Einen, der den Geist Gottes empfangen hatte ohne Maaß, in dem war eben deswegen | Alles Maaß, Alles die reinste und herrlichste Zusammenstimmung. Aber in den übrigen Menschenkindern, da offenbart sich der Geist Gottes in mannigfaltigen und zertheilten Gaben, und so wie diese Zertheilung geschehen war, da wollte auch schon eine jede sich losreißen von dem Zusammenhange mit den übrigen und etwas sein für sich, da entstand Streit, wie wir sehen in den ersten Zeiten des Christenthums in der Gemeine zu Korinth, an welche der Apostel Paulus geschrieben hat, da entstand Streit zwischen der einen Gabe und der andern, jede wollte besser sein als die andere, und meinte, aus ihr allein gehe das bessere Leben hervor, und sie allein vermöge das Ganze zusammenzuhalten. Und als der Geist Gottes von jenem ersten Punkte aus sich weiter verbreitete über verschiedene Völker, statt gleich zusammenzuklingen in der Einen Liebe und in dem Einen Glauben, entstand wiederum ein | Wetteifer unter diesen, jedes glaubte ihn reiner aufgefaßt zu haben und ein besseres und nützlicheres Werkzeug zu sein, um ihn zu hegen und dem menschlichen Geschlechte zu erhalten. Was war das wieder anders als die sich losreißende Natur, die ihre Grenzen überschreiten wollte. Aber 7 stolzen] anders FHDS 34, 101/1, Bl. 7v; SAr 109, Bl. 2r: stolzesten 11–12 Vgl. Joh 1,14
14–15 Vgl. 2Petr 3,13
27–32 Vgl. 1Kor 12,1–31
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der Herr in seiner Weisheit hat auch hier immer Maaß und Ziel gesetzt, er hat nicht gelitten, daß in kleinlicher Selbstsucht das Reich seines Sohnes sich zertheilte, aus dem Streit hat er immer den Frieden wiedergebracht, das Getrennte hat er zusammenzubinden gewußt, und immer neues Licht und neues Leben – Dank dem, der überall das Maaß und die Ordnung hervorruft – ist aus dem Streit und aus der Zerstörung entstanden. Ja welchen Trost gewährt uns für die Zukunft ein solcher Rückblick in die Vergangenheit, in die ferne und in die nahe. Denn auch um uns her sehen wir in der menschlichen Welt | häufig genug, was sich so losreißen will und in sein Verderben gehen, und was von dem Herrn erst muß zusammengefaßt werden in Maaß und Ziel; auch unter den Christen sehen wir häufig genug jenen Streit über die Gaben und über die Ansichten, drohend das Maaß des Heiles zu zerstören, und was eins sein soll zu entzweien. Aber der Herr hat es nicht gelitten und wird es nicht leiden. Maaß hat er bisher gesetzt in der natürlichen Welt, und seiner Ordnung wird sie sich niemals entziehen, Maaß hat er bis jetzt gesetzt menschlichen Leidenschaften und allen verschiedenen Richtungen, welche die menschliche Seele ergreift, und fernerhin wird er es so leiten, daß was zerstörend nur für sich allein wirken will, durch sein göttliches Maaß und durch seine weise Ordnung nur dem Besten des Ganzen diene, und daß ein höheres Wohlergehen daraus hervorgehen muß. Wie sollte er nicht vielmehr Maaß und Ordnung zu halten und hervor|zubringen wissen in der Gemeine seines Sohnes, die das Ebenbild dessen sein soll, der sein einiges und ewiges Ebenbild ist, das Abbild dessen, in welchem nichts mit dem Andern stritt, sondern heilige Eintracht war und heiliger Friede. II. Aber, m. g. F. nicht nur unsern Trost für die Zukunft sollen wir in dieser Betrachtung finden, sondern auch unsere Vorschrift und das Gesetz unseres Lebens für dieses und jedes neue Jahr, welches uns der Herr nach seiner Gnade geschenkt hat und noch schenken will. Wenn die Menschen, m. g. F., von jener Ergebung in die Unerforschlichkeit des Höchsten, aus welcher der Herr dem Hiob heraus donnerte durch die Kraft seiner erhabenen Rede, wenn sie sich von der erholt haben so weit, daß sie etwas wie durch einen dunklen Spiegel schauen von der Ordnung und von dem Wesen des Höchsten, so gestaltet sich das in Vielen zu einer ganz leidentlichen Erwartung. Kümmert sie etwas und macht ihnen Sorge, | sehen sie irgend wo die Unmäßigkeit und den Übermuth, die gehässigen und leidenschaftlichen Bewegungen, so 10–11 und was] so FHDS 34, 101/1, Bl. 9r; SAr 109, Bl. 2v; Textzeuge: in was
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denken sie, daß der Herr Alles in seinen Zügeln hält und leitet, aber sie betrachten sich selbst nicht als die, welche mitwirken sollen, sondern als bloße Zuschauer dessen, was der Herr thut, verhärten und verstokken sie sich in ihrem verkehrten Sinn. Eben deswegen, weil sie wissen, der Herr setze Maaß und Ordnung, so denken sie, ihnen gebühre für ihr Theil ohne Maaß und Ordnung das zu suchen, wonach sie streben, ihn fordern sie dadurch heraus zum Kampfe, er möge sie zügeln, so weit es nöthig wäre, sie könnten aber nicht anders als den Weg gehen, den es sie fortreißt. Was heißt das anders, m. g. F., als Gott immer außer sich haben, und also fern von ihm sein. Der Eine stellt ihn außer sich hin als den, der allein Alles thut und bewegt, aber | er gesellt sich nicht der göttlichen Thätigkeit zu, sondern verharrt in träger Ruhe; der Andere stellt sich Gott gegenüber als demjenigen, der ihm Widerstand leisten solle, so viel es die Ordnung der Welt erfordert, und ihn bekämpfen und begrenzen, feindlich also stellt er sein eigenes Bestreben gegen das göttliche. Nicht also wir, die wir nicht fern sein sollen von Gott, sondern in ihm leben, weben und sein, nicht also wir, die wir nicht einen äußerlichen Gott haben, sondern denen der Herr verheißen hat, daß er mit dem Vater kommen wolle Wohnung zu machen in unserem Herzen. Ist es also der Herr, der Allem das rechte Maaß und die gehörige Ordnung setzt, und hat er uns gegeben von seinem Geiste: o so kann der nicht anders in uns walten als daß auch wir überall Maaß und Ordnung setzen. Ja in der natürlichen Welt zuerst. Denn dazu hat der Herr den menschlichen Geist bestimmt, als er ihm | übergab die Erde und Alles, was sich auf ihr regt und bewegt, daß er sie sich soll unterwerfen und über sie gebieten. Was heißt das anders als daß er selbst ihr Maaß sein und ihr seine Ordnung setzen soll. Wo der Herr die natürlichen Kräfte wieder losläßt über das schon gesetzte Ziel, um die Werke der Menschen zu zerstören und ihrem Streben neue Hindernisse in den Weg zu legen: da soll uns das immer nur eine neue Aufforderung sein unser Maaß und unsere Ordnung, die Herrschaft und das Gepräge des Geistes ihnen immer tiefer aufzudrücken und sie immer mehr zu beugen unter das, was der Herr ihnen selbst zum Herrscher gesetzt hat; und darum preisen wir denn und ehren seinen Namen und den großen Beruf, den er uns gegeben hat. Aber das ist freilich nur das Äußerliche desselben, es ist nur dasjenige, wozu schon der eigene Vortheil und die kleinliche Berechnung dessen, was der Mensch bedarf zu seinem immer mehr zusammengesetzten | und immer künstlicher gewordenen Leben, von selbst dem Menschen aufdringt. Noch mehr 1–2 sie betrachten] so SAr 109, Bl. 3r; Textzeuge: sie selbst betrachten aus FHDS 34, 101/1, Bl. 10v 16–17 Vgl. Apg 17,27–28
18–20 Vgl. Joh 14,23
3 als] Ergänzung
23–26 Vgl. Gen 1,28
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aber, m. g. Fr., sollen wir es uns angelegen sein lassen Maaß und Ordnung zu setzen in der menschlichen Welt, nicht sollen wir ruhig zusehen, den verkehrten Bewegungen der menschlichen Seele, den entbrannten Leidenschaften, dem Streite des Eigennutzes und der Herrschsucht, der Gewaltthätigkeit, des Übermuthes und der Feigherzigkeit, nicht sollen wir ruhig und unthätig zusehen, wo menschliche Leidenschaften über alle Gesetze und Ordnungen hinaustreten, wo das gestört wird und gefährdet, was das Leben der Menschen fördert und zusammenhält, nicht sollen wir unthätig zusehen, denn der Herr hat ja das in uns gegeben, was Maaß und Ordnung setzen kann, er hat uns den Geist nicht versagt, der sich das Fleisch soll unterthänig machen, und das theuerste uns anvertraute Gut; wehe | uns wenn wir es nicht so gebrauchen in seinem Dienste, daß wir in jedem Augenblicke vermögen Rechenschaft davon abzulegen. Aber noch mehr mögen wir uns alle in jedem neuen Jahre unseres Lebens mit großer Sorgfalt hüten, daß nicht die Bewegungen unserer eigenen Seele auch in ein solches Übermaaß ausströmen, welches der Herr erst zügeln muß, daß wir uns nicht fortreißen lassen von dem zerstörenden und verkehrten Treiben der Menschen, und uns hüten, daß wir nicht fallen dem äußern Gesetz des Herrn, welchem wir leben sollen durch die innere Kraft des Geistes, die er uns gegeben hat. Wie könnten wir das wohl anders, als wenn wir immer mehr und immer inniger leben in der neuen Schöpfung, der, Gott sei Dank, wir alle angehören. Da hat der Herr durch seinen Geist seine ewigen und heiligen Ordnungen einheimisch gemacht in der menschlichen Seele. Der Geist, der in uns ruft, lieber Vater, der Geist der Kindschaft und der Freiheit, der befreundet uns jenem Wesen der | göttlichen Regierung, die Maaß und Ordnung überall hervorruft. Wie könnten wir aber mittelst unseres Lebens in der neuen Schöpfung Maaß und Ordnung erhalten in der gesammten menschlichen Welt auch unter denen, die leider noch verschlossen sind dem Geiste Gottes, der in allen leben möchte, wie, sage ich, können wir es, wenn nicht in der Gemeine der Christen das göttliche Maaß und die heilige Ordnung des Herrn ihr unbezweifeltes Maaß gefunden hat, wenn da nicht Alles gebunden ist zu Einem Zweck, wenn da nicht Alles zusammen ist und in Einem großen geistigen Verein arbeitet für das, wozu der Herr gekommen ist, und die Menschen immer mehr erlöst von Allem, was sie zu den Mühseligen und Beladenen macht in dieser Welt. Dazu, m. g. F., eröffnet der Herr uns allen ein neues Jahr der 8 gestört] anders FHDS 34, 101/1, Bl. 12r; SAr 109, Bl. 3r: zerstört Ergänzung aus FHDS 34, 101/1, Bl. 13r; SAr 109, Bl. 3v 25–26 Vgl. Röm 8,15–16
34 gebunden ist]
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Langmuth und der Gnade. O daß wir es benutzen möchten nach seinem heiligen Willen. Laßt uns zu dem Ende trachten nach allen geistigen | Gaben, so viel wir davon können in unserer eigenen Seele hervorrufen, laßt sie uns deswegen immer mehr und ohne Vorbehalt öffnen dem Geiste, der uns so gern leiten, regieren und beseelen möchte, und laßt uns alles, was ihm Widerstand leisten will, von uns halten, damit wir selbst ein Spiegel werden des göttlichen Maaßes und der ewigen Ordnung, und damit wir Alles, auch was der Herr uns versagt hat, gern nicht nur anschauen, sondern auch hervorrufen, erhalten und stärken in unseren Brüdern. Aber vor allem das Eine laßt uns das nicht vergessen, was der Apostel sagt: Trachtet nach den besten geistigen Gaben, und ich will euch noch einen bessern Weg zeigen, das ist nämlich, trachtet nach der Liebe. Die ist das Band der Vollkommenheit, durch die erst erhält Alles sein rechtes Maaß, weil sie selbst nichts ist als der göttliche Geist des Maaßes und der Ordnung. Dann, m. g. F., werden wir immer weniger in unserer ruhigen in dem Frieden | Gottes zusammengefaßten Welt immer weniger die große zwar herrliche aber doch drohende Stimme hören dürfen: „Bis hieher und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.“ Denn alles, m. g. F., muß von dem Herrn sein Gesetz bekommen und sein Maaß, nur das Eine nicht, die Liebe, weil sie das Wesen Gottes selbst ist. Die hat keine stolze Wellen, die sich erheben wollen, sondern überall waltet sie und nicht zerstörend, sondern bauend, nicht sich selbst suchend, sondern das Zusammenstimmen von alle dem, was gleich denen, in welchen sie wohnt, das Werk des Höchsten ist, so ist sie das wahre Band der Vollkommenheit. Wer nach ihr trachtet, der erbaut und stärkt in sich und in Andern alle andere geistige Gaben und die ganze Fülle dessen, womit der Herr die Menschheit segnen wollte. So, m. g. F., laßt uns mit diesem Trost und mit diesem Vorsatz in das neue Jahr unseres Lebens hineingehen. O es kann nicht fehlen, es wird uns Vieles darbieten, wobei wir genöthigt sein werden | hoffend und vertrauend des Wortes zu gedenken, auch diese stolzen Wellen werden ihr Ziel finden und das Maaß, welches ihnen der Herr gesetzt hat. Aber wenn wir nur das immer mehr bauen, was ohne alles Maaß kann erbaut werden, weil es sich selbst mäßigt, dann werden wir, welchen Bewegungen die Welt um uns her auch möge unterworfen sein, in uns selbst Ruhe haben und Frieden, unter uns wird er wohnen der Geist der Ordnung und des Maaßes, und der wird dann Zeugniß geben 7 halten] anders SAr 109, Bl. 3v: werfen 11–12 Vgl. 1Kor 12,31
12 Gaben] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 3v
13.25–26 Vgl. Kol 3,14
38–1 Vgl. Röm 8,16
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unserem Geiste, daß wir Gottes Kinder sind, und nach der Regel und Ordnung seines Sohnes schalten in seinem Hause. Amen.
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Gebet. Ja, allmächtiger Gott und Vater, wir demüthigen uns vor Deinem Throne bei dem Beginn eines neuen Jahres unseres Lebens. Du, der Du alles zähmst und mäßigst, und auch uns ein neues zugeführt hast, damit wir in demselben vollbringen Deinen Dienst, Du wirst ferner Deine Macht und Deine Weisheit durch alle Deine Führungen denen enthüllen, die Lust haben | an Deinen Wegen, und die es vermögen Deine heilige Stimme zu vernehmen. O rede sie nur immer deutlicher zu uns aus Deinem geschriebenen Worte und aus den Tiefen unseres Herzens, in welche Du gesenkt hast Deinen Geist. O vernähmen wir sie immer deutlicher, und ließen uns leiten von Dir, damit wir das Maaß fänden ohne Streit und in dem Reiche, welches Dein Sohn gegründet hat, lebten ohne Übermaaß. Ja dazu empfehlen wir Dir für dieses neue Jahr die ganze Christenheit, die den Namen Deines Sohnes bekennt. Erbaue Du sie durch die Kraft Deines Geistes, laß das Licht des Evangeliums immer heller leuchten und auch diejenigen dazu erweckt werden und zu dem neuen Leben gelangen, die noch in der Finsterniß und im Schatten des Todes sitzen. Verkläre Du Deinen Sohn immer mehr in allen denen, die seinen Namen bekennen, und laß überall den Geist der Ordnung und des Friedens herrschen in der Gemeine der Christen. Dazu laß gesegnet sein das Band, welches sie vereint, die Verkündigung Deines Wortes und die Darreichung Deiner heiligen Sakramente. | Wir empfehlen Dir auch für dieses neue Jahr besonders unser theures Vaterland. Segne den König, den Kronprinzen und seine Gemahlin und das ganze königliche Haus; sei es auch in diesem beginnenden Jahre ein gesegnetes Vorbild christlicher Gottseligkeit und die Freude der Unterthanen durch ein ungestörtes und sich immer mehrendes Wohlergehen. Leite Du den König, und gieb ihm den Beistand Deines Geistes zur Erfüllung des großen Berufs, den Du ihm aufgelegt hast. Umgieb ihn mit treuen und eifrigen Dienern, die ihm helfen erkennen und ausführen, was recht und wohlgefällig ist vor Dir. Erhalte alle seine Unterthanen treu und gehorsam in dem Umfange des Reiches, welches Du ihm gegeben hast, damit unter seinem Schutz und Schirm überall die christliche Gemeine sich baue und dem Ziele christlicher Vollkommenheit immer näher komme. 9–10 Wegen, und die] so FHDS 34, 101/1, Bl. 15r; SAr 109, Bl. 4r; Textzeuge: Wegen, und die es erwägen, und die
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Dazu empfehlen wir Dir, gütiger | Gott und Vater, besonders die Erziehung der Jugend und den christlichen Hausstand überall in unserem Vaterlande und in dieser Stadt. Ja segne einen jeden in dem Berufe, den Du ihm angewiesen hast, laß uns alle die erfreuliche Erfahrung machen, daß auch wir etwas beitragen können Dein Reich zu fördern, und segne dazu die Kraft des bescheidenen, wohlthätigen christlichen Beispiels. Derjenigen aber, über welche Du Trübsal und Widerwärtigkeiten verhängt hast in dem Laufe dieses Jahres, nimm Dich thätig an, wenn sie ihre Zuflucht bei Dir suchen, und laß uns alle immer mehr erfahren, daß bei dem Maaße, welches Du allen Dingen setzest, das wahre Maaß unserer Seele, die Du so väterlich beherrschest, das Ziel ist, welches Du sie erreichen lässest, und daß denen, die auf Dich vertrauen und Dich lieben, eben deswegen Alles zum Besten gereichen muß. Amen.
[Liederblatt vom 1. Januar 1824:] Am Neujahrstage 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s etc. [1.] Gott soll der erste Morgen / Des Jahres heilig sein, / Ich will mich, frei von Sorgen, / Nun seiner Güte freun. / Bis hieher half der Herr! / Lobsing ihm meine Seele, / Lobsing ihm und erzähle, / Wie treu und gut ist er. // [2.] Ich überschau die Pfade / Der kurzen Pilgerschaft; / Nah war mir Gottes Gnade, / Nah war mir seine Kraft. / Er führte mich zum Ziel / Auf allen meinen Wegen; / Verlieh mir reichen Segen / Und wahrer Freuden viel. // [3.] Sein Werk voll Trostes stärkte / Der Seele Zuversicht, / Auf ihren Wegen merkte / Sie stets sein Heil und Licht. / Am Abend war mein Herz / Oft voll von Gram und Sorgen; / Doch mit dem neuen Morgen / Verschwand schon Gram und Schmerz. // [4.] Gott dir gebühret Stärke / Und Preis in Ewigkeit! / Groß, groß sind deine Werke, / Groß deine Freundlichkeit. / Ich will mein Leben lang / Dich preisen, dich erhöhen, / Und noch mein letztes Flehen / Sei Herr ein Lobgesang. // (Brem. Gesangb.) Nach dem Gebet. – In bekannter Melodie. [1.] Herr Gott, dich loben wir, / Herr Gott wir danken dir, / Dich Vater preist die ganze Welt, / Die deine große Macht erhält. / Du aller Welten großer Geist, / Den Sonn’ und Mond und Erde preist, / Du bleibest uns durch Jesum Christ / Ein Vater, der uns gnädig ist. / Heilig bist du, o Gott! / Heilig bist du, o Gott! / Heilig bist du, o Gott! / Voll Segen dein Gebot. // [2.] Du der die Sonne wieder rief, / Die kreisend ihre Bahn durchlief, / Du leit’st sie nun 13–14 Vgl. Röm 8,28
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in das Gebiet, / Wo sie uns milden Segen glüht. / Sie führt uns neue Tage zu, / Und diese auch verleihest du. / Du, der den Himmel hat gebaut, / Hast gnädig auf uns hergeschaut. / Mehr, als der Sterne zahllos Heer, / Sind wir vor dir, o Ewiger! / Der du in deinem Sohn uns kennst, / Mit ihm uns deine Kinder nennst. // [3.] Du Christe Gottes einger Sohn, / Du kamst von deines Vaters Thron, / Und brachtest Himmelsseligkeit / Ins Leben unsrer Sterblichkeit. / Der Menschheit großes neues Jahr, / Das stellte deine Zukunft dar, / Als Gott durch dich den Segen sprach, / Dein Licht durch alles Dunkel brach. / Dein göttlich Wort vernehmen wir, / Und preisen, Jesu! dich dafür. // [4.] Hilf du uns nun dir ähnlich sein, / Daß wir uns deines Himmels freun! / Einst feiern wir ein neues Jahr / An deines Thrones Dankaltar. / Du unser göttlicher Prophet, / Des Wahrheit fest wie Felsen steht, / O bild uns ganz nach deinem Sinn, / Das bleibt uns ewiger Gewinn. // [5.] Geist Gottes, Quell der Heiligung, / Schaff in uns die Erneuerung; / Mach täglich uns von Sünden rein, / Um deiner Gaben werth zu sein. / Der du dich gütig offenbarst, / Sei in der Kirche, wie du warst! / Vertritt du selber das Gebet / Um Weisheit, das vom Herzen geht! / O dürften wir doch nichts bereun, / Wenn dies Jahr wird beschlossen sein. / Amen. // (Jauersch. Gesangb.) Nach der Predigt. – Mel. Nun danket alle etc. [1.] Der ewig reiche Gott woll uns in diesem Leben / Ein immer fröhlich Herz und wahren Frieden geben, / Er woll in seiner Gnad’ uns halten fort und fort, / Und uns aus aller Noth erlösen hier und dort. // [2.] Lob, Ehr und Preis sei Gott, dem Vater und dem Sohne / Und seinem heilgen Geist im hohen Himmelsthrone, / Lob dem dreiein’gen Gott, wie er im Anfang war / Und ist und bleiben wird jezt und immerdar. //
Am 4. Januar 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Sonntag nach Neujahr, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 3,22–30 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 207–218; Andrae (Titelblatt der verloren gegangenen Druckvorlage in SAr 105, Bl. 60v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 154v; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 78v–83r; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am Sonntage Epiphanias 1824.
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Tex t. Joh. 3, 22–30. Darnach kam Jesus und seine Jünger in das jüdische Land und hatte daselbst sein Wesen mit ihnen und taufte. Johannes aber taufte auch noch zu Enon, nahe bei Salim, denn es war viel Wassers daselbst, und sie kamen dahin und ließen sich taufen. Denn Johannes war noch nicht in das Gefängniß gelegt. Da erhob sich eine Frage unter den Jüngern Johannis sammt den Juden über der Reinigung, und kamen zu Johannes und sprachen zu ihm, Meister, der bei dir war jenseit dem Jordan, von dem du zeugtest, siehe, der tauft, und jedermann kommt zu ihm. Johannes antwortete und sprach, Ein Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel. Ihr selbst seid meine Zeugen, daß ich gesagt habe, Ich sei nicht Christus, sondern vor ihm hergesandt. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams steht und hört ihm zu, und freuet sich | hoch über des Bräutigams Stimme. Dieselbige meine Freude ist nun erfüllet. Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen. Was das für eine Frage gewesen sei, m. a. Fr., über die Reinigung zwischen den Jüngern des Johannes und zwischen den Juden, das erzählt uns der Evangelist nicht, weil es nicht zu seinem Zwekke gehörte über diese Sache zu reden und zu entscheiden, sondern er uns nur darlegen 8 Johannis] Johannes
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will, wie sich bei dieser Gelegenheit Johannes der Täufer über sein Verhältniß zu Christo geäußert hat. Wie aber nun bei Gelegenheit dieser Frage die Jünger Johannis zu ihrem Meister kommen, um ihn Christi wegen zu fragen, das können wir uns erklären aus dem, was wir bei den andern Evangelisten lesen. Es waren nämlich den Juden schon in dem Gesez Mosis eine Menge von Reinigungen vorgeschrieben, aber die Sazungen der spätern hatten dazu noch eine große Zahl von äußeren Gebräuchen hinzugefügt. Diese lezteren beobachtete Jesus nicht, weil er das Gesez reinigen wollte von den spätern willkührlichen Zusäzen der Menschen, von dem Gesez selbst aber sagt er, daß er nicht gekommen sei es aufzulösen, sondern zu erfüllen. Wie aber Johannes selbst noch strenger lebte nach dem Gesez als andere, die sich dem Herrn ebenfalls auf eine besondere Weise gelobt hatten, so hielten auch seine Jünger alle Sazungen der Väter, und wir lesen in den andern Evangelien wie Jesus von seinen Zeitgenossen darüber zur Rede gestellt worden, daß Johannis Jünger alle Gebote und Aufsäze der ältesten hielten, seine aber dieselbigen überträten. Und so war denn die Frage über die Reinigung grade eine solche Frage, welche die Aufmerksamkeit der damaligen Menschen auf eine besondere Weise anziehen mußte, da die Handlungsweise Christi und seiner Jünger eine andere Ansicht über dieselbe vor | aussezte als die des Johannes und seiner Anhänger war, und die, welche sich mit den Jüngern Johannis darüber stritten, mögen sie auch wol aus diesem Gesichtspunkte angesehen haben, und deswegen kommen die Jünger Johannis zu ihm und sagen, Meister, der bei dir war jenseit des Jordans, von dem du zeugtest, der tauft, und jedermann kommt zu ihm, um sich gleichsam darüber zu beschweren, daß Jesus nicht nur eine große Menge von Anhängern erhielt, die sich von ihm taufen ließen, statt zu Johannes zu gehen und von ihm die Taufe zu empfangen, sondern auch anders lehrte und lebte als Johannes that. Aber, m. g. Fr., was sollen wir nun wol von diesen Jüngern Johannis denken, die, indem sie diese Beschwerde über Jesum bei ihrem Meister anbringen, ihn zugleich daran erinnern, daß das derselbe sei von dem er gezeugt habe? Was er aber von ihm gezeugt hatte, das hat uns Johannes der Evangelist schon früher gesagt, und die Erzählungen der andern Evangelisten stimmen damit überein, nämlich er sei größer, denn er selbst, Johannes, so daß er nicht werth sei, ihm die Schuhriemen aufzulösen, er sei das Lamm Gottes, tragend die Sünde der Welt, welcher gekommen sei das Reich Gottes zu gründen, dessen Herannahung er verkündige, er sei der, dem er gekommen sei die Wege zu 10–11 Vgl. Mt 5,17 14–17 Vgl. Mt 9,14; Mk 2,18; Lk 5,33 36–38 Vgl. Mt 3,11; Mk 1,7; Lk 3,16; Joh 1,27 38 Vgl. Joh 1,29 40–1 Vgl. Mt 3,3; Lk 3,4; Joh 1,23
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bereiten und zu ebnen. So waren sie ja von ihm selbst deutlich genug von ihm ab und zu Jesu hin gewiesen; wie können sie also, indem sie ihn auf dieses Zeugniß, welches er selbst von dem Erlöser abgelegt hatte, zurükkführen, sich darüber beschweren, daß alle Welt zu Jesu laufe? Aber das ist ein altes Gebrechen, welches sich vielfältig sonst und auch in der christlichen Kirche nachher wiederholt hat, nämlich die große Neigung der Menschen an einen Menschen zu glauben. Ein anderes, m. th. Fr., ist es mit dem Glauben | an den Erlöser, wie Johannes selbst in dem Verfolg dieser seiner Rede, wovon wir künftig mit einander sprechen werden, zu seinen Jüngern sagt, indem er spricht, Der vom Himmel kommt, der ist über alle, und zeuget, was er gesehen und gehört hat. An den können und sollen alle glauben, denn der Eine ist unser Meister, sonst keiner, alle andern sind seine Diener und sollen sich unter einander dienen mit der Gabe, die Gott einem jeden gegeben hat. Wie oft ist es nicht so gegangen in der christlichen Kirche, wie hier mit den Jüngern Johannis. Johannes wollte nicht, daß sie an ihn glauben sollten, sondern wies sie an Jesum als den einzigen Gegenstand des Glaubens. Es war sein ihm von Gott aufgetragenes Werk, die Menschen auf ihn hinzuweisen, und darum blieb er bei seinem Beruf; sie aber wollten an ihn glauben, sie stellten sein Zeugniß zwar nicht in Zweifel, aber nahmen freilich dasselbe auch nicht so an, wie er es meinte, und den Inhalt konnten sie so vergessen, daß, als in der Lehre und in der Weise Christi etwas vorkam, was mit der Art und Weise des Johannes nicht übereinstimmte, sie sich über ihn beschwerten. Niemand ist weiter davon entfernt gewesen, daß man an ihn glauben sollte, als der Diener Gottes, Luther, dessen treuer Arbeit an dem Werke des Herrn wir so vieles verdanken in Beziehung auf die reinere Erkenntniß der christlichen Wahrheit. Aber wie arg haben es die Menschen damit gemacht, zu seinem Verdruß an ihn zu glauben. Wiewol er sagte: ich wollte, daß alles weiter wäre, und wiewol er dagegen stritt, daß keiner sollte lutherisch sein, sondern alle christlich, so konnte er doch nicht diese Neigung der Menschen bezwingen. Und wie viele Streitigkeiten sind nicht über seine Worte entstanden, indem jeder durch seine eigene Art und Weise sich auszudrükken über die Gegenstände des Glaubens und des Lebens ihm am nächsten zu kommen 17 Johannis] Johannes
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11–13 Joh 3,31–32 13–14 Vgl. Mt 23,8.10 14–16 Vgl. 1Petr 4,10 30– 32 Vgl. Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung. 1522, in: WA, Bd. 8, S. 685, Z. 4–16
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glaubte. Daher ist | nichts besser, als wenn jeder, der in der Gefahr ist, daß man auf eine solche Weise an ihn glaubt, sich in seinem Gewissen ein solches Zeugniß geben kann, wie Johannes der Täufer, der zu seinen Jüngern sagen konnte, ich rufe euch zu Zeugen auf, daß ich niemals gesagt habe, ich sei Christus, sondern nur vor ihm her gesandt. Damals als Johannes so lehrte, Christo den Weg bereitete und so von ihm zeugte, da war das Licht noch nicht auf dieselbige Weise anerkannt und hatte sich noch nicht so offenbart, wie hernach die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes in ihm erblikkt und an ihn geglaubt wurde; sondern der Erlöser stand noch in dem Anfange seines öffentlichen Lebens und Wirkens. Jezt aber, wo sein Werk schon in so großem Maaße nicht nur vollendet ist in Beziehung auf Gott – denn das war es, sobald er sein irdisches Leben verließ – sondern auch mehr in die Erscheinung tritt, und die Kraft desselben und sein unvergängliches Wesen sich immer mehr offenbart, jezt sollte nie der Fall eintreten, daß einer könnte in allem, was sich auf den Glauben an den Erlöser und auf das Verhältniß zu Gott beziehet, an irgend einen andern glauben als an Christum, und daß einer erst zu versichern brauchte, er sei nicht der, an den der Glaube der Menschen gewiesen sei, sondern Christus der Herr allein sei es. Aber so lange Licht und Finsterniß mit einander im Streite sind, so steht jeder, der irgendwie als Kämpfer gegen die Finsterniß auftritt und dem Lichte den Zugang zu den menschlichen Gemüthern zu bereiten sucht, in Gefahr, daß an ihn geglaubt wird als an einen solchen, auf dem das Heil der Welt beruhe. Ja noch mehr, da die Menschen in ihrer Verblendung Licht und Finsterniß nicht scheiden, so geschieht es, daß bisweilen an einen, der verfinstert statt zu erleuchten, dennoch geglaubt wird, als sei er das Licht, welches die Dunkelheit der menschlichen Seele er|hellen soll; und es ist keiner, der sich eines geistigen Einflusses auf die Menschen erfreut, ganz davor sicher, daß ihm dies nicht begegne. Wie viel leichter es aber ist, daß jemand auf Christum hinweise als den einzigen Gegenstand des Glaubens, als daß er die Menschen auf diesen oder jenen unter ihres Gleichen hinweise, das liegt zu Tage. Eben deswegen aber dürfte einer nicht leicht so unschuldig daran sein, wenn die Menschen an ihn glauben, wie Johannes der Täufer es war. Was er aber fortfährt zu sagen, Ein Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel, das, m. g. Fr., ist auch ein Wort des Anstoßes gewesen und des Falles für gar viele Menschen, und ist es noch. Wie wahr es sei, das fühlen wir alle. Wie sollte es wol möglich sein, daß ein Mensch sich selbst etwas nehmen könnte, es werde ihm denn vom Himmel gegeben? Aber das ist weit entfernt
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davon, ein allgemeines Wort der Beruhigung menschlicher Gewissen und der Beschönigung menschlicher Handlungen zu sein, wie es oft gemißbraucht worden ist. Wenn das Unrecht über das Recht siegt, und eine unrechtmäßige Gewalt die Menschen mit Strenge beherrscht, dann trösten sie sich damit, es könne dem Menschen nichts auf einem andern Wege gegeben werden als vom Himmel, es könne der Mensch sich nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel, und es sei also auch die unrechtmäßige Gewalt vom Himmel gegeben, und man müsse sich darein finden als in ein vom Himmel gegebenes. Wie ist es aber damit, und wie giebt Gott vom Himmel, was er dem Menschen giebt? Doch nicht anders als durch dessen eigenes Thun und Lassen und durch anderer Menschen Thun und Lassen. So lange also unser eigenes Thun und Lassen noch im Widerspruch ist mit der göttlichen Thätigkeit, sollen wir uns nicht dabei beruhigen, daß wir wissen, der Mensch könne nichts nehmen, es werde ihm denn vom Himmel gegeben; sondern es | kommt alles darauf an zu erfahren, was und wie viel ihm vom Himmel gegeben sei. Und eben so ist es in den Dingen der Wahrheit. Wenn da irgend einer einen gewissen Glauben und ein gewisses Ansehen sich unter den Menschen verschafft, der nicht in Uebereinstimmung ist mit der Lehre, die vom Himmel gekommen ist, so legen auch viele Menschen die Hände in den Schooß und denken, es könne sich der Mensch nichts nehmen, es werde ihm denn vom Himmel gegeben; und eben so wenn einer die weltliche Gewalt in die geistigen Dinge einmischt und dadurch den Gewissen Zwang anlegt und den Glauben gefangen nimmt unter ein menschliches Wort und ein menschliches Ansehen: und so mißbrauchen sie also das herrliche Wort, welches Johannes der Täufer hier gesprochen hat. Denn der Wahrheit soll jeder sein Zeugniß geben, und nur dadurch, daß jeder nach seiner besten Ueberzeugung der Wahrheit die Ehre giebt, kann ausgemittelt werden, wie viel der Herr vom Himmel demjenigen gegeben hat, der statt der Wahrheit die Lüge verkündigt. Ueber dem Recht soll jeder halten und die rechtmäßige Gewalt schüzen gegen alles, was irgend wie feindselig dagegen auftritt, und nur dadurch, daß jeder das thut, kann erst ermessen werden, wie viel Gott dem gegeben hat, der die unrechtmäßige Gewalt ausübt. Nur dadurch, daß jeder in geistigen Dingen sich das Wort der Jünger zu seinem ersten Gesez macht, Man muß Gott mehr gehorchen, denn den Menschen; nur dadurch, daß jeder darin handelt nach seiner besten Ueberzeugung, kann gesehen werden, wie viel der Herr vom Himmel dem gegeben hat, der in geistigen Dingen das geistige hemmen oder fördern will. Darum vermag keiner die Worte des Johannes, Der Mensch 37–38 Apg 5,29
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kann nichts nehmen, es werde ihm denn vom Himmel gegeben, zu seiner Beruhigung anzuwenden, als der überzeugt ist, daß er alles gethan habe für | die Sache der Wahrheit, was in seinem Beruf liegt, und die Pflicht von ihm fordert, dann nur läßt sich sagen, Was wir haben und nehmen, das hat der Herr uns vom Himmel gegeben, aber eher darf niemand jenes Wort zu seiner Beruhigung anwenden. Johannes aber, der konnte nun leicht und einfach jenes von sich sagen, weil er nämlich ganz und gar in Uebereinstimmung war mit dem, dem der Himmel gegeben hatte, was ihm selbst niemals gegeben sein konnte, weil, sobald er ihn erkannt hatte bei der Taufe im Jordan als das Lamm Gottes, tragend die Sünde der Welt, er ihn auch erkannte als denjenigen, auf den das Wort seiner Verkündigung schon lange war gerichtet gewesen, und weil er sich selbst niemals etwas genommen hat. Aber auch so wird dieses Wort noch auf mancherlei Weise gemißbraucht, daß die Menschen ihre Trägheit in dem Gebrauch der Gaben, die ihnen Gott verliehen hat, dadurch entschuldigen, daß sie sagen, der Mensch solle sich selbst nichts nehmen, es werde ihm denn vom Himmel gegeben. Es kann aber einem jeden vom Himmel nur gegeben werden in dem Maaße, in welchem er die göttlichen Gaben gebraucht und seine Stelle in dem Reiche des Herrn, sei es eine einsame und wenig bemerkte, oder eine in das größere Leben der Menschen eingreifende, auf die rechte Weise ausfüllt. Denn wie können wir sagen, daß uns etwas vom Himmel gegeben sei, wenn nicht der uns angewiesene Kreis unseres Wirkens? Darin also nimmt sich keiner etwas, der da schaltet, wie ein Diener in dem Hause seines Herrn schalten soll. Wer aber nicht darin schaltet mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen: o der kommt früher oder später in den Fall, daß er Rechenschaft ablegen muß von der Art und Weise, wie er mit dem ihm anvertrauten Pfunde gewuchert hat, und erscheint dann als ein solcher, der dasselbe nicht gebraucht, sondern vergraben hat. | Es kann also nur das einem jeden vom Himmel gegeben sein, und keiner kann sich das nehmen, was ihm von Gottes und Rechts wegen zukommt, und was da liegt in dem Umkreise seines Wirkens auf Erden und das Pfand ist des Berufes, den der Herr ihm angewiesen hat. Wer die Braut hat, so fährt Johannes fort, um den Unterschied zwischen sich und Christo zu bezeichnen, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams steht und hört ihm zu, und freut sich hoch über des Bräutigams Stimme. Unser Herr selbst hat sich eben dieses Bildes in der Folge öfters bedient, um sein eigenes Verhältniß zu den Menschen zu bezeichnen, 10–13 Vgl. Joh 1,30 28–31 Vgl. Mt 25,24–25 Mk 2,19–20; Lk 5,34–35
40–41 Vgl. Mt 9,15; 25,1–13;
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und wir mögen also sagen, daß er sich das auch nicht genommen hat, sondern nur aufgenommen, was Johannes, der vor ihm herging um ihm den Weg zu bereiten, schon gesagt hatte von ihm. Wenn wir aber dieses Bild recht verstehen wollen, m. g. Fr., so fragen wir uns, wenn Christus der Bräutigam ist, wer ist dann die Braut? Und wir können nicht anders antworten als in dem Sinne der Schrift: die gesammte christliche Kirche, wie sie ist und durch die göttliche Gnade immer mehr werden soll, sowol was ihre innerliche Kraft und Herrlichkeit, als auch was ihre äußerliche Verbreitung auf Erden angeht, und es gehört dahin das ganze menschliche Geschlecht, welches zu dem Glauben an Christum soll gebracht werden. Wer ist aber der Freund des Bräutigams, der des Bräutigams Stimme hört und sich hoch erfreut über dieselbe, und der von sich sagen kann, er müsse abnehmen, jener aber wachsen? Einen solchen Freund des Bräutigams giebt es nicht mehr und kann es nicht mehr geben; denn wer ihn erkennt als einen solchen, der gehört eben dadurch, daß er ihn als einen solchen erkennt, mit zu der Braut des Bräutigams, die | ihm auf eine innigere Weise angehört in dem Sinne, daß sie sich seiner Töne, seien es die sanften Töne der Liebe und des Wohlwollens, seien es die ernsten des Gebietens, erfreuen soll. Diese Freunde des Bräutigams waren alle diejenigen im alten Bunde, die etwas von seiner Stimme vernahmen und von seiner Schönheit ahndeten, und Johannes der Täufer war der lezte unter diesen. Wie Christus der Herr vom Abraham sagt, Abraham euer Vater freute sich, daß er meinen Tag sehen sollte, und eben darum hat er ihn gesehen: so waren alle Propheten, die in einem bestimmten Sinne von dem Messias weissagten und es ahndeten, daß er ein Licht sei zu erleuchten die Heiden, und daß er derjenige sei, durch den der Unterschied zwischen dem auserwählten Volke des Herrn und zwischen allen übrigen Völkern der Erde, die der besondern Offenbarungen Gottes nicht theilhaftig waren, immer mehr sollte aufgehoben werden, diese waren Freunde des Bräutigams, die sich von ferne schon freuten über die Töne, die da kommen sollten, aber noch nicht da waren, denen sie aber im voraus entgegenlauschten als den Tönen der göttlichen Liebe. Jezt aber giebt es einen solchen Freund des Bräutigams, der ihm von ferne zuhören und sich hoch freuen sollte über seine Stimme, einen solchen giebt es nicht mehr, weil es keinen solchen Unterschied mehr giebt zwischen dem Glauben und dem Unglauben. Der Unglaube ist nicht der Freund des Bräutigams, der Glaube aber ist ein Theil und ein Glied der Braut, die dem Bräutigam ganz und auf die innigste Weise angehört. 2–3 Vgl. Mt 3,3; Lk 3,4; Joh 1,23 49,6
23–25 Vgl. Joh 8,56
25–27 Vgl. Jes 42,6;
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Aber auf eine schönere Weise konnte nicht dargestellt werden das Verhältniß des alten Bundes zu dem neuen als in diesem Bilde. Der Bräutigam kommt, und dadurch, daß er kommt und sich als einen solchen ankündigt, giebt es eine Braut, die mit ihm eins wird. Freunde konnte er haben unter denen, die | in dieses Verhältniß noch nicht eingehen konnten, weil er nämlich noch nicht allen als der Bräutigam gekommen war. Unter denen aber, die mit ihm lebten, war Johannes der Täufer der einzige, der eben deshalb, weil das der ihm von Gott angewiesene Beruf war, den Herrn zu verkündigen und die Menschen auf seine Ankunft vorzubereiten, sich nicht unter den Kreis derer mischen konnte, die damals die Braut des Bräutigams waren, sondern bleiben mußte auf dem Wege, den er nach dem göttlichen Willen betreten hatte, und auch dann sich ihm nicht beigesellen konnte, als er zu ahnden anfing, welch eine höhere und tiefere Weisheit aus dem redete, dem er gekommen war die Wege zu ebnen, und als er auch etwas von dem erkannte, was ihm in die Seele nicht gegeben war. Ob er es aber länger und immer ausgehalten haben würde der Freund des Bräutigams zu sein, und nicht eben alle seine Schüler von sich würde abgewiesen haben um selbst ein Schüler dessen zu werden, dem er nicht werth war die Schuhriemen aufzulösen, das vermögen wir nicht zu beurtheilen, weil Gott nach seiner Weisheit ihn zeitig aus seinem Beruf abgefordert hat, und ihm geworden ist noch als Märtyrer für die Strenge des alten Bundes sein Leben zu lassen. Daß nun aber dieser abnehmen mußte und der Herr wachsen, das ist das wahre Verhältniß zwischen dem alten Bunde und dem neuen, zwischen jeder andern unvollkommenen Verehrung Gottes, jedem andern nicht so streng abgeschlossenen Verhältniß der Menschen zu ihm und zwischen dem, welches uns in Christo aufgegangen ist. Nun soll alles in dem menschlichen Geschlecht immer mehr die Braut des Bräutigams werden, alles was ihm angehört muß immer mehr wachsen, sein Wirkungskreis, der Glaube und die Liebe zu ihm muß immer mehr unter den Menschen zunehmen, alles andere aber abnehmen, alle Freunde des Bräutigams müssen sich immer mehr verlieren in die Braut | selbst, und jeder, welcher meint seine Weisheit und die Freudigkeit seines Glaubens anders woher zu haben, der muß entweder sich sondern von dem Erlöser, oder er muß erkennen, daß dies der Eine ist, der immer wachsen muß, alles andere aber, alle menschliche Unvollkommenheit muß abnehmen. 3–4 als einen solchen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 230 15 Vgl. Mt 3,3; Lk 3,4; Joh 1,23
19–20 Vgl. Mt 3,11; Mk 1,7; Lk 3,16; Joh 1,27
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Und so laßt uns denn, m. g. Fr., daran unsere einzige Freude haben, daß es auch jezt noch der große Beruf der Menschen ist, in welchem zu arbeiten wir alle leben, daß er wachsen muß, daß seine Herrlichkeit immer mehr muß erkannt werden, seine Liebe immer inniger gefühlt, und das Verhältniß derer unter einander, die an ihn glauben, immer mehr entsprechen seinem heiligen Bilde. Denn wie wir kein innigeres Verhältniß kennen als das zu ihm, so soll auch das Verhältniß aller, die an den Herrn glauben, immer mehr den höchsten Grad der Innigkeit erreichen. Wie Mann und Weib nach den übereinstimmenden Worten der Schrift einen Leib und ein Leben bilden, so auch sollen alle, die an den Herrn glauben, immer mehr eins werden, und alle Unterschiede unter ihnen sollen je länger je mehr verschwinden, und alle in dem lebendigen Glauben an den Herrn und in treuer Liebe zu ihm so verbundene Seelen sollen immer mehr wachsen, und alles andere abnehmen, bis die Zeit kommt, wo alle Ein Hirt sein werden und Eine Heerde, und das menschliche Geschlecht ganz aufgehen wird in dem Glauben und in der Liebe zu dem, der es erlöst hat. Amen.
9–10 Vgl. Gen 2,24 (zitiert in Mk 10,7–8)
15 Vgl. Joh 10,16
Am 11. Januar 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
1. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,41–52 (Sonntagsperikope) bzw. Lk 2,51 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) a. Drucktext Schleiermachers; in: Predigten, ed. Zimmermann, Bd. 1, 1825; 21826, S. 154–170 Wiederabdrucke: SW II/4, 21844, S. 206–218 b. Nachschrift; SAr 105, S. 61r–72v; Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 155r–155v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers 154
Am ersten Sonntage nach der Erscheinung. Von D. Friedrich Schleiermacher, Professor der Theologie in Berlin. Evangelium: Luc. 2, 41–52. „Und er ging mit ihnen hinab, und kam gen Nazareth, und war ihnen unterthan.“
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Diese Worte, m. a. Fr., machen den Beschluß jener Erzählung aus dem Kindesalter unsers Erlösers, wie er mit seinen Aeltern nach Jerusalem gekommen war, und sich daselbst, über die Zeit ihres Aufenthaltes hinaus, im Tempel als dem Hause seines Vaters verweilt hatte; und es ist gewiß nicht ohne Absicht, daß diese Worte hinzugefügt sind, um von dem Erlöser allen Schein hinwegzunehmen, welchen jene Erzählung auf den ersten Anblick wohl veranlassen könnte, als habe er es an der Ehrfurcht und dem Gehorsame fehlen lassen, den Kinder ihren Aeltern schuldig sind. Denn hier wird nunmehr gerade | dieß als der eigentliche Hauptinhalt seines Lebens in dem älterlichen Hause dargestellt, daß er ihnen unterthan gewesen ist. Nun ist es nicht möglich, daß irgend etwas von dem Erlöser gesagt worden ist, was nicht sollte tadellos und vortrefflich und auch für uns Alle ein Gegenstand der Nacheiferung sein; eben so wenig kann aber auch irgend etwas, was 9–10 sich...verweilt hatte] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 1175
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er gethan, unmöglich jemals auch nur auf das mindeste die Seligkeit und das himmlische Wohlsein getrübt haben, wodurch er sich ebenfalls von allen Anderen unterschied, und welches auch er allein (wenn gleich nur im verringerten Maßstabe) denen, die ihn lieben, mittheilen kann. So muß also auch sein Gehorsam sowohl vortrefflich gewesen sein und recht, als auch rühmlich und beseligend. Und so lasset uns denn in dieser zwiefachen Hinsicht über den Werth des Gehorsams reden, und zwar so, daß wir zuerst auf den Gehorsam des Erlösers selbst sehen; und dann davon die Anwendung auf uns machen. I. Wenn jemals ein Kind in dem Falle gewesen wäre, sich mit Recht des Gehorsams gegen seine Aeltern überhoben zu glauben: so wäre es unstreitig der Erlöser, und am meisten nachdem er eben bei dieser seiner wahrscheinlich ersten Erscheinung im Tempel zu Jerusalem durch die Art, wie er den Schriftgelehrten, vor welchen er saß, Fragen vorlegte und selbst auch Fragen beantwortete, Beweise von einer Entwicklung des Geistes gegeben hatte, welche alle Anwesende in Erstaunen setzte, und ihn über seine Jahre erhob. Denn nach diesem Maßstabe muß man allerdings denken, es habe wohl nicht anders sein können, als daß er in vielen Stücken auch seine Aeltern damals schon übersehen und viel Bedeutendes und Wichtiges besser gewußt habe, als sie. Aber dessenungeachtet wird uns gesagt, er sei ihnen unterthan gewesen. Er, m. g. Fr., war der allein Sündlose und vollkommen | Reine; denn so müssen wir ihn uns denken von seiner ersten Kindheit an, daß niemals die Sünde kann Raum gewonnen haben in seinem Gemüthe, noch jemals etwas nur aus einem sündhaften Gemüthszustande Erklärliches zum Vorscheine gekommen sein in seinem Leben. Seine Aeltern aber waren fromme zwar und gute, von Gott selbst zu dem großen Berufe, den Erlöser der Welt zu pflegen und zu erziehen, auserwählte, aber dennoch wie wir Alle schwache und sündige Menschen. Soll nun der stärkere Geist dem schwächern, soll der reine dem sündigen gehorchen? Der Erlöser hat es gethan, und also muß es wohl so recht und gut gewesen sein. Daß es aber auch nicht anders sein könne, m. g. F., davon werden wir uns bei einer nähern Betrachtung der Sache leicht überzeugen. Der Erlöser stand noch in demjenigen Zeitraume des Lebens, da die Kräfte der Seele sich erst allmählich entwickeln. Wenn gleich eben deßwegen, weil ihn die Sünde nie hinderte, so daß weder Trägheit je seinen Eifer unterdrückte, noch leidenschaftliche Gemüthsbewegungen ihm die richtige Ansicht der Dinge und seiner Verhältnisse verschoben, diese Entwicklung in ihm reiner und weiter fortgeschritten war, als bei Andern auf derselben Lebensstufe: so hatte doch auch er eine Zeit der Entwicklung, und mußte sie haben, wenn er sollte in allen Dingen als ein Mensch erfunden wer-
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den. Während seiner Entwicklung aber bedarf der Mensch immer einer Leitung und kann sich derselben nicht entziehen, wenn er auch seine nächsten Umgebungen durch seinen innern geistigen Werth weit überstrahlt. Denn Aeltern und andere Erwachsene wirken auf ein jugendliches Gemüth nicht nur mit der Kraft ihrer Persönlichkeit, sondern vermöge dieser als die Träger eines stärkern, schon mehr gereiften Lebens, an welches die Jugend, zu wieviel größeren Fortschritten und Annäherungen an die Vollkommenheit sie auch durch höhere Gaben be|stimmt sein mag, sich doch immer zuerst anschließen muß, um mit Hülfe seiner Lehren und Unterstützungen schneller zu gedeihen. Nur im Anschmiegen an das schon Vorhandene kann der menschliche Geist weiter schreiten, nur im Gehorsame gegen Ordnung und Regel kann das große Werk seiner Entwicklung das wahre Ziel glücklich erreichen. Aber außerdem nun, daß der Herr, um seine geistige Entwicklung zu leiten, seinen Aeltern von Gott anvertraut war, so lebte er nun auch in ihrer Gesellschaft als ein Mitglied ihres Hausstandes, und hatte also mit ihnen eine gemeinsame Lebensweise. In einem solchen Ganzen aber, m. g. Fr., ist Ordnung nothwendig, und wenn auch nicht wie in der größeren bürgerlichen Gesellschaft durch ein geschriebenes Gesetz: so muß doch Alles recht gefügt ineinander greifen, wenn nicht eins das andere zerstören soll; und eben für dieses Ineinandergreifen muß es eine Regel geben und eine feststehende Weise, wonach jeder Einzelne sich richtet, und alsdann erst die Ueberzeugung gewinnt, in Uebereinstimmung mit dem Ganzen zu sein. In dem häuslichen Leben aber kann es keine andere Weise und Ordnung geben, als der Wille der Aeltern, welche das Ganze übersehn und leiten, und so gehörte es also zu dem Berufe und zu der Pflicht des Erlösers, sich diesem Willen zu fügen, und seinen Aeltern unterthan zu sein. Ohne dieß wäre er unerachtet der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, in dem gemeinsamen Leben nur eine Störung gewesen, und hätte dasselbe nicht gefördert, und nicht beigetragen, um es zu veredeln und zu dem Schauplatze eines wahren menschlichen Wohlergehens zu machen. Wie viel mehr muß diese Nothwendigkeit des Gehorsams für jeden Andern gelten, der sich weder in der raschen Entwicklung, noch in dem reinen sündlosen Thun des Guten mit dem Erlöser auch nur von fern vergleichen kann. Und wenn nun selbst der Erlöser nur in eben diesem Gehorsame gegen seine | Aeltern während jener Zeit seines Lebens auch seine eigne Seligkeit finden konnte, weil diese ja nur entspringt aus dem Bewußtsein eigener, sei es nun werdender oder schon feststehender Vollkommenheit und aus dem Bewußtsein fördernder und hülfreicher Wirksamkeit auf Andere: so muß 29–30 Vgl. Kol 2,9
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wohl auf dieselbe Weise auch für jeden Andern in ähnlichen Verhältnissen der Gehorsam die einzige Quelle wahrer Zufriedenheit sein, wenn wir doch als untergeordnete Theile irgend eines größeren Ganzen nur durch den Gehorsam zu eben diesem Bewußtsein gelangen können. Vielleicht aber möchte Jemand sagen: Wohlan, so lange der Erlöser in der Obhut und Plege seiner Aeltern war, mußte allerdings der Gehorsam auch für ihn etwas Wichtiges und Großes, ja ein theures Gut seines Lebens sein, aber sobald er nur dieser Pflege entwachsen war, so wird er auch geeilt haben, sich von allen solchen Banden loszumachen und nun, ohne nach irgend einem äußern Gebote oder Gesetze zu fragen, den höhern Kräften, die in ihm waren und ihn beselten, volle Freiheit gelassen haben? Nicht also, m. g. F., Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, wie der Apostel sagt, nicht nur vom Weibe geboren; sondern auch unter das Gesetz gethan. Aus dem Gehorsame gegen seine Aeltern ist er also nur übergegangen zu dem Gehorsame gegen dieses Gesetz. Diesem Gesetze seines Volks ist er treu geblieben sein ganzes Leben lang, und wir mögen wohl sagen: auch um seinen Gehorsam gegen dasselbe desto deutlicher zu beweisen, und damit diese Gesinnung desto reiner für das erkannt werden könne, was sie wirklich war, hat er sich losgesagt von der Befolgung alles dessen, was nur spätere Menschensatzung war, und nicht dem göttlichen Gesetze selbst und ursprünglich angehörte. Aber nicht nur dieß, sondern wir müssen sagen, auch außer dem Gebiete des mosaischen Gesetzes hielt er es selbst in der Zeit seines reifern Lebens ebenfalls, | wie die Schrift sagt, nicht für einen Raub Gott gleich sein, und die göttlichen Kräfte, die ihm einwohnten als sein ursprüngliches Eigenthum geltend zu machen und sie in voller Freiheit und Unabhängigkeit walten und wirken zu lassen, wie man wohl denken könnte, daß besonders dem geziemt habe, von dem ein neues Reich Gottes ausgehen und der als Herr von allen Menschenkindern verehrt werden sollte. Sondern überall, wo er von den Lehren redet, die er überlieferte, von den Handlungen, durch welche er sein Reich begründen wollte, spricht er keinesweges so, als ob er unabhängig und rein aus sich selbst redete und handelte, sondern so – der Sohn vermag nichts zu thun, spricht er, von ihm selber, sondern nur, was er von dem Vater sieht und hört, das thut er. Oder anderwärts: Der Vater, der mich gesandt hat, der hat mir ein Gebot gegeben, was ich thun und reden soll. Darum das ich rede, das rede ich also, wie mir mein Vater gesagt hat. Und kurz, um nicht mehr einzelne Stellen anzuführen, überall stellt er es als sein Höchstes dar, 13–15 Vgl. Gal 4,4 Joh 12,49–50
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auf Wort und Weise des Vaters zu lauschen und dem zu gehorchen, so daß der Vater ihm die Werke zeigte, die er vollbringen sollte; und auch in seiner letzten Rechenschaft, die er betend seinem Vater ablegte, redet er von seinem ganzen Werke auf Erden als einem Auftrage, den er vollzogen. Läßt sich wohl ein stärkerer Gegensatz denken gegen die eingebildete Unabhängigkeit und Willkür im Handeln, welche oft für etwas so Großes gehalten wird? und läßt sich, wie untergeordnet dieser ganze Standpunkt ist, stärker ausdrücken, als wenn wir doch gestehen müssen, der Erlöser der Welt schrieb, selbst dem Göttlichen, was er in sich trug, und von welchem allein alle seine Reden und Handlungen ausgingen, keine solche Willkür zu, sondern die von seinem Einssein mit dem Vater unzertrennliche Erkenntniß desselben war doch die ei|nes Gebietenden, und seine Uebereinstimmung mit ihm war doch immer eine folgsame. Und diese Folgsamkeit sah er an als die Befriedigung des eigensten Bedürfnisses seiner Seele, wenn er, als ihm ein neuer Befehl Gottes klar geworden war in seiner Seele, fast entzückt zu seinen Jüngern sprach: ich habe eine Speise, von welcher ihr nichts wisset, das ist aber meine Speise, daß ich den Willen meines Vaters thue, und vollende das Werk, das er mir gegeben hat. Und wie Befriedigung des Bedürfnisses und Lust und Freude immer genau zusammen hängen; so stellt er dasselbe auch als seine Freude und Seligkeit dar, wenn er sagt: Und ich weiß, daß das Gebot, welches er mir gegeben hat, ist das ewige Leben. Seht da, m. g. Fr., hier habt ihr den Gehorsam dessen in seinem ganzen Umfange, von welchem mit Recht gesagt wird, daß er gehorsam gewesen bis zum Tode; denn sein ganzes heiliges Leben von Anfange bis zu Ende steht vor uns, nicht als eines, worin eigne Willkür herrscht, sondern als das Leben eines treuen und innigen Gehorsams. II. Wie nun, m. g. Fr., wenn wir zweitens hiervon die Anwendung auf uns selbst machen wollen: ist dann nicht die erste Frage, die wir uns vorzulegen haben, diese: Ob auch für uns Alle, ohne Unterschied dieser oder jener besondern Lebenszeit und Lebensweise, und was einer sonst noch für bestimmte Verhältnisse anführen könnte, der Gehorsam eben so wesentlich gut und nothwendig, ja eben so wie für den Erlöser die rechte Quelle aller wahren Ruhe der Seele und aller wahren Seligkeit in unserm Innern sei oder nicht. Und gewiß werden wir nicht behaupten können, daß es sich mit uns anders verhalte, als mit dem Erlöser. Denn wenn wir vergleichend auf das Bisherige 3–5 Vgl. Joh 17,4 Phil 2,8
17–19 Vgl. Joh 4,32.34
22–23 Vgl. Joh 12,50
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zurückgehen, so werden wir doch gestehen müssen, dasjenige, weßhalb von Anfange an der Gehorsam ein so theures und wahres Bedürfniß für den | Erlöser war, findet sich bei uns eben so, ja wir können wohl sagen, in einem noch größeren Maße. Denn wir sind immer, und die verschiedenen Zeiten des Lebens unterscheiden sich darin nur durch das Mehr und Weniger, wir sind immer in der Entwickelung unserer Kräfte begriffen; und Keiner unter uns scheidet fertig und vollendet von hinnen. Es ist keine Wahrheit in der Vorstellung, sondern sie ist nur ein Wahn, den vorzüglich die Trägheit verschuldet, als ob nämlich der Mensch jemals aufhöre zu lernen und sich zu bilden. Immer Neues kann und soll also auch aus dem unerschöpflichen Grunde seines Innern hervorgehen, immer anders arbeitet an ihm die ihn umgebende Welt, immer mehr also muß er auch erstarken und fest werden, wenn er sich nicht selbst allmählich verlieren soll; ja auch das Alter, wie ungünstig es auch hierzu zu sein scheint, bringt noch neue Anforderungen und Aufgaben mit sich, und gewiß ist das sicherste Zeichen seines äußern und innern, aber nicht unverschuldeten Verfalls dieses, wenn von neuen Entwickelungen keine Spur mehr in ihm zu finden ist. So weit aber unsere Kräfte sich noch entwickeln sollen, können wir uns unmöglich ohne Gehorsam behelfen, weil wir, wenn gleich auf andere Weise, wie die Kinder einer Anleitung bedürfen, der wir Folge zu leisten haben. In sofern aber auf der andern Seite in jedem Zeitraume des Lebens unsere Kräfte schon entwickelt sind, und wir also auch mit denselben wirken sollen: so können wir dieß ja nicht Jeder für sich allein, und sollen es auch nicht Jeder nur in Beziehung auf sich selbst, sondern dann fällt unser Wirken dem gemeinsamen Leben anheim, dem wir angehören. Zum Wohle unserer Brüder sollen dann unsere Kräfte in Thätigkeit gesetzt werden; einem bestimmten Ganzen sollen wir auf bestimmte Weise dienen, und soweit unser Bereich sich erstreckt, das Reich Gottes mit allen seinen wohlthätigen Wirkun|gen unter den Menschen nicht nur erhalten helfen, sondern es auch, so viel in unsern Kräften steht, zu fördern suchen. Nun gibt es aber kein gemeinsames Leben, ohne eine Ordnung, welcher der Mensch sich fügen, und also wieder gehorchen muß. Da finden wir nicht nur in dem bürgerlichen Leben das geschriebene Gesetz und die Herrschaft der Obrigkeit, der wir uns zu unterwerfen haben; und diese beschränkt uns nicht etwa nur durch Verbote, oder fordert einzelne Opfer und Gaben; sondern in gar vielen Fällen weiset sie uns auch das Gebiet an, auf welchem, und die Mittel, mit welchen wir zu wirken haben, und überhebt uns der eigenen Bestimmung. Und wo diese Gewalt nicht hinreicht, da finden wir ferner die heilige Gewalt der Sitte, die ein Jeder anerkennen und sich ihr unterwerfen muß, wenn ihm sein Werk gelingen soll in der Welt. Denn das werden wir
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gewiß gestehen, wenn einer unglücklich genug ist, von diesem Zusammenhange loszulassen, und sich als ein vereinzeltes Wesen allein hinzustellen, um sein Leben in einer vermeintlichen Unabhängigkeit nach eigener Willkür zu ordnen: so bereitet er sich selbst ein wirkungsloses und kümmerliches Dasein. Dieser leitenden und belebenden Macht muß sich Jeder fügen, und also gehorchen, wenn er wohlthätig wirken will, und wenn ihm selbst wohl sein soll in der Gemeinschaft der Menschen. Doch freilich wird Jeder sagen, dieß Alles sei zwar richtig genug; aber es reiche noch nicht hin, um zu zeigen, daß unser ganzes Leben nur ein Leben des Gehorsams sein könne. Denn sowohl die Obrigkeit als die Sitte, ließen Jedem, wenn auch in verschiedenem Maße, noch einen großen freien Spielraum, der doch nur durch unabhängiges eigenes Schalten ausgefüllt werden kann; denn vergeblich würden wir in gar vielen Fällen auf einen Befehl warten, von dieser oder jener. Und wie untergeordnet müßte doch auch der Mensch erscheinen, wenn ihm immer | geboten würde, und ihm nichts übrig bliebe aus freiem Antriebe zu thun. Allerdings! aber bei dem freien Antriebe fühlen wir uns doch nur wohl und sicher, wenn er uns zugleich als ein freier Gehorsam erscheint. Oder kann uns jemals wohl zu Muthe sein, wenn wir aus freiem Antriebe so handeln, daß wir Laune und Willkür schalten lassen, und wenn unsere Handlungen das Gepräge tragen, als hätten wir sie eben so leicht auch unterlassen können, oder sie auch ganz anders ausführen, als wir gethan haben? Darum müssen wir suchen, auch hier zu einem Gebote zu kommen, dem der freie Antrieb sich anschmiege, und so zum Gehorsam. Und daran fehlt es uns auch nicht, wenn gleich Gott uns nicht auf eine so unmittelbare Weise wie dem Erlöser die Werke zeigt, welche wir vollbringen sollen. Oder geschieht es nicht oft genug, daß die Stimme des öffentlichen Bedürfnisses uns laut und dringend aus einem unthätigen Schlummer aufweckt, und uns zuruft, was wir zu thun haben? Und wenn wir noch unentschlossen schwanken, entscheidet nicht gar häufig die allgemeine Meinung auf eine ganz unzweideutige Weise? Das sind Stimmen, auf die Jeder hören soll in seinem Kreise, wenn nicht ein allgemeines Verderben auch sie etwa angesteckt hat; sonst aber werden wir, wenn wir uns ihnen gehorsam fügen, immer aufgefordert und angetrieben sein zu Werken, die uns auf die Dauer besser gefallen, als die Einfälle unserer Willkür, und zu Thaten, die in Gott gethan sind. Und gewiß werden wir uns immer auch bei uns selbst besser rechtfertigen können, der Erfolg sei welcher er wolle, wenn wir uns so zurückbeziehen können auf ein ehrfurchtgebietendes Allgemeines, dem wir Gehör gegeben. Was aber das betrifft, daß ein solches Aufhorchen und Nachstreben nur sollte die Art und Weise beschränkter Seelen sein, welche theils nicht im Stande sind, ihren Weg selbst
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zu finden, theils es lieber sehen, wenn | sie die Verantwortung können von sich ab, und Andern zuschieben: so lasset uns doch einmal sehen, wie in der christlichen Kirche das Größte und Segensreichste zu Stande gekommen ist. Denn was könnte uns wohl bei dieser Ueberlegung näher liegen, als zu betrachten, auf welchem von beiden Wegen das Reich Gottes ist begründet worden? Der Apostel Paulus lebte nach seiner Bekehrung eine Zeitlang in seiner Vaterstadt, und er hatte da gewiß volle Freiheit; aber unerachtet er schon das Wort des Herrn hatte, daß er ihn unter die Heiden senden wolle, finden wir doch nicht, daß er aus freier Willkür etwas Großes unternommen. Hernach aber, als ihn Barnabas, der im Auftrage der Apostel in Antiochia war, mit dorthin genommen, und einst die Vorsteher der Gemeinde vor Gott versammelt waren, sprach der Geist: Sondert mir diese Beiden aus zu dem Werke, wozu ich sie berufen habe, und dieser öffentlichen Stimme gehorchte Paulus, und durch diesen Gehorsam wurde der Grund gelegt zu seiner großen Wirksamkeit für die Verbreitung des Christenthums. Aber auch wo er im Einzelnen sich selbst überlassen war, in Beziehung auf die Richtung seines Weges, finden wir, daß seine Willkür gar oft zurückgedrängt wurde, und dieß und jenes, was er wollte, der Geist ihm nicht zuließ. Er empfing also irgendwie Befehl oder Verbot, und dem folgte er. So auch mit den andern Jüngern. Freier war Niemand als sie; denn durch den Auftrag ihres Herrn: „Gehet hin in alle Welt, und prediget das Evangelium allen Völkern, und machet sie zu Jüngern, und taufet sie,“ war gleichsam die ganze Welt ihre für diesen ihren großen und heiligen Beruf. Der Herr selbst hatte sich gefügt unter die Beschränkung, die der Vater seiner Sendung auf Erden gegeben hatte. Ich bin nur gesandt zu den verlornen Schaafen aus dem Hause Israel. Seine Apostel aber waren hiervon entbunden; ihnen gab er eine | unbeschränkte Vollmacht, und sie konnten sie gebrauchen, wie sie wollten. Nur das Eine schärfte er ihnen ein, sie sollten Jerusalem nicht verlassen, bis sie würden angethan werden mit Kraft aus der Höhe. Diese Kraft des Geistes wurde aber nicht sowohl dem Einzelnen verheißen und gegeben, als ihnen insgesammt, und was die Gesammtheit ordnete und entschied, dem gehorchte der Einzelne; und Petrus ließ sich nicht minder nach Samaria schicken von den Aposteln und Aeltesten, als Barnabas nach Antiochia. Da waltete also überall der Gehorsam und auch die Helden des Glaubens haben sich bei dem am wohlsten gefunden. Ja, wenn der Einzelne als Urheber auftrat, so hatte er immer entweder ein bestimmtes Wort des Herrn 8–9 Vgl. Apg 22,21 10–14 Vgl. Apg 12,25–13,2 24 Vgl. Mt 28,19; Mk 16,15 27–28 Mt 15,24 36 Vgl. Apg 8,14; 11,22
17–20 Vgl. Apg 16,6–7 30–32 Vgl. Lk 24,49
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für sich – und wo uns dieses gebietet, da haben wir auch nicht weiter zu suchen, wonach wir uns entscheiden, oder wem wir gehorchen sollen, – oder das neue Werk knüpfte sich an etwas Früheres, so daß es auch nicht willkürlich oder neu erschien – wie: als Petrus aufstand und vorschlug, es möchte ein neuer Apostel gewählt werden an Judas Stelle – oder er hatte durch das gesammte göttliche Wort eine so feste Ueberzeugung gewonnen, wie Paulus, als er, unerachtet man ihm Trübsal und Bande dort weissagte, dennoch nach Jerusalem reiste, oder wie Luther, als er nicht widerrufen konnte. Denn diese fühlten sich auch nicht frei, sondern vielmehr als solche, die nicht anders konnten, als sie thaten, also gebunden im Geiste. Und wer war wohl kräftiger, freudiger, und seliger als diese, nicht im Gefühle der Willkür, sondern des festen und rücksichtslosen Gehorsams? Denn die Willkür kann nur eitlen und verblendeten Menschen als etwas Großes und Herrliches erscheinen, eigentlich aber ist sie doch nichts, als die größte Unseligkeit unseres Lebens. Aber, m. g. F., wenn man nun einwendet: So sind alle diejenigen nur ihres Thuns sicher, und ha|ben die Quelle der Zufriedenheit in sich, die zu gehorchen haben in der Welt, und die Herrschenden, welche am meisten beneidet werden, sollen wir eigentlich bedauern und beklagen, weil sie so hoch gestellt sind in der menschlichen Gesellschaft, daß ihnen Niemand gebieten kann? und am meisten wären diejenigen unter ihnen zu bedauern, die gewiß auch sich selbst für die glücklichsten halten, weil sie gar keine Art von Gesetz haben, welches sie befolgen müßten, sondern selbst aus eigner Macht einer großen Menge von Menschen die Gesetze geben? Freilich ist ihr Beruf schwer, das mögen wir, die wir gehorchen dürfen, nur immer erkennen, und nicht so leicht als uns kann es jenen sein, ihr Gewissen zu stillen und sich Rechenschaft abzulegen vor Gott. Aber da Gott sie nicht zum Zorn, sondern zu seinem Ebenbilde gesetzt hat, so darf es auch ihnen nicht fehlen an dem, was zur wesentlichen Beruhigung des Menschen gehört. Und gewiß, auch sie werden immer eine öffentliche Stimme hören können, welche sie richtig leitet, wenn sie ihr nur vergönnen zu reden, und ihr Ohr nicht gegen sie verstopfen; auch sie werden wohl thun, wenn sie sich eine so sichere Ueberzeugung verschaffen, daß sie sich nirgend der Willkür bewußt werden, sondern sich im Gewissen gebunden fühlen, nicht anders zu handeln, als sie thun. Denn es sind Alle Christen ohne Unterschied, Alle, die von der Finsterniß durchgedrungen sind zum Lichte, von denen der Apostel Paulus sagt: So waret 4–6 Vgl. Apg 1,15–22 7–8 Vgl. Apg 21,10–15 9 Vgl. Luthers Erklärung vor Kaiser und Reich auf dem Reichstag zu Worms vom 18. April 1521, in: Sämtliche Schriften, Bd. 15, Sp. 2307f; WA, Bd. 7, S. 838 39–2 Vgl. Röm 6,16–18.22
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ihr nun Knechte der Sünde zum Tode, jetzt aber seid ihr geworden Knechte der Gerechtigkeit, und eure Frucht ist das ewige Leben. Darin sind also Alle gleich, diejenigen die selbst schon Knechte sind leiblicher Herrn, und diejenigen, welche leibliche Herrn sind über Andere, daß sie mit ihrem sittlichen Leben müssen Knechte sein. Mit aller Freiheit also zu schalten, und mit aller Willkür, wie sehr sie auch dem Menschen wohlgefalle, wenn er sich nicht dabei | einen Knecht der Gerechtigkeit fühlt, und das fühlt wohl Jeder, wenn er es ist, kann er doch nicht frei sein; sondern er ist dann nur einer von den Knechten der Sünde, die sich ja oft frei dünken, unerachtet sie es am wenigsten sind, und wenn er von der Sünde loskommt, so kommt er also nicht etwa in einen Zustand von Unabhängigkeit, sondern er wird ein Knecht der Gerechtigkeit. Auch dieser Apostel also lehrt uns, daß der Mensch nicht anders kann als gehorchen, und daß sein Glück nur darin besteht, seinen Herrn zu wechseln, auf daß er nicht mehr der Sünde diene, sondern der Gerechtigkeit, und dann zum Leben, und nicht zum Tode. Bedient sich nun der Apostel hierbei gerade des Ausdrucks, durch welchen ein recht strenger Gehorsam bezeichnet wird; so redet zwar der Herr selbst milder, aber auch nur mit dem kleinen Häuflein seiner ausgezeichneten Jünger, indem er zu ihnen sagt: Ich sage nun nicht mehr, daß ihr Knechte seid, sondern ihr seid meine Freunde. Gewiß ein Unterschied, mit dem kein anderer, welcher irgend unter Menschen besteht, auch nur von weitem verglichen werden kann, wenn wir nun nicht mehr Knechte sind, sondern sind Freunde des Herrn geworden. Und wie herrlich, weil in Christo kein Knecht ist und kein Freier, also auch kein Oberherr noch Unterthan, sondern alle Eins, daß Keinen seine äußerliche Lage hindern kann, nach dieser hohen Würde zu streben! Aber worauf gründet der Herr dieses Wort, mit dem er sie gleichsam als seines Gleichen anredet? was sagt er, wie, und wodurch sie seine Freunde geworden sind? Ihr seid meine Freunde, spricht er, so ihr thut, was ich euch gebiete. Er hört also nicht auf, der Herr zu sein; und wir hören nicht auf, zu gehorchen. Der Unterschied aber ist nur der, daß ein Knecht nicht weiß, was sein Herr thut; ihnen aber, spricht er, habe er Alles kund gethan, was er von seinem Vater gehört. Darum | trachte ein Jeder erst darnach, daß ihm, sei es nun in dem innern Rufe einer Ueberzeugung, der er sich nicht entziehen kann, oder sei es in dem äußern Rufe einer öffentlichen achtbaren Stimme, eine Gerechtigkeit nahe trete, der er sich auch da, wo er zu gebieten hat, zum Dienste begeben könne. Demnächst aber strebe dann Jeder darnach, dasjenige, dem er 20–22.33–35 Vgl. Joh 15,15
25–27 Vgl. 1Kor 12,13; Gal 3,28
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dient, nach beßtem Vermögen zu verstehen, im ganzen Zusammenhange mit dem von Christo uns offenbarten weisen und gnädigen Willen Gottes, daß alle Menschen sollen zur Erkenntniß der Wahrheit kommen, und unter der Herrschaft des neuen Gebotes, daß sie sich untereinander lieben sollen, wie Christus sie Alle geliebt, und sich für sie hingegeben hat, zu Anbetern Gottes im Geiste und in der Wahrheit gebildet werden. Denn lernen wir so den Willen Gottes, dem wir zu gehorchen haben, immer besser verstehen, so gehorchen wir dann nicht mehr als Knechte, die nicht wissen, was ihr Herr thut, sondern als Freunde des Herrn, die sich eben deßhalb seiner freuen allerwege, und von keiner Furcht mehr wissen, als welche nur den Knechten gebührt. Sehet da, m. g. Fr., anders also nicht, als durch den Gehorsam, dadurch daß wir thun, was der Herr gebietet, gelangen wir dazu, daß er uns seine Freunde nennen kann; anders nicht als so gelangen wir zu der Seligkeit, uns seiner immerdar zu freuen. Und es gibt keine andere Stufenleiter, auf welcher der Mensch sich zu der ihm bestimmten Höhe erheben, und sich auf derselben erhalten kann, als den reinen und treuen Gehorsam. Und wenn der Apostel so Vieles und so Schönes redet von der Freiheit der Kinder Gottes, zu der wir Alle hindurchdringen sollen, und von der Seligkeit derer, die nicht mehr unter dem Gesetze stehen; so ist er weit davon entfernt, diese Freiheit als einen Zustand darzustellen, wodurch die Fortdauer des segenbringenden Gehorsams ausgeschlossen würde. Keineswegs! Viel|mehr nur darin besteht die Freiheit der Kinder Gottes, welche nicht mehr unter dem Gesetze stehen, daß wir nicht, wie die unwissenden Knechte, in jedem Falle durch einen äußern Buchstaben getrieben werden, den sie auch nur, soviel für den jedesmaligen Gebrauch nöthig ist, verstehen; sondern aus dem Geiste, dessen Stimme wir in uns vernehmen, und der uns das Wort des Herrn verklärt, kommen uns alle edle und gottgefällige Früchte hervor. Aber Früchte des Gehorsams sind auch sie. Denn wir wissen von diesem Geiste, welcher in der Gesammtheit der christlichen Kirche waltet, daß er keinem Einzelnen angehört für sich, sondern nur Allen insgemein ist er gegeben. Wo er sich also vernehmen läßt in unserem Innern, da sind wir uns auch immer bewußt, daß wir zu gehorchen haben, denn durch seine Stimme bindet der ganze Verein das einzelne Mitglied, wie er denn auch gar nicht in einem bittenden oder schmeichlerisch lockenden Tone zu uns redet, sondern es ist ein Befehl, den er ausspricht, und unsere Seligkeit dabei ist nur die Freudigkeit des Gehorsams. Möchten wir also doch Alle, m. g. F., Alle ohne Ausnahme, welche Stellung uns auch Gott angewiesen hat, und wie auch Manche in 4–6 Vgl. Joh 13,34; 15,12; 1Joh 3,23
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dem Falle sein mögen, größere oder kleinere Gebiete des menschlichen Lebens zu leiten, doch immer das für das Höchste und auch für das Befriedigendste halten, daß wir selbst zu gehorchen haben. Möchten wir immer mehr lernen, daß das allein der rechte Segen des Lebens ist, wenn Jeder sich einer jeden heiligen Gewalt gern unterwirft, die über ihn zu gebieten hat, daß der Mensch sich sein eigenes Elend bereitet, wenn er, von den Banden des Gehorsams losgerissen, in eigener Willkür und Unabhängigkeit, seine Zufriedenheit und seine Wirksamkeit suchen will, wobei es an dem köstlichsten Dinge, daß das Herz fest sei, gänzlich fehlen muß. Möchten wir | uns Alle vor dem Wahne hüten, als ob die Freundschaft des Erlösers je darin bestehen könne, daß er uns los läßt von dem, was er seinen Jüngern geboten hat, und sich mit einem launenhaften Dienste begnügt, den wir ihm nach unsern eigenen Einfällen leisten, oder gar als ob selbstgewählte Dienstleistungen vorzugsweise von ihm könnten seinen Freunden eingegeben worden sein. Sondern nur das kommt von ihm, was wir im Zusammenhange mit seinem einen großen Gebote verstehen können, und nur die sind seine Freunde, welche sein Gebot zu verstehen suchen. Möchten wir das recht lebendig erkennen, daß die Freiheit der Kinder Gottes keineswegs etwas anderes ist, als der Dienst der Gerechtigkeit, sondern nur darin besteht, daß sie sich zur Handhabung und zum Besitze Alles anzueignen wissen, was in den verschiedenen Verhältnissen des Lebens ihnen als Gesetz und Ordnung entgegentritt; denn das ist der Geist der Kindschaft, welcher den Urheber aller Ordnungen und Gesetze, als lieben Vater anruft, und uns dem ähnlich macht, welcher den Willen seines Vaters ganz erfüllt hat. So lasset uns denn hingehen und unterthan sein, wie er es war. Amen.
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b. Nachschrift Predigt am ersten Sonntage nach Epiphaniä 1824. |
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Tex t. Lukas II, 51. Und er ging mit ihnen hinab, und kam gen Nazareth, und war ihnen unterthan. Diese Worte, m. a. F., machen den Beschluß jener Erzählung aus dem Kindesalter unseres Erlösers, da er mit seinen Eltern nach Jerusalem 24–25 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6
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gekommen war, und sich daselbst über die Zeit ihres Aufenthaltes hinaus verweilt hatte in dem Tempel; und es ist gewiß nicht ohne Absicht, daß diese Worte hinzugefügt sind, um von dem Erlöser allen Schein hinwegzunehmen, welcher jene Erzählung auf den ersten Anblick wohl verursachen könnte, als habe er es an der Ehrfurcht und an dem Gehorsam fehlen lassen, den Kinder ihren Eltern schuldig sind; es wird vielmehr nur dies vorgestellt als der eigentliche Inhalt seines Lebens, so lange er in dem Hause seiner Eltern war, daß er | ihnen unterthan war. Nun ist es nicht möglich, daß irgend etwas, was von dem Erlöser gesagt wird, nicht sollte tadellos und vortrefflich und für alle ein Gegenstand der Nacheiferung sein, eben so wenig ist es möglich, daß irgend etwas, was er gethan, in ihm jemals sollte auch nur auf das mindeste die Seligkeit und das höhere Wohlsein getrübt haben, wodurch er sich ebenfalls von allen Andern unterschied, und welches nur er, wenngleich im verringerten Maaßstabe denen, die ihn lieben, mittheilen kann. So muß also auch sein Gehorsam sowohl vortrefflich gewesen sein und recht, als auch beseligend und beglückend. Und so laßt uns denn in dieser zwiefachen Hinsicht jetzt mit einander über den Gehorsam des Menschen reden, und zwar so, daß wir zuerst auf den Gehorsam des Erlösers selbst sehen, und dann davon die Anwendung auf uns selbst machen. | I. Wenn jemals ein Kind in dem Falle gewesen wäre, sich des Gehorsams gegen seine Eltern überhoben zu glauben, so wäre es unstreitig der Erlöser, und am meisten, nachdem er eben bei seiner Erscheinung in dem Tempel zu Jerusalem bei der Art, wie er den Schriftgelehrten, vor welchen er saß, Fragen vorlegte und ihre Fragen beantwortete, Beweise von einer Entwickelung des Geistes gegeben hatte, die alle Anwesende in Erstaunen setzte. Wie sollte man nun nicht denken, hätte es wohl anders sein können, als daß er in vielen Stücken auch seine Eltern schon übersehen habe, viel Bedeutendes und Wichtiges besser gewußt als sie. Aber demohnerachtet wird uns gesagt, er sei ihnen unterthan gewesen. Er, m. g. F., war der allein Sündlose und vollkommen Reine, so müssen wir ihn uns denken von seiner ersten Kindheit an, | niemals kann die Sünde einen Raum eingenommen haben in seinem Gemüthe, niemals zum Vorschein gekommen sein in seinem Leben. Seine Eltern aber waren fromme zwar und gute und von Gott selbst zu dem großen Beruf den Erlöser der Welt zu pflegen und zu erziehen ausgewählte, 1–2 sich...verweilt hatte] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 1175 25–29 Vgl. Lk 2,46–47
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aber dennoch schwache und sündige Menschen. Soll nun der stärkere Geist dem schwächeren, soll der Reine dem Sündigen gehorchen? Der Erlöser hat es gethan, und also muß es recht und gut gewesen sein. Davon aber, m. g. F., können wir uns auch bei einer nähern Betrachtung der Sache leicht überzeugen. Er stand noch in derjenigen Zeit, wo die Kräfte der Seele sich erst allmälig entwickeln. Wenngleich eben deswegen, weil ihn die Sünde nicht hinderte, weil die Trägheit seinen Eifer nie unterdrückte, diese Entwickelung in ihm reiner und weiter fortgeschritten war als bei Andern in dem gleichen Verhältnisse, so war es doch die Zeit | der Entwickelung. Aber in dieser bedarf der Mensch immer einer Leitung, und kann sich derselben nicht entziehen. Es ist das stärkere mehr gereifte Leben, an welches sich, sei es ihm auch an innerer Vollkommenheit überlegen, immer und überall das junge und erst heranwachsende anschließen muß; nur im Anschmiegen an das schon Feste kann der menschliche Geist gedeihen, nur im Gehorsam gegen Ordnung und Regel kann das große Werk seiner Entwickelung das wahre Ziel glücklich erreichen. Aber außerdem nun, daß der Herr, um seine geistige Entwickelung zu leiten, seinen Eltern von Gott anvertraut war, so war er nun auch in ihrer Gesellschaft ein Mitglied ihres Hausstandes, und bildete mit ihnen ein gemeinsames Leben. In einem solchen aber, m. g. F., da ist Ordnung nothwendig, sei es nun ein geschriebenes Gesetz oder nicht, Alles muß in einander greifen, wenn es sich nicht selbst zerstören soll, und eben für dieses Ineinandergrei|fen muß es eine Angel geben und ein festes Gesetz, wonach jeder Einzelne sich richtet, und alsdann erst die Überzeugung gewinnt, in Übereinstimmung mit dem Ganzen zu sein. In dem häuslichen Leben aber kann es kein anderes Gesetz geben als den Willen der Eltern, welche das Ganze übersehen und leiten, und so gehörte es also zu dem Beruf und zu der Pflicht des Erlösers, sich demselben zu fügen, und seinen Eltern unterthan zu sein. Ohne dies wäre er bei der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, in dem gemeinsamen Leben nur eine Störung gewesen und hätte dasselbe nicht gefördert, und nichts beigetragen um es zu veredeln, und zu dem Schauplatz eines wahren menschlichen Wohlergehens zu machen. Wie viel mehr muß das also von jedem Andern gelten, der sich weder in der raschen Entwickelung, noch in dem reinen sündlosen Thun des Guten mit dem Erlöser auch nur von fern vergleichen kann. Ja und eben in diesem Gehorsam gegen seine Eltern konnte er in dieser Zeit seines Lebens auch seine Seligkeit finden, weil er sich eben nur im Gehorsam der Sicherheit in dem weitern Fort|schreiten seines Lebens bewußt sein konnte, weil nur dieser ihm das Gefühl geben konnte zu dem Wohle des kleinen beschränkten Gan30–31 Vgl. Kol 2,9
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zen, dem er damals angehörte, das Seinige vollkommen beizutragen. Wohl, möchte man sagen, also so lange er in der Obhut und in der Pflege seiner Eltern war, war der Gehorsam auch für ihn etwas Wichtiges und Großes, ja ein theures Gut seines Lebens, aber so bald er nur dieser Pflege entwachsen war, so wird er auch geeilt haben, sich los zu machen von allen Banden, und nun volle Freiheit gelassen haben den höheren Kräften, die in ihm waren und ihn beseelten. Nicht also, m. g. F. Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, wie der Apostel sagt, nicht nur vom Weibe geboren, sondern auch unter das Gesetz gethan, und diesem Gesetze seines Volkes ist er treu geblieben sein ganzes Leben lang; und um seinen Gehorsam gegen dieses Gesetz desto deutlicher zu beweisen, und damit er desto reiner erkannt werden könne, hat er sich los gemacht | von der Befolgung alles dessen, was nur eigensinnige Menschensatzungen waren, und dem göttlichen Gesetze nicht selbst angehören konnte. Aber nicht nur das, sondern wir dürfen auch sagen, auch in der Zeit seines reiferen Lebens hielt er es nicht für einen Raub Gott gleich sein, und alle menschliche Ordnung, alles, was die Menschen bindet, verschmähend, für sich allein von innen heraus den göttlichen Geist walten und wirken zu lassen, der in ihm wohnte. Nein, m. g. F., sondern überall, wo er redet von seinem Verhältniß zu seinem und unserem himmlischen Vater, da sagt er von sich selbst: „der Sohn vermag nichts zu thun von ihm selbst, sondern nur, was er von dem Vater sieht und hört, das thut er.“ Überall war das seine Art und Weise in sich selbst gleichsam zu lauschen auf ein göttliches Wort und auf einen göttlichen Befehl; der Vater entdeckte ihm, was er thun sollte, und zeigte ihm die Werke, die er | zu vollbringen hatte, und seinen Willen zu thun, und das Werk, welches ihm geboten war, zu vollenden, das war das Tichten und Trachten seines ganzen Lebens; und so steht es vor uns als ein heiliges Leben, nicht einer eingebildeten Freiheit und Willkühr, sondern eines treuen und festen Gehorsams, und nichts war ihm eine innigere Freude, eine reinere Seligkeit, als wenn ihm wieder ein solcher Befehl Gottes wurde, wenn seine Augen wieder mehr geöffnet wurden über das Werk, welches ihm Gott anvertraut hatte. Da sagte er: ich habe eine Speise, von welcher ihr nichts wisset, das ist aber meine Speise, daß ich den Willen meines Vaters thue, und vollende das Werk, das er mir gegeben hat. Und so wird denn mit Recht von ihm gesagt, daß er gehorsam gewesen sei bis zum Tode; ja noch da überall war das sein Trost und seine Freude, daß nicht sein | Wille, sondern der Wille seines Vaters geschah, und im Gehorsam gegen diesen und 8–9 Vgl. Gal 4,4 16–17 Vgl. Phil 2,6 21–23 Vgl. Joh 5,19 25– 26 Vgl. Joh 5,20 27 Vgl. Joh 17,4 34–36 Vgl. Joh 4,32.34 37 Vgl. Phil 2,8 38–39 Vgl. Lk 22,42
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II. Wie nun, m. g. F., wenn wir zweitens hievon die Anwendung auf uns selbst machen wollen? Ist auch für uns alle ohne Unterschied dieser oder jener einzelnen Lebenszeiten, dieser oder jener bestimmten Verhältnisse der Gehorsam etwas wesentlich Gutes und Nothwendiges, ja eben so wie für den Erlöser die einzige Quelle, die wahre Ruhe der Seele und der wahren Seligkeit in unserem Innern? Gewiß, m. g. F., so und nicht anders. Denn wenn wir zuerst auf das sehen, weshalb dem Erlöser der Gehorsam ein so theures und wahres Bedürfniß seiner Seele war, so finden wir auch in uns das | Beides ebenfalls und eben so. Wir sind immer, und die verschiedenen Zeiten unterscheiden sich darin nur durch das Mehr und Weniger, wir sind immer in der Entwickelung unserer Kräfte begriffen. Es ist ein Wahn und keine Wahrheit, daß der Mensch jemals aufhöre zu lernen und sich zu bilden. Immer Neues soll aus dem unerschöpflichen Grunde seines Innern hervorgehen, immer mehr soll er erstarken und fest werden, und immer Neues lernen und thun in den verschiedenen Verhältnissen seines Lebens, und das ist das sicherste Zeichen seines äußern und innern Verfalls, wenn davon keine Spur mehr in ihm zu finden ist. So weit aber unsere Kräfte sich entwikkeln, können wir unmöglich ohne Gehorsam sein, bedürfen wir eben, wie Kinder, wenngleich auf andere Weise, einer Anleitung, der wir zu gehorchen haben. Insofern aber unsere Kräfte schon entwickelt | sind und wir etwas mit denselben wirken sollen, so sollen wir es nicht jeder für sich allein und nur in Beziehung auf sich selbst, sondern dann fällt unser Wirken dem gemeinsamen Leben anheim, dem wir angehören; zum Wohle unserer Brüder sollen dann unsere Kräfte gebraucht werden können in einem größeren Kreise des Lebens, das Reich Gottes in allen seinen wohlthätigen Wirkungen auf die Menschen sollen wir erhalten und fördern, so viel in unseren Kräften steht, und es giebt kein gemeinsames Leben ohne eine Ordnung, welcher der Mensch sich fügen und gehorchen muß. Da finden wir nicht nur in dem bürgerlichen Leben das geschriebene Gesetz und die Herrschaft der Regierung, der wir uns zu unterwerfen haben, und die uns in vielen Fällen mit einer großen Freiheit unseres Lebens das Gebiet anweist, in welchem, und die Mittel, mit welchen wir zu | wirken haben; wir finden in demselben noch viel mehr die heilige Gewalt der Sitte, der muß ein jeder sich fügen und sich unterwerfen, wenn ihm wohl sein soll in der Welt. Wenn je der Mensch davon los läßt, und sich hinstellt als ein einzelnes Wesen, und sein Leben ordnet nach seiner Willkühr, so bereitet er sich selbst ein elendes Dasein. Nur indem er sich fügt dieser leitenden und beleben-
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den Gewalt nach dem Maaße seiner Kräfte, aber doch nach dem Maaße seiner Kräfte sich aller Gaben bedient, die Gott in ihm niedergelegt hat, ihn selbst zu erkennen in dem, was er ist, nur insofern der Mensch dieser heiligen Gewalt sich fügt und ihr gehorcht, kann er selbst nützlich sein und wohlthätig, und kann ihm wohl sein in seinem Innern. Ja wenn wir nun unter Gottes Beistand und Leitung und nach der | Einrichtung, die er grade getroffen, nach dem Maaße, das er einem jeden verliehen hat, die Kräfte unseres Geistes entwickelt und uns Fertigkeiten erworben haben, mit denen wir nun schalten sollen in dem uns angewiesenen Beruf: wehe dem, der dabei auch nur die Willkühr schalten läßt, wehe dem, dessen Werke und Thorheiten eben das Gepräge tragen, daß er dasselbe, was er thut, eben so gut hätte unterlassen, daß er es eben so gut anders hätte machen können als so. Darum gehorche der Mensch der großen und heiligen Stimme des öffentlichen Bedürfnisses und der öffentlichen Meinung, die denen, welche nur aufmerksam lauschen, gewiß nicht fehlen wird sich vernehmen zu lassen. Da wird er aufgefordert und getrieben zu Werken und Thaten, die in Gott gethan sind, weil sie das Gepräge des Gehorsams in seinem Herzen gegen das, was | ihm die gemeinsame Stimme der Achtung, der Liebe zu seinen Brüdern, des Vertrauens auf die Kraft des Ganzen, des lebendigen Eifers für das Wohl der Menschheit gebietet – alles Stimmen, denen er Gehör geben muß – und was diese Stimme über ihn ausdrückt. So können wir also nicht anders sagen, m. g. F., als daß auch wir überall die Sicherheit und die Tüchtigkeit sowohl, als auch das innere Wohlsein unseres Lebens nichts Anderem zu verdanken haben als dem Gehorsam. Und daß nicht etwa jemand glaube, das sei nur die Art und Weise beschränkter Seelen, die zufrieden sind, wenn sie die Verantwortung von sich selbst abwälzen und einem Andern zuschieben können. Nein, m. g. F., laßt uns einmal zurücksehen auf das Edelste und Größte, was wir in der Welt und den menschlichen Werken und Handlungen finden. Was liegt uns in dieser Beziehung wohl näher als | die Stiftung des Reiches Gottes auf Erden durch die Apostel des Herrn, nachdem er selbst die Erde verlassen hatte. Freier war niemand als sie; denn durch den Auftrag ihres Herrn: „Gehet hin in alle Welt, und prediget das Evangelium allen Völkern, und machet sie zu Jüngern und taufet sie“, war gleichsam die ganze Welt ihre für diesen ihren großen und heiligen Beruf. Der Herr selbst hatte sich gefügt unter die Beschränkung, die der Vater seiner Sendung auf Erden gegeben hatte: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel.“ Nicht so war es mit seinen Jüngern und Aposteln, denen gab er eine unbeschränkte Vollmacht, und sie konnten sie gebrauchen, wie sie wollten. 34–36 Vgl. Mt 28,19; Mk 16,15
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Aber worin fanden sie nun die Rechtfertigung dafür, daß sie so handelten und nicht anders? worin fanden sie die Beruhigung und die Sicherheit über den Gang ihres Lebens, daß es ihnen so Vieles und so Mannigfaltiges von allen Seiten darbot? | Bald, wenn sie etwas unternehmen wollten, hinderte sie der Geist, daß sie es nicht unternahmen, bald erhielten sie auf diese oder jene Weise ein göttliches Gebot und eine göttliche Anweisung, bald fühlten sie sich durch Umstände und Verhältnisse, in denen sie standen, gebunden im Geist, und dann konnten weder Verheißungen noch Drohungen sie abhalten das zu thun, wozu sie sich getrieben fühlten. Was war das anders als die Wirkung von der innern Sehnsucht des Herzens, daß sie etwas suchten, dem sie gehorchten, was anders als das Bestreben frei zu werden von der Willkühr, die allemal, wenn sie gleich dem verblendeten Menschen als etwas Großes und Herrliches erscheint, doch nichts ist als die größte Unseligkeit seines Lebens. Aber, m. g. F., wird man erinnern, so sind also vielleicht nur diejenigen ihres Thuns sicher und haben die Quelle der Zufriedenheit in sich, die zu gehorchen haben in der Welt, so sollen | wir die bedauern und beklagen, die so hoch gestellt sind in der menschlichen Gesellschaft, daß ihnen niemand gebieten kann, die kein Gesetz haben, welches sie befolgen müßten, sondern selbst dem menschlichen Leben die Gesetze geben? Laßt uns hören, was der Apostel Paulus zu den Christen überhaupt sagt, die von der Finsterniß, in welcher sie vorher gelebt hatten, hindurchgedrungen waren zu dem göttlichen Lichte des Evangeliums: „So waret ihr nun ohnedem Knechte der Sünde zum Tode, jetzt aber seid ihr geworden Knechte der Gerechtigkeit, und eure Frucht ist das ewige Leben.“ Das war freilich ein Wort zu solchen geredet ursprünglich, die sich größtentheils in den niedern Gegenden des menschlichen Lebens befanden, wo der Gehorsam in einem strengeren Sinne einheimisch ist und waltet; aber es ist, m. g. F., ein allgemeines Wort für alle Christen, und was sagt es uns? Daß der Mensch nicht anders kann als gehorchen. Gehorchet er nicht der Gerechtigkeit, so wird er ein Knecht der Sünde sein, hat er sich losgemacht | von den Fesseln der Sünde, so muß er suchen nicht etwa einer eingebildeten Freiheit zu huldigen, sondern ein Diener zu werden der Gerechtigkeit. Und so ist denn keiner, der nicht zu gehorchen nöthig hätte, und wohl ist nur jeder, auf welchem Platz im menschlichen Leben er auch stehe, und sicher ist nur jeder, daß er werde im Stande sein Gott Rechenschaft abzulegen von dem, was er gethan hat, insofern ihm eine Gerechtigkeit nahe getreten ist, der er gehorcht, insofern er die Stimme eines heiligen 4–5 Vgl. Apg 16,6–7 10 Vgl. Apg 21,10–13
6–7 Vgl. Apg 16,9; 18,9 7–8 Vgl. Apg 20,22–23 25–27 Vgl. Röm 6,16–18.22
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Gesetzes vernommen hat, der er sich unterwirft, insofern er sich entsagt hat und entäußert jenes eingebildeten Vorzugs von Freiheit und Willkühr, von Gebieten und Herrschen. Denn zum Gehorchen ist der Mensch erschaffen, und wenn der Herr sagt: „Ich sage nicht mehr, daß ihr Knechte seid, sondern ihr seid meine Freunde“, o das, m. g. F., ist doch etwas unendlich Größeres, und mit dem Unterschiede ist keiner zu ver|gleichen, wenn irgend die äußern Verhältnisse des Lebens zwischen Menschen und Menschen scheiden. Aber warum sagt er zu seinen Jüngern, daß sie seine Freunde sind, worauf gründet er dieses Wort, womit er sie gleichsam seines Gleichen nennt? Ihr seid meine Freunde, so ihr thut, was ich euch gebiete, und ihr seid darum meine Freunde, weil ich euch Alles offenbart habe, was mir der Vater gegeben hat. Sehet da, m. g. F., anders nicht als durch den Gehorsam, dadurch, daß wir thun, was der Herr gebietet, gelangen wir dazu, daß er uns seine Freunde nennen kann, anders nicht als so gelangen wir zu der immer reineren Erfüllung seines heiligen Willens, und es giebt keine andere Stufenleiter, auf welcher der Mensch sich zu dieser Höhe erheben kann, als die des reinen und treuen Gehorsams. Und wenn der Apostel so Vieles und so Schönes redet von der Freiheit der Kinder Gottes, zu der wir alle hindurchdringen sollen, und der Seligkeit | derer, die nicht mehr unter dem Gesetz stehen, so ist er weit davon entfernt, die Freiheit als etwas darzustellen, was den Segen des Gehorsams ausschlösse und demselben entgegenstände. Denn worin anders besteht die Freiheit der Kinder Gottes, als daß sie in sich selbst die heilige Stimme wohnen haben, der sie gehorchen müssen, aber der sie sich auch gebunden fühlen zu treuem Gehorsam, die sie nicht ansehen als ihre eigene, sondern es ist der Geist, der in der Gesammtheit der christlichen Kirche waltet, der keinem angehört für sich, sondern der allen angehört. Wo der sich vernehmen läßt in unserem Innern, da sollen wir gehorchen, und im Gehorsam gegen ihn finden wir unsere Seligkeit, die er redet zu uns nicht hinter einer lockenden und schmeichelnden Stimme, sondern es ist das Wort im Befehle, und was dieses in uns hervorbringt, ist nun die Freudigkeit des Gehorsams. Möchten wir also alle, m. g. F., wohin uns der | Herr gestellt hat, wie sehr wir selbst in dem Falle sein mögen größere oder kleinere Gebiete des menschlichen Lebens zu leiten, doch immer als nach dem Höchsten hinaufsehen zu dem, dem wir selbst zu gehorchen haben. Möchten wir immer mehr lernen, daß das allein der rechte Segen des Lebens ist, wenn wir uns unterwerfen der heiligen Gewalt, die über uns gebietet, daß der Mensch sich sein eigenes Elend bereitet, wenn er, sich losreißend von der Verbindung mit dem Ganzen, in welchem jeder Einzelne 4–5 Vgl. Joh 15,15
10–13 Vgl. Joh 15,14–15
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nur ein kleiner Theil sein kann, und sich fügen muß eben diesem Ganzen, wenn ihm wahrhaft wohl sein soll, wenn er, davon sich losreißend, auf seinen eigenen Füßen stehen und seiner eigenen Freiheit und Willkühr folgen will. Ja dies ist, wie ich schon vorher gesagt habe, nichts anders als die größte Unseligkeit des menschlichen Lebens, die das Innere des Menschen zerreißt, und weil er mit dem Ganzen nicht in Übereinstimmung | sein will, ihn auch in den Widerspruch bringt mit sich selbst. Das, m. g. F., das ist die Freiheit der Kinder Gottes, die Knechtschaft und der Gehorsam in der Gerechtigkeit, das ist die Freundschaft mit dem Erlöser, so wie er auf den Willen seines Vaters lauschte, und überall sein Wort sein Gebot sein ließ. Das ist die Freiheit der Kinder Gottes, sich Alles anzueignen zum beständigen Besitz, was in den verschiedenen Verhältnissen des Lebens ihnen als Gesetz und Ordnung entgegentritt; denn sie ist auch die Stimme Gottes an den Menschen. Das ist es, wovon wohl verstanden alle Zufriedenheit mit uns selbst, alle Förderung unseres geistigen Lebens und alles Gelingen unseres Werkes ausgeht, und worauf es sich allein erbauen kann. Amen.
[Liederblatt vom 11. Januar 1824:] Am ersten Sonntage n. Epiph. 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Valet will ich dir etc. [1.] In stille Finsternisse / Verhüllt Gott unsre Welt, / Daß sie der Ruh genieße, / Wie in ein sichres Zelt; / Zugleich flößt er verborgen / Uns neue Kräfte ein, / Auf daß uns neu am Morgen / Das Leben mög’ erfreun. // [2.] Die Frommen schlummern müde / Von Tageslast und Müh; / Und ihres Vaters Friede / Erquikt und stärket sie. / Durch viele Todesnächte / Bedeckt der Langmuth Arm, / Ob er sich bessern möchte, / Der Sünder sichern Schwarm. // [3.] Erwacht zu seinem Ruhme, / Ihr Frommen, aus der Nacht, / Zu seinem Eigenthume / Geschaffen und bewacht! / Und ihr, gefallnen Kinder, / Hört jener Lobgesang! / Daß Reu und Buß’, ihr Sünder, / Sei euer Morgendank. // [4.] Ich bin durch deine Liebe, / O Vater, was ich bin; / Nimm meines Herzens Triebe / Zum Opfer gnädig hin. / Ein dir geheiligt Leben, / Freiwillig ohne Zwang – / Was könnt ich sonst auch geben? – / Sei ewig, Gott, mein Dank. // (Rigaer Gesangb.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Vater zeuge mich etc. [1.] Mein Heiland bilde du / Mich ganz nach deinem Bilde, / Und schaffe selbst in mir / Die neue Kreatur, / Auf daß ich heilig sei, / Demüthig, weis’ und milde, / Und in mir ausgetilgt / Des alten Menschen Spur. // [2.] Mein
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Licht, erleuchte mich, / Führ mich in alle Wahrheit, / Und bringe meinen Sinn / Zur rechten Lauterkeit. / Vertreib den Lügengeist / Durch deines Wortes Klarheit, / Damit ich wacker sei / In jedem Kampf und Streit. // [3.] Mein Leben, leb’ in mir / Und laß in dir mich leben; / Ich bin ja ohne dich / Zum Guten gänzlich todt. / Das Lebensbrod bist du, / Und kannst mir Nahrung geben; / Du labest meinen Geist / In aller seiner Noth. // [4.] Mein König schüze mich, / So oft die Welt der Sünde / Mit ihrer List und Macht / Auf meine Seele stürmt. / Sei du mein starker Hort, / Bei dem ich Zuflucht finde; / Denn der ist sicher nur, / Den deine Hand beschirmt. // [5.] Mein Hirte weide mich / Auf deinen grünen Auen, / Und führe mich zum Quell / Lebend’gen Wassers hin; / Verirrt’ ich mich von dir / In Wüsten voller Grauen, / Dann bringe mich zurück, / Weil ich dein eigen bin. // [6.] Mein Ein und Alles du, / Mit dir laß eins mich werden; / So wird mir alles nichts, / Du wirst mir alles sein! / Und ist die Stunde da, / Zu scheiden von der Erden: / Dann geh in Frieden ich / Zu deiner Freude ein. // Nach der Predigt. – Mel. Die lieblichen Blicke etc. Mein Wille sei gänzlich in deinen versenkt! / Mein Wirken, mein Leiden, / Wie Schmerzen so Freuden, / Nach deinem Gefallen sei alles gelenkt. / Dir geb ich mich hin / Mit kindlichem Sinn, / Ach lebe in mir, / So leb’ ich in dir. //
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2. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 3,31–36 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 219–231; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 155v–156r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 83v–88v; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 2. Sonntage nach Epiphanias 1824.
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Tex t. Joh. 3, 31–36. Der von oben her kommt, ist über alle. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über alle, und zeuget, was er gesehen und gehört hat, und sein Zeugniß nimmt niemand an; wer es aber annimmt, der versiegelt es, daß Gott wahrhaftig sei. Denn welchen Gott gesandt hat, der redet Gottes Wort, denn Gott giebt den Geist nicht nach dem Maaße. Der Vater hat den Sohn lieb, und hat ihm alles in seine Hand gegeben. Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben; wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm. In den vorhergehenden Worten, m. a. Fr., hatte Johannes sich selbst mit dem Erlöser verglichen, und eben in dieser Vergleichung sein Verhältniß zu ihm auseinandergesezt. Die Worte, die wir eben gelesen haben, fangen damit an, daß er den Erlö|ser mit allen andern vergleichet, wenn er nämlich sagt, Wer von oben her kommt ist über alle, wer von der Erde ist, der ist von der Erde, und redet von der Erde, der vom Himmel kommt, ist über alle. Wie er auf diesen Vergleich gekommen, und was er damit beabsichtigt, das scheint mir zunächst dieses zu sein. Es waren seine Jünger, die zu ihm gekommen waren, um sich gleichsam über Christum zu beschweren, daß alles Volk sich jezt zu ihm wende. Johannes, wie der 21–23 Vgl. Joh 3,26
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Evangelist uns sagt, war damals noch nicht in das Gefängniß gelegt, aber schon aus diesen Worten kann man schließen, daß es nicht lange mehr gewesen sei, und Johannes konnte auch wol, ohne eines besondern prophetischen Geistes theilhaftig zu sein, bisweilen recht gut ahnden, was für ein Geschikk ihm bevorstehe, da er in der Freimüthigkeit und in der Strenge seiner Rede auch alle diejenigen nicht schonte, welche Macht und Gewalt nicht nur hatten, sondern auch gewohnt waren, sie weit über die Regel des Rechtes hinaus zu gebrauchen, und er konnte wissen, welche Aufmerksamkeit auf ihn und welchen Verdacht gegen ihn vorzüglich sein großes Ansehen im Volke schon erregt hatte. Seitdem er nun den Erlöser erkannt hatte, und ihm bei dessen Taufe offenbart war, daß Jesus von Nazareth es sei, der das Reich Gottes, welches er verkündigte, herbeiführen solle, seitdem hatte er, wo er es nur irgend vermochte, und wo er glaubte, daß es aufgenommen werden könnte, die Menschen an ihn gewiesen. So sollte man meinen, er hätte auf diese Weise keine Jünger haben können, in dem Sinne nämlich, wie es in der Schrift so häufig vorkommt, solche die beständig um ihn waren, ihn überall hin begleiteten und den größten Theil ihrer Lebenszeit in belehrenden Gesprächen mit ihm zubrachten. Denn so wie sie ihn näher kannten, konnte es nicht fehlen, daß er ihnen nicht Jesum offenbarte als denjenigen, dessen Bestimmung eine unvergängliche sei, und so sollte man meinen, hätten es alle gemacht wie die, zu denen er sagte, Sehet, | das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. So war es aber nicht, und wir können uns dies wol erklären nach der Art, wie wir die menschliche Natur auch jezt noch finden. Johannes wies auf den Erlöser hin als auf den, dem er gekommen sei den Weg zu ebnen; er selbst aber war denen, die sich an ihn angeschlossen hatten, und die sich durch seine Reden, welche doch voll Kraft und Salbung des Geistes waren, angezogen fühlten, er war ihnen eben lieb geworden. Nach der damaligen Weise nun glaubten sie, Jesus von Nazareth müsse doch noch ein besonderes Zeichen von sich geben, wenn er das Reich Gottes aufrichten solle, weil sie es noch nicht verstanden, daß das Reich Gottes nicht mit äußerlichen Geberden komme. Und so blieben sie bei dem Johannes bis die Zeit käme, welche sie von selbst zu ihm rufen würde. Johannes konnte das, wenn gleich nicht loben, doch wenigstens dulden und entschuldigen. Aber wenn nun seine Jünger sich zu ihm wenden mit einer solchen fast sich beschwerenden und beklagenden Rede über Jesum, so konnte ihm der Gedanke nicht fern liegen, was, wenn sein Geschikk würde erfüllt sein, seine Jünger beginnen würden. Der größte Theil der Menschen, und solche mochten 5–8 Vgl. Mt 3,7–12; Lk 3,7–20 11–15 Vgl. Joh 1,29–36 23–24 Joh 1,29 25– 27 Vgl. Mt 3,3; Lk 3,4; Joh 1,23 33 Vgl. Lk 17,20 36–38 Vgl. Joh 3,26
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es sein, die ihn umgaben, bedarf von andern geleitet zu werden; nur wenige sind es, die sich selbst zurecht finden können in dem höhern geistigen Leben. So dachte er denn, wenn er würde von ihnen genommen werden, zu einem würden sie sich doch halten. Gingen sie nun nicht zu Jesu, weil sie glaubten, er selbst Johannes habe nicht Achtung und Ehrfurcht genug gehabt vor dem Erlöser, um seinen eigenen Lebensweg zu verlassen und ihm als Schüler zu folgen, so mußten sie sich zu andern Lehrern des Volks, zu den Gesezeskundigen und Schriftgelehrten halten, und darum mußte es ihm am Herzen liegen, zu sagen, wie sich Christus zu allen diesen verhielte; und so ist das Zeugniß, welches wir jezt ge|lesen haben, von dem Glauben des Johannes an den Erlöser entstanden. Er vergleicht ihn mit andern, indem er sagt, Wer von der Erde ist, wie er selbst Johannes von der Erde war, der redet auch von der Erde; der aber vom Himmel kommt, der ist über alle. Um dies recht zu verstehen, müssen wir uns erinnern, wie es damals ein gewöhnlicher Redegebrauch war, daß die unterrichteten, die Schriftgelehrten und Gesezeskundigen das unwissende Volk gewöhnlich die Söhne der Erde nannten. Zunächst also will Johannes in diesen Worten sagen, daß Christus so weit über allen den Lehrern des Volkes stehe, wie diese selbst über den unwissenden zu stehen glaubten, die sie die Söhne der Erde nannten; er unterscheidet also den heiligen Ursprung der Lehre Christi von der irdischen einer jeden andern, und sagt, der vom Himmel kommt, wie er über alle ist, so redet er auch nur himmlisches und zeugt was er gesehen und gehört hat, die aber von der Erde sind, die reden auch nur von der Erde, der von oben kommt, der ist also über alle. Wenn Johannes hiebei zunächst an die Propheten des alten Bundes, an die freilich auch von Gott gesandten und berufenen Lehrer des Volks gedacht hätte, so weiß ich nicht, ob er sich so stark würde ausgedrükkt haben, weil aus diesen doch auch der Geist Gottes redete. Damals aber war der göttliche Geist verstummt, und die menschliche Lehre ging nicht aus dem innersten des menschlichen Herzens hervor, sondern sie war nur ein Zusammentragen, ein Vergleichen und Auslegen dessen, was in früheren Zeiten aus der Kraft des Geistes war geredet worden. Also nun, könnte man fragen, wenn denn doch die damaligen Schriftgelehrten auch aus dem Worte Gottes und nach dem Worte Gottes redeten und also auslegten und anwendeten, was | der Geist Gottes durch die Propheten geredet hatte, wie konnte Johannes von ihnen sagen, sie redeten von der Erde? Ach, m. g. Fr., diese Frage ist wol leicht zu beantworten, wenn wir dabei gedenken, wie es auch dem Worte Gottes im neuen Bunde nicht selten ergeht. Denn wenn gleich in demselben das himmlische Wort
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enthalten ist, wie gar oft wird nicht doch auf irdische Weise darüber geredet, wie gar oft wird es nicht zu einer Veranlassung genommen, die Menschen aufzuregen und über ihre irdischen Verhältnisse zu belehren, wie oft wird nicht die himmlische Lehre verwandelt in eine Lehre von der vergänglichen Glükkseligkeit des Menschen, von dem, was er um diese zu erlangen und sich zu sichern thun muß, und was auf der andern Seite vermeiden! Ja wie werden nicht die reinsten und herrlichsten Worte des Herrn auf diese Weise gemißbraucht! Und so kann es nicht anders sein, so ergeht es dem geschriebenen Worte. Denn es kommt nicht allein auf dasjenige an, was darin enthalten ist, sondern auch auf den Sinn, mit dem es geredet und verkündiget wird. Wer da von der Erde ist, der kann auch nur reden von der Erde! Wie aber Johannes den Herrn in diesen Worten vergleicht mit den übrigen damaligen Lehrern des Volks, so werden wir nicht anders können als ihn auf dieselbe Weise vergleichen mit jedem andern menschlichen Lehrer. Allerdings seitdem das Christenthum in die Welt gekommen ist, und sich durch dasselbe ein ganz neues und anders gestaltetes Leben unter den Menschen gebildet hat, ist auch viel neue menschliche Weisheit entstanden, wiewol auch die gebildetsten Völker immer noch auch in dieser Hinsicht weit entfernt sind von dem Ziele der Vollkommenheit. Die Werke Gottes sind auf eine viel gründlichere Weise bekannt, der Beruf des Menschen auf der Erde ist in einem viel größeren Sinne aufgefaßt und in einem größeren Umfange erfüllt, als beides vor der Zeit der Erscheinung des Herrn der Fall war; und wie doch der himmlische Funke in der menschlichen Natur nie ganz erlischt, so | hat es nicht fehlen können, daß nicht auch die Erde und die irdischen Dinge auf den Himmel hinweisen sollten, und die menschliche Weisheit und die Erkenntniß von den Dingen dieser Welt kann nicht bestehen ohne zurükkzugehen auf den, der alles schafft und leitet, und unter dessen ordnender Weisheit alles steht. Aber auch von dieser menschlichen von dem irdischen auf das himmlische zurükkgehenden Weisheit müssen wir sagen, Wer von der Erde ist, der redet von der Erde, nur von der Erde aus kann er den Himmel betrachten, er hat keinen andern Weg seinen Blikk zum Himmel hinauf zu richten als diesen irdischen; und da ist es jenes Wort des alten Bundes, welches am besten ausdrükkt, daß sich der Mensch in dieser Hinsicht bescheiden soll: wer wird in den Himmel fahren, um das Wort des Herrn herunter zu holen, oder wer wird über das Meer fahren, daß er es uns von jenseits bringe? Nur aus der Ferne, nur von Sehnsucht und Verlangen getrieben, wel22–23 größeren] größerem 36–38 Vgl. Dtn 30,12–13
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ches nicht die Mittel hat sich auf diese Weise zu befriedigen, so und nicht anders kann der Mensch, der von der Erde ist, wenn er auch nicht von der Erde redet, doch nur auf irdische Weise das himmlische ausdrükken und mittheilen. Der aber von oben kommt, ist über alle und zeuget, was er gesehen und gehört hat. Sehen und hören in dem eigentlichen Sinne des Wortes läßt sich Gott nicht und die göttlichen Dinge, denn es ist alles unsichtbar und geistig, wie der Herr selbst sagt, Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten wollen, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Das Sehen also, wovon Johannes hier redet, das ist das Sehen vermittelst desjenigen Lichtes, welches in dem tiefsten innern aller menschlichen Seelen sein soll, aber, weil es so verdunkelt war durch die Ungerechtigkeit, welche die Menschen thaten, nur in der gotterfüllten Seele des Erlö|sers sein konnte. Das Hören, das ist das Hören des innern Wortes, welches Gott in das Herz der Menschen geschrieben hat, und welches sie also auch in ihrem innern allein sollen lesen können. Aber wie auf diese Weise schon die Propheten und die Diener Gottes im alten Bunde über das Volk des Herrn klagten, Dieses Volk hat Augen und sieht nicht, es hat Ohren und hört nicht: so war auch dieser Sinn verdunkelt und abgestumpft worden, und daher auch die Stimme ein leiser und kaum vernehmbarer Laut in dem innern der Menschen geworden. Gesehen und gehört, was allen Menschen gegeben war zu sehen und zu hören, hat nur der, der mit göttlicher Kraft ausgerüstet von oben herabkam, der hat gezeugt, was er gesehen und gehört hat; er war das Licht und schien in die Finsterniß, er war das lebendige Wort Gottes selbst und ward Fleisch, um sich von den Menschen vernehmen zu lassen und diesen stumpfen Sinn wieder in den Menschen zu schärfen. Johannes der Täufer, der gekommen war um von diesem himmlischen Lichte zu zeugen, sah mit Wehmuth und mit Schmerz, wie wenig das Zeugniß fruchtete, welches er von dem Erlöser ablegte, wie wenige von denen, denen er es bezeugt hatte, der sei das Licht, welches alle Menschen erleuchten soll, sich zu ihm wendeten. Daher konnte er nun nicht reden von dem Zeugniß, welches das vom Himmel gekommene Wort ablegte, ohne hinzuzufügen, Und niemand nimmt sein Zeugniß an, wer es aber annimmt – und das sind die wenigen, die kleine Schaar der gläubigen, welche dem Erlöser angehören, und die ihm dem Bräutigam von ferne stehen und sich freuen über seine Stimme und das Reich der Wahrheit und der Gottseligkeit schauen, und in dieser Beziehung gern bekennen, daß Christus der einzige ist, welcher 8–10 Joh 4,24 18–19 Vgl. Jer 5,21 25 Vgl. Joh 1,5 32–33 Vgl. Joh 1,7 37–1 Vgl. Joh 3,29–30
25–26 Vgl. Joh 1,14
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wachsen muß, alles andere aber abnehmen – | wer aber sein Zeugniß annimmt, der versiegelt es, daß Gott wahrhaftig sei. Wenn wir fragen, was wol dies heißen mag, Gott ist wahrhaftig: so können wir nichts anderes darunter verstehen, als daß alle seine Verheißungen Ja und Amen sind. Seine Verheißungen, die hat er aber gegeben eben durch das Verlangen nach dem Himmel, welches er in den Menschen gelegt hat, indem er ihn zu einer lebendigen und vernünftigen Seele schuf; er hat seine Verheißungen gegeben in allem irdischen, was uns auf das himmlische hinweist, in allem guten und herrlichen, was er in dem menschlichen Geschlecht gewirkt hat, und wodurch sich die ewige Kraft seiner Gottheit, das heißt seine Weisheit und Liebe offenbart. Wer nun das Zeugniß des Erlösers annimmt, in wem das Wort Gottes, das aus ihm redete, lebendig wird, der versiegelt es, daß der Herr wahrhaftig ist, und so wie er es annimmt, so drükkt er auch das Siegel seiner eigenen Erfahrung, seines Glaubens, seiner Liebe und aller geistigen Kräfte darauf, die dasselbe in ihm wirkt und bestätigt es durch sein ganzes Leben und an jedem Orte, wo Menschen Zeugniß ablegen können, daß Gott wahrhaftig ist, daß seine Verheißungen nun erfüllt sind, denn sie sind alle Ja und Amen in dem einen, den er gesandt hat zum Heil der Welt, in dem einen, der allein zeugen kann, was er gesehen und gehört hat. Darum fährt Johannes also fort, Der Vater hat den Sohn lieb, und hat ihm alles in seine Hand gegeben. Sehet da, m. g. Fr., das heißt versiegeln, daß Gott wahrhaftig ist, wenn wir den Glauben an den Erlöser in uns tragen, daß der Vater den Sohn lieb hat, und hat ihm alles in seine Hand gegeben, daß nun eben alle göttliche Verheißungen erfüllt und in die Hand des Erlösers gelegt | sind, daß er die Menschen führen kann zu allem Frieden und zu aller Seligkeit, die Gott der Herr ihnen zugedacht und für sie bestimmt hat, daß in seine Hand gegeben ist das Reich, welches auch die Pforten der Hölle nicht überwältigen können; das heißt versiegeln, daß Gott wahrhaftig ist, wenn wir von dem Glauben erfüllt sind, daß Gott den ewigen Rathschluß der Erlösung des menschlichen Geschlechtes vollbracht hat durch die Liebe, die darin erschienen ist, daß er uns seinen Sohn gegeben hat, und daß er dieses sein großes Werk auf Erden unerschütterlich fest gebaut und gegründet hat auf diesen seinen Sohn, den er zum Heile der Welt gesandt hat. Aber auch die Worte sind herrlich und nicht zu übersehen, welche unmittelbar vorhergehen, Welchen Gott gesandt hat, der redet Gottes Wort, denn Gott giebt den Geist nicht nach dem Maaß. 4–5.19 Vgl. 2Kor 1,20
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Was heißt das, m. g. Fr., welchen Gott gesandt hat, der redet Gottes Wort? Als Johannes dies sagte, da dachte er gewiß und wollte erinnern daran, wie Gott auch vordem von Zeit zu Zeit geredet habe zu den Vätern und zu seinem Volke durch die Propheten, die er ausgesandt. Die haben auch das Wort geredet, welches Gott ihnen in die Seele gelegt und dazu offenbart hatte, daß sie es den Menschen verkündigen sollten. Er will aber von diesen allen den Erlöser unterscheiden, und darum sagt er, derjenige, den Gott nun gesandt hat, der redet Worte Gottes. Laßt uns dabei bedenken, was der Herr selbst sagt, Das Fleisch ist kein nüze, die Worte aber, die ich zu euch rede, die sind Geist und Leben. Laßt uns bedenken, wie uns Worte Gottes schon in den Schriften des alten Bundes beschrieben werden, Wenn er spricht, so geschieht es, wenn er gebeut, so steht es da. Es giebt kein Wort Gottes, welches nicht | ein schaffendes, ein Leben hervorbringendes, ein sich selbst bestätigendes und wahrmachendes Wort wäre. Laßt uns bedenken, was der Herr selbst in seiner Versuchungsgeschichte zu dem Versucher sagt, Der Mensch lebt nicht von Brot allein, sondern von einem jeglichen Worte, das durch den Mund Gottes geht. Was heißt also Worte Gottes reden? Wie der Herr selbst sagt, Wie der Vater das Leben hat in ihm selber, so hat er auch dem Sohne gegeben das Leben zu haben in ihm selber, also die belebende Kraft selbst. Welchen Gott gesandt hat, der redet Worte Gottes, Worte eines neuen und erneuernden Lebens, Worte, die er selbst in die Seele gelegt hat, und die sie umschaffen zu einer neuen Creatur, die aus Gott geboren ist. Das meint der Erlöser auch, wenn er sagt, Die Worte, die ich zu euch rede, sind Geist und Leben. Daher denn fährt Johannes fort, Denn Gott giebt den Geist nicht nach dem Maaße. Weniger wol hat er dies gesagt um den Erlöser zu vergleichen mit den Propheten des alten Bundes, die doch auch den Geist Gottes hatten nach dem Maaße, ihm aber war er gegeben in unendlicher Fülle und ohne Maaß; weniger hat er es gesagt um die alte Zeit zu vergleichen mit der neuen, indem nämlich in jener der göttliche Geist nur hier und da und auf eine vorübergehende Weise wirkte, nun aber die Zeit der Erfüllung aller göttlichen Verheißungen gekommen ist, werde er ausgegossen über alles Fleisch und treibe sein Werk ohne irgend eine Beschränkung, wiewol dies auch in seiner Rede liegen mag. Aber zuerst und zunächst meint er dies: durch das Wort Gottes gebe Gott den Geist, aber nicht auf jene alte Weise, sondern wer das Wort Gottes aufnimmt, der wird des Geistes theilhaftig in jedem Maaße, wie es bisher nicht der Fall gewe|sen war; er trägt durch 3–4 Vgl. Hebr 1,1 9–11.25–26 Joh 6,63 19–21 Joh 5,26 21–24 Vgl. 2Kor 5,17
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das Wort Gottes die Kraft desselben in sich in jedem Maaße, und die Lehren der Weisheit, die Kraft der Heiligung und die Stärke des Glaubens findet er in dem Geiste, der durch das Wort Gottes in den Seelen der Menschen wohnt und wirkt. Und so, m. g. Fr., ist das die große Erfahrung, welche in der ganzen Zeit des neuen Bundes sich bestätigt hat, daß durch das Wort Gottes, welches der Herr geredet, der Geist Gottes ausgegossen ist über alles Fleisch, und daß ihm kein Maaß und Ziel gesezt ist; aber weil er die menschliche Natur immer mehr durchdringt und sie immer mehr heiligt und umschafft zu einem unvergänglichen Tempel Gottes, so muß er sich immer deutlicher offenbaren und immer mehr sich selbst verklären und den, der die ewige und unerschöpfliche Quelle desselben ist, damit das Wort, welches der Herr geredet hat, sich immer mehr als ein schaffendes und Leben hervorbringendes in dem ganzen menschlichen Geschlechte beweise. Und so konnte Johannes sein Zeugniß wol nicht anders schließen als mit den Worten, Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben, wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm. Da kann es uns nun wehe thun, m. g. Fr., daß dieses schöne und herrliche Zeugniß des Johannes mit solchen harten Worten endet, und daß, nachdem wir nun so lange Zeit von ihm sind unterhalten worden von der himmlischen Liebe, die Gott dadurch der Welt erwiesen, daß er seinen Sohn gesandt hat, er nun zum Schlusse auf den Zorn Gottes hinweist. Aber es kann nicht anders sein nach der Absicht, in welcher Johannes dieses Zeugniß von Christo ablegte. Es sollte ein lokkendes Wort sein und seine Jünger hinweisen auf den einen, der | vom Himmel gekommen um das Reich Gottes zu stiften, und an welchen alle glauben sollen; aber es sollte auch ein warnendes Wort sein, und darum mußte es so schließen, Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben, und er lebet durch das Wort, welches Geist und Leben in ihm ist; wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, und so lange er nicht glaubt, bleibt der Zorn Gottes über ihm; wie auch der Herr sagt, Wer da glaubt, der ist aus dem Tode in das Leben hindurchgedrungen. Wer nicht glaubt, über dem bleibt der Zorn Gottes oder der ist gerichtet, das ist beides eins und dasselbe. Wie aber die Liebe Gottes sich dadurch beweist, daß er uns, wenn wir an den glauben, den er gesandt hat, giebt das Leben zu haben durch seinen Sohn: so kann auch der Zorn Gottes nur dies sein, daß Gott das Leben nicht geben kann denen, die nicht glauben an den Namen des eingebornen Sohnes, daß er nicht im Stande ist seine Huld und seine Liebe denen 34–35 Vgl. Joh 5,24
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zu beweisen, die das Wort Gottes, welches der Sohn geredet hat, nicht annehmen, weil der Mensch durch nichts anderes leben kann als durch das Wort Gottes; und so bleibt der Zorn Gottes über denen, die dem Sohne nicht glauben, bis auch sie glauben und durch den Glauben aus dem Tode in das Leben hindurchdringen. Wenn es nun diesen einen Weg nur giebt, um zum Leben zu gelangen, und wir noch solche sehen, die nicht an den Sohn glauben, obwol das Wort Gottes zu ihnen geredet wird, so können wir nicht anders als neben der göttlichen Liebe auch auf den Zorn Gottes sehen. Wozu, m. g. Fr., soll uns das anders ermuntern, als daß auch wir nach bestem Vermögen das Zeugniß ablegen, welches wir uns nun vorgehalten haben in den Worten des Johannes, und daß auch wir die Menschen hinweisen auf den, der gekommen ist das ganze menschliche Geschlecht | zu beleben und selig zu machen. Je mehr wir selbst zeigen, daß wir das Leben haben durch den Glauben an ihn; je mehr wir selbst dieses Leben der Welt offenbaren als ein göttliches in unserer Seele: desto mehr werden wir die Menschen lokken, daß auch sie begehren desselben Lebens theilhaftig zu werden, und so werden wir die Menschen lokken von dem göttlichen Zorn zu der göttlichen Liebe, daß sich derselben erfreuen sowol diejenigen immer mehr, welche sie schon besizen, als auch die, welche noch fern von ihr sind! Amen.
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Am 25. Januar 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
3. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 3,13–15 Nachschrift; SAr 105, Bl. 73r–86r; Andrae Keine Nachschrift; SAr 86, Bl. 1r–19v; Slg. Wwe. SM, Andrae (Fragment) Nachschrift; SAr 52, Bl. 156r–156v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Tex t. Matth. III, 13–15. Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johanne, daß er sich von ihm taufen ließe. Aber Johannes wehrte ihm, und sprach: Ich bedarf wohl, daß ich von dir getauft werde; und du kommst zu mir? Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Laß jetzt also sein; also gebührt es uns alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da ließ er es ihm zu. Wir haben neulich, m. a. F., von dem Gehorsam geredet, den der Erlöser in den Jahren seiner Jugend und Unmündigkeit gegen seine Eltern geübt, als von einer Vorbereitung zu dem Gehorsam, den er sein ganzes Leben hindurch geübt. So wie nun jenes eine beständige Vorbereitung war auf die Führung seines großen Berufs in dieser Welt, so hat man von jeher, und durch die eigenen Worte des Erlösers veranlaßt, in der christlichen Kirche auch diese Handlung, von welcher | der verlesene Text redet, als eine solche Vorbereitung des Erlösers auf seinen Beruf betrachtet, indem er nämlich zu Johannes dem Täufer ging, und sich von ihm taufen ließ. Es sind die Worte, welche der Herr selbst dem Johannes zur Antwort gab auf seine Weigerung, woraus wir allerdings sehen, daß er es für eine ihm obliegende Pflicht gehalten hat, diese Handlung zu vollziehen; denn sonst hätte er nicht sagen können, daß darin die Gerechtigkeit erst vollkommen könnte erfüllt werden. So laßt uns denn dies gegenwärtig zum Gegenstand unseres Nachdenkens und unserer andächtigen Betrachtung machen, was das für eine Pflicht und für eine Gerechtigkeit gewesen sei, welche der Herr dadurch er8–11 Vgl. oben 11. Januar vorm. über Lk 2,51
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füllte, daß er sich von Johannes taufen ließ? Es wird aber nothwendig sein, ehe wir die Frage selbst beantworten, daß wir zuvor einige falsche Ansichten, die gar leicht können über diese Sache gefaßt werden, aus dem Wege räumen, und dies wird also der Gang sein, den diese Betrachtung zu nehmen hat. | I. Wenn ich sage, m. a. F., daß wir erst müssen einige unrichtige Ansichten aus dem Wege räumen, welche sich gar leicht über diesen Gegenstand darbieten, so ist davon das Erste dies, daß man gar leicht glauben könnte, es sei etwas der Unwahrheit Ähnliches oder ihr nahe Verwandtes in dieser Handlung des Erlösers. Denn Johannes muß doch einen Grund gehabt haben, warum er ihm weigerte und es nicht zulassen wollte, daß Jesus sich von ihm taufen ließ, indem er sagt, ihm gebühre weit mehr von jenem getauft zu werden als umgekehrt. Nun wissen wir ja, wie auch anderwärts Johannes sich über den äußert, welchen im voraus zu verkündigen er gesandt war, daß nämlich der nach ihm komme größer sei denn er. So könnte man denken, es sei auch hier seine Meinung gewesen, ihm gebühre die Taufe zu empfangen von Jesu, weil dieser größer sei denn er, und daraus würde dann folgen, daß, indem Jesus sich von ihm taufen ließ, er sich dadurch das Ansehen gab, sich dem Johannes unterzuordnen, ihn als den größern, von dem er etwas empfangen könne, anzusehen, und in das Ver|hältniß des Schülers zum Meister gegen ihn zu treten. Allein wenn wir es näher erwägen, so sehen wir leicht, daß dies nicht der Fall gewesen sein kann. Denn weder hat Johannes in der spätern Zeit eben deswegen, weil Christus sich von ihm taufen ließ, sein Urtheil über ihn geändert und das Verhältniß beider gegen einander anders angesehen, sondern immer ist er dabei geblieben; daß er der Geringere sei, und er abnehmen müsse, Christus aber der Größere, dem gebühre zu wachsen, noch auch haben jemals die Feinde und Gegner des Erlösers, die so genau auf alle seine Worte merkten, es ihm zum Vorwurf gemacht, da er doch deutlich auf ähnliche Weise, wie Johannes, sich über ihr beiderseitiges Verhältniß äußert, wenn er nämlich sagt: Der Kleinste im Reiche Gottes sei größer als alle Propheten. Indem er nun sagt, auch der Kleinste im Reiche Gottes sei größer, denn Johannes, wie viel mehr stellt er sich selbst über ihn, der nicht der Kleinste war, sondern der Stifter und Gründer des göttlichen Reiches selbst. Wie würden also gewiß seine Gegner ihm hieraus einen Vorwurf gemacht haben, und ihn darauf zurück|gewiesen, daß er ja selbst von Johannes die Taufe empfangen, 15–17 Vgl. Mt 3,11; Mk 1,7; Lk 3,16; Joh 1,27 35 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28
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und daß er sich selbst für den Geringeren erklärt, sich für den Schüler und jenen für den Meister. Eben so wissen wir ja, wie der Erlöser von der ganzen Art und Weise des Johannes in seinem ganzen Leben abwich. Hätte er nun dadurch, daß er von ihm die Taufe empfangen, sich gleichsam ihm untergeordnet, so hätte er auch die Verpflichtung übernommen, ihn als sein Vorbild anzusehen. Und wenn die Pharisäer und Schriftgelehrten ihn zur Rede darüber setzten, daß die Jünger Johannes fasteten und alle Satzungen der Väter hielten, er aber und die Seinigen nicht, so würden sie ihren Vorwurf wohl anders eingerichtet haben, und ihm dabei zu erkennen gegeben, daß er ein Wortbrüchiger sei und seine übernommene Verpflichtung nicht erfülle. Hieraus sehen wir aufs deutlichste, daß darin, daß Christus sich von Johannes taufen ließ, keine Art von Unterordnung unter denselben gelegen hat, und daß diese Handlung auch von denen, die entweder selbst | daran Theil nahmen, oder unter deren Augen sie vorging, nicht auf diese Weise ist angesehen worden. Es wäre auch, wenn es nicht sich so verhielte, des Erlösers unwürdig gewesen, sich das Ansehen einer solchen Unterordnung zu geben unter den, über welchem er so hoch stand, und auch darin hat er uns ein Vorbild gelassen, dem wir nachkommen sollen. Den Ort, auf welchen Gott einen jeden gestellt hat, soll jeder heilig halten, von dem Rechte und der Würde desselben nichts vergeben und fallen lassen, weil menschliche Rechte und menschliche Würde immer ihre Kraft haben und an heilige Verpflichtungen gebunden sind, wie der Herr gewiß seine ganze Wirksamkeit würde geschwächt und untergraben haben durch eine solche verstellte Unterordnung; und um keines Zweckes willen, wie gut er auch scheinen mag, sollen wir je einer solchen Unwahrheit fröhnen, eben so wie wir sehen, wie weit der Erlöser von derselben entfernt war. – Allein man könnte | sagen, in der Geschichte von der Taufe Johannes wird gesagt, daß er gepredigt habe: „Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen,“ und daß alles Volk zu ihm hinausgegangen sei und ihm seine Sünden bekannt habe, und sich so von ihm taufen ließ. Wenn nun auch der Erlöser sich von ihm taufen ließ, hat er nicht dadurch sich als einen solchen bekannt, welchem auch Noth thue, seinen Sinn zu ändern, seine Sünden zu bekennen und durch das Bekenntniß und durch die Taufe sich von seinen Sünden zu reinigen? Wie hat also doch, der ohne alle Sünde war, hier sich den Andern gleich stellen können ohne eine Unwahrheit, die wir nicht im Stande wären uns von ihm zu erklären. Allein auch so kann die Sache, wenn wir sie genau nehmen, nicht angesehen werden, 33 als einen solchen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 230 6–9 Vgl. Mt 9,14; Mk 2,18; Lk 5,33
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und sie ist gewiß von den Zeitgenossen des Herrn auch nicht so angesehen worden. Dem strengen Prediger der Buße, indem man von ihm die Taufe empfangen | wollte, die Sünden zu bekennen, das kann bei Vielen ein innerer Drang des Herzens gewesen sein, und war dann löblich und recht; aber wir lesen nirgends, daß es etwas gewesen sei, was Johannes gefordert habe von denen, welche die Taufe von ihm empfingen, und so setzt also auch diese von Seiten des Erlösers kein Bekenntniß der Sünde oder etwas dem Ähnliches voraus. Wie würden auch sonst, als er dem Volke sich selbst darstellte als den, den niemand einer Sünde zeihen könnte, seine Gegner ihn darauf zurückgewiesen haben, daß, indem er die Taufe von Johannes empfangen, er sich ja selbst für einen sündigen Menschen bekannt habe, so gut wie alle andern es wären. So hat der Erlöser also auch gewiß dadurch, daß er die Taufe erhielt, ein solches unrichtiges Zeugniß nicht von sich abgelegt, und ist nicht gewesen das Vorbild irgend einer falschen, heuchlerischen und verstellten Demuth; und wie er sich davon | frei gehalten, so sollen auch wir uns davon freihalten. Freilich wir alle sind sündige Menschen, und auf eine solche Weise sind wir es, daß wir immer gestehen müssen ohnerachtet aller kräftigen Wirkungen des göttlichen Wortes, ohnerachtet aller Regungen des göttlichen Geistes und seiner Arbeit an unserem Herzen ist wohl kaum irgend etwas noch so Gottgefälliges in unserem Sinne und in unserem Leben, wovon die Spuren der Sünde ganz ausgetilgt wären. Aber demohnerachtet nun, indem wir nie aufhören Gott zu bitten, er solle uns auch die unerkannten Fehler verzeihen, indem wir nie aufhören ihn zu bitten, uns immer mehr zu erleuchten über das, was recht und wohlgefällig ist vor ihm, und unsern Weg uns immer mehr erhellt werden zu lassen durch das Licht seines Wortes, sollen wir doch niemals und nirgends unter keinem Vorwande nicht aus Menschenfurcht und nicht aus Menschengefälligkeit irgend etwas, was wir selbst noch für recht erkennen, für sündlich und unrecht erklären; denn | das würde ebenfalls heißen, dasselbe thun, was der Erlöser gethan hätte, wenn er sich für einen Sünder erklärt hätte, da er doch wußte, daß keine Sünde in ihm war, das würde ebenfalls heißen, das Gute verleugnen in uns, welches doch nicht unser eigen ist, sondern das Werk des göttlichen Geistes, das würde ebenfalls heißen, diesem nicht zur Ehre sondern zur Verunehrung uns selbst als solche darstellen, deren Herz nicht fest geworden wäre und deren Überzeugung über das Richtige und Unrichtige in ihren eigenen Handlungen in jedem Augenblick könne wankend gemacht werden. Wenn wir nun also diesen Gedanken auf jede Weise müssen bei Seite legen, als ob irgend eine Unwahrheit in dem Erlöser gewesen 9–10 Vgl. Joh 8,46
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wäre, als er hinging sich von Johannes taufen zu lassen: so dringt sich uns dagegen desto leichter der andere auf, als ob dies eine leere Handlung gewesen wäre, als ob der Erlöser einen Gebrauch mitgemacht hätte, der für ihn gar keinen | Sinn und gar keine Bedeutung gehabt hätte. M. g. F., das würde wahr sein, wenn die Sache so gestaltet wäre, daß die Taufe des Johannes wirklich etwas gewirkt hätte, was aber bei dem Erlöser oder für ihn nicht nöthig gewesen wäre zu bewirken, so daß sie also für ihn nichts gewesen wäre, indem sie für die Andern etwas Wirksames war. Aber sie vermochte keine Vergebung der Sünde zu bewirken auch in Andern nicht, denn sonst wäre Johannes mehr gewesen als nur der Vorläufer des Erlösers, und der Herr hätte nicht von ihm sagen können, daß der Geringste im Reiche Gottes, wo nämlich er es allen insgesamt zur Pflicht gemacht und allen das Recht gegeben hat, Sünden zu behalten und zu vergeben, daß der Geringste größer wäre denn er. So also war es nicht mit der Taufe Johannes; sie hatte auch in Andern keine Kraft, die sie in dem Erlöser nicht hätte ausüben können. Aber es würde freilich noch dasselbe sein, wenn von allen wäre geglaubt worden, daß sie etwas bewirke, wie wohl irriger [Weise]; | der Erlöser aber hätte wohl gewußt, daß sie dies [nicht] bewirke, sie aber doch in dieser Beziehung mitgemacht und empfangen. Auch dann hätte er sich allerdings den Vorwurf zugezogen, etwas ganz Leeres und Bedeutungsloses verrichtet zu haben. Allein auch das ist der Fall nicht gewesen. Denn wenn die Menschen geglaubt hätten durch die Taufe Johannis schon Vergebung ihrer Sünden zu empfangen, so wäre es des Erlösers erste Pflicht gewesen, sie von diesem Glauben, der in der That falsch war, zuvor zu befreien, [und es wäre auch seiner Jünger erste Pflicht gewesen,] ehe sie dieselben einluden im Namen Jesu Vergebung zu suchen und zu finden. Da sie aber das nicht gethan haben, da der Erlöser hierüber nirgends ein berichtigendes Wort gesprochen hat, so können wir deutlich sehen, daß sei auch die Meinung der Menschen nicht gewesen. Gewiß, m. g. F., leere und bedeutungslose Gebräuche sind von jeher das Verderben der Menschen gewesen, und ganz besonders in den heiligen Angelegenheiten ihres Verhältnisses | zu Gott. Wie viel Heuchelei auf der einen Seite, wie viel Aberglauben auf der andern ist nicht immer aus dieser Quelle entstanden. Ja ein großer Theil von dem Verderben, in welches die christliche Kirche gerathen war durch die Verunstaltung des göttlichen Worts, durch die Verdrehung der christlichen Lehre, durch die Trübung und Verunreinigung eines wahrhaft christlichen Lebens und einer wahrhaft christli24 Johannis] Johannes 12.14–15 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28
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chen Gesinnung, woraus wir durch die Verbesserung der Kirche gerettet sind, ein großer Theil dieses Verderbens war in jener Geneigtheit der Menschen gegründet, in leeren Handlungen etwas zu finden. Aber das ist eben die Sache, daß die Taufe des Johannes, wiewohl sie nichts bewirkte, auf der andern Seite doch nichts Bedeutungsloses war, sondern eine von jenen bedeutsamen Handlungen, die selbst aus dem tiefsten Gefühl des Herzens, aus der Innigkeit der Überzeugung hervorgehen, und die uns selbst und Andern zu einem lebendigen Zeugniß | dienen von dem, was in uns ist oder gewesen ist, kräftiger und lebendiger als das gar zu leicht verschwindende und vorübergehende Wort. Und das ist es, was uns auf den zweiten Theil unserer Betrachtung führt, wovon wir werden ausgehen müssen, um uns die eigentliche Frage, um die es sich handelt, zu beantworten, nämlich welche Gerechtigkeit denn der Herr erfüllt hat dadurch, daß er sich von Johannes taufen ließ. II. Zuerst nun war es die, daß er seine Übereinstimmung mit ihm aussprach zunächst in dem Grundsatz, auf welchem die ganze Verkündigung des Johannes beruhte, daß nämlich auch diejenigen, welche Abrahams Geschlecht wären, um in das nahe herbeigekommene Reich Gottes einzugehen, erst einer Änderung ihres Sinnes bedürften. Das sollten diejenigen anerkennen, welche sich von ihm taufen ließen, indem das Untertauchen in dem Wasser ein Sinnbild war von dem Abwaschen der Sünde; sie sollten also dadurch anerkennen, daß auch die Nachkommen Abrahams | einer solchen Abwaschung bedürften, und daß ohne die Änderung des Sinnes auch sie eben so wenig als irgend einer Theil haben konnten an dem geistigen Reiche Gottes. Zu diesem Grundsatz nun wollte der Erlöser sich auch bekennen offenkundig vor aller Welt, und darum ließ er sich von Johannes taufen, nicht um dies zu bezeugen für seine eigene Person, daß auch er einer Änderung des Sinnes bedürfe, und daß auch er müsse gewaschen werden von irgend etwas Sündlichem und Verkehrtem, sondern er kam als ein Mitglied seines Volkes, um sein Zeugniß über dasselbe dadurch abzulegen, er kam hin als einer, der auch war von dem Geschlechte Abrahams, und der nicht in seinem eigenen, aber in dem gemeinsamen Gefühl, daß er diesem Volke und diesem Geschlechte angehöre, auch das in sich empfand, was demselben noch fehlte, und noch erst gegeben werden müsse um in das Reich Gottes einzugehen. Und sehet da, m. g. F., 4 des] Ergänzung aus SAr 86, Bl. 8r 19–21 Vgl. Mt 3,8–9; Lk 3,8
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gewiß war es des Erlösers würdig, und es war eine heilige Pflicht, daß er dies vor allem Volke bekannte noch ehe er | selbst auftrat als Lehrer und Verkündiger des Reiches Gottes, und daß er diese seine Übereinstimmung mit dem Johannes erklärte. Denn so war damals das ganze Volk getheilt, Einige von der Hoffnung beseelt, auf welche sich die Verkündigung des Johannes gründete, Andere gleichgiltig dagegen, und von den Ersten wiederum Einige aus vollem Herzen dem beistimmend, was, durch die Stimme Gottes belehrt, aus dem Innersten seines Herzens heraus Johannes von der allgemeinen Sündhaftigkeit auch des Volkes Gottes zeugte und lehrte; Andere dagegen noch immer stolz auf den Vorzug der Abstammung, noch immer sich verlassend auf den Buchstaben der göttlichen Verheißung, ohne das zu thun, wodurch allein sie fähig wurden, daß die Verheißung an ihnen konnte in Erfüllung gehen. In solchen Zeiten nun, wo über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschen eine große Spaltung herrscht, in der menschlichen Gesellschaft, da geziemt es grade und gebührt einem jeden, | der in sich selbst fest geworden ist, und der irgend etwas, sei es wenig oder viel, wirken zu können glaubt unter den Menschen und auf sie, es geziemt einem jeden seine Überzeugung nicht in seiner Brust zu verschließen, nicht um sich her streiten zu lassen über das Wahre und Falsche, über Recht und Unrecht ohne auch sein Wort darüber zu reden, daß die Menschen wissen können woran sie sind, denn dadurch würde er sie unsicher machen über sich selbst und seiner Wirksamkeit auf sie sich entgegenstellen; sondern offen herauszutreten mit seiner Überzeugung durch Worte und That, so wie es der Erlöser, ehe er noch seine Stelle in der menschlichen Gesellschaft eingenommen hatte, dadurch that, daß er die Taufe des Johannes empfing. Aber nicht nur zu diesem Grundsatz bekannte sich der Erlöser, sondern er übernahm allerdings auch eine Pflicht, welche alle diejenigen übernahmen, welche sich von Johannes taufen ließen. Nämlich wenn Johannes lehrte und aufforderte zu der Buße und zu der Sinnesänderung, deren auch die Kinder Abrahams | bedurften, so that er es in der Beziehung, daß das Reich Gottes, wozu eine solche Sinnesänderung nothwendig sei, nun nahe bevorstehe und sich bald zeigen werde. Die nun also sich von ihm taufen ließen und eben dadurch bekannten, auch sie glaubten an die Nothwendigkeit einer solchen Sinnesänderung, die bekannten zugleich, daß sie es thaten in Beziehung auf das bevorstehende Reich Gottes in dem Glauben, daß der Herr nun nicht länger zögere, daß seine theuern Verheißungen bald würden in Erfüllung gehen. Wie konnte jemand dies bekennen, ohne zugleich sich selbst zu verpflichten, wenn das Reich Gottes da sein werde, sich auch an dasselbe anzu30–32 Vgl. Mt 3,8–9; Lk 3,8
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schließen mit dem erneuerten Sinne, den Johannes forderte, sich demselben ganz zu weihen und hinzugeben, und für seine Verbreitung und Befestigung alles zu thun und zu leiden. Diese Verpflichtung übernahmen eigentlich alle, die sich vom Johannes taufen ließen, dem Reiche Gottes, dessen Nähe er verkündigte, sich anzuschließen, sobald es da sein werde, diese Verpflichtung übernahm also auch der Erlöser. | Konnte er denn aber auch das, möchte man fragen, da er doch nicht darauf wartete, nicht sich an dasselbe anschließen sollte, sondern es selber herbeiführen und gründen, da er nicht einer war, der demselben dienen konnte auf irgend eine einzelne Weise, sondern der Mittelpunkt und das innerste Herz und Leben desselben. O, m. g. F., hier sehen wir eben und erkennen, wie der Erlöser, der, wie wohl er der eingeborne Sohn Gottes war und die Fülle der Gottheit in ihm wohnte, doch nachdem er einmal Fleisch und Blut an sich genommen hatte und der menschlichen Natur theilhaftig geworden war, sich nicht scheute uns alle seine Brüder zu nennen. Ihm galt das gleich, sich anschließen an das Reich Gottes und dasselbe selbst herbeiführen. Auch er that ja nichts anderes, indem er es gründete und den Menschen brachte, als den Willen seines Vaters, denselben und auf dieselbe Weise thun auch alle die, welche, nachdem er aufgetreten war und die Menschen zu sich einlud, und sie in das Reich Gottes einzugehen lockte, ihm folgten, ihn erkannten und sich an ihn anschlossen. Ja noch mehr in der Zeit, wo er sich von Johannes taufen ließ, da wartete | er selbst noch des Reiches Gottes, seine Stunde, wie wohl sie nahe bevorstand, war noch nicht gekommen, er bedurfte noch eines besondern göttlichen Rufes, wann er anfangen sollte um das Volk von dem Reiche Gottes zu belehren. So war er denn wirklich in demselben Falle, und indem er die Taufe empfing, so war dies das Gelübde, welches er ablegte, sobald der letzte Ruf Gottes an ihn ergangen sei, sobald die Stunde des Anfangs seines Werkes geschlagen habe, auch dann nicht zu versäumen, was ihm obliege zu thun, und das Reich Gottes zu begründen, so wie alle, die sich von Johannes taufen ließen, auch bekannten, wenn die Stunde würde da sein, daß das Reich Gottes gegründet worden sei, auch alles zu thun, was ihnen oblag, um dasselbe zu erhalten und zu befestigen. M. g. F., auch darin nun ist uns der Erlöser ein Vorbild geworden. Schön ist es in der tiefen Stille des Herzens dem Herrn sein Gelübde zu geben, schön ist es sich in seinem Innersten des Entschlusses bewußt zu sein, niemals dem | Werke Gottes zu fehlen, niemals aus irgend einem Vorwande sich zu weigern, wenn der Herr etwas fordern sollte, aber noth1 forderte,] forderte; 13 Vgl. Kol 2,9
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wendig ist auch und eben deswegen eben so schön, laut zu verkündigen, was in dem Innern des Herzens wohnt, sich selbst nicht nur, sondern auch die, denen ebenfalls daran gelegen ist, daß der Wille Gottes erfüllt werde, zu verpflichten und immer wieder auf’s neue zu verpflichten zur Treue in seinem Werke. Das thun wir alle und folgen darin dem Beispiele unseres Erlösers, so oft wir uns öffentlich als Jünger des Herrn und als Mitglieder seiner Gemeine bekennen. Indem nun aber der Herr so seine Übereinstimmung bekannte mit den Grundsätzen, die Johannes predigte, und mit der Verpflichtung, die er auflegte, so that er zweitens auch das, daß er seine ganze Wirksamkeit auf Erden, wie sie bald angehen sollte, anschloß an etwas schon Bestehendes, an etwas unter den Menschen Begründetes und in der äußern That Hervorgetretenes. Und so sollte es sein | und nur auf eine solche Weise konnte er, wie er war und sein mußte[,] sein großes Werk vollbringen. Derjenige, der das Reich Gottes stiften sollte auf Erden, aber doch einer sein sollte, dessen Geschrei man nicht hörte auf den Gassen, und der nie das noch glimmende Tocht auslöschte und nie das geknickte Rohr zerbräche, der konnte und durfte nicht auftreten wie einer, der, wenngleich auf göttlichen Ruf, doch ohne allen Zusammenhang mit demjenigen, was schon da ist etwas ganz Neues gründet, denn das kann nie abgehen ohne zu stören und ohne Verwirrung und Verderben anzurichten. Die stille und reine Wirksamkeit des Herzens, mit welcher der Erlöser öffentlich auftrat, die mußte sich anschließen an das, was schon da war, darum ging er auch nicht eher hinaus sich von Johannes taufen zu lassen, bis schon der größte Theil des Volkes die Taufe von ihm empfangen hatte, und diese seine Verkündigung sowohl als auch die Verpflichtung, die er auflegte, etwas von dem größten Theil des Volkes Anerkanntes war. Darum trat er auch selbst nicht eher auf zu lehren und sich Jünger zu sammeln und das kleine Häuflein einer Gemeine | Gottes zu stiften, bis er die Taufe empfangen und sich dadurch an das, was als ein göttlicher Ruf unter der Menge seines Volkes schon bestand, anschließen konnte. Und das, m. g. F., das ist unstreitig bei weitem das Wichtigste in dieser seiner vorbereitenden Handlung, denn es entwickelt uns zugleich die ganze Art und Weise seiner Wirksamkeit auf die Menschen und zeigt uns den Weg, den er sich selbst gesetzt hatte. Wie könnten wir aber anders als eben darin den Weg Gottes erkennen und desselben Weges unter allen Umständen zu wandeln uns auf das strengste vornehmen, und uns dadurch zu ihm verpflichten. So, m. g. F., so war es ebenfalls mit Johannes gewesen, ihn sonderte freilich Gott der Herr aus durch einen eigenen innern Beruf, den er ihm gegeben hatte. Aber wie der Herr nicht 16–18 Vgl. Jes 42,2–3 (zitiert in Mt 12,19–20)
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eher erschien als bis die Zeit erfüllet war, so auch sonderte der Höchste den Johannes nicht eher aus, als bis die Hoffnung, daß das Reich Gottes gekommen, daß die Zeit erfüllet sei, schon wieder lebendig und rege geworden | war in dem Volke; aus dieser durch das ganze Volk zerstreuten und auch in dem Zustande des tiefsten Verfalls nie ganz erloschenen Hoffnung ging er hervor um seine Zeitgenossen zu sammeln zur Annahme des Reiches Gottes. Und an diese seine Verkündigung eines nahe bevorstehenden Reiches Gottes schloß sich wieder der Erlöser an, und eben so machten es hernach seine Jünger. Er blieb allerdings für seine Person nur unter den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel, zu diesen aber gehörte eine große Menge von Menschen, die in dem engen Raume des jüdischen Landes nicht zu finden waren, und darum mußten seine Jünger sich zerstreuen; aber überall gingen sie zuerst zu denen, die das erste Anrecht hatten an die Verkündigung des Evangeliums, und nur dies, daß sich überall an die jüdischen Schulen aus den Heiden die besser Gesinnten schon angeschlossen hatten, die sich freuten aus der Verirrung der Vielgötterei | errettet zu sein und den einigen Gott gefunden zu haben, in welchem wir leben, weben und sind, nur in so fern kam auf diesem geebneten und gebahnten Wege das Evangelium zuerst an die Heiden. Johannes, m. g. F., eben so wenig als er etwas ursprünglich Neues brachte, so ging er auch nicht etwa zurück auf eine längst vergangene Zeit, wo der Herr Propheten aussandte unter sein Volk, sondern er erklärte es selbst streng und ausdrücklich, er sei kein Prophet, sondern eine Stimme, die ausspräche, was die Herzen der Menschen am tiefsten bewegte. Und so auch der Herr stützte sich nicht etwa auf längst vergangene Zeiten und wollte wiederbringen, was in denselben gewesen war und wiederholen, was sich Gutes und Ausgezeichnetes in denselben erwiesen hatte, sondern er schloß sich auch an das, was ihm vorlag, was ihm gegeben war, und dadurch suchte er hervorzubringen, was Gott ihm aufgetragen hatte. Das, m. g. F., ist der Weg das Gute zu fördern, der gleich | weit entfernt ist von trauriger Zerstörung und von falscher Neuerung, und Gott der Herr wird es nie fehlen lassen, daß wir diesen Weg nicht gehen könnten. Er ist kein Irrweg, der sich, ehe man sich versieht, in die Wüste verliert, sondern er ist die große geebnete Bahn des menschlichen Geistes, er ist das ewige Gesetz, welches der Herr selbst gegeben hat, und von welchem die Menschen niemals ohne ihr Verderben weichen können. Mit einem geöffneten Auge, um überall die Spuren der göttlichen Führungen zu sehen und das Gute von dem Bösen, das Wahre 7 an] dann
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von dem Falschen zu unterscheiden, mit einem Herzen voll Liebe, welches sich sehnt das Gute und Wahre zu ergreifen und zu sammeln: so wird es uns nie fehlen überall, wohin uns der Herr gestellt hat, in demjenigen, was uns begegnet, auch die Mittel zu finden für das Werk, welches uns anvertraut ist, und in dem Kreise unseres Lebens viel Gutes zu finden, woran wir unsere eigenen Be|strebungen anknüpfen können, und eben so wie der Erlöser still und geräuschlos[,] aufmerksam auf das, was in dem Herzen der Menschen schon rege ist für das Reich Gottes, an welches wir uns anschließen sollen, für dieses heilige Reich in Liebe verbunden zu wirken, und für dasselbe als ein unvergängliches, still sich entwickelndes und sein Ziel nie verfehlendes auch nach unseren Kräften zu wirken. Ja so, m. g. F., laßt uns überall dem Herrn nachfolgen sowohl in demjenigen, was sich auf das Beste seiner Kirche und seiner Gemeine besonders, als auch in allem, was sich auf das Große und Bedeutende in menschlichen Angelegenheiten bezieht: dann werden wir wahrhaft seine Jünger sein, und uns nie den Vorwurf zu machen haben, daß wir abgewichen wären von dem Wege, den er uns selbst in Treue, in Demuth und Einfalt, aber auch in heller und reiner Wahrheit und mit unerschütterlichem Muthe gezeigt hat. Amen.
[Liederblatt vom 25. Januar 1824:] Am dritten Sonntage n. Epiph. 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Zeuch meinen Geist etc. [1.] Mein Gott, ach lehre mich erkennen, / Wer Jesu Jünger sei zu nennen; / Und wirk in mir zu deinem Ruhm / Das ächte wahre Christenthum. // [2.] Hilf, daß ich dir mich ganz ergebe, / Daß ich mir sterb’ und dir nur lebe! / Vom Eigenwillen mich befrei, / Und mach in mir, Herr, alles neu. // [3.] Entreiße du mein Herz der Erden, / Laß einen Geist mit dir mich werden; / Nimm mich zu deinem Opfer hin, / Und gieb mir meines Jesu Sinn. // [4.] Regiere, Vater, meine Seele, / Daß ich den schmalen Weg erwähle, / Dem Heiland folge treulich nach, / Und Ehre such’ in Christi Schmach. // [5.] Verleih mir zur Entsagung Kräfte, / Daß ich an Christi Kreuz mich hefte, / Daß mir die Welt gekreuzigt sei, / Und dir allein ich bleibe treu. // [6.] Stärk’ in mir Glauben, Hofnung, Liebe, / Und gieb, daß ich sie thätig übe; / Daß ich, entfernt von Heuchelei, / Ein wahrer Jünger Jesu sei. // [7.] Gieb daß ich so auf dieser Erde / Des Christen Namens würdig werde; / Und wirk’ in mir zu deinem Ruhm / Das ächte wahre Christenthum. // Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Auf dich mein Heiland aufzusehen, / So wie du warst, gesinnt zu sein, / Auf deiner Bahn dir nachzugehen, / Der Menschen Wohl sich ganz zu weihn, /
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Das hast du denen, die dich lieben, / Als Pflicht aus Liebe vorgeschrieben. / Wie heilig ist nicht diese Pflicht! / Wenn jeder ihr getreu nur lebte, / Dir eifrig nachzufolgen strebte: / Was wäre dann die Erde nicht! // [2.] Entflammt war deine ganze Seele / Von reiner Liebe gegen Gott; / War seinem heiligen Befehle / Gehorsam bis zum Kreuzestod. / Du suchtest nur des Vaters Ehre; / Im Tempel war sie deine Lehre, / Du offenbartest sie der Welt. / Den Schöpfer aller Creaturen / Verkündigest du auf den Fluren / Als den, der alles trägt und hält. // [3.] Wie eifrig warst du seinen Willen / Als Bürger und als Unterthan, / Als Sohn, als Bruder zu erfüllen / Auf deiner ganzen Lebensbahn! / Als Freund, wie zärtlich gegen Freunde! / Verfolgt, wie duldend gegen Feinde! / Für aller Wohl schlug deine Brust. / Dir war es Freude, Gram zu lindern, / Mit Freundlichkeit auch selbst in Kindern / Den guten Saamen auszustreun. // [4.] Du gingest den verlornen Schaafen / Voll Sorgsamkeit und Liebe nach, / Voll Sanftmuth und voll Ernst in Strafen, / Wenn Gottes Eifer aus dir sprach. / Du kämpftest, Wahrheit zu verbreiten / Und alle zu dem Heil zu leiten, / Das nicht mit Welt und Zeit vergeht. / Entzogest du dich dem Getümmel; / So war die Einsamkeit dein Himmel, / Dein Geist beim Vater im Gebet. // [5.] Wie du gesinnt zu sein, zu handeln, / Ist deiner Schüler höchste Pflicht. / Der muß nach deinem Vorbild wandeln, / Der von Verehrung Christi spricht. / Dann wird zum Fleiß in guten Werken / Uns göttlich der Gedanke stärken, / Daß wir des Vaters Willen thun; / Und daß sein heilig Wohlgefallen, / Sein Geist und Segen auf uns allen / Hier und im Himmel lohnend ruhn. // (Jauersch. Gesangb.) Nach der Predigt. – Mel. Ich ruf zu dir, Herr etc. Gieb daß mit herzlicher Begier / Ich fest an dir stets hange, / Entzünd mein Herz, daß ich nach dir, / Nach dir, mein Heil, verlange. / In jeder Seelennoth laß mich / Bei dir Erbarmung finden, / Trost empfinden, / Und endlich Herr durch dich / In allem überwinden. //
Am 1. Februar 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
4. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 4,1–10 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 232–248; Andrae (Titelblatt der verloren gegangenen Druckvorlage in SAr 105, Bl. 86v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 157r–157v; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 88v–96v; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium Liederangabe (nur in SAr 105)
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Am 4. Sonntage nach Epiphanias 1824. Tex t. Joh. 4, 1–10. Da nun der Herr inne ward, daß vor die Pharisäer gekommen war, wie Jesus mehr Jünger machte und taufte, denn Johannes, wiewol Jesus selber nicht taufte, sondern seine Jünger, verließ er das Land Judäa und zog wieder in Galiläam. Er mußte aber durch Samariam reisen. Da kam er in eine Stadt Samariä, die heißt Sichar, nahe bei dem Dörflein, das Jakob seinem Sohne Joseph gab. Es war aber daselbst Jakob’s Brunnen. Da nun Jesus müde war von der Reise, sezte er sich also auf den Brunnen; und es war um die sechste Stunde. Da kommt ein Weib von Samaria Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr, Gieb mir zu trinken; denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, daß sie Speise kauften. Spricht nun das samaritische Weib zu ihm, Wie bittest du von mir zu trinken, so du ein Jude bist und ich ein samaritisches Weib? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. Jesus ant|wortete und sprach zu ihr, Wenn du erkennetest die Gabe Gottes, und wer der ist, der zu dir sagt, Gieb mir zu trinken, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser. 0 SAr 105, Bl. 86v: „Lieder 337; 348, 6 und 7“. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, „Jesus ist mein Freuden-Leben“ (Melodie von „Ach! Was soll ich Sünder machen“); „O Jesu! Jesu! Gottes Sohn“ (Melodie von „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“)
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Das erste, m. g. Fr., was wir hier gelesen haben, Als nun der Herr inne ward, daß vor die Pharisäer gekommen war, wie er mehr Jünger machte und taufte, denn Johannes, bezieht sich darauf, was wir in dem vorigen Capitel vernahmen, daß ein Streit entstand unter den Jüngern Johannis und den Juden über die Reinigung, und bei der Gelegenheit von Jesu die Rede war, daß er nun auch taufe und jedermann zu ihm komme, und Johannes das Zeugniß ablegte, welches wir neulich mit einander erwogen haben. Hievon also hatte der Herr gehört, und da die Frage über die Reinigung nur ein Streit sein konnte in Beziehung auf die pharisäische Ausübung derselben: so ist leicht zu denken, daß eben von diesem Streite auch eine Nachricht wird zu den Pharisäern gekommen sein, und so erfuhren sie denn das, was die Jünger Johannis geredet hatten, und worüber sie sich einen Aufschluß erbeten hatten von ihrem Meister, ob es recht sei oder ob nicht, und ob sie es leiden sollten oder nicht, daß Jesus nun selbst taufe und einen größeren Zulauf bekomme als Johannes. Das war also vor die Ohren der Pharisäer gekommen; und nun erzählt Johannes, Als Jesus dies nun inne ward, da verließ er das Land Judäa und ging wieder in Galiläam. Es gab ihm also dies die Veranlassung seinen Aufenthalt zu verändern. Wiefern ihn das eigentlich dazu veranlaßte, und wie wir uns das zu erklären haben, das mag wol so sein. Es mußte schon damals bekannt geworden sein, daß Jesus seinen Jüngern nicht gebot alle die weitläuftigen Geseze und Sazungen der Väter zu halten, welche die Pharisäer hielten. Je mehr nun er und | seine Jünger tauften, und je größer die Zahl seiner Schüler wurde, desto mehr Abbruch geschah natürlich jener pharisäischen Ausübung der väterlichen Sazungen. Denn es war leicht zu denken, daß diejenigen, die sich überhaupt von Jesu taufen ließen, auch dadurch der größern Freiheit der Lehre und des Lebens sich hingaben. Daher war es natürlich, daß ein Eifer der Pharisäer gegen ihn entstehen mußte, und daß daraus auf der einen Seite Streit zwischen ihm und den Pharisäern, auf der andern auch, wie sich schon vorher gezeigt hat, Streit zwischen denen, die ihm angehörten, und zwischen den Jüngern des Johannes, die noch die Sazungen der Väter beobachteten, entstand. Welches von beiden nun mehr ihn veranlaßt, seinen Aufenthalt zu ändern, ist nicht deutlich, wiewol Johannes es mehr auf das Verhältniß zu den Pharisäern bezieht. Wenn wir aber fragen, wie dies den Herrn veranlassen konnte, seinen Aufenthalt zu ändern, so muß dies doch recht gewesen sein; es erscheint doch aber auf den ersten Augenblikk nicht so, weil es ein aus 22–23 weitläuftigen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 1473 4–7.12–16 Vgl. Joh 3,25–26
7–8 Vgl. oben 18. Januar früh über Joh 3,31–36
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dem Wege gehen war, und zwar dem ging er aus dem Wege, dem er doch nicht entgehen konnte. Denn was er hier vermeiden wollte und wirklich vermied, das fand er in Galiläa wieder. Denn die Erzählungen der andern Evangelisten, die sich mehr mit demjenigen beschäftigen, was der Herr in Galiläa gethan, und was ihm daselbst begegnet ist, sind voll davon, wie sich an seine Nichtbeobachtung der pharisäischen Sazungen die Pharisäer stießen und ihm deshalb Nachstellungen bereiteten, und wie seine Handlungsweise und seine ganze Lebensart, die nicht so streng war als die ihrige, sich nicht zeigen konnte ohne sich ihren Tadel zuzuziehen, und wie er sich deshalb genöthigt sah ihnen tapfer entgegenzutreten. Wenn er dem doch einmal nicht entgehen konnte, und der Streit nothwendig war, um den Unterschied zwischen den Sazungen der Menschen und zwischen dem göttlichen Gesez ins Licht zu stellen: warum verändert der Herr seinen Aufenthalt, da es ja doch ungewiß war, | ob er dadurch etwas gewinnen würde? Bei andern Gelegenheiten sehen wir doch, daß der Erlöser nichts von dieser Art, keinen Streit und keine Verfolgung, wie gefährlich sie ihm auch werden konnten, gescheut hat. Denn als er zum lezten Mal auf das Fest zu Jerusalem ging, da sagte er vorher, was ihm daselbst begegnen würde, und doch hielt ihn dies nicht ab hinzugehen. Und bei einer andern Gelegenheit, als ihm gesagt wurde, daß Herodes ihm nach dem Leben trachte, da sagte er denen, die ihm dies hinterbrachten, antwortet ihm, Siehe ich mache gesund heut und morgen, und am dritten Tage werde ich ein Ende nehmen. Hier aber ändert er seinen Aufenthalt, indem er von Judäa nach Galiläa geht, weil vor die Pharisäer gekommen war, daß er mehr Jünger machte, denn Johannes. Dabei müssen wir zuerst bedenken, nach Jerusalem auf das Fest zu gehen, das war, wie er in die Welt gekommen war und unter das Gesez gethan, seine Pflicht, und dieser hat er sich niemals entzogen oder entziehen wollen, um keiner Ursache willen, auch nicht um seines Lebens zu schonen und seine Wirksamkeit unter den seinigen, wie theuer sie ihm auch war, länger fortzusezen. Und eben so sehen wir aus andern Beispielen, daß, wo ihm etwas bestimmtes oblag, er auch die drohende Gefahr nicht scheute. Auf der andern Seite aber sehen wir, daß für seinen Beruf zu verkündigen, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, die Menschen einzuladen zur Theilnahme an diesem Reiche und seine Jünger vorzubereiten auf ihre Sendung unter das menschliche Geschlecht, daß sie nämlich hingehen sollten und die Menschen auffordern, sich auf seinen Namen taufen zu lassen, wir sehen, sage ich, daß ihm für diesen Beruf jeder Theil des jüdischen Lan18–20 Vgl. Mt 20,17–19; Mk 10,32–34; Lk 18,31–33 38–39 Vgl. Mt 28,19
21–24 Vgl. Lk 13,31–32
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des – denn er war für seine Person ja | nur gesandt zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel – gleich war. War er nun hier an nichts bestimmtes gewiesen, sondern auf der andern Seite jede Stätte, wo er den Willen seines himmlischen Vaters erfüllen konnte, ein Aufenthalt für ihn in den verschiedenen Gegenden des Landes; mußte ihn jedes Fest doch wieder nach Judäa zurükkführen: so können wir auch denken, daß eine minder bedeutende Veranlassung ihm die Ursache gegeben hat zu einer solchen Veränderung. Das, m. g. Fr., sind die Fälle im menschlichen Leben, wo keiner anders als aus seinem eigenen Gefühl entscheiden kann, und es ist gewiß nicht umsonst, daß uns solche auch erzählt sind aus dem Leben des Herrn. Daß bei ihm keine Feigherzigkeit irgend einer Art zum Grunde gelegen hat, dafür zeugt sein ganzes Leben. Wenn nun bisweilen ein Umstand anderer Art, eine Festlichkeit, zu der man ihn geladen hatte, wie uns dies der Evangelist in dem zweiten Capitel erzählt hat, ihn veranlaßt aus einer Gegend zu gehen, um zur bestimmten Zeit in einer andern zu sein, so konnte auch etwas von anderer Art – und zwar wird es am natürlichsten und am besten sein, wenn wir auf das zwiefache Verhältniß sehen, worin er auf der einen Seite zu den Pharisäern und auf der andern zu dem Johannes selbst stand – so konnte auch dies ihm eine Veranlassung geben zu der bemerkten Veränderung seines Aufenthaltes. In dieser Hinsicht heißt es auch, Die Erde ist überall des Herrn, und so konnte der Herr sagen, überall in dem Umfange des Landes, welches sein Volk bewohnte, sei für ihn der rechte Ort um den großen Beruf zu erfüllen, den der Vater ihm gegeben hatte, und er war in dieser Hinsicht nicht an eine einzelne Gegend oder an bestimmte Verhältnisse gebunden. Wenn also irgendwo Hindernisse entstanden waren, die ihm entgegen treten konnten und seine Ruhe und seine Wirksamkeit gefährdet hätten, so war dies ein voller Grund | für ihn den einen Ort zu verlassen und einen andern zu suchen, eben so wie er seinen Jüngern die Regel giebt, wenn eine Stadt sie nicht aufnehmen wollte, so sollten sie den Staub von ihren Füßen schütteln und in eine andere gehen. Nächst dem aber wird gesagt, Jesus selbst habe nicht getauft, sondern nur seine Jünger, und da dies für die ganze Erzählung, deren Einleitung die Worte sind, die wir jezt betrachtet haben, von gar keiner Wichtigkeit und Bedeutung ist, so sehen wir, Johannes hat absichtlich für seine Leser bemerken wollen, daß der Herr nicht getauft habe. Wir finden eine ähnliche Aeußerung in einem der Briefe des Apostels Pau1–2 Vgl. Mt 15,24 14–15 Vgl. Joh 2,1–11 1Kor 10,26) 30–33 Vgl. Mt 10,14; Lk 9,5
22–23 Vgl. Ps 24,1 (zitiert in
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lus, wo er nämlich sagt, es freue ihn, daß er da und dort nicht mehr getauft habe als diesen und jenen; er sei auch nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen. Beides, sowol diese als jene, ist schon dieselbe Taufe, die wir als eine göttliche Gnadengabe noch jezt in der christlichen Kirche haben, und die wir als einen von dem Herrn selbst eingesezten und mit besonderen Verheißungen und Segnungen versehenen Gebrauch auch für einen großen Schaz achten, und das mit großem Recht. Demohnerachtet finden wir bei uns ein umgekehrtes Verhältniß. Das Evangelium verkündigen kann unter uns unter gehöriger Aufsicht und Leitung auch derjenige schon, der noch nicht zu einem ordentlichen Diener des Wortes geweiht ist, das Sakrament aber austheilen und taufen auf den Namen des Herrn, das kann nur dieser. Wenn aber Paulus sagt, Ich bin nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen, so hat er gewiß das leztere als etwas größeres und wichtigeres angesehen; und wenn Johannes erzählt, Jesus habe nicht selbst getauft, sondern das hätten seine Jünger gethan, er aber hat überall gewiß zu dem Volke geredet und geprediget von dem Reiche Gottes, welches er stiften wollte: so hat er gewiß diese Verkün|digung als das größere sich vorbehalten und jenes als das untergeordnete und minder wichtige seinen Jüngern überlassen. Wie reimen wir nun diese unsere Sitte und unsere Achtung gegen die Sakramente mit dem, was hier der Erlöser und seine Apostel nach ihm gethan, und was uns um so mehr auffallen muß, je reiner eben diese Achtung ist? Die Taufe, m. g. Fr., ist dieselbe, aber die Verkündigung des Wortes ist nicht mehr dieselbe. Denn wenn Paulus und die übrigen Apostel des Herrn reiseten, um das Evangelium zu verkündigen, so thaten sie das zu solchen, die das Wort des Herrn noch nicht gehört hatten. Ja wenn wir auch sehen auf ihre Thätigkeit in den schon gestifteten Gemeinen, so war es doch etwas anderes, diesen das Wort und die Lehre des Herrn ans Herz zu legen und sie zu prüfen, ob sie es auch rein und richtig aufgefaßt hätten, ob sie auch das wesentliche von dem zufälligen zu unterscheiden wüßten, das war etwas anderes, als die Verkündigung des göttlichen Wortes unter uns ist. Denn wir, die wir dasselbe verkündigen, wir reden nicht zu den andern Christen als wüßten sie es nicht, sondern wir betrachten es als einen gemeinsamen allen angehörigen Schaz, und eine solche Ungleichheit und einen solchen Unterschied nehmen wir nicht an zwischen denen, die das Wort reden, und zwischen denen, die es hören in unseren christlichen Gemeinen, wie damals ein solcher Unterschied war zwischen den Aposteln und zwischen denen, die sie zu Christen machten, indem diese die Milch des 1–2 Vgl. 1Kor 1,14
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Evangeliums erst empfangen und genießen konnten, jene aber das lebendige Wort Gottes aus der ersten Hand empfangen hatten. Daher war denn in jener Zeit mit Recht die Verkündigung des Wortes bei weitem das erste und das wichtigste; jezt aber reden wir mit unseren Mitchristen darüber aus dem Schaze der gemeinsamen Erfahrungen, die wir von den Wirkungen des Wortes unter uns | machen, und diejenigen, die das Wort verkündigen, würden unrecht thun, wenn sie glauben wollten, daß sie etwas neues und höheres, als was die Seelen der Christen schon in sich selbst tragen, hervorbringen könnten. Denn was sie voraus haben an geschichtlicher Kenntniß von der Gründung und Verbreitung des Reiches Gottes auf Erden, an Sprache und Sitten der Zeit, in welcher das Christenthum zuerst unter den Menschen erschienen ist, an höherer und tieferer Erkenntniß von dem Zusammenhange der heiligen Schriften, weil sie aus der Quelle unmittelbar schöpfen, aus welcher das Wort Gottes fließt, das ist doch immer nur etwas geringes gegen den Segen, den jeder Christ für sich aus dem göttlichen Worte schöpft. Aber in den Sakramenten des Herrn liegt etwas großes und geheimnißvolles, sie sind die Träger eines großen geheimnißvollen Zusammenhanges mit ihm, und nicht etwas, was jeder aus dem Schaze seiner eigenen Erfahrung und Kenntniß nehmen kann, sondern was wir für ein von ihm erhaltenes und von ihm gesegnetes Gut hoch und heilig halten. Wozu noch dies kommt, daß damals immer eine große Menge von Menschen um den Herrn, wo er war, sich drängte und versammelte, und viele von ihnen bereit waren, sich taufen zu lassen auf das Reich Gottes, welches er stiften wollte. Wenn er nun selbst diesem Geschäfte sich hätte widmen wollen unter der großen Menge, die ihn gewöhnlich umgab, so würde er den Hauptzwekk seines Lebens, die Seelen der Menschen an sich zu ziehen und mit seinem Lichte die Finsterniß, die in denselben wohnte, zu durchdringen, den würde er wol schwerlich erreicht haben. Seine Jünger aber konnten ihm in diesem Geschäft nicht helfen, denn sie waren noch jung und neu im Glauben und bedurften noch immer von ihm gespeist zu werden mit den Worten des Lebens. Daher war es die einzige den Umständen angemessene Theilung, daß sie das eine thaten, und er das andere. Weiter heißt es in unserem Texte, Er mußte aber durch Samaria reisen. | Es gab von Jerusalem aus nach Galiläa, wohin der Herr wollte, zwei große Straßen, die eine ging durch Samaria, die andere nicht, und wir wissen aus den Berichten unseres Evangelisten, daß der Herr bald die eine bald die andere wählte. Was ihn nun hier veranlaßt hat grade diese zu wählen, das können wir um so weniger wissen, als uns nicht genau bekannt ist, in welcher Gegend des jüdischen Landes sich das vorige zugetragen hat. Johannes aber sagt ganz kurz, Er mußte durch
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Samaria reisen, was nichts anders sagen will, als er war durch irgend uns unbekannte Umstände bestimmt diesen Weg zu wählen und nicht den andern. Nun wissen wir aus dem Verfolg dieses uns allen bekannten Capitels, welche besondere Freude dem Herrn dadurch bereitet ward, daß er zu seinen Jüngern sagen konnte, er habe, unterdeß sie entfernt gewesen und Speise eingekauft hätten, eine Speise gefunden, von der sie nichts wüßten, er sähe nun das Feld weiß und reif zur Ernte, und sie möchten sich freuen, daß sie schneiden könnten. Eine solche Freude war ihm bereitet von vielen Menschen, die keine Gemeinschaft mit den Juden hatten, und die ihm von Natur nicht nahe standen aber sich doch davon überzeugten, daß er der Sohn Gottes sei, und zwar mit einer recht innigen und aus dem eigenen Herzen hervorgehenden Freude des Glaubens. Und so war denn dadurch auch vielen andern ein großes Heil bereitet, welches sie, wie wir hoffen dürfen, durch die göttliche Gnade auch werden festgehalten haben, wenigstens zu großem Theile, und das war bestimmt durch solche kleine Umstände, wie sie es mußten gewesen sein, die den Herrn veranlaßten lieber durch Samaria zu reisen als die andere Straße zu wählen. Und das, m. g. Fr., ist nicht nur damals, sondern auch jezt noch und beständig eine allgemeine Erfahrung, wie oft dasjenige, was am meisten entscheidet für das Heil der Seele, für die Bestimmung des ganzen Lebens, für den großen Entschluß und für die mit nichts anderem zu vergleichende Veränderung, | wodurch der Mensch Gott und seinem Reiche zugewendet wird, wie oft dies von ganz zufälligen äußerlichen kleinen Umständen abhängt. Denn das war damals in dem Leben des Herrn auf eine ganz besondere Weise zu bemerken. Wie wurde er nicht oft durch kleine Umstände geleitet hier hin oder dort hin zu gehen und seine hülfreiche Hand darzubieten, und ob nun diese Menschen grade ihn hörten oder andere, ob er zu einer solchen Zeit zu ihnen kam, wo sie Muße hatten ihn zu hören, ob sie in der Stimmung waren sein Wort in sich aufzunehmen, zu erkennen und auf eine lebendige Weise zu verarbeiten: das entschied für viele, ob sie zum Glauben an ihn gelangen sollten, oder ob nicht. Wie sollen wir nun dies reimen mit der göttlichen Gerechtigkeit, daß das größte und wichtigste für das ganze Leben und Sein des Menschen gleichsam in der Gewalt kleiner und unbedeutender Umstände steht? Es kann uns nicht anders als so erscheinen, und es ist dies von je her gewesen ein schwerer Stein des Anstoßes für viele und einer von den Punkten, von denen man mit Recht sagen kann, Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Der Herr selbst muß wissen, warum er es so ordnet und leitet, und wir dürfen nicht anders glauben, als weil Gott die Liebe ist und mit seiner 5–8 Vgl. Joh 4,32.35–36
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Liebe nicht etwa den einzelnen, sondern das ganze Geschlecht der Menschen umfaßt, daß er alles so leitet, daß durch seine Leitung die höchste und reichste Offenbarung seiner Liebe erfolgt, die unter den gegebenen Umständen nur erfolgen kann. Davon ist der vorliegende Fall ein recht erfreuliches Beispiel. Die andere Straße war die, welche am meisten von denen gewählt wurde, die aus entfernten Gegenden auf das Fest nach Jerusalem gingen, eben deswegen, weil sie das Land der Samariter, mit denen sie keine Gemeinschaft haben wollten, dadurch vermieden. Da wird nun, weil Jesus die Straße oft rei|sete, der Drang groß gewesen sein unter den Menschen, und leicht würden sie ihn übersehen haben und vorübergehen lassen ohne ihn zu sehen und das Wort Gottes von ihm zu hören, weil sie dachten, er käme wol wieder und würde ein ander Mal mit ihnen in Verbindung treten. Aber grade damals mußte der Herr durch Samaria reisen, und da kommt die Frau und läßt sich mit ihm in ein Gespräch ein. Daraus nun, daß seine Jünger Speise holten, und er selbst außerhalb des Flekkens sie erwartend auf dem Brunnen ausruhte, sehen wir wol, daß es nicht seine Absicht war hier zu verweilen, und wenn die Frau nicht gekommen wäre und ihm die Veranlassung gegeben hätte zu einem längeren Aufenthalte, so würde er vielleicht am Abend schon weiter gegangen und auch bald darauf außerhalb des samaritischen Landes gewesen sein. Aber so geschieht es, und es war die ewige Ordnung Gottes, daß der Herr grade hieher kam und grade von dieser Frau bei einer unbedeutenden Gelegenheit angetroffen wurde, und daß er durch sie mit vielen andern in Berührung trat. Wenn wir nun in diesem Sinne darauf trauen, daß wir nicht anders glauben können, als wie Gott es wendet und ordnet so muß das beste und segensreichste für das Reich seines Sohnes daraus hervorgehen: so müssen wir glauben, daß die Liebe Gottes auch gegen diejenigen nicht erkaltet sei, die uns in einer gewissen Hinsicht von ihm scheinen vernachläßigt zu sein; sondern weil seine Liebe seiner Allmacht gleich ist, er auch durch diese seinen weisen und liebevollen Zwekk mit ihnen erreichen werde. Da kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sichar, nahe bei dem Dörflein, das Jakob seinem Sohne Joseph gab; es war aber daselbst Jakobs Brunnen. Da nun Jesus müde war von der Reise, sezte er sich also auf den Brunnen, und es war um die sechste Stunde. | Jesus war müde von der Reise, das deutet nun darauf, wie wir es auch sonst wissen, daß er seine Reise angemessen seinen äußern Verhältnissen und überdies seinem ganzen Berufe nicht anders als zu Fuße machte, und daß es ihm da erging wie jedem Menschenkinde, daß er nämlich müde ward um die Zeit des Mittags, und so sezte er sich auf den Brunnen. Hier sehen wir, m. g. Fr., den Herrn, wie er Fleisch
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und Blut angenommen hat und ganz gleich geworden den Menschenkindern, und wir haben hier den Beweis, daß es auch für ihn Anstrengungen gegeben hat in der Erfüllung seines Berufs, und daß er uns allen darin gleich gewesen ist, daß dasjenige von seinen Kräften, was menschlich war und nicht göttlich, eben so sein bestimmtes Maaß gehabt hat, wie die unsrigen. Aber wenn er versucht worden ist allenthalben gleich wie wir, und alles dasjenige auch für ihn eine Versuchung gewesen ist, was den Menschen zur Anstrengung auffordert, so wissen wir doch, in ihm war keine Sünde, und er ist versucht worden ohne Sünde. So auch hier. Müde war er, aber die Müdigkeit hinderte ihn nicht die Gelegenheit, welche sich ihm darbot, zu ergreifen, ein Gespräch anzuknüpfen mit einer ihm unbekannten und was die äußern Verhältnisse der Abstammung angeht ihm fernstehenden Frau, ein Gespräch, welches sich umwendete von gleichgültigen Dingen zum Heile für sie und für viele andere. Da kommt ein Weib von Samaria Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr, Gieb mir zu trinken; denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen daß sie Speise kauften. Dieses leztere nun erzählt uns Johannes, damit wir wissen sollten, daß das nicht etwa eine Willkühr von Christo gewesen sei, grade zu der Frau zu sagen, sie möge ihm zu trinken geben, sondern seine Jünger waren nicht bei der Hand. Wenn wir nun | auch nicht glauben dürfen, daß sie ihn werden ganz allein gelassen haben, sondern der eine oder der andere wird gewiß bei ihm gewesen sein, und die andern werden sich in die Stadt begeben haben um Speise zu kaufen: so wird es doch gewiß so gewesen sein, daß diejenigen, welche bei ihm zurükkgeblieben waren, in sofern nicht bei der Hand waren, als sie die Gelegenheit nicht hatten Wasser zu schöpfen, und daß also wenigstens er und seine Jünger warten mußten bis jemand kam, der im Stande war zu schöpfen. Spricht nun das samaritische Weib zu ihm, Wie bittest du von mir zu trinken, so du ein Jude bist und ich ein samaritisches Weib, denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. Jesus antwortete und sprach zu ihr, Wenn du erkenntest die Gabe Gottes, und wer der ist, der zu dir sagt, Gieb mir zu trinken, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser. Was die Frau zu dem Herrn sagt, das ist wol ungefähr so zu verstehen. Es ist gewiß und unbezweifelt, daß in der großen Feindschaft zwischen den Juden und Samaritern die Juden der thätige Theil waren, und daß diese Feindschaft mehr von ihnen ausging, die Samariter aber von Zeit zu Zeit mehrere Versuche gemacht hatten sich ihnen zu nä6–7.9–10 Vgl. Hebr 4,15
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hern, aber sie waren immer wieder zurükkgewiesen, bis sich endlich in ihnen das Gefühl des Hasses und des Unterschiedes festsezte. Eben so war es eine Art von Stolz bei der Frau, daß sie sagen durfte, So muß es doch kommen, daß ihr, von denen die Feindschaft ausgegangen ist, doch in den Fall kommt eine Gabe von uns zu erbitten. Zugleich rühmt sie es von dem Herrn, daß er ihr auf eine solche Weise entgegenkam, die offenbar Liebe erwekken mußte. Was aber die Worte des Erlösers betrifft, so ist der Sinn derselben wol dieser: es sei freilich in dieser Hinsicht die Reihe an ihm zu bitten, wenn sie aber wüßte, wer derjenige sei, der | zu ihr gesprochen, Gieb mir zu trinken, und die Gabe Gottes zu erkennen im Stande wäre, die er ihr darreichen möchte, so würde sie ihn bitten, und er gäbe ihr lebendiges Wasser. Der Herr sagt hier aber dasselbe, was er hernach auf eine andere Weise zu der Frau sagt, Das Heil kommt von den Juden[.] So wollte er sie aufmerksam darauf machen, es sei nun in einer viel höheren Hinsicht die Reihe an ihr zu bitten, nur daß sie nicht wüßte, wer derjenige sei, der vor ihr stehe, sondern wüßte sie das, so würde sie ihn bitten und von ihm lebendiges Wasser empfangen. Wir sehen hieraus, m. g. Fr., wie der Herr von dieser Frau gutes voraussezt, denn er sezt das Verlangen voraus, wüßte sie, daß er der Mann sei, auf den die Völker schon so lange gehofft, und der das Heil des menschlichen Geschlechtes begründen solle, so würde sie ihn bitten, sie zu segnen mit der himmlischen Gabe, die er den Menschen mitzutheilen bereit sei. Und auch die Art müssen wir bemerken, wie er das Gespräch mit ihr anknüpft. Denn er wendet nun gleich den Anfang eines an sich alltäglichen Gesprächs, welches sich eben auf unwichtige Dinge bezog, auf geistige Dinge. M. g. Fr., so sind wir auch oft in unserem Leben mit andern gestellt. Wir können es nicht läugnen auf der einen Seite, es ist ein wichtiges Gespräch durch eine unbedeutende Veranlassung herbeigeführt. Das ist gewiß falsch, wenn man sagt, von solchen Dingen müsse im geselligen Leben nicht die Rede sein, da sie zu hoch und zu tief wären, und wenn die Menschen zusammenkommen mit gemeinsamen Bedürfnissen, um sich zu erholen von den Anstrengungen des Lebens, so müsse man das heilige schonen und bei Seite lassen. Dies ist unrecht, denn so ist das irdische und geistige nicht gesondert, wie auch Leib und Geist in diesem Sinne bei uns nicht zu sondern sind. Daß wir alles zur Ehre Gottes thun, dazu ist ein Band geknüpft zwischen dem Geist und dem Leibe; wie viel mehr soll der Christ dadurch be|wirken, daß er alles auf das Eine bezieht, was noth thut, auf die Verherrlichung Gottes 14–15 Joh 4,22
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in der menschlichen Seele durch die Wirksamkeit seines Geistes in derselben. Aber auf der andern Seite müssen wir sagen, wenn nicht eine richtige Kenntniß zum Grunde liegt von den Menschen, mit denen wir zu thun haben, wie der Herr sie hatte von der Gesinnung und der Seelenstimmung jener Frau – er hatte sie vermöge der Kenntniß des menschlichen Herzens, nach welcher er wußte, was in dem Menschen war, ohne daß es ihm jemand sagte, wir aber haben sie vermöge der Erfahrung und vermöge unseres eigenen Gefühles, – wenn diese Kenntniß nicht beruht auf dem gleichen Durchdrungensein von der Kraft der Wahrheit, wie bei ihm, wenn manche Gespräche dieser Art nicht recht zur Vollkommenheit gedeihen wollen, so muß die Schuld davon gewiß eine gemeinsame sein. Wäre so jene samaritische Frau durch das Gespräch abgestoßen worden, wäre sie nur bei dem äußern stehen geblieben, was freilich dem Erlöser nicht begegnen konnte, so wäre dies einer von den Fällen, die sich in dem geselligen Leben so oft erneuern, daß nämlich das Bestreben mißfällt das Gespräch auf das geistige zu richten, und daß dann beide Theile nur mehr von einander getrennt werden, anstatt einen dauernden Nuzen daraus zu ziehen. Daher muß dies mit Weisheit geschehen, und diejenigen, die voreilig dabei zu Werke gehen überall in jeder heitern Stunde des Lebens das tiefere und geistige hineinzuziehen, die können sich nicht entschuldigen und rechtfertigen durch das, was der Erlöser hier that, eben weil es ihm gelungen ist den Blikk der Frau von dem irdischen auf das geistige zu richten. Wenn wir aber fragen, warum mißlingt es? so können wir nicht anders sagen, als weil bei solchen Dingen die entscheidende Kraft immer in der Reinheit des Bestrebens liegt, und wenn wir nicht von uns sagen können, | was Johannes von dem Erlöser sagt, daß er wußte, was in dem Menschen war, so müssen wir sagen, wenn der Mensch nicht eitel ist, so gelingt es ihm allemal richtig zu erkennen, was jeder Stunde und jedem Verhältnisse angemessen ist. Diejenigen, welche in den gewöhnlichen Gesprächen des Lebens immer nur das geistige hervorzuheben und die Gedanken und Gefühle der Menschen darauf zu weisen suchen, das sind auch diejenigen, von denen man sagen muß, daß ihr geistiges Leben nicht frei ist von Eitelkeit und Stolz. Wenn die Seele hiervon frei ist, so wird sie nicht leicht ihren Zwekk verfehlen, denn es giebt ein geheimes Band, welches uns, wenn auch nicht so vollkommen wie den Erlöser, doch auf eine leise und sichere Weise mit den Seelen anderer verbindet, und wenn man darauf sorgfäl21 jeder heitern] vielleicht zu korrigieren in jede heitere 6–8 Vgl. Joh 2,24–25
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tig merkt, so wird man auch erkennen, ob Zeit und Stunde da ist das geistige ans Licht zu rufen und, wie der Erlöser hier that, dem irdischen eine höhere geistige Wendung zu geben. Wenn er aber sagt, Du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser, so sind das die Worte, um welche sich das ganze Gespräch dreht. Es ist dies ein schönes Bild, welches der Herr öfters gebraucht. Das lebendige Wasser war das aus dem Schooße der Erde hervorquillende, nicht das mühsam gesammelte aus den Wolken herabgefallene und in Cisternen aufbewahrte, womit sich in dürren Gegenden des Landes die Menschen begnügen müssen. Und damit eben will er den Unterschied andeuten zwischen der Weisheit der Sazungen und des Gesezes, welches, nur anders gestaltet, den Samaritern eben so gut wie den Juden eigen war, und zwischen der lebendigen Kraft, die seinem Worte eigen ist, welches aus dem innern seines gotterfüllten Gemüths unmittelbar hervorgeht, und von welchem er niemals geläugnet hat, daß es eine Kraft Gottes sei, die nicht nur jeden lebendig macht, in welchem sie wohnt, sondern ihn auch in den Stand sezt eben so die Seelen anderer zu befriedigen, wie | er befriedigt ist durch den, der die unerschöpfliche Quelle des Lebens in sich trägt. Womit, m. g. Fr., könnten wir besser diese Betrachtung schließen als mit dankbarer Anerkennung des göttlichen Wortes? Ja es ist wahr, das göttliche Wort ist die Quelle, die für alle geöffnet ist, welche fähig sind aus ihr zu schöpfen, die Quelle, welche niemals versiegt; es ist das lebendige Wasser, das jeden natürlichen Durst der menschlichen Seele lischt; es ist die Quelle, zu der wir nie vergebens kommen; und wenn wir auch fühlen, daß sich der Durst wieder erneuert, so sind wir doch sicher, daß wir zu nichts anderem dürfen unsere Zuflucht nehmen um denselben zu stillen, als zu diesem lebendigen Wasser. Aus dem laßt uns denn wieder schöpfen und immer wieder zum Heile unserer Seele! Amen.
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5. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 15,16 Nachschrift; SAr 86, Bl. 20r–42r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 87r–102v; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 157v–158v; Gemberg Nachschrift; SAr 63, Bl. 1r–5v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am fünften Sonntage nach Epiphaniä. 1824. | Tex t. Johannes XV, 16. Ihr habt mich nicht erwählet, sondern ich habe euch erwählet, und gesezt, daß ihr hingehet, und Frucht bringet, und eure Frucht bleibe. M. a. F. Wir haben uns in unsern früheren Betrachtungen mit dem beschäftigt, wodurch sich unser Erlöser auf den großen Beruf, der ihm geworden war, vorbereitete. Ehe wir nun sehen, wie er diesen durch Leiden und Sterben vollendet hat, sind uns nur wenige noch von diesen Tagen unserer Versammlungen übrig, in welchen wir unsere Aufmerksamkeit richten können auf die Art, wie unser Herr sein Geschäft in den | Jahren seines öffentlichen Lebens geführt habe. Das Erste aber, wovon wir etwas sicheres wissen, nachdem er von Johannes die Taufe empfangen hatte, und nun anfing auch seiner Seits zu verkündigen, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, ist dies, daß er nun anfing ein kleines Häuflein von Jüngern und Freunden um sich zu sammeln. Davon giebt es in den Erzählungen der Evangelisten nicht viele, aber doch einige sehr bedeutende und merkwürdige Geschichten, weil es aber an der Zeit gebricht, uns auf das Einzelne einzulassen, so habe ich diese Worte des Johannes erwählt, in welchen der Herr auf eine allgemeine Art von der Jüngerschaft, zu welcher er Einige berufen, | 6–8 Vgl. oben 11. Januar vorm. über Lk 2,51 und 25. Januar vorm. über Mt 3,13–15 9–12 Vgl. auch unten 8. Februar vorm. über Apg 10,36–38 14–15 Vgl. Mt 4,17
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redet. Weil er nun aber in seinem Gebet, was er für sie von Gott erbittet, auch auf diejenigen ausdehnt, die durch ihr Wort an ihn glauben würden, so haben wir auch gewiß, was er hier gesagt, nicht nur von denen zu verstehen, die er persönlich zu seinen Jüngern ernannt während er auf Erden lebte, sondern von allen, die durch ihr Wort, das lebendige sowohl als das, welches sie uns in den heiligen Schriften hinterlassen, an ihn gläubig geworden sind. So ist es denn ganz unser eigenes Verhältniß als Jünger des Herrn, wovon uns hier das wesentlichste als in einem Spiegel vorgehalten wird. Laßt uns die Worte des Erlösers hierüber so erwägen, daß | wir auf unser als seiner Jünger Verhältniß zu ihm sehen, dann aber auch zweitens – denn auch hiezu wird es nicht an Veranlassung in den verlesenen Worten fehlen – daß wir unser Verhältniß gegen einander als solche betrachten. Darauf nun richtet eure khristliche Aufmerksamkeit, und Gott wolle das Wort, welches geredet wird, gesegnet sein lassen. I. Zuerst also, m. g. F., laßt uns betrachten, wie der Herr das Verhältniß seiner Jünger zu ihm darstellt. Es liegt dies zuerst in den Worten: „Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt“; dann aber auch in denen: „ich habe euch erwählt, daß ihr Frucht bringet“. | Das Erste, m. a. F., kann uns grade, wenn wir auf die einzelnen Erzählungen sehen, welche im neuen Testamente über die Berufung der Jünger Khristi vorkommen, nicht so ganz richtig und genau erscheinen. Es werden uns mehrere Beispiele erzählt, und das war gleich bei den ersten der Fall, die sich durch das Wort des Johannes zu ihm wendeten, daß sie den Herrn aufgesucht haben, und selbst allen Fleiß angewandt, um sich ihm zu nähern und in ein bestimmtes Verhältniß mit ihm zu treten. So auch anderwärts und späterhin wird uns erzählt, daß manche ihn gebeten haben, er solle ihnen doch vergönnen, ihm zu folgen und mit ihm zu | ziehen überall, wohin er gehe. So scheint es ja wohl, als wenn man eben so gut sagen könnte, sie hätten ihn erwählt, als daß er sie erwählt habe. Laßt uns aber die Sache genauer erwägen, so werden wir auch hier den Worten des Herrn müssen die Ehre geben. Denn einmal ist das gewiß, diejenigen, welche so den Herrn suchten, wurden dadurch, daß sie das thaten, nicht seine Jünger. Es war allerdings ein Gott wohlgefälliges und ihre Erwählung vorbereitendes Bestreben dieses innern Dranges, der sie vermochte Jesum zu suchen und ihm nach zu gehen. Aber auch indem sie so in ein geistiges Verhältniß zu ihm getreten waren, | so wußten sie doch nicht, was sie eigentlich an ihm hatten, und also kann man auch nicht sagen, daß sie 1–3 Vgl. Joh 17,20
24–28 Vgl. Joh 1,35–39
28–30 Vgl. Mt 8,19; Lk 9,57
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im eigentlichen Sinne seine Jünger waren. Einer unter denselben, der durch ein besonderes Wort des Herrn, welches eine genaue Kenntniß sei es seiner innern oder seiner äußern Verhältnisse verrieth, bewogen wurde zu sagen: „Wahrlich, du bist der, der da kommen soll“, der wußte doch nicht, was das eigentlich bedeute, und der Herr mußte ihm erst sagen: du wirst ganz andere Dinge sehen als die du jezt gesehen hast; denn du glaubst nur, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich dort gesehen habe unter dem | Feigenbaum; aber von nun an wirst du den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herabsteigen auf des Menschen Sohn. Diejenigen aber, welche er nun erwählt hatte, diese, m. g. F., konnten nicht wieder von ihm, sie wurden gehalten durch eine unwiderstehliche Gewalt. Als der Herr sie fragte, wie nämlich so Viele sich an ihn angeschlossen und ihn umgeben hatten auf kürzere oder längere Zeit, die er nicht erwählt hatte, und die auch deswegen hernach ihn wieder verließen, weil seine Rede ihnen zu hart war, und er nun die von ihm Erwählten fragte: wollt ihr nicht auch gehen, und mich verlassen? so sagten sie: Herr wohin sollten wir gehen, | du allein hast Worte des Lebens. Da sehen wir, m. g. F., die eigentliche Art und Weise der Erwählung. Die Worte des Lebens waren es, welche sie bei dem Herrn fanden. So wie diese in ihre Seele einströmten und Wurzel darin faßten, so war es ihnen nicht mehr möglich, ihn zu verlassen, und so waren sie denn durch seine That, durch seine Wirkung auf ihre Seelen erwählt. So auch, m. g. F., äußert sich der Herr überall. Wenn er die Menschen zu sich einladet, so nennt er sich die Quelle des Lebens, von welcher lebendige Ströme sich in alle ergießen könnten, die ihr naheten und sie aufnähmen. Die Worte, die ich zu euch rede, sagt er, die sind Geist und Leben. | Und so, m. g. F., finden wir es ja auch in andern menschlichen Verhältnissen. Zwar auf eine gewisse Weise können wir diese völlig mit unserem Verhältniß zu dem Erlöser nicht vergleichen. Denn wo es in menschlichen Dingen Meister giebt und Jünger oder Schüler, da soll es ja, weil alles zum Bessern fortschreitet, unser aller lebendige Hoffnung sein, daß die Jünger besser werden als ihr Meister, die Söhne besser als die Väter. Aber so lange ein solches Verhältniß besteht, welches man jenem vergleichen kann und einer der Meister ist und die Andern die Jünger, so ist freilich wohl auch zuerst ein Verlangen, ein innerer Drang des Gemüthes, | eine unbestimmte Ahndung, die wohl auch eben so oft falsch die Seele beschleicht als sie richtig ist, was den Jünger zu dem führt, der sein Meister sein kann; was ihn aber eigentlich zu seinem Meister macht, das ist nichts anders als die Wirkung des größeren Lichtes in dem Einen 1–10 Vgl. Joh 1,47–51 27 Joh 6,63
12–18 Vgl. Joh 6,66–68
24–26 Vgl. Joh 7,37–38
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auf die noch von mancherlei Nebeln umlagerte Seele des Andern, die Wirkung des stärkeren Geistes mit seiner überwiegenden Kraft auf das noch unbefestigte Gemüth, die Wirkung der reineren Seele auf die, welche sich in sich selbst getrübt fühlt. Und eben so nun das Licht, welches in die Welt schien um die allgemeine Dunkelheit zu vertreiben, | eben so der Geist, der den Geist geben konnte und ausgießen ohne Maaß, eben so derjenige, welcher der allein Reine war vor Gott. Seine Kraft, das von ihm ausströmende Leben, die lebendige Wirkung seines Geistes auf die Gemüther, das war es, wodurch Menschen seine Jünger wurden, und so hatte er vollkommen recht zu sagen, daß nicht sie ihn erwählt hätten, sondern er sie. Ist es aber wohl, m. g. F., ist es wohl mit uns, die wir nun nicht seine eigenen Worte hören, ist es etwas anderes? Gewiß ist es eben so. Wenn wir uns denken, wie manche doch in den ersten Jahren des Lebens, wenn der Geist anfängt zu erwachen, | nicht gleich auf eine ausschließende Weise hingewiesen werden zu dem, der die Quelle des Lebens ist für uns alle, sondern allerdings bald inne werden des geistigen Unterschiedes unter den Menschen, und ihn erbliken als einen unter denen, die Gott zum großen Segen gesezt hat: dann wird es freilich wohl in vielen einen solchen Drang des Herzens geben, sich ihn doch gleichsam vorzüglich zu erwählen, von ihm mehr zu erwarten und mehr zu hoffen als von Andern. Aber sollen wir wirklich seine Jünger werden, so sind es doch nichts anders als eben die Worte des Lebens. Wenn wir sie recht verstehen, wenn wir das Göttliche in ihm unterscheiden von allem Menschlichen, und | dasselbe auf unsere Seele wirken lassen als das Licht von oben, den reinen Abglanz des göttlichen Wesens; dann werden wir durch seine Wirkung an ihn gebunden und gefesselt, und können nicht mehr von ihm weichen, und sind erwählt zu seinen Jüngern. Wozu aber, m. g. F., sind wir erwählt, und was ist das Wesen und der Zwek seiner Jünger? Ich habe euch erwählt, spricht er, auf daß ihr hingehet und Frucht bringet. Indem der Herr dies sagte, m. g. F., zu den Zwölfen, die er sich erwählt hatte, so können wir wohl kaum umhin, so traurig es uns immer ist und so dunkel die ganze Sache, des Einen zu gedenken, der auch unter diesen Zwölfen war, und von dem | er wohl nicht sagen konnte, er habe ihn erwählt, auf daß er hingehe und Frucht bringe, und seine Frucht bleibe. Es ist aber zu bemerken, m. g. F., daß der Herr sich des Wortes „erwählen“ nicht immer auf die gleiche Weise bedient. Einmal sagt er in Beziehung auf diesen Einen[:] Hab’ ich nicht euch Zwölf erwählt, und einer unter euch ist ein Teufel? Ein andermal sagt er wieder ebenfalls in Beziehung auf ihn: Ihr habt mein Wort gehört, selig seid ihr, so ihr es thut, aber nicht alle, denn ich weiß, welche 38–39 Joh 6,70
40–1 Vgl. Joh 13,17–18
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ich erwählt habe. Im ersteren Falle aber rechnet er ihn mit zu denen, die er erwählt hat, in diesem zweiten schließt er ihn aus, und auf | diese Weise gewiß, nicht auf jene müssen wir diese Worte verstehen. Wie er dazu gekommen war und warum einer unter diesen Zwölfen zu sein, das wissen wir nicht, eins aber wissen wir, daß der Herr, so wie er hier zu seinen Jüngern sagt, ihr habt nicht mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt, so von denselben sagt in seinem lezten Gebet zu seinem Vater: Alle die, die du mir gegeben hast, habe ich bewahrt bis auf das eine verlorene Kind, auf daß die Schrift erfüllet werde. Auf dieselbe Weise also, wie er in Beziehung auf sie sagt, nicht sie hätten ihn erwählt, sondern er sie, sagt er, indem er gleichsam sie mit sich zugleich seinem himmlischen Vater darstellt, daß er sie | ihm gegeben habe. Daraus sehen wir denn, daß der Herr auch hier, wie er sonst von sich sagt, „der Sohn kann nichts von sich selbst thun“, nicht nach eigenem Gutdünken und nach menschlicher Willkühr gehandelt hat, sondern nach dem Willen seines Vaters, und wie der Vater sie ihm gegeben hatte, so erwählte er sie auch selbst, weil er nicht anders konnte als zu demjenigen stimmen und für das sein, was er als den Willen seines Vaters erkannt hatte. Hatte ihn nun der Vater gegeben, so hatte er ihn gegeben zum Dienst in äußern Dingen, wie wir auch in der Schrift lesen, daß er in der Gesellschaft des Erlösers zu solchen äußern Geschäften gebraucht worden ist; aber nicht | dazu hat er ihn gegeben, daß er Frucht bringe, sondern daß, nachdem er diesen Dienst vollzogen und sein Geschäft vollendet, er dann hinginge an seinen Ort. Diejenigen aber, die der Vater dem Herrn gegeben, auf daß er sie senden könne, wie der Vater ihn gesandt hatte, die der Sohn so und dazu sich selbst erwählt hatte, auf daß sie die Jünger hingingen, wie er der Meister es gethan, diese hat er erwählt, damit sie Frucht brächten. Was ist aber die Frucht, m. g. F., die wir bringen sollen? Das Eine ist die Frucht des Geistes, die wir in uns selbst bringen, das Andere ist die Frucht der Lippen, wodurch wir eben das lebendige Wort des Herrn in | andere Seelen hineinpflanzen: Erinnert euch, wie der Apostel Paulus in seinem Briefe an die Galater die Frucht des Geistes beschreibt als Milde, als Liebe, als Friede und Freude und Gütigkeit und Sanftmuth. Das ist die Frucht des Geistes, daß wir dem gleichen, der gekommen war nicht um zu herrschen, sondern daß er diene, der gekommen war das Verlorene zu suchen und selig zu machen, der gekommen war die Mühseli15 Gutdünken] Gut drüken 8–9 Vgl. Joh 17,12 14 Joh 5,19 20–22 Vgl. Joh 12,6; 13,29 Joh 20,21 32–34 Vgl. Gal 5,22 35–36 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45 Lk 19,10 37–2 Vgl. Mt 11,28–29
25–26 Vgl. 36–37 Vgl.
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gen und Beladenen zu erquiken und den Menschen Ruhe zu geben für ihre Seelen, aber deswegen auch die Ruhe und den Frieden in seinem Innern tragen, und überall in seinem Leben zeigen mußte. Wenn er | sagt: Ich bin der Weinstok und ihr seid die Reben, jeglicher Rebe, der an mir bleibt, der bringt viele Frucht, so sehen wir also, daß keine andere Frucht ist als die seinige, die wir tragen sollen. Das ist die Frucht des Geistes, daß wir sollen verklärt werden in ihm, und daß wie er ist der Abglanz des göttlichen Wesens, wie wir in ihm schauen die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, so auch wir unserer Seits sein und immer mehr werden der Abglanz seines Wesens, auf daß man an uns schauen könne die Herrlichkeit der Kinder Gottes, derer, denen er die Macht gegeben hat, Kinder Gottes zu werden, weil sie an seinen Namen glauben. Aber, m. g. F., | neben der Milde und Freundlichkeit, neben der Gütigkeit und Sanftmuth gehören auch der Muth und die Beständigkeit zu der Frucht des Geistes. Denn was anders ist die Frucht des Geistes, als daß das Herz fest werde. Das ist das köstliche Ding, wonach wir trachten sollen. Lebt der Geist in uns, so wird auch das Herz fest, weil alles aufgeht in Einer Gesinnung und in Einem Bestreben und sich dem alles unterordnet, weil wir wissen, wir dürfen nun keiner andern als dieser Stimme des Geistes folgen. Darum, wie auch die Apostel des Herrn das von sich selbst sagten, [dürfen wir] unter Trübsalen und Gefahren aller Art nie ermüden in dem | Dienste, den uns Gott aufgetragen, wo es Noth thut zu sagen, daß man Gott mehr gehorchen muß als den Menschen, ja nicht nur zu sagen, sondern auch sich so zu erweisen, und überall nichts anders wollen, als das Reich verkündigen und so viel als möglich verbreiten und schmüken, welches der Herr gestiftet hat, und darüber alles andere für Schaden halten, auf daß wir nur gewinnen den Einen, der uns sicher seinem himmlischen Vater gewonnen hat: das sind die Früchte des Geistes. Aber wie der Herr nicht anders konnte, als mit seinem Frieden und mit seiner Ruhe auch den in sich selbst zerfallenen Seelen der Men|schen seinen Frieden geben und hinterlassen, und die Mühseligen und Beladenen mit seiner Ruhe erquiken, wie er das lebendige Wort von oben nicht anders konnte als nur die Worte reden, die sein Vater ihm gegeben hatte, um sie den Menschen zu verkündigen: so m. g. F., sollen auch alle, die von ihm erwählt sind, auf daß sie Frucht bringen, ihm diese süße und wohlgefällige Frucht der Lippen bringen, sich von ihm senden lassen, 13 Freundlichkeit] so SAr 63, Bl. 3v; Textzeuge: Freudigkeit 4–5 Vgl. Joh 15,5 8–9 Vgl. Joh 1,14 11–13 Vgl. Joh 1,12 23–24 Vgl. Apg 5,29 30–32 Vgl. Joh 14,27 32–33 Vgl. Mt 11,28 34–35 Vgl. Joh 12,50; 17,8
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wie der Vater ihn gesandt hatte. Und so ist es, m. g. F., eben die Frucht, die wir bringen können für ihn und in allem, was wir thun können, um sein Reich auf Erden zu verbreiten, worin sich uns eben | das Verhältniß der Jünger zu dem Meister abspiegelt, an welches wir uns halten, und in welchem wir alle unsere Ruhe und unsern ganzen Beruf suchen sollen. Weß das Herz voll ist, deß geht der Mund über. Sind wir nun in der That voll von dem Erlöser, wie es alle sein müssen, die von ihm erwählt sind, so werden wir auch alle, wie seine ersten Jünger, seine Zeugen sein, wo er uns hinstellt, und wohin uns seine Stimme ruft, so werden wir nicht anders können, als ihm die wohlgefällige Frucht der Lippen bringen, die wir in seinem Namen bringen, und uns nicht scheuen aller Welt zu sagen, daß in seinem Namen allein und in keinem andern Heil ist für die Menschenkinder. Aber wie er seinen | Beruf in die Hände seines himmlischen Vaters nicht anders zurükgeben konnte, als indem er sich selbst vor ihm das Zeugniß gab, daß er alle Worte geredet hätte, die sein Vater ihm anvertraut; wie jener große und an Früchten so reiche Apostel des Herrn, als er die Ältesten einer Gemeine zu sich rufen ließ, die er nicht mehr hoffen konnte wieder zu sehen, ebenfalls vor ihnen das Zeugniß ablegen konnte, er habe ihnen nichts verheelt und zurükgehalten von dem, was er von dem Herrn empfangen, sondern ihnen alles offenbart und mitgetheilt: eben so, m. g. F., ist auch das unser aller Beruf, nicht nur dasjenige herauszusuchen aus den Worten des | Herrn, was grade jezt vielleicht den Menschen wohlgefällig ist, zu hören, nicht nur dasjenige herauszusuchen, was ihnen leicht wird und ihnen schmeichelt, sondern nichts zurükzuhalten, das Schwere wie das Leichte, das Bittere wie das Süße, das was das Herz der Menschen durchbort, und das was es zum Himmel aufrichtet, beides ohne Ausnahme und ohne Unterschied das ganze Wort des Herrn zu reden; das ist die Frucht der Lippen, die wir alle bringen sollen. Alle, m. g. F., ohne Ausnahme, und das führt uns auf den zweiten Theil unserer Betrachtung, in welchem wir das Wesen der Jüngerschaft des Herrn als ein Verhältniß, in welchem auch | wir unter einander stehen, zu betrachten haben. II. Wenn wir es nun nicht sind, die ihn erwählt haben, sondern er hat uns erwählt, wenn wir Frucht bringen sollen nicht für uns, sondern für ihn, so sehen wir ja, daß wir eben als Jünger eines und desselbigen Herrn und Meisters auch alle unter einander gleich sind, und weiter als dies, m. g. F., will ich nichts zu euch heute hierüber reden. Wir sind aber 7 Mt 12,34; Lk 6,45
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eben deswegen, weil nicht wir ihn erwählt haben, sondern er uns, auch alle untereinander gleich in Beziehung auf die Art, wie wir zu diesem großen und seligen Gut seine Jünger zu werden gekom|men sind. Wie ich vorher schon sagte, daß es keinen Unterschied giebt zwischen denjenigen, die unmittelbar durch ihn selbst, durch seine holde menschliche Stimme berufen und erwählt worden sind, und zwischen denen, die erwählt worden sind und zu Jüngern gemacht durch das Wort seiner ersten Jünger selbst: so kann ich nicht anders als dies auch hier noch wiederholen. Es ist, m. g. F., kein Unterschied zwischen der leiblichen Gegenwart des Herrn, welche dieser Erde nur auf eine kurze Zeit konnte vergönnt sein, und zwischen seiner geistigen Gegenwart, welche er verheißen hat bis an das Ende der Tage und auch bis jezt immer gewährt, es ist, sage ich, kein Unterschied in dieser | Beziehung in Hinsicht nämlich auf die eigenthümliche Wirkung, die der Erlöser in der Seele des Menschen hervorbringen kann. Mancherlei Liebliches können wir uns denken, was diejenigen, die den Herrn umgaben, mögen genossen haben durch seine Nähe und durch seine Gegenwart. Aber wie viel Liebliches und Erfreuliches erfahren wir nicht auch in dem stillen und geheimen Umgang mit dem Herrn, in welchem seine geistige Gegenwart sich uns auf eine so wohlthuende, erquikende und stärkende Weise offenbart, wenn uns zu irgend einer Stunde eins von seinen Worten klar wird, wenn die Dunkelheit unserer Seele immer mehr durch die Kraft | seines Lichtes in uns schwindet, wenn durch seine Wirkung das schwache Herz gestärkt wird, und die noch verschlossenen Sinne geöffnet. Vor allem aber in der Art, wie wir seine Jünger werden, ist ein solcher Unterschied gar nicht. Denn eben wenn der Herr sagt: diejenigen, welche er erwählt, die habe ihm auch sein Vater gegeben, und er habe sie eben deswegen erwählt, weil sie ihm sein Vater gegeben: so fließt das Alles her aus einem und demselben ewigen Rathschluß der göttlichen Liebe zur Seligkeit des menschlichen Geschlechts. Nach diesem sind wir alle aufgenommen in die neue Gemeinschaft Gottes als neue Geschöpfe durch die Wirkung des Wortes | und durch die Kraft des Geistes, und als solche sind wir alle einander gleich. Alle müssen wir den alten Menschen ausziehen und den neuen anziehen. Der neue aber ist überall derselbe, der geschaffen ist in Heiligkeit und Gerechtigkeit, und der alte ist auch überall derselbe, es ist der alte Mensch der Sünde und des Verderbens. Was für einen Unterschied sollten wir denn noch finden zwischen dem Einen und dem Andern? Es ist dieselbe Kraft, die unser Gemüth erfüllt, es ist dieselbe 35–36 Heiligkeit] so SAr 105, Bl. 98v; Textzeuge: Herrlichkeit 11–12 Vgl. Mt 28,20
34–35 Vgl. Kol 3,9
35–36 Vgl. Eph 4,24
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selige Wirkung in dem Einen und in dem Andern. Und wenn der Eine durch sonderbare Führungen Gottes, durch plözliche, unerklärliche | Wirkungen in dem Innern der Seele, durch irgend etwas Ausgezeichnetes und Bedeutendes, der Andere mehr auf dem natürlichen Wege der allmäligen Wirkung des göttlichen Worts auf das menschliche Herz, auf dem natürlichen Wege der Zucht und Vermahnung zum Herrn von Kindesbeinen an zu seinem Jünger gemacht wird, kein Unterschied ist zwischen beiden; der Eine soll sich nicht rühmen als ob er einen höhern Grad khristlicher Vollkommenheit erreicht habe, und der Andere soll nicht wähnen, daß er zurükgesezt sei; dieser eben | so gut wie jener wird die Führungen Gottes erkennen und die Kraft des Geistes, wenn sie gleich mit wiederholten Erregungen auf seine Seele gewirkt hat, und in beiden, wenn sie erwählt sind zu Jüngern, ist dasselbe Wort Gottes lebendig. Aber in der Art nun sein Jünger zu sein, in dem Maaße, in welchem wir Frucht bringen können für das Reich Gottes, und in dem Reichthum dieser Frucht, welch ein großer Unterschied zeigt sich freilich nicht da! Doch laßt es uns genauer betrachten. Es ist wahr, es giebt einen innern Unterschied, die Gaben sind mannigfaltig, die Kräfte sind auf verschiedene Weise vertheilt, aber alle diese Gaben | gehören zusammen wie die Glieder eines Leibes zusammen gehören. Thöricht wäre es, wenn irgend Einer wollte, der Andere solle sein, was er selbst ist, thöricht wäre es, wenn irgend einer auf die Gaben, die ihm verliehen sind, einen besondern Werth legen wollte, als ob alle wünschen sollten, daß sie dieselben hätten; denn keine ist etwas ohne die andern. So hat es der Herr geordnet, die Mannigfaltigkeit hat er gesezt, auf daß daraus hervorgehe eine schönere Einheit; aber wie mannigfaltig auch die Gaben sein mögen und wie verschieden die Kräfte in der khristlichen Kirche, Ein Geist ist es, und in diesem Einen Geiste sind wir einander alle gleich. | Wir sind alle erwählt, auf daß wir fest halten an dem, der uns erwählt hat, daß jeder darzustellen suche die Züge seines Bildes in seiner Seele, wie sie grade ist, daß jeder suche zu wirken für das Reich Gottes, wohin ihn der Herr gestellt hat, und wie er es da grade vermag. Und so sind wir auch in dieser Beziehung nicht ungleich. Aber eine andere ist die äußere Ungleichheit des Berufs. Da sehen wir, wie der Herr in seiner Kirche gesezt hat von Anbeginn an Einige zu Aposteln, Andere zu Lehrern, Andere zu Propheten, Andere zu Dienern, und alle diese bilden das große Ganze der Gemeine des Herrn. Aber auch hier gilt das Wort des Apostels: es | sind viele Ämter, aber es ist Ein Herr, und gleich sind wir auch in dieser Beziehung alle, weil 10 wähnen] währen 35–37 Vgl. 1Kor 12,28; Eph 4,11
38–39 1Kor 12,5
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keiner etwas anderes suchen soll, als daß er mit seiner Gabe diene dem gemeinsamen Nuzen, weil keiner soll in sich selbst leben und für sich selbst, sondern in dem Ganzen und für das Ganze, auf daß er sich so auch mit Recht erfreuen könne alles dessen, was der Herr in seiner Gemeine nach seiner Gnade hervorbringt. Wenn wir, m. g. F., uns unterscheiden, so sezen wir gegen solche Dinge, welche nicht den Werth haben, daß sie einen Maaßstab abgeben können, nach welchem wir uns selbst richten dürften und dasjenige, was uns der Herr anvertraut | hat, so sezen wir dagegen das Größte aufs Spiel, um etwas Geringes zu gewinnen. Was ist es doch, m. g. F., was jeder für sich allein leisten kann, wie hoch ihn auch der Herr gestellt hat in seiner Gemeine, ja wenn wir ihn auch denken als ein großes und auserwähltes Rüstzeug, welches er sich bereitet hat in Zeiten, wo er auf eine ausgezeichnete Weise in seinem Reiche sich offenbaren will als derjenige, durch dessen belebenden Geist dasselbe besteht, was ist doch das, was jeder allein leisten kann für sich gegen dasjenige, was in dem Ganzen gewirkt wird durch den gemeinsamen Geist. Wollen wir uns aber unterscheiden und Einer sich besser | dünken als der Andere, so ist er auch beschränkt auf das, was er allein geleistet hat und leisten kann, das heißt auf gar Weniges, und was sich mit weniger Sicherheit als das Seinige bestimmen läßt. Wollen wir aber das nicht, sondern wollen uns als gleich ansehen, wie uns der Herr zu demselben Zwek und auf dieselbe Weise erwählt hat, und wollen sein jeder mit dem Beruf, den ihm der Herr angewiesen hat, im Ganzen und für das Ganze, nicht aber in sich und für sich, so kann dann auch jeder sich mit vollem Rechte und mit ganzem Herzen des Ganzen erfreuen, das Ganze sich zueignen, und Alles, was der Geist in der Gemeine wirkt, ansehen als sein Gut, als | sein Besiz, als ein Kleinod, welches ihm Gott gegeben hat, damit er es habe und sich dessen erfreue. Und eben so, m. g. F., ist es auch, wenn wir auf die äußern Verhältnisse der Menschen und auf ihren Beruf in der menschlichen Gesellschaft sehen. Da sollen wir auch wirksam sein für das Reich Gottes, da soll jeder seine Stelle dazu benuzen, daß dasselbe immer mehr befestigt werde, und jeder soll da mit seinem Lichte leuchten, daß die Menschen seine guten Werke sehen und den Vater im Himmel preisen, jeder soll wissen, daß es derselbe Herr ist, der ihn erwählt und die Andern. Welch ein großer Unterschied der | Gewalt und der Unterthänigkeit, des Ansehens und der Verwerflichkeit, der Macht und der unbedeutenden Stellung in der menschlichen Gesellschaft! Aber ein Un7 welchem] welchen 34–35 Vgl. Mt 5,16
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terschied, der nur für den Blik der Menschen da ist, nicht aber für den Höchsten. Der Höchste sieht in das Verborgene, und vergiebt auch das Verborgene, ihm ist nichts zu groß, so wenig ihm etwas zu klein ist. Und wie dort der Erlöser sagt, daß diejenigen, welche am spätesten in den Weinberg gerufen waren, und also auch das Wenigste thun konnten, doch denen gleich gesezt wurden, die von Anbruch des Tages an schon dagewesen waren und also auch am meisten gewirkt hatten, so ist es auch hier, und | es soll so sein, und wir sollen uns dessen erfreuen, daß es so ist, und erkennen, wie gütig der Herr ist, und nicht scheel hinsehen auf den Andern und auf das, was ihm durch die göttliche Gnade geworden ist, sondern uns freuen der unendlichen Mannigfaltigkeit in den Erweisungen der göttlichen Liebe, und auch hier daran denken, daß jeder mit den Gaben, die ihm der Herr gegeben, mit der Macht, die er von ihm empfangen, nichts anderes thun soll als dienen für Andere. Darin, m. g. F., sind auch von jeher diejenigen, die das Wort des Herrn in sich aufgenommen, und in allem Irdischen das Geistige gesucht hatten, mit dem glänzensten | und besten Beispiel vorangegangen, sie haben sich überall angesehen als Werkzeuge des Herrn, bestimmt das Seinige zu suchen, nicht aber das Ihrige, und für das Werk, welches ihnen aufgetragen war, haben sie sich von Gott erbeten den Geist der Weisheit und der Erkenntniß, damit sie es verrichteten zum reichen Segen für sein Reich, und sie haben sich angesehen als Mitknechte aller derer, die zum Dienste Gottes berufen waren. So sehen wir, indem wir diese Ungleichheit in Ehren halten, wo der Herr sie gesezt hat, daß sie doch verschwindet, sobald wir uns als Jünger des Einen Meisters betrachten. Denn darin sind wir alle gleich, von ihm | kommt alles, was wir haben, denn er hat uns erwählt, von ihm kommt alle Frucht, die wir bringen, denn sie ist die Frucht des Weinberges, in welchen er uns gerufen hat, und nur davon, daß wir an diesem fest halten und in diesem handeln, davon hängt es ab, daß wir auch des Segens theilhaftig werden, daß unsere Frucht bleibe. Denn wenn noch etwas anderes den Menschen treibt, als der reine Eifer Gott und dem Herrn zu dienen, der uns erkauft und erworben hat, wenn wir noch nicht im Stande sind so ganz uns selbst zu verleugnen, daß wir uns auch des Größten nicht überheben vor denen, die der Herr selbst erwählt | hat, dann werden wir auch nur eine vergängliche Frucht bringen, weil wir nicht auf den Geist säen, sondern auf das Fleisch. Uns selbst müssen wir ganz verleugnen, wenn wir dem Herrn dienen und sein Werk schaffen wollen: Dann, m. g. F., dann wird unsere Frucht bleiben, und wir werden dem immer ähnlicher werden, der uns er4–7 Vgl. Mt 20,1–16
36–37 Vgl. Gal 6,8
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wählt hat, um eine Frucht zu bringen, die da bleibe in das ewige Leben. Amen.
[Liederblatt vom 8. Februar 1824:] Am fünften Sonntage n. Epiph. 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Ringe recht, wenn etc. [1.] O wie liebst du, Herr, die Deinen! / Ewig segnend liebst du sie; / Tröstest die, so trostlos weinen, / Und entziehst dich keinem nie. // [2.] Wird auch noch dem Herzen bange, / Doch bleibt es mit dir vereint; / Zögert oft die Hülfe lange, / Doch bleibst du der sichre Freund. // [3.] Du erhörst ein gläub’ges Beten, / Wo kein Mensch sonst helfen kann; / Freudig darf ich vor dich treten, / Liebreich siehest du mich an. // [4.] Ja du Quell des ewgen Lebens, / Hold ist stets dein Angesicht; / Dir vertrau ich nicht vergebens, / Wer dir glaubet, stirbet nicht. // [5.] Deiner Allmacht, deiner Güte, / Die dem todten Freund’ einst rief, / Freute sich auch mein Gemüthe, / Wenn ich heute noch entschlief. // [6.] Nie darf mich der Tod erschrecken, / Denn ich werde auferstehn, / Jesus wird mich wieder wecken; / Jesum werd’ ich ewig sehn. // Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Zu dir erhebt sich mein Gemüthe, / Du Menschenfreund, Herr Jesu Christ, / Du, dessen himmlisch reine Güte, / Der meinen Vorbild worden ist, / Dich sandte Gott der Welt zum Segen, / Du brachtest Frieden ihr entgegen, / Dein Licht durchdrang die Dunkelheit; / Nur wohlzuthun war dein Bestreben, / Dein Zweck in deinem Erdenleben, / War nur der Menschen Seligkeit. // [2.] Besuchtest du des Armen Hütte, / Tratst unter des Beglückten Dach: / So folgten dir auf jedem Schritte / Erbarmen, Huld und Liebe nach. / Der Tempel, wie die öden Wälder, / Die Städte, wie der Wüste Felder, / Sie wurden Zeugen deiner Kraft; / Oft eh’ ein Leidender noch klagte, / Und Hülfe zu erbitten wagte, / Hatt’st du ihm Hülfe schon geschafft. // [3.] Du fühltest deiner Freunde Leiden, / Nicht achtend eignes Ungemach; / Du suchtest Ruhe nicht und Freuden, / Nur den Bedürft’gen gingst du nach. / Dein Thun war ganz an Gottes Werke, / Du wardst der Blöden Seelenstärke, / Verirrten zeigtest du den Pfad; / Mühseligen botst du Erquikkung, / Nahmst von dem Geiste die Bedrükkung, / Und unsre Freiheit war dein Rath. // [4.] So gingest du auf Gottes Wegen, / Dem Leiden und dem Tode zu; / Aus deinen Blicken strahlte Segen, / Die Seele war voll Himmelsruh. / Als Todesschrecken und Gefahren, / Von allen Seiten nahe waren, / Verließ dich nicht dein hoher Muth. / Du bliebest ein Schuz für deine Freunde; / Und der Verblendung deiner Feinde, / Kam dein Gebet bei Gott zu gut. // [5.] O Jesu, gliche doch mein Leben / Dem deinen ganz! Wär’ ich wie du! / So reiner Liebe ganz ergeben, / So Gottes Dienst geweiht wie du. / O stärk’ in mir die selgen Triebe / Der heiligenden Menschenliebe, / Und präge deinen Sinn mir ein; /
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So ziert mein Wandel deine Lehre, / Und mein ist dann die höchste Ehre, / Dein Jünger, Herr, ein Christ zu sein. // (Jauersch. Gesangb.) Nach der Predigt. – Mel. Nun freut euch etc. Ja schalle froher Lobgesang, / Zu Jesu Ehr’ erschalle, / Du Gottgeweihter habe Dank / Für deine Gaben alle! / Dein göttlich Reich soll ewig sein, / Die ganze Menschheit schließ es ein, / Und deine Herrschaft bleibe. //
Am 15. Februar 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Septuagesimae, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 4,11–19 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 249–262; Andrae (Titelblatt der verloren gegangenen Druckvorlage in SAr 86, Bl. 42v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 158v–159v; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 97r–103r; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am Sonntage Septuagesimä 1824.
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Tex t. Joh. 4, 11–19. Spricht zu ihm das Weib, Herr hast du doch nichts damit du schöpfest, und der Brunnen ist tief; woher hast du denn lebendiges Wasser? Bist du mehr denn unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat, und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh? Jesus antwortete und sprach zu ihr, Wer dieses Wasser trinkt, den wird wieder dürsten. Wer aber das Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt. Spricht das Weib zu ihm, Herr gieb mir dasselbe Wasser, auf daß mich nicht dürste, daß ich nicht herkommen müsse zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr, Gehe hin, rufe deinen Mann und komm her. Das Weib antwortete und sprach zu ihm, Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr, Du hast recht gesagt, | Ich habe keinen Mann. Fünf Männer hast du gehabt, und den du nun hast, der ist nicht dein Mann; da hast du recht gesagt. Das Weib spricht zu ihm, Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist. M. a. Fr. Bei diesem Gespräch, dessen ersten Anfang wir schon neulich mit einander erwogen haben, aber welches nun hier erst bis zu einem 20–21 Vgl. oben 1. Februar früh über Joh 4,1–10
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bestimmten Punkt geführt wird, sind mir immer lebendig im Gemüthe die Worte unseres Apostels am Ende seines Evangeliums, da er nämlich sagt, Wenn man aber alles schreiben wollte, was er gethan hat, so würde die Welt die Menge der Bücher nicht begreifen, weil es nämlich einzeln nicht könnte geschrieben werden in einer solchen lebendigen und fruchtbaren Darstellung mit einem so innigen und zärtlichen Gefühl, wie Johannes es hier thut. Denn der Herr, der während seines irdischen Lebens sich nicht nur so gern hingegeben, sondern auch selbst die Menschen aufgesucht hat um sie an sich zu ziehen, und der eben so sicher gewußt hat, was in dem menschlichen Herzen war: wie viele solcher Gespräche mag er wol geführt haben, wie die wenigen, die uns Johannes in seinem Evangelio aufbewahrt hat, und die in seiner Darstellung einen so tiefen und segensreichen Eindrukk auf uns machen? Es hatte aber der Herr, wie wir schon neulich gesehen haben, von der Frau, die zu dem Brunnen kam um zu schöpfen, Wasser begehrt; sie hatte sich gewundert, wie er ein jüdischer Mann von einem samaritischen Weibe zu trinken begehre; indem sie aber dabei zugleich ihre Bereitwilligkeit zu erkennen gegeben, so lag in ihrer Antwort ein leiser Vorwurf darüber, daß die Feindschaft zwischen beiden Völkern von den Juden ausgegangen sei, und daß diese sich von einer Zeit zur andern immer mehr [aus] aller Gemeinschaft mit den Samaritern be|geben hätten. Darauf hatte der Herr zu ihr gesagt, Wenn du erkennetest die Gabe Gottes, und wer der ist, der zu dir sagt, Gieb mir zu trinken, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser; und darauf nun ist das die Antwort und der weitere Verlauf des Gespräches, was wir eben gelesen haben. Wir finden aber hier eine große Aehnlichkeit mit dem Gespräch, welches uns Johannes in dem vorigen Capitel erzählt, zwischen dem Herrn und dem Nikodemus. Da schien es auch auf den ersten Anblikk, als habe Nikodemus den Herrn ganz mißverstanden und die Kraft und die Bedeutung seines Gleichnisses, als er sagte, Niemand kann das Reich Gottes sehen, es sei denn, daß er von neuem geboren werde, gar nicht verstanden, sondern gemeint, er rede von der leiblichen Geburt; als wir es aber näher betrachteten, so sahen wir, daß Nikodemus unmöglich so ganz konnte den Sinn der Rede des Herrn verfehlt haben, und das sezt uns dann in den Stand die Absicht seiner weitern Antworten und Fragen desto richtiger zu fassen. So auch hier. Es scheint auf den ersten Anblikk, als habe die samaritische Frau Christum gar nicht 3–4 Vgl. Joh 21,25 9–10 Vgl. Joh 2,25 15–25 Vgl. oben 1. Februar früh über Joh 4,1–10 28–38 Vgl. 30. November 1823 früh über Joh 3,1–6, in: KGA III/7
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verstanden; denn nachdem er ihr gesagt, Wenn du erkennetest den, der einen Trunk Wassers von dir begehrt, so würdest du mich bitten, und ich gäbe dir lebendiges Wasser, da ich es jezt von dir fordere: so antwortet sie ihm, Du hast doch nichts, womit du schöpfest, und der Brunnen ist tief, woher willst du das lebendige Wasser nehmen? Aber, m. g. Fr., wir können auch von dieser Frau nicht voraussezen, daß sie den Sinn des Herrn so ganz nicht sollte verstanden haben. Denn einmal hatte sie schon durch ihre erste Antwort zu erkennen gegeben, daß sie sich um mehr bekümmerte als was zu dem gewöhnlichen irdischen Leben gehört, und sobald sie, wie der Verlauf der Erzählung es lehrt, inne geworden war, daß der mit ihr redete ein Prophet sei: so legt sie ihm sogleich die große Streitfrage zwischen dem Volke, welchem sie angehörte, und zwischen | seinen Landsleuten vor, die Frage, welche schon seit langer Zeit der Gegenstand des Nachdenkens gewesen war, auf welcher Seite nämlich die rechte Erkenntniß Gottes und die rechte Weise ihn zu verehren liege. Da sehen wir überall ein auf das höhere gerichtetes Gemüth, welches unmöglich unfähig sein konnte das geistige zu fassen. Und dann, könnten wir wol glauben, daß der Herr, der so leicht erkannte, was in dem Menschen sei, sich in ein besonderes Gespräch werde eingelassen haben mit einer Frau, von der er nach seiner Kenntniß des menschlichen Gemüths nicht anders sehen konnte, als daß sie unfähig sein würde seine Rede zu verstehen? So müssen wir also betrachten, was sie denn eigentlich mit ihrer Antwort an den Herrn meint. Der hatte sich anheischig gemacht ihr lebendiges Wasser zu geben. Das in dem Brunnen war auch lebendiges Wasser; er war nicht einer von jenen Wasserbehältern, in welchen man das Wasser aufbewahrte, das vom Himmel kam; sondern er war eine Quelle und deswegen in dem wasserarmen Lande ein reicher Schaz und wurde hergeleitet von dem Erzvater, den auch die Samariterin in ihrem Gespräch nennt. Wenn also der Herr sich erbot ihr lebendiges Wasser zu geben, so konnte sie nicht anders als dies auf eine geistige Weise verstehen. Wenn sie ihm nun sagt, Du hast doch nichts, womit du schöpfest, und der Brunnen ist tief, woher nimmst du das lebendige Wasser; bist du mehr denn unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat: so will sie damit offenbar dies sagen: Jakob hat hier als eine besondere göttliche Wohlthat die Quelle entdekkt, und gewiß mit Mühe hat er dieses Werk vollbracht, und nachdem er selbst, so lange er da wohnte und die seinigen mit ihm, davon Gebrauch gemacht, es noch den späten Nachkommen zurükkgelassen, so daß auch wir nun daraus | schöpfen können. Aber auch wir haben es nicht ohne Mühe, sondern wir 1–3 Vgl. Joh 4,10
11–16 Vgl. Joh 4,20
18–19 Vgl. Joh 2,25
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müssen weit hinaus aus der Stadt und hieher unsere Gefäße mitbringen, und so mühsam in kleinem Maaße das Wasser schöpfen und es nach Hause tragen. Besser hat in diesen leiblichen Dingen auch der Erzvater Jakob, wie sehr er auch von Gott begünstigt und gesegnet war, nicht für seine Nachkommen sorgen können, und du bietest mir das lebendige Wasser, welches du zu besizen behauptest, auf eine so leichte Weise an, du willst es mir so leicht geben ohne eine Voranstalt, ohne einen großen Vorrath von Werkzeugen und Hülfsmitteln? Das ist der wahre Sinn ihrer Rede, darauf beruhend, daß der Herr in seinen ersten Worten, nachdem er sie um einen Trunk Wassers gebeten, zu ihr gesagt hatte: so sie nur wollte und die Gabe Gottes, deren Inhaber er sei, erkenne, so würde er ihr gleich auf ihre Bitte das lebendige Wasser, welches in seinem Besiz sei, geben. Darin, m. g. Fr., erkennen wir den Geist der alttestamentlichen Frömmigkeit, die nicht anders wußte, als daß der Segen Gottes nur durch große äußere Mühe zu erreichen sei. Da mußten Opfer gebracht, da mußten Gebete zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten abgehalten werden, und nicht anders als so kommt der Segen des Herrn über die, welche nach ihm verlangen, und nicht überall hört er die, die sich zu ihm wenden. Jesus aber, der sagt, es gehöre nichts anderes dazu als die Erkenntniß der Gabe Gottes und der ausgesprochene Wunsch und die wahrhafte Bitte des Herzens, um das lebendige Wasser, welches er habe, zu empfangen. Und wohl, m. g. Fr., stellt uns dies also auf den rechten Standpunkt des Unterschiedes zwischen dem alten und dem neuen Bunde. Wie in jenem dem Volke mit dem Gesez zugleich der Segen vorgehalten wurde und der Fluch, und also das sinn|liche Wohlbefinden und das sinnliche Uebelbefinden mit hineingezogen, und dadurch die Menschen erst sollten gelokkt werden und bereitwillig gemacht, sich allen den großen Mühen und Beschwerden, die das Gesez von ihnen forderte, zu unterziehen: so ist nun das des neuen Bundes Wesen, daß er von dem allen nichts weiß; sondern er stellt wieder her das unmittelbare Verkehr des Herzens mit Gott; nur das Eine gehört dazu, daß man den erkenne, dem die Gabe Gottes verliehen ist, der nun allen Menschen das lebendige Wasser, welches sie bedürfen, darreichen kann; nur das Eine gehört dazu, daß wir uns an den Sohn wenden, der die Quelle des ewigen Lebens in sich trägt, und daß wir aus ihm schöpfen und aus seiner unendlichen Fülle nehmen; weiter aber ist nichts dazu nöthig, und dann ist das Verhältniß des Menschen zu Gott wieder her27 wurde] werde 25–27 Vgl. Dtn 11,26–28
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gestellt, ohne daß noch etwas von demjenigen nöthig wäre, was der Herr im alten Bunde forderte. Natürlich aber mußte darüber eine Seele, die ganz und gar erzogen war bei eben diesen Geboten des alten Bundes und sich ganz eingelebt hatte in die Erfüllung desselben, die mußte sich deß wol wundern. In allen menschlichen Dingen sind wir dessen gewohnt, daß auf dem gewöhnlichen Wege das große und das herrliche auch nur durch große Mühe und durch schwere Anstrengung gewonnen wird, und wenn es dennoch häufig so zugeht, und wir es sehen, daß auch das bedeutende und wichtige in menschlichen Dingen kommt durch einen bloßen Glükksfall oder durch eine Begünstigung der Umstände, so freuen wir uns darüber auf der einen Seite mit denen, welchen es wird, aber auf der andern rechnen wir es mit zu den Unvollkommenheiten dieses Lebens. Und so, m. g. Fr., ist es auch auf dem geistigen Gebiete, ja selbst dann, wenn wir etwas tiefer gehen als die gewöhnliche Ansicht derer war, die zu dem alten Bunde des Herrn gehörten. Denn wenn wir auch nicht von der bloßen äußern Reinigkeit, | die das Gesez von allen seinen Anhängern forderte, und nicht bloß davon reden, daß die zu Tage liegenden und allen bekannten und in das öffentliche Leben hineintretenden Handlungen des Menschen können abgemessen werden danach, ob sie mit den Forderungen des Gesezes in Uebereinstimmung sind, oder ob sie dem Buchstaben des Gesezes widerstreiten; sondern wenn wir darauf sehen, der Mensch solle besser werden in sich selbst, seine Vernunft solle eine Herrschaft erlangen über seine sinnlichen Leidenschaften und Begierden: so ist auch dies das Werk großer Mühe und unausgesezter Anstrengungen. Beständig muß der Mensch an sich selbst, und andere an ihm arbeiten; beständig muß er Achtung geben auf alles, was in seinem innern vorgeht, und sich gewöhnen an kleinen Zeichen zu erkennen, wo er noch etwas für sich zu befürchten hat, und was daher am meisten der Gegenstand der Besserung sein muß, und was er dagegen schon vorzüglich überwunden hat. Das Evangelium aber bietet uns auch die geistigen Güter und noch größere als diese auf eine leichte Weise an, und fordert nichts von uns als das Begehren und Anerkennen der Gabe Gottes. Denn mit aller jener Arbeit des Menschen an sich selbst ist doch die Vollkommenheit, die er dadurch erreicht, etwas unvollkommenes und Stükkwerk; und wie hoch er sich auch in dieser Rükksicht erheben möge, wie geistig und wie tief auch die Güter sein mögen, die er auf diesem Wege erlangt, so sind sie doch immer etwas, was ihn keinesweges vollkommen befriedigen, und wobei er daher auch nicht stehen bleiben kann ungeachtet aller Mühe, 21 Handlungen] Haudlungen
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die er daran gewendet hat. Aber etwas ganz anderes und vollkommnes ist der Friede des Herzens mit sich selbst und mit Gott und die durch alles, was den Menschen in sich selbst bewegt, und was er an sich erfährt, unerreichbare Seligkeit, deren er nur kann theilhaftig werden, so er die Gabe Gottes in Christo erkennt. Wenn nun dies dem Menschen vorgehalten wird, der schon lange darauf bedacht gewesen ist besser zu werden in eigener Gerechtigkeit und sich selbst ab|gemüht hat bei allen Gelegenheiten, die ihm das Leben darbietet, wie kann er anders antworten als die samaritische Frau that? Ach, das ist die alte Erfahrung, die wir machen, daß wenn auf diesem Wege der Mensch soll besser werden, wenn er dahin gelangen soll, sich selbst und seinen Schöpfer immer mehr zu erkennen, daß es dazu vielfacher Anstrengungen und mühsamer Arbeit bedarf, und daß dennoch nur sparsam der Genuß ist, dessen er sich so erfreuen kann. Aber die Lehre, die durch Christum den Menschen mitgetheilt worden ist, die will uns das alles geben auf einem leichten Wege und noch viel besseres als dieses. Diese Verwunderung, die wir natürlich finden, auch bei den besser gesinnten Menschen, die spiegelt uns die samaritische Frau ab in ihrer Antwort an den Herrn, und wie sie sich beruft auf den Erzvater Jakob, so berufen sich die Menschen in diesem ungläubigen Streit über das Evangelium auf das, was sie ererbt haben von den Vätern, und was ihnen also auf dem Wege der natürlichen Entwikkelung eigen geworden ist, auf den gewöhnlichen Gang menschlicher Weisheit, über welche hinaus bisher nicht höheres bekannt gewesen war. Der Herr aber antwortet ihnen und sagt, Wer dieses Wassers trinkt, den wird wieder dürsten; wer aber das Wasser trinken wird, welches ich ihm gebe, der wird ewiglich nicht dürsten, sondern es wird in ihm ein Springquell des Wassers werden, welches da quillt in das ewige Leben. Das nun, m. g. Fr., sind Worte, über welche auch wir uns wundern können und dem Herrn eine Gegenfrage darüber vorlegen, die uns so leicht entsteht aus der Erfahrung, welche wir haben von der Art, wie er die Menschen beseligt. Denn wenn wir uns fragen, ob das wahr ist, daß wir nicht wieder dürsten, wenn wir aus seiner Quelle geschöpft haben, so scheint es als müßten wir antworten: dem sei nicht so; vielmehr erneuert sich in uns immer wieder und muß sich auch erneuern bei allem, | was sich auf den Zusammenhang und auf den unmittelbaren Genuß unserer Verbindung mit dem Erlöser bezieht, es muß sich erneuern das Verlangen nach ihm, und wir ermahnen uns und sollen uns ermahnen, immer wieder zu ihm uns zu wenden und immer wieder aufs neue zu schöpfen aus seiner Fülle; ja er hat uns das zurükkgelassen als die theuerste und heiligste Ordnung der christlichen Kirche, wir sollen immer wieder dahin gehen, wo sein Wort den Herzen der Christen vergegenwärtigt wird, wir sollen uns immer wieder da nahen,
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wo er sich uns selbst auf eine geheimnißvolle Weise in den Sakramenten zum Genusse darbietet, und das sezt voraus einen immer erneuerten Durst und ein immer erneuertes Bedürfniß denselben zu löschen. Wie hat also der Herr so reden können und hinausgehen über das, was die beständige und gleichmäßige Erfahrung seiner gläubigen ist und aller, denen er das Zeugniß giebt, daß das Wasser, welches er ihnen gegeben hat, in ihnen ein Springquell des ewigen Lebens geworden ist? Laßt uns nur, m. g. Fr., hiebei zunächst daran denken, was in jenem Lande, wo der Herr lebte, unter dem Durst verstanden wurde. In jenen heißen und trokknen Gegenden, wo das Wasser selten war, da wurde der Durst zu einer quälenden Empfindung, wie wir sie nicht theilen können. Gehen wir nun auf das Bild, dessen sich der Herr hier bedient, zurükk, so werden wir den Unterschied wol fühlen zwischen dieser Art des Durstes und zwischen dem, von welchem wir uns bewußt sind, daß er sich in uns wieder erneuert, und wir werden uns das Zeugniß geben, nein, dieses unbestimmte brennende Verlangen, dieses Leiden und diese innere Qual der Seele, die aus dem Verlangen entsteht, welches der Mensch empfindet in sich selbst, der den Herrn noch nicht kennt, und in dem doch das höhere Bedürfniß der Seele aufgegangen ist, die empfinden wir nicht mehr, wenn wir ihn einmal gefunden und das lebendige Wasser von ihm empfangen haben; dieser Durst ist einmal für allemal abgemacht. | Sind wir aber in die lebendige Gemeinschaft mit ihm gekommen, so kehren wir freilich zurükk und müssen immer wieder zu ihm zurükkkehren, so schöpfen und trinken wir immer aufs neue aus seiner Quelle; aber es ist ein seliger die höchste Sehnsucht und das innerste Heil unserer Seele nährender Genuß, den wir auf diese Weise haben, ohne daß ihm zum Grunde läge eine solche tiefe Qual, ein solches tiefes Leiden, ein solches Bewußtsein des Nichtbefriedigtseins der heiligsten Bedürfnisse des Herzens, ein solches Gefühl von dem Mangel der Seligkeit, wie es derjenige in sich trägt, der den Herrn noch nicht gefunden hat, aber doch schon das Verlangen nach dem höheren und ewigen empfindet. Darum war es nicht zu viel, was der Herr hier sagte, sondern wir müssen sagen, es ist die reine und klare Wahrheit. Ja er hat Recht! schöpfen wir einmal von ihm das lebendige Wasser, so wird es in uns selber ein springender Quell, so theilt er selbst sich uns mit, und das ist das erste Zeichen und die erste Gewißheit davon, daß wir ihn recht in uns aufgenommen haben, daß er nun wahrhaft, wie er es verheißen hat, in uns ist und Wohnung gemacht hat in unserem Herzen, daß das lebendige Wasser in uns fließt, dessen Ströme von ihm allein sich in 39–40 Vgl. Joh 14,23
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die menschlichen Seelen ergießen, und daß wir in dem Besiz desselben das ewige Leben gefunden haben, von welchem er gesagt, daß alle diejenigen es schon haben, die an ihn glauben. Und so kommt er darauf zurükk, was er der Frau gleich anfänglich verheißen hatte, wenn sie nur erkennte die Gabe Gottes und den, der zu ihr sagte, Gieb mir zu trinken, so bäte sie ihn, und er würde ihr lebendiges Wasser geben; dasjenige, was den Durst ihrer Seele wahrhaft löschen könne, das sei durch alles Nachsinnen darüber, wer Recht habe in dem großen Streit, ihr Volk, oder | der Herr, den sie unter das Gesez gethan erblikkte, das sei durch das alles nicht zu erreichen. Und nachdem sie nun dieses Wort gehört hat, so bittet sie den Herrn, Gieb mir dasselbige Wasser, auf daß mich nicht dürste, daß ich nicht herkommen müsse zu schöpfen. Etwas also, m. g. Fr., hatte sie wol vernommen von seiner Verheißung, so viel sich nämlich davon bezog auf ihre eigene vorige Rede, denn an die knüpft sich die Antwort an, welche sie dem Erlöser giebt, Wolan, ist es denn so, daß du ein geistiges Gut zu geben hast, welches man erlangen kann ohne alle die Mühseligkeiten, die das Gesez mit sich bringt, so gieb es mir, damit ich jener Mühseligkeiten los werde und auf einem leichtern Wege die Beruhigung meiner Seele über mein Verhältniß zu Gott erlangen könne. War aber das wol, m. g. Fr., die rechte Stimmung, in welcher sie im Stande war die weitere Belehrung des Herrn zu empfangen? Diese Frage können wir nur verneinen. Wenn der Mensch von dem Herrn noch nichts weiter will als nur, daß er die Mühseligkeiten eines solchen äußerlichen Gesezes sowol als auch die Anstrengungen, mit welchen er das innere Gesez befolgen muß, von ihm nehme, aber ohne daß er selbst nach einer andern Art von Mühseligkeit verlange, welche er an die Stelle des äußern Gesezes und der äußern Befolgung eines innern Gesezes stellen muß: so ist er nicht fähig die Gabe des Herrn zu empfangen; denn das Bedürfniß ist noch nicht in ihm aufgegangen, welches allein durch den Erlöser soll befriedigt werden, und er wird aus der göttlichen Gabe, weil er sie nicht versteht, auch nicht dasjenige machen, was er daraus machen soll. Darum bricht der Herr ab, aber indem sie sich doch bereitwillig erklärt hat das lebendige Wasser von ihm anzunehmen, so will er, daß sie es nicht allein empfangen soll, eben weil er aus ihrer Rede noch nicht der Wirkung seiner Rede gewiß ist. Darum sagt er, Gehe hin, rufe deinen Mann, und komm | her, dann will ich dein Begehr erfüllen. Sie aber antwortet ihm, Ich habe keinen Mann, und darauf spricht der Erlöser zu ihr, was wir zulezt gelesen haben. 2–3 Vgl. Joh 3,16.36; 6,40.47
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Wie es nun mit diesem Verhältnisse ist, das wissen wir nicht, denn der Herr drükkt sich nicht deutlich darüber aus, aber im ganzen finden wir eine unverkennbare Ähnlichkeit mit demjenigen, was dem Herrn begegnete, als Philippus den Nathanael zu ihm brachte. Denn auch der zweifelt, daß Jesus der sei, den Philippus als den Messias ihm bezeichnet, und sagt, Was kann von Nazareth gutes kommen. Als der Herr ihn nun ansah und sagte, Sehet da, ein rechter Israelit, in welchem kein Falsch ist, und ihn Nathanael fragt, Herr, woher kennst du mich? so gab er ihm auch ein ähnliches Zeichen seiner genauern Bekanntschaft mit ihm. Da sagte Nathanael, Wahrlich, du bist Gottes Sohn, so wie die Frau hier, Herr ich sehe, daß du ein Prophet bist. Was das gewesen, woran der Herr den Nathanael erinnerte, wissen wir nicht; wie er es erfahren, wissen wir auch nicht; und eben so wenig wissen wir etwas genaues über die Art, wie der Herr das entdekkt hat aus dem häuslichen Verhältnisse der Frau, daß sie schon fünf Männer gehabt, der aber, den sie jezt habe, nicht ihr Mann sei; auch wissen wir nicht, wie viel Schuld die Frau an der so gestalteten Lage der Dinge gehabt hat, aber zu der Erkenntniß kam sie, daß der, der mit ihr redete, ein Prophet sei. Aber wenn der Herr zu ihr sagt, Gehe hin und hole deinen Mann, so dürfen wir nicht glauben, daß er etwas gesagt habe, wovon er wußte, daß es nicht wahr sei; das würde er nicht gesagt haben; sondern er hatte sich damals mit diesen genaueren Verhältnissen nicht bekannt gemacht; er will nur sagen, Bringe mir den, der dir der nächste und liebste ist, und theile mit ihm die Gabe, die ich dir anbiete. Als sie aber sagt, Ich habe | keinen Mann, so deutet er ihre Antwort und theilt ihr mit, was ihm aus ihrem Leben, wir wissen nicht woher, bekannt war. Aber ihr inneres muß es getroffen haben, und daraus zieht sie den Schluß, Herr, nun sehe ich, daß du ein Prophet bist, wie sie auch hernach zu den Bewohnern der Stadt, in welcher sie lebte, sagt, Ich habe einen Menschen gesehen, der mir gesagt hat alles, was ich gethan habe. Das hatte er nun freilich nicht, sondern ihr nur eine leise Andeutung gegeben von seiner Bekanntschaft mit ihrem häuslichen Verhältnisse, in ihr selbst aber hatte sich daran geknüpft alles, was ihr begegnet war, und daß dies ihrer Vorstellung den ganzen Zusammenhang nahe brachte, das war es, was sie zu der Erkenntniß führte, er müsse ein Prophet sein, und daß sie hernach zu den Leuten in der Stadt sagte, Kommt und sehet einen Menschen, der mir gesagt hat alles, was ich gethan habe, ob er nicht Christus sei. Und das ist es, was dem Menschen noch fehlt, der auf der Stufe steht, wo wir die Frau gelassen haben. Damit der Mensch das Bedürfniß fühle, welches der Herr zu befriedigen gekommen ist, so muß er in das 3–10 Vgl. Joh 1,45–49
28–31.36–38 Vgl. Joh 4,28–29
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tiefste innere seiner Seele geführt werden; da muß er den finden und erkennen, der ihm selbst verborgen ist, so lange er nur dasjenige sucht, was die Menschen haben, und woran sie sich begnügen, ehe sie die Gabe Gottes in Christo erkennen, und so lange sie den Frieden, den der Herr gebracht hat, nicht verstehen. Wenn wir nun zu der Erkenntniß kommen, wie in den mannigfaltigen Verwikkelungen des Lebens wir nicht anders können als die Sünde wieder erzeugen, wie sie unter tausend Gestalten wieder zum Vorschein kommt, und wie mit allem, was uns hemmt und was uns fördert, mag es nun mehr leiblicher oder geistiger Natur sein, mit allen Verbesserungen des Lebens, die wir vornehmen, mit allen guten Fertigkeiten, die wir uns erwerben, es doch immer nur Stükkwerk bleibt, und wie dies alles uns nicht befriedigen kann, dann sind wir nahe daran entweder das Leben selbst und allen Werth desselben auf|zugeben oder zu ahnden, es müsse noch etwas höheres geben als dasjenige ist, wonach wir bis jezt getrachtet haben. Steht nun der Mensch auf diesem Punkte allein, so kann ihm das erstere leicht begegnen; sieht er aber Christum vor sich, wird der ihm verkündigt als die Gabe Gottes, die schon von vielen Geschlechtern der Menschen angenommen und auf eine segensreiche Weise genossen ist, wird er ihm verkündigt als derjenige, der allein uns lebendiges Wasser, welches in das ewige Leben quillt, zu geben im Stande ist, als derjenige, der nicht einen zeitlichen sondern einen höheren Frieden über das menschliche Geschlecht ausgießen kann: dann sind wir fähig uns von ihm die göttliche Gabe auszubitten und von ihm geben zu lassen und zu empfangen das lebendige Wasser, wie auch diese Frau, welches allen Durst des Menschen so zu stillen vermag, daß er hinfort nicht mehr dürste, sondern das Wasser, welches der Herr giebt, in ihm werde ein Springquell des Wassers, welches in das ewige Leben fließt. Ja so, m. g. Fr., kommt mehr oder weniger, früher oder später jeder unter uns zu der näheren Vereinigung mit dem Erlöser, in welcher wir die Erfahrung machen von dem lebendigen Wasser, welches er allein geben kann, von der Stillung alles Durstes durch ihn, und daß wer aus ihm schöpft, so wie es ihm vorher begegnet ist, nie wieder dürsten kann. Amen.
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Sexagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 10,36–38 Nachschrift; SAr 86, Bl. 43r–61v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 103r–114r; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 159v–160v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Hauptpredigt Sexages. 1824.
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Tex t. Apostelgeschichte X, 36–38. Ihr wisset wohl von der Predigt, die Gott zu den Kindern Israel gesandt hat, und verkündigen lassen den Frieden durch Jesum Khristum, welcher ist ein Herr über Alles, die durch das ganze jüdische Land geschehen ist, und angegangen in Galiläa nach der Taufe, die Johannes predigte: wie Gott denselbigen Jesum von Nazareth gesalbt hat mit dem heiligen Geist und Kraft, der umhergezogen ist, und hat wohlgethan und gesund gemacht alle, die von bösen Geistern überwältigt waren, denn Gott war mit ihm. M. a. F., Wir haben uns neulich unterhalten, wie unser Herr während seines öffentlichen Lebens eine kleine Schaar von näheren | Jüngern und Schülern um sich gesammelt, und wie er zugleich den lebendigen Keim des wahren Glaubens ausgestreut hat in ihre Seele, und uns auch an dem Theil, welchen wir an diesem Verhältniß haben, erfreut und gestärkt. Wenn dies nun unmittelbar das Werk war, welches der Herr durch sein öffentliches Leben ausrichtete, indem aus dieser seiner ersten Jüngerschaft die ganze so weit in dem ganzen menschlichen Geschlecht verbreitete Kirche Khristi ausgegangen ist; so haben wir nun zu reden von der Art und Weise, wie er zu Werke gegangen ist, um diese an ihn gläubigen und ihn liebenden Seelen sich zu erwerben. Davon geben uns nun die Worte des | Apostels Petrus in dem Hause 1 Hauptpredigt Sexages. 1824.] Ergänzung von Schleiermachers Hand 11–16 Vgl. oben 8. Februar vorm. über Joh 15,16
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des Kornelius, welche wir eben gelesen haben, worauf er selbst vor dieser Familie, die begierig war das Wort des Lebens zu hören, seine Predigt gründete, eine kurze und zusammengedrängte Beschreibung. Was wir in den Darstellungen des Lebens unseres Herrn, welche wir in den Evangelien finden, zerstreut und in einer Menge von einzelnen Zügen haben, das stellt er uns hier in ein kurzes Bild zusammen, wie er es denen vorhalten konnte, welche den Ruf von Jesu von Nazareth gehört hatten. Was ist es nun, m. g. F., worauf uns die Darstellung des Apostels verweiset? Zweierlei offenbar, welches er uns aber als nothwendig und natürlich zusammengehörend darstellt, | die Predigt des Friedens, welche Gott dem Volke Israel gesandt hat durch Jesum Khristum; aber dann auch wie er umhergegangen ist, und hat wohlgethan und gesund gemacht. Seine Predigt also und seine Wunder, das beides war, wodurch er den Keim des Glaubens ausstreute, seine Jünger an sich zog und festhielt; und auf dies beides laßt uns also mit einander jezt unsere khristliche Aufmerksamkeit richten. Laßt uns aber beides betrachten zuerst in seiner innigen Verbindung, dann aber in der besondern Beschaffenheit der Predigt sowohl als der Wunder, die der Apostel hier zeigt; endlich aber auch, wie dies beides zusammengenommen das Thun des Herrn war in seiner Vorbildlichkeit für uns, die | wir nachfolgen sollen seinen Fußtapfen. I. Zuerst also, m. g. F., der Herr ist umhergegangen, und hat gepredigt, verkündigt, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, er ist umhergegangen und hat geheilt durch die wunderbaren Kräfte, die ihm zu Gebote standen. Laßt uns fragen: wie hängt doch beides zusammen, wie gehört beides zusammen? darüber werden wir aber wohl leicht einig werden, m. g. F., die Wunder allein hätten es nicht gemacht. Denn einmal geschahen die meisten, welche der Herr verrichtete, wenn auch nicht in solcher Menge, wenn auch nicht mit solch einem dauernden Erfolg, doch einzeln wenigstens auch von andern. | Wunder für sich allein, was können sie auch erregen, als ein fruchtloses Staunen über das, was wir nicht begreifen? Eine erregende Kraft auf das Innerste des Menschen liegt an und für sich nicht in ihnen, und Lehre und Zeugniß legen sie eben deswegen auch nicht ab, weil wir sie nicht begreifen, und also auch nicht vermögen, so wir sie für sich allein sehen, das Wahre und das Falsche, das Höhere und das Gemeine, das Göttliche und das vielleicht Verkehrte darin zu unterscheiden. Aber der Herr sagt: das ist der Wille des Vaters, daß sie glauben an ihn und an den, den er gesandt hat. Wenn wir uns nun fragen: hätten aber nicht ohne die 23–24 Vgl. Mt 4,17
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Predigt, von welcher der Apostel redet, | die Wunder, die der Herr that, nur in Verbindung gesezt mit dem Zeugniß, welches er von sich selbst ablegte, hätte nicht eben ihre Mannigfaltigkeit und ihre Fülle und die Herrlichkeit, die sich darin offenbarte, die Menschen doch erfüllen müssen mit dem Glauben, sein Zeugniß von sich selbst sei wahr und er sei derjenige, den Gott gesandt hat? Der Herr selbst, m. g. F., hat nicht so gedacht und gehandelt. Denn so oft, wenn er ein Zeugniß von sich selbst abgelegt hatte, diejenigen, welche ihm mit wenigem Glauben und mit verschlossenen Herzen, die Aufforderung an ihn richteten und die Frage: Was thust du für ein Zeichen, was zeigst du uns für Wunder, damit wir deiner Rede glauben? so stellt er sie dar als ein verkehrtes Geschlecht, | welches immer nur nach Zeichen und Wunder frage, und niemals hat er auf diese Aufforderung auch nur eins verrichtet; und nie seine Wunder in eine unmittelbare Verbindung gesezt mit dem Zeugniß, welches er so von sich selbst ablegte. Freilich sagt er an einem andern Orte wieder: wenn ihr nicht meinen Worten glaubt, so glaubt doch den Werken, die ich vor euch thue, und damit weiset er offenbar auf seine Wunder hin. Aber wir sehen auch aus diesen Worten, daß er jene nur that der menschlichen Schwachheit wegen, denn eigentlich liegt doch darin das Begehr, sie sollten ihm glauben um seiner Worte willen, sein Wort sollte ihr verschlossenes Herz öffnen, und in ihr geistiges Ohr dringen und den Glauben in ihre Seele pflanzen; | wenn sie aber dem Worte nicht glauben wollten, so möchten sie doch achten auf die Werke. Nicht also ursprünglich um den Glauben hervorzubringen, sehen wir, daß er auf sie hinweist, sondern nur in Ermangelung dessen, was ihn eigentlich hervorbringen sollte, nur als Gegengewicht gegen die auch sinnliche Kraft des Unglaubens, als Gegengewicht gegen alles dasjenige was die Feinde des göttlichen Wortes zu seinem Nachtheil unter den Menschen zu verbreiten suchten. So stellt er also in diesen Worten die Predigt offenbar voran vor die Wunder. Wohlan, so können wir also auf der andern Seite fragen, war es sein Wort, war es die Predigt, die Verkündigung, die Gott durch ihn dem Volke Israel | sandte, wofür er Glauben verlangte von denen, die ihn hörten, hätte nicht auf der andern Seite diese zugereicht ohne die Wunder? O wohl, m. g. F., hätte sie es und hat es auch. Oder sehen wir nicht, wie Petrus und Andreas, Johannes und Philippus, als sie den Herrn erst kurze Zeit kennen gelernt hatten, und noch kein Wunder von ihm gesehen, doch schon des Glaubens voll waren, wir haben den Messias ge7 gedacht und gehandelt. Denn so] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 105r 10–11 Vgl. Joh 6,30 11–12 Vgl. Mt 16,4; Mk 8,12 14,10–11 35–2 Vgl. Joh 1,40–45
16–17 Vgl. Joh 10,37–38;
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funden, wir haben den gefunden, von welchem die Propheten geweissagt. Was anders also war es, dem sie glaubten, als eben sein kräftiges Wort, die geheimnißvolle Gewalt seiner Rede, die Predigt, mit welcher er sich ihnen zuerst kund that. Aber dies müssen wir auch gestehen, m. g. F., wenige | waren es, die auf diesem reinen Wege der Predigt allein, so viel wir wissen, zum Glauben an ihn gekommen sind. Großes hat sie gewirkt und hat sich gezeigt als etwas Ungewöhnliches und Außerordentliches. Der redet anders als die Schriftgelehrten und Pharisäer, so gewaltig wie dieser hat noch kein Mensch geredet, das sagten Viele, solche Reden kamen von einer großen Menge des Volks her, und von Vielen, die nicht unter die geistig Empfänglichen und Gebildeten gehörten. Da sehen wir freilich die Kraft der Predigt, aber wie Viele gingen auch wieder hinter sich, für wie Viele kam eine Zeit, wo es hieß, die Rede war ihnen zu hart, und sie wichen von ihm, | und hörten auf, seine Jünger zu sein. Und Viele, das können wir auch nicht leugnen, wurden zuerst zu ihm hingelokt durch die wunderbare Hülfe, die von ihm so vielen Leidenden und Elenden zu Theil ward, und preiseten Gott für die große Kraft, die von ihm in den Menschen gelegt war, und sagten unter einander: nun hat Gott sein Volk wieder heimgesucht. Das war die Kraft der Wunder, und sie waren also auch keines weges etwas Nichtiges und Leeres; und wie sich in dem Leben des Herrn beides verband, so müssen wir auch beides als zusammengehörig und zusammenwirkend betrachten, um dasjenige auszu|richten, wozu er gekommen war. Und gewiß wenn wir es näher erwägen, so werden wir auch leicht finden können, wie beides zusammengehört. Denn was war es doch, was den Menschen das kräftige Gefühl gab, dessen sie sich nicht entschlagen konnten, daß der Herr anders rede als die Schriftgelehrten und Pharisäer? was war doch die Gewalt, die sich unwiderstehlich so vieler Seelen bemächtigte, wenn gleich sie auf Viele nur augenbliklich und vorübergehend wirkte? Nichts anderes war es, m. g. F., als die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, daß es mehr als menschliche Weisheit war, was er redete, daß der Vater von sich selbst | durch ihn zeugte. Und woher anders, m. g. F., als eben aus dieser Gottes-Kraft können wir die Wunder herleiten, die er that? Die Fülle der Gottheit wohnte in ihm und war in ihm in Verbindung getreten mit der leiblichen Natur, so mußte sie sich also auch in dieser zeigen und über diese sich ergießen. Das Eine war ein geistiges und höheres, das Andere war ein mehr natürliches, gewöhnliches aber ebenfalls göttliches Ausströmen der Kraft Gottes, die in ihm wohnte. So konnte er nicht anders, als auf der einen Seite predigen, äußerlich darstellen das göttliche Wort, welches 8–9 Vgl. Mt 7,28–29; Joh 7,46 30–31.34–35 Vgl. Kol 2,9
12–15 Vgl. Joh 6,60.66
17–19 Vgl. Lk 7,16
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in ihm war, ausströmen die Fülle der Gottheit um die menschlichen | Herzen zu treffen, zu durchdringen und dadurch zu beseligen; aber auf der andern Seite auch nicht anders, als der leiblichen Natur gebieten durch die göttliche Kraft, die in ihm wohnte. Das Eine war die Predigt, das Andere waren die Wunder. Und so redet auch Petrus vor seinen Hörern, denen der Ruf ebenfalls erschollen war von dem großen Lehrer und von dem gewaltigen Wunderthäter, indem er beides zusammenfaßt als gemeinsam das Geschäft des Herrn und sein öffentliches Leben darstellend. Und das Eine auch geht in der That und Wahrheit in dem Andern auf. Seine Predigt als solche, weil sie nicht menschliche Rede und menschliche Weisheit war, sondern | Gotteskraft, war sie ein Wunder, und wirkte wunderbar, und in ihren Wirkungen mit nichts vergleichbar auf die Seelen der Menschen; und wiederum seine Wunder, weil sie aus nichts anderem herflossen, als aus jener göttlichen Kraft der Liebe und des Erbarmens, so waren sie eine Predigt von der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, und von dem Maaße der göttlichen Kraft der Liebe, die ihn ganz trieb und beseelte. Die Predigt war Wunder, und die Wunder waren Predigt, und beides mußte wirken um den wahren Glauben an ihn hervorzubringen und zu erhalten. So gehörte also beides zusammen und wirkte durch seine besondere | Beschaffenheit, die wir nun zweitens mit einander erwägen müssen. II. Wie nennt der Apostel die Predigt, die Gott durch Jesum Khristum dem Volke Israel gesandt hat, und welche anfing nach der Taufe, die Johannes predigte? Er nennt sie eine Predigt des Friedens, und besser, m. g. F., hätte er sie wohl nicht in der Kürze bezeichnen können als so. Was weiß der Herr selbst Herrlicheres und Vortrefflicheres zu sagen von seiner Rede als eben dies: meinen Frieden gebe ich euch, nicht gebe ich, wie die Welt giebt, meinen Frieden laße ich euch. So war der Friede der Gegenstand seiner Predigt, aber es war eine wirksame Predigt, | mit welcher er den Frieden, den er verkündigte, zugleich brachte. Diese Predigt fing an, wie Petrus nicht ohne Bedacht sagt, nach der Taufe, die Johannes predigte. Denn in der war an und für sich nicht der Friede, er predigte das Reich Gottes sei herbei gekommen, aber nun solle jedermann Buße thun; und das war also die Predigt von dem Bewußtsein des menschlichen Verderbens und der menschlichen Ohnmacht; die Predigt von dem Bewußtsein daß Alles, was Gott vorher den Menschen gegeben hatte, daß die heiligen Schätze des Gesezes, welche das Volk 35 das] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 108r 15–16 Vgl. Kol 2,9
28–29 Vgl. Joh 14,27
34–35 Vgl. Mt 3,2; Mk 1,15
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in dem alten Bunde verwahrte, doch die Menschen nicht hatten dahin führen können, wohin sie kommen | sollten, und daß aus dem allen nichts hervorgegangen war, als daß sie zusammengehalten wurden unter der Sünde, und daß sie zu der Erkenntniß der Sünde gelangten. Der Herr nun nahm auch die Predigt des Johannes auf, und fing ebenfalls damit an, nachdem er von ihm die Taufe empfangen hatte, zu predigen von der Buße und von der nahen Ankunft des Reiches Gottes, aber bald darauf schloß sich an diese Predigt an die eigenthümliche Predigt des Friedens. Sobald der Herr nicht mehr nur im Allgemeinen verkündigte, das Reich Gottes sei nahe, sondern so wie er anfing von sich selbst Zeugniß zu geben, er sei derjenige, durch welchen es kommen solle, da begann die Predigt des Friedens: kommt | her ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquiken; nehmet auf euch mein Joch, und folget mir nach, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Diese göttliche Ruhe, die er selbst in sich trug, daher kommend und darauf gegründet, daß er Alles wußte, was der Vater that, und der Vater ihm alle seine Werke zeigte, und er eins war mit ihm, diese göttliche Ruhe, die er darstellte in seinem ganzen Leben, dieser Friede, der ihn keinen Augenblik verließ, zu dessen Theilnahme ladete er die Menschen ein. Das war mehr als die Welt geben konnte mit allem Herrlichen, was damals schon in ihr war, nicht ausgeschlossen die heiligen göttlichen Offenbarun|gen und das göttliche dem Volke gegebene Gesez, das hatte nur den Schatten der ewigen Güter, und wie wir gesungen haben, es hielt die Menschen zusammen mit seinen bangen und dunklen Sazungen, aber den Frieden und die Freiheit, die beide unzertrennlich von einander sind, die vermochte es nicht zu geben. Der Herr aber predigte den Frieden, der aus der Gemeinschaft mit ihm, als der höchsten menschlichen Quelle des Friedens und aller Ruhe herkommen soll. Und wenn der Apostel sagt: „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens in allen Gemeinen des Herrn“, so sehen wir, wie damals schon dieser Friede als der eigenthümliche Schaz der Gemeine Khristi angesehen wurde, | als das heilige und auf keinem andern Wege zu erreichende Gut, welches er den Menschen bringen kann, und kein anderer Friede soll es sein als der seinige, und keine andere Ordnung im Gegensaz gegen alle Unordnung in der Welt als die, die daraus entsteht, daß wir den Vater kennen durch den Sohn, daß sich uns wie ihm die Werke des Vaters enthüllen, und wir in ihm und durch ihn seinen Willen erkennen, und daß dieser Wille Gottes durch seinen Geist in unserem Herzen lebendig wird. Wo ein Geist ist, da ist auch Überein12–14 Vgl. Mt 11,28–29 16–17 Vgl. Joh 5,20 17 Vgl. Joh 10,30 22–23 Vgl. Hebr 10,1 23–26 Vgl. Liederblatt, Lied vor dem Gebet (unten Anhang) 29– 30 Vgl. 1Kor 14,33
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stimmung, wo ein ordnender, schaffender Geist ist, da ist auch Ordnung, und wo Ordnung ist, und diese zusammenstimmt, da ist der heilige Friede gegründet. So | war die Predigt des Herrn eine Predigt des Friedens. Und seine Wunder, sie waren nichts anderes als Wunder der Wohlthätigkeit. Wo ihm die Leidenden entgegentraten, und zu ihm sprachen: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich unser“, da half er; wo mit keker Zuversicht oft durch ein unabsichtbares Gedränge von Menschen sich ein Leidender vor ihm niederwarf, da freute er sich seines Glaubens, und erlöste ihn von seiner Qual, und anders als wohlthuend hat er diese göttlichen Kräfte über die Natur niemals erwiesen. Zu seinem eigenen Dienst wohl bediente er sich nicht des Schrekens, der von ihm aus gehen konnte, zu seiner eigenen Rettung erflehte er keine Legio|nen Engel, nichts that er für sich, sondern diese Kräfte wurden in ihm nur aufgeregt, wo ihn die Stimme des Mitleidens und des Erbarmens rief. Wie sollte nun nicht beides auf diese Weise zusammengewirkt haben, den Glauben an ihn hervorzubringen, die Predigt des Friedens, von welchem die Menschen fühlten, daß sie ihn durch eine Andere nicht erlangen konnten und die göttlichen Werke der Wohlthätigkeit, die er den Leidenden spendete, und dadurch bewies, daß er durch nichts anderes getrieben und regiert wurde als durch die Liebe, die das Wesen Gottes ist. Nicht wollte er damit glänzen und scheinen vor der Welt, nicht wollte er damit prangen und sich einen | großen Namen machen vor den Menschen, sondern helfen wollte er damit und wohlthun, das war die einzige Absicht alles Großen und die menschlichen Kräfte weit Uebersteigenden, was er jemals that. Der zärtlichen Neigung seines Herzens folgte er, und die brachte seine Wunder hervor. Es giebt einen Frieden, m. g. F., der nur hervorgebracht wird durch eine überwiegende Gewalt, die alle Kräfte unter sich gefangen nimmt, indem sie sie alle lähmt. Da hören auch die gegenseitigen Reibungen auf, da kann sich keiner bewegen von dem Ort, der ihm angewiesen ist, und also auch keinen andern stören durch den seinigen. Aber das ist der Friede, der nicht durch die Liebe hervorgebracht | wird, und ein anderer als der, den der Herr den Seinigen gegeben hat. Daher mußten die Beweise der Liebe überall die Predigt des Friedens begleiten, um die Menschen zu leiten zu der Zuversicht, daß es nicht der knechtische Friede sei, den sie bei dem Herrn finden und von ihm empfangen sollten, sondern der freie göttliche, hervorgehend aus der Alles belebenden und erfreuenden Kraft der Liebe. So geben seine Wunder Zeugniß von seiner Predigt, so war es derselbe Geist, von dem seine Predigt 31 keinen] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 110r 12–13 Vgl. Mt 26,53
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zeugte, der seine Wunder hervorbrachte. Das, m. g. F., das ist die Herrlichkeit des Herrn; aus beiden zusammengenommen geschah es, was der | Apostel Johannes sagt, daß sie in ihm erkannten die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater. Solch ein Friede, wie der war, den er brachte, das kann nur der göttliche Friede sein, unmittelbar herabgesandt von oben aus der Quelle alles Lichtes, so geleitete und so wirkende Kräfte konnten nur der Abglanz sein des göttlichen Wesens und der göttlichen Herrlichkeit; durch beides verkündigte sich der eingeborne Sohn voller Gnade und Wahrheit. III. Aber wenn ich gesagt habe, daß wir drittens auch beides betrachten wollen in seiner Vorbildlichkeit für uns, wie sollen wir dies wohl knüpfen an die | Darstellung, die wir uns bis jezt vorgehalten haben? Ja, m. g. F., in ihm erscheint die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, aber in uns soll auch erscheinen die freilich noch nicht ganz erschienene, aber doch in ihren Anfängen sich zeigende Herrlichkeit der Kinder Gottes, die Herrlichkeit solcher Kinder Gottes, die es geworden sind dadurch, daß er ihnen die Macht dazu gegeben hat als solchen, die an seinen Namen glauben. Wunder thun aber, m. g. F., können wir nicht, das wissen wir wohl; seine Apostel druchdrang noch durch seine besondere Mittheilung ein Strahl von diesen außerordentlichen Kräften des Herrn, sie konnten auch noch im Namen Jesu von Nazareth die Lahmen gehend | machen und die Blinden sehend, und die Welt war auch ihrer Wunder voll; je mehr aber Ordnung und Friede sich befestigt haben in der Gemeine des Herrn, je weniger es noch eines Zeugnisses dafür bedarf daß sein Friede der wahre göttliche Friede von oben ist, desto mehr haben sich jene wunderbaren Kräfte zurükgezogen, und Alles ist zurükgekehrt in die natürliche Ordnung der menschlichen Dinge; und wenn jezt sich uns etwas Ähnliches zeigt, so sind wir billig mißtrauisch dagegen, nicht wissend ob es ein Widerschein ist von den Kräften, die der Herr mitgetheilt hat, oder ob es ähnlich ist den Wundern, welche auch solche verrichteten, die den | Namen Jesu zwar dabei aussprachen, aber nicht wie seine Jünger wandelten und ihm nicht nachfolgten. Wunder können wir also nicht verrichten, wie können doch die Wunder ein Vorbild sein für uns, damit auch in uns beides die Predigt und die Wunder, das Zeugniß und die That sich mit einander paart. O, m. g. F., wie mögen wohl die Leidenden 17 die Herrlichkeit solcher Kinder Gottes,] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 111r 3–4.8–9.14–15 Vgl. Joh 1,14
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32–34 Vgl. Mk 9,38; Lk 9,49
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und Elenden sich gefreut haben in jenen Tagen des Fleisches unseres Herrn, wenn er aus der Ferne irgend wohin kam, wo seine wunderthätige Kraft bekannt war, wie sehnsüchtig mögen ihm die zerschlagenen Herzen entgegengeschlagen haben, welche Schimmer von Hoffnung mögen in ihnen auf|gegangen sein, sobald gesagt wurde, Jesus von Nazareth sei da. Sehet da, m. g. F., so soll man Frieden bringen, eine solche erfreuliche Erscheinung allen Leidenden soll jeder wahre Jünger des Herrn sein, wo er erscheint, da soll er aus der Fülle der Kraft, die in ihm wohnt, Linderung und Stärkung um sich her verbreiten. Wie die Menschen damals dem Herrn nicht verbargen ihre Schwächen und Leiden, sondern sie ihm darlegten, so soll sich auch der gläubige Jünger des Herrn nicht verbergen der Noth und dem Elend und überall soll eine geistige Hülfe und eine geistige Kraft von ihm ausströmen. Was wir nicht wirken können auf | eine übernatürliche Weise auf die Natur, das sollen wir wirken auf eine natürliche Weise auf den Geist. Erheben sollen wir überall durch unser Dasein und hervorbringen die gesunkenen Kräfte der Menschen, den Widerstand, den sie den Leiden des Lebens entgegensezen können, sollen wir beleben, den frischen Muth und die Fröhlichkeit des Herzens sollen wir in ihnen anfachen, das Gefühl der Nähe und der Allgegenwart dessen, der überall hülfreich ist, sollen wir in allen denen beleben, die von den Trübsalen dieser Welt gedrükt werden. Das ist es, was wir thun können, freilich weit zurükbleibend hinter der wunderbaren | Hülfe, die der Herr den Menschen gewährte, aber doch Zeugniß gebend von der göttlichen Kraft der Liebe, mit welcher er sie verrichtete, Zeugniß gebend von unserem unmittelbaren Zusammenhang mit ihm. Vor allem aber, m. g. F., wie Gott durch Jesum Khristum die Predigt des Friedens gesandt hat dem Volke Israel, so soll jeder unter uns ein Prediger des Friedens sein. Freilich der Herr selbst sagt: ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwert; allein in diesen Worten spricht er nicht seine Absicht aus, sondern den Erfolg, und zwar nur den vorübergehenden Erfolg. Denn er soll herrschen bis alle Feinde zu seinen Füßen gelegt sind, | und der Prediger des Friedens, der Fürst des Friedens, was ist wohl sein ärgster Feind als das Schwert und die Zwietracht. So soll denn diese immer mehr weichen seiner Predigt des Friedens und seiner That des Friedens. Und wenn es auch uns begegnet, daß, indem wir den Frieden predigen, wir doch nicht den Frieden bringen, sondern das Schwert, wenn es oft nicht anders angeht, als daß wir die Kräfte der Menschen vereinigen gegen alles verkehrte und böse Beginnen, so thun wir es, um uns gegen das zu wenden, was den Frieden stört. In unserem Herzen soll nichts anderes sein als das Streben den Frieden zu predigen | und den Frieden mitzutheilen. Und wie ich selbst gesagt 29–30 Mt 10,34
32–33 Vgl. 1Kor 15,25
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habe von dem Herrn, den Frieden, den er gebracht hat, den kann die Welt nicht geben, so sollen wir diesen Frieden vor aller Welt bekennen, und es verkündigen, daß wir diesen Frieden nur bei ihm gefunden haben, der die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft und sie erquikt, daß wir diesen Frieden nur bei dem gefunden haben, in welchem Gott war, um Gott mit der Welt zu versöhnen, und den gefährlichsten und verderblichsten Zwiespalt, die Feindschaft zwischen Gott und dem menschlichen Geschlecht aufzuheben, und den himmlischen Frieden über jede andere Feindschaft immer mehr | zu verbreiten. Je mehr wir nur, m. g. F., den Frieden in dem Innern unseres Herzens haben und festhalten, je mehr wir unser Leben unter den Menschen durch nichts anderes als durch den Geist der Liebe und des Friedens leiten lassen, auf nichts anderes bedacht als wie der Herr that, die Mühseligen und Beladenen, von welcher Art sie sein mögen, zu uns einzuladen, damit sie schöpfen mögen mit uns aus der unerschöpflichen Quelle des Friedens: so unter den Menschen wandelnd kann es nicht fehlen, auch wir werden Prediger des Friedens sein, auch von uns aus wird sich selige Ruhe verbreiten über alles, was der Herr ge|schlagen hat. Und sind wir auch nicht frei von dem Kampfe, den er selbst, so lange er auf Erden wandelte, gekämpft hat, den alle seine Apostel nach ihm gekämpft haben, den guten Kampf des Glaubens, so ist doch das Schwert nur überall das Verschwindende, der Friede überall das schöne, selige Ziel. Das, m. g. F., das ist die Herrlichkeit der Kinder Gottes, welche alle diejenigen haben, die an seinen Namen glauben, welche wir aber auch nirgens anders wüßten mit Sicherheit zu finden, als bei dem, in welchem wir die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater schauen, und von welchem wir zeugen, daß in seinem | Namen und in keinem andern den Menschen Heil gegeben sei. Amen.
[Liederblatt vom 22. Februar 1824:] Am Sonntage Sexagesimä 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Sollt’ es gleich etc. [1.] Jesus kommt und mit ihm Frieden, / Seine Stimm’ erquikt die Müden, / Den Beladnen ruft sie Ruh, / Sterbenden Belebung zu. // [2.] Der nicht hat 13 Herr] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 113v 1–2 Vgl. Joh 14,27 4–5.13–14 Vgl. Mt 11,28 26 Vgl. Joh 1,14 27–28 Vgl. Apg 4,12
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sein Haupt zu legen, / Geht umher und spendet Segen, / Macht der Blinden Augen sehn, / Heißt die Todten auferstehn. // [3.] Das Gesez mit dunklen bangen / Sazungen hielt hart gefangen; / Todtes Bild und Schatten war / Tempel, Opfer und Altar. // [4.] Er zerriß die dichte Hülle, / Oeffnet uns der Gottheit Fülle; / Es ward Licht, als er erschien, / Gnad’ und Wahrheit ward durch ihn. // [5.] Gottesliebe, Bruderliebe, / Alle seligsten der Triebe / Flößt er unsern Seelen ein, / Lehrt Versöhnte auch verzeihn. // [6.] Nun neigt sich zur Erde wieder / Gott mit Wohlgefallen nieder; / Der den Sündern Tod gedräut, / Beut uns jezt Barmherzigkeit. // [7.] So ist Er zu uns gekommen, / Freut euch seiner, jauchzt ihr Frommen, / Danket, daß durch Jesum Christ / Gott nun wieder mit uns ist. // (Jauersch. Gesangb.) Nach dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Wie göttlich sind doch Jesu Lehren, / Wie überzeugend seine Macht, / Sobald wir von den Thaten hören, / Die er auf Erden hat vollbracht: / So stimmt ihm unser Glaube bei, / Daß er der Welt Erlöser sei. // [2.] Er schenkte das Gesicht den Blinden, / Den Tauben gab er das Gehör; / Der Aussatz mußte vor ihm schwinden, / Der Stumme bracht’ ihm Dank und Ehr. / Sein Machtwort hieß die Lahmen gehn, / Und selbst die Todten auferstehn. // [3.] Sein Segen speiste ganze Heere, / Wenn’s in der Wüst’ an Brodt gebrach; / Und kaum gebot er Wind und Meere, / So ließ der Sturm gehorsam nach. / So sah man stets bei allem Thun / Auf ihm der Gottheit Fülle ruhn. // [4.] Wir dankens, Vater, deiner Stärke, / Die Jesum vor der Welt verklärt, / Der durch so große Wunderwerke / Als dein Gesandter sich bewährt; / Nun nehmen wir ihn gläubig an, / Und sind ihm freudig unterthan. // [5.] Erfüll’, o Herr, auch unsre Herzen, / Mit seiner Lehre Göttlichkeit, / Damit wir nicht das Heil verscherzen, / Das uns dein Sohn allein verleiht; / Und schaffe, daß ihm unsre Treu / Bis in den Tod ergeben sei. // Nach der Predigt. – Mel. Sollt’ ich meinem Gott etc. Dank sei dir von allen Frommen, / Preis und Dank sei dir geweiht! / Herr, durch dich ist Heil gekommen / In das Land der Sterblichkeit; / Wer mit dir durchs Leben gehet, / Schmeckt schon hier des Himmels Lust, / Friede wohnt in seiner Brust, / Zu dir ist sein Geist erhöhet / Ja es mischt sich unser Dank / In der Engel Preisgesang. //
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Estomihi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 18,31–43 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 86, Bl. 62r–81r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 114v–126v; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 161r–161v; Gemberg Vertretung für Marheineke (vgl. Tageskalender und SAr 52, Bl. 161r) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am Sonntage Estomihi 1824. | Tex t. Lucä XVIII, 31–43. Er nahm aber zu sich die Zwölfe, und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet und verschmähet, und verspeiet werden; und sie werden ihn geisseln und tödten; und am dritten Tage wird er wieder auferstehen. Sie aber vernahmen der keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das gesagt war. Es geschahe aber, da er nahe zu Jericho kam, saß ein Blinder am Wege und bettelte. Da er aber | hörte das Volk, das durchhin ging, forschte er, was das wäre. Da verkündigten sie ihm, Jesus von Nazareth ginge vorüber. Und er rief und sprach: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner. Die aber vorne an gingen, bedroheten ihn, er sollte schweigen. Er aber schrie viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner. Jesus aber stand still, und hieß ihn zu sich führen. Da sie ihn aber nahe bei ihn brachten, fragte er ihn, und sprach: Was willst du, daß ich dir thun soll? Er sprach: Herr, daß ich sehen möge. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend; dein Glaube hat dir geholfen. Und alsobald ward er sehend, und folgte ihm nach, und pries Gott. Und alles Volk, das solches sahe, lobte Gott. | M. a. F., Zwei allerdings sehr verschiedene Geschichten sind in dieser evangelischen Lektion mit einander verbunden, aber etwas giebt es
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doch, worin sie mit einander übereinstimmen; in beiden zeigt sich uns die Schwachheit und Unvollkommenheit auch gläubiger Seelen, und in beiden zeigt sich eben so sehr die Milde und Treue des Erlösers. So laßt uns denn beide mit einander, eben in der Beziehung auf dasjenige, worin sie sich gleichen, mit khristlicher Aufmerksamkeit betrachten. I. Der Evangelist erzählt uns zuerst, der Erlöser hatte die Zwölf zu sich genommen und ihnen vorher verkündigt sein Leiden, sie aber hätten der keines vernommen | und gar nicht gewußt, was das gewesen wäre. Das muß uns billig Wunder nehmen. Wenn doch der Erlöser mit so klaren Worten, wie hier gesagt wird, von seinem Leiden und von seinem Tode geredet hat und auch gleich den herrlichen Trost seiner Auferstehung hinzugefügt, wenn sie doch schon lange wußten, wie viel Feindschaft gegen ihn unter denen war, welche die Angelegenheiten des Volks leiteten, und wie schon öfter der Versuch gemacht war ihn zu greifen und gefangen zu nehmen: wie konnte ihnen doch das verborgen bleiben, was der Erlöser sagte, wie konnten sie sich doch denen gleichstellen, von welchen er | so tadelnd an einer andern Stelle sagt und sie darüber schilt, daß sie die Zeichen der Zeit nicht verständen. Gewiß, m. g. F., je weniger wir es fassen können, wie die Jünger des Herrn nach einem so langen Umgange mit ihm und bei einer so genauen Kenntniß seiner Angelegenheiten, nicht vernehmen konnten, was er ihnen vorher sagt, desto deutlicher sehen wir, welche Gefahr ihrem Glauben drohte, wie sich denn freilich hernach, obgleich nur auf eine vorübergehende Weise zeigte, daß, nachdem der Hirt geschlagen war, die Heerde sich zerstreute, wie wir es sehen an jenen Jüngern, denen der Auferstandene begegnete als sie von | Jerusalem nach Emahus gingen, und sie zu ihm sagten, sie hätten gehofft, er solle Israel erlösen, nun aber habe ihn ihr Volk genommen und den Heiden überantwortet, und gekreuzigt. Ja wohl diese Gefahr drohte ihrem Glauben ebendeswegen, weil er so unvollkommen war, daß sie mit dem Glauben an den Erlöser den Glauben an sein Leiden nicht verbinden konnten. Der Herr aber, was thut er? Da er eben sahe – denn verborgen blieb ihm nichts, was in dem menschlichen Herzen war – daß sie der keins vernahmen, so ließ er auch die Sache fallen, und redete nicht weiter davon, aber desto inbrünstiger, wie er hernach zu Petrus sagt, hat er für | sie gebeten zu seinem Vater, daß ihr Glaube nicht verloren 34 blieb] so SAr 105, Bl. 116v; Textzeuge: bleibt 18–20 Vgl. Mt 16,3 30 Vgl. Lk 24,13–21
25–26 Vgl. Sach 13,7 (zitiert in Mt 26,31; Mk 14,27) 36–2 Vgl. Lk 22,31–32
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gehe, sondern befestigt bleibe auch in dieser Stunde der Versuchung, die ihnen drohte. Als er nun freilich auferstanden war, und ihnen die Schrift öffnete, wie das Alles hatte so geschehen müssen, und sie nun einsahen, daß er nicht anders konnte als durch Leiden zu seiner Herrlichkeit eingehen: da verstanden sie auch das, was er ihnen früher gesagt hatte, daß es dem Jünger nicht besser gehen könnte als dem Meister, daß auch sie würden überantwortet werden in ihre Schulen und vor Gericht, und daß sie auch sie würden verfolgen und tödten, wie sie den Propheten zu den Zeiten der Väter gethan | hätten, und wie es dem Herrn selbst begegnet sei, und da waren sie denn auch getröstet und gekräftigt, und sie scheuten weder Trübsal noch Verfolgung in dem Geschäft Zeugen des Erlösers zu sein. Und so war es so lange die khristliche Kirche ein schwaches und oft unterdrüktes Häuflein war. Da waren alle Gläubigen auf das innigste durchdrungen von dem Gefühl, es könnte nicht anders sein, alle müßten Theil nehmen an den Leiden des Herrn, und ohne die Gemeinschaft seiner Leiden gäbe es auch nicht die Gemeinschaft seiner Herrlichkeit. Ja so voll waren sie davon, daß man eher sagen darf, sie wären auf der andern Seite zu weit gegangen und hätten oft das Leiden um des Herrn willen und die Verfolgung | aufgesucht, wo sie dieselben hätten ohne Nachtheil der guten Sache vermeiden können. So kräftig ist das Gebet des Herrn für seine Jünger gewesen, des milden und gütigen Herrn, der es ihnen nicht zurechnete, daß sie seine Worte nicht vernahmen und nicht verstanden, was er damit meinte. Jezt, m. g. F., nachdem jene Zeiten der Verfolgung und des Drukes der khristlichen Kirche vorüber sind, auch solche Umstände, unter welchen sie sich in spätern Zeiten bis weilen erneuert haben, wenn in der khristlichen Kirche selbst ein lebhafter Kampf des Lichtes gegen die wieder einbrechende Finsterniß mußte geführt werden, auch solche Umstände uns nicht mehr bevorzustehen scheinen, seitdem | unter uns das helle Licht des Evangeliums aufs neue aufgegangen und befestigt ist, das ist es natürlich, daß auch der Glaube an die Heilsamkeit, an die Nothwendigkeit in Gemeinschaft zu sein mit den Leiden des Erlösers, und sie zu ergänzen durch die eigenen, sich allmälig verliert aus den unter den Khristen herrschenden Vorstellungen. Demohnerachtet müssen wir es wissen, daß noch immer die Zeiten des Kampfes da sind, und daß in diesem irdischen Leben und in dem irdischen Umfange menschlicher Dinge der Streit des Lichtes gegen die Finsterniß niemals aufhört, wir müssen es wissen, daß sich noch immer bald mehr im Großen, bald mehr im Einzelnen | und Kleinen vieles regt gegen die reinen Fortschritte des Evangeliums und 2–5 Vgl. Lk 24,25–27 6–7 Vgl. Mt 10,24–25; Joh 15,20 23,34; Mk 13,9; Lk 12,11; 21,12
7–10 Vgl. Mt 10,17;
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gegen die Beseligung der Menschen durch dasselbe. Wenn nun aber solche Zeichen der Zeit erscheinen, an welchen der Verständige wohl erkennen kann, was bevorstehen mag, so giebt es immer Viele, welche, wie die Jünger des Herrn, der keines vernehmen, und Wenige giebt es, welche wie er selbst, wenn auch nicht so klar und deutlich, es einsehen, und dann freilich Schmerz empfinden, wenn das Wort der Warnung keine Stätte findet und kein offenes Ohr. Aber auch unter solchen Umständen wird der wahre Khrist immer mehr ein milder und ein heiterer Nachfolger seines Herrn sein, | nicht denjenigen es zurechnen, welche wie die Jünger mitten im Genuß des Umganges und der Belehrungen ihres Herrn[,] erfreut und getröstet durch seine beseligende Nähe, nichts davon vernehmen wollen, was für eine Trennung von ihm ihnen bevorsteht, eben so auch mitten im Genuß der Ruhe, welche die Hand des Herrn oft auf lange Zeit zu bewilligen bereit ist, sich erquikend an dem gemeinsamen Genusse des göttlichen Wortes und aller Khristen Gaben, die der Herr in seiner Kirche ertheilt, nichts vernehmen wollen davon, daß auch wiederum schwere Zeiten der Kirche Khristi drohen können; sondern die Stärkeren und festeren Gläubigen, | die sollen sich dann der schwächeren annehmen, und weit entfernt über sie zu zürnen oder sich von ihnen zu entfernen oder ihnen die menschliche Schwachheit für etwas härteres auszulegen, als was sie eigentlich ist, nicht weiter in sie dringen, wenn sie merken, daß es vergeblich ist, ihre Aufmerksamkeit auf das zu richten, was bevorsteht, und sich damit trösten, daß im Ganzen genommen doch nie dem Menschen gegeben sei, Zeit und Stunde zu wissen, desto inbrünstiger aber mit ihren Gebeten bei Gott ihre im Glauben schwächern Brüder vertreten, auf daß wenn die Zeit kommt, wo der Feind sie sichten will, ihr Glaube nicht verloren gehe, sondern sie Treue | halten dem, dem sie angehören. Allein nicht nur in der Hinsicht müssen wir uns wundern, daß die Jünger nicht vernahmen, was ihnen der Herr sagte, weil es doch mitgehörte zu den Zeichen der Zeit, die sie hätten verstehen sollen, sondern noch mehr in der, daß doch sein Leiden und sein Tod so nothwendig gehörten zu dem Werke der Erlösung. Daß demohnerachtet sie nicht vernahmen, was der Herr ihnen davon sagte, daß so unvollkommen ihr Glaube gewesen ist, noch nicht zu wissen, wohin der Widerspruch führen mußte, den der Herr von den Sündern zu erdulden hatte, das, m. g. F., muß uns freilich noch mehr Wunder nehmen, wenn doch der Herr gewiß die kurze Zeit seines freien und | vertrauten Umgangs mit ihnen dazu angewendet hat, sie so tief als es nur möglich war in das hohe Geheimniß der Erlösung hineinzuführen. Wenn sie das noch nicht 26–28 Vgl. Lk 22,31–32
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verstanden, wie konnten sie denn in dem rechten und heiligen Sinne bald darauf seine Zeugen sein unter allen Völkern der Welt, mit welchem Erfolge konnten ihre Bemühungen gekrönt werden, wenn ihnen das abging, was von jeher am meisten das menschliche Herz in der Lehre der Versöhnung bewegt und erschüttert hat, daß der, den uns Gott gemacht hat zur Heiligung und zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, so daß wir nun im Glauben an ihn haben die Gerechtigkeit, die vor | Gott gilt, daß derselbe auch mußte in das Heiligthum des Himmels für uns eingehen mit seinem Blute, daß wir von dem eitlen Wandeln nach natürlicher Weise nicht anders konnten befreit werden, als durch das reine Blut des unbeflekten Lammes Gottes. Wenn sie das noch nicht wußten[,] das noch nicht in ihrer Seele vernahmen, o wie wenig waren sie doch ausgerüstet zu dem Werke, welches ihnen so lange schon befohlen war, und welches nun bald sollte ohne alle weitere Hülfe und ohne alle persönliche Unterstüzung von ihrem Herrn und Meister verrichtet werden. Darum dürfen wir uns auch das wohl nicht leugnen, daß | das die Seele des Herrn tief bewegen mußte, und daß, wenn er hernach, als sein Leiden herannahete, zu seinen Jüngern sagte: „Meine Seele ist betrübt bis zum Tode“, er wohl wußte, daß dies vorzüglich sich bezog auf ihre Unfähigkeit, das Geheimniß seines Leidens und seines Todes zu fassen. Aber auch das hielt er in seiner Seele verschlossen und sagte es ihnen nicht, um sie nicht dadurch zu kränken. Wir wissen wohl, wenn er zu seinem Vater betete: „Vater ist’s möglich, so gehe dieser Kelch diesmal noch vorüber von mir“, er es vorzüglich deswegen that, weil er aus dieser ihrer Unvernehmlichkeit ein klares und sinnliches Bild davon erlangt hatte, wie wenig sie noch vor|geschritten wären auf dem Wege ihres Berufs, und wie unvollkommen ihr Glaube an ihn noch war. Aber sie hatten doch diesen Glauben, sie bekannten es doch und fühlten in jedem Augenblik, daß er allein Worte des Lebens habe, und sie waren festentschlossen nimmer von ihm zu gehen, und irgend einem Andern zu folgen. Und an diesen Glauben hielt sich nun der Erlöser auch in dieser ihm gewiß trüben Stunde; und so werden wir denn seine Milde und seine Treue desto mehr darin erkennen, daß er ihnen doch hernach noch, ohnerachtet sie noch nicht zurükgekommen waren von diesem ihrem Unverstand, auf das freund26 sinnliches] so SAr 105, Bl. 120v; Textzeuge: himmlisches 120v; Textzeuge: immer
30 nimmer] so SAr 105, Bl.
5–7 Vgl. 1Kor 1,30 7–8 Vgl. Röm 1,17, 3,21–22.25–26 8–9 Vgl. Hebr 9,12 9–11 Vgl. 1Petr 1,18–19 18–19 Mt 26,38; Mk 14,34 23–24 Vgl. Mt 26,39.42; Mk 14,36; Lk 22,42 29–31 Vgl. Joh 6,68 34–4 Vgl. Joh 15,15
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lichste und zärtlichste sagt, daß sie | seine Freunde wären, weil sie doch im Wesentlichen, wenn gleich freilich noch lange nicht eingedrungen in die ganze Tiefe des göttlichen Rathschlusses wüßten, was der Herr thut. Darum verhieß er ihnen doch mit gleicher Freundlichkeit den Tröster, der nach ihm kommen werde, um ihre eben durch sein Leiden und durch seinen Tod, die sie noch nicht verstanden, tief erschütterte Seele zu beruhigen und im Glauben festzuhalten, den Geist, der es immer aus seiner Fülle nehmen würde, um ihnen noch immer mehr das zu erklären, was ihnen sogar bis auf diesen Augenblik verborgen war. Sehet da, m. g. F., wir sehen hier auf das deutlichste, wie die | Jünger des Herrn das Kreuz Khristi noch nicht verstanden, als der Herr anfing vor ihnen zu reden von seinem Leiden, und es ihnen auf’s deutlichste vorher gesagt. Aber keines weges rechnete er sie deshalb unter diejenigen, welche der Apostel Feinde des Kreuzes Khristi nennt; denn auch er versteht unter diesen nur solche, denen der Sinn für das ewige Leben, das der Sohn Gottes zu bringen gekommen ist, in ihrem Innern noch nicht aufgegangen ist, sondern noch ganz verstrikt sind in das vergängliche Wesen dieser Welt. Solche, wenn sie das fest halten als eine Lehre der Weisheit und als eine Anweisung zur Führung des Lebens, nennt der | Apostel Feinde des Kreuzes Khristi; die Jünger aber, wie wohl sie die Kraft des Herrn nicht verstanden, so war doch in ihrem Herzen nicht nur der lebendige Durst nach dem ewigen Leben, welches er verheißen hat allen denen, die im Glauben an ihn beharren; sondern sie hatten auch schon angefangen es in seiner Nähe zu genießen, sie hatten es von ihm empfangen, und verlangten immer noch mehr, sie erkannten und unterschieden von aller menschlichen Weisheit die Worte des Lebens, die sie bei ihm fanden. Und an diesem Glauben genügte dem Erlöser bis der Geist Gottes, den er ihnen nur um so inbrünstiger erbat von seinem Vater, auch das | Uebrige noch erklären werde. So, m. g. F., hat es immer gegeben und giebt es noch unter den Khristen solche, welche das Kreuz Khristi nicht verstehen, denen grade die Nothwendigkeit des Leidens und des Todes des Erlösers, um das Werk der Erlösung zu vollbringen, nicht dasjenige ist, worauf ihr Ohr am meisten lauscht, und was sie für das Wichtigste und Erste halten auf dem Wege des Lebens. Aber dennoch glaubten sie, sei es auch mit einem unvollkommnen Glauben, an unsern gemeinsamen Herrn und Meister, dennoch unterschieden auch sie seine göttliche Weisheit von aller menschlichen, und fühlten es, daß er allein die rechte Wahrheit 4 gleicher] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 120v 14.20 Feinde] so SAr 105, Bl. 121r; Textzeuge: Friede 32–33 um das Werk der Erlösung] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 121v 4–10 Vgl. Joh 16,5–15
14.18–20 Vgl. Phil 3,18
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und | das rechte Leben an das Licht gebracht habe. O, m. g. F., wenn wir solche sehen und unter solchen leben, laßt uns ja auch sie wohl unterscheiden von den Feinden des Kreuzes Khristi, laßt uns die Milde und die Treue unseres Erlösers auch unserer Seits gegen sie ausüben; laßt uns uns freuen, daß sie mit uns die rechte Quelle gefunden haben und dem Herrn vertrauen daß er das, was ihnen noch fehlt, ihnen noch offenbaren werde, daß die Zeit auch für sie kommen werde wo sie in das tiefste Geheimniß des Glaubens eindringen und sich ihnen die ganze Fülle der göttlichen Weisheit und des göttlichen Rathes der Erlösung offenbaren werde. | Wenn wir uns aber von ihnen trennen und zurükziehen, so berauben wir sie zum Theil der Mittel, die Gott ihnen an die Hand gegeben hat. Wenn wir sie nicht unterstüzen mit unseren Gebeten, daß auch sie der Geist des Herrn immer reicher erleuchten werde; so schwächen wir selbst das Band der khristlichen Gemeinschaft, nicht gleich dem Herrn, der seine Schwachgläubigen fest hielt mit unaussprechlicher inniger und zärtlicher Liebe. II. Daher nun laßt uns unsere Aufmerksamkeit wenden auf den zweiten Theil unserer Betrachtung. Als der Herr nahe bei Jericho kam, so saß | an der Straße ein Blinder und bettelte, und als dieser das Geräusch hörte des vielen Volkes, welches den Herrn immer begleitete und theils vor ihm herzugehen, theils ihm nachzufolgen pflegte, so oft er sich einer volkreichen Stadt näherte, da fragte er, was das wäre, und die, welche ihn leiteten, sagten ihm: Jesus von Nazareth – so nannten sie ihn und nicht anders – gehe vorüber. Da erwachte dann in ihm der Gedanke, daß er ihm helfen könne, und er rief seine Hülfe an, nicht indem er ihn nannte Jesus von Nazareth, sondern Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner: so rief er ihn an. Er glaubte also an ihn, denn das Wort war ein | Bekenntniß seines Glaubens, daß er den Jesus von Nazareth hielt für den verheißenen Sohn Davids, der allein noch mit diesem Namen bezeichnet wurde, für den, der da kommen sollte und mit dem ein neues Reich Gottes unter seinem Volke beginnen werde. In diesem Glauben, kundig gewiß durch die gemeine Rede der vielen Wunderthaten, die der Herr verrichtet hatte an eben solchen Elenden, wie er es war, und ihnen geholfen durch seine göttliche Kraft, in diesem Glauben rief er seine Hülfe an. Wie er nun dem Herrn auf dessen Geheiß nahe gebracht wurde, so fragte dieser ihn, was wünschest du, daß ich dir | thun soll? Daß er ein Blinder war, das mußte der Herr schon gesehen haben an der Art, wie Andere ihn leiteten und wie er in seine 3 den Feinden] so SAr 105, Bl. 122r; Textzeuge: dem Frieden 122r; Textzeuge: erfreuen
5 freuen] so SAr 105, Bl.
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Nähe trat. Konnte er also daran zweifeln, daß jener wünschen würde sein Gesicht wieder zu erlangen? Warum also fragte er ihn? Ach er wollte es ihm durch seine Frage recht nahe legen, ob er nicht noch etwas Höheres und Größeres für sich von ihm zu bitten habe, als daß er ihm das irdische Auge öffnen möge für das Licht der Sonne. Indem er hörte, daß er ihn begrüßte als den Sohn Davids, so wollte er sehen, ob nicht in ihm wäre ein Funke des höheren Glaubens, nicht an ein irdisches, sondern an ein himmlisches Reich | Gottes, dessen Stifter der Sohn Davids sein sollte, und darum fragte er ihn: was wünschest du, daß ich dir thun soll? Aber seine Frage blieb unverstanden, so wie sein vorhersagendes Wort von seinen Jüngern nicht vernommen wurde. Dieser hatte auch keinen Sinn für etwas anderes, und ahndete nicht, was ihm sonst wohl noch kommen könne von dem Sohne Davids, den er um Hülfe anflehte, und in dieser Einfalt und Beschränktheit seines Sinnes sagte er: Herr, daß ich sehen möge. Aber weit entfernt war der milde Erlöser darüber aufgebracht zu werden oder jenem zu zürnen, daß er sein höheres Anerbieten von der Hand wies, daß auch hier, wie so häufig das Edelste und Beste, | was er den Menschen geben konnte, nicht von ihnen angenommen ward, weit entfernt war er davon, sondern er sprach zu ihm: „so sei denn sehend, gehe hin dein Glaube hat dir geholfen.“ Den Glauben also, wenn er gleich so unvollkommen war und unhaltbar, den rechnet er ihm doch an, und erzeigte ihm die Wohlthat, um welche er gebeten hatte, und vergaß nicht, ihm dabei ausdrüklich zu sagen, er habe sie nichts anderem zu verdanken als seinem Glauben, der habe ihm geholfen, und damit streute er nun doch, wenngleich aufs Ungewisse einen Saamen des göttlichen Worts in seine Seele. Ging ihm nun einmal früher oder später die geistige Noth auf, die den Menschen | drüken muß, wenn er zum Heil gelangen soll; fühlte er einmal die Bedürftigkeit seines Herzens und die Blindheit seines Geistes und es trat ihm dann zur rechten Zeit das Wort des Sohnes Davids wieder in das Gedächtniß: dein Glaube hat dir geholfen, o so konnte wohl noch die Hoffnung in ihm aufgehen, daß der Sohn Davids auch die Nebel von dem Auge seines Geistes wegnehmen könne, so konnte er ihn wohl noch erkennen als den alleinigen Retter der menschlichen Seele, und daß er noch mehr als das irdische Gesicht von dem gewinnen könne, der ihm schon einmal geholfen hatte. M. g. F., eben so ist es auch nachher gegangen und | geht es noch immer. Noch auf die nächsten Jünger des Herrn verbreitete sich die Kraft, welche die Lahmen gehend, die Blinden sehend, die Stummen redend machte, hernach haben diese Wunderthaten in der khristlichen Kirche aufgehört. Aber doch giebt es auch jezt noch einen solchen unvollkommenen Glauben an den Sohn Davids. Wie viele giebt es nicht, die ihn erkennen als einen Lehrer von Gott gesandt, und eben darum in den Tagen seines Fleisches unterstüzt durch solche Kräfte,
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die Gott ihm gegeben, sie erkennen ihn dafür, daß er allein das Wort Gottes in dem menschlichen Herzen wiedererwekt und recht ausgetheilt hat, daß nur durch ihn und seit ihm und in ihm wir | den Vater haben erkennen können, daß er uns den Willen Gottes in seiner ganzen Fülle geoffenbart hat, und jezt der Weg der Rechten und Guten deutlich gezeichnet, so daß keiner irren kann, der nicht will, vor unseren Augen darliegt; sie erkennen ihn auch als den Stifter der geistigen Gemeinschaft unter den Menschen, in welcher jeder Stärkere soll zum Nuzen gereichen dem Schwächeren und jeder dem andern dienen mit der Gabe, die er von oben empfangen; und so hoffen und glauben sie, daß durch ihn immer mehr kommen werde eine Verminderung alles menschlichen Elends, nicht nur des leiblichen, sondern auch des geistigen, daß wenn man ihm nachfolgt, | man fortschreite mehr als auf irgend einem andern Wege in der wahren Heiligung, und daß alle fehlerhafte und sinnliche Neigungen der Menschen ihre Gewalt auf diesem Wege immer mehr verlieren sollen und dagegen die freie Liebe zu allem Guten und Rechten immer mehr herrschen werde. Für einen solchen allgütigen Helfer für sie selbst und für alle Menschen halten sie ihn und glauben an ihn als an denjenigen, der uns habe erkennen gelehrt, was Recht ist vor Gott. Aber giebt es nicht etwas Höheres, was wir durch den Glauben an Khristum haben können als nur eben dieses? giebt es nicht einen Frieden, der höher ist als alle menschliche Vernunft, | den Frieden, den er allein den Seinigen ließ, und den die Welt nicht geben konnte? giebt es nicht in diesem Frieden eine Seligkeit, die in keinem Verhältniß steht mit der allmäligen Besserung des Menschen, in welcher er immer noch über so viele Fehler zu trauern und so viele Schwachheiten zu beklagen hat? Allerdings giebt es für den, der sich der innigen und lebendigen Gemeinschaft mit Khristo erfreut, einen Frieden und eine Seligkeit, in welcher er das Alles weit hinter sich läßt. Ja, m. g. F., aber dieser Glaube ist nicht jedermanns Ding, und oft wird dieser den Ohren auch solcher vergeblich gepredigt, die Khristum als einen Lehrer von | Gott gesandt in rechtem und festem Glauben erkennen. Immer begnügen sie sich dabei für das einzelne Bedürfniß des Geistes, die einzelne unmittelbare Befriedigung lieber bei ihm zu suchen und besser bei ihm zu finden als irgend anders wo. Wie der Herr nun dem Blinden that, der auch nur die kleine Wohlthat begehrte, weil er von der größeren nichts verstand, so thut er auch jezt noch allen diesen. Denn wir können nicht leugnen die auch auf solche Weise wahre und gläubige Hörer des Wortes sind, sie finden das, was sie suchen. Wie viel hat nicht schon die Gewalt fehlerhafter 9–10 Vgl. 1Petr 4,10 2Thess 3,2
22–23 Vgl. Phil 4,7
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Neigungen, sinnlicher Triebe, zerstörender Leidenschaften unter | den Menschen abgenommen, wie wird nicht das ganze Leben und Sein immer mehr geläutert, und veredelt da, wo der Name Khristi erschallt, wo nach seinem Worte gelehrt wird und wo sein Bild als die Richtschnur des Lebens dasteht. Freilich nicht überall verbreitet und gefühlt ist der Friede, den er als das höchste geistige Gut seinen Gläubigen so gern giebt, nicht überall gefühlt wird die Seligkeit, die daraus entsteht, daß wir wissen, nicht wir leben, sondern Khristus lebt in uns; aber auch denen, die sie noch nicht haben und noch nicht erkennen, wollen wir dennoch, wie der Erlöser hier that, den Glauben, den sie an ihn haben, wohl zurechnen, und | uns nicht schämen, sie unsere Brüder zu nennen, wir wollen sie lieben und sie ermahnen, sie möchten das fest halten und bewahren in treuem Gedächtniß, daß es der Glaube sei, der ihnen geholfen und sie geführt hat zu dem, was sie bis jezt bei ihm gefunden haben, und wollen hoffen, je mehr die Nebel des Geistes sich zerstreuen, je mehr das geistige Auge ihnen geöffnet wird, desto mehr werden sie erkennen können, daß es ein Vollkommenes giebt, was weit über das Unvollkommene erhaben ist, bei welchem sie sich bisher begnügt haben, es werde noch eine Zeit kommen, wo der vollkommne Glaube an den Erlöser auch in den jezt noch schwachen menschlichen | Seelen vollkommen aufgehen und in ihnen die Seligkeit erzeugen wird, die der Herr zu geben gekommen ist. Und indem wir diesen Glauben an ihn in unseren Brüdern sehen und uns desselben erfreuen und sie ermahnen, ihn festzuhalten, wollen wir uns trösten dessen, der überschwenglich giebt über das, was die meisten Menschenkinder von ihm begehren. So, m. g. F., werden wir Nachfolger sein des milden treuen Heilandes und in seinem Sinne sein Werk fördern aus allen Kräften, und er ist es, der es immer mehr an allen Seelen, die er erlöst hat, herrlich hinausführen wird. Amen.
[Liederblatt vom 29. Februar 1824:] Am Sonntage Estomihi 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Mein Jesu, dem die Seraphinen etc. [1.] Wie dank ichs, Heiland, deiner Liebe, / Daß Du, des Höchsten ein’ger Sohn, / Für mich aus gnadenvollem Triebe / Verließest deinen Himmelsthron? / Wie dank ichs deinem treuen Herzen, / Daß du vom Tode mich befreit, / Und mir die ewge Seligkeit / Erworben hast durch Todesschmer8 Vgl. Gal 2,20
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zen? // [2.] Du hast dich meiner angenommen, / Durch dich allein ist es geschehn, / Daß ich der Finsterniß entkommen, / Um nun dein helles Licht zu sehn. / Du hast mir köstliches Geschmeide, / Das Kleid des Heiles zugewandt, / Mir mitgetheilt der Kindschaft Pfand, / Des Geistes selge Ruh und Freude. // [3.] Doch wär’ es, daß mein Geist noch hinge / Durch manche Fäden an der Welt, / Und sein Verlangen worauf ginge, / Das dir, o Heilger, nicht gefällt: / Ach, wäre dies, o du mein Leben, / So komm mit liebender Gewalt, / Zerreisse diese Fäden bald; / Dir sei mein Wille ganz ergeben. // [4.] Hier ist mein Herz und meine Seele, / Ach, nimm sie dir zu eigen hin, / Daß sie dein Geist zum Tempel wähle, / Und walte fort und fort darin. / Aus Liebe kamst du einst hernieder, / Die Liebe, die dich zu uns zog, / Und Mensch zu werden dich bewog, / Die zieh auch jezt zu mir dich wieder. // Nach dem Gebet. – Mel. Seelenbräutigam etc. [1.] Wer ist wohl, wie du, Jesu, süße Ruh? / Von dem Vater auserkohren, / Leben derer, die verloren; / Von dir strömt uns zu Licht und süße Ruh. // [2.] Glanz der Herrlichkeit! Du bist vor der Zeit / Zum Erlöser uns geschenket / Und in unser Fleisch versenket / In der Füll der Zeit, Glanz der Herrlichkeit! // [3.] Großer Siegesheld! Sünde, Tod und Welt / Hast du mächtig überwunden / Und ein ew’ges Heil erfunden / Für die sünd’ge Welt, durch dein Blut, o Held! // [4.] Höchste Majestät, König und Prophet! / Ich will demuthsvoll dich ehren, / Und auf deine Stimme hören, / Denn dein Reich besteht, höchste Majestät! // [5.] Laß mich deinen Ruhm, als dein Eigenthum, / Durch des Geistes Licht erkennen; / Stets in deiner Liebe brennen, / Als dein Eigenthum, du, mein höchster Ruhm. // [6.] Zeuch zu dir mein Herz, daß in jedem Schmerz / Deine Kraft mich ganz erfülle / Und mein banges Sehnen stille; / Zeuch mein gläubig Herz zu dir himmelwärts. // [7.] Deiner Sanftmuth Schild, deiner Demuth Bild / Mir anlege, in mich präge, / Daß kein Zorn noch Stolz sich rege; / Mach mich sanft und mild, daß ich sei dein Bild. // [8.] Sucht mein eitler Sinn in der Welt Gewinn, / O dann lenke die Gedanken, / Daß sie nimmer von dir wanken; / Sei du mein Gewinn, gieb mir deinen Sinn. // [9.] Wecke mich recht auf, daß ich meinen Lauf / Möge sichern Schritts vollbringen, / Und die Sünd’ in ihren Schlingen / Mich nicht halte auf; fördre meinen Lauf. // [10.] Deines Geistes Trieb in die Seele gieb, / Daß ich wachen mög’ und beten, / Freudig vor dein Antlitz treten; / Ungefärbte Lieb in die Seele gieb. // [11.] Wenn der Wellen Macht in der trüben Nacht / Will des Herzens Schifflein dekken, / Wollst du deine Hand ausstrekken; / Habe auf mich Acht, Hüter in der Nacht. // [12.] Einen Heldenmuth, der da Gut und Blut / Gern um deinetwillen lasse / Und des Fleisches Lüste hasse, / Gieb mir, höchstes Gut, durch dein theures Blut. // Nach der Predigt. – Mel. Die Tugend wird etc. Ja du mein Heiland, mein Befreier, / Du Menschensohn voll Lieb und Macht / Du hast ein allbelebend Feuer, / In meinem Innern angefacht. / Durch dich seh ich den Himmel offen, / Als meiner Seele Vaterland, / Ich kann nun glauben, freudig hoffen, / Und fühle mich mit Gott verwandt. //
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Reminiscere, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 4,20–24 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 263–278; Andrae (Titelblatt der verloren gegangenen Druckvorlage in SAr 86, Bl. 81v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 161v–162r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 103r–111v; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
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Tex t. Joh. 4, 20–24. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, zu Jerusalem sei die Stätte, da man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr, Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. Ihr wisset nicht, was ihr anbetet, wir wissen aber, was wir anbeten, denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Zeit, und ist schon jezt, daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit; denn der Vater will auch haben, die ihn also anbeten. Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Unmittelbar vor den Worten, m. a. Fr., womit unser heutiger Text beginnt, hatte die samaritische Frau zu Christo gesagt, Herr ich sehe, daß du ein Prophet bist, und daran knüpft sich die Frage, welche sie Christo hier zunächst vorlegt. Nun müssen wir es ihr schon für etwas hohes anrechnen, daß sie den Erlö|ser, der zu dem Volke gehörte, welches sich im ganzen doch so feindselig bewies gegen das ihrige, dennoch für einen Propheten erkannte, und noch mehr, daß sie ohnerachtet dieses Unterschiedes zwischen seinem Glauben und dem ihrigen ihn doch über den streitigen Punkt gleichsam zum Richter sezte oder seine 14–15 Joh 4,19
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Meinung darüber vernehmen wollte; denn das war offenbar ihre Absicht, indem sie ihn fragte, Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, ihr Juden aber behauptet, daß man zu Jerusalem im Tempel anbeten müsse; welches ist denn nun das rechte? Wir müssen, m. g. Fr., in dieser Frage der Frau einen Sinn verehren, der auch unter den Christen selbst nicht häufig angetroffen wird, aber der es wol verdient allgemeiner zu sein als er ist. Ueberall nämlich hat es von je her in der christlichen Kirche über mancherlei wichtige Gegenstände Verschiedenheit der Ansichten und Meinungen gegeben, aber wo einer einen andern dafür erkannte der entgegengesezten zugethan zu sein, da ließ er sich entweder gar nicht mit ihm ein über die streitige Sache, oder es geschah, oft wol in der guten Meinung ihn von seinem vermeintlichen Irrthum zu der richtigen Erkenntniß zurükkzubringen, oft aber und noch öfters bloß um sich in seinem eigenen Rechte gegen die abweichende Meinung zu befestigen. Dergleichen nun finden wir hier bei der Frau nicht; sondern obwol sie von Christo weiß, daß er ein Jude ist, so legt sie ihm doch die Sache als eine Frage vor, weil sie gern seine Meinung vernehmen möchte. Ueber die Meinung nun des Erlösers konnte sie nicht zweifelhaft sein, aber eben die Gründe und den Werth, den er auf die Verschiedenheit, welche zwischen beiden Meinungen Statt fand, legen würde, möchte sie hören. Und so sollen wir es immer machen, wenn Christen über Dinge des Glaubens verschiedener Meinung sind, gern einer den andern hören nicht um Recht zu behalten, nicht um einer den andern umzuwandeln, sondern um sich gegenseitig über die Sache zu verständigen, um bes|ser sich hineindenken und hineinfühlen zu können in den Zusammenhang, den eine abweichende Meinung mit andern übereinstimmenden in einem christlich frommen Gemüthe haben kann. Das ist das Suchen nach Wahrheit in Liebe, was die Apostel des Herrn den christlichen Gemeinen in ihren Schriften so dringend an das Herz legen, wovon wir aber gestehen müssen, daß es auch unter den Christen nicht so gemein ist wie es sein sollte. Nun könnte man freilich sagen: ja das macht einen großen bedeutenden Unterschied, daß die samaritische Frau Christum schon für einen Propheten erkannt hatte, daß er ihr schon einen Beweis gegeben hatte von [den] außerordentlichen Gaben, die er besaß und ertheilen konnte, und daß sie sich ergriffen fühlte von dem Eindrukk, den der Herr überall machte wo er erschien, und mit welchem er die Gemüther zu sich zog und bei sich festhielt. Ich entgegene darauf aber dies, Diesen Unterschied freilich müssen wir alle zugeben, und kein anderer, wer er auch sei, kann je zu einem andern in dem Verhältniß stehen, in 29–31 Vgl. Eph 4,15
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welchem Christus zu uns allen steht. Aber ist es nicht der Geist Gottes eben, der Christum verklärt? ist er es nicht, dessen Träger alle sein sollen die den Namen Christi bekennen? Wenn nun einer den andern auch nicht für einen Propheten erkennt, nicht für ein ausgezeichnetes Rüstzeug Gottes, aber doch für einen solchen, der von dem göttlichen Geiste in sich hat und ihn in sich walten läßt: ist das nicht genug um voraussezen zu dürfen, daß überall in dem Gespräch über heilige Gegenstände mit einem solchen er selbst werde Belehrung und Erbauung finden, daß es eben der Geist der Wahrheit ist, der aus ihm reden wird und auch uns in irgend einen Theil der uns bis dahin verborgen gebliebenen Wahrheit hineinleiten? Einen solchen Eindrukk sollen wir überall haben, wo uns ein wahrhaft frommes christliches Gemüth entgegentritt, | und die Verschiedenheit der Ansichten, die zwischen uns und andern herrscht, soll denselben eben so wenig auslöschen, wie der Eindrukk, daß Christus ein Prophet wäre, ausgelöscht wurde in der samaritischen Frau dadurch, daß er zu dem Volke gehörte, welches dem ihrigen feindlich war, und daß er über den streitigen Punkt eine andere Meinung hervorbringen würde, als die ihrige war. Und wie wir nun hören, daß dadurch, daß sie Christo diese Frage vorlegte, ein so reicher Segen entstanden ist, der nicht bei ihr allein stehen blieb, sondern, wie wir in der Folge sehen werden, sich über einen großen Theil der Bewohner jener Stadt, in welcher sie wohnte, verbreitete und unserem Herrn zu inniger Freude und zu großer Erhebung gereichte: so werden wir in ähnlichen Fällen dieselbe Erfahrung machen. Freundschaftliche Gespräche zwischen solchen, die verschiedener Meinung sind, aber auf einem und demselben Grunde erbaut und denselben Herrn und Meister anerkennend, wie auch die Samariter das Gesez anerkannten, welches auch Christus nicht auflösen wollte, sondern erfüllen, von solchen wird immer, wenn sie in dem Sinne geführt werden die Wahrheit in Liebe zu suchen, ein reicher Segen für uns und für andere ausgehen. Aber nun laßt uns hören, wie sich Christus über diese abweichenden Meinungen gegen die Frau erklärt. Damit fängt er an, daß er sagt, Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. Wir sehen hier, m. g. Fr., wie von Anfang seines öffentlichen Lebens an – denn unstreitig fällt diese Unterredung, wie wir aus dem ganzen Zusammenhang des Evangeliums sehen, noch in das erste Jahr des öffentlichen Lehramtes unseres Herrn – wie von Anfang an schon alles, was nach der göttlichen Ordnung und dem göttlichen Rathschluß über sein Volk verhängt war, ihm vor der Seele schwebte, und er so 21–24 Vgl. unten 11. April früh über Joh 4,35–42
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gewiß war, daß die | damals bestehende Ordnung des Gottesdienstes nicht mehr lange dauern werde. Und auf diese Vergänglichkeit dessen, worauf der Unterschied zwischen den Juden und den Samaritern beruhte, suchte er die, welche ihn fragte, zuerst aufmerksam zu machen. Was kann dabei anders seine Absicht gewesen sein als die, sie dahin zu bringen, daß sie auf diesen Unterschied einen geringeren Werth legen möchte als er Ursache hatte vorauszusezen. Wenn man weiß, das worüber gestritten wird, das werde bald nicht mehr da sein, so muß dies den Eifer des Streits über etwas so vergängliches und in sich selbst nichtiges gar sehr mäßigen und ihn auf den Punkt führen, wo eine freiere und hellere Ansicht des Gegenstandes, die sich von dem vergänglichen weg und zum ewigen hinwendet, in dem Gemüthe Plaz findet. Wie ist es aber, m. g. Fr., mit den meisten von den Streitigkeiten, die wir auch in der christlichen Kirche so häufig finden? werden sie nicht auch um etwas nichtiges und vergängliches geführt? Ja gewiß, es ist irgend ein menschlicher Buchstabe, mit welchem die Gegenstände des gemeinsamen Glaubens bezeichnet werden, worüber der Streit geführt wird; und da geschieht es bald, daß man ähnliches sagen kann zu denen welche streiten, wie hier der Erlöser zu der samaritischen Frau sagt, Bald wird die Zeit kommen, wo weder ihr dieses Wort noch ihr jenes Wort gebrauchen werdet um irgend eine christliche Wahrheit auszudrükken, sondern wo man sich über denselben Gegenstand auf eine Weise ausdrükken wird, in welcher der Streit verschwindet. Denn das ist doch das Ende gewesen von je her, welches alle solche Streitigkeiten genommen haben. Das sollen immer beide Theile lebendig fühlen und dabei an das große Wort des Apostels denken, Der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig, und eben deswegen geneigt sein sich um so leichter in Liebe zu tragen, wenn sie sich nicht über den Buchstaben verständigen kön|nen, sondern demohnerachtet der eine dies der andere jenes für das bessere hält, und dafür halten, daß dies wol so sein und bleiben kann, und immer nur mit rechtem Ernst die Wahrheit in Liebe suchen, und viel lieber, als daß sie sich über den Buchstaben entzweien, sich über die Einheit des Geistes freuen, die ohnerachtet solcher verschiedenen unter den Christen abweichenden Meinungen nicht nur sein kann, sondern auch sein soll. Eben so war es damals. Der Tempel zu Jerusalem war eine spätere Einrichtung. Das, wodurch in dem Gottesdienst des Herrn das Volk eigentlich gebunden war, das war das Gesez, welches Moses gegeben hatte; das war die Einrichtung des Bundes, die früher bald an diesem bald an jenem Orte gewesen war, ehe man daran gedacht hatte dem 27–28 2Kor 3,6
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Herrn einen festen Tempel zu bauen. Es war also auch nicht die Hauptsache, sondern die Nebensache, worüber beide Theile in eine so heftige Feindschaft gerathen waren, und da war es denn dem Herrn natürlich, der samaritischen Frau an das Herz zu legen, daß der Gegenstand des Streites selbst bald würde verschwunden sein. Aber deshalb unterließ er doch nicht seine Meinung über das Verhältniß, in welchem beide Theile gegen einander standen, der Frau auf die Frage, die sie ihm vorgelegt hatte, zu erklären; sondern, nachdem er ihr zuvor dies gesagt hat um sie milder zu stimmen und recht für die Wahrheit empfänglich zu machen, so geht er über zu der eigentlichen Behandlung des Gegenstandes. Wie äußert er sich nun darüber? Ihr wisset nicht, was ihr anbetet, wir wissen aber, was wir anbeten, denn das Heil kommt von den Juden. Um diese Worte recht zu verstehen, müssen wir uns erinnern, daß das Wort, welches hier anbeten heißt, im allgemeinen zur damaligen Zeit gebraucht wurde vorzüglich von der öffentlichen Anbetung Gottes an den dazu besonders bestimmten Stätten, und so wurde besonders im jüdischen Lande von allen, die zum Theil aus großer Ferne nach Jerusalem kamen auf die | hohen Feste um daselbst die heiligen Gebräuche derselben zu begehen, gesagt, daß sie hinaufgingen um anzubeten. Es ist also unter diesem Ausdrukk der ganze Zusammenhang der heiligen Gebräuche und die öffentliche Verehrung des Herrn verstanden. In wiefern konnte nun in diesem Sinne der Herr zu der samaritischen Frau von den Samaritern überhaupt sagen, sie beteten an, was sie nicht wüßten, von den Juden aber behaupten, sie beteten an, was sie wüßten? Wir können dies nur verstehen, wenn wir auf den Grund sehen, den der Herr hinzufügt, wenn er sagt, Denn das Heil kommt von den Juden. Darunter, m. g. Fr., werden wir wol alle nichts anderes verstehen als den Zusammenhang zwischen den besondern Führungen des Volks und der Art, wie die Erkenntniß des einen lebendigen Gottes unter demselben war bewahrt worden, und zwischen der großen Bestimmung dieses Volks, daß der Erlöser der Welt aus demselben sollte geboren werden. So erklärt der Apostel Paulus, das Volk sei durch den göttlichen Rathschluß und durch die göttlichen Führungen zusammengehalten worden unter dem Gesez bis auf die Zeit, wo der Glaube konnte geoffenbart werden, und als ein solches Mittel das Volk zusammenzuhalten und alles vorzubereiten auf die Erscheinung Christi, welche erfolgen sollte, wenn die Zeit erfüllet wäre, stellt er uns das Gesez dar. Das war das eigentliche Wesen aller der Einrichtungen, die Gott diesem Volke gegeben hatte. Um es zusammenzuhalten sollte es auch 34–40 Vgl. Gal 3,23–24
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geschieden werden von andern Völkern, um weniger in Gefahr zu gerathen immer wieder, wozu es sich zu verschiedenen Zeiten so sehr geneigt zeigte, sich von der Abgötterei derselben anstekken zu lassen, und sein heiliges Gesez und den Glauben an den lebendigen Gott zu verlassen. Diesen Zusammenhang nun, den stellte der Erlöser dar als die eigentliche Erkenntniß, indem er sagt, Wir beten an was wir | wissen, wir haben von dem ganzen Zusammenhange unserer heiligen Gebräuche und der unter uns herrschenden Gottesverehrung die Erkenntniß, daß alles hinführt auf den, der da kommen soll, und so beten wir an, was wir wissen. Wenn er nun auf der entgegengesezten Seite sagt, Ihr wisset nicht, was ihr anbetet, so hat das diesen Zusammenhang. Einmal war der Gottesdienst auf dem Berge Garizim, wo die Samariter anbeteten, entstanden aus einer Spaltung im jüdischen Volke. Erst nämlich, in älterer Zeit, als sich das Reich Juda trennte von dem Reiche Israel, und der König in Israel einsah, daß um sich zu behaupten er auch den zehn Stämmen des Volks, die sich abgesondert hatten, einen eigenen Ort der Gottesverehrung anweisen und ein eigenes Gebäude für denselben aufführen müsse; dann, in späterer Zeit wieder, als ein Mann aus dem 14–19 Schleiermacher denkt hier wahrscheinlich an den Bericht des Josephus (Ant. Jud. Buch VIII, Kap. 8, Abs. 4); vgl. SB 1002 und 1003. Allerdings errichtete der Nordreichskönig Jerobeam keinen Tempel auf dem Garizim, sondern zwei Heiligtümer in Bethel und Dan, um seinem Volk eine Alternative zur Gottesverehrung im feindlichen Jerusalem anzubieten. 19–3 Vgl. die Schilderung des Josephus (Ant. Jud. Buch XI, Kap. 8, Abs. 2–4). Dort wird u.a. berichtet: „Die Ältesten zu Jerusalem aber die es nicht ertragen konnten, dass der mit einer Ausländerin vermählte Bruder ihres Hohepriesters Jaddus Anteil an der Priesterwürde haben sollte, erregten gegen diesen einen Aufruhr. Denn sie hielten dafür, seine Ehe werde denen, die gegen die Ehegesetze verstoßen wollten, ein Vorwand sein, um sich mit Ausländerinnen vermählen zu können. Waren doch die Übertretung der Ehegesetze und die Heirat mit fremden Weibern die Ursache ihrer früheren Gefangenschaft und ihres vielen Leides gewesen. Sie verlangten daher von Manasses, er solle entweder sich von seinem Weibe trennen, oder nie mehr den Altar betreten. Da nun der Hohepriester in gleicher Weise wie das Volk hierüber unwillig war und seinem Bruder den Zutritt zum Altare verbot, begab sich Manasses zu seinem Schwiegervater Sanaballetes und erklärte ihm, er liebe zwar seine Tochter Nikaso sehr, doch wolle er um ihretwillen der priesterlichen Würde, die bei seinem Volke in hohem Ansehen stehe und bei derselben Familie verbleibe, nicht verlustig gehen. Darauf versprach ihm Sanaballetes, er werde, wenn Manasses seine Tochter als Gattin behalten wolle, ihm nicht nur die Priesterwürde sichern, sondern ihn auch zum Hohepriester und Präfekten des von ihm selbst verwalteten Landes machen. Ferner werde er auf dem Berge Garizin[!], dem höchsten in Samaria, einen Tempel erbauen, der dem zu Jerusalem gleich sein solle, und zwar mit Zustimmung des Königs Darius“ (Abs. 2, §§ 306–310 [Niese]); zu den Schleiermacher vorliegenden Josephus-Ausgaben siehe SB 1002 und 1003. Die Historizität der Ereignisse wird nach heutigem Stand der Forschung jedoch angezweifelt; vgl. Donner, Geschichte des Volkes Israel, Bd. 2, 4 2008, S. 469–471. Donner geht davon aus, dass das Schisma Ergebnis eines jahrhundertelangen Entfremdungsprozesses des samarischen Nordens vom judäischen Süden war, der erst im 1. Jh. v. Chr. zur Ruhe kam.
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hohenpriesterlichen Geschlecht gegen das Gesez des Volkes eine heidnische Frau geheirathet hatte, ging er mit derselben zu seinem Schwiegervater und führte hier eine eigene Art des Gottesdienstes ein. Aus einer Spaltung also, die nicht hätte entstehen sollen, die mit dem heiligen Gebote Gottes nicht übereinstimmt, war der Gottesdienst auf diesem Berge entstanden. Aber darüber war auch den Samaritern die rechte Erkenntniß desselben und der wahre Zusammenhang desselben verloren gegangen. Denn eine Kette, die auf Christum hinführte, bildeten das Gesez und die Propheten. Diese leztern hatte Gott sich besonders erwählt und ausgerüstet, um den Sinn des Gesezes, so oft er sich unter dem Volke verdunkelt hatte, wieder klar zu machen, um das Volk zu belehren, was in demselben das bloß äußerliche und geringfügige wäre, und was dagegen das wesentliche und wichtige, und die Sehnsucht und das Verlangen desselben auf das Reich Gottes hinzuleiten, welches erst könnte und sollte erbaut werden, wenn der kommen würde, der der Gegenstand aller göttlichen Verheißungen war. Indem nun die prophetischen Schriften in die Reihe der heiligen Bücher unter den Juden | aufgenommen wurden, so waren sie dadurch in den Stand gesezt, diesen Zusammenhang zu begreifen, und in so fern konnte der Herr im Namen seines Volkes sagen, Wir beten an, was wir wissen; die rechte und wahre Erkenntniß liegt einem jeden unter uns, der nur den ernstlichen Willen hat sie zu suchen, klar vor den Augen, und wer sie sich nicht verdunkeln läßt von denen, welche zwar die Schlüssel des Himmelreichs haben, aber selbst nicht hineinkommen und auch andern so viel als möglich wehren möchten hineinzugehen, der kann sich in den Besiz derselben sezen. Jene zehn Stämme aber hatten sich abgesondert von den übrigen zu der Zeit, als die Reihe der Propheten, die zur Auslegung des Gesezes und zur Verkündigung des Messias bestimmt waren, eben erst begann; sie hatten daher auch, weil die meisten derselben dem Tempel zu Jerusalem und der Art und Weise der Gottesverehrung in demselben anhingen und treu geblieben und zu dem Volke Juda gehörten, dieselben nicht anerkannt und auch nicht in ihre heiligen Bücher die Schriften derselben aufgenommen, sondern nur das Gesez Mosis hatte unter ihnen ein allgemeines Ansehen. Daher nun mußte ihnen auch der Zusammenhang der göttlichen Offenbarungen dunkel und unverständlich sein, sie hatten den rechten Faden derselben verloren, und daher konnte Christus nicht anders als zu der samaritischen Frau sagen, Ihr wisset nicht, was ihr anbetet. Nachdem er ihr nun aber seine Meinung gesagt hat, so richtet er nun ihren Blikk von dem vergänglichen zu dem ewigen und unvergänglichen, indem er sagt, Aber es kommt die Zeit und ist schon jezt, 23–25 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52
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daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit, denn der Vater will auch haben, die ihn also anbeten. Diese Worte nun stehen im genauen Zusammenhange mit | der ersten Aeußerung des Herrn, Es kommt die Zeit, wo weder ihr hier auf eurem Berge, noch wir in unserem Tempel zu Jerusalem anbeten werden, aber deswegen eben weil das alles untergehen soll, so kommt nun die Zeit und ist schon jezt, daß die wahrhaftigen Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit. Sie war schon da, aber erst seitdem der Herr aufgetreten war um das Reich Gottes, welches herbeigekommen sei, zu verkündigen; sie war da, aber erst seitdem der gekommen war, der mit Grund der Wahrheit von sich sagen konnte, Niemand kennt den Vater, denn der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. Soll der Vater im Geist und in der Wahrheit angebetet werden, so muß er auch erkannt werden; erkennen aber konnte ihn kaum noch das Volk der Juden, obgleich, wie der Herr sagt, sie wußten was sie anbeteten; denn der Vater verbarg sich ihnen wie ein strenger König, der oft über sein ungehorsames Volk zürnt, und der Geist der Wahrheit verbarg sich ihnen unter der Last und der Menge der äußern Gebräuche. Nun aber, sagt der Herr, sucht der Vater solche, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Wenn wir uns nun fragen: was meint denn der Herr eigentlich damit, im Geist und in der Wahrheit anbeten? so müssen wir allerdings noch die lezten Worte hinzunehmen, Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, denen gebührt es ihn im Geist und in der Wahrheit anzubeten. Das ist nun der eigentliche Grund, was der Herr hier anführt, indem er sagt, Gott ist ein Geist. Was heißt aber Geist? Es ist das lebendige an keinen Ort und an keine Zeit gebundene, und, wenn wir es vorzüglich auf das ewige Wesen beziehen, es ist das Himmel und Erde erfüllende Wesen, das Wesen, welches auch kein besonderes Verhältniß zu irgend einem Orte hat, dem | der eine nicht besser ist als der andere, der eine nicht würdiger als der andere. Und so ist also zuerst die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit entgegengesezt derjenigen, die an einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Zeit und an bestimmte Gebräuche gebunden war. Es scheint aber wol, als ob der Herr mit diesen Worten auch dasjenige bezeichnet hat, was in seiner Kirche selbst vorgeht, was wir alle thun, und wovon die Christen von jeher einen großen Segen erfahren haben. Denn wir kommen doch auch zusammen um Gott anzubeten an einem bestimmten Orte und zu bestimmten Zeiten. Aber, m. g. Fr., 22 wir] wie 12–13 Mt 11,27
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nicht deswegen – und das ist auch besonders, seitdem das Licht des Evangeliums in der evangelischen Kirche auf’s neue entzündet worden ist, immer behauptet worden – nicht deswegen, weil die Kirche, in welcher wir uns versammeln, ein geweihter und geheiligter Ort wäre, ausgezeichnet vor allen übrigen und von besonderem Werthe, nicht deshalb, weil da Gott mehr und in einem höheren Sinne wohnete als anderswo – denn dem Gott, welcher Geist ist, ist jeder Ort gleich, er erfüllt sie alle mit seiner Gegenwart, – sondern deswegen, weil wir es um der Gemeinschaft willen thun sollen. Der Segen aber der Gemeinschaft, der kann nicht anders erreicht werden durch die öffentliche Gottesverehrung, als indem diese zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Orte geschieht. Etwas anderes sind unsere Kirchen auch nicht als solche Oerter, wo wir uns zu einer bestimmten Zeit zur gemeinsamen Anbetung versammeln. Wollte jeder für sich allein den Herrn anbeten, so bedürfte er der Kirche nicht, sondern jeder Ort ist da gleich. Nicht also hat damit der Herr unsere christlichen Gottesdienste verwerfen und verdammen wollen. Ganz anders aber war es mit der Anbetung in dem Tempel zu Jerusalem, denn der hatte eine solche Heiligkeit, daß in | dem ganzen Volke der Glaube verbreitet war, Gott wohne auf eine ausgezeichnete Weise in dem Allerheiligsten desselben, und daß alle Handlungen, die sich auf die gemeinsame Frömmigkeit des Volks und auf das Verhältniß desselben zu Gott bezogen, alle dahin gehörigen Opfer und Gebete nur in dem Tempel durften vollzogen werden. Das war also ein Hinderniß für die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, aber doch war es nothwendig gewesen, daß das Volk auf diese Weise zusammengehalten wurde, damit es nicht unter die andern Völker zerstreut würde und Theil nähme an ihrem abgöttischen Wesen, und damit der Zwekk seiner Erwählung, daß Christus aus demselben hervorgehen sollte, könne erreicht werden. Daher sagt der Herr auch, so lange sei es gewesen, daß sie allein in dem Tempel zu Jerusalem ihre Anbetung verrichteten; jezt aber komme die Zeit, und der Vater suche solche, die bereit wären ihn im Geist und in der Wahrheit anzubeten. Fragen wir nun, m. g. Fr., wie sucht denn der Vater? Ei dadurch sucht er sie, daß er seinen Sohn in die Welt gesandt hat, damit der suche und selig mache, die verloren sind. Und so führt der Herr, indem er diese Worte sagt, den ganzen Zusammenhang der göttlichen Ordnung und der göttlichen Führungen und seine eigene Bestimmung zum Heil der Menschen der samaritischen Frau vor die Seele; wir begreifen aus diesen Worten beides zugleich, zuerst wie der Herr sagen und durch sein ganzes Leben heilig halten konnte, daß er nicht gekom35–36 Vgl. Lk 19,10
41–1 Vgl. Mt 5,17
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men sei das Gesez und die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen, und dann wie er selbst mit seiner heiligen über allen Wahn und Aberglauben erhabenen Seele Theil nehmen konnte an dem unvollkommenen Gottesdienste, der unter seinem Volke bestand, weil er die richtige Erkenntniß davon hatte, und also darunter das der Welt verborgene ihm aber klare Wort Gottes erkennen | und anwenden konnte, und alles beziehen auf den großen Beruf, den er erfüllen sollte; und so fühlte er wie immer so auch in diesem Augenblikk, wie er es war, den der Vater um zu suchen solche Anbeter, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten würden, in die Welt gesandt hatte, um den Menschen den Vater zu zeigen und zu offenbaren, den er allein kannte wie er war, mit dem er allein eins war in seiner gotterfüllten Seele, und eben deswegen allein im Stande die lebendige Erkenntniß desselben denen mitzutheilen, die noch in dem Schatten des Todes saßen. Und so, m. g. Fr., werden wir noch näher und tiefer in den Sinn der Worte eindringen, Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten, wenn wir uns dabei erinnern, daß der Ausdrukk, Gott anbeten zugleich und ursprünglich gebraucht wurde von dem Beugen der Knie und von dem sich Niederwerfen zur Erde; dieser demüthige Sinn der Anbetung und Verehrung ist in jenen Worten vorzüglich ausgedrükkt. Wenn also der Herr sagt, Die wahren Anbeter, die sollen Gott weil er Geist ist im Geist und in der Wahrheit anbeten, so meint er damit zuerst, daß der innerste Geist des Menschen sich demüthigen soll vor Gott und sich beugen vor ihm. Aber indem er dies sagt, so stellt er uns Gott nicht vor als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, nicht als den allgegenwärtigen Lenker aller Dinge, sondern als den Vater. Ist er nun der Vater, so sind wir die Kinder, und wie der Herr gekommen ist zu suchen und selig zu machen was verloren war, so ist dies denn nichts anders, als daß er denen, die an seinen Namen glauben, die Macht giebt Kinder Gottes zu werden. Eine innigere Verwandtschaft giebt es nicht als zwischen Vater und Kind. Sollen wir nun Gott an|beten und uns vor ihm beugen im Geist, so können wir es nur, indem wir ihn als den Vater ansehen und uns als die Kinder, und uns so auf das innigste mit ihm vereinigen. Darum ist es auch der Geist, wie der Apostel sagt, der in uns ruft, Lieber Vater, der Geist Gottes ist es, in welchem wir Gott als unsern Vater anbeten können, und dies allein ist die Anbetung im Geist. Aber warum denn eben in diesem Gott so innig verwandten Geiste die demüthige, die sich beugende, die sich niederwerfende Verehrung? warum nicht die zärtliche Freude des Kindes an dem Vater? 27–28 Vgl. Lk 19,10
29–30 Vgl. Joh 1,12
34–35 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6
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Fragen wir uns, m. g. Fr., was beugt uns denn nieder vor Gott, obwol wir ihn als unsern Vater bekennen und fühlen? so ist es ja nichts anders als die Sünde, das Bewußtsein der Sünde! das ist es, was uns niederwirft vor Gott, weswegen wir uns im innersten Geiste und in der Kraft des Geistes beugen sollen vor ihm. Und eben dies Bewußtsein der Sünde, das soll wahr sein in uns, und darum sagt der Erlöser, die wahrhaftigen Anbeter, die sollen den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit. Das Bewußtsein der Sünde war auch in jenen Zeiten des alten Bundes und lag zum Grunde allen jenen Opfern und Gebeten und heiligen Gebräuchen, die das Volk Gottes verrichtete; aber weil es mehr mit dem äußerlichen verbunden war und Theil hatte an dem irdischen, weil alle jene Opfer und Sühnungen und Reinigungen sich auf das leibliche bezogen[,] nicht auf das geistige, so war es eben nicht die rechte Wahrheit und die Anbetung in der Wahrheit. Der Herr aber sagt, Wir sollen uns vor Gott demüthigen in der Wahrheit. Aber es konnte auch nicht eher ein solches lebendiges und wahres Bewußtsein der Sünde entstehen, und eben deswegen keine solche Anbetung im Geist | und in der Wahrheit Statt finden, als erst nachdem der gekommen war, in welchem keine Sünde war, durch welchen wir zur Erkenntniß der sündlosen und gottähnlichen Menschennatur uns erheben können, und in welchem unmittelbar jeder gläubige den eingebornen Sohn vom Vater voller Gnade und Wahrheit erkennen kann. Durch die Erkenntniß Christi wird uns auf der einen Seite die lebendige Erkenntniß des Vaters möglich, daß wir ihn nun auch als unsern Vater fühlen und erkennen, auf der andern Seite aber auch das wahre tiefe Bewußtsein der Sünde, daß wir uns in dieser Wahrheit vor dem Vater demüthigen und niederwerfen. Aber eben weil der Vater solche Anbeter sucht, so hat er den gesandt, der gekommen ist zu suchen, was verloren ist. Und so richten wir uns durch die Gnade Gottes in Christo, wenn wir uns vor ihm gedemüthigt haben, wieder auf, und in beiden ist der Friede und die Freude, wozu der Apostel alle diejenigen, die zur lebendigen Erkenntniß hindurchgedrungen sind, ermuntert. Da ist das Bewußtsein, daß wir durch ihn die Macht bekommen haben Kinder Gottes zu werden; da ist die Freude daran, daß der, in welchem wir die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater schauen, sich nicht weigert und scheut uns Brüder zu nennen; da ist das freudige Bewußtsein, daß wir in ihm und durch ihn eben so eins mit Gott werden können, wie er selbst eins ist mit dem Vater. Das ist die große Zuversicht der sich demüthigenden menschlichen Seele, das ist die wahre Gottesverehrung, die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit. 21–22.34–35 Vgl. Joh 1,14 28 Vgl. Lk 19,10 31–32 Vgl. Phil 4,4 34 Vgl. Joh 1,12 35–36 Vgl. Hebr 2,11 37–38 Vgl. Joh 17,21
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Hat nun der Herr durch seinen Sohn solche Anbeter im Geist und in der Wahrheit gesucht, so dürfen wir nicht vergessen, daß er sie nicht suchen und finden konnte, ohne sein irdisches Leben in den Tod zu geben. Und so führen uns die Worte des Herrn von dem Berge Garizim und von dem Tempel zu Jeru|salem auf die heilige Stätte, wo der Herr gelitten und wo er seinen Geist zur Versöhnung des menschlichen Geschlechts in die Hände des himmlischen Vaters befohlen hat. Aber nicht soll das für die Christen eine Höhe werden, wo sie hingehen leiblicher Weise um den Herrn anzubeten; nein unsere Anbetung sie kann und soll bleiben die Anbetung im Geist und in der Wahrheit. Wir haben ihn unter uns, und nach seiner gnädigen Verheißung will er unter uns bleiben bis an das Ende der Tage, er ist unter uns wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, und er ist also noch mehr unter uns an den gemeinsamen Stätten, wo wir uns versammeln um uns zu stärken in dem lebendigen Glauben an ihn und in reiner christlicher Liebe. Und so möge er uns denn immer mehr die Kraft schenken, in ihm und durch ihn den Vater anzubeten im Geist und in der Wahrheit! Amen.
6–7 Vgl. Lk 23,46
11–12 Vgl. Mt 28,20
12–13 Vgl. Mt 18,20
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Am 21. März 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
Oculi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 26,55–56 Nachschrift; SAr 105, Bl. 127r–139v; Andrae Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Fünfte Sammlung, 1826, S. 171–203 (vgl. KGA III/2); die Edition geht auf eine von Schleiermacher bearbeitete Textzeugenparallele zurück. Wiederabdrucke: SW II/2, 1834; 21843, S. 104–122 – Predigten. Fünfte Sammlung, Ausgabe Reutlingen 1835, S. 132–156 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 81–96 Nachschrift; SAr 52, Bl. 162v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
[Titelblatt fehlt]
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Tex t. Matthäi XXVI, 55 und 56. Zu der Stunde sprach Jesus zu den Schaaren: ihr seid ausgegangen als zu einem Mörder mit Schwertern und Stangen mich zu fangen, bin ich doch täglich geseßen bei euch, und habe gelehrt im Tempel, und ihr habt mich nicht gegriffen. Aber das ist alles geschehen, daß erfüllet würden die Schriften der Propheten. M. a. F. Das Leiden unseres Erlösers war ein einziges allerdings, wie wohl er es in seiner menschlichen Natur vollbrachte, weil er einzig ist unter allen übrigen und der Einfluß, den alles was ihm begegnete auf das menschliche Geschlecht hat, etwas womit nichts anderes kann verglichen werden. Aber er hat auch uns und alle die Seinigen aufgenommen in die Gemeinschaft seines Leidens, indem er sagt, es könne dem Jünger nicht besser ergehen als dem Meister und dem Diener nicht als dem Herrn, und auch sie wie er könnten nur durch Trübsal in die Herrlichkeit miteingehen. Diese Gemeinschaft mit dem Leiden Christi ist allerdings, wie alles in der Welt, unter den Seinigen sehr ungleich getheilt, wir finden | sie in dem vollen Glanze des Märtyrerthums in 12–14 Vgl. Mt 10,24–25; Joh 15,20
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den ersten Zeiten der christlichen Kirche vorzüglich, und dann zu allen Zeiten, im Einzelnen wenigstens da wo Jünger des Herrn das Evangelium bringen in solche Gegenden, in denen es vorher nicht gehört worden war. Aber auch innerhalb der christlichen Kirche selbst finden wir doch in dem Streite des Lichtes gegen die Finsterniß, in dem Kampfe gegen dasjenige, was aus dem Worte des Herrn selbst hervorgeht, gegen das was die Menschen hinzugesetzt und womit sie es verunreinigt haben, Leiden wiederkehren, welche denen des Erlösers ähnlich sind. Wenn wir nun auch für uns betrachtet keine Wahrscheinlichkeit haben, daß uns etwas begegnen könne, was diesen Namen verdient, so sollen wir doch auch nicht an uns allein denken und auf uns allein sehen, nichts Menschliches und noch weniger etwas Christliches sollen wir uns selbst fremd halten, und auch in demjenigen, was uns selbst nicht betrifft und begegnet, den Werth der Gemeinschaft mit dem Erlöser anerkennen und uns selbst in unserem Innersten darnach prüfen und gestalten, ob wir auch das und wie würden zu leisten im Stande sein, wenn es uns träfe. Darum laßt | uns nun das Leiden des Erlösers eben als ein solches betrachten, welches sich in den Seinigen wenngleich in einem verringerten Maaßstabe von Zeit zu Zeit erneuert, und dabei für heute bei dem Anfang des Leidens Christi stehen bleiben, welchen uns die verlesene Stelle aus dem Evangelisten in Erinnerung bringt: Alles Leiden des Erlösers aber ging aus von der Sünde, und auch das ist nur eine leidentliche Gemeinschaft mit ihm, welche denselben Grund hat. Wie er aber nun das Werk, welches ihm Gott befohlen hatte, nur durch seinen Tod vollbracht, so hat er es auch während seines Leidens fortgesetzt und was er in demselben gethan, wie er sich während des Leidens bewiesen, das ist nichts anders als die Fortsetzung seines Berufs, es ist der zunehmende und steigende Sieg über die Sünde, aus der sein Leiden seinen Anfang nahm. So werden also das natürlicher Weise die beiden Punkte sein, auf die wir unsere Betrachtung zu richten haben, zuerst die Sünde, aus der das Leiden des Erlösers seinen Ursprung nahm, und dann seine Gegenwirkung gegen dieselbe und seinen Sieg über dieselbe. Das sei es also worauf | wir mit einander unsere christliche Aufmerksamkeit richten. I. Wenn wir nun fragen, wie denn das Leiden des Erlösers in der Sünde seinen Ursprung genommen hat? so müssen wir nicht bei dem Allgemeinen stehen bleiben, sondern wenn wir auch das Betragen und die Handlungsweise recht verstehen wollen, müssen wir auch auf die besondere Gestaltung der Sünde sehen, aus der sein Leiden hervorging. 2 wenigstens] wenigsten
17 nun] um
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Unser Text führt uns zu der Gefangennehmung des Erlösers in dem Garten, wo er die Nacht mit den Seinigen zubrachte. Da kam unter der Anführung des Judas eine große Schaar, bestehend zum Theil aus denen, welche von den Hohenpriestern beauftragt waren unter der Leitung des Judas den Herrn zu suchen und zu binden, zum größeren Theil gewiß aber aus einer vermischten Menge, die sich aus Neugierde und aus allem was die Menge bei solchen Gelegenheiten leitet jenen zugesellt hatte; in Bewegung gesetzt war aber das Ganze durch die Hohenpriester und Obersten des Volks. Wir unterscheiden also indem wir nach der Sünde fragen aus welcher das Leiden des Erlösers seinen Ursprung ge|nommen, billiger Weise die große Menge und die durch welche dieselbe in Bewegung gesetzt und auf deren Befehl das Ganze vollzogen wurde. Was war nun, m. g. F., zuerst bei der großen Menge, bei diesen Schaaren, welche hinauszogen, die Sünde wodurch sie sich nun theilhaftig machten der Schuld an dem Blute des Herrn? Wir dürfen wohl nichts anderes sagen, als es sei bei ihnen die Unempfänglichkeit und Gleichgiltigkeit gegen das Gute und Göttliche gewesen. Wir dürfen nur einige frühere Augenblicke in dem Leben des Erlösers mit diesen vergleichen um uns davon zu überzeugen. Schon früher, wie uns der Evangelist Johannes erzählt, hatten die Hohenpriester ihre Diener ausgeschickt um Jesum zu greifen als er in den Hallen und Gängen des Tempels lehrte; sie kamen aber unverrichteter Sache zurück, und als ihre Vorgesetzten sie deswegen zur Rede stellten, so antworteten sie, sie hätten es nicht vermocht, denn so gewaltig wie dieser lehre kein Schriftsteller. Wir lesen nun nicht, daß sie sie hätten über ihren | Ungehorsam gestraft, wohl aber daß sie ihnen über dieses Ergriffensein von der Gewalt des Erlösers Vorwürfe machten, indem sie sie fragten, ob wohl irgend einer von ihnen, den Angesehenen und Obersten des Volks an ihn glaube. Das war gleich viel, ob bei diesen oder nur ihnen ähnlichen eine Regung gewesen, die von dem Erlöser ausging, eine Empfänglichkeit für die Kraft und den Sinn seiner Rede. Hätte nur diese fortgewirkt und wäre es bei ihr geblieben, so hätten die Hohenpriester und Obersten keine Diener gefunden, die sie hätten gebrauchen können bei dem was sie wollten, nämlich den Erlöser seiner Freiheit zu berauben und als ihren Gefangenen zu behandeln. Wäre also diese Empfänglichkeit nicht zurückgedrängt gewesen und erstorben, so hätten die Ereignisse jener Nacht nicht zu Stande kommen können. Auch hier zeigen sich noch Spuren davon. Denn nach dem was uns Johannes erzählt, ging der Erlöser als er die Schaaren kommen hörte, ihnen entgegen und fragte sie: wen suchet ihr? Und auf die Antwort: „Jesum 13 m. g. F.,] m. g. F.; 19–29 Vgl. Joh 7,32–48
38–2 Vgl. Joh 18,3–6
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von | Nazareth“, antwortete er selbst: ich bin es. Da wichen sie zurück und stürzten zur Erde nieder, so wurden sie verwirrt und ergriffen von dem einfachen und aufrichtigen Worte: er wäre es, den sie suchten, von der Unbefangenheit und Ruhe, womit er sich ihnen darbot. Dasselbe, m. g. F., hätten wir wohl von einem jeden verlangt, wenn er an dem was um ihn her vorging merkte, daß er von denen gesucht würde, welche von Gottes und menschlicher Ordnung wegen Recht hatten über ihn zu gebieten; es war so nichts anders als an sich das Gewöhnliche. Aber auch das wirkte auf eine solche Weise auf sie. Denn wenn wir freilich wohl sagen können, hätte ein Anderer auf ähnliche Weise dasselbe gesagt, so würden sie nicht zurückgewichen sein und bestürzt zur Erde niedergefallen, sondern es war eben die Person des Erlösers, die so auf sie wirkte, so ging es doch von seiner Äußerung aus und hing mit ihr auf das genauste zusammen. Also Spuren jener Empfänglichkeit finden wir noch und wer weiß wenn der Erlöser sie benutzt hätte, wie mancher Andere in seiner Stelle würde gethan haben, ob er sie nicht vermocht hätte unverrichteter Sache auch wieder zurückzugehen und zu gestehen, daß sie es nicht gewagt hätten | ihn zu greifen. Das that er aber nicht, weil er sie nicht hindern wollte in dem, wovon er sah, daß es ihnen geboten war. Aber eben dies, daß das keine Wirkung auf sie hervorbrachte, daß sie sich wieder ermannten von dem Eindruck, und nun thaten was ihnen geboten war, als ob sie es mit einem andern wirklichen Verbrecher gegen die göttliche Ordnung zu thun hatten, das zeigt wie jener Eindruck schon erstorben war, und wie gleichgiltig ihr Gemüth war gegen das Göttliche, was sie sonst wohl in Christo erkannten. Und unter der Volksmenge, die sich ihnen zugesellt hatte, wie viele mögen darunter gewesen sein, die ehedem getheilt hatten die große Theilnahme, welche der Erlöser erregte. Wenn er auszubleiben schien und nicht nach seiner Gewohnheit auf dem Feste zu erscheinen, so entstand großes Fragen unter dem Volke, wie uns Johannes erzählt, wird er kommen oder ausbleiben? warum verzieht er so lange? Aber jetzt sehen wir ähnliche oder eben dieselben, welche die Gefangennehmung des Erlösers nur als einen Gegenstand der Neugierde behandelten, wobei sie gern Zeugen sein wollten, was sich dabei zutragen und wie es ablaufen würde. | Und wenn in der großen Menge des Volks nicht eben so die Empfänglichkeit für das Göttliche in dem Erlöser erstorben gewesen wäre, so wären wohl diejenigen hergekommen, welche am folgenden Tage die Hohenpriester und ihre Genossen sich so hätten aneignen können, daß sie selbst den römischen Landpfleger um das Todesurtheil des Erlösers baten und das „kreuzige, kreuzige ihn“ mit allen Folgen die daraus für sie entstehen konnten, anriefen. So sehen wir ohne diese Gleichgiltigkeit gegen das Gute und 28–32 Vgl. Joh 11,56
39–42 Vgl. Mt 27,22–23; Mk 15,13–14; Lk 23,21; Joh 19,6
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Göttliche wäre es nicht möglich gewesen, daß das Leiden des Erlösers auf diese Weise hätte erfolgen können. Wenn nun aber, m. g. F., in der christlichen Kirche noch von Zeit zu Zeit Leiden, welche eine Gemeinschaft mit dem Leiden des Erlösers in sich schließen, entstehen sollen, können sie dann wohl auf dieselbe Weise entstehen? kann unter denen, die alle den Namen des Erlösers bekennen, eine solche Gleichgiltigkeit gegen ihn und gegen solche Sache, gegen Alles was näher oder entfernter damit zusammenhängt, aufkommen? | kann irgend etwas anderes die Gemüther der Christen abziehen von der Theilnahme an ihm und an seiner Sache? kann irgend etwas ihnen wichtig genug werden um darüber hervorzuragen und das Gefühl für ihn in den Hintergrund zu stellen, und die Liebe und Bewunderung in Gleichgiltigkeit und Stumpfsinn zu verwandeln? ist es möglich, daß bei denen, die sich zu der Gemeine des Erlösers bekennen, auf irgend eine Weise eine solche verkehrte und ungerechte Stimmung in der Seele hervorgebracht werden könnte, so wie dort gegen ihn, so hier gegen die, welche es ernstlich und redlich mit seiner Sache meinen und als seine Diener in seinem Reiche kämpfen mit den Waffen des Geistes? Freilich nicht, m. g. F., wenn alle diejenigen, die den Namen des Erlösers bekennen und sich zu der christlichen Kirche rechnen, auch in dem höheren Sinne des Worts seine Jünger wären, freilich nicht wenn in allen die göttliche Gnade, die sich gewiß an keinem unter ihnen hat unbezeugt gelassen – denn das ist wohl gewiß, daß es | keinen Christen, der auch nur dem Namen nach es ist, geben kann, der nicht irgend wie und irgend wo einen Eindruck empfangen hätte in der Seele von der Göttlichkeit des Erlösers und von dem Werthe seines Reiches auf Erden – freilich könnte das nicht sein, wenn diese göttliche Gnade nicht immer wieder verdunkelt würde von der Theilnahme an den Dingen dieser Welt, von den Sorgen dieses Lebens und von den Leiden desselben, wie der Herr es selbst sagt in seinem Gleichniß, daß der gute Saame in vielen Seelen zwar aufgeht, aber wieder erstickt wird von den Dornen und von dem Unkraut. Darum so lange nicht die christliche Kirche auf einen höhern Grad der Vollkommenheit durch die Wirkung des göttlichen Geistes gebracht, so lange nicht der Unterschied zwischen festen und treuen und zwischen wankelmüthigen, zwischen wahrhaften und nur scheinbaren Jüngern des Herrn in seiner Gemeine verschwunden ist, so lange werden leider von Zeit zu Zeit Umstände eintreten, durch welche in einem großen Theil der Menschen jene früher empfangenen Eindrücke, die damals für das Köstlichste in | der Seele gehalten wurden, doch wieder erlöscht werden und in den Hintergrund gestellt, daß sich das Irdische hervordrängt, und daß [sie] mit 30–32 Vgl. Mt 13,7.22
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diesem beschäftigt und darin versenkt unempfänglicher und gleichgiltiger erscheinen, als es ihnen geziemt und von ihnen gefordert werden kann, gegen das Reich Gottes auf Erden, dem sie selbst angehören. Was war aber zweitens die Sünde in denen, durch welche diese große Menge in Bewegung gesetzt war? Wir können es wohl nicht anders ausdrücken als daß es ein unverständiger Eifer war, der aber eben deswegen, weil er sich doch des Unrechts bewußt war, nicht öffentlich hervorzutreten wagte, sondern sich hinter ein heimtückisches Verfahren verbarg. Den offenen Streit mit dem Erlöser und das öffentliche Auftreten gegen ihn hatten seine Gegner unter den Obersten des Volks immer vermieden, Einzelne zwar hatten sie abgeschickt um Fragen an ihn zu stellen, wodurch sie eine Sache gegen ihn bekämen, das war aber durch die klare und einfache Weisheit des Erlösers | immer vereitelt worden. Einmal hatten sie es gewagt, ihn gradezu zu fragen, er möge ihre Seelen nicht länger aufhalten, sondern es grade heraussagen, ob er Christus sei; als er aber, um sich mit ihnen darüber näher zu verständigen, auch selbst eine vorläufige Frage an sie that, so wichen sie ihm gleich aus, und wollten sich mit ihm in einen Wortwechsel über diesen Gegenstand nicht einlassen. Heimlich aber waren sie bei sich selbst übereingekommen, es sei besser daß Einer umkomme, denn daß das ganze Volk zu Grunde gehe. Und das war eben der Unverstand in ihrem Eifer, daß sie glaubten es käme ihrem Volke, für welches allein der Erlöser da war und lebte, auf welches er seine ganze Thätigkeit ausschließend richtete, und dem er nichts anderes als das was zu seinem Frieden diente, immer wieder auf’s neue vorhielt, daß eben diesem durch sein Thun und durch seine Lehre könnte Nachtheil entstehen, und daß das Joch der äußern Knechtschaft durch das, was er | lehrte und forderte, statt erleichtert zu werden wie sie hofften, noch könnte erschwert werden. Das war der unverstandene Eifer; wäre er aber ein reiner gewesen, hätte nicht hinter diesem Eifer für das was das Verhältniß des Volkes zu Gott und die Sache seiner Erwählung betraf, sich ein anderer Eifer versteckt für ihr eigenes Ansehen, für ihre eigene Ehre, dafür daß sie ihre Weise zu lehren aufrecht erhalten, so würde doch der Eifer die Oberhand behalten haben, und sie würden öffentlich wie es der reine Eifer pflegt aufgetreten sein. Das Bewußtsein ihrer Schuld aber hinderte sie daran und veranlaßte sie zu diesem heimlichen Verfahren. Wenn sie diesen Weg nicht eingeschlagen hätten, so hätte auf diese Weise das Leiden des Erlösers nicht entstehen können, in dem offenen Streit würde er sie leichter besiegt haben, wie 30 diesem] diesen 14–19 Vgl. Joh 10,24–39
19–21 Vgl. Joh 11,50
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er immer zu siegen gewohnt war, und so hätten sie also keine Sache an ihm gefunden und nicht dahin kommen können, ihn so wie es nachher geschah in die Hände der Römer zu überliefern. | Ihre Sünde war also die, welche der Erlöser in den Worten ausdrückt: wer aber Böses thut, der kommt nicht an das Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden. Auch als er dieses sagte, wie er von Anbeginn an seine ganze Lage richtig erkannte und beurtheilte, auch als er dieses sagte, hatte er schon die Ahndung davon auf welche Weise er würde erhöht werden von der Erde, und was ihm begegnen würde von seinem Volke, und stellt deswegen in jenem Gespräch mit einem, der auch zu den Obersten des Volks gehörte, eben dies einander gegenüber. Wir aber, m. g. F., wir waren, wie der Apostel sagt, ehedem auch Finsterniß, nun aber sind wir ein Licht in dem Herrn. Kann also wohl unter Christen selbst das eine Quelle werden von Leiden, die in der Gemeinschaft sind mit dem Leiden des Herrn, daß wer Böses thut nicht an das Licht kommen will, auf daß seine Werke nicht offenbar werden? Freilich, m. g. Freunde, sollte dem nicht so sein, aber so tief ist das Licht von oben noch nicht in die Seelen der Menschen, in die Seelen aller derer, die sich äußerlich zu Jüngern des Herrn bekennen, eingedrungen, daß sie alle ohne Ausnahme ihre Lust | hätten an dem Lichte und nichts Besseres begehren könnten, als daß alle ihre Werke an das Licht kämen, weil sie nämlich wußten, daß so wie man auf den innersten Bewegungsgrund derselben sähe, sie alle in Gott gethan wären, was aber zwischen diesem innern Beweggrunde und zwischen dem äußern Hervortreten noch Mangelhaftes und Tadelnswerthes sein könne, damit an’s Licht zu treten, das würde ihnen nur zum größten Vortheil gereichen und sie fördern in der Selbsterkenntniß und in dem gottgefälligen Wandel. Ja, m. g. F., wenn alle, welche Christen heißen, auf diesem Punkt ständen, so gäbe es nichts anderes unter uns als die Gemeinschaft des Lichtes, die nichts ist als Friede und Freude in dem Herrn, so käme jeder[,] überzeugt daß seine Werke in Gott gethan sind, daß seine Seele immer dem göttlichen Geiste offen ist, gern an das Licht, und ließe sich prüfen von einem jeden, der mit ihm rechten wollte über seine Handlungen, und alles würde offen unter uns zugehen, und von der Heimlichkeit wie jene war könnte in der Gemeine der Christen nicht die | Rede sein. So ist es aber freilich nicht, Licht und Finsterniß kämpfen noch immer mit einander um den Besitz der Seele, und auf Augenblicke wenigstens kann in einem jeden die Finsterniß wieder die Oberhand gewinnen über das Licht. In jedem solchen Augenblicke aber ist der Mensch auch von der Wahrheit abgewendet, scheut das Offene, und wie er selbst finster geworden ist, so liebt er auch die 4–6.15–16 Joh 3,20
10–11 Gemeint ist Nikodemus.
11–13 Vgl. Eph 5,8
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Finsterniß und die Heimlichkeit, welche sie beschließt. Wohlan denn wenn wir gestehen müssen, es liegt in der Unvollkommenheit derer, welche die Gemeine der Christen bilden, daß noch immer aus derselben Gestaltung der Sünde ein Leiden seinen Ursprung nehmen kann für diejenigen, die von dem reinen Eifer das Reich Gottes zu fördern beseelt sind, so laßt uns denn nun zweitens fragen, wie ist denn nun der Erlöser dieser Sünde entgegengetreten, und wie hat er in dem Kampfe gegen dieselbe seinen Beruf fortgesetzt und ist dem Ziele desselben näher gekommen?
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II. Zuerst sehen wir aus seinen eigenen Worten, wie er in diesem Augenblick auf die Vergangenheit | zurücksieht, indem er nämlich zu den Schaaren sagt: ihr seid jetzt bei nächtlicher Weile bewaffnet herausgegangen um mich zu fangen wie man einen Räuber zu fangen sucht in seinem verborgenen Schlupfwinkel, habe ich doch täglich mitten unter euch gesessen im Tempel und gelehrt, und ihr habt mich nicht gegriffen. Darin, m. g. F., liegt beides zugleich, worauf wir in dem Betragen des Erlösers zu sehen haben, nämlich ein Zeugniß, welches er ablegt für sich selbst, aber auch ein Zeugniß, welches er ablegt gegen die, mit denen er es zu thun hatte. Indem er mit dieser Zufriedenheit auf sein öffentliches Wirken und Lehren im Tempel zurücksieht, indem er sich und sie in diesem Augenblick daran erinnert und sich selbst und ihnen vergegenwärtigt, wie sie dem was er öffentlich gelehrt und gesagt, keinen Widerstand hätten entgegensetzen können und daß das Alles gediehen sei, so legte er ein Zeugniß ab für sich selbst, für die innere und reine Wahrheit seines Wirkens, welches einen offenen Tadel und eine offene Bekämpfung nicht zugelassen hätte, so ruht er nun mit Wohlge|fallen auf dem Werke, welches er bis dahin vollbracht und unter dieser Gestalt nicht weiter führe sollte. M. g. F., das Größte was der Erlöser gethan, dasjenige was am tiefsten die Menschen ergriff, was auch allein fähig war sie an ihn zu binden und bei ihm festzuhalten; das war immer nichts anderes als das Zeugniß, welches er ablegte von sich selbst. Wenn er sagte, er sei gekommen zu suchen und selig zu machen die Verlorenen, wenn er sagte, er sei die Quelle des lebendigen Wassers, welches allen Durst der menschlichen Seele zu löschen vermöge, wenn er sagte, er sei Eins mit dem Vater, das war das herrliche Zeugniß, welches er von sich selbst ablegte, und das war es weshalb 29 M. g. F.,] M. g. F.. 33–34 Vgl. Lk 19,10
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seine Jünger zu ihm sagten, sie vermöchten nicht anders als bei ihm zu bleiben, denn er allein habe die Worte des Lebens. Dieses Zeugniß, welches er von sich selbst ablegte, das war das Bewußtsein seiner Kraft, das war es wodurch sich diese Eingang verschaffte in die Gemüther. Darum scheute er sich auch nicht zu gestehen, daß er von sich selbst zeuge, | und daß sein Zeugniß, wenn er von sich selbst zeuge, wahr sei, wodurch er eben diesen Unterschied zwischen ihm und allen andern Menschen auf das deutlichste ausspricht. Denn, m. g. F., warum wird keinem in seiner Sache geglaubt, warum ist es ein allgemeiner Grundsatz, daß keiner vermöge zu zeugen von sich selbst? Nur deswegen weil wir die Sünde voraussetzen, aber wo die Sünde nicht ist, da kann auch nur sein die reine Wahrheit. Wenn die Sünde nicht wäre, dann könnte jeder immer für sich zeugen, und würde Glauben finden für sein Zeugniß. Auch jetzt in diesem Augenblick, wo seine äußere Wirksamkeit zu Ende ging, konnte der Erlöser nichts anderes thun, als auf seine bisherige Wirksamkeit das Siegel drücken durch das Zeugniß, welches er von sich selbst ablegte. Er wußte, vergessen würde das nicht werden, was er diese kurzen Jahre über öffentlich geredet hatte unter seinem Volke, er wußte, Früchte würde es bringen hundertfältig und überschwenglich, wenn gleich er selbst sagt: das Weizenkorn | bleibt allein und unfruchtbar, so lange es über der Erde ist, ersterben muß es erst, dann wird es aufgehen und viele Frucht bringen, er wußte es, daß sein Wort erst fruchtbar gemacht werden mußte durch sein Leiden und seinen Tod. Aber sein Leiden und sein Tod hätten das Reich Gottes nicht hervorbringen können, wenn nicht die Worte des Lebens vorher aus seinem Munde gegangen wären. Darum legt er das Zeugniß ab aus seinem Munde, daß alle es wissen konnten, nichts thue ihm leid oder nehme er etwas zurück von dem, was er gesagt und gethan hätte, sondern bekräftige es noch jetzt indem er wohl einsah, daß es ihm den Tod bereiten werde. So, m. g. F., können und wollen wir uns hierin nicht den Erlöser zum Vorbild setzen, daß wie er für sich selbst zeugte, so auch wir für uns zeugen, und davon etwas Gutes und Segensreiches und den Sieg über die Sünde und über die Gleichgiltigkeit und Unempfänglichkeit der Menschen erwarten können? Aber, m. g. F., das würde auch nicht das Rechte sein, denn wir sind nichts jeder für sich betrachtet, | sondern alle etwas in der Gemeinschaft mit ihm; wir sind die Reben und er ist der Weinstock, wollen wir Frucht bringen, so müssen wir an ihm bleiben, nicht wir müssen leben, sondern er in uns. Wovon 34 können?] können. 1–2 Vgl. Joh 6,68 Joh 15,5
5–6 Vgl. Joh 8,14
20–22 Vgl. Joh 12,24
36–38 Vgl.
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also haben wir zu zeugen, wenn wir ihm ähnlich bleiben wollen? Nicht von uns sondern von ihm als der Wahrheit, die uns klar geworden ist in unserem Innern, von ihm als von demjenigen, dem wir uns angelobt haben, und für den wir wirken wollen so lange es Tag ist. Könnten wir von irgend etwas Anderem den Sieg über die Sünde erwarten? könnten wir wenn uns Ähnliches begegnen möchte wie dem Erlöser, indem wir uns äußerlich wie er that dem hingeben, was nach dem Rathe Gottes über uns beschlossen ist, indem uns Leiden durch die Hände der Sünder bereitet werden, könnten wir dann wohl abstehen von dem Vorsatz auch da noch gegen die Sünde zu wirken, noch von irgend etwas anderem einen Sieg über die Sünde erwarten als von dem was allein gut ist und wirksam, nämlich von dem Zeugniß, welches wir ablegen von ihm? Das, m. g. F., ist auch die Geschichte aller Leiden, welche die wahren Jünger des Herrn in der Gemeinschaft der Leiden des Erlösers erduldet haben, einer Gemeinschaft, welche sie mit ihm und für ihn hatten, welche sie als seine Zeugen auch im Tode | noch bekannten, und womit sie die Wahrheit besiegelten, für welche sie starben. Und wie wir dann gestellt sein mögen gegen die Sünde die uns umgiebt, ob sie mehr unsere Theilnahme erregt oder unsere Thränen, wie es war bei dem Erlöser als er sagte: Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, aber du hast nicht gewollt, wie oft habe ich dir gesagt was zu deinem Frieden dient, aber du hast nicht gehört; oder mag sie mehr unseren Eifer erregen wie es auch bei dem Erlöser der Fall war, wenn er sein „Wehe“ ausrief über die Schriftgelehrten und Pharisäer, welche die Schlüssel des Himmelreichs hätten, aber weder selbst hineinkämen noch Andere hineinließen; in beiden Fällen und in allem was zwischen ihnen liegt, was können wir anderes thun gegen die Sünde als zeugen von dem, der die Sünde überwunden hat, zeugen von dem, in welchem die Kraft Gottes gewesen ist, durch die allein ein Reich Gottes entstehen konnte und allein bestehen kann, zeugen von dem, der auf einem unerschütterlichen Felsen seine Gemeine gebaut hat, so daß keine irdische Gewalt sie jemals wird überwältigen können. Das ist die Standhaftigkeit des | Zeugnisses, welche allein jedes Leiden um des Erlösers willen zu einem solchen macht, welches in der Ähnlichkeit mit dem seinigen ist. Aber in denselben Worten legt der Erlöser auch zweitens ein Zeugniß ab gegen diejenigen, mit denen er es zu thun hatte. Er macht sie aufmerksam auf ihre eigene Abneigung den 13 ihm?] ihm.
17 starben] sterben
20–22 Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34 Lk 11,52 32–33 Vgl. Mt 16,18
22–23 Vgl. Lk 19,42
25–27 Vgl. Mt 23,13;
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offenen Kampf gegen ihn zu wagen, auf den Eindruck, den auf einen großen Theil derselben sonst seine Reden gemacht hatten, und auf die Veränderlichkeit der Einen so wie auf die finstere und dunkele Feigherzigkeit der Andren. Das alles liegt in der Art wie er sie an sein bisheriges Betragen gegen ihn erinnert. Und freilich, m. g. F., wenn wir da sind um für die Sache des Herrn und gegen die Sünde zu wirken, so dürfen wir das Eine eben so wenig als das Andere unterlassen, unter den Trübsalen des Reiches Gottes eben so wenig als in seiner schönen und glücklichen Lage. Immer sei uns lieb und ein ernstes Wort und eine strenge Rede gegen die Sünde gerichtet, nie müssen wir vermeiden die Menschen aufmerksam zu machen auf das und ihnen zu zeigen, was sie abhält an der Seligkeit Theil zu nehmen, die ihnen dargeboten wird, und was sie zurückhält von dem Reiche | Gottes. Und können wir es eben so aus der unmittelbaren Erinnerung (ihres und) unseres gemeinsamen Lebens wie der Erlöser hier that: o so ist das vorzüglich das wirksamste und kräftigste Wort. Es ruft den Menschen Augenblicke in das Gedächtniß zurück besser als die, in denen sie sich eben befinden, so daß sie sich gestehen müssen, wäre ihr Leben eine Reihe von Augenblicken, wie sie dieselben bisweilen gehabt haben, wenn sie ergriffen wurden von dem Erlöser und seinem Worte, dann stände es besser um sie, als seitdem sie sich wieder der trägen und stumpfen Gleichgiltigkeit hingegeben haben; und es wird eben so wenig als es das Zeugniß des Erlösers gewesen ist, ein solches Zeugniß um wirksam zu sein, sondern auch wir werden uns immer damit trösten können, womit der Erlöser sich selbst in diesem Augenblick beruhigte, aber das mußte alles geschehen damit erfüllet würden die Schriften der Propheten. In diesen nämlich, m. g. F., sahe er und wußte er die göttlichen Rathschlüsse niedergelegt, und wenn er sagt: das muß alles geschehen damit erfüllet werde was die Propheten geschrieben haben von des Menschen Sohn und von dem Betragen seines Volks gegen diejenigen, die in dem höchsten Sinne des Worts die Diener und Gesandten des Höchsten waren, so verband er damit den Glauben, der ihn immer beseelt hatte, daß alle Rathschlüsse Gottes | und alle Verheißungen Gottes in ihm selbst Ja und Amen wären, und daß so wie bis jetzt erfüllt war was in den Schriften der Propheten von ihm geschrieben steht, so auch alles würde erfüllt werden miteingeschlossen das köstliche Wort, daß eine Zeit kommen werde, wo der Geist Gottes über alles Fleisch soll ausgegossen werden, und wo keiner mehr den Andern 9 lieb und] Hier fehlt offenbar ein Satzteil. 33–34 Vgl. 2Kor 1,20 1 Vgl. Jer 31,34
37–38 Vgl. Joel 3,1 (alternative Zählung: 2,28)
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lehren wird, weil alle von Gott gelehrt sein werden. Auf diese Erfüllung der göttlichen Verheißungen sah seine Seele auch in diesem verhängnißvollen Augenblick, und von dieser Zuversicht begeistert gab er sich denen hin, die ihn banden, um ihn zum Tode zu führen. Solcher Hoffnungen sind auch alle die voll gewesen, und gewiß in ihrem Herzen, welche gewürdigt worden sind Theil zu nehmen an den Leiden des Erlösers, daß sie litten für das Reich Gottes, welches bestehen soll und sich weiter fortpflanzen bis an das Ende der Tage, und daß ihr Leiden eben so wenig als ihre Ruhe vergeblich sein könnte, wenn es in Einklang steht mit dem, welchem ganz anzugehören und uns ganz hinzugeben für uns alle die einzige und höchste Seligkeit ist. Ja wie an ihm das Wort Gottes ist in Erfüllung gegangen und er durch Trübsal und Tod eingegangen ist in seine Herrlichkeit, so wird auch das Letzte erfüllt werden, was von ihm geschrieben steht, daß alle seine Feinde werden gelegt werden zum Schemel seiner Füße. Amen.
[Liederblatt vom 21. März 1824:] Am Sonntage Oculi 1824. Vor dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Wenn mich die Sünden kränken, / O mein Herr Jesu Christ, / So laß mich wohl bedenken, / Wie du gestorben bist, / Und alle meine Sündenlast / Am Stamm des heilgen Kreuzes / Auf dich genommen hast. // [2.] Drum sag ich dir von Herzen / Jezt und mein Lebelang, / Für solche Pein und Schmerzen / O Jesu Lob und Dank. / Für deine Noth, dein Angstgeschrei, / Für dein unschuldig Sterben, / Nimm ew’ge Lieb’ und Treu. // [3.] Herr laß dein bittres Leiden, / Mich reizen für und für, / Mit allem Ernst zu meiden / Die sündliche Begier. / Nie komme das mir aus dem Sinn, / Wieviel es dich gekostet, / Daß ich erlöset bin. // [4.] Mein Kreuz und meine Plagen, / Und jede Schmach und Spott / Hilf mir geduldig tragen, / So ehr ich meinen Gott. / Wenn ich verläugne diese Welt, / So folg ich dem Exempel, / Das du mir vorgestellt. // Nach dem Gebet. – Mel. Jesu meiner Seele Leben etc. [1.] Ach wie hart wirst du gebunden, / Und Verbrechern gleich gemacht, / Daß uns, Herr, durch deine Wunden / Leben würd’ und Heil gebracht; / Du kennst deiner Feinde Tücke, / Dennoch weichst du nicht zurücke, / Giebst mit sanftem stillen Sinn / Dich in ihre Bande hin. // [2.] Legionen stehen fertig, / Dir zu dienen, Menschensohn, / Deines Rufs sind sie gewärtig, / Eilen von des Vaters Thron, / Nur ein Wink, du bist befreiet, / Und der Feinde Heer 14–15 Vgl. Ps 110,1
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zerstreuet, / Doch wieviel ihr Grimm verbricht, / Du winkst deinen Engeln nicht. // [3.] Du bist selber reich an Stärke, / Die auch hier sich nicht verlor; / Doch du weißt, in diesem Werke / Geht Geduld der Allmacht vor. / Sprächst du nur, gleich Simsons Schlingen / Würden deine Bande springen, / Und der Feinde große Zahl / Stürzte deiner Gottheit Strahl. // [4.] Daß sie selber Zeugen werden / Deines edlen Heldensinns, / Stürzen nieder sie zur Erden, / Als sie hören: „Ja ich bins;“ / Niemand nimmt von dir dein Leben, / Frei willst du es für uns geben, / Willst nicht Schmach noch Marter scheun, / Um uns gänzlich zu befrein. // [5.] Dank dir für so große Güte! / Doch verharr’ in deiner Treu, / Und befrei auch mein Gemüthe, / Von der Sündensklaverei, / Daß die Lust mich nie berücke, / Mich Verführung nie umstricke, / Des Versuchers Arglist nie / In sein Nez mich niederzieh. // [6.] Kann ich einst den Ruhm erlangen, / Daß ich für dich leiden soll, / In Bekennerfesseln prangen / Deines guten Geistes voll; / Dann gieb mir in Pein und Schanden, / Reichen Trost aus deinen Banden, / Daß gleich dir ich sie nicht scheu, / Und gleich dir gelassen sei. // (Jauersch. Gesangb.) Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr etc. Leiden wie der Mittler leiden / Wollen wir zu Gott gekehrt, / Sterben wollen wir mit Freuden, / Wie sein Tod uns sterben lehrt; / Sehen werden wir dann ihn, / Denn der Tod ist uns Gewinn, / Ist der Ausflug in die Hütten, / Die er auch für uns erstritten. //
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Oculi, 14 Uhr Sophienkirche zu Berlin Eph 5,1–9 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 86, Bl. 82r–96r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 140r–149r; Andrae Vermutl. Vakanzpredigt
Nachmittagspredigt (Sophk.) Oculi 1824. Unser heutiges Sonntagsevangelium, m. a. F., enthält eine wichtige Rede des Erlösers, worin er auf den Vorwurf antwortet daß er die Teufel austreibe durch den Obersten der Teufel und zeigt wie unmöglich es sei, daß er und sein Reich die mindeste Gemeinschaft haben könnte mit dem Reiche des Bösen. Und als von der Kraft dieser Rede ergriffen eine Stimme aus dem großen Haufen der Zuhörer rief: „selig ist der Leib der dich getragen hat, und die Brüste, die du gesogen hast“, so sagte der Herr: „selig sind die Gottes Wort hören und bewahren.“ Er selbst war das lebendige und ursprüngliche Wort Gottes, und wohl hat er recht, daß es auf keine solche äußerliche | Gemeinschaft mit ihm ankomme, sondern daß wir ihn als das lebendige Wort Gottes hören und bewahren. Jezt nun, m. g. F., wo wir besonders das Gedächtniß von dem Leiden unsers Erlösers feiern, mögen wir uns wohl daran erinnern, daß er in diesem seinem Leiden noch auf eine ganz besonders eindringliche Weise zu uns redet von diesen beiden, davon sowohl daß er und die Seinigen keine Gemeinschaft haben können mit dem Bösen, 1 Nachmittagspredigt (Sophk.) Oculi 1824.] Ergänzung von Schleiermachers Hand; SAr 105, Bl. 140v: Nachmittagspredigt am Sonntage Okuli 1824. (gehalten in der Sophienkirche) 4 Teufel und] Teufel, 0 Die zweite Predigerstelle an der Sophienkirche war, nach dem Tod Johann Gottfried Rudolf Agricolas (geb. 1762 in Neu-Zittau) am 3. Januar 1823, frei geworden. Sie wurde am 4. April 1824 mit Friedrich August Ideler (geb. 1790, gest. 1860) neu besetzt. (Vgl. Lisco, Kirchen-Geschichte, S. 61) 1 Die Überschrift ersetzt das ursprüngliche Titelblatt, welches wohl durch die Lieferung der vorangehenden Predigt aus dem Konvolut an die Setzerei verloren ging. 2–9 Sonntagsevangelium war Lk 11,14–28.
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als auch davon daß ihn hören und bewahren die rechte Seligkeit in sich schließt. Dahin führt uns nun ganz besonders unsere heutige Sonntagsepistel, welche wir zum Gegenstande unserer frommen Betrachtung machen wollen unter dem Bei|stand des Herrn, wozu wir uns ermuntern durch Gesang und Gebet. Tex t. Epheser V, 1–9. So seid nun Gottes Nachfolger als die lieben Kinder, und wandelt in der Liebe, gleich wie Khristus uns hat geliebt und sich selbst dargegeben für uns zur Gabe und Opfer Gott zu einem süßen Geruch. Hurerei aber und alle Unreinigkeit oder Geiz laßt nicht von euch gesagt werden, wie den Heiligen zusteht; auch schandbare Worte und Narrentheidinge oder Scherz, welche euch nicht ziemen, sondern vielmehr Danksagung. Denn das sollt ihr wissen, daß kein Hurer oder Unreiner oder Geiziger welcher ist ein Gözendiener, Erbe hat an | dem Reiche Khristi und Gottes. Laßt euch niemand verführen mit vergeblichen Worten, denn um dieser willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Unglaubens. Darum seid nicht ihre Mitgenossen. Denn ihr waret weiland Finsterniß, nun aber seid ihr ein Licht in dem Herrn. Wandelt wie die Kinder des Lichts. Die Frucht des Geistes ist allerlei Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit. Wenn der Apostel, m. a. F., die Ermahnungen unseres Textes damit anfängt: „So seid nun Nachahmer Gottes“, so ist wohl natürlich daß er fortfährt „wie Khristus uns hat geliebet und sich selbst dargegeben.“ Denn worin anders können wir Nach|ahmer oder Nachfolger Gottes sein als in der Liebe, die sein Wesen ausmacht. In dieser aber ist Khristus, unser Herr, das Ebenbild seines Wesens und der Abglanz seiner Herrlichkeit gewesen. Darum ist: „seid Nachahmer Gottes und wandelt in der Liebe, gleich wie Khristus, der uns geliebt hat“ natürlich eins und dasselbige. Aber der Apostel stellt uns nun auch Khristum ganz besonders dar in seinem Leiden, indem er sagt: „gleich wie Khristus sich hat für uns dargegeben eine Gabe und Opfer Gott wohlgefällig.“ So laßt uns denn, wie darauf alles Folgende in unserer Epistel zurükkommt, mit einander reden von dem Wandel in der Liebe, die uns das Leiden Khristi verkündigt. | 24 fortfährt] so SAr 105, Bl. 141v; Textzeuge: fortführt 24 geliebet] so SAr 105, Bl. 141v; Textzeuge: geleitet 24 dargegeben] so SAr 105, Bl. 141v; Textzeuge: dargeboten 31 dar] da 27–28 Vgl. Hebr 1,3
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I. Zuerst giebt sich das darin zu erkennen, was auch der Apostel voranstellt, „er hat sich für uns zur Gabe und Opfer Gott wohlgefällig dargegeben.“ Darin nun, m. a. F., können wir nicht so unmittelbar seine Nachahmer sein, und eher noch konnte der Apostel das zu den Khristen der damaligen Zeit sagen, als wir es unmittelbar auf uns anwenden können. Denn damals galt es noch dem Evangelio Anhänger mit Aufopferung alles irdischen Gutes und mit Gefahr des eigenen Lebens zu verschaffen, und jeder der treu bei der erkannten Wahrheit blieb und eben dadurch auch andere bei derselben fest hielt, der mußte darauf gefaßt sein sich selbst ganz | oder einen großen Theil dessen, was zu seinem irdischen Dasein gehörte, darzubringen, eben wie Khristus sich selbst für uns dargegeben hat. Wenn wir nun das nicht so unmittelbar auf uns anwenden können, so laßt uns darauf achten, womit der Apostel seine Ermahnungen in unserer Epistel beschließt, „wandelt nun wie die Kinder des Lichtes, seitdem ihr ein Licht seid in dem Herrn; die Frucht des Geistes ist allerlei Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit“. Hievon ausgehend, m. g. F., werden wir sehen, wie auch wir in der Liebe wandeln können, durch welche Khristus sich selbst dargegeben hat für uns. Der Geist von welchem | der Apostel sagt, daß die Frucht desselben sei allerlei Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit, das ist der Geist, von welchem der Erlöser selbst sagt, er werde es von dem Seinigen nehmen, und seinen Jüngern mittheilen und immer mehr verklären. Und so wissen wir es wohl, daß der ganze Wandel unseres Herrn auf Erden nichts anderes war als Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit; ja nicht nur das, sondern dieser Wandel war auch eben die Ursache, warum er sich selbst für uns dargab, und beides läßt sich nicht von einander trennen. Das war seine Gütigkeit, daß er zu sich einlud die Mühseligen und Beladenen um sie zu erquiken, und ihnen Ruhe zu geben für | ihre Seelen. Das war seine Gerechtigkeit, daß er sagte: „des Menschen Sohn thut nichts von ihm selbst, sondern dazu ist er gekommen daß er den Willen seines Vaters erfülle.“ Das war seine Wahrheit, daß er von sich selbst sagen konnte: „Alles Vater was du mir gegeben hast, das habe ich ihnen offenbart und verkündigt.“ Und diesen Wandel in Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit hätte er unterbrechen müssen, wenn er es hätte vermeiden wollen sich für uns selbst darzugeben als eine Gabe und Opfer; und eben dies nun vermögen 7 galt] so SAr 105, Bl. 142r; Textzeuge: gab Bl. 142v; Textzeuge: sorgte 21–24 Vgl. Joh 16,14–15 33–34 Vgl. Joh 17,6–12
12 eben] aber
28–30 Vgl. Mt 11,28–29
30 sagte] so SAr 105,
31–32 Vgl. Joh 5,30; 6,38
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wir mit fester Zuversicht unseres Herzens auch auf uns anzuwenden. Wenn wir in demselben Geiste wie der | Herr wandeln als die Kinder des Lichts in allerlei Gütigkeit und in Gerechtigkeit und Wahrheit, so geben auch wir uns dar jeder wie er kann und wie Gott, der Alles lenkt, es von uns fordert. Denn wer so wandelt, der kann auch nichts zurükbehalten was er nicht darbrächte, wie die Gütigkeit des Geistes, wie die Wahrheit des Evangeliums, wie die Gerechtigkeit vor Gott es fordert. Wollen wir diesen Schaz uns bewahren und diese Frucht des Geistes in immer reicherem Maaße tragen, dann sind wir auch und müssen sein bereit uns selbst auf jede Weise darzubringen. Denn gar Vieles giebt es, was sonst wohl den sinnlichen Menschen auf sich zieht, | aber was man nicht erlangen kann wenn man nicht die Wahrheit hint’ansezen, wenn man nicht die Gerechtigkeit verleugnen, wenn man nicht statt der geistigen Gütigkeit, welche die Seligkeit der Verlorenen, die Ruhe der Mühseligen, den Frieden derer, die durch den Unfrieden gestört und getrübt sind, in sich selbst sucht, wenn man nicht statt dieser Gütigkeit zu dienen sie hint’ansezen will, um mit ihrer Hint’ansezung etwas Irdisches zu erreichen und festzuhalten. Wandeln wir also im Lichte als solche, die ein Licht geworden sind in dem Herrn, so bringen wir immer die irdischen Menschen Gott dar, so verleugnen wir immer uns selbst um dasjenige | zu thun was der heilige Wille Gottes von uns fordert, um dem Erlöser gleich so viel wir vermögen alle Gerechtigkeit zu erfüllen, um die Wahrheit, die er uns anvertraut hat als die köstlichste himmlische Gabe, nicht zu verleugnen, sondern sie wo wir berufen sind[,] zu verkündigen vor aller Welt, und ihr immer mehr Bahn zu machen in die Herzen der Menschen. Wollen wir so wandeln, so müssen wir gern dem irdischen Glük absagen um ganz dem Guten zu leben, welches allein das rechte Glük des Herzens ist, so müssen wir nicht uns selbst leben sondern dem Reiche Khristi, um den Punkt wo das Wohl unserer Nächsten und unser eigenes dasselbe ist, zu erreichen, und die Gemeine Gottes immer | herrlicher an uns zu machen. Und wenn, m. g. F., die Schrift uns sagt, auch das habe dazu gehört, daß Khristus sich selbst für uns dargebracht hat, daß er in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit heißen Tränen geopfert hat vor Gott: so werden wir wohl gestehen müssen, diejenigen, welche in Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit wandeln und in dem Sinne Khristi, der sich selbst für uns dargegeben hat, denen wird es nicht an Gelegenheit fehlen auch dieses Opfer der Liebe vor Gott darzubringen. Denn eben deswegen weil das Licht von dem Herrn immer nur noch in die Finsterniß hineinscheint und sie noch nicht ganz durchdrungen hat, eben deswegen weil der Wahrheit | des Evangeliums noch so viele 33–35 Vgl. Hebr 5,7
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Herzen verschlossen sind, eben deswegen weil die Gerechtigkeit, die allein vor Gott gilt, noch so vielen Menschen den Einen ein Ärgerniß ist, und den Andern eine Thorheit: so giebt es für einen jeden, der die Liebe zu schäzen weiß, in welcher Khristus sich für uns selbst dargegeben hat, und der da weiß daß ihm dafür die Seelen der Menschen zum Lohn und zur Beute wurden, und daß die Seligkeit wozu er den Grund gelegt hat, sich immer weiter verbreitet in dem Geschlecht der Menschen: o dem wird es niemals fehlen daß er zu flehen habe und zu beten vor Gott und seine Brüder zu vertreten mit Seufzern, wie das Gebet und Flehen Khristi | es war, und mit heißen Thränen für die Verbreitung des Reiches Gottes und für das Wohl der einzelnen Seelen vor unserem himmlischen Vater zu erscheinen. Das m. g. F., ist der Wandel in der Liebe, in welcher Khristus sich für uns dargebracht hat; und gewiß wir vermögen nicht auf eine würdige Weise das Andenken seines Leidens zu feiern, wenn wir uns nicht auf das kräftigste ermuntern zu diesem Wandel, der allein der Wandel ist in dem Lichte; und ihm dem gekreuzigten Erlöser zur Ehre immer mehr absagen aller Finsterniß und allem was seiner göttlichen Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit entgegen ist. II. Zweitens aber macht uns der Apo|stel bald am Anfange unseres Textes darauf aufmerksam, Khristus habe sich in der Kraft dieser Liebe für uns dargegeben zu einer Gabe und Opfer, welches Gott wohlgefällig gewesen sei. Dabei wußte er wohl, es konnte denen an welche er schrieb nicht entgehen, daß ein jedes Opfer ohne Fleken und ohne Tadel sein mußte, wie auch der Apostel Petrus sagt: „Wisset, daß ihr nicht mit Gold oder Silber erlöst seid von dem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem theuren Blute Khristi als eines reinen und unbeflekten Lammes.“ Und gewiß, m. g. F., wenn sich Khristus auch für uns dargebracht hätte, er wäre nicht ein Gott wohlgefälliges Opfer gewesen, | wäre er nicht eben so rein und unbeflekt gewesen wie jedes Opfer, das dem Herrn gebracht wurde, es sein mußte. Und das bildet eben den wesentlichen Unterschied zwischen seiner Hingebung und so mancher andern. Denn das ist nicht etwas so gar seltenes, daß der Mensch auch für Andere sein Leben in den Tod giebt, daß er es hingiebt in der Arbeit und in der Mühe für die Seinigen, in der Vertheidigung der Gesellschaft und des Landes, dem er angehört, und die Liebe darin die ist nicht zu verkennen, und wir müssen sie preisen. 8 flehen] so SAr 105, Bl. 144v; Textzeuge: fluchen 8–12 Vgl. Hebr 5,7
26–29 Vgl. 1Petr 1,18–19
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Aber eben weil das Opfer nicht unbeflekt ist, weil hinter dieser Liebe oft sich eine geheime Selbstsucht verbirgt, weil sie nicht allein das ganze | Leben geleitet und regiert hat, sondern neben ihrem Walten noch oft die Liebe zu den irdischen Dingen und zu dem vergänglichen Wesen dieser Welt sich offenbart hat, darum ist keine solche Hingebung mit der des Erlösers zu vergleichen. Deswegen nun, m. g. F. beschäftigt sich der Apostel in einem so großen Theile des verlesenen Textes damit, die Khristen an welche er schreibt vor alle dem zu warnen und davon zurükzuhalten, was den Menschen verunreinigt vor Gott und ihnen ausdrüklich zu sagen, daß kein Unreiner ein Theil oder Erbe habe an dem Reiche Khristi und Gottes. Und so ist denn nur das die rechte Liebe, in welcher zu wandeln das Leiden Khristi uns antreiben soll, welche zugleich | nach der Reinigkeit des Herzens vor Gott trachtet. So gewiß aber die Liebe Khristi der Abglanz des göttlichen Wesens ist, so gewiß er als das Haupt seine Gemeine regiert und sie wiederum sein Ebenbild an sich tragen soll, so nothwendig ist es, daß sie, wie der Apostel sagt, um dargestellt werden zu können ohne Fleken und ohne Tadel, ganz die Liebe Khristi in sich aufnehmen. Und wenn wir uns von dem Vorbilde dessen wollen treiben lassen, der sich selbst für uns als ein gottgefälliges Opfer dargegeben hat, so müssen wir auch nach der Reinigkeit des Herzens trachten, ohne welche unsere Liebe doch beflekt sein würde, und jede Hingebung nicht | wohlgefällig sein könnte vor Gott. Was aber verunreinigt den Menschen? Was nennt uns der Apostel mit so verschiedenen Namen in dem verlesenen Theile seines Briefes? Alles m. g. F., kommt zurük auf die Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt und an ihr vergängliches Wesen. Das ist es, was den Menschen beflekt, und was auch seine Liebe verunreinigt, so daß er nicht im Stande ist ein gottgefälliges Opfer darzubringen, das ist es weshalb der Erlöser mit seinem Blute eingehen konnte in das Allerheiligste, weil er hineinging als unser Hohepriester, als ein vollkommnes gottgefälliges Opfer. Denn er war nie beflekt durch die Anhänglichkeit an die Dinge dieser | Welt, er hatte gar kein anderes Bestreben als das den Willen seines Vaters zu vollbringen, und so wie er überhaupt an den Dingen dieser Welt wenig Antheil hatte, und sich darstellt als einen solchen, der nicht habe wo er sein Haupt hinlege, so war auch sein Herz von keinem Verlangen nach derselben erfüllt. Wie nun wir alle, m. g. F., ihm darin nicht ähnlich werden können, daß wir unser Leben darbringen für unsere Brüder, so auch nicht darin, daß wir nicht haben wo wir unser Haupt hinlegen. Denn die Dinge dieser Welt sind nothwendig, damit das Reich Gottes auf Erden bestehe und sich weiter 16–18 Vgl. Eph 5,27; Kol 1,22 Lk 9,58
29–30 Vgl. Hebr 9,11–12
34–35 Vgl. Mt 8,20;
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ausbreite. Um aber dazu benuzt zu werden, müssen sie in den Hän|den der Menschen sein als ein Eigenthum, worüber jeder nach seinem Gewissen und nach dem ihm bekannten Willen Gottes zu schalten hat, wir können sie nicht entbehren, sondern müssen sie haben, aber nach jenem Wort des Apostels, wir sollen sie haben als hätten wir sie nicht. Denn hängt unser Herz daran, dann werden sie uns auch hindern in reiner Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit zu wandeln, dann werden sich so manche Gelegenheiten finden wo wir um nicht Schaden zu leiden an diesen irdischen Gütern lieber einen Schaden zu leiden wagen an unserer Seele, dessen Folgen wir oft nicht zu berechnen im Stande sind, und | der seiner Natur nach schon nicht so vorübergehend sein kann, wie jeder irdische Verlust eben deswegen es ist, weil auch die Herrlichkeit der Welt mit aller ihrer Lust vergeht. Wer also sein Herz mit der Anhänglichkeit an die irdischen Dinge beflekt, o der wird vielleicht doch Veranlassungen finden, die Liebe zu beweisen, die sich für Andere darbringt; aber vor Gott wird sein Opfer nicht wohlgefällig sein wie schön es auch vollbracht, und von welchem Werthe es auch erscheinen mag, weil der, der in das Innerste des Herzens sieht, wohl weiß, daß wenn er hätte seine Liebe beweisen sollen mit Aufopferung dessen, woran sein Herz hing, so würde er gezagt | haben und gewankt oder der Güte und Gerechtigkeit abgesagt, und die Wahrheit verleugnet. Darum können wir nun nicht wandeln in der Liebe, von welcher uns Khristus das Vorbild gegeben hat, wenn wir ihm nicht unser ganzes Herz weihen, und eben deswegen aller Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt entsagen, und sie nur besizen[,] was sie auch sein mögen[,] als Mittel, um durch ihre Hülfe den Willen Gottes, den er uns bekannt gemacht hat, zu erfüllen, nie aber als etwas was wir festzuhalten und zu bewahren verpflichtet sein können, auch mit Gefahr das was wir als den Willen Gottes erkannt haben, zu verlezen und zu verleugnen. So, m. g. F., war es bei dem | Erlöser. Selbst das Geistigste was es für ihn gab, das heißt das Zusammensein und Zusammenleben mit denen, die er liebte, die er durch beständiges Arbeiten an ihren Seelen sich angeeignet hatte, in denen er gleichsam seine eigene Kraft niedergelegt hatte, um sie zu Werkzeugen Gottes zu bilden, selbst diese opferte er auf als die Stunde kam, wo er sein Leben dargeben mußte Gott zur Gabe und zum Opfer für uns, wo er nun dem göttlichen Willen treu bleiben und nicht wanken sollte. Und jeder, der den Herrn in dieser Hinsicht mit allen andern vergleicht, wird wohl gestehen müssen, wie wohl der Erlöser äußerlich arm war und gering und | wenig 24 Anhänglichkeit] so SAr 105, Bl. 147v; Textzeuge: Ähnlichkeit 4–5 Vgl. 1Kor 7,29–31
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von den Dingen dieser Welt besaß, so hat er doch in der Aufopferung und in dem Mangel aller der Dinge die ihm lieb sein konnten, alle Menschen weit hinter sich gelassen. Denn er brachte den ganzen irdischen Kreis seines Lebens, er brachte die Blüthe seiner Jahre, er brachte alles was seinem irdischen Leben einen Werth geben konnte zur Gabe und zum Opfer hin, und verschonte auch derer nicht, die ihm der Herr gegeben hatte, sondern empfahl sie dem von welchem er sie empfangen, gab sie ihm zurük als ein ihm anvertraut gewesenes Kleinod, betete für sie auf eine Weise, von der er wissen konnte daß sie nicht unwirksam sein würde, und so ging | er mit gänzlicher Verleugnung und Hingebung alles dessen was ihm das Liebste gewesen war, dem Tode entgegen, der seinem Leben ein Ende machen sollte. Wie nun auch uns die besten und reinsten Freuden in diesem irdischen Leben entstehen aus unserem Verhältniß mit denen die wir lieben, wie wir keinen bessern Gebrauch von allen andern irdischen Gaben zu machen wissen, als diejenigen dadurch zu erfreuen und ihr Leben dadurch zu erheitern die uns theuer und werth sind: so müssen wir gestehen, wer das Verhältniß mit diesen dargebracht hat, der hat mit diesem Verhältniß auch alles andere dargebracht, wer selbst an diesem nicht hing, der würde noch | viel weniger an andern vergänglichen Dingen dieser Welt gehangen haben, wenn er auch die Fülle derselben besessen hätte. Und darum gebührt uns vorzüglich im Andenken an das theure Leiden unseres Erlösers uns selbst immer mehr zu reinigen von aller Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt, damit der Glaube und die Liebe fest werde in dem Herzen, und wir die sichere Zuversicht bekommen, daß wenn wir das Irdische darbringen um das Reich der Gütigkeit und der Gerechtigkeit und Wahrheit zu fördern, wir auch ein Opfer darbringen, welches Gott wohlgefällig ist, wie das Opfer des Erlösers es war. Dies aber so wenig als alles Andere vermögen | wir ohne ihn und ohne seinen Geist. Denn Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit ist die Frucht seines Geistes, die Frucht der lebendigen Gemeinschaft mit ihm. Uns diese immer wahrer zu machen, uns in diese immer tiefer zu versenken, dazu möge jedes Andenken an ihn, besonders aber die Feier seines Leidens allen denen, die in ihm die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes erkannt haben, gesegnet sein um seinet willen. Amen.
7–10 Vgl. Joh 17,1–26
34–35 Vgl. Joh 1,14
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Am 28. März 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Laetare, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 4,25–34 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 279–290; Andrae (Titelblätter der verloren gegangenen Druckvorlagen in: SAr 86, Bl. 96v u. SAr 105, Bl. 149v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 162v–163r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 111v–117v; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium Liederangabe (nur in SAr 86 und SAr 105)
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Am Sonntage Laetare 1824. Tex t. Joh. 4, 25–34. Spricht das Weib zu ihm, Ich weiß, daß Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn derselbige kommen wird, so wird er es uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr, Ich bin es, der mit dir redet. Und über dem kamen seine Jünger, und es nahm sie wunder, daß er mit dem Weibe redete. Doch sprach niemand, Was fragst du? oder, was redest du mit ihr? Da ließ das Weib ihren Krug stehen und ging hin in die Stadt und spricht zu den Leuten, Kommt, sehet einen Menschen, der mir gesagt hat alles, was ich gethan habe, ob er nicht Christus sei? Da gingen sie aus der Stadt, und kamen zu ihm. Indeß aber ermahnten ihn die Jünger und sprachen, Rabbi, iß. Er aber sprach zu ihnen, Ich habe eine Speise zu essen, da wisset ihr nicht von. Da sprachen die Jünger unter einander, Hat ihm jemand zu essen gebracht? Jesus spricht zu ihnen, Meine Speise ist die, daß ich thue den Willen deß, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk. | 0 SAr 86, Bl. 96v; SAr 105, Bl. 149v: „Lieder 329; 333, 5 und 6“. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, „Christe, mein Leben“ (Melodie von „Hast du denn Jesu“); „Ich will dich lieben, meine Stärke“ (Melodie von „Wer nur den lieben Gott läßt walten“)
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M. a. Fr. Da der Erlöser der samaritischen Frau es als etwas nahe bevorstehendes verkündigte, daß man weder in Jerusalem noch auf dem Berge Garizim würde den Herrn anbeten, so dachte sie schon von selbst, wie sie denn unterrichtet war von den Hoffnungen des Volks, die in der Schrift sich gründeten, und gewiß auch theilnehmend daran, daß sie in Erfüllung gehen würden, bald werde die schöne Zeit des neuen Reiches Gottes auf Erden kommen, und darum sagt sie, weil sie nicht weiter will in den dringen, den sie schon als einen Propheten erkannt hatte, um sich näher erklären zu lassen, wie er es meine, daß man schon jezt solle den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit, darum sagt sie, Ich weiß auch, daß der Messias kommt, der da Christus heißt; wenn derselbige kommen wird, so wird er es uns alles verkündigen. Der Herr aber sagt zu ihr, Ich bin es, der mit dir redet. Das, m. g. Fr., war seiner gewöhnlichen Weise eher entgegen als gemäß. Denn wir lesen es öfters sowol wenn er den Menschen wunderthätige Hülfe geleistet hatte, weshalb sie ihn für den erwarteten Messias erkannten, daß er ihnen verbot sie sollten es niemandem sagen, als auch, wenn seine Jünger das Bekenntniß ihres Glaubens abgelegt hatten, sie hielten ihn immer noch für den der da kommen sollte, so verbot er es ihnen, sie sollten mit niemandem davon reden. Hier aber sagt er zu der Frau selbst unaufgefordert und von freien Stükken, Ich bin es, der mit dir redet. Er wollte ihren angefangenen Glauben – denn das war doch ein Anfang desselben, daß sie ihn erkannte für einen Propheten und bei ihm Belehrung suchte über die wichtigsten geistigen Angelegenheiten – diesen schon angefangenen Glauben wollte er nicht sich selbst überlassen. Sie | war im Begriff sich mit den Bedürfnissen ihres Herzens selbst zu vertrösten auf die Zukunft, die er ihr zwar als nahe dargestellt hatte, aber die doch für sie noch etwas unbestimmtes war. Da konnte es sein liebevolles Herz nicht aushalten, sondern damit sie sich ganz an ihn wenden und sich nur von ihm möchte verkündigen lassen was ihr noch fehlte um ihren Durst zu befriedigen, so sagte er selbst zu ihr, Ich bin es, der mit dir redet. Wie, m. g. Fr., erklären wir uns diesen Unterschied in dem Betragen des Erlösers, welches uns wie alles, was wir von ihm lesen, doch gewiß selbst eine Richtschnur sein soll für unser eigenes? Es ist freilich ein großer Unterschied um die Verkündigung von Wahrheiten in das unbestimmte hinaus, um die Mittheilung an solche Menschen, von denen man nicht weiß, haben sie Sinn dafür oder nicht, tragen sie ein Verlangen danach oder nicht. Daraus entsteht natürlich, daß sich ihre Betrachtung von dem eigentlichen Wesen der Sache auf etwas anderes ab1–3 Vgl. Joh 4,21 5,42–43; 7,35–36
8–9 Vgl. Joh 4,19 10 Vgl. Joh 4,23.24 15–18 Vgl. Mk 18–20 Vgl. Mt 16,16.20; Mk 8,29–30; Lk 9,20–21
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lenkt. Wenn der Herr so, zumal auf dem Grunde der Wunder, die er verrichtete, oder auch nur auf dem Grunde der nähern und vertrautern Bekanntschaft, die seine Jünger mit ihm hatten, in aller Welt und zu jeder Zeit ohne Unterschied hätte verkündigen lassen: so würde der größere Theil des Volks, der noch nicht darauf vorbereitet war diesen wahren innern geistigen Sinn aufzufassen, immer wieder zurükkgekehrt sein zu der Hoffnung auf eine äußerliche Wiederherstellung des Volks, und das hätte mehrere solcher Auftritte veranlaßt wie die Evangelisten uns erzählen, daß das Volk ihn wenn es einmal erfüllt war von der Zuversicht, er sei der erwartete Messias, zu seinem Könige ausrufen wollte. Um solchen Mißbrauch der Wahrheit zu vermeiden, muß man achten auf das innere Gefühl und sich eine Sicherheit darüber verschaffen, ob, indem wir die Wahrheit reden, | sie auch gehört wird, und nicht aus dem was wir sagen etwas anderes erfolgt, als was wir bezwekkten. Deshalb verbot der Herr unter gewissen Umständen seinen Jüngern und andern, daß sie nicht sagen sollten, er sei der Messias. Der Grund, den er in dem menschlichen Herzen zuvor legen wollte, das war seine Lehre, seine mündliche Verkündigung des Reiches Gottes und alles, worauf es dabei ankam, vorläufig ohne die nähere Beziehung auf seine Person; und nur da wo er nach einem längeren Aufenthalt und nach einer vertrauteren Bekanntschaft einen solchen Grund schon gelegt zu haben überzeugt war und wußte, daß sich die Hoffnungen des Herzens von dem leiblichen auf das geistige gewendet hatten, da und nur dadurch veranlaßt verstattete er, daß die Verkündigung des Reiches Gottes auf seinen Namen begonnen wurde. Dieser Fall war hier. Hier hatte er es mit einer einzelnen zu thun, von welcher schon das Wort des Evangelisten galt, daß der Herr nicht nöthig hatte zu fragen oder zu untersuchen, was in dem menschlichen Herzen sei. So hatte er sie angesehen als sie zuerst an den Brunnen zu ihm kam, so hatte er sie näher kennen gelernt aus ihren wißbegierigen Reden, und darum konnte sein liebevolles Herz es nicht länger ertragen ihr nicht dasjenige zu sagen, worauf sich ihr Glaube gründen konnte, und sie mit dem bekannt zu machen, was sie belehren sollte, wie sie selbst von nun an das Heil ihrer Seele schaffen könne. Darum sagt er zu ihr, Ich bin es, der mit dir redet. Und eben kamen seine Jünger aus der Stadt herbei, welche hineingegangen waren Speise zu kaufen; und die Frau, wie schon ihre lezten Worte, Wenn der Messias kommen wird, so wird er es uns alles verkündigen, ein Ausdrukk gewesen waren ihres bescheidenen und zurükkgezogenen Wesens, so wollte sie nun noch weniger in der Gegenwart so vieler andern ihr Ge|spräch mit dem Herrn fortsezen, sondern ließ ih9–11 Vgl. Joh 6,15
27–29 Vgl. Joh 2,25
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ren Krug und das Geschäft, um dessentwillen sie gekommen war, und lief in die Stadt hinein, wie der Evangelist sagt, um den Männern derselben zu sagen, Kommt und sehet einen Menschen, der mir gesagt hat alles was ich gethan habe, ob er nicht Christus ist. Sie geht nun denselben Weg, den der Erlöser mit ihr gegangen war. So wie seine unbegreifliche Bekanntschaft mit den Verhältnissen ihres Lebens sie zuerst auf eine solche Weise aufmerksam gemacht hatte auf ihn, daß sie etwas höheres und mehr als einen gewöhnlichen Lehrer der Schrift in ihm suchte: so theilte sie nun auch den Männern ihrer Stadt zuerst dasjenige mit, was sie selbst zuerst ergriffen hatte. Aber wie verständig ist sie auch hier. Sie fordert nicht, daß sie deswegen schon glauben sollen daß er Christus sei, sie sagt ihnen auch nicht wieder, er selbst habe sich dafür ausgegeben, sondern will es nur ihrer Prüfung anheimstellen; die erste Veranlassung theilt sie ihnen mit und denkt, gehen sie hinaus und hören und sehen ihn, so wird es ihnen eben so gehen wie mir; die Gewalt seiner Rede, der tiefe Blikk seines Geistes in das innere des Herzens, die höhere Wahrheit seines Wortes, die ganze Göttlichkeit seines Wesens wird sie überzeugen zuerst, daß er ein Prophet sei, wie ich ihn dafür erkannt habe, und dann wird sich von selbst zeigen, ob sie sich auch dafür bekennen werden, daß er derjenige sei den sie alle erwarten. Das, m. g. Fr., das ist der Weg der natürlichen Einfalt des Herzens in der Verbreitung des Weges zur Seligkeit, sich zu berufen auf die eigene Erfahrung und andere so viel als möglich zu veranlassen, daß sie dieselbe auch machen mögen; das ist der Weg, den der Erlöser selbst vorschreibt, indem er sagt, Wer meine Lehre thut, der wird wol inne werden, ob sie von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede. Erst durch die wei|tere Fortsezung des lebendigen Verkehrs mit dem Erlöser und seiner ganzen Wirksamkeit in der menschlichen Seele kann sich der Glaube an ihn allmälig befestigen; anfangen aber kann er mit nichts anderem als mit der Erfahrung davon, daß etwas besonderes und bedeutendes in der Seele vorgegangen ist; alles andere kann eine Veranlassung sein ihn zu stärken und immer mehr zu beleben, aber es kann kein Grund des Glaubens und kein Beweis seiner höheren Würde sein. Besonders aber war das nun der Weg, der am besten anstand einer Frau, die nicht Anspruch machen konnte auf eine solche Weise wie die Männer ihrer Stadt nach der Sitte und Ordnung der damaligen Zeit unterrichtet zu sein. In welchem guten Rufe sie aber stehen mußte unter den Männern ihrer Stadt, das sehen wir daraus, daß auf dieses 26–27 Vgl. Joh 7,17
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einfache Wort sie schon hinausgingen um zu sehen, wie viel an dem sein möge was sie verkündigte. Die Jünger aber, die unterdeß herbeigekommen waren, wunderten sich, daß der Herr mit einem Weibe redete. Späterhin müssen sie sich wol daran gewöhnt haben, denn da finden wir in den Erzählungen der Evangelisten den Herrn öfters in der Gesellschaft von Frauen; bald am Anfange seines öffentlichen Lebens aber war es noch etwas neues, wie es denn auch abwich von der Weise der damaligen Lehrer des Volks, die es immer nur mit den Männern zu thun hatten, und wie auch von allem, was den Unterricht in dem göttlichen Worte und die Uebungen des Gottesdienstes betraf, das andere Geschlecht viel weiter entfernt war als das männliche. Diese Ordnung konnte der Erlöser in seinem Reiche nicht bestehen lassen. Da das, worauf er das Heil der Menschen gründen wollte, so ganz das innerste des Gemüthes betraf, so konnte er diejenigen nicht übersehen oder zurükkstellen hinter die andern, welche den ersten bedeutenden Einfluß auf das junge menschliche Gemüth ausüben; sondern er mußte darin eine neue Ordnung stiften und | eine größere Gleichheit herstellen zwischen beiden Theilen des menschlichen Geschlechts. Dazu hat er denn den Anfang gemacht ganz still im kleinen und einzelnen, indem er sich, wo hinreichende Gründe und dringende Veranlassungen dazu waren, auch im einzelnen mit Frauen einließ und sie in den Kreis seiner Bekanntschaft und Freundschaft hineinzog. Dabei aber soll doch bestehen und besteht immer noch in der christlichen Kirche die Ordnung, welche der Apostel Paulus, wie er sagt, gestiftet hat, daß nämlich die Frauen schweigen sollen in der Gemeine. In dem Kreise des häuslichen Lebens sollen sie ihre Wirksamkeit ausüben, ihre Belehrung können sie schöpfen aus derselben Quelle mit andern, und sie haben gleiches Recht an allen göttlichen Gnadenweisungen und an allem was helfen kann das menschliche Herz erbauen auf dem Grunde des Glaubens; ihre Wirksamkeit aber, die darf keine öffentliche sein, sondern muß auf den Kreis von Geschäften sich beschränken, der ihnen durch die Natur und durch die göttliche Ordnung in der Natur angewiesen ist. Aber wie der Herr auf jenen Ausruf, Selig ist der Leib, der dich getragen, und die Brust, die du gesogen hast, antwortete, Selig sind die Gottes Wort hören und bewahren: so wollte er das besonders auch auf das weibliche Geschlecht angewendet wissen, Selig sind die mein Wort hören und so bewahren, daß ihnen keine Gelegenheit zur stillen Wirksamkeit in dem Kreise des Hauses und in dem vertrauten freundschaftlichen Leben mit andern unbenuzt vorübergeht, die es so bewahren, daß sie es durch 24–26 Vgl. 1Kor 14,34
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ihr ganzes Dasein verkündigen, und daß man sieht und gewahr wird, wie sie von demselben durchdrungen sind. Ehe nun die Männer aus der Stadt kamen, redeten die Jünger dem Erlöser zu, so wie er sie vorher in die Stadt geschikkt hatte um Speise zu kaufen, daß er nun auch Gebrauch davon machen möchte. Da sagt er zu ihnen, Ich habe eine | Speise zu essen, da wisset ihr nicht von. Nachdem sie nun unter einander wahrscheinlich den einen oder die zwei, die bei dem Erlöser geblieben waren, während sie selbst Speise aus der Stadt holten, gefragt hatten, ob ihm unterdeß jemand Speise gebracht habe: so öffnete er ihnen den Sinn seiner Rede, Ich habe eine Speise, das ist die, daß ich thue den Willen deß der mich gesandt hat und vollende sein Werk. So wie es ihnen etwas neues und fremdes war, daß der Herr mit einer Frau geredet hatte, so hatten sie auch keine Veranlassung sich gleich den Sinn seiner Worte auf das geistige zu deuten. Der Herr aber war in seinem Gemüthe voll von dem, was er gethan hatte; er wußte, daß sich nicht nur in einer Seele der Glaube, der zum Heile führt, entzündet hatte, sondern er wußte, daß derselbe auch ein Werkzeug sein würde für die weitere Verbreitung der Kunde davon, daß der Messias da sei; er sah sich ein neues Feld eröffnet für seine Wirksamkeit, ein Feld auf welchem er hoffte reiche Frucht zu gewinnen. Wie recht er daran hatte, das sehen wir aus dem Erfolg nicht nur – so wie der Evangelist in demselben Capitel erzählt, daß viele aus derselbigen Stadt an den Herrn glaubten nicht nur um des Weibes Rede willen, sondern weil sie selbst den Erlöser gehört und als einen solchen erkannt hatten, – sondern noch mehr lesen wir in der Folge von der Wirksamkeit des göttlichen Wortes unter den Samaritern in der Geschichte der Apostel. Denn da ward bald in der ersten Zeit nach dem Pfingstfest noch vor der Berufung des Apostels Paulus den Aposteln in Jerusalem hinterbracht, daß Samaria das Wort Gottes angenommen habe. Es waren freilich damals Philippus und noch einige andere nach der Verfolgung des Stephanus in jene Gegenden gekommen und hatten dort das Evangelium verkündigt. Wenn aber dieser Grund nicht schon von dem Herrn selbst gelegt wor|den wäre, so würde wol dieser Erfolg nicht daraus hervorgegangen sein. Und um so bedeutender mußte dies dem Erlöser erscheinen, als ja, wie er darum gekommen war jede Scheidewand niederzureißen, die den Segen seiner Erscheinung auf Erden hemmen konnte, so auch hier eine Scheidewand niedergerissen werden mußte, welche zwischen den Juden und Samaritern bestand; und nachdem sie selbst, die Samariter, sich mit seinen Jüngern vereinigt hatten in dem Glauben, er sei der da kommen solle, und daß von 22–26 Vgl. Joh 4,42
26–30 Vgl. Apg 8,5–6.14
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ihm allein Heil zu erwarten sei für die Menschen, so konnte auch jene Scheidewand nicht länger bestehen. Darum war sein Herz voll davon, und wie es immer für das Erfülltsein der Seele von dem göttlichen und guten der kräftigste Beweis ist, daß der Mensch in einem solchen Zustande des erhöheten Herzens seine irdischen Bedürfnisse vergißt, so bedurfte auch der Erlöser der Speise nicht mehr, sondern sagte zu seinen Jüngern, Ich habe eine Speise, davon ihr nicht wisset, nicht als ob sie diese geistige Speise wirklich nicht gekannt hätten, sondern wie der Herr ganz unerwartet in dem innersten seines Gemüths ergriffen war durch den glükklichen Erfolg einer halben Stunde, davon wußten sie nichts, und wiewol sie erst nur fragende Worte einer an den andern gerichtet hatten, so waren sie doch nicht so ganz eingeweiht in die heilige Weise seiner Wirksamkeit unter den Menschen. Hier, m. g. Fr., verweilen wir wol besonders bei diesen Worten des Erlösers, Das ist meine Speise, daß ich thue den Willen deß, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk. Darin fand er die Befriedigung seines Herzens und die Sättigung seines Geistes. Hier nun war ein Anfang gemacht an einem Orte, wo vielleicht menschlicher Weise am wenigsten war zu erwarten gewesen, etwas zu fördern in der Sache des Erlösers und für das Werk zu wirken, wozu ihn Gott ge|sandt hatte. Seine Seele aber blieb nicht bei dem einzelnen Eindrukk stehen, er betrachtete immer nur das ganze in seinem ewigen und unzertrennlichen Zusammenhang und sagte, Das ist meine Speise, daß ich in jedem Augenblikk meines Lebens den Willen dessen thue, der mich gesandt hat, und daß ich vollende sein Werk. Wie er es aber vollenden mußte, das war ihm nicht verborgen, sondern er wußte es wol, und auch diese erfreuliche Begebenheit konnte nicht anders als ihn eben darauf zurükkbringen. Denn wenn nun seine Gegner unter den Schriftgelehrten und Aeltesten des Volks ihm das schon zum Vorwurf und zum Verbrechen machten, er gehe um und habe Gemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern, wie viel mehr noch dann wenn sie hörten, daß er mit den Samaritern umgehe, wie wir auch finden, daß sie in der Heftigkeit des Streites ihm selbst diesen Vorwurf machten. So wußte er, wie alles, was er that um den Willen Gottes zu vollbringen und sein Werk zu fördern, das eine mehr und unmittelbarer als das andere, ihn dem Ziele entgegenführen müsse, welches ihm bevorstand, weil er nur auf diese Art das Werk seines Vaters vollenden konnte. Indem er aber dennoch aus dem Keime des göttlichen Wortes, den er hier in eine Seele pflanzte, hundertfältige Früchte hervorgehen sah, die derselbe schon in den nächsten Stunden 28–31 Vgl. Mt 11,19; Mk 2,16; Lk 5,30; 7,34
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tragen sollte, so dachte er daran, daß das Weizenkorn doch allein sei so lange es über der Erde bleibe, und daß es erst ersterben müsse um reiche Frucht zu tragen. Aber statt daß ihn dies wehmüthig machen sollte und betrüben, so war es weit entfernt den Frieden seines Herzens zu stören, sondern indem er davon redete, sprach er es aus, daß er ganz gesättigt sei in der Tiefe des Gemüths und keine andere Speise begehre, weil er eine Erfahrung davon gemacht, daß er das Werk vollendet habe, welches ihm sein Vater über|geben, und Leiden und Tod rechnete er mit ein in die Befriedigung seines Geistes und bekümmerte sich, indem er jeden Augenblikk den Willen Gottes zu thun bereit war, nicht darum, wohin ihn selbst das führen werde. Wie könnten wir wol, m. g. Fr., in dieser Zeit, wo wir ganz besonders das Andenken an das Leiden des Erlösers feiern, es auf eine besondere Weise unbeachtet lassen, wie er auch hier in dem innersten seines Herzens seines Leidens gedenkt, und wie sich sein Herz in der Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater auch darin zeigte, daß alles, was ihm menschlicher Weise begegnen sollte, nicht im Stande war, die Freudigkeit seines innern bei der Erfüllung seiner Pflichten und in der Förderung des Reiches Gottes zu stören. O diesen Sinn sollen auch wir alle in uns nähren und befestigen und wohl wissen, daß keiner in der That und Wahrheit den Willen seines und unseres himmlischen Vaters erfüllen kann, der, indem er arbeitet und die Hand an den Pflug legt, doch wiederum zurükksieht, der sich bedenkt in irgend einem wichtigen und bedeutenden Falle, wohin ihn das wol führen werde, wenn er treu und gehorsam der innersten Ueberzeugung seines Herzens, dem und dem allein folgt, was er als den Willen dessen erkannt hat, in welchem der Herr auf eine ursprüngliche Weise und mit ihm und durch ihn in uns allen gewesen ist. Wie könnten wir glauben, daß wir in wahrer Andacht und Dankbarkeit des Herzens das Leiden des Herrn feiern können, wenn wir nicht unsere Gesinnungen gereinigt haben und demjenigen geweiht, der sich selbst in seinem ganzen Leben zu heiligen für uns auch in diesen Worten ausspricht. Aber, m. g. Fr., wenn wir denn auch dazu bestimmt sind, den Willen unseres Vaters im Himmel dadurch zu erfüllen, daß wir jeder an seinem Orte das unsrige thun um sein Reich zu fördern und denjenigen den Menschen zu verkündigen, in dessen | Namen allein und in keinem andern Heil gegeben ist: o so laßt uns auch eben so, wie der Herr hier gethan hat, mit treuer Liebe den Seelen der Menschen, die sich uns öffnen können, nachgehen, und wenn sie bewegt werden und gerührt durch die Herrlichkeit des Reiches Gottes, welches wir ihnen vorhalten, 1–3 Vgl. Joh 12,24 Apg 4,12
15–16 Vgl. Joh 1,14
20–23 Vgl. Lk 9,62
36–37 Vgl.
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und mit dieser Frau in diesem Texte sagen, Ja wir wissen, früher oder später wird eine Zeit kommen, wo sich die Menschen aller höheren Güter erfreuen werden, dann eben so wie der Herr zu jener Frau so zu ihnen sagen: diese Zeit ist nicht mehr fern, sondern sie ist da: er ist es, von dem wir euch reden, den wir euch verkündigen, er der sich selbst gebracht hat, und wenn ihr euch im Glauben und in der Liebe mit ihm verbindet, so könnt ihr sie festhalten. So, m. g. Fr., sollen wir den Seelen der Menschen nachgehen, aber wir können dies auch nur, wenn wir eben so treu wie der Erlöser in unserem Beruf, eben so begierig wie er uns durch die geistige Speise zu sättigen, eben so treu dem Willen des Vaters im Himmel jeden Augenblikk, den uns der Herr vergönnt, und jede Gelegenheit, die er uns darbietet, welche sie auch sein möge, benuzen zur Verherrlichung seines Namens. Dazu möge er uns stärken durch seine Gnade und möge es geben, daß wir uns alle so gesättigt fühlen, daß wir mit dem Herrn sprechen mögen, Ich habe eine Speise, davon ihr nicht wisset! Amen.
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Judica, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 26,63–66 Nachschrift; SAr 86, Bl. 97r–122v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 150r–165r; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 163r–164r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am Sonntage Judika 1824. |
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Tex t. Matthäi XXVI, 63–66. Der Hohepriester antwortete und sprach zu ihm: ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagest, ob du seist Khristus, der Sohn Gottes. Jesus sprach zu ihm: Du sagst es; doch sage ich euch, von nun an wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sizen zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels. Da zerriß der Hoheprieser seine Kleider und sprach: er hat Gott gelästert, was bedürfen wir weiter Zeugniß? Siehe jezt habt ihr seine Gotteslästerung gehört. Was dünkt euch? Sie antworteten und sprachen: er ist des Todes schuldig. |
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M. a. F.. Von jeher so weit wir die Geschichte des menschlichen Geschlechts kennen, hat der Streit bestanden zwischen dem Lichte und der Finsterniß, hat versucht das Licht in die Welt hineinzuscheinen, aber die Finsterniß nahm es nicht auf. Aber seinen höchsten Grad erreichte dieser Streit als der Sohn Gottes auf Erden erschien um mit der göttlichen Kraft die in ihm wohnte, die Finsterniß zu durchdringen und zu zerstreuen. Da nahm auch sie alle ihre Kräfte zusammen, und nicht als ob es mit Fleisch und Blut zu kämpfen gäbe, sondern mit höheren Mächten der Finsterniß, so gestaltete sich das Bewußtsein aller derjenigen, die auf der Seite des Lichtes an diesem Streite Theil nahmen. | Seitdem muß er wieder abnehmen, sonst wäre es nicht die göttliche
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Kraft gewesen, in Khristo erschienen um die Finsterniß zu durchdringen. Dieses Licht von oben her, das mußte immer mehr Raum gewinnen, immer erneut die Finsterniß bekämpfen und durchdringen, und wir sehen wie es nun schon auch in die entferntesten Gegenden des menschlichen Geschlechts hineinscheint, um diejenigen zu erleuchten, die in dem Schatten des Todes saßen. Ganz aber hat der Streit nicht aufgehört und wird er nicht aufhören hier in dieser irdischen Welt; und darum müssen wir die wir Werkzeuge des Lichtes sein wollen, immer hinschauen auf diesen Kampf, und zwar | da wo er am stärksten und kräftigsten hervorbrach, immer hinschauen auf den Anfänger und Vollender des Glaubens und auf die Macht der Finsterniß, die ihm entgegentrat. Aus diesem Grunde habe ich in dieser Leidenszeit es zum Geschäft unserer Betrachtungen gemacht, das Leiden des Erlösers anzusehen als ein solches, welches sich immer wieder erneuert in dieser Welt. So haben wir neulich betrachtet den ersten Anfang desselben, so richten wir heute unsere Aufmerksamkeit auf denjenigen Punkt, an welchem sich zuerst der ganze Kampf, so weit er die Person des Erlösers betraf, entschied. Denn nachdem der Hohepriester und | die Mitglieder des hohen Rathes das Urtheil, welches wir gelesen haben, über den Erlöser ausgesprochen hatten, so war es schon so gut als entschieden, daß auch diejenige Macht, die allerdings noch gefragt werden mußte, diesem Urtheil beitreten würde. So laßt uns denn sehen, wie hier als der Erlöser vor dem hohen Rath seines Volks stand, die Finsterniß aus diesem handelte, und wie das göttliche Licht in ihm, ihnen entgegen trat. I. Zuerst, m. g. F., müssen wir wohl dies bekennen, der Hohepriester und die Ältesten des Volks verfolgten und verurtheilten den Herrn in einem Zustande geistiger Verblendung. | Freilich wird wohl Manchen dieser Ausdruk zu gelind erscheinen, und man sollte wohl denken, es müsse etwas Ärgeres gewesen sein, der höchste Grad der menschlichen Bosheit, des Hasses gegen das Gute und Göttliche, noch eine ganz andere Feindschaft gegen Gott als die, von welcher der Apostel redet, wenn er sagt: fleischlich gesinnt sein ist eine Feindschaft gegen Gott. Aber doch war es nicht anders als so. Der Apostel Johannes, welcher genau unterrichtet war von dem, was vor diesem entscheidenden Augenblik unter den Hohenpriestern und dem hohen Rath vorgegangen war, er24 ihnen] vermutl. constructio ad sensum 3–6 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79 10–11 Vgl. Hebr 12,2 vorm. über Lk 18,31–43 34 Röm 8,7
15 Vgl. oben 29. Februar
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zählt uns eben dies, sie hätten unter einander berathen | und besprochen, wenn nun alle Welt diesem Mann zufällt, wie es denn jezt das Ansehen hat, so werden die Römer kommen und nehmen Land und Leute, und so ist es ja besser, daß ein Mensch umkomme als daß das ganze Volk verderbe. So sehen wir denn, indem uns jener Apostel in das innere Geheimniß ihrer Betrachtung hineinführt, daß auch bei ihnen noch etwas Gutes, daß auch bei ihnen noch ein Wohlmeinen zum Grunde gelegen, daß sie es gut gemeint haben mit ihrem Volke, und nur dachten auf dem Wege, den der Erlöser eingeschlagen hätte, müßte es nothwendig in sein Verderben hineingehen; und deswegen beschlossen sie seinen Tod auf | eine solche Weise, daß ohnerachtet sie nichts des Todes werthes gegen ihn aufbringen konnten, ohnerachtet die Aussagen aller Zeugen, die sie gegen ihn in aller Eil zusammen gerafft hatten, nicht mit einander stimmen wollten, sie dennoch auf dieses sein Bekenntniß, er sei derjenige, wonach sie fragten ob er es sei, das Urtheil des Todes über ihn aussprachen. Wo nun aber noch Wohlwollen und Wohlmeinen, wo noch Hinsicht auf das Wohlergehen anderer Menschen, auf die Verbesserung und Erhaltung des Gesammtzustandes ist, da können und dürfen wir alles was Verkehrtes sich ereignet, doch immer nur einem Zustande der Verblen|dung zuschreiben. Denn die Liebe ist doch da wo solche Rüksichten genommen werden, sei es auch nur eine unvollkommene und untergeordnete Art derselben, und wo die noch ist, da ist noch nicht alles Gutes erstorben. Fragen wir nun aber, wie war denn diese Verblendung entstanden? Ja so führt uns das freilich in die Tiefen der Verkehrtheit des menschlichen Herzens hinein. Der Erlöser indem er das Reich Gottes verkündigte, worauf auch die Hohenpriester und der hohe Rath des jüdischen Volks harrten, schlug einen ganz andern Weg ein als denjenigen, auf welchem sie meinten daß es kommen werde und auf welchem sie es be|fördern wollten. Das Volk festzuhalten bei der Ehrfurcht für das alte Gesez durch die Gewissenhaftigkeit, mit welcher sie selbst alle heilige Gebräuche desselben beobachteten, durch das Gepränge und durch die äußere Heiligkeit, womit sie alles was dazu gehörte umgaben, dadurch das Volk festzuhalten in der Ehrfurcht für die göttlichen Offenbarungen und für den göttlichen Willen, das verstanden sie. Sich gegen die äußere Macht, welche das Volk selbst auf eine unredliche Weise unterdrükt und ihm einen großen Theil seiner Freiheit genommen hatte, so daß ihm nur noch ein Schatten davon übrig blieb, gegen diese sich zu wehren und zu erhalten so gut sie konnten, | hier durch Nachgeben dort durch Troz, das verstanden sie auch. Und so glaubten sie auf diesem Wege den rechten von Gott bestimmten Zeit-Punkt ab1–5 Vgl. Joh 11,47–50
11–14 Vgl. Mk 15,55–56
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zuwarten, in welchem die Angelegenheiten des Volks sich wenden und es wieder in seinem ursprünglichen Glanze dastehen könnte, und den hielten sie für das Reich Gottes, welches verheißen war. Der Herr aber der redete von einer gänzlichen Umänderung des Innern, von einer neuen Geburt und sagte, so der Mensch nicht ganz von neuem geboren würde aus dem Geist heraus, so könne er das Reich Gottes nicht schauen. Und dazu waren sie zu träge, sie konnten sich nicht überreden, daß ihnen dies | obliegen sollte, und deswegen wähnten sie, das könne nicht das Rechte sein, wonach der Erlöser strebte. Das sehen wir ganz deutlich an einem unter ihnen dem Nikodemus, der auch auf das Reich Gottes harrte, auf den die Erscheinung des Erlösers einen tiefen Eindruk gemacht hatte, und der nun bei Nacht zu ihm kam um sich näher mit ihm zu besprechen. Als dem der Herr eben jenes Wort sagte: Wahrlich ich sage dir, so der Mensch nicht von neuem geboren wird aus dem Geist heraus, so kann er das Reich Gottes nicht schauen: da sträubte sich in ihm auch der alte Mensch mit dieser natürlichen Trägheit, und er sagte zu dem Herrn, das möchte wohl ganz gut sein für das | Geschlecht, welches erst kommen soll, aber der Mensch der schon alt geworden sei, fest in seinen Grundsäzen, in seinen Meinungen, in seinen Gefühlen, in seiner Handlungsweise, der solle noch ganz aus dem Innersten heraus sich ändern, das hielt er für unmöglich. Aber dieser Eine, der überwand die innere Trägheit, der ergriff das göttliche Wort des Herrn; und er hat sich hernach immer als einen gezeigt, der selbst glaubte Jesus sei der Sohn Gottes. Die Andern aber vermochten es nicht, und eben diese Trägheit bereitete ihnen die Verblendung, daß sie es sich selbst nicht wollten nahe kommen lassen oder den Muth dazu fassen nur von | Innen heraus, nur durch die neue Geburt des Menschen, nur durch die innere Kraft der Gesinnung, die ihm noch fehle und die erst in ihm aufgehen müsse, könne er das Reich Gottes schauen; und darum verwikelten sie sich immer tiefer in ihre falschen und irdischen Vorstellungen von dem Sinn der göttlichen Verheißungen, und meinten, wenn diese Lehre Plaz fände, so würden die Römer sagen: wenn ihr euer Reich Gottes nur suchen wollt in der Verbesserung des innern Menschen, so laßt euch auch das Andere noch nehmen von euern äußern Freiheit, und so möchte wie sie meinten, das ganze Volk verderben. Aber freilich es war nicht diese innere geistige der | wahren Verbesserung entgegenstehende Trägheit allein, was sie in diese Verblendung stürzte, sondern freilich auch die Selbstsucht 23 selbst] anders SAr 105, Bl. 154v: fest 3–7 Vgl. Joh 3,3 10–21 Vgl. Joh 3,1–9 36 Vgl. Joh 11,48–50
23–24 Vgl. Joh 7,50; 19,39
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hatte auf mancherlei Weise ihr Theil daran. In der Lage der Dinge wie sie war, da waren sie die Ersten im Volk, ihr Vorzug ruhte auf den Anordnungen des Gesezes, er war ihnen und ihren Nachkommen auf immer gesichert, weil er geheftet war an den Bund des Volkes mit Gott, und so[,] wußten sie[,] besteht nur der Dienst des Tempels, sucht und hofft das Volk sein Heil allein auf diesem Punkt, wovon dieser der Mittelpunkt war, so blieb auch ihnen ihr Ansehen. Und wie nun auf diese Weise | das Volk war geleitet worden schon in früherer Zeit, besonders aber seitdem es zurükgekehrt war aus dem Lande der Gefangenschaft, und seitdem es in dieses Joch der Botmäßigkeit gezwängt worden, wie es so war geleitet worden und in ihrem Kreise die Ueberlieferung ruhte, wie es zu leiten sei unter allen Umständen; so glaubten sie wenn sie die Zügel aus den Händen legten, wenn sie auf ihre Vorzüge Verzicht leisteten und die Rede von der neuen Geburt unter dem Volke durchgriffe, so würde es auch nicht möglich sein das Volk zu leiten und zusammenzuhalten. Und eben diese eitle Selbstliebe von der sie verblendet waren, eben diese feste Zuversicht zu dem | Hergebrachten, zu dem Erlernten, zu dem auf äußere Weise Erworbenen, zu dem durch das Ansehen des Alterthums Geheiligten, das war es was sie unfähig machte in dem Herrn den Erlöser der Welt und in dem geistigen Reiche Gottes, welches er verkündigte, die Erfüllung der göttlichen Verheißungen zu sehen. Ja, m. g. F., so ist es und so wird es immer sein. Wenn der Mensch nicht sich selbst überwindet und sich selbst verleugnet, so kann er das Reich Gottes nicht schauen, so verblendet sich sein Auge gegen das göttliche Licht welches ihn erleuchten will, und die Strahlen desselben bereiten ihm statt der göttlichen Erleuchtung nur den Schwindel und die Dunkelheit | eines geblendeten Auges. Und derjenige welcher nicht zu dieser Verleugnung gelangt, die der Herr eben deswegen so oft und so laut verkündigt hat, und immer wieder ruft: „wer nicht sich selbst verleugnet und sein Kreuz auf sich nimmt, der ist meiner nicht werth, der kann mein Jünger nicht sein und kann sich nicht als einen solchen bewähren“, wer zu dieser Verleugnung nicht gelangt, den ergreift die Finsterniß immer wieder, er kann in jenem Streite nicht stehen auf der Seite des Lichtes, sondern die Finsterniß behält ihre alte Gewalt über ihn und verleitet ihn zu dem Kampfe, in welchem jeder früher oder später untergehen muß, wenn | er ihn nicht aufnimmt. Aber, m. g. F., wie trat nun der Erlöser und das göttliche himmlische Licht in ihm dieser Verblendung derer die sein Volk leiteten, entgegen? 9 Die Eroberung Babylons durch den Perserkönig Kyros II. hatte 539 v. Chr. die Rückkehr der Juden, die schon in mehreren Generationen im Exil lebten, in ihr Land zur Folge gehabt. Dieses war 597 v. Chr. durch den Babylonierkönig Nebukadnezzar II. erobert worden. 30–31 Vgl. Mt 10,38; 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23
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Erkannt hat er sie von Anfang an, und von Anfang an, wenn wir von ihm sagen könnten daß er sich hätte überwinden müssen, auch sich selbst überwunden, wenn wir von ihm sagen könnten daß es eine Verleugnung seiner selbst gegeben hätte, auch sich selbst verleugnet. Denn von Anfang an war auch er ihrem Rathe entgegengetreten, von Anfang an hat er gewußt wohin ihn seine Verkündigung des Reiches Gottes führen werde, und überall indem er wußte daß er dem Tode entge|genginge, immer sich selbst verleugnet, indem er den ganz entgegengesezten Lebensweg, den er hätte einschlagen können, von sich wies, und immer nur suchte den Willen seines Vaters zu erfüllen, der ihm in seinem Innern offenbart war, so hatte er sich selbst überwunden. Aber in dieser Kraft konnte er denn auch als das himmlische Licht der Finsterniß entgegentreten. Wie er sich selber bewußt war, daß er nichts für sich wollte und suchte, sondern nur den Willen Gottes zu erfüllen strebte, welcher selbst wiederum nichts anderes war als das Heil seines Volkes nicht nur sondern des ganzen menschlichen Geschlechts: so war er auch stark durch diese | Kraft Gottes, und von Anbeginn hatte er nicht aufgehört zu sagen, daß diejenigen welche das Volk leiteten, blinde Leiter der Blinden wären, daß sie zwar durch das herkömmliche Recht und durch die ihnen allein vorbehaltene tiefere Erkenntniß der Geschichte und des göttlichen Wortes die Schlüssel des Himmelreichs hätten, aber daß sie weder selbst hineinkommen würden noch auch diejenigen mit gutem Willen hineinließen, die es gern erringen möchten. Das hatte er immer gesagt und nie aufgehört zu sagen, und je näher die Zeit kam wo sich der Kampf, der ihm oblag, entscheiden mußte, je zuversichtlicher er zu seinen | Jüngern reden konnte von seinem bald bevorstehenden Leiden und von seinem Tode, um desto stärker und kräftiger hatte er jene Worte der Warnung ausgesprochen, auf daß nichts an ihm läge und auf daß sie in Beziehung auf ihn keine Entschuldigung hätten. Und dasselbe lag auch in dem Bekenntniß, welches er in den Worten unseres Textes ablegte. Denn wenn er sich dazu bekannte der Sohn Gottes zu sein, so bekannte er sich auch dazu, daß ihm allein obläge der Hirt und der Führer seines Volks zu sein, daß auf seine Stimme alle hören und nur seinem Gebot und seinem Willen sollte gefolgt werden. Und so wußte er denn daß ihm Leiden | unmittelbar bevorstanden, aber doch hörte er nicht auf zu sagen, was zum Frieden des Volks und der Menschen diente, doch hörte er nicht auf zu zeigen, wohin die wahre, die göttliche Liebe weise, nach einem ganz andern Ziel, auf einen ganz andern Weg als den, den jene Verblendeten führten. Und so, m. g. F., tritt denn das Licht, welches 13–15 Vgl. Joh 4,34; 5,30; 6,38 Lk 11,52
18–19 Vgl. Mt 15,14
19–24 Vgl. Mt 23,13;
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er von oben gebracht hat, immer der Finsterniß entgegen. Das ist eben so gut unser Beruf wie es der Beruf des Erlösers war. Wenn wir erst darüber unserer selbst gewiß sind, daß wir uns überwunden und verleugnet haben, wenn wir wissen es ist keine Trägheit, die uns | hindert das wahrhaft Gute zu sehen, wenn wir wissen es ist keine Selbstliebe und keine Selbstsucht, die uns hindert Wohlgefallen an demjenigen zu finden, worüber wir selbst können leicht zurükgesezt werden, wenn wir so wissen daß wir ein reines Auge haben und daß dieses Köstlichste in der Seele uns hell geworden ist durch die göttliche Gnade: dann gehört es auch zu unserem Beruf als Sehende und als Werkzeuge des Lichtes mit demselben Muth der Finsterniß entgegenzutreten, immer wieder zu sagen was nach unserer Einsicht und nach unserer Ueberzeugung dasjenige sei, worauf das Wohl der Menschen beruht, immer wieder zu warnen | vor jedem verkehrten Weg, der eingeschlagen wird, immer wieder hinzuweisen auf das Eine was Noth thut, und davon wie wenig Anschein des Gelingens es auch habe, wie nahe es uns auch treten möge, was wir als solche werden zu leiden haben und zu entbehren, niemals davon zu lassen und niemals damit aufzuhören. Nur so bewähren wir uns als Diener des Lichtes; als diejenigen die in der That Jünger sind unseres Meisters. So wir davon ließen, so würden wir ihn verrathen, so würden wir Theil nehmen an jedem Siege, wie vorübergehend er auch sei, den die Finsterniß noch immer erlangt über das Licht. Und so möge uns denn | der Hinblik auf das Leiden des Herrn warnen vor jeder Verblendung, die aus der Trägheit und aus dem Troz des menschlichen Herzens hervorgeht, und uns stärken seine wahren treuen Jünger zu sein, jeder in seinem Beruf und nach dem Maaß seiner Kräfte. II. Aber Zweitens bei aller dieser Verblendung hätte es doch nicht geschehen können, daß die Hohenpriester und die Ältesten des Volks den Herrn verurtheilt hätten zum Tode, wenn nicht in ihnen auch der Sinn für die Wahrheit auf mannigfaltige Weise wäre getrübt gewesen. Daß es ihnen ganz gefehlt hätte an der Liebe zur Wahrheit, das können wir nicht sagen, | daß es ihnen ganz gefehlt hätte an der Erkenntniß derselben eben so wenig. Spricht sich nicht ein Eifer für Gott aus in jenen Worten des Hohenpriesters, da er sagte: Ich beschwöre dich im Namen Gottes, halte unsere Seelen nicht länger auf, laß uns nicht länger in der Ungewißheit, sondern sage uns, ob du Khristus bist? Und ist nicht eben so ein Eifer für Gott die tiefe Empfindung des Abscheus, womit er das Bekenntniß des Herrn als Gotteslästerung darstellte, und eben deswegen das Urtheil des Todes über ihn aussprach? Wohl war der Glaube an den Sohn Gottes in ihm, denn nicht deswegen verurtheilte er den
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Herrn zum | Tode weil er überhaupt gesagt und bezeugt hatte, es gäbe einen Sohn Gottes; sondern vielmehr von diesem Glauben geht er aus indem er sagt: Sage uns ob du Khristus bist? An diesem Glauben also fehlte es ihm nicht, sondern für die Stimme daß Jesus von Nazareth der Sohn Gottes sei, dafür war er ganz verstokt, für diese fehlte es ihm und den Seinigen an dem rechten Sinne. Woher denn das, m. g. F., bei so vielen Zeichen die doch dafür sprachen? Unbekannt war es ihnen nicht, was der Herr an Zeichen und Wundern öffentlich vor dem Volke und vor seinen Jüngern that, unbekannt war es ihnen nicht, mit welcher Kraft er redete, so daß sogar ihre Die|ner, die sie ausgeschikt hatten um ihn zu greifen, durch dieselbe waren überwältigt worden, und nicht vermocht hatten, Hand an ihn zu legen, unbekannt war es ihnen nicht, wie nicht nur in dem schlechtesten sondern in dem besten Theile des Volks sich die Liebe und Ehrfurcht für ihn aussprach. Sollte sie denn das nicht aufgeregt haben zu einer gründlichen Untersuchung der Sache? sollte sie das nicht veranlaßt haben zu forschen, ob die Merkmale die sie wissen könnten aus der Schrift, wohl zuträfen bei ihm? sollte sie das nicht bewogen haben sich einmal selbst ihm hinzugeben und die Erfahrung davon zu machen, wie er auf sie | wirken würde? Dazu aber konnten sie sich selbst nicht bringen, davon hielten sie sich selbst immer zurük. Woher dies? Hier, m. g. F., können wir wohl auf nichts anderes zurükgehen als auf den Stolz und Troz des menschlichen Herzens. Sie waren in der – wir dürfen es in dieser Hinsicht wohl sagen – unglüklichen Lage, daß sie die Ersten waren unter dem Volke, die Ersten an äußerem Ansehen, die Ersten in dem Rufe der Weisheit und der Erkenntniß. Und nicht an sie hatte sich der Erlöser gewandt, nicht den Weisen, sondern den Unmündigen, nicht den Gesunden, sondern den Kranken, hatte er zuerst dargeboten seine Hülfe und | die Kraft seiner Rede. Wenn die nun annahmen daß er der Sohn Gottes sei, so war ihnen ein großer Theil des Volks, welches sie verachteten als die gewöhnlichen Söhne der Erde, vorangegangen, und sie folgten erst nach. Das, m. g. F., das war es, was ihnen den Sinn für die Wahrheit verdunkelte, das war es, was sie hinderte den anzuerkennen, in dessen Namen allein Heil gegeben ist; dieser verkehrte Hochmuth, diese Verachtung Anderer fesselte sie. Denn das meinten sie, daß sie zuerst müßten gefragt sein über einen solchen Anspruch wie dieser. Aber woher? Das wußten sie ja und bekannten es selbst, daß seit lan|ger Zeit schon der Geist Gottes verstummt war in dem Volke, keine weissagende Stimme wie ehedem ließ sich mehr hören, und was sie besaßen das waren die Schäze des Alterthums, die früheren göttlichen Offenbarungen die sie zu hüten hatten, aber auf welche geistlose und 10–12 Vgl. Joh 7,44–46
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kraftlose Weise an dem Buchstaben und an der Schaale haltend, den Kern aber weder verstehend noch genießend. Hätten sie also nicht getrieben von der Liebe zu ihrem Volke, die sie wirklich hatten, hätten sie nicht gebunden an die göttlichen Verheißungen, denen sie glaubten in der Beziehung daß sie das auserwählte Volk Gottes seien, daß der Herr sie nicht verlassen könne und werde, daß noch eine | ganz andere göttliche Stimme als alle früheren der Propheten in dem Volke aufstehen werde, hätten sie nicht sollen von diesem Glauben und von dieser Liebe getrieben mit demüthigem Herzen umherschauen, wo sich eine göttliche Stimme vernehmen ließe, forschend nach jedem Zeichen, wodurch der Geist Gottes sich in seiner Wirksamkeit offenbaren möchte? Wenn sie so demüthigen Herzens gewesen wären und ihre äußeren Vorzüge nicht ihr Inneres verstokt hätten, dann würden sie nicht so verhärtet gewesen sein gegen die Wahrheit, daß Jesus der Sohn Gottes sei. Aber weil sie meinten aus ihrem Stamme entwe|der müsse er kommen oder doch an sie sich zuerst wenden, von ihnen zuerst müsse der Gesandte Gottes erkannt werden und dem Volke dargestellt: so waren sie unfähig in ihm den wahrhaftigen Sohn Gottes zu schauen. Wenn sie von diesem Hochmuth nicht wären verblendet gewesen, so würden sie ihn erkannt haben. Aber so waren sie verblendet, daß sie keines Zeugnisses weiter bedurften, sondern auf das bloße Bekenntniß des Herrn daß er der Sohn Gottes sei, ihn für einen Lästerer Gottes erklärten und zum Tode verurtheilten. Daß er es schon öfter gesagt hatte, das mußten sie wissen; wie sollen wir uns also wohl den | ganzen Kampf ihres Innern denken? Sie mochten ihn wohl halten für einen ausgezeichneten Mann, für den von Gott gesandten Erlöser hielten sie ihn nicht. Wenn er sich nun dafür ausgab, so glaubten sie er wäre verblendet durch die Ehrfurcht, die ihm das Volk bewies, durch den Erfolg, den seine Wirksamkeit hatte, durch die Zeichen die er that. Aber sie hofften vielleicht, käme er vor sie, stände er vor dieser höchsten Gewalt seines Volks, vor diesen Ehrfurcht gebietenden Gestalten, dann würde die Wahrheit in seine Seele zurükkehren, dann würde der Schein, der ihn verblendet habe, von selbst weichen, dann würde das gerechteste Mißtrau|en in ihm erwachen, und er würde nicht im Stande sein das Bekenntniß zu wiederholen, daß er der Sohn Gottes sei. Darum als er es doch wiederholte, so zerriß der Hohepriester im Eifer für Gott seine Kleider, und sagte: Ihr habt nun seine Gotteslästerung gehört, was bedürfen wir weiter für Zeugniß; und alle sagten einmüthig, er sei des Todes schuldig. So, m. g. F., so vermag was für ein guter Grund sonst auch noch in der Seele vorhanden sei, so vermag die Selbstgefälligkeit und der Hochmuth das menschliche Herz und den menschlichen Geist zu verblenden gegen eine Wahrheit, die leicht wäre zu erkennen gewesen, und auch diejenigen, welche | am meisten
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mit der Erkenntniß Bescheid wissen, zu verstoken. So lange nun, m. g. F., der Streit zwischen dem Lichte und der Finsterniß noch währt, so lange innerhalb der khristlichen Kirche selbst noch Verschiedenheiten der Meinungen und der Ansichten Statt finden, so sehen wir auch in der khristlichen Kirche selbst die Spuren dieses Verderbens nur allzu häufig, und wir können uns nicht oft und dringend genug auffordern und ermahnen dazu, daß wir demüthigen Herzens sein mögen, wenn wir die Wahrheit suchen, und uns das immer mehr vorhalten, daß der Herr mit seinen Wegen in den Wirkungen des himmlischen Lichtes nicht gebunden ist | an die äußern Vorzüge der Menschen; sondern der Weisheit Gottes huldigen, welche der Erlöser ausgesprochen hat, wenn er sagt: „Ich danke dir Vater, daß du solches den Klugen und Weisen dieser Welt verborgen hast, und hast es den Unmündigen offenbart.“ Der Herr kann sich Diener und Werkzeuge ausrüsten durch die Kraft seines Geistes, wo er will, die Unscheinbarsten kann er am meisten verherrlichen; und die äußerlich verherrlicht sind, kann er ihrer eigenen Kraft und Herrlichkeit überlassen, durch welche sie nichts sind. Darum geziemt allen, die der Wahrheit nachtrachten, daß sie es demüthigen Herzens thun, nicht stolz auf das Ansehen, welches sie | vor der Welt genießen, auf den Ruf der Weisheit, dessen sie sich erfreuen, auf die erworbenen Schäze der Erkenntniß, deren Inhaber sie sind; sondern demüthigen Geistes Gott bitten, daß er ihnen seinen Geist geben möge um den Geist Gottes, wo er nur redet und wirkt, zu erkennen. So lange wir noch in so vieler Hinsicht mit einander die Wahrheit suchen müssen, so möge keiner von sich selbst voraussezen, er müsse sie haben, sonst kann uns im Kleinen und im Einzelnen immer wieder dasselbe begegnen, was jenen im Großen begegnete; sondern indem wir wissen daß alle Wahrheit nur von oben kommt, daß sie nur kommt durch den Geist Gottes, der es aus der Fülle Khristi nimmt | und den Seinigen verklärt, daß er allein der unumschränkte Herr der geistigen Welt ist, und mit seinem Geiste und mit seinen Gaben waltet wo und wie er will: so müssen wir auch vernehmen, wo die Stimme seines Geistes ertönt, immer das Ohr geöffnet haben wo sie sich etwa vernehmen ließe, uns selbst für solche halten, die es noch nicht ergriffen haben, aber ergreifen möchten, und eben deswegen lehrbegierig sein und überall achten auf das, was sich auf das Wort Gottes gründet, und sich als ein Zeugniß des Geistes zu erkennen giebt. So demüthigen Herzens einhergehend werden wir geschikt sein immer mehr die Wahrheit zu erkennen, wird die Finsterniß ihre Gewalt über uns verlieren, und dann 16 er] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 162r 12–14 Vgl. Mt 11,25; Lk 10,21
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wer|den wir eben so wie der Erlöser that der Macht der Finsterniß entgegentreten. Denn m. g. F., wie that er es hier? O wir mögen es sagen, eben so gewiß als der Hohepriester und die Obersten des Volks darauf gerechnet hatten, er werde das Herz nicht haben in ihrer Gegenwart sich zu bekennen für den Sohn Gottes, desto mehr muß es uns einleuchten, daß in diesem Bekenntniß durch welches er die Sicherheit seiner Ueberzeugung, die Wahrheit seiner Empfindung über sich selbst, die unumstößliche Gewißheit, daß er der war, wofür er sich ausgab, und die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, an den Tag legte, daß er in diesem Bekenntniß sich allen denen die gesunde Augen haben, offenbart | als den Sohn Gottes, und daß er wirklich der gewesen ist, für welchen er sich ausgab. Nun wußte er wohl was ihm bevorstand, er wußte, daß sie seinem Worte nicht glauben würden, denn dem unmittelbaren Eindruk desselben waren sie verschlossen durch ihre Verkehrtheit und ihren Hochmuth, er wußte, daß sie sich nicht mit ihm aufhalten würden, wie auch ein anderer Evangelist berichtet, der Herr habe gesagt: Sage ich es euch, so glaubet ihr es nicht, frage ich aber, so antwortet ihr nicht; er wußte daß es ihm nicht gelingen würde sie zu überzeugen, aber doch hielt er sein Bekenntniß nicht zurük: „Du sagst es, ich bin es.“ Er selbst hatte das öfter gesagt, aber seinen Jüngern hatte er es oft ver|boten zu sagen, und als sie mit voller Ueberzeugung auf die Frage, für wen sie ihn denn hielten, antworteten: Wir glauben du seist Khristus, der Sohn des lebendigen Gottes, so gebot er ihnen, daß sie es niemanden sagen sollten. Ja noch nach seinem Tode in den Tagen seiner Auferstehung als er ihnen sagte, sie sollten seine Zeugen sein von Jerusalem anfangend und fortgehend so weit sie kommen könnten auf Erden: da gebot er ihnen doch es nicht gleich zu thun, sondern zu warten bis sie würden angethan sein mit der Kraft aus der Höhe. Woher, m. g. F., dieser Unterschied? Ach weil er ein großer Unterschied ist zwischen der Stärke und Sicherheit des Glaubens und zwischen der Kraft und Würde des Zeugnisses. In dem Erlöser war | beides eins und dasselbige, in uns ist es nicht so. Der Glaube des Herzens wie fest er auch sei, er will erst in der Stille genährt und gepflegt sein, er will sich hier immer mehr befestigen und ausbreiten, und die Kraft des Zeugnisses kann erst entstehen durch eine neue Kraft aus der Höhe, mit welcher der Mensch soll ausgerüstet werden. Nämlich dann wenn der Glaube sich erst recht vollendet hat in dem menschlichen Gemüthe, wenn der Mensch in der Kraft desselben verstanden hat was 22 denn] den
34 sich] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 163v
9 Vgl. Kol 2,9 17–18 Lk 22,67–68 21–24 Vgl. Mt 16,15–16.20; Mk 8,29–30; Lk 9,20–21 24–29 Vgl. Lk 24,47–49
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in seinem eigenen Herzen lebt und sich regt gegen den göttlichen Geist, wenn er mit der Kraft des Glaubens und der Liebe die Finsterniß seines Herzens durchdrungen, seinen Troz und seine Verzagt|heit überwunden hat, dann kann er Zeugniß ablegen und Frucht suchen für das Reich des Erlösers. Darum wies der Herr seine Jünger in die Stille, aus seinem Unterricht zuerst sollten sie lernen, was da sei der göttliche Wille und das Wesen seines Reiches auf Erden, der Geist Gottes sollte ihn verklären, und dann wenn sie die Kraft aus der Höhe würden empfangen haben, sollten sie zeugen von ihm wie er von sich selbst gezeugt hat. Ja, m. g. F., so ist es. Laßt uns demüthig unser Los recht verstehen. Wohl jedem, in welchem der Glaube an den Herrn lebendig geworden ist, seine ganze Seele besizt und sein ganzes Leben regiert, wohl ihm wenn er dann in Demuth, in der Stille des Herzens sich immer mehr erleuchten | läßt von dem göttlichen Geist, die Spuren khristlicher Wahrheit aufsuchend überall wo er sie finden kann ohne alles Ansehen der Person. Aber um in dem Streite des Lichtes gegen die Finsterniß als Zeuge des Herrn aufzutreten, dazu gehört auf der einen Seite noch eine besondere Kraft aus der Höhe, auf der andern Seite noch ein besonderer Beruf. Den hatte der Herr hier. Denn überall gab er auch nicht die freie Antwort, die er hier den Ältesten seines Volkes gab, und oft schon wenn sie ihn gefragt hatten, ob er Khristus sei, hatte er ihnen andere Fragen vorgelegt, die sie nicht beantworten konnten oder wollten, und war ihnen ausgewichen. Hier aber hatte er einen besondern Beruf, | denn der Hohepriester als solcher, der hohe Rath und die Ältesten des Volks als solche hatten ein Recht ihn zu fragen, und konnten die Wahrheit von ihm verlangen. So, m. g. F., hat auch jeder unter uns einen besondern Beruf in dem Kreise der Menschen, die ihm die nächsten sind, an die er gewiesen ist, die ihm von Gott besonders anvertraut sind, da soll jeder ein Zeuge sein des Herrn und die Wahrheit bekennen, denn da ist es des Herrn Sache dem Zeugniß seinen Segen zu geben und es zu begleiten mit der Kraft von oben. Sich aber in’s Weite hinauszudrängen mit seinem Zeugniß, dazu muß jeder ausgerüstet sein mit einer besondern Kraft aus der Höhe, und wer sich dieses Amtes früher annimmt | ohne dazu gerüstet zu sein, wer seinen Beruf weiter ausdehnt als der Herr ihn bestimmt hat, der wird mehr verderben als gut machen. Das, m. g. F., das ist die göttliche Ordnung, die wir nicht zerstören oder verrüken sollen im Reiche Gottes; was wahrhaft göttlichen Ursprunges ist und nüzen soll, darin muß beides zusammenkommen; jeder muß nachweisen können den Beruf der ihm gegeben ist, und jeder muß sich selbst bewußt sein der Kraft, die ihm der Herr geschenkt hat. Wenn wir von diesen Grenzen weichen, so stören wir die göttliche Ordnung und hemmen die Förderung des Guten, statt daß wir sie beeilen. Und so, m. g. F., mögen wir aus dieser
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Betrachtung des Streites zwischen dem Lichte und der Finster|niß auch unsern Weg in diesem Streite immer sicherer und immer richtiger finden lernen. O daß wir durch keinerlei Art von Verblendung und Wahn, durch keinerlei Art von Hochmuth und Selbstgefälligkeit jemals der Finsterniß eine Macht einräumen über uns, die sie lange nicht mehr haben soll. O daß auf der andern Seite ein jeder mit gleicher Treue, mit gleicher Selbstverleugnung, mit gleichem Vertrauen darauf, daß das Reich Gottes nicht untergehen kann, wie sie der Herr hier bewies, auch sich möge als einen Diener des Lichtes zeigen allen denen, die an ihn glauben. Dann wird immer mehr das Licht die Finsterniß durchdringen, dann werden wir, was wir auch in unserem Kreise zu leiden haben, leiden in der Ähnlichkeit mit dem | Erlöser; aber nie werden wir dann von uns selbst sagen oder fürchten dürfen, daß wir seinem Reiche Leiden verursacht hätten wie diejenigen waren, welche seine Feinde und Gegner ihm verursachten. Denn den Herrn aufs neue kreuzigen, das, m. g. F., ist das Schwerste was dem Menschen begegnen kann. Und laßt uns wohl bedenken, daß nichts weiter dazu gehört als der Mangel an Selbstverleugnung und der Mangel an Demuth. Dem Herrn aber helfen, sein Zeugniß zu wiederholen und weiter zu fördern, und in der Kraft des Glaubens leuchten, das ist das Beste was denen begegnen kann, die ihr Heil im Glauben an ihn gefunden haben. Und so laßt uns denn freudig im Andenken | an sein Leiden zu seinem Kreuze hinschauen, zufrieden wenn auch wir gewürdigt werden irgendwie in der Ähnlichkeit mit ihm zu leiden um seinet und seines Reiches willen. Amen.
[Liederblatt vom 4. April 1824:] Am Sonntage Judica 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Herzlich lieb hab’ etc. [1.] Der du mein Herr und Heiland bist, / Sohn Gottes, unermeßlich ist / Die Größe deiner Gnaden. / Ich preise Hoherpriester dich, / Du trugst die Strafe mildiglich / Mich ihrer zu entladen. / Du thatest nach des Ewgen Rath / Was nie ein Hoherpriester that, / Durch den nur Blut der Thiere floß, / Der nie sein eigen Blut vergoß. / Herr Jesu Christ, / Herr Jesu Christ, dein Tod befreit / Und heiligt mich zur Seligkeit. // [2.] Wir sind versöhnt, du bist zu Gott / Ins Heiligthum durch Blut und Tod / Siegprangend eingegangen. / Der Vater höret dein Gebet, / Du hast Gewalt und Majestät / Zum Opferpreis empfangen. / Nun haben alle, welche dein, / Sich deines Opfers zu erfreun. / Wer Sünde that und Buße thut, / Den reinigt dein versöhnend Blut. / Herr Jesu Christ, /
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Herr Jesu Christ, erbarme dich, / Versöhne durch dein Blut auch mich. // [3.] Gieb Heiland, daß mein trauernd Herz, / Gebeugt durch wahrer Reue Schmerz, / Dem Vater wohlgefalle. / Du der in uns das Gute schafft, / O schmücke durch des Glaubens Kraft / Mit Heiligkeit uns Alle. / Auch uns laß deine Priester sein, / Uns willig deinem Dienste weihn, / Und opfern unser Lebelang / Dir, unserm Herrn, der Liebe Dank. / Herr Jesu Christ, / Herr Jesu Christ, entschlummern wir: / So führ’ uns Alle Herr zu dir. // (Jauersch. Gesangb.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun ruhen alle etc. [1.] Gott welche Schmach und Plagen, / Muß er mein Heiland tragen, / Der nie ein Sünder war. / Ihn stellen Missethäter / Als einen Uebertreter / Den ungerechten Richtern dar. // [2.] Da steht er im Gerichte, / Auf seinem Angesichte / Strahlt Ruh und hoher Muth; / Er achtet nicht der Bande, / Und groß in Schmerz und Schande / Erduldet er der Frevler Muth. // [3.] Er ward ein Ziel des Spottes, / Er heißt ein Lästrer Gottes, / Der Tod wird nun sein Lohn; / Doch er, o Menschen höret, / Der Unerschrockne schwöret: / Ich bin des Hochgelobten Sohn. // [4.] Ihr unsres Hauptes Glieder, / Ihr Christen, fallet nieder, / Und betet Jesum an! / Er ist, troz alles Spottes, / Der Sohn des ew’gen Gottes, / Ihn betet einst der Weltkreis an. // [5.] Er, dem Gericht entnommen, / Wird herrlich wiederkommen, / Des Hochgelobten Sohn. / Dann stehen die Verbrecher / Vor ihm, der Bosheit Rächer, / Vor seinem hohen Richterthron. // [6.] Wie werden sie mit Grauen / Und Todesangst ihn schauen / In seiner Majestät. / Ihn, werden sie dann sagen, / Ihn haben wir geschlagen, / Verspottet und ans Kreuz erhöht. // [7.] Jauchzt, ihr Gerechten, schauet, / Der Herr, dem ihr vertrauet, / Erscheint, mit ihm sein Lohn. / Wenn dann die Sünder zagen, / Dann könnt ihr fröhlich sagen, / Gelobet seist du Gottes Sohn! // (Sturm.) Nach der Predigt. – Mel. Ein Lämmlein geht etc. Du hast’s gesagt, du wirst die Kraft, / Zur Heiligung mir schenken, / Dein Blut ist’s das mir Trost verschafft, / Wenn mich die Sünden kränken. / Laß mich im Eifer des Gebets, / Laß mich in Lieb und Demuth stets / Vor dir erfunden werden. / Dein Heil sei mir ein Schirm in Noth, / Mein Stab in Schwachheit, Schild im Tod, / Mein letzter Trost auf Erden. //
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Palmarum, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 4,35–42 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 291–302; Andrae (Titelblatt der verloren gegangenen Druckvorlage in SAr 105, Bl. 165v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 164r–165r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 117v–124r; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium Liederangabe (nur in SAr 105)
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Tex t. Joh. 4, 35–42. Sagt ihr nicht selber, Es sind noch vier Monate so kommt die Ernte? Siehe, ich sage euch, hebet eure Augen auf und sehet in das Feld, denn es ist schon weiß zur Ernte; und wer da schneidet, der empfänget Lohn, und sammelt Frucht zum ewigen Leben, auf daß sich mit einander freuen der da säet und der da schneidet. Denn hier ist der Spruch wahr, Dieser säet, der andere schneidet. Ich habe euch gesandt zu schneiden, das ihr nicht habt gearbeitet; andere haben gearbeitet, und ihr seid in ihre Arbeit gekommen. Es glaubten aber an ihn viele der Samariter aus derselbigen Stadt um des Weibes Rede willen, welches da zeugte, Er hat mir gesagt alles, was ich gethan habe. Als nun die Samariter zu ihm kamen, baten sie ihn, daß er bei ihnen bliebe; und er blieb zween Tage da. Und viel mehrere glaubten um seines Wortes willen und sprachen zum Weibe, Wir glauben nun hinfort nicht | um deiner Rede willen, wir haben selbst gehöret und erkannt, daß dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland. 0 SAr 105, Bl. 165v: „Lieder 118, 337 v. 7 und 8“. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, „Selig, wer Ihm suchet Raum“ (Melodie von „Jesus meine Zuversicht“); „Jesus ist mein Freuden-Leben“ (Melodie von „Ach! Was soll ich Sünder machen“)
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M. a. Fr. Als die Jünger aus der Stadt, wohin sie gegangen waren Speise zu kaufen, zurükkkamen zu dem Herrn, und bei ihrem Anblikk die samaritische Frau ihn verließ: da sagte er zu ihnen, wie wir schon neulich gesehen haben, indem sie ihn ermahnten von der mitgebrachten Speise zu genießen, Ich habe eine Speise, da wisset ihr nicht von, meine Speise ist die, daß ich thue den Willen deß, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk. Denn er wußte wohl, was für ein segensreicher Erfolg ihm an diesem Orte bevorstand, und davon war seine Seele so erfüllt, daß er an das irdische Bedürfniß des Augenblikks nicht weiter dachte; und so fährt er nun in seiner Rede zu seinen Jüngern so fort, wie wir eben gelesen haben. Der Evangelist erwähnt in der weitern Erzählung, wie er denn freilich überall genöthigt ist abzukürzen, den großen und reichen Stoff seiner Rede; aber er erwähnt nichts weiter von einem Antheil, den die Jünger des Herrn an diesem Erfolg in der samaritischen Stadt gehabt haben; indessen die Worte des Herrn lassen uns darüber keinen Zweifel. Denn er sagt zu ihnen, Ich habe euch gesandt zu schneiden, das ihr nicht habt gearbeitet; sondern ihr seid gekommen in die Arbeit anderer. Die Ernte aber beschreibt er uns nicht nur als Genuß und Freude, sondern auch als Arbeit in dem Reiche Gottes; und so müssen wir das nothwendig voraussezen, daß, als der Herr sich erbitten ließ zwei Tage in dieser Stadt zu bleiben, seine Jünger auch einen thätigen Antheil daran genommen haben, in den Einwohnern dieser Stadt den gewonnenen Glauben an den Erlöser zu stärken und zu befestigen. Davon geht er aus und sagt ihnen denn hier zuerst, was für ein Unterschied sei in allen geistigen Dingen zwischen dem | Auge des Glaubens und dem der gewöhnlichen Erfahrung. Er spricht zu ihnen, Ihr sagt gewiß, es sind noch vier Monate, so kommt die Ernte. Das war nämlich in jenen Gegenden fast die ganze Zeit zwischen der Saat und der Ernte. Also ihr glaubt gewiß, daß es noch weit hinaus ist, ehe irgend ein Erfolg von dieser unserer gemeinsamen Verkündigung des Reiches Gottes wird zu merken sein; ich aber sage euch, Hebet eure Augen auf und sehet, das Feld ist schon weiß zur Ernte, es ist schon reif Früchte zu bringen, die gesammelt werden können zum ewigen Leben. Dabei aber macht er sie auch aufmerksam auf die Vertheilung, welche im Reiche Gottes Regel und Gesez ist, indem er sagt, Wer da schneidet, der empfänget Lohn und sammelt die Frucht ein zum ewigen Leben; aber es heißt hier, Dieser säet, der andere schneidet: so habe auch ich euch gesandt zu schneiden, das ihr nicht habt gearbeitet, und ihr seid in die Arbeit eines anderen gekommen. 1–7 Vgl. oben 28. März früh über Joh 4,25–34
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Ueberall, m. g. Fr., ist es um die Ernte die beschwerlichste Arbeit, in welcher die Früchte der Erde gewonnen werden, aber auch diejenige, welche eben der Beschwerlichkeit wegen am reichlichsten belohnt wird. Darum sagt der Herr nun auch in Beziehung auf die geistige Ernte, Wer da schneidet und die Frucht einsammelt zum ewigen Leben, der empfänget Lohn; freuen aber sollen sich mit einander der da säet, und der da schneidet. Ungleich ist in dem Reiche Gottes überall vertheilt die Arbeit und die Mühe, die Freude aber an dem Gelingen derselben soll eine gemeinsame sein, und die Regel, die der Herr über diese ungleiche Vertheilung der Arbeit angiebt, ist eben die, Der eine säet, der andere schneidet. Ganz, m. g. Fr., können wir in der gegenwärtigen Zeit dies nicht mehr auf uns anwenden. Es giebt ein weites großes und schönes Feld, und zwar das, welches grade am reich|lichsten Frucht bringt, und wo es doch bei weitem am meisten als die gewöhnliche Regel angesehen werden möchte, daß wer da säet auch schneidet. Das ist das große Feld des häuslichen Lebens und der Erziehung der Jugend in der christlichen Kirche. Wer da zuerst in die jungen Gemüther den Saamen des göttlichen Wortes hineinstreut, der säet. Wer ist das anders als eben die Eltern, denen Gott die Kinder anvertraut, und in der Regel haben sie doch auch die Freude zu ernten, zu sehen wie der gestreute Saame gedeiht, wie sich der lebendige Glaube und die göttliche Liebe in dem Herzen befestigen, wie ein empfängliches Leben sich daraus gestaltet, und wie das wieder fruchtbar wird um das Gebiet des göttlichen Reiches zu mehren und den Preis des Herrn zu verkündigen jeder nach seiner Weise und in seiner Art. Da schneiden also auch, da haben den Lohn und die Freude der Ernte dieselben, welche gesäet haben. Aber doch, m. g. Fr., ist auch hier wieder von einer andern Seite angesehen das Wort des Herrn wahr. Wer mag sich wol überhaupt in geistigen Dingen irgend etwas anmaßen als sein eigenes Werk? Weder welcher säet kann das, noch der welcher schneidet; es ist alles ein gemeinsames Werk. Wenn nicht das ganze Leben in der christlichen Kirche, in der Gemeine des Herrn uns unterstüzte, wenn nicht zeitig der gemeinsame Unterricht aus dem Worte Gottes zu Hülfe käme: die Eltern würden selten im Stande sein, den Saamen des göttlichen Wortes auf die gehörige Weise in die jungen Herzen zu säen und den Boden derselben so zu bearbeiten, daß eine fruchtbare Ernte davon zu erwarten wäre. Und eben so, ehe diese kommt, wie vieles muß sich da vereinigen um das Gemüth zu bearbeiten, das Unkraut auszujäten, ehe es mit dem Saamen verwächst, und diesem die Stärke und die Reife zu geben, daß Früchte zum ewigen Leben können gesammelt werden. Immer schneidet also auch hier, wer nicht gearbeitet hat, immer ist es wahr, daß der, der nicht gesäet hat, erntet, weil keiner allein etwas von
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sich rühmen kann, sondern | alles ein gemeinsames Werk ist, und das geschieht, was der Apostel sagt: auf daß nicht etwa sei, der da pflanzet, noch der da begießet; sondern alles in allem der Eine, von welchem aller Segen und alles Gedeihen kommt. Aber nur gar zu geneigt, m. g. Fr., sind wir alle, die Angelegenheiten des Reiches Gottes auf Erden nach dem Spruche zu betrachten, Es sind noch vier Monate, so kommt die Ernte; wir sind alle gar zu geneigt zu viel Werth auf dasjenige zu legen, was wir selbst säen, und mit weniger Hoffnung und mit schwacher Zuversicht die Ernte einer Zeit zu erwarten, die wir noch nicht übersehen, und vor deren Erscheinung für das gewöhnliche Auge noch manche nachtheilige Begebenheiten eintreten können, so daß wir überall wo wir säen beständig unsicher sind und schwachen Glaubens in Beziehung auf die Ernte. Da soll uns nichts mehr stärken als das, was der Herr hier sagt, Ich habe euch dafür gesandt zu schneiden, das ihr nicht gearbeitet habt; und wir werden doch gestehen müssen, das ist überall sein gnädiger Rath und seine weise Ordnung; jeder, der ernstlich in dem Weinberge des Herrn arbeitet, wird auch die herrliche und erfreuliche Erfahrung machen, daß er berufen wird zu ernten, wo er nicht gesäet hat, sondern in eine fremde Arbeit kommt, um nun noch den Theil derselben zu verrichten, der den meisten Lohn und die unmittelbarste Freude mit sich bringt. Wie wollten wir läugnen, daß sich dies überall so verhält? Alles gute, was sich unter uns entwikkelt und befestigt, und was wir ansehen können als eine geschnittene und in die geistigen Scheuern eingesammelte und so für alle Zeiten festgestellte Frucht zum ewigen Leben, ist das Werk fremder Arbeit, geht zurükk in frühere Zeiten der christlichen Kirche, für uns zunächst in diejenigen, wo unter uns das helle Licht der christlichen Wahrheit | wieder angezündet, wo das Christenthum befreit worden ist von allen willkührlichen und verkehrten Menschensazungen, die es verunstaltet hatten, und das Auge des Geistes wieder geöffnet, um den lebendigen Glauben an den, der der Anfänger und Vollender des Glaubens ist, und die reine Liebe für den, der uns zuerst geliebt hat wieder zu erkennen. Da hatte der Herr treue Diener, die säeten ohne daran zu denken, ob sie selbst ernten würden, und wir alle und unsere spätesten Nachkommen können sagen, daß wir in ihre Arbeit gekommen sind, und wir ernten jeder in seinem Geschäft, was wir nicht gesäet haben, sondern jene. So sind mit einander verbunden die spätern Geschlechter mit den früheren, und diese mit jenen, und freuen sollen sich mit einander die da säen und die da schneiden, und jeder, der mit ungewisser Hoffnung und mit zaghaftem Gemüth säet, der soll sich stärken, indem er das Auge des Glaubens aufthut und 2–4 Vgl. 1Kor 3,7
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sieht, wie das Feld weiß ist zur Ernte, und soll um sich her schauen, wie auch er berufen ist zur freudigen Arbeit in der Ernte da, wo er nicht gesäet hat. Zu dieser gemeinsamen Freude an der Ernte sollen wir uns durch die Gnade Gottes immer mehr erheben; dann sind wir treue Arbeiter des Herrn und ihm als solche wohlgefällig. Aber, m. g. Fr., wir können dieses Wort des Herrn nicht verlassen ohne eines andern zu gedenken, welches uns ebenfalls unser Evangelist aufbewahrt hat, da nämlich der Herr sagt, Das Weizenkorn bringt keine Frucht, wenn es nicht in die Erde fällt und erstirbt; wenn das nicht geschieht, so bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte. Damit meint er sich selbst und die geistige Nothwendigkeit seines Leidens und seines Todes, welche wir in dieser Zeit besonders mit einander feiern; und da mögen wir sagen, da er selbst von sich spricht, Niemand nimmt mein Leben von mir, sondern ich lasse es, | so mögen wir sagen: er ist nicht nur gesäet worden als das Weizenkorn, welches ersterben mußte um viele Früchte zu bringen, sondern, wie er sein Leben freiwillig gegeben hat, so hat er es auch gesäet; und er ist es, von welchem wir im vollen Sinne des Wortes sagen können, daß er gesäet hat. Es ist immer noch das Wort Gottes, welches aus seinem Munde kam, es ist immer noch dasselbe Licht, welches als das Wort Fleisch ward, in die Finsterniß hineinschien um sie mehr und mehr zu durchdringen; das ist es, welches gesäet wird in die Gemüther aller Menschen, die zu dem lebendigen Glauben an ihn und an unsern Vater im Himmel erwekkt werden, und auch wir, die wir an ihn glauben, dürfen nichts anders als die lezte Arbeit verrichten und die Früchte der Ernte einsammeln zum ewigen Leben. Und wenn er nun sagt, Es sollen sich mit einander freuen der da säet und der da erntet, so soll uns das die freudige Zuversicht geben, daß er, der allein gesäet, sich selbst ausgestreut hat in die Erde als das fruchtbare Weizenkorn, daß er seine herzliche Freude hat an unserer Ernte, an unserer Arbeit, an allem was wir thun, um die Früchte des Wortes einzusammeln zum ewigen Leben. Wie er sich nun freute über den Erfolg, der ihm unmittelbar bevorstand, und ihm gewiß auch, als er diese Worte sprach, das schon gegenwärtig war in der Seele, was ihm selbst bevorstand; aber dadurch daß er wußte, er müsse erst leiden und sterben um in seine Herrlichkeit einzugehen, seine Freude nicht im geringsten gestört werden konnte: so, m. g. Fr., soll sein eigenes Beispiel uns auch darin stark machen, 19 welches] welches, 8–11.15–16 Vgl. Joh 12,24 37 Vgl. Lk 24,26
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ihm immer ähnlicher zu werden, daß in allem, was uns nach der Ordnung Gottes vergönnt ist für sein Reich auf Erden zu thun, dasjenige, was uns selbst dabei begegnen kann, unser Gemüth nicht bewege und die Freudigkeit unseres Herzens störe, und daß wir überall | erfüllt sind von dem lebendigen Glauben, daß die Leiden dieser Zeit und also auch diejenigen, die uns noch treffen können in dieser Zeit, doch nicht der Rede werth sind gegen die Herrlichkeit, die nicht nur in Zukunft an uns soll offenbart werden, sondern schon jezt offenbart wird überall, wo gearbeitet wird und geerntet und Frucht zum ewigen Leben eingesammelt. Diese Freude des Herrn über das Feld, weiß zur Ernte, in dem Bewußtsein daß sein Tod alles erst werde befestigen müssen, die sei uns ein Vorbild für alles dasjenige, was uns bei unserer Arbeit im Reiche Gottes noch vorkommen wird. Es glaubten aber an ihn viele der Samariter aus derselbigen Stadt um des Weibes Rede willen, welches da zeugte, Er hat mir gesagt alles, was ich gethan habe. Als wir früher mit einander die Erzählung des Evangelisten erwogen, wie die Frau ihr Wassergefäß da ließ am Brunnen und in die Stadt ging um den Männern derselben Stadt zu sagen, Kommt und sehet einen Menschen, der mir gesagt hat alles was ich gethan habe, ob er nicht Christus sei, und wie sie nun wirklich hinausgingen, als wir das erwogen: so schlossen wir daraus, daß diese Frau eines guten Rufes in der Stadt müsse genossen haben, weil auf ihre Empfindung, auf ihr Urtheil, auf die Ahndung ihres Gemüths so viel gegeben wurde. Wenn wir nun auf die Männer sehen, die auf ihr Wort hinausgingen und den ersten Anfang ihres Glaubens an den Erlöser daraus schöpften, so mögen wir von diesen auch gutes sagen. Denn warlich für Menschen von zwar nicht ganz verstokktem Gemüth, aber die doch den rechten Weg des Heils noch nicht gefunden haben und also auch die Früchte des Heils noch nicht in sich tragen, für solche wäre es in der Regel | keine große Empfehlung gewesen, der sie gern folgen mochten, nämlich einen solchen aufzusuchen, der und weil er einem andern schon alles gesagt hatte, was er gethan. Diese Männer müssen also solche gewesen sein, von denen der Herr schon in einer frühern Stelle unseres Evangelisten sagt, Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, damit seine Werke offenbar werden. Denn so gut der Herr der Frau alles gesagt und gezeigt hatte, was sie gethan, so konnten sie eben so, wenn sie zu dem Herrn hinausgehen würden, voraussezen, daß er auch wissen würde, was sie gethan, und ihnen den reinen Spiegel der Wahrheit vorhalten von allen ihren Werken. Wer aber die Wahr5–8 Vgl. Röm 8,28 17–24 Vgl. oben 28. März früh über Joh 4,25–34, besonders S. 158f. 35–36 Vgl. Joh 3,21
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heit nicht thut, der flieht das Licht und wandelt in der Finsterniß, auf daß seine Werke nicht gestraft werden. Und so sehen wir wol, das ist der natürliche, der rechte und erste Anfang des Glaubens in der Seele, wenn der Herr uns alles zeigt und sagt, was wir gethan haben. Wer das nicht will, der ist auch noch gar nicht geschikkt den Saamen des göttlichen Wortes in sich aufzunehmen, weil er die Wahrheit noch nicht sucht, und ohne sie zu suchen können wir sie nicht empfangen, wie nahe sie uns auch gebracht wird. Aber die Wahrheit suchen, damit wir alles wissen, was wir gethan haben, und gern mit Hülfe des göttlichen Wortes in die innerste Tiefe des Gemüths hineinschauen, das ist der erste Anfang zu aller Verbesserung des Herzens, die erste Regung des göttlichen Lebens in der menschlichen Seele. Und, m. g. Fr., so ist der Herr, und so bewährt er sich noch immer. Wer nur ihn gern sucht, wer nur gern zu ihm tritt, dem sagt er auch alles, was er gethan hat. Denn wenn wir auf sein heiliges Vorbild sehen, so wird uns in uns selbst jede Abweichung von demselben klar, so zeigt die Wahrheit und das Licht uns in uns selbst und in andern die Finsterniß und die Falschheit, die dem Lichte und der Wahrheit gegenüberstehen, und diese Erkenntniß unser selbst und der göttlichen Wahrheit, | welche beide eins und dasselbe sind und durch ein und dieselbe Kraft in uns gelegt werden, die sind überall der rechte Anfang des Glaubens. Erst muß der Mensch wissen, wie fern er ist von der Erfüllung des göttlichen Gesezes, erst muß er sich selbst in seiner Sünde und in seiner Bedürftigkeit erkennen, eher kann er das Heil, welches ihm in Christo dargeboten wird, nicht mit lebendigem Glauben ergreifen. Aber woher soll ihm diese Erkenntniß kommen? Von jedem an und für sich selbst gilt mehr oder weniger das, was der Apostel sagt, daß er die Wahrheit aufhält in Ungerechtigkeit, und nicht die Wahrheit nur, die in jedem menschlichen Gemüthe selbst ist, denn diese leidet eben und wird verkehrt durch den Troz und die Verzagtheit des menschlichen Herzens, sondern auch die ewige Wahrheit, die vor uns tritt in dem Fleisch gewordenen Wort. Die ist es allein, aus welcher die rechte Erkenntniß der Sünde kommt, die auch das Gesez nur auf eine oberflächliche Weise geben kann. Wo das Gesez ist, da ist auch die Sünde, aber die rechte und vollkommene Erkenntniß der Sünde giebt allein die ewige Wahrheit, die in Christo liegt, und wir fühlen es dieser Wahrheit auch an, daß in ihr die Kraft liegt nicht nur uns mit dem Bewußtsein der Sünde zu erfüllen, sondern auch unser Gemüth zu erneuern, uns festzuhalten bei dem, was wir erkannt haben, und 24 eher] ehe 28 Vgl. Röm 1,18
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uns immer mehr zu befreien von allem, was der göttlichen Wahrheit in der Seele zuwider ist. Das ist der Anfang des Glaubens, und das muß sich bei allen bewähren, welche die Wahrheit suchen. Wer nicht an das Licht des göttlichen Wortes kommen will, auf daß seine Werke gestraft werden, der ist auch noch nicht reif zum lebendigen Glauben an den Erlöser, und der erste Glaube in unserer Seele muß daher kommen, daß wir die feste Ueberzeugung haben, er zeigt uns alles, was wir gethan, an seinem Lichte müssen wir erkennen, was wir sein sollen, einsehen, was wir sind, fühlen, was uns noch fehlt. | Aber freilich, als der Erlöser zwei Tage geblieben war in derselben Stadt, da lautete es anders; sie sprachen zum Weibe, Wir glauben nun hinfort nicht um deiner Rede willen, wir haben selbst gehört und erkannt, daß dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland. Darin liegt nun freilich mehr als nur die Erkenntniß und das Wissen dessen, was wir alles gethan haben. Die Erkenntniß unser selbst, die wir auch nur dem Erlöser der Welt verdanken können, die ist nur der erste Anfang; aber die Erkenntniß seiner als des Heilandes der Welt, als dessen der verheißen war und den Gott gesandt hat, die ist dann das höhere, die ist der vollendete Glaube, hinter welchen der vorige in Schatten zurükktritt. Was wir gethan haben, das müssen wir zuerst erkennen; ja es ist wol wahr, daß wir es immer wieder aufs neue erkennen müssen, um dadurch zugleich auch immer wieder aufs neue die Erkenntniß unser selbst aus ihm und aus seinem Worte zu schöpfen. Aber wir sollen nun auch auf der andern Seite immer mehr hindurchdringen zu der lebendigen Erkenntniß Christi unseres Heilandes. Wenn einmal der höhere lebendige Glaube in unserer Seele zu Stande gekommen ist, wenn wir in wahrer Gemeinschaft mit ihm stehen, so sollen wir nicht mehr uns selbst, sondern ihn sehen und erkennen und nun auch immer mehr in die heiligen Tiefen seiner Seele schauen und uns immer mehr erfreuen an der göttlichen Offenbarung, die uns in ihm geworden ist, und an dem göttlichen Antheil, den wir an ihm haben, und dessen wir in der Gemeinschaft mit ihm immer mehr theilhaftig werden. Sehen wir dann zurükk nur auf uns allein, ja dann müssen wir uns immer wieder von ihm sagen lassen alles, was wir gethan haben, und so aufs neue seinen Unterricht und was uns von ihm trennt in unser Bewußtsein aufnehmen. Aber das soll immer nur das Mittel sein uns zu ihm zurükkzuführen, zu seiner, des Heilandes der Welt, lebendigen Erkenntniß, zur Erkenntniß der überschwänglichen Offenbarung | Gottes in ihm, der Herrlichkeit des Vaters, die uns durch ihn aufgegangen ist, und des ewigen Lebens, zu welchem jeder, der an ihn glaubt, hier schon hindurchdringt. 40–41 Vgl. Joh 5,24
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Das, m. g. Fr., ist die rechte Ernte, das ist die Frucht, die gesammelt wird zum ewigen Leben, und mit welcher wir dann zugleich schon das ewige Leben haben und genießen. Er ist es allein, der gesäet hat, und dem allein Ruhm und Preis für alle diese Früchte zum ewigen Leben gebührt, er ist es, der indem er auf Erden umherging um das Reich Gottes auf Erden zu gründen, und sich freute über jeden beginnenden Glauben der Menschen an das Himmelreich, welches er ihnen brachte, es auch wußte, daß das Weizenkorn erst in die Erde fallen müsse und ersterben um viele Frucht zu bringen, und daß er bereit sein müsse durch Leiden und Tod hindurchzugehen, um dadurch das ewig genügende Heil der Welt zu gründen, über welches hinaus es kein höheres giebt. Ihm also, der sich selbst gesäet und zum Heil der Welt dahingegeben hat, sei Preis und Dank für jede Frucht zum ewigen Leben, die wir selbst genießen, und die wir einsammeln in seine Scheunen, um dadurch sein Reich auf Erden zu vermehren! Amen.
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Gründonnerstag, 13 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 12,13–14 Nachschrift; SAr 86, Bl. 123r–147r; Slg. Wwe. SM, Andrae Ungedruckte Predigten, ed. Bauer, 1909, S. 56–67 – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 111–124 (jeweils Textzeugenparallele; Druckvorlage in: FHDS 34, 102, S. I.1–47) Nachschrift; FHDS 34, 102, S. I. 1–47; Andrae Nachschrift; SAr 105, Bl. 166r–182v; Andrae Nachschrift; SAr 86, Bl. 166r–173v; Slg. Wwe. SM, Andrae (Fragment) Nachschrift; SAr 52, Bl. 165v–166r; Gemberg Konfirmationspredigt; Tageskalender: „Um 1 Uhr Konfirmation von 68 Kindern“ Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Grün Donnerstag 1824. Festpredigten 1824 Tex t. 1 Korinther XII, 13 und 14 Denn wir sind durch Einen Geist alle zu Einem Leibe getauft, wir seien Juden oder Griechen, Knechte oder Freie und sind alle zu Einem Geiste getränkt. Denn auch der Leib ist nicht Ein Glied, sondern Viele.
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Meine a. F., Wir sind in einer doppelten Absicht hier versammelt, einmal uns vorzubereiten auf den Genuß des heiligen Mahles unseres Erlösers, und dann eine Anzahl junger Khristen in unsere Gemeinschaft aufzunehmen, welche fortan auch Genossen des heiligen Mahles sein und es mit uns zum erstenmale genießen werden. Für Beides sind die eben verlesenen Worte des Apostels gleich wichtig und gleich angemessen. Daß wir alle in Einem | Geiste zu Einem Leibe getauft sind, das ist es dessen wir uns erfreuen, so oft wir uns mit einander zu dem heiligen Mahle des Herrn versammeln. Je öfter wir uns da einander wiederfinden, je mehr wir Zeugen sind jeder von des Andern innerer Bewegung 1–2 Grün Donnerstag 1824. Festpredigten 1824] Ergänzung von Schleiermachers Hand; FHDS 34, 102, S. I: Vorbereitungs- und Einsegnungsrede am grünen Donnerstage 1824.
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des Gemüthes und kräftiger Erwekung des Herzens, um desto fester wird in uns die Ueberzeugung, die wir von einander haben, daß wir durch Einen Geist zu Einem Leibe getauft sind. Je öfter wir mit einander die Erfahrung machen von den Segnungen des göttlichen Wortes in jenem Sinne, in welchem der Erlöser gesagt hat, er sei das Brot des Lebens, sein Fleisch sei die rechte Speise, sein Blut sei der rechte Trank, um desto mehr fühlen wir wie wir alle aus Einer | und derselben unerschöpflichen Quelle zu Einem Geiste getränkt werden, wie Ein und derselbe Geist des Glaubens und der Liebe durch ihn unsern Erlöser immer mehr in uns genährt wird, und immer mehr unser ganzes Leben leitet. Dafür danken wir ihm dann besonders, so oft wir das Mahl seines Gedächtnisses feiern und mit einander auf’s neue zum lebendigen Glauben und zur ungefärbten Liebe an dem innern Menschen gestärkt und erquikt werden. Was aber für uns, die wir schon seit längerer Zeit im engeren Sinne des Wortes Glieder der khristlichen Kirche und Genossen des heiligen Bundesmahles sind, was für uns eine Sache tröstlicher Erfahrung ist und immer mehr wird, das kann uns in Beziehung | auf diese junge Khristen, die wir jezt in unsere Gemeinschaft aufnehmen wollen, nur eine Sache freudiger und gläubiger Hoffnung sein. Wir könnten wohl bedenklich sein und fragen: woher wissen wir es denn von ihnen, daß auch sie schon durch den Einen Geist zu Einem Leibe getauft sind, daß auch sie in dem Einen Geist mit uns getränkt werden? Freilich die Erfahrung ihres Lebens haben sie uns noch nicht geben können; aber dank der wohlthätigen Ordnung in unserer evangelischen Kirche, welche der khristlichen Jugend ehe sie in ihre Gemeinschaft aufgenommen wird, einen reichlichen Unterricht des göttlichen Wortes verordnet, dank dieser kann unsere Hoffnung eine zuversichtliche und gläubige sein. Denn wo das Wort des Herrn | ist, da waltet auch sein Geist, und es ist nicht möglich, daß sie es so lange haben können zum Gegenstand ihrer reiflichen Erwägung machen, so oft zu demselben zurükkehren und in ihrem eigenen Herzen verlangen, wie sie davon bewegt sind auch äußerlich darzustellen, ohne daß sie nicht sollten durch den göttlichen Geist, der in diesem Worte waltet, auch in ihren Seelen ergriffen sein und vorbereitet, aufgenommen zu werden in die Gemeinschaft des geistigen Leibes, den der Herr von oben her regiert, und in welchem er mit allen seinen Segnungen und Verheißungen waltet. Es ist also unser Glaube an die Kraft der göttlichen Verheißungen, welche unserer Hoffnung über diese jungen Khristen eine feste Zuversicht gibt, es ist | unsere eigene sich immer wiederholende Erfahrung von der göttlichen Kraft des Wortes, welche uns dazu berechtigt, nach5–6 Vgl. Joh 6,35.55
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dem sie dessen teilhaftig geworden sind in ihren Seelen, sie aufzunehmen in den Bund der innigeren khristlichen Gemeinschaft. Dieser Eine Leib aber zu welchem wir alle getauft sind, ist wie der Apostel sagt, nicht Ein Glied, sondern Viele. Er macht uns aufmerksam in den Worten unseres Textes zunächst auf die Ungleichheiten der Abstammung, der Geburt und des Standes, dann aber auch auf die innern, die das Verhältniß eines jeden Einzelnen zu dem Ganzen des Leibes, zu der Gesamtheit der khristlichen Kirche betreffen. Wir sind alle zu Einem Leibe getauft sagt er, mögen wir | sein Juden oder Griechen, Knechte oder Freie. Und das, m. g. F., haben wir längst von uns abgethan, daß solche nur äußerliche Unterschiede, die vor Gott nicht gelten, irgend eine Ungleichheit darin sein könnten, daß deswegen der Eine mehr und der Andere weniger durch den Einen Geist dem Einen und demselben Leibe angehören sollte. Er sagt aber auch: „der Leib aber ist nicht Ein Glied, sondern viele“; und dadurch macht er uns aufmerksam auf die mehr innerlichen Unterschiede, welche unter den Khristen Statt finden. Diese, m. g. F., sind eine göttliche Ordnung. Es ist Ein Geist, aber es sind viele Gaben, die der Herr vertheilt wie er will. Wir sind alle Diener aber verschieden sind die Ämter und er vertraut einem | jeden an, welches er will. Wir sind alle Arbeiter, aber er sezt den Einen über Vieles und den Andern über Weniges, wie er es will. Wenn wir uns nun, m. g. F., ehe wir das heilige Mahl des Herrn begehen in dem Innern unseres Herzens prüfen, wie wir hausgehalten haben jeder mit der ihm anvertrauten Gabe, wie wir gearbeitet haben jeder da, wohin er gesezt war: so gibt uns allen dies immer auf’s neue das Bewußtsein unserer Unvollkommenheit und der mannigfaltigen Mängel, die einen jeden drüken. Aber wie die menschlichen Gedanken niemals aufhören sich unter einander zu verklagen und zu entschuldigen; so geschieht es dann auch gar leicht, daß wir dies mitzuschreiben geneigt sind auf die Rech|nung dessen, was uns der Herr gegeben, und gar zu leicht denken wir: hätte er mir die Gabe verliehen, die ich in einem Andern so freudig walten und so herrlich wirken sehe, hätte er mich auf den Plaz gestellt, auf welchem ein Anderer so redlich den Dienst des Herrn versieht: so würde auch ich vielleicht zufriedener mit mir selbst gewesen sein und mehr geleistet haben. Davon, m. g. F., 15 Geist dem Einen] Ergänzung aus FHDS 34, 102, S. 7; SAr 86, Bl. 167v; SAr 105, Bl. 168r 31 mitzuschreiben] so FHDS 34, 102, S. 8; SAr 86, Bl. 168r; SAr 105, Bl. 168v; Textzeuge: mitzuschreiten 19 Vgl. 1Kor 12,4
29–31 Vgl. Röm 2,15
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sollen wir immer mehr geheilt werden eben durch die Einheit, in welcher alle jene Ungleichheiten sind. Sie alle sind nothwendig und kommen her aus der Fülle der göttlichen Weisheit; unsere Weisheit aber ist, daß ein jeder zufrieden sei mit dem Theil, welches ihm beschieden ist von dem Herrn, und ein jeder eben seinen | eigenen Weg darin suche, daß er treu sei in dem was ihm aufgegeben ist, ohne sich zu streken nach dem was ihm versagt und einem Andern zugetheilt ist. Und wenn wir, m. g. F., die Versammlungen der Khristen betrachten, wie sie sich vereinigen zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, wie sie bald in größerer bald in geringerer Zahl nahen zu dem Tische des Herrn, und wir da finden alle diese Ungleichheiten[,] die äußern und die innern, die Verschiedenheit der Gemüther und der Ansichten, der Gedanken und der Bewegungen des Herzens: wie können wir anders als eben in dieser Mannigfaltigkeit die Tiefe der göttlichen Weisheit und Herrlichkeit preisen, und je verschiedener die Einzelnen sind ein um so lebhafteres Gefühl be|kommen von der Kraft der Erlösung, von der Kraft des göttlichen Wortes, welche alle so verschieden sie auch sein mögen zu Einem und demselben Ziele führt, alle Glieder an Einem Leibe, zu dem Einen Ganzen und zu dem Herrn der es regiert vereinigt. Solche Ungleichheit nun ist auch in einer jeden Anzahl von jungen Khristen, welche gemeinschaftlich den Unterricht des göttlichen Worts erhalten, und gemeinschaftlich hernach aufgenommen werden in unsern Bund. Da zeigen sich auch bei einer nur mäßigen Zahl schon alle diese innern Verschiedenheiten, da gibt sich eine Mannigfaltigkeit zu erkennen das göttliche Wort aufzufassen in der Seele, der Eine so der Andere so; es in sich selbst zu verarbeiten jeder nach seiner | Weise und auch die Früchte, von welchen wir finden daß sie sich ansezen nach dieser Blüthe, der Beschäftigung mit dem Worte[,] zeigen vom ersten Anfang an diese Verschiedenheit. So hat es der Herr geordnet, so war es von den ersten Zeiten der Kirche an; schon in dem kleinen Häuflein seiner nächsten Jünger, in der Schaar seiner Apostel finden wir alle diese Ungleichheiten, sie werden bleiben so lange die khristliche Kirche auf Erden besteht; und nur um desto mehr werden sich in denselben und durch dieselben alle göttliche Verheißungen erfüllen, und die Gnade und Barmherzigkeit Gottes an allen, die einander so ungleich sind, gepriesen werden. Das ist aber die Kraft der Erlösung und des göttlichen Worts, alle die sich ungleich | sind, wieder gleich 1 eben] so FHDS 34, 102, S. 9; SAr 86, Bl. 168r; Textzeuge: aber FHDS 34, 102, S. 12; SAr 86, Bl. 169v; SAr 105, Bl. 170r 9 Vgl. Joh 4,23–24
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zu machen in der Einheit des Geistes, in der Einheit des Glaubens, in der Einheit der Liebe. Und so seien uns denn in unserem Bunde auch mit diesen Ungleichheiten die jungen Khristen willkommen, welche wir in denselben aufnehmen wollen. Solche wie sie sein werden, sind auch vor ihnen gewesen. Jeder füllt seine eigene Stelle aus in dem großen Ganzen, jeder soll nach seinen innern Anlagen, nach dem Maaße seiner Kräfte, nach der Beschaffenheit seines Berufs den Geist, der in uns allen waltet, auf seine eigenthümliche Weise darstellen; und damit die herrliche und schöne Mannigfaltigkeit, die herrliche und wunderbare Ungleichheit sich immer mehr zur Einheit und zur Gleichheit verbinde, | dazu soll uns alles dienen, was uns in dem gemeinsamen Glauben stärkt und in der reinen Liebe unter einander befestigt. So soll sich jeder freuen, wenn er auf dasjenige sieht, was des Andern ist, an dem was des Andern ist, jedes Glied in dem andern die Kraft des gleichen Lebens lieben und bewundern, jeder in der Verschiedenheit der Gaben den Einen Geist wieder erkennen und sich dessen freuen. Dazu nun enthält das heilige Mahl, zu welchem wir uns jezt bereiten wollen, eine ganz besondere Aufforderung, indem es auf der einen Seite einen jeden seines Verhältnisses zu dem Erlöser auf eine ganz eigenthümliche Weise erinnert, auf der andern Seite aber auch einen jeden auffordert, die andern | ins Auge zu fassen und in das Herz zu schließen, und uns unser Verhältniß unter einander immer lieber und werther macht. So mögen wir denn den Herrn preisen, der aus ungleichen Bestandtheilen von jeher seinen Tempel auf Erden zusammengefügt hat, und aus der Mannigfaltigkeit der Glieder gestaltet den Leib, der durch Einen Geist getränkt immer mehr heranwachsen soll bis wir alle und ein Geschlecht nach dem andern zu der Vollkommenheit des männlichen Alters Khristi gelangen. Aber freilich dieser Segen beruht auf der lebendigen Gemeinschaft unter denen, die einander so ungleich sind auf der einen Seite, aber so von Einem Geiste gesättigt und Ein und dasselbe Leben in sich tragend auf der andern. Wenn wir, m. g. F., | bei der Prüfung unserer selbst jeder seine Mängel und seine Gebrechen gewahr werden, so soll nicht nur das unser schmerzliches Gefühl dabei sein, daß jeder für sich noch so weit entfernt ist von dem Ziele der Vollkommenheit, sondern auch dies, daß eben je weiter wir von demselben entfernt sind und bleiben, um so unvollkommener auch der Dienst ist, den wir jeder dem Ganzen leisten. Ueber das Erste trösten wir uns mit der unerschöpflichen Kraft, an welche wir gewiesen sind, und welche so wir es ernstlich verlangen uns selbst immer auf’s neue stärkt, und uns dem Ziele entgegenführt mit 27–29 Vgl. Eph 4,13
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schnelleren, mit langsameren Schritten nach dem einem jeden verliehenen Maaße. Wie aber können wir uns trösten über das andere? Dadurch, m. g. F., daß unser | Werk, welches wir als Arbeiter in dem Weinberge des Herrn betreiben, unser Geschäft, welches wir als seine Diener zu verrichten haben, nur ein gemeinsames ist, und keiner unterscheiden kann und auch nicht soll unterscheiden wollen was das Seinige sei. Das aber dürfen wir zuversichtlich hoffen, daß die Mängel eines jeden gedekt werden durch die Kraft der Liebe und des Glaubens, die in allen waltet, daß was der Eine leider versäumt hat, schon nachgeholt worden ist durch den größeren Eifer Anderer. Und nicht trösten wir uns auf diese Weise so, daß wir uns dadurch gestärkt fühlen in der Fahrlässigkeit und in der Trägheit des Herzens, vielmehr wird uns die lebendige Anschauung von diesem gemeinsamen Leben, von diesem | Ineinandergreifen aller Bewegungen, von dieser Vereinigung aller Kräfte, sie wird uns eine neue Aufforderung uns immer reichlicher durchströmen zu lassen von der Kraft, die das Ganze bewegt, uns immer mehr tränken zu lassen und sättigen von dem Einen Geist, damit auch wir immer mehr in den Standt gesezt werden zuzugreifen wo es Noth thut, und Hand zu legen an das Werk des Herrn; und da ja so viele Mängel in unserem eigenen Leben müssen gedekt werden, auch selbst wieder die Mängel Anderer zu deken und gut zu machen, und überall wo unser Auge und unsere Hand hinreicht, zu erkennen was Noth thut der Gemeine des Herrn, und darin wirksam zu sein nach unseren Kräften. In dieser Gemeinschaftlichkeit | des Lebens wollen wir nun diese jungen Khristen aufnehmen, und eben dem Geiste der Gemeinschaft und der Liebe, welcher in jeder khristlichen Gemeine walten soll, sollen sie in dieser ihnen feierlichen und heiligen Stunde empfohlen werden. Darum ist uns nun auch mit Recht Eins und dasselbige, daß wir sie aufnehmen in diese Gemeinschaft und daß wir sie zulassen zu dem Mahle des Herrn. Denn bei diesem verbinden wir uns immer auf’s neue zur Vereinigung aller unserer Kräfte, zur gemeinsamen Treue gegen den Herrn, den wir verehren und dem wir angehören, und zu immer bereitwilligerem und reichlicherem Schöpfen aus seiner ewigen und allen genügenden Fülle. In diesen Segen der | khristlichen Gemeinschaft, vermöge dessen wir alle alles, was der Herr gegeben hat, ansehen als das Unsrige, uns über alles Gute freuen als über ein Werk des Geistes, der auch in uns waltet, an allem Unvollkommnen den Antheil der Beschämung und der Reue hinnehmen[,] den fremden eben so als den eigenen, damit immer mehr die Gemeine des Herrn ihm möge dargestellt werden können ohne Fleken und ohne Runzel, in diesen 40–41 Vgl. Eph 5,27
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Segen der Gemeinschaft wollen wir nun die jungen Khristen, die hier vor uns sind, aufnehmen, unserem Gebet und unserer Liebe, unserem khristlichen Beistand und unserer Hülfe sollen sie empfohlen werden für das Leben, welches sie jezt beginnen in der Gemeinschaft des Gebets und des Flehens | vor dem Herrn, in der Gemeinschaft der fleißigen Erbauung aus seinem Wort und der hülfreichen Handreichung in seinem Werke. Dazu wollen wir sie aufnehmen und verpflichten nachdem wir uns durch gemeinschaftlichen Gesang vorbereitet haben. Meine g. Kinder. An Euch besonders wendet sich jezt meine Rede. Es ist für uns eine Stunde des Abschieds, in der sich ein Verhältniß löst, welches ich darf es hoffen uns allen lieb gewesen ist und werth. Aber nicht um Euch das Herz schwer zu machen, wendet sich meine Rede dahin, daß ich Abschied von Euch zu nehmen habe, sondern ich will Euch vielmehr dessen erinnern, daß das Schwere dabei mich trifft, das Leichte aber und Tröstliche, das Ermuthigende das ist auf Eurer Seite. | Für mich sage ich ist es schwer deswegen, weil es schwer ist in diesem Geschäft ein recht reines und gutes Gewissen zu haben vor Gott. Denn es ist eine große Sache um diesen Unterricht in dem khristlichen Glauben, den Ihr bis jezt genossen habt; es soll darin der hinreichende Grund gelegt werden zu dem köstlichen Gut, daß das Herz fest werde, und da liegt wohl einem jeden Lehrer des göttlichen Wortes die Frage nahe: diejenigen welche du jezt aus deinem Unterrichte entlässest, sind sie auch alle gerüstet darauf, zu bestehen was ihnen in ihrem neuen Leben vorkommen wird? hast du ihnen nahe genug gelegt und vergegenwärtigt, was überall ihr Gewissen, Gott und die Welt von ihnen fordern kann? hast du alles in ihrer Seele gewekt, was | sie in jeder bedenklichen Lage halten und vor allen traurigen Verirrungen und Verkehrtheiten bewahren kann? Wenn er sich das fragt vor Gott, so ist es ihm nicht leicht zu antworten. Laßt mich aber Euch auch sagen, was bei dieser Erwägung mein Trost ist. Das ist dies, daß ich nichts in Euch angelegt habe auf irgend meine eigene Weise, sondern daß ich in unseren gemeinsamen Gesprächen überall habe walten lassen das göttliche Wort. Dessen köstliche Schäze habe ich Euch zu genießen gegeben nach meinem besten Vermögen, habe in Euch die Fertigkeit hervorzubringen gesucht, es in seiner Tiefe aufzufassen und zur Kräftigung Eurer Ueberzeugung anzunehmen. Und dem allein sollt Ihr für Euer ganzes künftiges Leben vertrauen. Denn | eben diese Kraft [Zu Z. 9 von Schleiermachers Hand:] An die Kinder 31 auf] Ergänzung aus FHDS 34, 102, S. 22; SAr 86, Bl. 173r; SAr 105; Bl. 174r 7–8 Vgl. Liederblatt, Lied nach der Vorbereitungsrede (unten Anhang)
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des göttlichen Wortes, die ist es ja allein die den Menschen halten kann und tragen, sie ist es allein die ihn bewahrt in einer Welt, in welcher er sonst Angst haben muß; denn sie trägt dasjenige in sich, was die Welt überwindet; das Licht der Wahrheit in dem göttlichen Wort ist es allein, was die Nebel zerstreuen kann, mit welchen bisweilen das verleitete Herz auch einen sonst klaren Verstand verdunkelt. Und indem ich Euch an diese Kraft des göttlichen Wortes verweise, indem ich das meine lezte Bitte an Euch sein lasse, daß Ihr fleißig sein möget in dem Gebrauch des göttlichen Wortes, so tröste ich mich, meine Wünsche zu Euch gewinnen gute Zuversicht, und mein Gebet für Euch wird ein gläubiges und hoffnungsvolles. Aber nun laßt | uns zu dem Andern übergehen, und bedenken, wie Euer Abschied von mir Euch leicht werden muß, und dieser Schritt den Ihr heute thut, Euch mit festem Vertrauen und mit gutem Muth erfüllen muß. Ich, m. g. Kinder, ich muß mich jezt von Euch trennen, aber Ihr braucht mich nicht zu verlassen. So lange Ihr in meiner Nähe lebt, so wißt Ihr welch ein heiliges Recht Ihr habt auf meine Liebe, auf meinen Rath, auf Alles was ich Euch in meinem künftigen Leben noch sein kann. Und selbst wenn der Raum uns trennt, so habe ich doch das feste Vertrauen, daß ich niemals ganz verschwinden werde aus Eurem Herzen, und daß diejenigen unter Euch, welche die Fleißigsten gewesen sind des Unterrichts aus dem göttlichen Worte wahrzunehmen, auch in allen | bedenklichen Fällen gleich wissen werden, wie der alte Lehrer und Freund darüber zu ihnen reden, worauf vorzüglich er sie verweisen, womit er sie stärken und kräftigen würde. Was nun aber die Zukunft betrifft, die heute für Euch beginnt, o wie könnte ich wohl anders als sie Euch in dem aller erfreulichsten Lichte zeigen. Denn es gibt ja nichts Größeres als ein Glied zu sein an dem Leibe Khristi, nichts Herrlicheres als nun auch selbst mit anzugreifen an seinem großen Werke, alle Segnungen seiner Erlösung in der eigenen Seele und in allem äußeren Wirken und in allen Verbindungen mit Andern zu mehren und immer herrlicher erscheinen zu lassen; und das ist nun von der Stunde an, wo Ihr aufgenommen seid in die | Gemeinschaft der Khristen, Euer aller schöner und großer Beruf. Man kann ihn freilich ansehen von einer strengen Seite. Der Herr selbst sagt: „wer nicht sich selbst verleugnet und nimmt sein Kreuz auf sich, der kann nicht mein Jünger sein“; er selbst sagt: „wer nicht Vater und Mutter und Bruder und Schwester hasset um meinet willen, der kann nicht mein Jünger sein.“ Aber, m. g. Kinder, könnt Ihr es wohl in diesem feierlichen Augenblik als etwas Großes ansehen die Welt zu verleugnen und das Kreuz des Herrn auf Euch zu nehmen? kann Euch 36–37 Vgl. Lk 14,27
37–39 Vgl. Mt 10,38; 16,24; Mk 8,34; Lk 9,13; 14,26
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das in diesem Augenblik als ein schweres Opfer erscheinen, welches Euch jemals gereuen könnte? Und wenn Ihr fühlet in welchen | Bund Ihr aufgenommen werdet, zur Gemeinschaft welcher heiligen Kräfte zugelassen, könnt Ihr jemals glauben, jemals fürchten, daß falls Ihr nur selbst wollt und die Hülfe, die Euch das Khristenthum darbietet, benuzen möget, es Euch je unmöglich sein wird, die Welt und Euch selbst zu verleugnen? Nein gewiß das könnt Ihr nicht; und indem Euch alle Schäze der khristlichen Wahrheit aufgethan werden als Euer Eigenthum: so müßt Ihr des schönen Vertrauens leben, daß Ihr genug habt Euer Lebelang an innerem seligen Besiz, so Ihr nur diese gebrauchen mögt. Und was das Kreuz betrifft, welches wir auf uns nehmen sollen, so kennt Ihr es größtentheils wenig; die schönen Jahre der Jugend geben | selten einen Vorschmak von demselben; aber das wißt Ihr und fühlt Ihr, wenn Ihr davon durchdrungen seid, daß im Glauben an den Erlöser Ihr hier schon das ewige Leben im Innern habt und genießt, daß dann alles Leiden dieser Zeit nicht werth sein kann und nicht genannt werden gegen die Herrlichkeit, deren wir uns zu erfreuen haben. Warum also nicht das Kreuz auf sich nehmen und das endliche Leiden der Welt ertragen, gegen welches wir auch nicht den kleinsten Theil aufgeben von der Herrlichkeit des ewigen Lebens, die uns zu Gebote steht. Wißt Ihr also gleich, daß Ihr das Leiden dieses Lebens noch nicht kennt, daß Euch vielleicht noch manche schwere Kämpfe bevorstehen, habt Ihr nur einen Vorschmak | in Eurem Innern – und den müßt Ihr haben, so gewiß Ihr an den Erlöser glaubt – von der Herrlichkeit der Kinder Gottes: so müßt Ihr allem, was Ihr in Eurem künftigen Leben möget zu leiden haben, mit freudigem Sinne und mit herzlichem Vertrauen zu Gott in dieser Stunde entgegensehen. Aber ich habe Euch noch an ein anderes Wort des Herrn erinnert, wenn er sagt: wer nicht Vater und Mutter und Bruder und Schwester hasset um meinet willen, der kann nicht mein Jünger sein. Dieses Wort, m. g. Kinder, erinnert uns freilich zu nächst an eine Zeit, die nicht die unsrige ist, an die Zeit wo es noch Kinder gab, zu denen sich die Väter bekehren sollten und oft nicht bekehrten, an jene | Zeit, wo in einem ganz eigentlichen und unmittelbaren Sinne das Wort des Herrn wahr war, wie er es auch zunächst gemeint hat, daß der Kleinen das Himmelreich sei, daß die Jugend im Voraus hineingehe, das Alter aber noch 25 künftigen] so FHDS 34, 102, S. 29; SAr 105, Bl. 176r; Textzeuge: kräftigen Ergänzung aus FHDS 34, 102, S. 29; SAr 105, Bl. 176v 16–17 Vgl. Röm 8,18 10,14; Lk 18,16
29–30 Vgl. Lk 14,26
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fern davon sei. Aber was auch uns gilt von diesem ernsten Worte des Herrn, das ist dies, daß uns keine menschliche Verbindung so lieb sein soll und darf, daß wir nicht im Stande wären sie fahren zu lassen um seinet willen. Und so, m. g. Kinder, muß es Euch erinnern an die Reinigkeit der Liebe, die ich Euch so oft als das Eigenthümliche des Khristen dargestellt habe, indem nämlich die wahre Liebe in allen Ein und dieselbe sein muß mit der Liebe zu dem Erlöser und zu seinem und | unserem himmlischen Vater. Keine wahre Liebe kann je in Streit kommen mit Eurer Liebe in Khristo, die Ihr jezt in dieser heiligen Stunde aufs neue bekräftigen sollt, und mit der Liebe zu unserem himmlischen Vater, der sich uns durch ihn offenbart. Warum solltet Ihr also auch fürchten, daß Euer Herz geneigt sein werde, solche Verbindungen der Liebe, der Freundschaft und der Treue mit Andern zu schließen, die in Streit kommen könnten mit der Liebe und Treue, die Ihr dem Erlöser schuldig seid. Ihr seid und lebt ja in der Gemeine der Khristen, wo Euch überall entgegentreten solche, die wie wir hoffen Glieder sind an dem Leibe des Herrn, und durch Einen Geist | getränkt zu Einem Leibe, ja die schon stärker geworden sind im Glauben und in der Liebe und die Euch vorleuchten werden in wahrer Gottseligkeit. In dieser Gemeine der Khristen findet Ihr wieder alle Eure Angehörigen, die Eltern und Freunde, die Euch jezt dem Herrn darbringen, alle die Euch bis jezt geleitet haben auf dem Wege des Lebens. Diese große und reiche Quelle von Theilnahme und Liebe muß es Euch auch leicht machen der Zukunft entgegen zu gehen und wird Eure Liebe zu dem Erlöser immer mehr befestigen. Bleibt Ihr in der Treue gegen den Herrn, so werdet Ihr nichts lieben können als das, was ihn auch liebt, bleibt Ihr in dem Streben den göttlichen Willen zu erfüllen, | so wird sich Euch nichts nahen können, was Euch davon abführen sollte, überall werdet Ihr dann erkennen die Warnung Eures Gewissens und die Kraft des göttlichen Wortes. Und so möget Ihr denn vertrauen, daß Ihr mit der Hülfe Gottes allen auch oft so gefährlichen Versuchungen dieser Art entgegentreten werdet in der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, in welche Ihr jezt aufgenommen werdet. Aber daß Euch dies auch wirklich leicht sei, und daß Ihr mit solchem Muthe und mit solchem Vertrauen euer Leben als Christen beginnet, dazu gehört zweierlei, einmal daß Ihr es als etwas Großes und Wichtiges achtet der Gemeine des Herrn anzugehören, und dann dies, 1 ernsten] so SAr 105, Bl. 176v; Textzeuge: ersten 16 ja] Ergänzung aus FHDS 34,102; S. 31; SAr 105, Bl. 177r 35–36 solchem] so FHDS 34, 102, S. 32; SAr 105; Bl. 177v; Textzeuge: seligem
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daß | Ihr Euch nicht auf Euch selbst verlasset, sondern allein auf den, der Euch stark machen kann Khristus der Herr, und auf den Geist, der ihn in Euch verklärt. Könntet Ihr es für etwas Geringes halten in die Gemeinschaft der Khristen aufgenommen zu werden, o dann müßte Euer Herz schon an etwas Anderem hängen, dann müßtet Ihr schon gefesselt sein durch das Irdische und Vergängliche. Denn trachten wir den ewigen Gütern nach und richten unser Auge auf das Geistige, so müssen wir bekennen, daß es nichts Herrlicheres gibt als der Gemeinschaft der Khristen anzugehören. Wovor wir uns warnen mit den Worten des Apostels, wenn wir uns bereiten zu dem Mahle des Herrn, daß es nämlich denen | die den Leib des Herrn nicht unterscheiden zum Gericht ausschlägt, das dürfen wir mit vollem Sinne auch sagen von allen denen, die nicht unterscheiden den geistigen Leib des Herrn, die nicht die Gemeinschaft mit den Seinigen und mit ihm über alles Andere sezen. Denen freilich würde es nur zum Gericht ausschlagen in dieselbe aufgenommen zu werden, denn sie würden ein Gelübde ablegen, welches sie nicht zu halten gesonnen sein könnten, indem ihnen das größte und heiligste Gut nicht in demjenigen liegt, wozu sie sich bekennen. Haltet Ihr es aber für etwas Großes, wie solltet Ihr Euch nicht freuen des Großen theilhaftig zu werden, wie solltet Ihr nicht mit frohem Herzen Gott danken für | den Segen dieser Stunde, in welcher Ihr empfanget das Erbe mit allen Heiligen und Bürger werdet in dem Hause Gottes. Aber eben so wichtig ist freilich das Andere, daß Ihr nicht Euch selbst vertrauet, sondern allein dem der Euch stark macht. Denn könntet Ihr Euch selbst vertrauen, nun so müßtet Ihr auch glauben Euch selbst zu helfen, und dann würdet Ihr es bald versäumen die Hülfe der khristlichen Kirche anzusprechen und Euch derselben zu erfreuen, dann würdet Ihr bald verwikelt werden in Täuschungen über Euch selbst, und indem Ihr Euch entferntet von dem Bunde, in welchen Ihr jezt aufgenommen werdet, würdet Ihr immer unfähiger werden Euer wahres Heil zu schaffen. Habt Ihr aber das leben|dige Gefühl, welches ich so oft gesucht habe in Euch zu weken, das Gefühl wie wenig der Mensch ist für sich selbst, wie armselig und ohne Kraft sein Herz und ohne Erleuchtung sein Geist, wenn er sich auf sich selbst beschränkt, wißt Ihr selbst wie Ihr die Zuversicht Eures Lebens nicht in Euch selbst zu suchen habt, sondern allein in dem, der in Euch Wohnung machen will mit seinem und unserem himmlischen Vater: wie solltet Ihr Euch nicht freuen in die engste und innigste Gemeinschaft 10 zu] so FHDS 34, 102, S. 34; SAr 105; Bl. 178r; Textzeuge: mit 1–2.23–24 Vgl. Phil 4,13 37 Vgl. Joh 14,23
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mit ihm und mit allem, was ihm auf Erden angehört und ihn liebt, aufgenommen zu werden, wie solltet Ihr Euch nicht freuen in den Besiz zu kommen aller der herrlichen Mittel geistiger Stärkung und Belebung, die in der khristlichen | Kirche niedergelegt sind, und sie von dieser Stunde an als Euer ewiges Eigentum und als einen theuern Schaz anzusehen. Ja, m. g. Kinder, das ist meine Zuversicht zu Euch, daß Ihr mit dankbaren Herzen gegen Gott und mit frohem Vertrauen zu Eurem Erlöser jezt das Gelübde Eurer Taufe bestätigen und erneuern, und in froher Hoffnung des Guten, woran es Euch der Herr in der Gemeine der Gläubigen nicht wird fehlen lassen, Euch der Liebe und Treue der Khristen, in deren Bund Ihr jezt tretet, empfehlen werdet. Und so wollen wir denn hören von diesen jungen Khristen das Glaubensbekenntniß der khristlichen Kirche, auf welches sie schon bei der Taufe in die Gemeinschaft der Khristen auf Hoffnung | sind aufgenommen worden.
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Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden. Und an Jesum Khristum seinen eingebornen Sohn, der empfangen ist von dem heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten hat unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ist, am dritten Tage wieder auferstanden von den Todten, aufgefahren gen Himmel, sizet zur Rechten Gottes, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Todten. Ich glaube an den heiligen Geist, eine allgemeine khristliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen. | Ich frage Euch nun alle in Erwägung der Art wie ich Euch nach meinem besten Verständniß und in Uebereinstimmung mit den Grundsäzen unserer evangelischen Kirche dieses Bekenntniß unseres Glaubens ausgelegt und erklärt habe, ich frage Euch hiemit, ob Ihr Euch demselben mit herzlichem Grunde anschließen wollt Euer Lebelang, so antwortet: Ja. Indem Ihr nun dieses Bekenntniß wiederholt und aus freiem Willen zu dem Eurigen gemacht habt, so vollendet Ihr jezt was die khristliche Kirche in dieser Hoffnung und mit festem Vertrauen gethan hat, als sie in den ersten Tagen Eures Lebens Euch schon durch das Sakrament der Taufe in ihren Schooß aufnahm, diese heilige Handlung vollendet Ihr jezt durch Eure freie | Zustimmung, und werdet dadurch Mitglieder der khristlichen Kirche mit allen Freiheiten und Rechten, die daran geknüpft sind. Ehe ich Euch aber als solche aufnehme und öffentlich anerkenne, frage ich Euch, ob Ihr auch gesonnen seid der Lehre unseres Erlösers gemäß Euer Leben zu führen, und indem Ihr in die khristliche Gemeinschaft aufgenommen werdet, auch der khristlichen Kirche Ehre
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zu machen vor Gott und der Welt, ist das Euer fester und khristlicher Vorsaz unter dem Beistande Gottes, so antwortet: Ja. Da Ihr nun aber wißt, daß Ihr dies selbst nicht vollbringen könnt, so frage ich Euch endlich und zulezt, ob Ihr auch gesonnen seid alle Hülfmittel um in dem khristlichen Glauben zu wachsen und Euch in einem khristlichen | Leben zu stärken, alle Hülfsmittel, die in den Andachtsübungen der Kirche und in dem Genuß des heiligen Sakramentes, wozu Ihr jezt zugelassen werdet, liegen, ob Ihr diese auch fleißig benuzen wollt, damit Ihr wachsen möget im Glauben und in der Liebe, ist auch das Euer ernstlicher Vorsaz, so antwortet: Ja. Auf diese Versicherung, welche Ihr jezt ausgesprochen habt, nehme ich Euch nun auf zu Mitgliedern unserer Einen ungetheilten evangelischen Kirche, lege Euch das Recht bei an dem Sakramente des Altars Theil zu nehmen, die Taufe junger Khristen durch Euer Zeugniß zu bestätigen, und die Wahrheit eidlich zu bekräftigen vor der Obrigkeit, so sie es von Euch fordert, dabei aber immer eingedenk | zu sein so viel an Euch ist jenes großen Wortes Khristi: „Ihr sollt allerdings nicht schwören.“ Und möge Gott geben, daß Ihr das Gelübde erfüllet, welches Ihr jezt abgelegt. Darum wollen wir ihn anrufen in einem andächtigen Gebet. Kniet nieder und betet mit mir also: Barmherziger Gott und Vater, der Du Deinen Sohn gegeben hast zum Heile der Welt und aufgerichtet die Gemeine, welche die Pforten der Hölle nicht überwältigen sollen, laß es Dir wohlgefällig und von Dir gesegnet sein, daß wir jezt diese jungen Khristen zu Mitgliedern seiner Gemeine aufgenommen haben. Stehe Du ihnen bei durch die Kraft Deines Geistes zu lösen was sie vor Deinen Augen gelobt haben. Laß | sie heranwachsen und gedeihen zu würdigen Mitgliedern des ewigen Bundes des Glaubens und der Liebe. Gestalte Du das Bild des Erlösers immer mehr in ihren Seelen, damit man an ihnen überall erkenne solche, die Dir geheiligt sind mit allen, welche an seinen Namen glauben. Reinige Du immer mehr ihr Gewissen durch die richtige Erkenntniß Deines Wortes, und lehre sie nach seiner Anleitung mit uns allen vereint nach dem Einen trachten was Noth ist. Segne Du dann auch den Dienst in Deiner Gemeine, wozu Du sie berufen wirst, und laß auch durch sie die Fülle des Guten gemehrt werden, damit durch ihr Leben Dein Name gepriesen werde in dieser Welt, bis sie einst eingehen in den vollen Genuß des seligen Heils, den Du uns verheißen | hast. Darum bitten wir Dich in dem Gebet und im Namen Deines Sohnes: Unser Vater pp. 17 Vgl. Mt 5,34
22–23 Vgl. Mt 16,18
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Begebet Euch Gott zu einem lebendigen Opfer, das da sei rein und ihm wohlgefällig, und der Herr segne Euch pp. Stellet Euch nicht der Welt gleich, sondern ändert Euch durch Erneuerung des Sinnes, und der Herr segne Euch pp. 5
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Kämpfet einen guten Kampf, auf daß Euch beigelegt werde die Krone der Gerechten, der Gott der Hoffnung erfülle Euch mit Frieden und Freude im Glauben, der Herr segne Euch pp. Die Nacht ist vergangen und der Tag ist angebrochen, so leget nun ab die Werke der Finsterniß und ziehet an die Waffen des Lichts, | und der Herr segne Euch pp.
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Erneuert Euch im Geist Eures Gemüths, und ziehet den neuen Menschen an der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit, der Herr aber segne Euch pp. 15
Wer auf den Geist säet, der wird von dem Geiste das ewige Leben ernten, der Herr segne Euch pp. Was aus Gott geboren ist, das bewähret sich, und der Arge wird es nicht angreifen, der Herr segne Euch pp.
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Stellet Eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die Euch dargeboten wird in der Erscheinung unseres Herrn Jesu Khristi als gehorsame Kinder, und nach dem, der Euch berufen hat und heilig ist, seid auch Ihr heilig in Eurem gan|zen Wandel, und der Herr segne Euch pp.
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Ziehet an die Liebe, welche ist das Band der Vollkommenheit, und der Friede Gottes wird regieren in Euren Herzen, und der Herr segne Euch pp. 25
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Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm[,] der Herr segne Euch pp. Laßt das Wort Gottes reichlich in Euch wohnen in allerlei Weisheit, und was Ihr thut mit Worten und Werken, das thut in dem Namen unseres Herrn Jesu Khristi, und danket Gott dem Vater durch ihn, der Herr segne Euch pp. Daran wird jedermann erkennen, daß Ihr seine Jünger seid, so Ihr Liebe unter einander habt, | der Herr segne Euch pp. 1–2 Vgl. Röm 12,1 3–4 Röm 12,2 5–6 Vgl. 2Tim 4,7–8 6–7 Vgl. Röm 15,13 8–9 Vgl. Röm 13,12 11–13 Vgl. Eph 4,23–24 14–15 Vgl. Gal 6,8 16– 17 Vgl. 1Joh 5,18 18–21 Vgl. 1Petr 1,13–15 22–23 Vgl. Kol 3,14–15 25– 26 1Joh 4,16 27–29 Kol 3,16–17 31–32 Joh 13,35
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Haltet im Gedächtniß Jesum Khristum, welcher für unsere Sünde gestorben und für unsre Gerechtigkeit auferweket ist, der Herr segne Euch pp. Nichts kann Euch schaden, so Ihr dem Guten nachtrachtet, der Herr segne Euch pp. Der Gott des Friedens erfülle Eure Herzen reichlich mit Weisheit und Erkenntniß, der Herr segne Euch pp. Was hätte der Mensch, wenn er die ganze Welt gewönne und litte Schaden an seiner Seele, der Herr segne Euch pp.
[Liederblatt vom 15. April 1824:] Am Grün-Donnerstage 1824. Zum Anfang. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Dank Jesu dir, daß du beim Scheiden / In deiner lezten Trauernacht / Uns hast die Früchte deiner Leiden / Zum seligen Genuß vermacht; / Dich preisen gläubige Gemüther, / Den Stifter solcher hohen Güter. // [2.] So oft uns dieses Mahl erquicket, / Wird dein Gedächtniß bei uns neu, / Und jede Seele fühlt entzücket, / Wie brünstig deine Liebe sei! / Dein blut’ger Tod mit seinen Schmerzen, / Erneuert sich vor unsern Herzen. // [3.] Hier wird dem zagenden Gewissen / Versiegelt deiner Gnade Bund, / Daß unser Schuldbrief sei zerrissen, / Thust du im heilgen Mahl uns kund, / Machst uns gewiß, daß unsre Sünden / Durch deinen Tod Vergebung finden. // [4.] Das Band wird fester hier geschlungen, / Das uns mit dir zusammenfügt, / Und inniger das Herz durchdrungen / Vom Frieden, der allein genügt; / Wir fühlen uns in solchen Stunden / Zu Einem Geist mit dir verbunden. // Nach der Vorbereitungsrede. – Mel. Christus, der uns etc. [1.] Stärke, Mittler, stärke hie / Deine Theurerlösten! / Laß den wahren Glauben sie / Immer reichlich trösten. / Sieh, sie schwören heilig dir / Jezt den Eid der Treue, / Stärke sie, daß für und für / Sich ihr Herz dir weihe. // [2.] Ja, du wollest ihnen Kraft / Aus der Höh verleihen, / Die allein den Sieg verschafft / Und ein gut Gedeihen. / O daß Alle, die hier stehn, / Mögen deinen Namen / Einst vor Gottes Thron erhöhn! / Dazu sprich du, Amen. // Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf etc. Blick’ auf diese jungen Seelen, / Die sich dein Wort zum Führer wählen, / Und dir sich weihn und deinem Sohn! / Gott, sie führen Christi Namen, / Erwecke sie ihm nachzuahmen, / Am Ziele winkt der Treue Lohn. / Was jezt 1–2 Vgl. Röm 4,25; 2Tim 2,8
4 Vgl. 1Petr 3,13
8–9 Vgl. Mt 16,26; Mk 8,36
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Predigt über 1Kor 12,13–14
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ihr Herz erweicht, / Was jezt ihr Mund bezeugt, / Ihr Gelübde ist dir bekannt; / Vor Unbestand / Bewahr sie deine Vaterhand. // Nach der Einsegnung. – Mel. Jesus meine Zuversicht. Gottes Gnade sei mit euch, / Sie verleih euch Kraft und Segen! / Freuet euch in Gottes Reich, / Geht getrost dem Ziel entgegen; / Euer harrt des Glaubens Lohn, / Einst an unsres Gottes Thron. // Schlußgesang. – Mel. Mein Jesu der du mich etc. [1.] Wie du, o höchstes Gut, / Dich mir mit Leib und Blut / Hast übergeben; / So wirke du in mir, / Daß ich nunmehr auch dir / Mag ewig leben. // [2.] Gieb daß ich als ein Zweig, / An Saft und Leben reich, / Nun an dir bleibe; / Und, als in dich versezt, / Stets frisch und unverlezt / Viel Früchte treibe. //
Am 16. April 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
Karfreitag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 10,8–12 Nachschrift; SAr 105, Bl. 183r–196v; Andrae Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Fünfte Sammlung, 1826, S. 269–294 (vgl. KGA III/2); die Edition geht auf eine von Schleiermacher sehr stark bearbeitete Textzeugenparallele zurück. Wiederabdrucke: SW II/2, 1834; 21843, S. 161–175 – Predigten. Fünfte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 202–220 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 126–138 – Kleine Schriften und Predigten, ed. Gerdes u. Hirsch, Bd. 3, 1969, S. 244–258 Nachschrift; FHDS 34, 101/2, Bl. Ir.1r–19v; Andrae Nachschrift; SAr 109, Bl. 5r–8v; Andrae, in: Sobbe Nachschrift; SAr 52, Bl. 165r–165v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Predigt am Charfreitage 1824. |
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M. a. F. Wie tief auch die frommen Bewegungen unseres Gemüths sein mögen an einem Tage wie der heutige, wie wir unser eigenes Herz dabei erschüttert finden von dem Bewußtsein der Sünde, durchdrungen von der Barmherzigkeit, welche uns Heil gebracht hat von oben: demohnerachtet werden wir nur sicher sein das Rechte und Wahre darin gefunden zu haben, wenn wir auch hier unsere Gedanken und Empfindungen abmessen an der Schrift. Wir finden aber in dieser eine zwiefache Behandlung desjenigen, was der über alles wichtige Gegenstand unserer heutigen Feier ist. Unsere evangelischen Erzählungen entfalten uns die Thatsache des Lebens und des Todes Christi, entwikkeln sie uns in ihren einzelnen Umständen, und dicht neben einander gestellt sehen wir darin das helleste Licht der himmlischen Liebe und Reinheit und den schwärzesten Schatten der Sünde und der Verkehrt0 Die Archivalie FHDS 34, 101/2 verfügt über eine originale Blattzählung 1–18, wobei Bl. 5 doppelt gezählt wurde. Die hier im Kopftext und im Sachapparat gebotene Zählung ist korrigiert. Die ungezählte Titelseite wird als Ir wiedergegeben.
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heit. Wer wollte nicht gern hiebei weilen und wer sollte nicht die reinigende und erhebende | Kraft dieser heiligen Erzählungen immer auf’s neue an sich selbst erfahren haben. Je mehr wir dabei das Geistige im Auge behalten und es nicht verdrängen lassen durch das Äußere und Sinnliche, desto reiner wird der Segen sein, den wir von einer solchen Betrachtung des Leidens Christi davon tragen. Aber die Apostel des Herrn in ihren Schreiben an einzelne Brüder und an christliche Gemeinen setzen die Bekanntschaft mit der äußern Thatsache voraus, ergreifen aber jede Gelegenheit die Christen aufmerksam zu machen auf die tiefe geheimnißvolle Bedeutung des Todes Christi, auf das Selige für uns darin, auf den Zusammenhang desselben mit dem ganzen Heil der Erlösung, mit dem ganzen Schatz unserer Hoffnungen und unseres Glaubens. Je mehr sich nun jene Betrachtung des Geschichtlichen und des Thatsächlichen für die stille Andacht eines jeden eignet, und gewiß alle fromme Glieder unserer Gemeine in dieser ganzen Zeit, die dem Andenken des Leidens Christi gewidmet war, beschäftigt | hat, um desto mehr scheint es mir natürlich, daß wir uns in dieser heiligen Stunde zu jener Betrachtung der tiefen Bedeutung des Todes Christi für das Heil der Menschen hinwenden. Dazu laßt uns denn den göttlichen Beistand und Segen erflehen in dem Gebet des Herrn, wenn wir vorher den Vers mit einander gesungen haben, der sich anfängt: „Christus ist gekommen pp.“ Tex t. Hebräer X, 8–12. Droben als er gesagt hatte: Opfer und Gaben, Brandopfer und Sündopfer hast du nicht gewollt, sie gefallen dir auch nicht (welche nach dem Gesetz geopfert werden); da sprach er: Siehe ich komme zu thun, Gott, deinen Willen. Da hob er das Erste auf, daß er das Andere einsetze. In welchem Willen wir sind geheiliget, einmal geschehen durch das Opfer des Leibes Jesu Christi. Und ein jeglicher Priester ist eingesetzt, daß er alle Tage Gottesdienste pflege, und oftmals einerlei Opfer thue, welche nimmer|mehr können die Sünden abnehmen. Dieser aber da er hat Ein Opfer für die Sünde geopfert, das ewig gilt, sitzt er nun zur Rechten Gottes. M. a. F. Der ganze Zusammenhang dieser Worte ergiebt ganz deutlich, daß der heilige Schriftsteller den Tod des Erlösers als den eigentlichen Wendepunkt ansieht, mit welchem der alte Bund zu Ende gegangen und der neue Bund Gottes mit den Menschen seinen Anfang genom29 Jesu] Ergänzung aus FHDS 34, 101/2, Bl. 2v; SAr 109, Bl. 5r 20–22 Vgl. Liederblatt, Lied unter der Predigt (unten Anhang)
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men. Indem er den Tod des Erlösers als ein Opfer darstellt für die Sünde, so stellt er ihn zugleich dar als das Ende aller Opfer und alles Opferdienstes, wie beides in den Zeiten vor dem Erlöser sowohl in den Gottesdiensten des jüdischen Volks als auch in den mit vielem Wahn und Irrthum vermischten heiligen Gebräuchen anderer Völker das Wesentliche ausmachte, und beides stellt er hier aufs schärfste gegen einander, das Unzureichende aller früheren Opfer und jene ewige göttliche Kraft, durch welche das Opfer des Erlösers sie alle übertrifft; aber eben deswegen auch allen | Opfern ein Ende gemacht hat. So laßt uns nun in diesem Sinne gegenwärtig mit einander den Tod des Erlösers ansehen als das Ende aller Opfer. Schon in früheren Worten dieses Kapitels, die unserem Texte vorangehen, hatte der Verfasser gesagt, die Opfer würden aufgehört haben, wenn die so am Gottesdienst sind, kein Gewissen mehr hätten von der Sünde, sondern einmal gereinigt wären; es geschehe aber durch die Opfer nur ein Gedächtniß der Sünde von einem Tage zum andern, und von einem Jahre zum andern, die Sünde selbst aber sagt er in unserem Texte, könnte die Wiederholung der Opfer nimmermehr hinwegnehmen. Wir werden also den Sinn seiner Rede treffen und erschöpfen, wenn wir den Tod Christi insofern als das Ende aller Opfer ansehen, einmal weil nun kein anderes Gedächtniß der Sünde mehr nöthig ist, welches von einem Tage und von einem Jahre zum andern müßte erneuert werden; zweitens aber weil nun die Sünde wirklich hinweggenommen ist, und es also solcher unzureichenden | stellvertretenden Hilfsmittel nicht mehr bedarf. Auf dies beides also laßt uns jetzt mit einander unsere andächtige Aufmerksamkeit richten. I. Zuerst also, m. g. F., Opfer waren ein Gedächtniß der Sünde, jetzt aber seitdem Christus ein Opfer geworden ist für die Sünde, ist ein anderes Gedächtniß der Sünde nicht mehr nöthig. Wie, m. g. F., waren denn alle Opfer des alten Bundes ein Gedächtniß der Sünde, so daß die einzelnen Handlungen, welche dem Gesetze des Höchsten widersprachen, durch das Bekenntniß und Gedächtniß, welches in den Opfern lag, sollten getilgt werden, so daß jeder Einzelne für seine Sünden, für das was er selbst gefehlt und begangen hatte, das Gedächtniß des Opfers darbrachte? Wir dürfen nur hiebei stehen bleiben, m. g. F., um schon zu sehen, welch’ ein unvollkommnes Wesen das war. Denn was sind doch die einzelnen äußern Handlungen des Menschen, in welchen sich die Sünde offenbart? Nichts anderes als zufällige Ausbrüche des | innern Verderbens, auf tausendfältige Weise abhängig von den äußerli11–16 Vgl. Hebr 10,2–3
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chen Umständen. Und wenn sich Zwei neben einander stellten, von denen an einem und demselben Tage der Eine eine Menge von solchen äußerlichen Thaten zu bereuen hätte und zu büßen, und der Andere sich rühmen könnte keine einzige der Art begangen zu haben, wäre deswegen der Eine besser als der Andere? Mit nichten; sondern nur dem Einen hat eine günstige Stunde geschlagen und dem Andern eine üble, das Verderben selbst aber wohnt eben so tief und eben so fest in der Seele des Einen als in der des Andern. Und eben so wie vermag der Mensch wohl die einzelnen Handlungen die er begeht, auszusondern und sie sich zuzueignen als die seinigen? Ach wohl mag derjenige immer Recht haben, der das thut daß er sich in seinem innersten Gefühl eine sträfliche und verbrecherische That, die von ihm begangen ist, selbst zuschreibt, aber die Andern werden Unrecht thun, die ihn seine Rechnung abschließen lassen und meinen, daß sie von derselben That | rein gewaschen sind indem der Andere sie sich zuschreibt. Nein, m. g. F., das müssen wir wohl wissen und fühlen, wir werden es uns bewußt in allen Verwickelungen des Lebens, in allen offenbaren und geheimen Einflüssen, die der Eine auf den Andern ausübt, daß wir jeder seinen Antheil haben an den Sünden, die in Andern zum Vorschein kommen, und nicht nur unsere Rechnung abschließen können mit denen, die wir selbst begehen. O gar vielfältig durch Vernachlässigung, durch leichtsinnige Worte, durch verführerische Beispiele, durch gelinde Urtheile, auf tausendfältige Art helfen wir jeder dem Andern die Sünde hervorbringen, und keines weges also ist irgend eine Einem allein angehörig. Darum nun war alles Gedächtniß der Sünde in den Opfern ein unvollkommnes und unzureichendes, weil es auf dieser Theilung menschlicher Verantwortlichkeit beruhte, weil es sich nur auf das Äußere was von der Sünde zum Vorschein kommt, nicht aber auf ihr Wohnen und Wirken in dem innersten Gemüth beziehen konnte. Und wenn der Apostel anderwärts sagt, aus dem Gesetz komme die Er|kenntniß der Sünde, so hat er insofern Recht, als das nun das höchste Verdienst ist, welches man einem äußern Gesetz beilegen kann; aber keines weges hat er damit meinen wollen und können als ob das Gedächtniß der Sünde, welches aus dem Gesetz kommt und in den Opfern dargestellt wird, das vollkommne Bewußtsein und die wahre Erkenntniß der Sünde sei. Nein auch die kommt nur durch das Evangelium, auch die kommt nur durch die Anschauung des Erlösers. Ein und derselbe Blick ist es, der uns die ganze Tiefe des menschlichen Verderbens, und der uns die ganze Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes 15 That] Ergänzung aus FHDS 34, 101/2, Bl. 5r; SAr 109, Bl. 5v 30–31 Vgl. Röm 3,20
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vom Vater zeigt, und wir mögen wohl sagen, es giebt kein anderes wahres Gedächtniß der Sünde als der Tod des Herrn. An dem hat sie ihre ganze Kraft erschöpft, an dem zeigt sie sich in ihrer ganzen Stärke und Vollendung. Das hat der Apostel Johannes wohl bedacht als er alle Sünde zusammenfaßte unter die Ausdrücke „der Augenlust und der Fleischeslust und des hoffährtigen Wesens“. Die Augenlust, das heißt die verkehrte Neigung des | Menschen dem äußern Scheine nachzugehen, und nach dem das Innere zu beurtheilen, die war der Grund, daß so Viele aus den Zeitgenossen des Herrn bei dem verkehrten Worte blieben: Was kann aus Nazareth Gutes kommen, was kann dieser Mensch sollen, der die Schrift nicht gelernt hat wie wir Andern. Die Fleischeslust, das heißt das Trachten des Menschen nach den vergänglichen Gütern des zeitlichen Lebens, nach Ansehen und Ehre bei der Welt, nach Festhaltung jedes äußern Besitzes und Ansehens, das machte es, daß die Hohenpriester und Ältesten seines Volks zu einander sprachen: es ist besser, daß Ein Mensch umkomme als daß die ganze Verfassung des Volks, welche wir haben, [es zu] zügeln und [zu] leiten, untergehe. Das hoffährtige Wesen, welches den eigenen Werth für den höchsten hält, und das nicht will übertreffen lassen, was in dem eigenen Verstande und Urtheil, in der eigenen Übung des Lebens zum Vorschein gekommen ist, das war der Grund warum das Geheimniß der göttlichen | Rathschlüsse den Weisen und Mächtigen verborgen blieb, und nur den Unmündigen konnte offenbart werden; und daß es den Weisen und Mächtigen verborgen blieb, das war die Ursache warum sie den Fürsten des Lebens kreuzigten. So mögen wir sagen, zu allem was die menschliche Seele verfinstert, zu allem was uns zurückhält von dem Wege des Heils und der Wahrheit, finden wir den hellesten Spiegel in dem Tode des Erlösers, Ein unauslöschliches Gedächtniß der Sünde für alle Ewigkeit, indem die sündigen und verderbten Menschen den Fürsten des Lebens und den Herrn der Herrlichkeit kreuzigten. Was bedürfen wir weiter eines Gedächtnisses der Sünde? Da ist es aufgerichtet ein für allemal, für alle Zeiten, für das ganze menschliche Geschlecht, aber auch für ein jedes einzelne Gemüth. Denn was uns noch Sündliches bewegt, was in uns den Gehorsam gegen den Willen Gottes, von welchem er das ewige Vorbild gewesen ist, widerstrebt, wir werden es immer zurückführen können auf das was 16–18 als daß ... untergehe.] Vgl. Drucktext Schleiermachers (Fünfte Sammlung), S. 277 (vgl. KGA III/2): als daß die ganze Verfassung, an welcher wir das Volk zügeln und leiten können, untergehe. 17 welche] welches 5–6 Vgl. 1Joh 2,16 10 Joh 1,46 21–23 Vgl. Mt 11,25; Lk 10,21
10–11 Vgl. Joh 7,15
16–18 Vgl. Joh 11,50
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den Herrn gekreuzigt hat, und alle Sünde werden | wir ansehen müssen als einen Antheil an seiner Kreuzigung. Darum auch wir, auch jede Zukunft des menschlichen Geschlechts bedarf kein anderes Gedächtniß der Sünde als das, welches aufgerichtet ist in dem Tode des Herrn; und darum ist er das Ende aller Opfer, weil die Darstellung der einzelnen Sünden in solchen heiligen Gebräuchen, weil der Schmerz und die Reue über die einzelnen Ausbrüche des Verderbens, die damit verbunden sein könnte, ganz verschwindet gegen den Schmerz, zu welchem uns alle das niederbeugt, daß es die uns’rigen waren, Menschen wie wir und wir wie sie, welche den Herrn der Herrlichkeit gekreuziget haben; und das Gedächtniß, welches so alles Verkehrte in der menschlichen Seele zusammenfaßt, in seiner ganzen Gewalt, in seiner höchsten Vollendung darstellt, das macht alles Andere überflüssig. Darum seit er einmal ein Opfer gebracht hat für die Sünde, bedarf es keines Gedächtnisses der Sünde weiter als dieses, und jeder den sein Herz mahnt an das Verderben in der eigenen Brust zu denken, und jeder dem die alte Sünde noch | wiederkehrt in einzelnen Zeichen, der werfe sich nieder vor dem Kreuze Christi und flehe da und in dessen Namen, der das Opfer für die Sünde geworden ist, den Vater an, daß er ihn bewahre davor, nicht auch wieder den Herrn der Herrlichkeit und den Fürsten des Lebens zu kreuzigen mit seiner Sünde. II. Zweitens aber jene Opfer des alten Bundes, so oft sie wiederholt wurden, sie vermochten nicht die Sünde hinwegzunehmen, sondern nur das Gedächtniß derselben zu erneuern und zu bewahren und mit dem Gedächtniß eben die Sehnsucht und das Verlangen, daß derjenige endlich erscheinen möchte und vom Himmel herabkommen, welcher allein vermochte die Sünde wegzunehmen. Indem also der Verfasser unseres Briefes sagt, daß der Tod des Erlösers das Ende aller Opfer sei, so ist das nun seine vorzügliche Meinung, daß durch den Tod des Herrn und durch seine Kraft die Sünde selbst hinweggenommen sei, wie er denn auch in folgenden Worten sagt: So laßt uns nun hinzunahen mit wahrhaftigem Herzen und in vollem Glauben los alles bösen | Gewissens und rein gemacht. Wie aber nun durch den Tod des Erlösers die Sünde hinweggenommen sei, das, m. g. F., ist das große Geheimniß der Gemeinschaft seines Todes und seines Lebens, daß wir mit ihm begraben werden in seinen Tod und mit ihm auch auferstehen zu einem neuen Leben; und beides, m. g. F., läßt sich von dem wahren Glauben an den Erlöser nicht trennen. Denn was heißt an ihn glauben, wenn es nicht 32–34 Vgl. Hebr 10,22
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wenigstens das heißt, ihn erkennen als den lebendigen Sohn Gottes, als den verheißenen Retter der Menschen, den der uns den Weg zeigen konnte und das Leben bringen, weil er selbst die Wahrheit war und weil in ihm die Sünde keine Stätte hatte. Erkennen wir ihn aber an als diesen, wie wäre es möglich, daß wir nicht mit alle dem sterben sollten, was ihn gekreuzigt hat. Denn wir können ja nichts anderes wollen als sein eigenes Leben, die ewige Fortdauer seiner geistigen Kraft und Einwirkung auf das ganze menschliche Geschlecht. Die Gläubigen hätten den Erlöser nicht tödten wollen, und mit dem Glauben muß nothwendig der Mensch alle dem absagen, was den Erlöser zum Tode gebracht hat. Aber nicht nur | dies, sondern eben so nothwendig hängt es mit dem Glauben an ihn zusammen, daß wir sein Leben in uns aufnehmen und mit dem Apostel sagen können: ich lebe zwar, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn, m. g. F., das ist das Wesen der menschlichen Natur, daß sie sich nach dem Göttlichen streckt, und mitten in den Zeiten des Verderbens, als das Licht von oben den Menschen am meisten verschwunden war und sie am meisten dahin gegeben in die Verkehrtheit ihres Herzens, war doch dieses Bestreben nicht ganz aus ihrem Innern verschwunden. Ehe sie sich los sagten davon dem Göttlichen nachzutrachten, stellten sie sich lieber das Armselige, das Dürftige, das Verkehrte, dem sie nachtrachteten, und von dem sie sich nicht los machen konnten, als das Göttliche dar, und in allem Wahn, in allem Irrthum, in allen Gräueln der Abgötterei erkennen wir, aber freilich in seiner verborgensten Gestalt dieses innerste Streben des Menschen nach dem Göttlichen wieder. Und als es erschienen war in dem Fleisch gewordenen Wort, als wir die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater sahen in dem, der in die | Welt gekommen war als das Licht, welches in die Finsterniß scheint, wie wäre es möglich, daß nicht jeder, der ihn als diesen erkannte, sich auch streckte nach dem Göttlichen in ihm, und voll Sehnsucht und Verlangen war es in sich aufzunehmen, es einzuschlürfen in jedem Worte des Lebens, welches von seinen Lippen ging, es sich einzuprägen in jedem Blick seiner göttlichen Milde und Liebe, so lange er auf Erden unter den Menschen wandelte, und eben so auch jetzt es zu sammeln in allen einzelnen Zügen, die uns die heiligen Schriften aufbewahrt haben von seinem göttlichen Leben auf Erden. Und diese Sehnsucht und dieses Verlangen das ist das Einzige, was nie unbefriedigt zu dem Menschen zurückkehrt, weil nämlich die Fülle der Gottheit, die in dem Erlöser wohnt, eine lebendige Kraft ist, die ebenfalls strebt sich mitzutheilen, weil sich die 1 erkennen] anders FHDS 34, 101/2, Bl. 9v; SAr 109, Bl. 6v: anerkennen 13–14 Gal 2,20
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Gottheit in ihm so gern einsenkt in das Herz des Menschen, und nichts mehr begehrt als eine Stätte zu finden in unserem Innern, weil seit er von der Erde verschwunden ist, der Geist der in seinem Worte wohnt und in seiner Gemeine waltet, es von dem Seinigen nimmt, und eben so es den Menschen verklärt | und in ihr Herz einkehrt, um in demselben zu wohnen und aus demselben heraus mit kindlichem Sinne den Vater anzurufen, und in der Gemeinschaft mit ihm und mit seinem Sohne das Leben zu haben. Indem wir nun, m. g. F., in diesem Sinne mit Christo gekreuzigt sind und mit ihm auferstanden zu einem neuen Leben, so ist die Sünde ganz hinweggenommen, weil das Bewußtsein, oder wie der Verfasser unseres Textes es ausdrückt „das Gewissen der Sünde“ hinweggenommen ist, und weil die Schuld derselben hinweggenommen ist. Denn was das Erste betrifft, so mögen wir es wohl sagen, wer der Sünde und dem Gesetz – denn beides hat den Herrn gekreuzigt – gestorben ist, der hat auch eben deswegen das Bewußtsein der Sünde verloren, weil er sich los gesagt hat von ihrer Gewalt und von allem Antheil an derselben. Und wer mit dem Erlöser auferstanden ist zu einem neuen Leben, in welchem Christus lebt und nicht er selbst, der hat ein anderes Bewußtsein bekommen, das ist, m. g. F., das Bewußtsein, welches wir haben von der Freiheit der Kinder Gottes, von der Freiheit die wir demjenigen verdanken, der und dessen Wahrheit uns allein frei machen kann, das ist das | Bewußtsein der Seligkeit, welches darin liegt wenn der Mensch in der That und Wahrheit sagen kann: ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn Christi Leben war Seligkeit, und sein Leben in uns kann auch nichts anderes sein als Seligkeit, und in demselben Maaße und Grade als das wahr ist, daß nicht wir leben, sondern er in uns, in demselben sind wir auch wahrhaft der Seligkeit theilhaftig. Mit dieser aber verträgt sich nicht das Bewußtsein der Sünde. So wir nun keines haben, so ist es auch aus uns verschwunden, wenn nicht wir, sondern er in uns lebt. Das, m. th. Freunde, ist ein Wort, von welchem wir auf der einen Seite wohl sagen können und müssen: nicht daß ich es schon ergriffen hätte, aber ich jage ihm nach, daß ich es ergreifen möchte, auf der andern Seite aber doch gestehen müssen, ja es ist die tiefste, die lauterste, die reinste Wahrheit schon jetzt in dem Leben und in dem Herzen des Christen. Mit Christo vereint ist nichts anderes als Seligkeit, die reine Freude an dem Herrn, die innige Gemeinschaft mit dem Vater, der die Quelle des Lichtes ist, und mit welcher zugleich alles Gute in unsere Seele eintritt, nichts anderes als dies ist in der erlösten Seele. | Aber dieses erneuerte Bewußtsein, welches das Gewissen der Sünde 3–5 Vgl. Joh 16,14–15
5–7 Vgl. Gal 4,6
24 Gal 2,20
32–33 Vgl. Phil 3,13
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auszieht, ja wir fühlen es, es ist nur in uns durch den Tod des Erlösers. Freilich hatten seine Jünger den Glauben an ihn als den Sohn Gottes[,] die innige Freude an den Worten des Lebens, die er allein hatte, sie hatten sie schon vor seinem Tode, aber in ihm selbst war von Anbeginn das Bewußtsein seines Todes, und nicht nur die Kraft seines göttlichen Lebens und die in ihm wohnende Fülle der Gottheit, sondern auch die Kraft seines Todes, seine hingebende Liebe, seine gänzliche Aufopferung, die Gewißheit von diesem und keinem andern Ende seines Daseins, die redete und wirkte aus ihm sein ganzes irdisches öffentliches Leben hindurch; und nur indem er in diesem Gegensatz erblickt wurde gegen die Sünde, er der allein keinen Theil an ihr hatte, aber der die Sünde der Welt tragen mußte, nur indem er gezeigt werden mußte als das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt, konnte dieser wahre und lebendige Glaube an ihn als den Erlöser in den Seelen seiner Jünger aufgehen. Noch viel weniger ist für uns die Kraft seines | Todes zu trennen von der Kraft seines Lebens. Aber es ist nicht nur das Gewissen der Sünde, welches hinweggenommen ist, indem wir mit dem Herrn gekreuzigt und mit ihm auferstanden sind zum neuen Leben, sondern es ist auch die Schuld der Sünde, es ist das Urtheil Gottes über uns, das Verhältniß in welchem uns die Sünde zu dem höchsten Wesen darstellt. Darum sagt der Verfasser unseres Textes: Als die Schrift sagt, Opfer und Brandopfer hast du nicht gewollt, sie gefallen dir nicht, und hinzufügt „von mir aber steht geschrieben in deinem Buche, daß ich gekommen bin zu thun deinen Willen“, da hebt er das Eine auf, der Herr der dies redet und reden ließ, und setzt das Andere ein. Die Schuld der Sünde die besteht darin, daß fleischlich gesinnt sein eine Feindschaft ist wider Gott. Wer aber mit Christo der Sünde und dem Gesetz gestorben ist und erstanden zu einem neuen Leben, der lebt zwar im Fleische, und das kann er und wird er nicht verleugnen sein ganzes irdisches Leben hindurch, aber fleischlich gesinnt ist er nicht mehr, die Feindschaft gegen Gott ist getilgt, und Gott liebt alle | diejenigen, denen sein Sohn, weil sie an seinen Namen glauben, die Macht gegeben hat Kinder Gottes zu werden, die liebt er in dem Geliebtesten. Und wenn unser Verfasser sagt: das ist das neue Testament, welches ich mit ihnen machen will in jenen Tagen, daß ich meinen Willen in ihr Herz gebe und in ihren Sinn schreibe: so ist eben dies die natürliche und einfache Wirkung von unserer Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser: In ihm war die Fülle der Gottheit, und mit dieser erfüllte er den Willen 25 ein] ein“ 6.37–38 Vgl. Kol 2,9 12–13 Vgl. Joh 1,29 23–24 Vgl. Hebr 10,7 26– 27 Vgl. Röm 8,7 31–33 Vgl. Joh 1,12 34–36 Vgl. Hebr 8,10 (nach Jer 31,33)
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seines Vaters auf das vollkommenste, und stellte ihn dar gleich rein in Thaten und Worten wie in Worten und Thaten. Lebt er nun in uns, so ist auch in der Kraft dieses neuen Testaments der Wille Gottes in unser Herz gegeben und in unsern Sinn geschrieben, so ist es sein Geist, der in uns wirkt und aus uns handelt und die herrlichen Früchte des Geistes in unserem Leben offenbart hat, so ist es die Liebe Christi, die in unser Herz gegeben ist, daß wir in ihr alles thun, was in unseren Kräften steht, um die Welt mit Gott zu versöhnen, wie wir selbst mit ihm ver|söhnt sind durch den Geliebten. Und indem so der Mensch mit seinen freilich armen und geringen Kräften – aber sie werden reich und groß durch den, der vermögend ist und mächtig, durch den der uns allein stark machen kann – das Reich Gottes auf Erden baut, so ist die Schuld der Sünde hinweggenommen, so sieht ihn Gott nicht mehr wie er in sich selbst war und geblieben sein würde, sondern nur in dem Geliebten und wie er durch ihn geworden ist, in welchem er mit ihm versöhnt ist. Und so dürfen wir das verbinden mit diesem neuen Testament, daß wie der Wille Gottes in unser Herz gegeben und in unseren Sinn geschrieben ist, so auch er unserer Ungerechtigkeit und unserer Sünde nicht mehr gedenkt, sondern nur auf das neue Leben sieht, welches wir führen in seinem Sohne. Und darum, m. g. F., ist das der eigentliche Sinn des Verfassers unseres Textes, der Tod Christi ist ein Opfer, welches er dargebracht hat für die Sünde, weil er der Gipfel ist seines Gehorsams, eines Gehorsams bis zum Tode und bis zum Tode am Kreuz. Der Gehorsam des Erlösers und das Opfer, welches er dargebracht hat, beides ist nicht verschieden, | sondern es ist eins und dasselbige. Aber alles Unvollkommene im Gottesdienste, alles äußerlichen Wesens, aller Opfer und leeren Gebräuche Ende und letztes Ende ist der heilige Tod des Erlösers. Indem wir in ihm die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, das himmlische Licht und an ihm die Gewalt, zu der sich die Sünde erhoben hatte in ihrer Feindschaft gegen Gott, indem wir beides in ihm erblicken, so ist eben dadurch das Alte vergangen und für uns alle, die wir dem Unvollkommnen mit ihm gestorben sind, ein neues gemeinsames Leben der Heiligkeit und Gerechtigkeit aufgegangen, und mit Recht nennen wir also seinen Tod das Einzige Opfer für die Sünde, und preisen Gott mit dem Verfasser unseres Textes, daß mit Einem Opfer der Herr vollendet hat alle diejenigen, die da geheiligt werden. Ja, m. g. F, die welche geheiligt werden, die welche in dem Leben, das der Erlöser in ihnen entzündet hat, bleiben und wachsen und gedeihen, die welche sich auch in der That und 8 mit ihm] Ergänzung aus FHDS 34, 101/2, Bl. 15r; SAr 109, Bl. 7v 16–18 Vgl. Jer 31,33; Hebr 8,10
23–24 Vgl. Phil 2,8
28–31 Vgl. Joh 1,14
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Wahrheit immer mehr los sagen von allem Antheil an der Sünde und | an dem Gesetz, die welche sich selbst immer mehr erbauen zu einem Tempel, in welchem der Geist des Herrn wohnen und walten kann, die sich selbst immer mehr gestalten zu lebendigen Gliedern an dem Leibe, den er als das Haupt von oben herab regiert, diese alle die geheiligt werden, die sind einmal vollendet durch das Opfer, welches er dargebracht hat, auf ewig sind sie vollendet eben dazu, daß sie nun können geheiligt werden, das Gewissen der Sünde und die Schuld der Sünde ist von ihnen hinweggenommen, das neue Leben ist in ihnen gegründet, und so wie es nun der Gemeinschaft mit dem Erlöser angehört, so kann es nicht anders als sich immer weiter ausbreiten und immer kräftiger wirken nach innen und nach außen. So ist denn nun, wie der Apostel Paulus sagt, nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, und wir können Gott danken, der uns von diesem Leibe des Todes gerettet hat und uns den Sieg gegeben durch unseren Herrn Jesum Christum. Seinem Opfer, welches er Einmal für die Sünde dargebracht hat, verdanken wir es, daß das Gewissen der Sünde von uns hinweggenommen ist, verdanken wir es, daß wir nun nicht mehr in der Gemeinschaft mit der Sünde | die ihn gekreuzigt hat, leben können, sondern in der herrlichen und seligen Gemeinschaft mit ihm. Was also, m. g. F., könnten wir anders als tief gerührte und dankbare Herzen darbringen bei dem Gedächtniß des Todes Jesu, wie könnten wir anders als, indem wir das Opfer, welches ewiglich gilt, betrachten, uns selbst immer mehr begeben zu einem Opfer, das da sei lebendig und heilig und Gott wohlgefällig, wie könnten wir anders als in diesem ewigen und unauslöschlichen Gedächtniß der Sünde immer tiefer erschrecken vor alle dem, was Feindschaft wider Gott ist und dem Willen Gottes widerstrebt, wie aber auch anders als uns immer mehr kleiden in die Liebe dessen, der für uns alle das Leben hingegeben hat eben da wir noch Sünder und Feinde waren, um auch mit gleicher Liebe diejenigen zu umfassen, die uns noch seine Feinde zu sein scheinen und noch nicht ergriffen von seinem Heil, und so wie er die Mühseligen und Beladenen zu ihm rufen, wo sie Erquickung und Ruhe finden können für ihre Seelen, und alle die sich | mühen an äußeren Gesetzen und äußern Gebräuchen hinzuweisen auf das Eine ewige Opfer als den Grund der Seligkeit aller Menschen, und sie einzuladen, daß sie auch eingehen sollen in die lebendige Gemeinschaft mit dem, der allein Le17–18 das Gewissen ... verdanken wir es, daß] Ergänzung aus FHDS 34, 101/2, Bl. 17v; SAr 109, Bl. 8r 12–16 Vgl. Röm 7,24–8,1; 1Kor 15,57 Mt 11,28–29
24–25 Vgl. Röm 12,1
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ben bringen konnte, und der uns allen geworden ist weil zur Erlösung darum auch zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung. Amen.
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Gebet. Ja, barmherziger Gott und Vater, der Du Dich nicht weggewendet hast von der sündigen Welt, sondern nach Deiner ewigen Liebe Alles beschlossen unter die Sünde, auf daß Du Dich Aller erbarmtest, ja Preis und Dank sei Dir, daß Du Dich unserer erbarmt hast in Deinem Sohne und uns durch ihn mit Dir selbst versöhnt, und uns den Weg geöffnet zu der seligen Gemeinschaft mit Dir, deren wir uns in ihm erfreuen. O walte Du ferner über dem Reiche Deines Sohnes auf Erden, daß er noch Viele erlange zum | Lohne seines Leidens und seines Todes, daß derer immer mehrere werden, die in ihm das Leben und die Seligkeit finden, und gründe alle, die schon zu der heilsamen Erkenntniß Christi gekommen sind, immer fester in dem heiligen Bunde des Glaubens und der Liebe, damit das Wort immer mehr wahr werde, daß wir mit ihm abgestorben sind der Sünde und dem äußern Gesetz, und sich immer herrlicher in uns offenbare das Leben aus Gott, welches er allein geben konnte. Um diese Früchte seines Todes flehen wir Dich an in kindlicher Demuth, Du wollest sie immer mehr erweisen auf Erden, damit sein Ruhm immer herrlicher werde, und der Name den Du ihm gegeben hast, der über alle Namen geht, immer mehrere bereite zur Seligkeit, und damit alle ihre Knie beugen vor ihm um von ihm zu nehmen, was Deine väterliche Liebe und Barmherzigkeit durch ihn bewirkt hat. Amen.
[Liederblatt vom 16. April 1824:] Am Charfreitage 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Christus der ist mein etc. [1.] Die Sonne stand verfinstert, / Der Mittag ward zu Nacht; / Nun hat er überwunden / Und spricht: Es ist vollbracht. // [2.] Des Tempels Gründe wankten, / Der Vorhang riß entzwei; / So ward der Welt verkündet, / Der Zugang sei nun frei. // [3.] Denn Er ist durchgedrungen / Für uns zu Gottes Thron, / Der ew’ge Hohepriester, / Des Allerhöchsten Sohn. // [4.] Kein Opfer 1–2 Vgl. 1Kor 1,30
6–8 Vgl. Röm 11,32
22–24 Vgl. Phil 2,9–10
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mehr darf bluten, / Der Frieden ist gemacht, / Und aller Welt Erlösung / Durch seinen Tod vollbracht. // [5.] O du, der mich versöhnte / Dem Richter aller Welt, / Du hast das Heil der Sünder / Auf ewig hergestellt. // [6.] Nun wohnt in sichrer Ruhe / Das gläubige Geschlecht; / Dein Volk regierst du herrlich / Nach deinem heilgen Recht. // [7.] Einst führest Du die Deinen / In deines Vaters Reich, / Und machst an Ehr und Würde / Sie seinen Engeln gleich. // [8.] Den Tod darf ich nicht fürchten, / Der mich von dannen rafft; / Er ist schon überwunden, / Durch deines Todes Kraft. // [9.] Durch ihn komm’ ich zum Ziele, / Vollbracht ist dann mein Lauf, / Dann nimmt in seine Hände / Auch mich der Vater auf. // Nach dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Gekreuzigter! mein Herz begehrt / Mit dir im Glauben eins zu werden; / Und deines Todes Kraft und Werth / Ist mein Verlangen hier auf Erden. / Drum seufz’ ich und flehe, dies eine allein, / Mit dir, o mein Jesu, gekreuzigt zu sein. // [2.] O daß um deinen Kreuzestod, / So fest mein Herz sich möge schlingen, / Daß ich nun dein Verdienst vor Gott / Auch als mein eignes könnte bringen! / Drum seufz’ ich und flehe, dies eine allein, / Mit dir, o mein Jesu, gekreuzigt zu sein. // [3.] O daß ich dem Geseze doch / Ganz abzusterben möchte trachten, / Und seinem allzuschweren Joch / Mich ganz entfremdet möchte achten. / Drum seufz’ ich und flehe, dies eine allein, / Mit dir, o mein Jesu, gekreuzigt zu sein. // [4.] O daß ich doch mit dir die Welt / Möcht’ als ein Sterbender verlassen, / Und was derselben wohlgefällt, / Als todtes Wesen gänzlich hassen. / Drum seufz’ ich und flehe, dies eine allein, / Mit dir, o mein Jesu, gekreuzigt zu sein. // [5.] O daß der alte Mensch mit dir / Ans Kreuz sich ließ auf immer schlagen, / Und mit den irdschen Lüsten hier / Mich fürder nicht mehr dürfte plagen! / Drum seufz’ ich und flehe, dies eine allein, / Mit dir, o mein Jesu, gekreuzigt zu sein. // [6.] Ja laß mich, Herr, an deinem Tod / Die völlige Gemeinschaft finden, / Und so durch dich der Sünde Noth, / Und des Gesezes überwinden! / Erhöre mein Flehen, und laß mich allein / Mit dir, o mein Jesu, gekreuziget sein. // (Freilingsh. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. O wir armen Sünder. Christus ist gekommen, / Hier in diese Welt, / Uns zu Nuz und Frommen, / Und zum Lösegeld; / Stirbt für unsre Sünden, / Daß wir in ihm allein / Rettung sollen finden, / Ewig bei ihm sein. / Herr erbarm dich unser! / Herr erbarme dich, / Herr erbarm dich unser! // Nach der Predigt. – Mel. Jesu meiner Seele etc. Auf dich sez ich mein Vertrauen, / Du bist meine Zuversicht, / Du vertreibst des Todes Grauen, / Daß er mich erschrecke nicht; / Daß ich an dir habe Theil, / Bringet mir Trost, Schuz und Heil; / Deine Gnade wird mir geben, / Auferstehung, Licht und Leben. //
Am 18. April 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Ostersonntag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,1–3 Nachschrift; SAr 86, Bl. 148r–164v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 197r–208r; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 166r–167v; Gemberg Keine
Predigt am ersten Ostertage 1824. | Preis und Ehre sei Gott, dem Auferweker von den Todten, und dem welchem er den Sieg gegeben hat, unserem Herrn Jesu Khristo.
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Tex t. Lucä XXIV, 1–3. Aber an der Sabbather einem sehr früh kamen sie zum Grabe, und trugen die Specerei, die sie bereitet hatten, und Etliche mit ihnen. Sie fanden aber den Stein abgewälzt von dem Grabe, und gingen hinein, und fanden den Leib des Herrn Jesu nicht. M. a. F., Diese Worte enthalten die frohe Kunde von der Auferstehung unseres Herrn unmittelbar nicht, sondern, wie alle Anfänge dieser Erzählung in unseren Evangelien nur dies, daß sie das Grab leer fanden, das erste be|sondere Zeichen, welches in Einigen bald zu dem frohen Glauben aufging, in Andern aber Bedenklichkeiten und Zweifel hervorbrachte. Es führen uns aber doch diese Worte in die Zeit hinein, wo der Herr das Grab schon verlassen hatte, und also in der That schon auferstanden war, aber er war noch nicht erschienen. Und bei dieser ersten Morgenstunde der Auferstehung des Herrn laßt uns jezt mit einander verweilen, immer dessen eingedenk, daß ein genauer Zusammenhang von der Schrift selbst angedeutet stattfindet zwischen der Auferstehung des Herrn von den Todten, und unserer eigenen Erstehung zu dem neuen Leben aus Gott.
18–21 Vgl. z.B. Röm 6,3–5
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I. Zuerst es war noch sehr früh, oder | wie ein anderer Evangelist sagt als es noch finster war, da kamen die Frauen zum Grabe um den Leichnam des Herrn durch Specerei gegen die Verwesung zu schützen, und schon fanden sie den Stein abgewälzt und das Grab leer. Wie schön wäre es gewesen, so könnte man wohl auf der einen Seite denken, wenn sie den Herrn noch im Grabe gefunden hätten, wenn in der Absicht kommend um den Todten gegen die Verwesung zu schüzen, sie selbst die ersten Zeichen der zurükkehrenden Seele wahr genommen hätten, den ersten Anfang des neuen Lebens des Herrn mit eigenen Augen gesehen, um sogleich dessen Zeugen zu sein. So sollte es aber nicht sein; keinem war dieses Glük beschieden, keiner sollte sich unter | allen, die an den Herrn glaubten und auf ihn gehofft hatten, keiner sollte sich so vor allen Andern unterscheiden, und eines solchen Vorzugs genießen ein eigentlicher Zeuge von der Auferstehung des Herrn selbst zu sein; sondern alle waren sie nur und sollten nur sein die Zeugen des Erstandenen. Größer freilich, so könnte man denken, größer wäre die Gewißheit gewesen, manche Fragen, die wir uns nicht zweifelnd aber mit einer mehr neugierigen als heilsamen Wißbegierde aufwerfen über die Veränderung vom Tode zum Leben, die mit dem Herrn vorgegangen ist, manche solcher Fragen, so scheint es, könnte beantwortet werden, uns allen könnte eine anschaulichere sinnliche und eben deswegen le|bendigere Ueberzeugung gegeben werden von der ganzen Thatsache, wenn Gott es zugelassen hätte, daß der erste Anfang des neuen Lebens des Herrn von menschlichen Augen wäre gesehen worden. Aber, m. g. F., laßt uns eben noch weiter gehen und fragen, wenn wir das wünschen dürfen, ob es denn wohl möglich gewesen sei, und wir werden nicht anders antworten können als Nein. Nicht von außen sondern von innen her, durch die Kraft der Gottheit, die in ihm wohnte, durch unsichtbare Einwirkung des allmächtigen Vaters, so nur konnte der Herr aus dem Tode wieder in das Leben zurükkehren. Die ersten Anfänge des Lebens eben weil sie rein innerlich waren, hätte doch keiner sehen und belauschen können, und | Niemand den Augenblik festhalten, wo der Tod sich wieder in das Leben verwandelte. Aller Anfang des Lebens ist menschlichen Augen verschlossen, wir sehen es niemals eher, bis es erscheint und sich in seiner äußern That zeigt. Und darum mögen wir uns damit zufrieden geben, daß die Auferstehung des Herrn selbst ein geheimnißvoller Augenblik war und blieb, von keinem menschlichen Auge [gesehen, von keinem menschlichen Ohr] belauscht, und von allen den Zeugen des Herrn ist keiner, der uns eine Rechenschaft davon geben könnte, wie es begann 2–3 Vgl. Joh 20,1
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und wie es vollendet wurde. Daraus müssen wir nun auch schließen, daß entweder die Jünger des Herrn selbst zu sehr durchdrungen von dem Tiefen und Ehrfurchtwürdigen, nicht bei | dem Herrn nachgeforscht und sich von ihm selbst haben eine bestimmte Erzählung geben lassen, wie das Leben in ihm den Tod besiegt habe, oder daß wie wir auch in andern Fällen finden, der Herr ihre neugierigen Fragen abgewiesen und von ihnen verlangt, sich dessen zu bescheiden, was eben menschlichen Augen unerreichbar und menschlichem Verstande unerforschlich wäre. Eben so ist es nun, m. g. F., mit dem neuen Leben aus Gott, mit dem Zuruf des Allmächtigen: Erwache, und stehe auf, der du todt bist in deinen Sünden. Auch diesen vernehmen wir eben so wenig wie den göttlichen Allmachtsruf, der den schlafenden Erlöser wieder in das menschliche Leben zurükrief. Wir er|kennen das neue Leben nicht eher bis es erscheint, wie die Jünger nicht eher wahrhaft wußten, daß der Herr erstanden sei, als bis er sich ihnen selbst zeigte, und sich ihnen zu erkennen gab als ein ihnen wieder ganz gleichartiges Wesen. Das ist es was auch der Herr selbst sagt, wenn er mit dem Nikodemus von der neuen Geburt aus dem Geist redet. Ihr vernehmet, sagt er, das Wehen und Brausen des Windes wohl, woher es aber kommt wißt ihr nicht. So auch wir, m. g. F., wir haben ein Vermögen das neue Leben wahr zu nehmen, das Wehen und Brausen des Geistes in der menschlichen Seele, das vermag sich uns zu offenbaren, wir vermögen es zu erkennen, sonst | könnte es ja keine Gemeinschaft der Gläubigen geben, sonst könnte jeder immer wieder, wie die Jünger in dem ersten Augenblik als sie den Herrn sahen nicht wußten, ob er es selbst sei oder ein Geist; so auch würden wir zweifelhaft sein, ob es ein wahrhaft göttliches Leben sei, was sich in dem Menschen offenbart, oder ob nur ein vorübergehender und flüchtiger Schein, wenn wir dieses Vermögen nicht hätten. Das ist das vereinigende Wesen des Glaubens und der Liebe, durch welches wir zu schauen vermögen wo der Geist Gottes sich in dem Menschen regt, wahrzunehmen was aus der lebendigen Gemeinschaft mit Gott und dem Erlöser in der menschlichen Seele sich erzeugt und zu unterscheiden das aus dem Geist | Geborne von demjenigen, was aus Fleisch geboren auch nur Fleisch ist. Aber eben um uns den Glauben zu erhalten, eben um in der Liebe nicht irre zu werden, so laßt uns festhalten jenen Zusammenhang, den uns die 10 es] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 199v schaffenden 36 uns] uns, 17–21 Vgl. Joh 3,8 Röm 6,3–5
13 schlafenden] so SAr 105, Bl. 199v; Textzeuge:
25–27 Vgl. Lk 24,37
34–35 Vgl. Joh 3,6
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Schrift so oft darstellt zwischen dem Leiden und der Auferstehung des Herrn und zwischen unserem eigenen geistigen Tode und unserer Erwekung zum neuen Leben. Wie keiner den Anfang des neuen Lebens Khristi vernehmen konnte und sollte, so auch wir nicht den verborgenen Anfang des geistigen Lebens in dem Menschen, so auch wir nicht den eigentlichen Augenblik der Geburt des Menschen von oben her zu dem neuen Leben. Wie der Erlöser selbst entweder nicht gefragt wurde | oder die Frage nicht beantwortet hat, so sollen auch wir sowohl selbst bescheiden nicht danach forschen um das erkennen zu wollen, dessen Erkenntniß uns von Gott selbst gewehrt ist und untersagt, als auch von keinem begehren, daß er im Stande sein solle sich Rechenschaft zu geben von den ersten Anfängen des göttlichen Lebens. Denn es ist ein verborgenes Werk Gottes, welches in der tiefsten geheimnißvollsten Stille des Gemüths vollbracht wird, und dem Menschen selbst nicht eher bekannt wird, als bis es anfängt in seinem eigenen Bewußtsein zu erscheinen und sich merken zu lassen. Auch lehrt dies, m. g. F., die Erfahrung hinlänglich, daß wenn wir diese Grenzen über|schreiten, wir entweder im Glauben irre werden und in Gefahr stehen Schiffbruch an ihm zu leiden, oder auf der andern Seite in der Liebe gestört und wankend gemacht. Im Glauben nämlich kann freilich der Mensch gar leicht irre werden, wenn er darauf besteht den ersten Anfang des neuen Lebens in sich und in Andern zu erkennen, wenn er sich und Andere damit quält und müht, daß sie sollen anzugeben wissen den ersten Augenblik ihres neuen Lebens aus Gott[,] die Stunde der Wiedergeburt. Das, m. g. F., ist dem Menschen versagt, und strebt er darnach, so giebt er sich selbst in eine Gefahr, in welcher er leicht untergehen kann. Denn haben wir das festgestellt bei uns, und finden dann doch daß unsere Mühe ver|geblich ist, daß es Zeiten giebt von denen wir zweifelhaft sind, gehören sie schon zu dem neuen Leben oder nicht, Augenblike von denen wir sagen dürfen, ja da leuchtete deiner Seele zuerst das göttliche Licht, und dann doch finden wie sie in der Folge wieder verdunkelt sind, so daß wir uns selbst nicht getrauen können zu behaupten, es wäre die Kraft des göttlichen Lichtes gewesen, sondern fürchten müssen, es könnte eben so gut ein fremder Schein, ein Abglanz von einem fremden Lichte her gewesen sein, in diesem Unglauben könnten wir leicht uns verirren und müssen uns warnen lassen von dem Herrn, wie er seinen zwar wohlmeinenden aber ungläubigen Jünger warnt, indem er sagt: „selig | sind die nicht sehen und doch glauben.“ Sehen können wir nun einmal den ersten Anfang alles eigentlichen also auch des göttlichen Lebens nicht, und der erste Augenblik desselben zieht sich in das Dunkel einer unbegreiflichen 38–39 Joh 20,29
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Schöpfung zurück, wohin kein menschliches Auge fällt, glauben aber sollen wir. Aber woran weiset uns der Herr mit dem Glauben in dieser Beziehung? Ach er sagt es ja deutlich, „an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, und daran soll sich denn unser Glaube befestigen. Wenn wir sehen, daß durch die Gnade Gottes in uns und in Andern Werke geschehen, die aus Gott gethan sind, wenn wir sehen die Kraft des neuen Lebens wirken und den Menschen von innen heraus immer mehr rei|nigen und heiligen, dann sollen wir an den Früchten erkennen die Art und die Natur des innern Lebens, dann sollen wir an den Früchten des Geistes den Geist erkennen, an der Wirksamkeit der Liebe den Glauben erkennen, und nicht mehr zweifeln, eben so wenig zweifeln wie Thomas noch zweifelte als er seine Hände legte in die Seite des Herrn und seine Finger in seine Nägelmaale. So wenig, m. g. F., wir uns das als wahrscheinlich vorstellen können, daß der Herr eben so gut wie Morgens in der Frühe vor Aufgang der Sonne auch hätte auferstehen können am hellen Mittage, und nach gewohnter Weise auf den Straßen umher wandeln vor allem Volk, so wenig wir | uns das als wahrscheinlich vorstellen können, sondern es natürlich finden, daß seine Auferstehung das Werk von dem ersten Anbruch des Tages war und neu beginnen sollte, eben so wenig können wir verlangen, daß der Augenblik der Wiedergeburt zu dem neuen Leben aus Gott gleichsam ein Werk des hellen Mittags sein soll, welches vor sich gehe vor aller Menschen Augen, so daß das Innere auf diese Weise an dem äußern Lichte sich zeige. Laßt uns also, m. g. F., diesem Vorwiz absagen und Forderungen, die der Herr selbst versagt hat, nicht immer wieder aufs neue anstellen, damit nicht der Glaube selbst in uns wankend werde und irre, aber gewiß eben so sehr, damit wir | nicht auf der andern Seite an der Liebe leiden, wie es aus demselben Grunde so oft zu geschehen pflegt, und eine leider nur zu häufige Erfahrung es uns lehrt. Es hat von jeher nicht wenige unter den Khristen gegeben, welche geglaubt haben den Anfang ihres neuen Lebens selbst belauscht und beobachtet zu haben, und den eigentlichen ersten Augenblik desselben angeben zu können. Absichtlich und wohlbedacht sage ich, sie haben es nur geglaubt, denn das kann nur eine Sache des Glaubens sein und nicht die Sache des Wissens, ja auch nicht eines solchen Glaubens, der sich Andern mittheilen und auf Andere verpflanzen läßt, auch nicht eines solchen Glaubens, in welchem jemand fest stehen | könnte. Denn wenn ein Anderer die Entstehung desselben wüßte, und in den ganzen Zusammenhang desselben mit allen übrigen Bewegungen der Seele eingedrungen wäre, wie jener sie selbst zu wissen meint, so sollte es ihm ja doch leicht sein den Andern wankend zu machen in der 3–4 Mt 7,16.20
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Ueberzeugung als ob grade dieser oder jener Augenblik der erste Anfang seines neuen Lebens gewesen wäre. Je mehr sie sich aber in diesem Wahn fest setzen, desto mehr verlangen sie das Gleiche von Andern, und wenn sie dies nicht leisten können, dann sind sie bereit von ihnen zu behaupten, sie wandelten nicht in dem neuen Leben, weil sie den Anfang desselben nicht angeben können, und ihn | durch etwas in der Erfahrung Gegebenes und mit den Sinnen Festzuhaltendes zu bezeichnen nicht im Stande sind. O möchten sie doch bedenken, daß bei aller sonst geschichtlichen Treue, mit welcher die Evangelisten von der Auferstehung des Herrn reden, wir doch keine Erzählung haben von dem Anfang des neuen Lebens, zu welchem er durch die göttliche Allmacht erhoben wurde, sondern auch seinen nächsten und vertrautesten Jüngern war es und blieb es ein Geheimniß, wie dieses neue Leben in ihm sich entwikelt hat; denn hätten sie es gewußt, so hätten sie es uns auch mitgetheilt, weil ihr gutes Gewissen darauf beruhte den Khristen nichts zu verhalten von demjenigen, was | sie selbst ergriffen hatten von dem Worte des Lebens. So sollen wir also die Liebe zu Andern als unseren Brüdern und Genossen in dem neuen Leben nicht an etwas binden wollen, dessen wir auch so wenig sicher sind für uns selbst, weil wir auch für uns und jeder über sich selbst nichts als unbestimmte Vermuthungen haben, und sollen uns dessen bescheiden, daß eben deswegen der Wandel in dem lebendigen Glauben ein neues Leben heißt, und dargestellt wird als auf einer neuen Geburt beruhend, weil er auch darin dem irdischen und dem natürlichen Leben ähnlich ist, daß der erste Anfang desselben verborgen ist nicht nur Andern, sondern am meisten denen, in | welchen das Leben entsteht. II. Zweitens aber liegt uns natürlich die Frage sehr nahe, so frühe vor dem Anbruch des Tages, vielleicht noch in der Mitte und in dem Dunkel der Nacht ist der Herr erstanden und hat sein Grab verlassen, was er gemacht bis dahin, wo ihm zuerst gegeben Einzelnen unter seinen Geliebten zu erscheinen? Diese Frage ist natürlich und liegt uns nahe, aber sie ist eine größere als sie auf den ersten Anblik erscheint. Vierzig Tage hat sich der Herr sehen lassen unter seinen Jüngern, hat mit ihnen gegessen und getrunken und geredet von dem Reiche Gottes, aber es waren immer nur einzelne Stunden, wo er ihnen erschien und | mit ihnen wandelte. Was hat er in der übrigen Zeit gemacht, wie hat er gelebt, wo hat er sich aufgehalten in der übrigen Zeit? dies und jenes 3 desto] so SAr 105, Bl. 203r; Textzeuge: daß 15–17 Vgl. Apg 20,26–27
33–35 Vgl. Apg 1,3
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ist offenbar ganz Eins und dasselbige. Die Frage können wir aufwerfen, aber haben wir etwas um sie zu beantworten? Nur das wissen wir, daß das Leben des Herrn nach seiner Auferstehung wieder ein wahrhaft menschliches Leben gewesen ist, er hat geredet mit menschlicher Zunge, er hat dieselbe menschliche Gestalt an sich getragen, er hat sogar gegessen und getrunken wie in den Tagen seines Fleisches also ein wahrhaft menschliches Leben ist es gewesen, und nicht nur daß er von der Höhe des Himmels herab, als ob er dort schon zur Rechten Gottes gesessen hätte, auf einzelne | Augenblike seinen Jüngern erschien, wie er später sich zeigte als er seinen großen Apostel aus dem Tode in das Leben rufen wollte; sondern ein menschliches Leben ist es gewesen, aber doch ist der größte Theil desselben verborgen, und wir vermögen nicht zu sagen was er in demselben gethan. Sein Leben war ein wahrhaft menschliches, aber weil er sich zurükzog von der Welt, die keinen Theil mehr an ihm hatte, so war es auf der andern Seite doch schon ein über die Welt erhabenes Leben, und was er nicht that in der Gemeinschaft mit seinen Jüngern, das hat er wenn gleich noch nicht aufgefahren zu seinem und unserem Vater, doch nur gelebt in der Gemeinschaft mit Gott, schon da eben so seine Gemeine vertretend, für sie bittend | bei dem Vater, wie er es seit seiner Himmelfahrt gethan hat. Weiter, m. g. F., können wir uns die Frage nicht beantworten. Daß die wenigen Stunden, die er mit seinen Jüngern gelebt hat, doch hinreichten um den Zwek seiner Auferstehung an ihnen zu erfüllen, um ihnen die Schrift zu öffnen, um ihren Glauben zu erneuern und zu befestigen, um sie hinzuweisen und vorzubereiten auf die Zeit wo sie würden ausgerüstet werden mit Kraft aus der Höhe, das müssen wir glauben sonst würde der Herr eine größere Zeit dazu verwendet haben. Daß er deswegen um dies auszurichten keine längere Zeit auf Erden zu leben brauchte, das müssen wir eben deswegen glauben weil es geschehen ist; denn alles was geschieht ist der Wille Gottes, | und der Wille Gottes ist immer und überall das Beste. Auch hievon, m. g. F., können und müssen wir die Anwendung machen auf unser neues Leben aus Gott. Wir haben vorher gesehen, daß wir es in uns selbst und in Andern erkennen können an den Früchten, die es trägt, nur daß jeder in der Stille seines Herzens geheime und verborgene Früchte trägt, die nichts anderes sind als eine Frucht des Gedankens und des Gefühls, die Andern nicht erscheinen, nur daß sie die Werke sehen, welche daraus hervorgehen; aber dennoch sind das schon Früchte, an denen wir das neue Leben erkennen. Und wir 12 aber] so SAr 105, Bl. 204v; Textzeuge: eben 10–11 Vgl. Apg 9,3–6; 22,6–10; 26,13–18
19 so] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 205r
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vermögen es nicht zu leugnen, nicht nur sind es nur einzelne Stunden, in welchen wir die Früchte | des Lebens in Andern schauen, sondern wir selbst sind uns desselben nicht in allen Augenbliken unseres irdischen Lebens auf gleiche Weise bewußt. Wie ist es in der Zwischenzeit? Auch wir vermögen uns mit voller Sicherheit des Glaubens an das Bild zu halten, welches uns von unserem neuen Leben dargestellt ist in der Auferstehung des Herrn. Sein Leben in diesen Tagen war ein wahrhaft zusammenhängendes menschliches Leben, und nicht waren es nur einzelne flüchtige vorübergehende Erscheinungen. So auch wir m. g. F., mögen es mit vollem Vertrauen des Glaubens sagen, das Leben aus Gott in uns ist wahrhaft ein vollkommnes in sich zusammenhängendes Leben, es scheint nicht nur | in einzelnen Augenbliken unseres irdischen Lebens hervor und ist in der übrigen Zeit todt und verschwunden, und der Geist Gottes ist er einmal in die Seele des Menschen gekommen, so hat er seinen Wohnsiz da, so ist seine Wirksamkeit darin eine beständige und ununterbrochene, das Leben desselben so zusammenhängend wie das irdische und leibliche selbst es ist. Aber was ist es denn wenn wir es nicht wahrnehmen? was ist es in den oft kürzeren oft längeren Zwischenräumen, wo wir selbst die innere Frucht desselben nicht schauen? Es ist, m. g. F., wie das Leben des Erlösers ein stilles Leben in Gott, es ist ein Ruhen des göttlichen Geistes in der Seele, nicht ein unthätiges Ruhen, sondern überall ein be|wahrendes, ein vorbereitendes, ein Walten desselben, aber so daß bis zu unserem niemals das Innerste selbst durchdringenden Bewußtsein es nicht gelangt, es ist dies, daß der Geist uns vertritt mit unausgesprochenen Seufzern, daß er in der That unser Leben durchdringt und alle Bewegungen desselben leitet, aber uns selbst unbemerkbar. Es ist da und lebt und wirkt und waltet in uns, aber unsichtbar und unbekannt, und nur wenn es einen Widerstand zu besiegen hat gegen das Fleisch, oder wenn es herausbricht aus dem Innern um etwas Wirkliches zu vollbringen, dann erscheint es, und tritt in unser so wie in Anderer Bewußtsein des Lebens; es ist aber ein | wahrhaft lebendiges und in sich selbst zusammenhängendes Ganze, es ist kein nur dann und wann, nur hie und da sich gestaltendes und wirkendes Leben, sondern eine fortlaufende Reihe der tiefsten und innersten Bewegungen der Seele; und wie es eben nichts anderes sein kann, so ist auch der Glaube an dasselbe nichts anderes, als daß wir den ganzen Zusammenhang, die innere Einheit unseres geistigen Lebens selbst ergriffen haben. Aber wie die Jünger immer froh wurden, wenn sie den Herrn sahen, so freuen wir 12 scheint] so SAr 105, Bl. 206r; Textzeuge: erscheint 25 Vgl. Röm 8,26
38–39 Vgl. Joh 20,20
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uns auch über jede merkliche Erscheinung desselben, um den Glauben daran festzuhalten, um die Ueberzeugung davon wieder zu stärken, und indem wir den einen schon | verschwundenen Augenblik desselben mit dem andern vergleichen, zu wachsen in der Heiligung, und indem die Kraft desselben uns immer mehr durchdringt, auch immer stärker zu werden in der göttlichen Gnade, die uns immer näher bringt der Vollendung, von welcher wir hier schon ahnden, daß auch die größte Herrlichkeit der Kinder Gottes an uns kann offenbart werden. So laßt uns denn dieses unmittelbare göttliche Leben nicht verschmähen, sondern es aus der Hand des Herrn nehmen und es fest halten im Glauben und in der Liebe, wissend, daß so gewiß es eine Geburt aus Gott ist, so gewiß der Geist Gottes es ist der es schafft, eben so gewiß es keinen Theil haben kann | an dem Tode, sondern unmittelbar in der Stille des Gemüths sich selbst gleich ununterbrochen doch das Zeugniß des Geistes für uns abgelegt wird, und wenn wir es auch nicht wahrnehmen, der Geist unmittelbar aus uns ruft zum Himmel, zu dem lieben Vater, und uns selbst vertritt wenn auch mit unausgesprochenen Seufzern, wenn auch auf eine Weise, die uns selbst nicht zum Bewußtsein kommt. Nur etwas, m. g. F., giebt es für uns, wovon wir in den Tagen der Auferstehung des Herrn keine Ähnlichkeit finden. Es wird nämlich in uns noch auf eine besondere Weise das Bewußtsein des neuen Lebens gewekt durch die Sünde und alles was mit ihr in Verbindung steht. Ja | wenn wir diese mit dem Auge des Geistes in unserem Innern auffassen, wenn sie sich uns nicht verbirgt, wenn sie gleich in uns zum Schmerz und zur Reue und zu Thränen wird, wenn gleich jede Regung des Fleisches die Kraft des Geistes auffordert um es zu besiegen, daran erkennen wir, wenn es sonst keine seligern Früchte zu tragen giebt, immer das Leben aus Gott in unserem Innern. Und so ketten sich die Augenblike desselben immer näher an einander. Je weniger es von der einen Art zu thun giebt, je weniger die Sünde zu überwinden ist, desto mehr schärft sich das Auge des Geistes für das große Werk des Herrn, desto stärker wird die Kraft um Früchte hervor|zubringen zum ewigen Leben, und zu sehen wo es Früchte zu tragen giebt für den Herrn und für sein Reich. So lange wir aber auf Erden leben, werden wir diesem für uns so leicht unterbrochenen Zustand des Innern eben so wenig entgehen können, wie das Leben des Herrn in den Tagen seiner Auferstehung sich anders gestalten konnte und sollte, als es sich gestaltet hat. Wenn wir aber Glaube und Liebe festhalten, so wird sich auch die Gewißheit des höheren Lebens immer mehr in uns 37–38 gestalten konnte und sollte, als es sich] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 208r 13–18 Vgl. Röm 8,15–16.26
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befestigen, und wir werden hier schon im Glauben die sichere Ahndung bekommen des ewigen Lebens, zu welchem wir übergehen sollen durch die Gnade dessen, der uns aus dem Tode an das Licht gebracht und zu dem seligen Genuß des neuen Lebens gehört hat. Amen.
4–5 seligen ... Amen.] Der letzte Satzteil ist nur als Ergänzung von Schleiermachers Hand erhalten. Den originalen Schluss, auf dessen Rückseite sich das Titelblatt der nächsten Predigt befand, hatte er zusammen mit jener zwecks Publikation im Festmagazin an die Setzerei gegeben. 4 gehört] anders SAr 105, Bl. 208r: geführt
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Besonderheiten:
Ostermontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,30–32 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 105, Bl. 208v–221r; Andrae Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Fünfte Sammlung, 1826, S. 314–342 (vgl. KGA III/2); die Edition geht auf eine von Schleiermacher sehr stark bearbeitete Textzeugenparallele zurück. Wiederabdrucke: SW II/2, 1834; 21843, S. 187–203 – Predigten. Fünfte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 234–255 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 147–161 – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 148–165 Nachschrift; SAr 109, Bl. 9r–12v; Andrae, in: Sobbe Nachschrift; SAr 52, Bl. 167v–168v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am zweiten Ostertage 1824 |
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Tex t. Lukas XXIV, 30–32 Und es geschahe da er mit ihnen zu Tische saß, nahm er das Brot, dankte, brach es und gab es ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet und erkannten ihn, und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen unter einander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege, als er uns die Schrift öffnete? M. a. F. Die eben gelesenen Worte sind die Entwicklung jener schönen Geschichte, die dem heutigen Tage auf eine vorzügliche Weise angehört. Wir lesen in mehreren Erzählungen aus den Tagen der Auferstehung unseres Herrn, daß er seinen Jüngern in dieser Zeit vornehmlich die Schrift eröffnet habe und ihnen aus der Schrift gezeigt, daß Christus mußte leiden um in seine Herrlichkeit einzugehen. Eben dies finden wir auch hier, indem die beiden Jünger als sie den Herrn erkannt hatten, sich dessen erinnerten, was er auf dem Wege mit ihnen geredet, und wie ihnen dabei zu Muthe gewesen war. Wir sehen hier auf der 16 wie] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 9r 11–13 Vgl. Lk 24,25–27
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einen Seite den besondern Fleiß, den in jenen letzten Tagen eines menschlichen unterbrochenen Zusammenseins der Erlöser | gewiß absichtlich darauf verwendet hat seinen Jüngern die Schrift, die von ihm zeugte, verständlich zu machen, wir sehen aber zugleich auch, daß es doch etwas gab, was diese Erklärung der Schrift nicht bewirken konnte; denn ohnerachtet den Jüngern ihr Herz brannte auf dem Wege als er ihnen die Schrift öffnete, so erkannten sie ihn doch nicht, sondern das geschah erst da er mit ihnen zu Tische saß und nach gewohnter Weise mit Danksagung das Brot brach und unter sie theilte, da erst erkannten sie ihn. Wir sehen hier, m. g. F., also zweierlei, die Wirkungen der Schrift und die unmittelbaren Wirkungen des Herrn, die rein von seiner Person ausgingen im Zusammensein mit den Seinigen. Es wird uns in dieser Geschichte das bestimmte Verhältniß dieser beiden Wirkungen klar, und wir mögen also eben dies auch auf uns und auf den gegenwärtigen Zustand der christlichen Kirche anwenden, und also nach Anleitung dieser Worte mit einander erwägen, welches da sei das Verhältniß zwischen den Wirkungen der Schrift und den unmittelbaren persönlichen Wirkungen des Erlösers. Laßt uns zuerst aber, | denn das wird nothwendig sein, uns darüber verständigen, was unter beiden eigentlich gemeint sei, und dann nach Anleitung der Erzählung unseres Evangelisten das Verhältniß beider gegen einander betrachten. I. Was zuerst die Schrift sei und die Wirkungen derselben, das kann freilich scheinen wenig oder gar keiner weitern Erläuterung zu bedürfen, aber doch um das worauf es uns ankommt, in seinem ganzen Umfange zu verstehen, ist nöthig Einiges darüber zu sagen. Die Schrift, die der Herr den Jüngern öffnete als er mit ihnen ging auf dem Wege, das war die Schrift des alten Bundes, es waren die Weissagungen von dem der da kommen sollte, es waren die frommen Ahndungen der Diener Gottes aus ältern Zeiten über den Gang der göttlichen Führungen mit ihrem Volke, und durch dasselbe mit dem ganzen menschlichen Geschlecht; das war die Schrift, die der Herr seinen Jüngern öffnete. Sollen wir uns etwa auch auf diese vorzüglich beschränken und nach den Wirkungen derselben fragen? Dann würden wir, m. g. F., unsere Stellung und die eigen|thümlichen Vorzüge derselben gar sehr verkennen. Der Apostel Paulus sagt unstreitig mit großem Recht: Christus ist geworden ein Diener des Volkes Israel um der Verheißung willen, die Gott demselben gegeben hat, aber die Heiden preisen Gott und loben ihn um der Barmherzigkeit willen. Das war der göttliche Rathschluß, daß der Erlöser der Welt aus jenem dazu eigens aus einer großen Reihe von 36–39 Vgl. Röm 15,8–9
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Geschlechtern ausgesonderten Volke sollte geboren werden, und eben deshalb mußte nun auch die Erfüllung der Weissagung entsprechen. Aber wie, m. g. F? Allerdings mußten die Mitglieder dieses Volks eine ganz besondere Freude an dieser Erfüllung der Verheißung haben, sie mußten sich dabei noch ganz besonders und auf’s neue als ein auserlesenes und geheiligtes Volk des Herrn fühlen, aber die Heiden, sagt der Apostel, und dazu gehören wir alle die wir Christen sind aus den Heiden, loben Gott um der Barmherzigkeit willen. Denn eben jener Rathschluß Gottes war ein Rathschluß der Barmherzigkeit über das ganze | menschliche Geschlecht, und für uns alle ist eben die dankbare Freude an diesem barmherzigen Rathschluß Gottes etwas weit Höheres und Größeres als die bestimmte Freude an der Erfüllung der Weissagungen, die dem Herrn vorangegangen waren. Darum mit Recht erbleicht die Weissagung, wie schön und groß, wie herrlich und den geschichtlichen Faden weiter fortführend sie auch gewesen sein mag, sie erbleicht gegen die Erfüllung. Die Schrift, die uns den Herrn in seinem Leben und Wirken auf Erden darstellt, die uns die köstlichen Worte aus seinem Munde bewahrt, die Schrift des neuen Testaments, sie ist für uns etwas Schöneres und Herrlicheres als die alte, sie ist das feste prophetische Wort, auf welches wir uns verlassen, welches der Grund unseres Glaubens ist. Aber indem der Herr seinen Jüngern die Schrift öffnete, so theilt er ihnen nicht nur mit was sie selbst in derselben lesen konnten, sondern er suchte sie in den Zusammenhang, der ihnen verborgen geblieben war, einzuleiten, und dies eben machte daß das Herz ihnen entbrannte, als | er ihnen so die Schrift von Christo eröffnete. Darum ist sie nun auch unter uns und wird beständig sein überhaupt in der christlichen Kirche, zumal aber auch und ganz besonders in unserer evangelischen Kirche, welche sich so eigens auf das Wort Gottes in der Schrift stützt und gründet, immer sage ich wird vereint sein die Erklärung der Schrift mit der Schrift selbst. Die Schrift ist ein gemeinsamer Schatz, der Geist Gottes offenbart und verklärt ihn den Gläubigen, dem Einen dieses, dem Anderen jenes, dem Einen heller, dem Andern minder klar und durchsichtig, und das alles fühlen wir sind wir verpflichtet mit einander auszugleichen, Einer von dem Andern zu lernen, Einer den Andern zu lehren, wohlwissend daß das nicht streitet gegen das Wort der Schrift, worauf der Herr selbst aufmerksam gemacht, daß den Christen gebühre von Gott gelehrt zu sein. Denn es ist überall die Wirkung des göttlichen Geistes in dem Worte und durch das Wort, welche wir einander mitzutheilen, durch welche wir uns einan|der zu berei26 sie] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 9v 6–8 Vgl. Röm 15,9
36–37 Vgl. Joh 6,45 (nach Jes 54,13)
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chern und zu befestigen haben. Ich glaube es ist nicht nöthig mehr zu sagen um uns alle zurückzuführen auf die Erfahrung, welche hierüber ein jeder wird an sich selbst gemacht haben von der Zeit an, wo jeder den ersten Unterricht im Christenthum, die Milch des Evangeliums empfing, bis auf den heutigen Tag und die ganze Zeit unseres Lebens hindurch wird es uns hoffentlich an dieser segensreichen Erfahrung nicht fehlen. Aber wie ist es nun mit den unmittelbaren und persönlichen Wirkungen des Erlösers? Was die damals waren als er auf Erden wandelte sowohl in den eigentlichen Tagen seines Fleisches, als in diesen herrlichen Tagen seiner Auferstehung, da hinein können wir uns leicht denken, das können und müssen wir alle mitfühlen. Und wie die Schrift uns von keiner Zeit in dem öffentlichen Leben des Erlösers so vielfältig und so bestimmt erzählt, daß er seinen Jüngern die Schrift eröffnet habe, so müssen wir wohl voraussetzen, daß er früher die | meiste Zeit mit ihnen zugebracht, indem er jene unmittelbaren Wirkungen, die von seinem persönlichen Dasein ausgingen auf ihre Seelen ausübte. Sofern sie nun auch durch die Vermittelung der menschlichen Rede geschahen, so gehören sie selbst mehr oder weniger jenem an, was wir unter den Wirkungen des göttlichen Wortes verstehen; aber insofern sie von seiner unmittelbaren Persönlichkeit ausgingen, von dem Eindruck den sein eigenthümliches Wesen auf die Menschen machte, von den heiligen Bewegungen seines Gemüths, wie sie sich auch ohne Rede in dem Blicke der ewigen Liebe, in allen Bewegungen der Milde gegen diejenigen, die sich mit ihrem Herzen zu ihm wandten, äußerten, insofern scheinen sie freilich jener Zeit des persönlichen Wandels unseres Herrn auf Erden allein und eigenthümlich anzugehören. Aber doch, m. g. F., haben wir das köstliche Wort der Verheißung, von welchem wir nicht lassen dürfen, daß er sagt: „Wo Zwei oder Drei ver|sammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“, daß er sagt: „ich werde bei euch sein alle Tage bis an der Welt Ende.“ Sollte er dadurch nichts anderes gemeint haben als die Wirkungen, welche das ihn darstellende Wort der neutestamentischen Schriften und fernerhin die Erzählungen derer, die mit ihm und unter ihm gelebt haben auf gläubige und nach dem Heil verlangende Gemüther hervorbringen? Das können wir uns kaum denken. Sollen wir aber auf der andern Seite bestimmt angeben, was es seitdem der Herr nicht mehr persönlich auf Erden wandelt, für unmittelbare Einwirkungen auf die Seele geben kann, die nicht Wirkungen des Wortes wären, so befinden wir uns wieder in Verlegenheit, und wir können nicht leugnen, daß sich die Christen in dieser Hinsicht schon seit langer Zeit getheilt haben. Getheilt sage ich, aber nicht ge29–30 Mt 18,20
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trennt – denn trennen sollen und dürfen sie sich nicht darin – einmal in solche, welche viel zu rühmen wissen als Erfahrungen ihrer eigenen Seele von der geistigen | Nähe, von der unmittelbaren Einwirkung des Herrn auf sie, und wiederum in Andere, welche weil es ihnen an dergleichen Erfahrung fehlt, und weil es mancherlei Beispiele giebt, wie gar Menschliches und daher von dem Sinn und Geist des Erlösers sehr Entferntes als solche unmittelbare Wirkungen des Herrn ist dargestellt worden, sich lieber allein und ausschließlich an das Wort des Herrn halten. Es ist wahr, schon seine unmittelbaren Wirkungen während er auf Erden lebte, in sofern sie nicht zugleich Rede und Wort waren, hatten etwas Ähnliches mit den Wundern, die er vollbrachte, es war eine geheimnißvolle Macht auf die Seele, und seit die Wunder verschwunden sind aus der christlichen Kirche und wir deren nicht mehr bedürfen zur Anfachung und Erhaltung des Glaubens, so scheint es könnte man sagen, werde auch alles damit verschwunden sein, was seiner geheimnißvollen Natur wegen den Wundern am ähnlichsten ist; und haben wir begriffen den Schatz der uns gegeben ist in dem göttlichen | Wort, geben wir uns den Wirkungen desselben rein und unbefangen, treu und gehorsam hin, so könnte man sagen, wir könnten uns daran genügen lassen und bedürften nichts weiter. Allein verachten und geringschätzen dürfen wir jene Erfahrungen um so weniger, je häufiger sie sind, und je öfter wir nicht leugnen können, daß solche Seelen sich derselben rühmen, in welchen zugleich die herrlichen Wirkungen des Worts sich zeigen, und in welchen sich ein wahrhaft christliches Leben zur Erbauung und Erweckung aller, die um sie her sind, gestaltet. Wir können also der Frage nicht ausweichen: giebt es noch solche Wirkungen des Herrn auf die Seelen der Gläubigen, abgesondert und verschieden von den Wirkungen des Wortes, und worin mögen sie bestehen? Die Erzählungen aus den Tagen der Auferstehung, an welche wir in dieser festlichen Zeit besonders gewiesen sind, bieten uns Zweierlei dar, woran wir uns unmittelbar halten können. Das Eine ist die Erzählung unseres Textes. Der Herr selbst sitzt mit seinen beiden Jüngern zu Tische, und nahm das Brot, dankte und brach es und theilte es ihnen aus, und | da erkannten sie ihn ehe er noch vor ihren Augen verschwunden war. Das war das Brot des freundlichen Mahles, wobei er sich aber eben so betrug wie sie ihn oft gesehen hatten als Genossen desselben. Uns aber weisen diese Worte doch besonders hin auf das heilige Mahl, welches der Herr auch uns geordnet hat; und wie er sich da in den Seelen der Gläubigen offenbart und verklärt, wie sie da eine Empfindung haben von der Gewalt, die er über das Innere des Menschen ausübt, und die unabhängig ist von allem Worte, wenigstens so 22 nicht] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 10v
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wie wir es in unserem unmittelbaren Gefühl haben, wie er sich da der Seele verklärt und sie mit seiner Herrlichkeit überströmt, das ist eine Erfahrung, die unabhängig von aller Verschiedenheit der Meinungen über diese Sache, sehr allgemein sein muß und immer gewesen ist, weil ohne eine solche Erfahrung diese Einsetzung sich nicht würde erhalten haben, nicht in den Wirkungen, die alle Christen davon zu allen Zeiten erfahren haben, nicht in den ausgezeichneten Segnungen, die nur auf so etwas Eigenthümlichem beruhen können. Eine andere Erzählung aber ist die, daß der Herr zu | seinen Jüngern eintrat als sie Abends versammelt waren, und ihnen zurief: „Friede sei mit Euch, meinen Frieden gebe ich Euch, nicht gebe ich Euch wie die Welt giebt, meinen Frieden lasse ich Euch.“ Und wenn wir uns fragen, m. g. F., ist dieser Friede unseres Herrn wohl gebunden an seine persönliche Gegenwart? können wir nicht auch ohne dieselbe es tief im Innersten erfahren, wie uns oft unabhängig wenigstens von jedem Worte der Schrift, von jedem bestimmten Gedanken an ein bestimmtes Solches, der Herr mit seinem Frieden, mit dem Frieden der Erlösung, mit dem Frieden der Kinder Gottes, kurz mit allem, was er allein in der menschlichen Seele geben kann, das Innerste tief bewegt? Das sind Erregungen und Bewegungen des Gemüths, die wir eben deswegen weil sie uns über uns selbst erheben, weil sie uns aufs neue mit dem ewigen Leben tränken, nicht uns selbst zuschreiben können, und wir haben Niemanden – warum sollten wir also ungläubig sein? – auf den wir sie zurückführen könnten als ihn selbst. An diese beiden Erfahrungen, die nicht unter dieselben gehören, von denen vielmehr jedes christlich fromme Gemüth mehr oder weniger Zeugniß giebt, an diese beiden dürfen wir uns halten um zu wissen, es giebt noch | etwas außer den unmittelbaren Wirkungen des Worts, es giebt noch eigenthümliche Wirkungen des Erlösers, die gleichsam die Fortsetzung sind seines persönlichen Daseins. So wie wir oft von geliebten Menschen in der Ferne, die uns unmittelbar nicht berühren, doch eine Wirkung in der Seele empfinden, von der wir sagen müssen, sie hängt an ihrem persönlichen Dasein und geht unmittelbar von ihnen aus, wie viel mehr noch von dem, der mehr ist als jeder Geliebte unseres Gleichen, der noch mehr als jeder Andere, der Freund der Seele von allen die ihn kennen, mag genannt und als solcher gerühmt werden. So mögen wir nicht leugnen, wie in den Tagen des Herrn selbst, so auch jetzt noch ist beides mit einander da. Es sind die Wirkungen der Schrift; des göttlichen Wortes in derselben; es sind die persönlichen Wirkungen des Erlösers abhängig freilich von seinem früheren Dasein auf Erden, kräftige Fortsetzungen desselben, die sich auf alle Zeiten erstrecken. Und so wird er niemals 10 Joh 20,19.21.26
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II. Aber nun laßt uns fragen, was ist denn nun das Verhältniß, in welchem diese beiden Wirkungen gegen einander stehen, und wie sollen also wir selbst uns gegen beide stellen? Darüber, m. g. F., giebt uns eben die Erzählung unseres Textes den hinreichenden Aufschluß, denn indem sie uns zeigt, daß jede von beiden eine eigenthümliche Kraft hat, die der andern fehlt, so lehrt sie uns auch, daß in der christlichen Kirche immer beide müssen mit einander verbunden und neben einander bestehen bleiben. Denn das war die Wirkung des Wortes gewesen, daß den Jüngern das Herz in ihnen brannte, als ihnen der Herr die Schrift öffnete, und etwas Eigenthümliches und Bestimmtes hatte der Herr ausrichten wollen, und also auch gewiß ausgerichtet dadurch, daß er ihnen die Schrift öffnete und sie in den Zusammenhang derselben hineinführte. Aber sie hatten das von ihm vernommen, sie waren darin eingegangen, ihr Herz war darüber entbrannt, aber doch blieben ihre Augen gehalten, und sie erkannten den Herrn nicht. Als er ihnen aber das Brot brach, als er zu der gewohnten unmittelbaren Wirkung auf ihre Gemüther zurückkehrte, da erkannten sie ihn, was sie vorher indem er ihnen die Schrift öffnete, aus der Weisheit seines Mundes nicht vermocht hatten, da erkannten sie ihn. Aber wenn er nichts gewollt hätte | als auf eine solche Weise von ihnen erkannt sein, wenn er nicht auch ohne dies durch die reine Wirkung der Schrift eine Wirkung auf sie hätte hervorbringen wollen, warum würde er sich ihnen nicht gleich zu erkennen gegeben haben, damit anfangend und damit beschließend? Und so, m. g. F., wollen wir zuerst das festhalten, daß beiderlei Wirkungen die des Worts und die der unmittelbaren geistigen Gegenwart des Herrn in der christlichen Kirche immer müssen bei einander sein. Wir wissen es alle, was für ein herrlicher Schatz das göttliche Wort ist, und wir sind als Mitglieder der evangelischen Kirche ganz besonders berufen Wächter und Hüter derselben in der Christenheit zu sein, wir werden auch alle Zeugniß davon geben können, daß das Herz in uns brennt, so oft sich uns die Schrift öffnet durch den göttlichen Geist. Ja wenn wir darin das Vorbildliche in dem Leben des Herrn[,] in dem Gebot, welches er den Seinigen gegeben hat, in den Ordnungen der ersten christlichen Kirche erblicken, dann brennt in uns allen das Herz, 36 in dem] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 11r 36–37 Vgl. Joh 13,34; 15,12
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und dann wird der Eifer rege, daß auch wir möchten immer mehr der reine Ausdruck dieser herrlichen Ordnungen sein und dieses gemeinsamen Lebens, daß sich auch in uns allen | immer mehr das neue Gebot des Herrn verherrlichen möchte. Aber wir werden auch ähnliche Erfahrungen machen, daß dieses Brennen des Herzens in uns uns doch noch die lebendige, die freudige, die unmittelbare Anerkennung des Herrn nicht immer giebt, ja wir werden gestehen müssen, wenn die Wirkungen des Wortes in der christlichen Kirche vereint sein werden, und es fehlt an den unmittelbaren Regungen des Herzens, welche von der geistigen Gegenwart des Herrn zeugen, gar leicht möchte dann, wie herrlich auch gelehrt von dem göttlichen Geist, doch die Schrift bei einem großen Theil der Christen wieder ausarten in einen todten Buchstaben. Wenn wir uns ganz allein auf die Erkenntniß der Schrift beschränken, dabei nicht blind sind gegen die großen Schwierigkeiten, welche den meisten Christen dabei aufstoßen, fern wie wir sind von der Zeit, wo jenes heilige Wort geschrieben ward, und fremd wie uns ist die Sprache, in welcher es geschrieben ward, wenn nicht jene unmittelbaren Wirkungen des Erlösers in der Seele dem Worte Zeugniß gäben immer aufs neue und uns dabei hielten es so zu verstehen, wie es aus seiner Seele heraus verstanden sein will, so würden sehr leicht auch die eifrigsten Bestrebungen die Schrift recht zu erkennen und zu durchdringen, wie es auch an betrübenden | Beispielen der Art nicht fehlt, in menschliche Willkühr ausarten, und gar Manches könnte in sie hineingelegt werden, was im Widerspruch stände mit den unmittelbaren Wirkungen des Herrn, die wir uns in diesem Augenblick nicht mehr als daseiend denken würden. Darum darf das Wort nicht allein stehen, sondern die Fortwirkung des Erlösers selbst, die Eindrücke die er unmittelbar hervorbringt in der menschlichen Seele, müssen demselben immer zu Hilfe kommen, und sind dasjenige woran wir auch jetzt noch am unmittelbarsten den Herrn in seinem Worte erkennen. Aber auf der andern Seite wenn wir uns diesen allein hingeben wollten, und wollten das Wort, diesen theuern und köstlichen Schatz geringachten, dann wären wir unstreitig eben so großen ja noch größeren Gefahren Preis gegeben. Denn das ist nicht zu leugnen, daß sich gar viel Ungeregeltes, Schwärmerisches, von Überspannungen des menschlichen Gemüths Zeugendes gar häufig eingeschlichen hat in dasjenige, was für unmittelbare Wirkung des Herrn in der Seele ist ausgegeben worden. Sollen wir uns hier nicht selbst täuschen, sollen wir nicht Menschliches mit Göttlichem vermischen unabsichtlich, sollen wir nicht in Gefahr gerathen denen zur Beute zu werden, die absichtlich dem Göttlichen 11–12 bei einem] einen (vgl. auch SAr 109, Bl. 11v) Textzeuge: war 37 Wirkung] Wirkungen
17 ward] so SAr 109, Bl. 11v;
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Menschliches unterschieben, und Menschliches für | Göttliches ausgeben; dann muß das göttliche Wort immer das Richtmaaß bleiben, an welchem alles Andere gemessen und recht beurtheilt wird. Anders kann der Herr nicht sein in dem, was wirklich durch ihn in den Seelen der Gläubigen hervorgebracht wird, anders kann er da nicht sein als er sich zeigt in seinem Wort; und wollten wir irgend etwas für seine Wirkung in uns ausgeben, was da stritte mit dieser Regel des göttlichen Worts, so würden wir ihn selbst zum Lügner machen und uns muthwilliger Weise von ihm scheiden und sondern, so würden wir uns selbst an seine Stelle setzen, und uns für ihn ausgeben, also auch nicht an ihn gewiesen sein, sondern in verkehrtem Hochmuth des Herzens uns an uns selbst weisen und halten. Darum, m. g. F., wenn von einem Lichte die Rede ist, welches die menschliche Seele unmittelbar erleuchtet, und es wird so dargestellt als ob man dabei das göttliche Wort wohl missen und entbehren könnte, als ob sich der Herr wohl eben wenn es sein gnädiger Rathschluß ist, auf’s neue offenbaren könnte; so daß ein solcher nicht mehr das Wort Gottes bedürfte: so ist das der verkehrteste Hochmuth und die verderblichste Losreißung von der Einheit des Glaubens, der Demuth und der Liebe. Denn Gott, so schreibt der Apostel, ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern der Ordnung in allen Gemeinen der Christen. Darum darf in denselben nichts sich für Göttliches ausgeben und dafür gelten, was im Widerspruch stände mit dem göttlichen Wort, welches das ur|sprüngliche Zeugniß von dem Leben und Dasein enthält, aus welchem allein wir ihn ursprünglich kennen, durch welches wir wie er uns in diesem erscheint zum Glauben an ihn geführt werden; und nie sollen wir uns losreißen von diesem Bande, welches uns mit allen vergangenen Geschlechtern der Kirche vereint und auch mit den künftigen vereinen soll, und überall wo wir uns rühmen von demjenigen, was der Herr unmittelbar an unseren Seelen thut, und wodurch er sich uns gegenwärtig erweist, das müssen wir prüfen nach dem göttlichen Wort um zu erkennen, ob es wahr und recht sei, ob nicht daran unser Gebilde sei, sondern wirklich sein Gepräge an sich trägt und sein Bild in sich schließt. Darum muß so immer beides mit einander sein und auf einander zurückwirken in der christlichen Kirche. Das unmittelbare Zeugniß von der Wirksamkeit des Herrn in der Seele muß uns das Wort immer wieder beleben, das Wort aber muß alle verschiedene Gemüthsbewegungen und Erregungen der Christen in der Einheit des Glaubens und in der Übereinstimmung mit dem, was gemeinsam ist und war und 30 sich] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 12r 19–21 Vgl. 1Kor 14,33
39 war] wahr
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bleiben wird auch immer erhalten. Aber freilich eine andere Frage, m. g. F., ist die, die wir uns nun zweitens beantworten wollen, wie steht nun jeder Einzelne für sich zu dieser zwiefachen Wirkung, auf der unser geistiges Leben beruht? O laßt uns denken an das Wort des Apostels: „es ist Ein Leib, aber es sind Viele Glieder, ein jegliches in seiner Art, und der Herr hat den Einen gesetzt zu diesem und den Andern zu jenem.“ In der christlichen Kirche muß beides vereint sein, die klare, begreifliche mittheilbare Wirkung des Wortes, die geheimnißvolle tieferregende aber auch unmittelbare Wahrheit des Erlösers in der Seele. Aber nicht ist jedem Ein|zelnen von Beiden ein gleiches Maaß zugeordnet, denn Gott ist nur ein Gott der Ordnung in der Gemeine des Herrn, eben deswegen weil er ein Gott ist, der Mannigfaltiges hervorbringt, denn nur das Mannigfaltige bedarf einer Ordnung und kann in Ordnung gehalten werden. Jeder also halte sich vorzüglich an das, wozu er berufen ist. Werth seien uns diejenigen, die wenn auch zu sehr mißtrauisch den unmittelbaren innern Erfahrungen des Herzens, sich mit lebendigem Eifer und mit rechter Treue halten an das göttliche Wort, an die lebendige Erkenntniß des Erlösers, die sie aus demselben schöpfen und von der sie durchdrungen sind, so daß sich in ihrem Innern verklärt das Wort der Schrift, welches von ihm zeugt, werth seien sie uns, und wenn wir sie fragen, ob sie denn keine unmittelbare Erfahrungen von dem Erlöser in ihrer Seele machen, wozu sie des göttlichen Wortes nicht bedürfen, und sie uns sagen: wir bestreben uns alles was Frommes und von Gott Durchdrungenes zu Gott Führendes in unserer Seele sich regt, uns immer unmittelbar zu erklären aus dem heiligen Worte der Schrift, dem wir fest vertrauen, das sich unserem Innern vergegenwärtigt und in uns lebendig geworden ist: o wie sollten wir sie | irre machen auf ihrem Wege, oder sie deswegen geringachten, weil ihnen etwas fehlt, was wir erlangt haben, wie sollten sie uns nicht werth sein als Bewahrer des großen gemeinsamen Schatzes, den wir alle besitzen an dem geschriebenen Worte des Herrn, wie sollten sie uns nicht werth sein als Schöpfer aus der Quelle, die niemals versiegt, und die das Wasser des Lebens in sich schließt. Und wenn sie ein Mißtrauen besitzen gegen das, was andere Christen rühmen von demjenigen, was unmittelbar in ihrer Seele gewirkt worden ist durch den Herrn, so mögen wir das ansehen als eine Stimme Gottes in ihnen und für sie. Denn wahrscheinlich müssen sie so gewarnt werden, und bedürfen des Mißtrauens, weil sie am ersten geneigt wären, wenn sie solchen Erfahrungen von der unmittelbaren Wirksamkeit des Erlösers in der 34 besitzen] anders SAr 109, Bl. 12r: bezeigen 5–7 Vgl. 1Kor 12,18.20
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Seele vertrauen wollten, sich von der Übereinstimmung mit dem Göttlichen zu entfernen. Darum wollen wir uns damit begnügen, daß auch auf sie in der unmittelbaren Gemeinschaft der Christen der Segen sich mittelbar | erstreckt, der aus den geheimnißvollen Wirkungen des Erlösers auf die Seele in Andern hervorgeht. Und eben so sollen uns diejenigen werth sein, so sie nur das Richtmaaß des Wortes halten, so sie sich nur dessen nicht rühmen, so sie nur zugeben, daß alles was sie von der Vereinigung des Herrn mit ihrem Innern rühmen[,] uns immer nur so viel werth sein kann als es in Übereinstimmung ist mit dem Göttlichen, werth sollen uns sein alle diejenigen, die sich besonderer Führungen und Erfahrungen von dem Herrn in ihrer Seele rühmen, so sie sich nur nicht überheben der Offenbarung Gottes, und diejenigen unter ihren Brüdern, die ganz vorzüglich an die Unterweisung und an den lebendigen Segen des göttlichen Wortes gewiesen sind, deswegen nicht gering schätzen. Aber indem wir so jeder seines Weges gehen, und das mit Dankbarkeit annehmen, wozu Gott uns berufen und was er einem jeden besonders zugedacht hat, o so laßt uns ja jeder für sich sich offen erhalten für das, was das vorzügliche Gut des Andern ist. Denn nur dadurch, m. g. F., besteht die Gemeinschaft, nur in sofern sind die vielen und die mancherlei Glieder Ein Leib | als sie sich einer solchen gegenseitigen Wirkung hingeben, und jeder das achtet und benutzt was aus dem eigenthümlichen Leben des Anden hervorgeht. Dann wird bei aller Theilung des Innern doch keine Trennung in der Gemeinschaft erfolgen, dann wird jeder eben sowohl dasjenige, was er unmittelbar erfährt, als auch das was Andere als ihren Segen rühmen, auf den Einen zurückführen, von welchem beides kommt, und der in beiden geehrt, in den beiden angebetet wird, und der beides in seiner Kirche fruchtbar macht dazu, daß sie immer von ihm dargestellt werde ohne Flecken und ohne Tadel. Was wir aber auch jeder nachdem er berufen mehr erfahren mögen, die Segnungen des Worts oder die unmittelbare geistige Gegenwart des Herrn in der Seele, sobald uns etwas Ausgezeichnetes geworden ist von dem Einen oder dem Andern, laßt uns nachahmen jenen beiden Jüngern, von welchen erzählt wird, nachdem sie so den Herrn erkannt und sich nun auch dessen erinnert hatten, wie das Herz ihnen brannte schon auf dem Wege, als er ihnen die Schrift öffnete, so standen sie sofort auf von dem eben erst begonnenen Mahle, und kehren um nach Jerusalem zu gehen, wo | sie die übrigen Jünger vereint fanden, um ihnen zu erzählen, der Herr sei 8–9 uns immer nur so viel werth sein kann] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 12v chen] anders SAr 109, Bl. 12v: göttlichen Wort 36–1 Vgl. Lk 24,33
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wahrhaftig auferstanden. So, m. g. F., wollen wir es immer halten, jeder seine eigenen Erfahrungen und jeder den Segen, den wir von dem Herrn empfangen, zu einem gemeinsamen Gut machen dadurch, daß wir umkehren und den Andern mittheilen, wie er uns geworden ist. Dazu sind wir Schüler Eines Lehrers, Jünger Eines Meisters, dazu sind wir alle auf die gleiche Weise berufen zunächst uns unter einander zu erbauen, zu stärken und zu gründen im Glauben und in der Liebe zu dem Herrn durch alles, was er nach seiner Gnade und Milde einem jeden von uns hingiebt. So sei denn ihm, der es verheißen hat bis an das Ende der Welt unter uns gegenwärtig zu sein durch die Kraft seines Wortes und durch die milden Ergießungen seiner mittheilenden Liebe, ihm sei ein thätiger Dank dargebracht für alles, was auch uns geworden ist und immer noch wird, und was auch wir alle auf mannigfaltige Weise schöpfen aus seiner Fülle, und jeder sei dem Andern schuldig in herzlicher Liebe und Treue mitzutheilen alle Gaben des Herzens, auf daß in allen und durch alle er gepriesen werde, welchem allein von uns allen Ruhm und Ehre sei dargebracht jetzt und in Ewigkeit. Amen.
[Liederblatt vom 19. April 1824:] Am zweiten Ostertage 1824. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Der Tod entflieht, nun siegt das Leben, / Die Macht des Grabes ist gedämpft! / Seht Jesum hier sein Haupt erheben, / Er hat den Sieg auch uns erkämpft; / Und läßt uns dies zur Losung hier, / Ich leb’, und ihr lebt auch mit mir. // [2.] Und wie er hat den Tod bezwungen, / Liegt auch die Sünde hingestreckt; / Er hat den vollen Sieg errungen, / Er stürzet alles was mich schreckt! / Drum steht auf unsres Herrn Panier, / Ich leb und ihr lebt auch mit mir. // [3.] Mein Jesus, Wahrheit, Licht und Leben, / Der Glauben wirkt und Liebe lehrt, / Wie soll ich solchen Sieg erheben, / Der ganz der Feinde Macht zerstört? / Sie liegen dort, du rufest hier / Ich leb, und ihr lebt auch mit mir. // [4.] Wohl, Herr, belebe deine Glieder, / Erstorben bleibe keins zurück! / Die Lebenssonne leuchte wieder, / Verklär’ uns in des Himmels Glück! / Das Wort bestehe für und für, / Ich leb’ und ihr lebt auch mit mir. // Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf etc. [1.] Hallelujah! Jesus lebet, / Auf, ihr Erlösten, und erhebet / Des großen 6 Weise] anders SAr 109, Bl. 12v: Weise von ihm 9–10 Vgl. Mt 28,20
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Mittlers Majestät. / Hörts, betrübte Sünder! gebet / Der Freude Raum, denn Jesus lebet, / Gott hat ihn aus dem Staub’ erhöht. / Ihm jauchze Preis und Dank, / O Seele, dein Gesang! / Hallelujah! Dich, großer Held, / Erhebt die Welt, / Weil deine Hand den Sieg erhält. // [2.] Jesu Jünger, wehrt dem Leide, / Lobsinget ihm und nehmt voll Freude / Am Siege Theil, den er erwarb! / Seht der Tod ist überwunden, / Die ganze Hölle ist gebunden; / Er herrscht, der für euch litt und starb. / Laßt seine Feinde dräun! / Ihr könnt getrost euch freun! / Jesus lebet, von Ewigkeit / Zu Ewigkeit, / Derselbe gestern und auch heut. // [3.] Ihr auch dürft nicht trostlos beben, / Ihr Sünder, Gott will euch vergeben, / Wenn ihr die Schuld mit Ernst bereut. / Durch des Todes Ueberwinder / Ist er versöhnt, und gegen Sünder / Ein Vater der Barmherzigkeit. / Der Heiland steigt empor, / Nun ist des Himmels Thor / Allen offen! Gott ist versöhnt, / Vom Himmel tönt / Der Freudenruf, Gott ist versöhnt. // [4.] Wandeln wir auf deinen Wegen, / O Auferstandner! welch ein Segen / Erwartet uns am Ziel der Bahn. / Nach des Lebens Kampf und Leiden / Erhebst du uns zu ew’gen Freuden, / Die uns dein Kampf und Sieg gewann, / Bald sind sie unser Theil, / Bald krönet uns das Heil / Deines Lebens Hallelujah! / Der Herr ist nah, / Bald ist der Tag des Sieges da. // Nach der Predigt. – Mel. Fahre fort etc. [1.] Jesus lebt! / Christen hört es, Jesus lebt, / Und auch ihr sollt mit ihm leben! / Der zu Gott sich jezt erhebt, / Wird euch einst zu sich erheben. / Giebts ein Herz, das nicht vor Freuden bebt? / Jesus lebt! // [2.] Jesus lebt! / Fürchtet euch, ihr Christen, nicht, / Christus will die Seinen schirmen, / Aus der Nacht führt er zum Licht, / Freude folgt den Leidensstürmen. / Giebt’s ein Herz, das muthlos noch erbebt? / Jesus lebt! //
Am 2. Mai 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Misericordias Domini, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,33–43 Nachschrift; SAr 87, Bl. 1r–23v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 221v–235v; Andrae Nachschrift; SAr 63, Bl. 7r–10v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am Sonntage Miserikordias Domini 1824. | Tex t. Lucä XXIV, 33–43. Und sie standen auf zu derselbigen Stunde, kehrten wieder gen Jerusalem, und fanden die Elfe versammelt, und die bei ihnen waren, welche sprachen: der Herr ist wahrhaftig auferstanden, und Simoni erschienen. Und sie erzähleten ihnen, was auf dem Wege geschehen war, und wie er von ihnen erkannt wäre an dem, da er das Brot brach. Da sie aber davon redeten, trat er selbst, Jesus, mitten unter sie, und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch! Sie erschraken aber und fürchteten sich; meineten, sie sähen einen Geist. Und er sprach zu ihnen: was seid ihr so erschroken? Und warum kommen solche Gedanken in eure Herzen? Sehet meine Hände und meine | Füße, ich bin es selber; fühlet mich und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein; wie ihr sehet daß ich habe. Und da er das sagte, zeigte er ihnen Hände und Füße. Da sie aber noch nicht glaubten vor Freuden und sich verwunderten, sprach er zu ihnen, habt ihr etwas zu essen? Und sie legten ihm vor ein Stück vom gebratenen Fisch und Honigseim. Und er nahm es, und aß vor ihnen. Diese Worte, m. a. F., schließen sich an die Erzählung an, welche wir am zweiten Ostertage zum Gegenstand unserer Betrachtung machten. Es waren eben die beiden Jünger mit denen der Herr nach Emahus gegangen war, welche nachdem sie ihn erkannt hatten, sofort umkehr18 Honigseim] Honig sein 20–21 Vgl. oben 19. April vorm. über Lk 24,30–32
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ten, um es ihren Brüdern in | Jerusalem zu sagen. Diese hatten auch schon ihrer Seits eine Kunde von der Auferstehung des Herrn, und kamen ihnen mit der Nachricht entgegen, der Herr wäre wahrhaftig auferstanden und dem Petrus erschienen, über welche Erscheinung sich in unseren heiligen Büchern weiter nichts Näheres findet. Indem nun aber Khristus unter sie tritt, so erschraken sie doch, ohnerachtet sie schon den Glauben hatten er sei auferstanden, und meinten doch, es sei nur eine Erscheinung, es sei nur sein Geist[,] nicht er selbst. Wir sehen also ihr Glaube war ein unvollkommner Glaube mit Unglauben gemischt, ein solcher der des Ausrufs und der Bitte nöthig hatte: Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben! Wir sind nun, m. a. F., durch die Schrift selbst | darauf gewiesen diese schönen Zeiten der Auferstehung unseres Herrn überall zu vergleichen mit dem neuen Leben, zu welchem wir mit ihm auferstehen sollen, nachdem wir mit ihm begraben worden sind in seinen Tod. So mögen wir also auch mit Recht die Unvollkommenheit in dem Glauben an dieses neue Leben vergleichen mit der Unvollkommenheit in dem Glauben der Jünger an die Auferstehung des Herrn und nachdem was er selbst dabei that, dasjenige ermessen, was auch wir unserer Seits dabei zu thun haben. Das sei denn der Gegenstand unserer Betrachtung, indem wir darauf achten, wie der Herr bei diesem unvollkommenen Glauben seiner Jünger verfuhr. Das Erste nun, was sich in unserer ganzen | Erzählung so deutlich ausspricht, ist dies, daß er es bei dieser Unvollkommenheit nicht wollte bewenden lassen, auch nicht etwa warten wie er doch sonst immer Geduld hatte mit der menschlichen Natur, und es wohl wußte, daß dasjenige, was er in derselben hervorbringen sollte, nur allmälig zu Stande kommen konnte; und wie alles Menschliche ein Werk der Zeit sein mußte, so wollte er doch hier nicht warten bis sich mit der Zeit ihr Glaube befestigte, und sie zu der festen Ueberzeugung kämen, was sie sähen sei nicht ein Geist, sondern er selbst; sondern sofort sehen wir, wie er Alles that, was in seinen Kräften stand, um sie sogleich über diese Unvollkommenheit des Glaubens zu erheben, und | ihn recht fest und lebendig in ihren Seelen zu gründen. Wir sehen nun aber, worauf wir vorzüglich hiebei unsere Aufmerksamkeit zu richten haben, nämlich einmal auf die besondere Beschaffenheit jenes unvollkommenen Glaubens der Jünger an seine Auferstehung, und dann auf das was er that und auf die Art wie er zu Werke ging um sie von dieser Unvollkommenheit zu befreien. I. Die Elfe wußten der Herr war dem Petrus erschienen, sie hatten seine Erzählung darüber vernommen. Die Zwei, die aus Emahus kamen, hat10–11 Mk 9,24
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ten den Herrn selbst gesehen und mit ihm geredet, aber freilich anfangs nicht erkannt, hernach aber doch; und in dieser ersten | Freude der Gewißheit kehrten sie sogleich um, um dies auch den übrigen Jüngern mitzutheilen. Sie glaubten also auch, der Herr sei erstanden, und wollten diesen Glauben den übrigen mittheilen. Als aber der Herr kam, so meinten sie, sie sähen einen Geist und das war es eben, wobei sie der Herr nicht lassen wollte. Sie wußten nun wohl, er sei nicht mehr im Tode, aber indem sie was sie sahen für einen Geist hielten, so glaubten sie nicht an den natürlichen und vollkommnen Zusammenhang des irdischen menschlichen Lebens, zu welchem er wieder zurükgekehrt war, und eben dieses Geisterartige, dieses Gespensterhafte in ihrem Glauben, das war die Unvollkommenheit, die der Herr nicht leiden konnte, sondern sogleich alles that was | er vermochte, um sie zu beseitigen. Warum, m. g. F.? Sie waren doch gewiß auf der einen Seite, zwar eben deswegen weil sie ihn für einen Geist hielten, erschroken und furchtsam, auf der andern Seite aber, wie die Erzählung unseres Textes berichtet, so war es eben die Freude, daß sie nicht glauben konnten; sie freuten sich der Gewißheit daß er lebe, daß er nicht unter den Todten sei; aber indem sie seine Erscheinung nur für etwas Gespensterhaftes hielten, so mußte sich dem Herrn die Ueberzeugung aufdringen, daß mit einem solchen Glauben die vollkommene Beruhigung über ihn und über sein Werk, die er ihnen nothwendig wünschen mußte, und die ihnen unentbehrlich war, wenn sie das Werk fördern | sollten, wozu er sie berufen hatte, daß diese vollkommene Beruhigung dabei nicht sein konnte. Denn was nicht in dem Zusammenhang des menschlichen Lebens, was nicht in das Ganze desselben hineingeht und sich allem darin vermählt, das sezt allemal unser Gemüth in Unruhe und Zweifel, wir schwanken dabei hin und her, wir können dabei keine feste Zuversicht haben, wir wissen nicht wie bald es uns entrissen werden kann. Und das war also ein unvollkommner Zustand, in welchem der Herr sie nicht lassen konnte. Aber eben so wahr ist auch zweitens, daß dieser Glaube sich niemals zu einer vollkommnen Ueberzeugung gestaltet. Denn wie wenig | wir auch vermögen in das Innere der Dinge einzudringen, so haben wir doch von dem, was sich beständig in dem menschlichen Leben wiederholt, und was wir, wenn wir es auch seinem Innern nach nicht verstehen, doch in die Gesezmäßigkeit der Natur und des Ganzen hineinstellen und hineinrechnen, davon haben wir eine feste und unerschütterliche Ueberzeugung. Was sich aber so nicht gestalten will, was damit nicht zusammenstimmt, davon sind wir nicht sicher wie viel Wahres und wie viel Täuschung dabei ist, wir können darüber zu keiner vollkommnen Ueberzeugung gelangen, bis 18 nicht] anders SAr 105, Bl. 224r: nicht mehr
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entweder der Gegenstand selbst wieder verschwindet und sich in seiner Nichtigkeit zeigt, oder bis er wieder etwas Natürliches wird und | in den ganzen Zusammenhang aller übrigen Dinge hineingeht. So war es auch, m. g. F., in Beziehung auf die Wunder, die der Herr verrichtete. Zuerst konnten sie auch nur einen solchen unvollkommnen Glauben hervorbringen, und alle diejenigen, welche nur das eine oder das andere Mal Zeugen waren von solchen Wirkungen, die der Herr hervorbrachte, sie konnten zu einem vollkommnen, kräftigen Glauben daran nicht gelangen. Die Jünger aber, die ihn beständig begleiteten, die Zeugen davon waren wie diese Wirkungen der höheren Kräfte des Erlösers nie aufhörten, wie er sie überall offenbaren konnte wo er wollte, die mußten ohnerachtet sie dieselben nicht verstehen konnten und über den Zusammenhang derselben mit | den natürlichen Kräften keine Anschauung hatten, so mußten sie ihnen doch natürlich erscheinen, und eben deswegen hatten sie einen festen Glauben daran. Sobald daher der Herr in den Tagen seiner Auferstehung ihnen wiedererschien ganz in der Ähnlichkeit seines früheren menschlichen Lebens, so war das freilich und bleibt ein Wunder, und es ging über den gewöhnlichen Lauf der Natur hinaus, daß er von den Todten erstanden war, aber sein Dasein schmolz doch mit dem Ganzen des menschlichen Lebens zusammen, es war nun wieder ein natürliches menschliches Leben geworden, wenn sie gleich nicht begreifen konnten wie; und so konnten sie doch zu einer festen Ueberzeugung davon gelangen. Aber alles Geisterartige, alles Gespensterartige, | alles was kommt und verschwindet ohne sich an eine Regel und an ein Gesez zu binden, davon können wir niemals zu einer festen Ueberzeugung gelangen. Eben deshalb also weil sich der Glaube der Jünger so gestaltete, wie der Herr als er unter sie trat ihn fand, daß sie meinten sie sähen einen Geist, so konnten sie in diesem Zustande weder zur Ruhe des Gemüths noch zu der Festigkeit der Ueberzeugung gelangen, die ihnen durchaus nothwendig war, und die ihnen der Herr aufs innigste wünschte, und es entsteht nun die Frage: Giebt es in dem Glauben der Khristen an das neue Leben, welches wir mit der Auferstehung des Herrn vergleichen sollen, auch eine | Unvollkommenheit ähnlicher Art, die uns die Verpflichtung auflegt, sie nicht etwa nur in Wünschen und Gebeten Gott anheimzustellen, damit auf diese Weise durch die Wirkungen der göttlichen Allmacht ein besserer Zustand herbeigeführt werde, sondern unserer Seits sofort alles zu thun, was in unseren Kräften steht, um diese Unvollkommenheit zu vertreiben, giebt es etwas dem Ähnliches? Das ist die erste Frage, die wir uns in der Anwendung dessen wovon unser Text redet auf unsern Zustand zu beantworten haben. Aber welch eine 18 bleibt] liebt
39 vertreiben] so SAr 105, Bl. 226r, Textzeuge: verbreiten
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reiche Antwort kommt uns da entgegen, welch eine fast unerschöpfliche Menge von Beispielen, so daß es nur möglich ist in einer Betrachtung wie diese einzelne wenige besonders | bedeutende Punkte, in denen sich die Ähnlichkeit zeigt, herauszuheben. Es giebt, m. g. F., an das neue geistige Leben des Menschen, welches wir der Auferstehung des Herrn vergleichen wollen, keinen Glauben als nur zugleich mit dem, daß es durch ihn den Erlöser der Welt, den Sohn Gottes entstanden ist. Wenn nun eben in der Ueberzeugung daß dieses neue Leben wir uns selbst nicht geben konnten, daß keiner, der die Sündhaftigkeit und die Unvollkommenheit der menschlichen Natur mit uns theilte, im Stande war es uns zu verschaffen, wenn dadurch sage ich der Glaube entsteht, der welcher die Quelle und der Urheber davon war muß göttlicher Art gewesen sein, aber auf der andern | Seite doch sich damit der Gedanke verbindet, der sich zu allen Zeiten in der Khristenheit bald mehr bald minder klar und deutlich ausgesprochen, bald mehr bald minder bewußt oder dunkel gedacht, bei vielen gefunden hat, daß eben deshalb weil der Erlöser göttlicher Art sein mußte, er unmöglich ein Mensch sein konnte wie wir, sondern das Menschliche in seiner Erscheinung nur unseretwegen da war, aber nicht sein wahres Wesen ausmachte, sondern mehr oder weniger ein Schein war, eine Gestalt die der Sohn Gottes der die menschliche Natur zu Gott zurückführen wollte, nur annahm in menschlicher Erscheinung, aber ohne daß er ein Mensch wie wir gewesen wäre: so muß jeder sagen, das ist ein Glaube | an den Erlöser, das ist ein Glaube an das Göttliche in ihm, an die ihm allein eigene Kraft das menschliche Geschlecht zu dem neuen Leben aus Gott zu erheben; aber hat nicht dieser Glaube etwas von jenem Geisterartigen und Gespensterartigen in dem Glauben der Jünger an seine Auferstehung; als sie meinten sie sähen einen Geist? Können die Nachrichten die wir haben und die so anschaulich für uns sind von dem Leben des Erlösers, können sie uns ein zusammenhängendes Bild geben? Können wir ihn mit seinem Dasein in den Zusammenhang und in die Gesezmäßigkeit der menschlichen Natur und der Welt aufnehmen, wenn wir nicht die Gewißheit haben, daß er in seiner ganzen Erscheinung | vollkommen der menschlichen Natur angehörte, und uns gleich geworden ist in Allem; sondern wenn wir glauben müssen, er sei nicht gebunden gewesen an die leibliche Erscheinung, und alle Wirkungen seines Daseins seien ohne diese erfolgt? Kann er das Vorbild sein, dessen Fußtapfen wir nachfolgen sollen, wenn uns immer wieder das entgegentritt das Menschliche in dem Herrn war mehr oder weniger ein Schein? So haben wir also hier gleich etwas Ähnliches und 21 der die Menschliche Natur zu Gott] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 226v Ergänzung aus SAr 105, Bl. 227r
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häufig Wiederkehrendes in dem Glauben der Khristen. Aber wenn umgekehrt Andere sagen, die ganze Wahrheit in dem Glauben an den Erlöser, die lebendige Zuversicht und die feste Ueberzeugung von dem Dasein des Herrn beruht darauf, | daß, wie die Schrift es ja auch auf allen Blättern sagt, der Herr ein Mensch gewesen ist wie wir, und Fleisch und Blut angenommen hat wie alle andere Menschenkinder, aber wenn sie dabei denken, dann kann er doch auf diese Weise in dem gewöhnlichen Sinne wie es verstanden wird und sonst davon geredet, nicht göttlicher Art gewesen sein, sondern Gott hat ihn bewahrt vor der Sünde, wie er seine Lieblinge immer auf eine vorzügliche Weise beschüzt, Gott hat durch ihn geredet, wie er seine Propheten und Rüstzeuge immer dazu erwählt hat den Menschen seinen Willen kund zu thun, nur auf eine vollkommnre Weise, ihn aber hat er sich dazu ausgerüstet ein Reich Gottes zu grün|den, welches unvergänglich ist, und ihn zum Urheber des neuen Lebens zu machen, dessen alle theilhaftig werden sollen: so ist das auch, m. g. F., ein Glaube an den Erlöser, ein lebendiger Glaube, der sich auf ihn und auf das was er dem menschlichen Geschlechte gebracht hat, bezieht, und der nichts Besseres begehrt und mit nichts Geringerem zufrieden ist; aber der Glaube an den Zusammenhang zwischen dem was der Erlöser selbst war, und dem was durch ihn in der menschlichen Natur und in dem menschlichen Geschlecht geworden ist, der hat wenn er sich so gestaltet ebenfalls etwas Geisterartiges und Gespensterhaftes. Denn Ursach und Wirkung stimmen nicht zusammen, und wo dies | der Fall ist, da ist auch die Gesezmäßigkeit der Natur aufgehoben, und wir sind nicht im Stande uns zu einer deutlichen Einsicht zu erheben. War der Erlöser nur so ein Lehrer wie andere Menschenkinder es sind, wenn gleich auf einer höheren Stufe der Erkenntniß stehend, hat Gott nur so durch ihn geredet wie er durch die Propheten geredet hat, so ist [es] nur ein Schein, den unser Glaube um ihn herwebt, daß wir in ihm sehen die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, so ist es nur ein Schein, daß wir irgend wie an sein Dasein den Anfang der neuen Entwiklung des menschlichen Geschlechts knüpfen, und wo so Ursach und Wirkung nicht Ein Ganzes bilden, da ist die Ruhe des Gemüths nicht vollkommen, da ist die Ueber|zeugung nicht fest, da ist der Glaube tausendfäl9 sein,] sein; 26–2 War der ... demselben verschwindet.] SAr 63, Bl. 8v inhaltlich anders: Ist Christus nur gleichsam zufällig vor Sünden bewahrt, u[nd] hat er nur so geredet wie die Proph[eten] so ist es Willkür daß Gott grade ihn ausersehn hat die Welt zu erlösen u[nd] ein geistiges Reich zu stiften. Da nun aber Göttliches ohne göttliche Kraft nicht kann ausgeführt werden und Ch[ristus] doch ausgeführt hat wozu er gesendet so stimmt hier Ursach und Wirkung nicht zusammen, u[nd] wo so Ursach und Wirkung nicht zusammenstimmen, da ist der Gl[aube] tausend Schwankungen ausgesetzt. 30–31 Vgl. Joh 1,14
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tigen Schwankungen unterworfen, indem er bald das Gemüth zu bewegen scheint, bald wieder aus demselben verschwindet. Das neue Leben, wie der Herr selbst sagt, „wer an mich glaubt, der ist aus dem Tode in das Leben hindurchgedrungen, wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben“, ist etwas ganz Eigenthümliches, es ist das Wesen der Seele selbst, deren Vollendung wir freilich erst bei einer noch andern Entwikelung unseres Wesens erwarten, das Wesentliche aber ist in diesem neuen Leben schon enthalten. Je kräftiger wir es fühlen, je mehr wir es genießen, desto mehr verschwindet alles was den Frieden des Gemüths trübt, vorzüglich also | das Bewußtsein der Sünde und der Schuld. Wenn wir denn glauben und wissen, daß diese Seligkeit und dieser Friede ein solcher ist, den uns nur der Herr gelassen hat, daß das Verschwundensein der Sünde und der Schuld, worauf eben jene Seligkeit ruht in dem Innersten unseres Gemüths, nicht unser eigenes Thun, nicht das Werk einer solchen Besserung des innern und des äußern Menschen ist, wie wir sie aus eigenen Kräften zu Stande bringen, sondern daß wir diese Seligkeit ihm verdanken; aber wenn dann die Frage entsteht: wie wir sie denn nun durch ihn erlangen, und wir uns dann denken Gott den Gerechten in einem Zorn wider die | Sünde begriffen, der nur konnte durch Blut und durch Strafe besänftigt werden, und so in dem Tode des Erlösers als der Stillung des göttlichen Zorns die Quelle der Vergebung der Sünde und den Anfang des neuen geistigen Lebens für uns alle: o, m. g. F., durch wie viel Menschliches wird dann das Göttliche getrübt, wie viel Verborgenes und Dunkeles zerstört da das schöne einfache Licht von oben, wie in sich selbst entzweit ist da unser Glaube an den ewigen Vater im Himmel, wenn wir ihn uns denken müssen erst zürnend, dann wieder versöhnend, erst als den der ursprünglich das Leben gewollt hat und überall das Leben schafft und erhält, und dann als den dessen Gerechtigkeit und Heiligkeit | nur befriedigt und gestillt werden kann durch den Tod. Das, m. g. F., ist ein Glaube an das vollgültige Opfer Khristi, an welches uns die Schrift selbst mit unserem Glauben weist; aber sollen wir es leugnen, daß er ein unvollkommener ist, und grade auf diese Art unvollkommen? sollen wir es leugnen, daß wir so zu einem festen immergleichen lebendigen Gefühl von dem göttlichen Wesen von seiner ewigen Liebe, von seiner allen Anfang begründenden und über allen Zusammenhang waltenden Weisheit nicht gelangen können? Das wird wohl keiner, der ernstlich die Wahrheit sucht. Und sehen wir auf die Erfahrung, wie oft wenn der Glaube diese Gestalt gewonnen hat, die Seele wieder | von Zweifeln gequält und die Ruhe des Gemüths getrübt wird, wie leicht eine so gestaltete Ueberzeugung von der Ungewißheit und 3–4 Vgl. Joh 5,24
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von Zweifeln wieder kann überwältigt werden, so werden wir sagen, das ist eine unvollkommene Ueberzeugung wie die, welche der Erlöser nicht konnte walten lassen in seinen Jüngern, sondern zur Beseitigung derselben gleich alle Anstalten treffen mußte, die ihm zu Gebote standen. Wenn wir wissen, die Kraft des neuen Lebens liegt nicht in uns selbst, sondern sie kommt uns von oben, es ist die Gnade Gottes, die den Menschen erleuchten muß und ihn in sich selbst umgestalten, es ist die Gnade Gottes, die ihn jedesmal heimsucht, wenn er eine beson|dere Kräftigung des neuen Lebens in sich spürt, wir freuen uns dieser Gnade und preisen Gott den Vater für Alles was er durch sie an uns thut; aber wenn wir sie uns nun denken als ein mit allen Gesezen der menschlichen Seele und des menschlichen Lebens in keinem Zusammenhang stehendes rein geheimnißvolles und übernatürliches Wirken Gottes, wobei das Leben der Khristen mit einander und die Regungen des Geistes in diesem Leben, wobei das göttliche Wort in der Schrift und die Segnungen bei dem Gebrauch desselben nur etwas Zufälliges wären, und Gott auf eine wunderbare Weise die Erleuchtung des Gemüths veranstaltend, außer allem Zusammenhang mit | der Gesezmäßigkeit des menschlichen Lebens wo und wann er wollte: so ist das, m. g. F., ein Glaube an die Wirkungen der göttlichen Gnade; aber das den natürlichen Zusammenhang des menschlichen Lebens Zerreißende, das Geisterartige darin, das werden wir nicht verkennen können. Und darum hat auch die Geschichte der khristlichen Kirche beständig gezeigt, wie ein so sich gestaltender Glaube die Quelle von mannigfaltigen Täuschungen gewesen, und je deutlicher und öfter uns das vor Augen tritt zu jeder Zeit, desto klarer müssen wir einsehen und desto tiefer fühlen, das ist eine Unvollkommenheit, die wir nicht sollen walten lassen, sondern der wir eben so augenbliklich und | eben so kräftig entgegentreten müssen, wie der Erlöser hier that. Laßt uns, m. g. F., mit diesen Punkten uns begnügen, sie zeigen uns genugsam, wie diese Art der Unvollkommenheit sich überall offenbart in dem Wesentlichsten und Wichtigsten, in dem Glauben der Khristen; und so laßt uns denn daran genughabend zu unserer zweiten Frage übergehen, nämlich wie handelte denn nun der Erlöser, und was that er um diese Unvollkommenheit des Glaubens zu überwältigen?
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II. Zuerst, m. g. F., müssen wir da ergriffen werden von dem Gefühl seiner Milde und seiner Nachsicht. Wie sagte er zu den Jüngern, da sie ohnerachtet solcher Zeugnisse die sie schon hatten, | doch noch erschraken und meinten, sie sähen einen Geist? Was seid Ihr so erschroken, und
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warum kommen doch solche Gedanken in Eure Herzen? So mild und liebreich redet er die noch Zweifelnden, die halb noch Ungläubigen an. O wie weit unterschieden von der Art wie er den Unglauben der Schriftgelehrten und der Pharisäer behandelte, die eben deswegen weil er nicht der Ihrige war und nicht zu den Ihrigen gehörte, sich nicht entschließen wollten zu glauben, er sei der den Gott zum Retter der Welt gesandt, ohnerachtet alle Zeichen die er verrichtete, und die sie selbst an ihm wahrnehmen konnten, so deutlich dafür sprachen, ohnerachtet sie sich selbst in ihrem Innersten eines tiefen Gefühls seiner Erhabenheit | und seiner Würde nicht verwehren konnten. Wie ruft er über sie das „Wehe“ aus, weil sie die Schlüssel des Himmelreichs hätten, aber weder selbst hineingingen, noch diejenigen hineinließen, welche ernstlich danach verlangten, mit wie harten Worten finden wir daß er sie angeredet hat und sie in dem tiefsten Grunde ihres Gewissens erschüttert. Ja auch jene beiden Jünger, denen er erschien auf dem Wege von Jerusalem nach Emahus, als sie traurig waren über seinen Tod und meinten deswegen weil er gestorben, so sei nun zerstört die Hoffnung ihres Volkes, die redet er an: Ihr Thoren und träges Herzens zu glauben alle dem, was die Propheten geredet haben, Ihr Thoren | die Ihr ohnerachtet die ganze heilige Schrift und die ganze Geschichte der Offenbarungen und Führungen Gottes Euch vor Augen liegt, noch nicht so viel davon begriffen habt, daß Ihr wissen solltet, derjenige welcher das Heil der Welt zu schaffen und das Reich Gottes zu gründen bestimmt ist, kann nicht anders als durch Leiden in seine Herrlichkeit eingehen. So schalt er die Einen, so er die Andern. Aber diesen unvollkommenen Glauben, dessen Unvollkommenheit in dem Schrek über das Unerwartete, in der Freude über das Nichtgehoffte seinen Grund hatte, diesen unvollkommnen Glauben, dessen Unvollkommenheit in der Zaghaftigkeit des Gemüths lag von etwas so Großem und | Herrlichem anzunehmen, daß es um ihretwillen und zu ihren Gunsten geschehen sei, den behandelt er mit dieser Milde und Liebe, warum seid Ihr so erschroken? warum kommen mitten in der Freude, der Ihr Euch überlassen sollt, solche Gedanken in Eure Herzen? O, m. g. F., das sei also das Erste, worin wir dem erstandenen Erlöser ähnlich zu werden uns bemühen. Ja es giebt einen Unglauben, und er mag bisweilen auch uns noch erscheinen und auch mitten im Khristenthum hier und da seine Stelle haben, es giebt einen Unglauben ähnlich dem jener Schriftgelehrten und Pharisäer; und wer es redlich meint mit der Sache des Herrn, der kann nicht streng | und ernst genug demselben entgegen34 erstandenen] so SAr 105, Bl. 232r; Textzeuge: verstandenen 10–13 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52
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treten, wie der Herr auch that. Wer nicht glauben will und kann an das Heil in Khristo, weil ihn ein menschliches und irdisches Interesse daran hindert, weil er sich selbst nicht verleugnen will, weil er sich den Führungen Gottes, die anders sind als er gemeint und geglaubt hatte, nicht hingeben will in kindlichem Gehorsam, der hat einen Unglauben, vermöge dessen er je nachdem die Umstände es mit sich bringen eben so feindselig gegen den Herrn und gegen sein Reich auftreten kann wie die Pharisäer und Schriftgelehrten. Da gilt es denn als ein treuer Diener des Herrn ohne Menschenfurcht zu erscheinen, da gilt es die Wahrheit zu besiegeln mit unserem Zeugniß und | mit der Kraft, die der Herr uns gegeben hat, in das verderbte menschliche Herz einzudringen, damit in demselben das Gefühl seiner Verkehrtheit aufgehe, und damit es sich selbst demüthige vor dem Herrn. Auch gewiß giebt es noch oft einen Unglauben wie jener der Zwei war, viel Thorheit und Trägheit des Herzens auch unter denen, die den Herrn eben so lieben und eben so an ihn glauben wie jene, viel Schwache, die sich eben so zaghaft machen und sich eben so beugen lassen, wenn irgend wie die Förderung des Guten im Reiche Gottes und der Genuß aller seligen Güter desselben gestört zu sein scheint. O dann gilt es, daß die denen der Herr Kraft gegeben hat, stark seien für | die Schwachen, daß sie dieselben kräftigen und in die Gemeinschaft ihrer Kraft aufnehmen, dann gilt es ihnen fühlbar zu machen, was menschliche Thorheit und Trägheit des Herzens ist, die sie hindert den Herrn ganz und rein zu umfassen, und durch alle Hindernisse hindurch ihm und seiner Sache treu zu sein, wie es alle seine wahren Jünger immer gewesen sind. Aber diese verworrene Unvollkommenheit des Glaubens, die eben wie bei seinen Jüngern der Fall war, halb aus Scheu vor dem was zu groß, was zu herrlich, was zu sehr über das Irdische erhaben erscheint, halb aus Freude über das Unerwartete und Ungehoffte hervorgeht, die sich in sich selbst nicht zu finden weiß und zusammen | geschrekt ist, diese Unvollkommenheit des Glaubens, in welcher Gestalt sie auch uns erscheinen mag, wo wir sie auch antreffen mögen, nie sollen wir sie anders behandeln als wie der Herr hier seine Jünger, in denen er diese Unvollkommenheit fand, mild und nachsichtig behandelte. Aber mit dieser Milde und Nachsicht, was that er wodurch es ihm gelingen konnte die Unvollkommenheit ihres Glaubens zu überwinden? Ganz einfach dies, daß er suchte ihre Erfahrung von demjenigen was geschehen war, so vollständig zu machen als möglich. Als er unter sie trat und sie begrüßte, da erschraken sie und meinten, sie sähen einen Geist. Nun trat er mit diesen milden und liebreichen Worten | näher zu ihnen 14 viel] so SAr 105, Bl. 232v; Textzeuge: weil Bl. 233r
30 geschrekt] gestrekt ; vgl. auch SAr 105,
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heran, forderte sie auf alle ihre Sinne an ihm zu versuchen, zeigte ihnen seine Hände und seine Füße, gebot ihnen zu fühlen, daß er Fleisch und Bein habe wie alle Menschenkinder und nicht ein Geist sei, und aß sogar mit ihnen um zu zeigen, daß er alle Bedürfnisse der menschlichen Natur mit ihnen theile, und daß er dieselbe Einrichtung derselben Lebensweise habe. Ja, m. g. F., etwas anderes giebt es nicht, denn durch die bloße Kraft des Gedankens diese Unvollkommenheit des Glaubens überwältigen wollen auf einem Gebiet, wo eben wenn sie einmal unvollkommen gestaltet sind, die menschlichen Gedanken immer der eine gegen den andern auftreten, das hat sich von jeher als | ein vergebliches Unternehmen gezeigt. Es ist also auch uns nichts anderes übrig, wenn wir irgend wo etwas beitragen können um unsere Brüder von einer Unvollkommenheit des Glaubens, von einer solchen die wir selbst nicht theilen, zu befreien, es ist nichts anders übrig als dies, daß wir suchen ihnen die Erfahrung an die Hand zu geben. Und dazu, m. g. F., dazu ist ja diese Gemeinschaft der Khristen gegründet, dazu ist sie ja von dem Herrn zu Einem Leibe, an welchem wir alle Glieder sind, durch Einen Geist getränkt, daß eben auf diesem Wege das neue Leben immer mehr ein vollkommen gemeinschaftliches werde, und was in dem Einen ist sich auch dem Andern mittheile, was dem Einen | offenbart ist auch dem Andern zu Theil werde. Wenn nun, m. g. F., unser khristliches Leben, das neue welches durch die Gnade des Herrn in uns aufgegangen ist, in dieser ganzen Kraft und Herrlichkeit der Gemeinschaft, wenn es nun nach dem überall wiederkehrenden Ausdruk der Schrift Ein Leib, Ein lebendiges Ganzes geworden ist, nicht etwas Geisterartiges und Gespensterhaftes, sondern Ein Leben, Ein lebendiges Ganzes; und wenn wir dieses Leben Andern immer mehr zur Anschauung bringen und zum klaren Bewußtsein: dann muß ja wohl jene Unvollkommenheit des Glaubens, jener Unzusammenhang in demselben immer mehr verschwinden, und in der Anschauung des allgemeinen zusammenhängen|den Lebens untergehen. Wie wäre es möglich noch zu glauben an Wirkungen der göttlichen Gnade, welche rein willkührlich und übernatürlich wären, aus allem Zusammenhang mit dem menschlichen Leben herausgerissen, wenn nur immer mehr zur Anschauung gekommen sind jene Wirkungen der göttlichen Gnade, die auf der Ordnung der khristlichen Kirche, auf der Entzündung des Lebens in derselben auf der gemeinsamen Liebe zu dem, der die Quelle alles Lebens ist, beruhen. Wie wäre es möglich, wenn immer mehr den Gläubigen zur Anschauung gebracht wird die Gemeinschaft 20 sich] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 234r 16–18 Vgl. 1Kor 12,13
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der Seligkeit mit dem Erlöser selbst, das was er damit gemeint hat wenn er seinen Vater | anfleht: „Ich in ihnen und sie in mir, wie du in mir und ich in dir“, wie sollten sie dann nicht glauben, daß eben die Seligkeit das Eigenthümliche des neuen Lebens ist, daß aber das Bewußtsein von dem Verschwundensein der Schuld auf nichts Anderem ruht und auf nichts Anderem ruhen braucht als auf der lebendigen Gemeinschaft mit dem, der selbst ohne alle Schuld war. Und wenn so die ganze Herrlichkeit des neuen Lebens immer mehr zur Anschauung kommt in dem Leben der Khristen, wenn sie so scharf unterscheiden die reine Treue gegen den erkannten göttlichen Willen von allen menschlichen Bestrebungen, denen noch Sündliches und Irdisches anklebt, die reine Liebe gegen | den Vater, der sich uns in seinem Sohn offenbart, von der mit Furcht und Schreken gemischten Empfindung eines uns fernen göttlichen Wesens: wie sollte dann nicht der Glaube zu seiner Vollkommenheit gelangen, daß der, der dieses neue Leben gegründet hat, eben so menschlich als göttlich muß gewesen sein, und alles Geisterartige, alles Gespensterhafte, alles was noch von der Furcht erzeugt wird und nicht von dem Lichte durchdrungen, immer mehr aus den Vorstellungen der Khristen von ihm verschwinden. Ja, m. g. F., Gott unseren ewigen Vater im Himmel nicht als einen solchen, der heute zürnt und morgen versöhnt ist, sondern als Einen und denselben gestern und heut | und in alle Ewigkeit; Khristum unsern Herrn und den Geist, den er uns gegeben hat, nicht als bald kommend und bald wieder verschwindend, sondern fest gegründet mit seiner geistigen Gegenwart in unserem irdischen Leben als einen und denselben gestern und heut und in alle Ewigkeit selbst immer mehr zu empfinden und Andern immer mehr darzustellen, das ist es was wir thun können und müssen, was wir aber auch unablässig thun müssen um alle Unvollkommenheit aus dem Glauben der Khristen immer mehr verschwinden zu machen. Aber eben so wenn wir noch selbst von einer solchen gedrükt sind, laßt uns keine andere Hülfe suchen als die, welche in dem | gemeinsamen Gebrauch des göttlichen Wortes liegt, in der gemeinsamen Freude an allem Guten und Schönen, was Gott durch den Erlöser in der menschlichen Natur gegründet hat, in der immer mehr 3–7 wie sollten ... Schuld war.] anders SAr 63, Bl. 10v: wie sollten dann nicht Alle glauben daß das neue Leben auf nichts anderm beruhe als auf der lebendigen Gemeinschaft mit ihm der fortwährend sein will bei den Seinen wie er verheißen hat: „ich bleibe bei euch alle Tage bis an der Welt Ende:“ [Vgl. Mt 28,20] 16–19 und alles Geisterartige, ... verschwinden.] anders SAr 63, Bl. 10v: und daß auch noch jetzt sein göttliches Wirken sich der menschlichen Seelen als Werkzeug bediene! 21 als] so SAr 105, Bl. 235r; Textzeuge: es 29–30 verschwinden] so SAr 105, Bl. 235v; Textzeuge: verschieden 2–3 Vgl. Joh 17,21–23
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zunehmenden Theilnahme an allem, was in der Gemeine der Khristen geschieht. Dann allein kann jede Unvollkommenheit des Glaubens verschwinden, dann kann das Herz immer mehr fest werden, und dann können wir ganz die Wahrheit davon empfinden und genießen, daß wer an den Herrn glaubt, schon hier das ewige und in sich selbst begründete Leben wirklich besizt und genießt. Amen.
[Liederblatt vom 2. Mai 1824:] Am Sonntage Misericordias Domini 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Nun freut euch etc. [1.] O treuer Jesu, meine Lust, / Du einzger Freund der Seelen, / Wohnt deine Lieb’ in meiner Brust, / Was kann mir dann wol fehlen? / Du führst zum Himmel uns hinauf, / Ich will in meinem Pilgerlauf / Zum Führer dich erwählen. // [2.] Durch dich, der selber ist der Weg, / Steht mir der Himmel offen; / Wer mit dir wandelt, hat den Steg / Der Seligkeit getroffen; / Ach leite du mich für und für, / Ich kann den Himmel außer dir / Zu finden nimmer hoffen. // [3.] Du bist die Wahrheit, dich allein / Hab’ ich mir auserlesen; / Denn ohne dich ist alles Schein, / In dir ist Kraft und Wesen. / O mache mich von Irrthum frei, / Daß ich nur dir ergeben sei, / Durch den ich kann genesen. // [4.] Du bist das Leben, deine Kraft / Laß immerdar mich spüren; / Dein Geist, der alles in mir schafft, / Soll mich allein regieren. / Und wenn ich einst den Lauf vollbracht, / Wirst du mich durch des Todes Nacht / Zum ewgen Leben führen. // Nach dem Gebet. – Mel. Sollt ich meinem etc. [1.] Lasset uns den Herren preisen, / O ihr Christen überall! / Kommet, laßt uns Dank erweisen / Unserm Gott mit frohem Schall! / Christus lag in Todesbanden; / Weil er sich für uns verbürgt, / Ward der Herr am Kreuz erwürgt. / Aber Christus ist erstanden. / Weicht nun Gram und Traurigkeit, / Freue dich, o Christenheit! // [2.] Mußte gleich der Heiland sterben, / Sinken in des Grabes Nacht; / Hatte doch ihn zu verderben / Die Verwesung keine Macht, / Da der Erde Pfeiler beben / Steigt er aus der Erd’ empor, / Bricht ins Leben neu hervor, / Leben uns und Heil zu geben. / Obgesiegt hat er im Streit, / Freue dich, o Christenheit. // [3.] Wo sind nun des Todes Waffen? / Wo der Hölle ihr Triumph? / Was kann nun der Feind noch schaffen? / Seine Pfeile wurden stumpf! / Christus ist, der Angst entnommen, / So mit Ehren angethan, / Daß er selig machen kann, / Die durch ihn zum Vater kommen. / Sein ist Macht und Herrlichkeit, / Freue dich, o Christenheit. // [4.] Solche sind die edlen Gaben, / Die sein Auferstehn uns schafft, / Daß wir volle Gnüge haben / In des neuen Lebens Kraft. / Seines Sieges Preis und Früchte / Theilet er den Seinen zu, / Hofnung, Trost, Gewissensruh / Und Vertrauen im Gerichte. / Auf des Himmels Seligkeit / Freue dich, o Christenheit. // [5.] Fürst des Le-
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bens, wir verlangen / Sehnsuchtsvoll nach deinem Heil; / Hilf, o Herr, daß wir empfangen / Das so theur erworbne Theil! / Brich hervor in unsern Herzen, / Laß uns mit dir auferstehn, / Mit dir ein zum Himmel gehn, / Wo du stillest alle Schmerzen! / Wonne wird uns alles Leid, / Freue dich, o Christenheit. // Nach der Predigt. – Mel. Es ist das Heil etc. Sei, Herr, gelobt in dieser Zeit / Von allen Gotteskindern, / Und ewig in der Herrlichkeit / Von allen Ueberwindern! / Gieb uns, Erstandner, Muth und Kraft, / Daß wir den Kampf der Ritterschaft / Im Glauben gut vollenden. //
Am 9. Mai 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Jubilate, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 4,43–54 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 303–315; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 124v–131v; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am Sonntage Jubilate 1824. Tex t. Joh. 4, 43–54. Aber nach zween Tagen zog er aus von dannen, und zog in Galiläam. Denn er selbst, Jesus, zeugte, daß ein Prophet daheim nichts gilt. Da er nun in Galiläam kam, nahmen ihn die Galiläer auf, die gesehen hatten alles, was er zu Jerusalem auf das Fest gethan hatte. Denn sie waren auch zum Feste gekommen. Und Jesus kam abermal gen Kana in Galiläa, da er das Wasser hatte zu Wein gemacht. Und es war ein Königischer, deß Sohn lag krank zu Kapernaum. Dieser hörte, daß Jesus kam aus Jerusalem in Galiläam, und ging hin zu ihm und bat ihn, daß er hinab käme und hälfe seinem Sohne; denn er war todtkrank. Und Jesus sprach zu ihm, Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht. Der Königische sprach zu ihm, Herr, komm hinab, ehe denn mein Kind stirbt. Jesus spricht zu ihm, Gehe hin, dein Sohn lebt. Der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte, und ging hin. Und indem er | hinabging, begegneten ihm seine Knechte, verkündigten ihm und sprachen, Dein Kind lebt. Da forschte er von ihnen die Stunde, in welcher es besser mit ihm geworden war. Und sie sprachen zu ihm, Gestern um die siebente Stunde verließ ihn das Fieber. Da merkte der Vater, daß es um die Stunde wäre, in welcher Jesus zu ihm gesagt hatte, Dein Sohn lebt. Und er glaubte mit seinem ganzen Hause. Das ist nun das andere Zeichen, das Jesus that, da er aus Judäa in Galiläam kam. Der Evangelist Johannes, m. a. Fr., erzählt uns weniger als die andern Evangelisten von den wunderbaren Hülfsleistungen, womit der Herr so viele leidende erquikkte, er thut es nur da, wo eine solche That entwe-
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der mit etwas merkwürdigem in dem Leben des Herrn selbst zusammenhängt, oder wenn sich daraus solche von seinen herrlichen und göttlichen Reden entspinnen, die nur aus dem Zusammenhang mit der That selbst können verstanden werden. Hier ist genau genommen keins von beiden der Fall, und so müssen wir uns natürlich fragen, was für eine Absicht hat denn wider seine sonstige Weise der Apostel bei dieser Erzählung. Das nöthigt uns nun in den ganzen Zusammenhang dessen, was wir gelesen haben, hineinzugehen. Nach zween Tagen aber, erzählt Johannes, welche nämlich der Herr zubrachte in jener samaritischen Stadt, wo so viele an ihn gläubig geworden waren, zog er aus von dannen, und kam in Galiläa. Das war nämlich schon vorher sein Vorsaz gewesen. Im Anfange des vierten Capitels hatte uns Johannes erzählt, da der Herr inne ward, es sei vor die Pharisäer gekommen, daß er mehr Jünger machte denn Johannes, so verließ er das Land, und zog wieder in Galiläa. Er war also auf dieser Reise schon begriffen. Demnach, als er sie seinem Vorsaz gemäß fortsezte, erzählt uns Johannes aus|drükklich, Er habe selbst bezeugt, ein Prophet gelte nichts in seinem Vaterlande, welches er uns also auch jezt noch als den Grund zu dieser Veränderung angiebt. Auch hiebei schon haben wir manches zu bemerken. Der Herr war auf dem Wege aus Judäa nach Galiläa gewesen, dieser Weg führte ihn durch das samaritische Land, und da war ihm jenes erfreuliche begegnet, was er gewiß mit herzlicher Dankbarkeit gegen Gott aufgenommen hat, daß ihm Gelegenheit gegeben war einen fruchtbaren Saamen des göttlichen Wortes auszustreuen in einer Gegend, die eigentlich weniger ein unmittelbarer Gegenstand seiner Thätigkeit sein konnte, und zwar einen so fruchtbaren, daß er sogleich, nachdem er gesäet hatte, mit großer Freude anfing zu ernten. Dennoch ließ er sich von seinem Vorsaz nicht abwendig machen, sondern weil er jene Veränderung seines Aufenthaltes einmal beschlossen hatte, so wollte er weiter reisen in dem frohen Bewußtsein des Glaubens und der Liebe derer, die ihn auf eine so wunderbare Weise erkannt hatten, und als die beiden Tage um waren, während welcher er in der samaritischen Stadt das Reich Gottes verkündigte, sezte er seinen früheren Vorsaz ins Werk. Die meisten Menschen, m. g. Fr., sind nicht in dem Fall grade so handeln zu können, wie der Erlöser hier that, weil wir alle gar sehr gebunden sind an eine feste Ordnung des Lebens, und es schon von vorn herein weniger in unserer Gewalt steht hier zu sein und dort. Dem Herrn war es nothwendig, wenn er seinen Beruf erfüllen sollte, daß das ganze Land des Volks, zu welchem er gesandt war, ihm mußte abwechselnd zum Aufenthalt dienen, auf daß sie keine Entschuldigung 10–11 Vgl. Joh 4,39
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hätten. Daher hatte er eine große Freiheit, hier und dort den Beruf, der ihm geworden war von seinem himmlischen Vater, zu erfüllen, und wenn er seinen Aufenthalt änderte, so geschah es auf der einen Seite durch seinen freien Willen, der aber auch auf der andern Seite bestimmt war durch gute Gründe. So war er aus Ju|däa gegangen, weil er nicht wollte, daß die Pharisäer, welche aufmerksam gemacht waren darauf, daß er viel mehr Jünger machte denn Johannes, und daß ein großer Theil des Volks sich zu ihm wendete, daß diese jezt schon ihm sollten Hindernisse in den Weg legen, und deswegen war er nach Galiläa zu gehen im Begriff. Wie er es aber beschlossen hatte, dabei blieb es, und nur wie man auf einer solchen Reise eine Zeitlang zu rasten und zu ruhen pflegt, so blieb er in der samaritischen Stadt, wo den Einwohnern das Licht des Glaubens aufging. Indem er aber seinen Weg fortsezte, muß er gesagt haben, was ihn Johannes an dieser Stelle sagen läßt, daß ein Prophet daheim nichts gelte. Unter diesem, Daheim in seinem Vaterlande, versteht Johannes also Judäa, das jüdische Land im engern Sinne, Jerusalem und was zunächst umher lag, theils weil der Erlöser aus dem Hause Davids hervorgehend gedacht wurde, theils weil er da zuerst von Johannes die Taufe empfangen und sein öffentliches Leben begonnen hatte. In diesem zwiefachen Sinne nennt Johannes Judäa das Vaterland des Herrn, wiewol er sonst im allgemeinen als Galiläer angesehen wurde, weil er dort die Jahre seiner Kindheit zugebracht und seine erste Erziehung empfangen hatte. Wenn er nun sagt, Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, so giebt er damit ein Zeugniß von dem geringen Erfolg, den schon seine ersten Bemühungen in Judäa gehabt, im Vergleich mit dem Segen, den er in dem samaritischen Lande gefunden hatte, wo es ihm als einem Juden unwahrscheinlich sein mußte, einen solchen reichen Erfolg seines Unternehmens bewirken zu können. Indem er nun nach Galiläa kam, so erzählt Johannes, daß die Galiläer ihn sogleich aufgenommen hätten, das heißt ihm Achtung und Ehrerbietung erwiesen, weil sie nämlich gesehen hatten alles, was er zu Jerusalem | auf dem Feste gethan hatte, indem nämlich auch aus jenen Gegenden eine nicht unbedeutende Zahl, so viele grade konnten, auf das hohe Fest in die Hauptstadt des Volkes zogen. Hier stellte sich also dem Erlöser dreierlei gegen einander. In Jerusalem hatte er alle die Zeichen gethan, um derentwillen die Galiläer ihn mit vieler Achtung aufnahmen, aber dennoch hatte er Ursach gefunden zu sagen dem Erfolge nach, Der Prophet gilt nichts in seinem 5–7 Vgl. Joh 4,1–3
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Vaterlande. In die samaritische Stadt war er gekommen nicht nur als ein Fremdling, sondern als ein solcher, der das allgemeine Vorurtheil gegen sich fand, und dennoch hatte er einen solchen lebendigen Glauben bewirkt, daß diejenigen, die ihn erkannten, sagten, nicht um der Veranlassung willen, die allerdings auch etwas wunderbares war, sondern aus ihm selbst, aus seinen Reden, aus der geistigen Kraft, die in ihm ruhte, und mit der er wirkte, aus dem lebendigen Einfluß, den er auf sie gehabt, hätten sie erkannt, daß er der Welt Heiland sei. Die Galiläer nun, die nahmen ihn auf, er genoß dort überall wohin er kam einer großen Achtung, weil nämlich bei seiner Erscheinung sich sogleich der Ruf von ihm erneuerte, und ihnen alles ins Gedächtniß geführt wurde, was sie von ihm gesehen hatten auf dem Feste zu Jerusalem. Das war also auch ein Glaube besser immer als der Unglaube, über welchen der Erlöser klagt, daß er ihn in Judäa gefunden, aber doch bei weitem nicht zu vergleichen mit dem reichen aus seiner geistigen Wirkung allein hervorgehenden und ihn gleich als Christum den Heiland der Welt empfangenden jener Samariter. Indem nun dieser Unterschied dem Erlöser zugleich vorschwebt, so finden wir ihn also in der vergleichenden Betrachtung des verschiedenen Erfolgs, den seine Bemühungen unter den Menschen hatten. Diese Vergleichung nun, m. g. Fr., das ist etwas rein menschliches, und keiner kann sich derselben erwehren. Dieser Wechsel in unserem Leben drängt sich uns beständig auf, und | wenn es schon natürlich ist und unvermeidlich, daß wir mit einander vergleichen die angenehmen und die widrigen Zeiten in Beziehung auf das, was uns äußerlich begegnet, und auf die frohe oder traurige Stimmung, in welche uns diese äußerlichen Vorkommenheiten versezen: so ist es noch mehr natürlich, daß jeder in dem Kreise seines Berufs die günstigen Zeiten, in welchen Gott ihm einen guten Erfolg seiner Bemühungen schenkt, vergleiche mit den ungünstigen, wo der Erfolg nur sparsam sich zeigt, und nichts von dem was wir unternehmen gedeiht. Diese Vergleichung ist etwas rein menschliches, und der Herr selbst, wie wir sehen, hat sich ihr nicht entzogen; aus den Worten, die er sagte, als er aus der samaritischen Stadt gehend seine Reise weiter fortsezte, daß ein Prophet nichts gelte in seinem Vaterlande, sehen wir, wie er sich ganz einfach dieser Vergleichung hingegeben hat. Aber, m. g. Fr., bei den wenigsten Menschen ist diese Vergleichung ohne Eitelkeit und selbstgefälliges Wesen und ohne daß sie einen immer gerechten und billigen Einfluß hätte auf unser Verhalten gegen die Menschen und auf unseren eigenen Eifer in der Erfüllung des Werkes, welches uns Gott aufgetragen hat. Gestärkt und erhoben werden 4–8 Vgl. Joh 4,42
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wir durch den günstigen Erfolg, niedergedrükkt und muthlos gemacht durch den ungünstigen; hingezogen fühlen wir uns zu den Menschen, an denen uns das gelingt, was der Herr uns zu thun befohlen hat, aber nur zu leicht abgestoßen von denen und ein ungünstiges Urtheil über sie fällend, bei denen es uns nicht gelingt. Von dem Erlöser wissen wir nun, daß all sein Denken und Empfinden, alle seine Bestrebungen und alle Bewegungen seines Gemüths frei gewesen sind von einer jeden solchen menschlichen Schwäche. Das ist es eben was von ihm gesagt wird, er ist versucht worden allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde; äußerlich ist ihm | alles begegnet wie uns, alle Wechsel des menschlichen Lebens sind ihm entgegengetreten und haben auf ihn gewirkt, aber ohne Sünde; sein Gemüth blieb frei von allem, was menschliche Seelen zu beflekken und zu verunreinigen pflegt, und er blieb in allen Verhältnissen des Lebens immer derselbe. Nun haben wir vorher, als er nur noch ahnden konnte, aber mit der Zuversicht die ihm eigen war ahnden konnte, den schönen Erfolg, der ihm in jener samaritischen Stadt bevorstand, den Ausdrukk seiner Freude gelesen, als er zu den Jüngern, die aus der Stadt zurükkkamen und ihm Speise anboten, sagte, Ich bin schon gesättigt, denn das ist meine Sättigung, wenn es mir gelingt den Willen meines himmlischen Vaters zu thun; hebet nur eure Augen auf und freuet euch, daß ihr gesandt seid zu schneiden, wo ihr nicht gearbeitet habt. Das war der Ausdrukk einer reinen Freude; aber eben rein war sie eine Freude in Gott, eine Freude an dem Gelingen des göttlichen Werkes, welches zu thun sein Beruf war, und nicht eine Freude an dem eignen Thun, nicht eine Freude daran, daß er grade das Werkzeug gewesen war, daß auf ihn der Erfolg mußte zurükkgeführt werden. In dem Ausspruch, den wir gelesen haben, Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, liegt allerdings der entgegengesezte Ausdrukk des Schmerzes, das Gefühl des Nichtgelingens; aber wenn wir die Worte genau betrachten, so finden wir auch hier schon den Herrn mehr die Menschen entschuldigen als sie anklagen. Denn das liegt so sehr in der Natur des Menschen angezogen zu werden von dem fremden und fernen; es liegt in der Natur der Dinge und der Begebenheiten, daß das nahe uns weit eher in seinen Mängeln und Schwächen erscheint, und daß wir gewohnt sind dergleichen mehr vorauszusezen in allem, was uns nahe liegt, wie es auch schon ein alter Spruch ist, daß das nahe überall den großen Ruf verliert. Die Anwendung, die der Herr davon macht, war also eine entschuldigende | und nicht eine verklagende, so wie er auch am Kreuze zu seinem Vater sagt, Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun. So finden wir also auch 9–10 Vgl. Hebr 4,15
18–22 Vgl. Joh 4,31–38
40–41 Lk 23,34
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hier denselben Geist, wenn gleich der Gegenstand ein anderer und ein geringerer war. Es mußte ja natürlich sein, daß es ihm dort in seinem Vaterlande und besonders in der Hauptstadt des Volkes nicht so gelingen konnte, weil überall die von Gott am meisten ausgerüsteten Menschen am wenigsten gelten und wirken in ihrer ursprünglichen Heimath. Nun kommt er nach Galiläa; da tritt ihm überall entgegen Achtung und Ehrerbietung; aber es ist nicht der Glaube, den er in der samaritischen Stadt gefunden hatte, nicht der lebendige Glaube, der sich so ausdrükkte, Wir haben nun selbst gesehen und erkannt, daß dieser ist warlich Christus der Welt Heiland; sondern es war der Glaube an den Wunderthäter, von dem sie vieles selbst gesehen und noch mehreres gehört hatten; sie rechneten es sich nun für einen Vorzug an, daß er nun auch auf eine Zeitlang der ihrige werden wollte, und empfingen ihn daher mit der Achtung und Ehrerbietung, die außerordentliche Menschen überall zu finden gewohnt sind. Aber es waren vorzüglich die Wunder des Herrn, um derentwillen sie ihn so aufnahmen, es waren diese geheimnißvollen unbegreiflichen Kräfte, deren Zusammenhang aber mit seiner eigenthümlichen göttlichen Bestimmung zum Heil der Welt und mit der Fülle der Gottheit in ihm sie nicht einsahen, weil sie nicht höher gingen eben zu dem Glauben, daß er der Welt Heiland sei. Wie muß also des Erlösers Empfindung hiebei gewesen sein? Allerdings eine sehr gemischte aus jenen beiden, aus der Hoffnung auf der einen Seite, aus einem solchen Glauben werde doch mit der Zeit der rechte und wahre sich entwikkeln, und es sei immer schon viel gewonnen, wenn die Aufmerksamkeit der Menschen auf ihn gefesselt | werde; auf der andern Seite aber aus dem Bedauern, daß sie bei dem äußern stehen geblieben, daß die Freude an dem geistigen Heil, welches er ihnen brachte, in ihrem Herzen nicht aufgegangen war. Und in dieser gemischten Empfindung seines Herzens finden wir ihn hier, indem jener königische, dessen Sohn krank lag zu Kapernaum, zu ihm kam, als er wieder in Kana war, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte, und ihn bat, er möchte kommen und seinem Sohne helfen, denn er sei todtkrank. Da sprach der Herr zu ihm, Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht. Das war nun freilich weniger zu ihm als bei Gelegenheit seiner zu den andern und auf sie sich beziehend gesagt, und es konnte ihn nur treffen, in so fern er einer war von jenen. Auch nach Galiläa kam der Herr, wie es denn überall sein Beruf war, um das Reich Gottes zu bauen. Der Glaube also, von welchem er spricht, ist auch nicht ein anderer als der Glaube an das Reich Gottes, 10–11 Vgl. Joh 4,42
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welches er zu gründen und zu stiften von Gott gesandt war, und um welches zu stiften er der sein mußte, der er war, und mit dem Glauben an das Reich Gottes zugleich der Glaube an ihn als der Welt Heiland. Nun sagt er, Ihr hier in Galiläa seid solche, die, wenn sie nicht Zeichen und Wunder sehen, zu diesem Glauben nicht kommen, wobei er ausdrükklich nicht sagt, Zeichen und Wunder werden euch zum Glauben führen, denn auch davon hatte er freilich das Gegentheil erfahren, indem er nach einem langen und sich oft wiederholenden Aufenthalt doch Gelegenheit hatte von den Städten Galiläas zu sagen, Wehe dir Kapernaum, wehe dir Chorazin, wären solche Thaten zu Sodom und Gomorrha geschehen wie unter euch, sie hätten bei Zeiten Buße gethan im Sakk und in der Asche. Da hat er also in der Folge das | Zeugniß abgelegt, daß ohnerachtet sie Zeichen und Wunder gesehen hatten in Menge, sie doch nicht glaubten, und daher haben wir wol hier vorzüglich den Nachdrukk seiner Worte darauf zu legen, daß er sagt, Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sähet, so würdet ihr gar nicht glauben, viel weniger daß ihr würdet geschikkt sein zu sagen mit jenen Samaritern, Wir glauben nun nicht mehr um jener Rede willen, die uns die Frau von ihm hinterbracht hat, sondern wir haben selbst erfahren, daß dieser ist der Welt Heiland; sondern glaubet ihr ja, so glaubet ihr nur um der Wunder willen, aber zu der rechten von allem äußerlichen unabhängigen Ueberzeugung, zu dem rechten Ergriffensein von meiner göttlichen Kraft seid ihr nicht gekommen. Der Mann aber, der zu ihm gekommen war, damit er der Noth abhelfen möchte, an der sein Sohn darniederlag, und ihn wo möglich retten und für das irdische Leben erhalten, der war freilich in diesem Augenblikk nicht im Stande von einer solchen Rede des Herrn den rechten Nuzen zu ziehen; sondern eilfertig und im Drange seines Herzens suchte er ihn davon abzuziehen und sprach wiederholend seine Bitte aus, Herr, komm hinab, ehe denn mein Kind stirbt. Wir sehen aus diesem Beispiel recht deutlich, m. g. Fr., wie der Glaube an die Wunder des Herrn unabhängig war von dem eigentlichen Glauben an ihn als den Heiland der Welt und den Sohn Gottes. Dieser Mann, der war hingegangen als er hörte, Christus käme von Judäa, aber wie die andern, weil er gehört hatte den Ruf von demjenigen, was der Herr in Jerusalem gethan, weil ihm aus einer Menge von Zeugnissen in gutem Gedächtniß war die außerordentliche Kraft und Wirksamkeit dessen, der jezt das galiläische Land betreten hatte, und nun suchte er gleich einen Nuzen für sich zu ziehen und flehte also die Hülfe des Herrn an. Das wäre ihm auch nicht zu verdenken gewesen, daß er es gethan, selbst wenn er in diesem Glauben an die Wunder 9–12 Vgl. Mt 11,21.23; Lk 10,13.15
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des Herrn wäre unsicher gewesen; denn was versucht | nicht der Mensch ihm selbst unwahrscheinliches und in einem halben Glauben, manches, wozu er sich in andern Umständen nicht bereit finden würde, ja was er auf jeden Fall für etwas leeres und vergebliches erklären würde, wie vieles versucht er nicht in der Noth, die ihn schwer drükkt. Daher hat auch jener königische nichts eiligeres, als dem Herrn noch einmal seine Bitte dringend vorzutragen und ihn abzulenken von allem, was ihn zerstreuen konnte, um ihn desto sicherer zu bewegen, daß er mit ihm hinabkäme und sein Kind wieder gesund machte. Da sagte der Herr zu ihm, Gehe hin, dein Sohn lebt; der Mensch aber glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte und ging hin. Weshalb denn, m. g. Fr., ging der Herr nicht mit ihm? Wir wissen wol hierauf keine andere Antwort zu geben als die, daß er unter allem irdischen seinen himmlischen Beruf niemals vergaß und versäumte, sondern jenes diesem immer unterordnete. Er war dahin gekommen, wo er das Wasser hatte zu Wein gemacht, in Kana, wo es nicht fehlen konnte, daß sich persönliche Verbindungen mit ihm geknüpft hatten, in Kana, wo er unter den Städten Galiläas am meisten hoffen konnte, daß sich ein Glaube an ihn gebildet und befestiget habe. Da wollte er etwas thun für sein Werk, welches ihm oblag, und sich eine Zeitlang daselbst aufhalten und nicht gleich nach Kapernaum gehen, und von diesem Vorsaz ließ er sich nicht abwendig machen durch die Bitte, die ihm jener vortrug, weil er sie eben so gut in der Ferne erfüllen konnte als in der Nähe. Das ist wol der eigentliche Grund, aber nicht um eine Probe davon zu geben, daß er nicht einmal da zu sein brauche, nicht einmal den zu sehen oder zu berühren nöthig habe, dem er helfen sollte. Einen solchen Bewegungsgrund dürfen wir dem Herrn nicht zutrauen, weil ein solcher niemals ohne Eitelkeit sein kann; sondern rein aus | der Natur der Sache müssen wir es uns erklären, daß er nicht mit hinabging. In dem Manne war es ein höherer Grad des Glaubens, aber doch derselbe Glaube an die Wunderkraft Christi, daß er sich auf das Wort des Herrn verließ, daß er glaubte, seine Bitte sei ihm gewährt, und daß er ohne weiteres fortging. Und daher kam es denn, daß, als er vernommen hatte das Zeugniß seiner Leute, die ihm entgegen kamen auf dem Wege, daß es mit seinem Sohne besser geworden sei, um dieselbe Stunde, in welcher der Herr zu ihm gesagt hatte, Dein Sohn lebt, daß er mit seinem ganzen Hause glaubte. So stellt er uns die mittlere Stufe dar, daß aus dem Glauben an die Wunder des Herrn sich in ihm entwikkelte der Glaube an den Erlöser und Heiland der Welt. Und das war der Erfolg von dem allgemeinen 15–16 Vgl. Joh 2,1–11
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Wort, welches der Herr gleich bei der ersten Aeußerung seiner Bitte zu ihm gesagt hatte, Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht; dadurch war er aufmerksam geworden darauf, daß der Herr noch einen andern Glauben verlangte, daß er noch zu etwas anderem gekommen sei und etwas höherem als Wunder zu thun, und der Eindrukk, den der Herr auf ihn gemacht, verbunden mit dem Zeichen, welches er an seinem Sohne gethan, ward für ihn und für sein ganzes Haus eine Veranlassung zum Glauben. Und so hat uns Johannes diese Geschichte erzählt, um uns zu zeigen, wie in einzelnen Fällen durch die Wunder, die der Herr verrichtete, der Glaube an ihn erwekkt werde; aber doch in einer Verbindung, daß wir nun das nicht anders ansehen können und schäzen, als so wie der Herr, der seine Worte immer so genau und passend eingerichtet hat, selbst es schäzt, daß dieser Glaube, weil er einer starken Veranlassung, eines irdischen Ursprungs bedurfte und sich davon nicht losmachen konnte, doch ein geringerer war als der Glaube jener Samariter, die zu dem | lebendigen Bewußtsein gekommen waren, daß es jenes Wunders, welches sie gehört hatten, nicht bedurft hätte, nachdem sie den Herrn selbst gesehen und gehört hatten, um sich zu überzeugen, daß er der Heiland der Welt sei. Und so kommen wir darauf zurükk, der rechte reine Segen der Erscheinung des Herrn für das menschliche Herz, der soll und kann von nichts anderem ausgehen als von dem lebendigen Eindrukk, den er in seinem göttlichen Wesen, in seiner höhern Natur, als verkündigend aus sich heraus die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnt, als von sich strahlend die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater auf die Menschen macht. Diesen überall wo wir können, aus allen herrlichen Worten, die er geredet hat, aus seinem ganzen Leben und aus seinem Leiden immer tiefer in unserem Herzen begründen, das muß für uns alle die unerschöpfliche Quelle des Heils sein und der schöne und herrliche Glaube, den er uns allen geben und unter uns immer lebendiger machen möge durch seine Kraft. Amen.
26–27 Vater, auf die Menschen] Vater auf die Menschen, 25 Vgl. Kol 2,9
26 Vgl. Joh 1,14
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Am 12. Mai 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Bußtag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 6,12–18 Nachschrift; SAr 87, Bl. 24r–44r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 236r–248v; Andrae Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am Bettage 1824. |
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Tex t. Römer VI, 12–18. So laßt nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in seinen Lüsten. Auch begebet nicht der Sünde eure Glieder zu Waffen der Ungerechtigkeit; sondern begebet euch selbst Gott, als die da aus den Todten lebendig sind, und eure Glieder Gott zu Waffen der Gerechtigkeit. Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch; sintemal ihr nicht unter dem Gesez seid, sondern unter der Gnade. Wie nun? sollen wir sündigen, die weil wir nicht unter dem Gesez, sondern unter der Gnade sind? Das sei ferne! Wisset ihr nicht, welchem ihr euch begebet zu Knechten in Gehorsam, deß Knechte seid ihr, | dem ihr gehorsam seid, es sei der Sünde zum Tode oder dem Gehorsam zur Gerechtigkeit. Gott sei aber gedankt, daß ihr Knechte der Sünde gewesen seid, aber nun gehorsam geworden von Herzen dem Vorbilde der Lehre, welchem ihr ergeben seid. Denn nun ihr frei geworden seid von der Sünde, seid ihr Knechte geworden der Gerechtigkeit. M. a. F., Wir sind hier versammelt um zu begehen einen Tag des Bekenntnisses unserer Sünde und der Bitte um Vergebung. Mit dem Bewußtsein also der Sünde sind wir hieher gekommen, aber als Khristen, als solche die sich getrösten der Vergebung ihrer Sünde durch den, der uns geworden ist zur Erlösung und zur Heiligung. Wie stimmen | nun damit die Worte des Apostels, die wir eben gehört haben? Wir bekennen uns zu der Sünde, indem wir aber dennoch mit fester Zuversicht behaupten Khristen zu sein, und also uns der Gnade Gottes zu er22–23 Vgl. 1Kor 1,30
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freuen, er aber sagt wer unter der Gnade steht, der ist frei von der Sünde und ist ein Knecht geworden der Gerechtigkeit. Dieses Wort, m. g. F., verglichen mit der Empfindung, von welcher ich voraussezen darf, daß sie an einem Tage wie der heutige uns alle durchdringt, droht uns in mancherlei Verwirrungen zu führen. Wem sollen wir glauben[,] unserem eigenen Herzen, welches in seinem innersten Gefühl beides vereinigt, das Bewußtsein der göttlichen Gnade und | der Sünde die noch in uns ist, oder dem Apostel des Herrn, der beides auf das strengste zu trennen scheint? Wenn wir ihm glauben, was sollen wir thun? sollen wir zu uns selbst sagen, eben deshalb weil du das Vermögen in dir trägst noch zu sündigen, so ist es ein leerer Wahn, wenn du bisher gemeint hast dich der Gnade Gottes zu erfreuen? oder sollen wir sagen, weil das eine tiefe innere Wahrheit in dir ist, dir so gewiß als dein eigenes Leben, daß auch du in Khristo Gott versöhnt bist und ihm angenehm in seinem Sohne, so ist es ein Wahn, daß du noch sündigest; vergeblich quälst du dich, wenn du dir noch Vorwürfe machst über dieses und jenes in | deinem Leben, und ganz sollst du leben der frohen Zuversicht eines begnadigten Kindes! Wir fürchten uns vor dem Einen und vor dem Andern, vor dem Einen weil es uns raubt den Trost, den wir uns zu eigen gemacht haben und von dem wir nicht lassen können, vor dem Andern, weil es dem widerspricht, was wir immer in uns als die Stimme Gottes geehrt haben, und auch fühlen es immer so ehren zu müssen. So laßt uns denn, m. g. F., damit wir dieser Verwirrung entgehen, indem wir auf der einen Seite auf unser eigenes innerstes Bewußtsein sehen, auf der andern aber den Worten des Apostels als eines zuverlässigen Führers folgen[,] | mit einander darüber nachdenken, ob und wie denn die Sünde mit der göttlichen Gnade zusammen in dem Menschen sei und sein könne. I. Das Erste was wir unstreitig aus den Worten des Apostels abnehmen können, ist dies, daß wo die göttliche Gnade ist, da kann eine Herrschaft der Sünde nicht sein, und wo die Herrschaft der Sünde ist, da kann die göttliche Gnade in Khristo nicht sein. Das, m. g. F., wird auch mit unserer eigenen Erfahrung übereinstimmen, wenn wir uns nur aus den Worten des Apostels selbst recht deutlich zu machen suchen, was er unter Herrschaft der Sünde versteht. Herrschaft von der einen Seite sezt | Gehorsam auf der andern Seite voraus. Wo keine Herrschaft ist, da kann auch kein Gehorsam sein, wo ein Gehorsam ist, da ist nothwendig irgend eine Art der Herrschaft. Der Gehorsam aber hat immer seinen Ursprung in dem Willen des Menschen selbst, und wir müssen ihn immer als etwas Freiwilliges ansehen. Denn wenn auch von Kindheit an der Mensch zum Gehorsam getrieben wird durch die Furcht
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vor der Strafe oder durch die frohe Erwartung des Lohnes, daß er sich der Hoffnung hingiebt und sich von ihr loken läßt, daß er der Furcht nachgiebt und sich von ihr schreken läßt, das ist sein eigener Wille, die eigene Bewegung seines Gemüths, und so [ist] er selbst der Urheber seines Gehorsams. | Wo wir das nicht voraussezen können, da ist auch kein Gehorsam mehr, da ist der Unterschied nicht zwischen dem Herrschenden und dem Gehorchenden, den wir immer mit diesem Worte verbinden; denn da müßte die Folgeleistung nichts sein als eine äußere Gewalt, ein dem Menschen von außen angethaner Zwank. Wo der angewendet wird, da ist keine Herrschaft sondern Gewalt; wo der seine Wirkung thut, da ist auch kein Gehorsam, sondern es ist Ueberwältigung. Wo also Herrschaft der Sünde ist, da ist Gehorsam gegen die Sünde, wie der Apostel es sagt, weß Herrschaft ihr euch unterwerfet, dem seid ihr gehorsam. Herrschaft aber und Gehorsam, m. th. F., bie|ten überall bestimmte sich unter den gleichen Bedingungen immer wiederholende Zustände dar. Da ist nicht von einzelnen zerstreuten Fällen die Rede, indem wohl jeder hie oder da etwas thut um dem Andern gefällig zu sein, was in seinem ganzen Leben nie wieder oder selten vorkommt, sondern es sind beharrlicht wiederkehrende Zustände, es ist ein zusammenhängendes Leben, daß wo der vom Gebot oder vom Gesez vorhergesehene Fall eintritt, da erfolgt auch nach der Ordnung der Gehorsam, die vom Gebot oder vom Gesez vorgeschriebene Handlung. Und so sehen wir die Herrschaft der Sünde bringt hervor ein zusammenhängendes Leben, nicht ein|zelne hie und da zerstreute Fehltritte, sondern eine Regelmäßigkeit des Betragens in dem Gehorsam gegen die Sünde unter welcher Gestalt sie auch erscheint, sei es in der lokenden Gestalt der Lust, sei es in der schrekenden der Furcht und der Menschengefälligkeit, sei es in der wilden und rohen des ungebändigten Triebes. Fragen wir nun, m. g. F., unsere eigene Erfahrung, was wir an uns, was wir an einander erleben; o so sehen wir denn auch diesen beharrlichen Gehorsam gegen die Sünde in den mannigfaltigsten Abstufungen. Bald ist es der gedankenlose Gehorsam des Lasters, welcher an seinem Joche zieht ohne irgend einer Vorstellung Raum geben zu können | von einem andern Zustande, der natürlicher wäre und dem angemessener; bald ist es der bewußte Gehorsam des Knechtes, indem freilich sich hier und da ein eigener Wille regt, aber der allgemeine Wille gehorsam zu sein wenn auch nur um der Noth willen, der überwältigt immer wieder, so oft der Streit entsteht jenen andern; bald ist es der bedenkliche Gehorsam des Knechtes, der immer im Begriff ist untreu zu werden, weil er nach Frei2 der Furcht] der Ergänzung aus SAr 105, Bl. 238v Textzeuge: entfehlt
39 entsteht] so SAr 105, Bl. 239v;
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heit echzt und schmachtet. Das sind die Zustände, die uns die Herrschaft der Sünde darstellt. Und, m. g. F., das muß uns wohl einleuchtend sein, wo eine solche Herrschaft der Sünde ist, da ist die göttliche Gnade nicht. Denn diese wie sie uns | der Apostel beschreibt, so beruht sie ihrem Wesen in der menschlichen Seele nach darauf, daß wir, wie er auch in den verlesenen Worten sagt, aus dem Tode lebendig geworden sind, oder wie er kurz zuvor gesagt hat, nachdem wir mit Khristo begraben sind in seinen Tod, wir auch mit ihm auferstanden sind zu einem neuen Leben. Dieses neue Leben welches die Schrift uns überall so beschreibt, daß es nicht mehr ist ein Wandel nach dem Fleisch, sondern im Geiste, daß nicht mehr wir leben, sondern Khristus in uns, der welcher selbst Eins ist mit seinem Vater, der welcher nirgens sein kann ohne daß die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater auch da wäre, wo dieses neue Leben nicht ist in das Leben des Erlösers eingewur|zelt, aus ihm entsprossen, ihm ähnlich in seinem Innersten, da ist auch die Gnade nicht, die Gott den Menschen nur in seinem Sohne geben wollte und geben konnte. Wenn wir nun fragen: wie so viel uns noch überall entgegentritt auch unter den Khristen von der Herrschaft der Sünde, wenn sie das ist was wir eben beschrieben haben, sollen wir sagen daß die göttliche Gnade sich ganz zurükgezogen hat? O, m. g. F., dann wäre der heutige Tag nicht ein Tag der Demüthigung und der Buße, sondern ein Tag der Vernichtung und der Verzweiflung. Nein, aber das müssen wir gestehen, wenn wir von der Wahrheit des göttlichen Wortes uns Mark und Gebein wollen durchdringen lassen in treuer Einfalt, | das müssen wir gestehen mit einem wahrhaft begründeten neuen Leben in Khristo kann die Herrschaft der Sünde nicht zusammen sein, kann der Gehorsam gegen die Sünde nicht bestehen. Regungen der göttlichen Gnade aber können da sein vorbereitend das mehr oder minder verstokte verhärtete und verschlossene Herz, Augenblike können da sein sich anschließend an jenen Zustand wo der Knecht der Sünde nach Freiheit lechzt und die Ketten gern von sich würfe um sich selbst zu leben, solche können da sein, aber einzeln und zerstreut sind sie Vorzeichen dessen was werden kann, aber nicht dasjenige was schon offenbart ist an den Kindern Gottes, Hoffnungen erweken sie uns, und | ermuntern uns selbst beizutragen was in unseren Kräften steht, um diejenigen die noch Knechte der Sünde sind aber nach Freiheit seufzen, und denen die holde und liebliche Vorstellung derselben das Herz in seiner innersten Tiefe schon bald entzükt, bald erquikt, um diese zu lösen von dem schweren Joche, an welchem sie 1 echzt] anders SAr 105, Bl. 239v: lechzt 7–9 Vgl. Röm 6,4
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12 Vgl. Joh 10,30
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ziehen, und sie zu spannen an das sanfte und leichte Joch des Erlösers. Mit diesen können und sollen wir seufzen: „ich Elender, wer errettet mich von dem Leibe dieses Todes!“ und sollen sie hinweisen auf den, welchem auch wir, die weil wir weiland Knechte der Sünde gewesen sind, danken und ihn preisen, daß er uns befreit hat | von dem Joche. So, m. g. F., [ist] der Apostel in Uebereinstimmung mit unserem Herrn. Keiner, sagt dieser, kann zweien Herren dienen. Einem, sagt der Apostel, müßt ihr euch ergeben zum Dienst und zum Gehorsam. Denn der Mensch kann nicht bestehen ohne ein zusammenhängendes in sich übereinstimmendes und regelmäßiges Leben; Einem muß er sich ergeben zum Dienst, aber Einem kann er sich auch nur ergeben, entweder der Sünde zum Tode, oder der Gerechtigkeit des neuen Lebens in Khristo, damit er die Frucht das ewige Leben davon trage. Wo also die göttliche Gnade ist, da ist die Herrschaft der Sünde zerrissen und zerstört, da ist der Zusammenhang des sündlichen | Lebens zerknikt und gebrochen, da ist die herrschende Kraft der Sünde gelähmt. II. Aber ist nun wo die göttliche Gnade ist die Sünde gar nicht mehr? Das ist die zweite Frage die wir uns zu beantworten haben, m. g. F., und wie können wir sie beantworten? Wer ist es wohl, der da sagen könnte, wenn ich auch mich selbst bescheiden wollte, weil die Sünde noch in mir ist, daß ich die göttliche Gnade noch nicht kenne, Andere giebt es, welche sie besizen, und ich preise sie deswegen selig, weil die Sünde gar nicht mehr in ihnen ist, wo wäre ein solcher zu finden? Wie könnten wir sagen, daß sich so neben den Einen ein Anderer hinstellen ließe, eben so wenig | als es irgend Einen giebt, in welchem mit jenen Spuren derselben vermischt wäre. Nein das fühlen wir, das ist nicht vorhanden in dem Zustande der menschlichen Seele in diesem irdischen Leben; kann es jemals geoffenbart werden, so gehört es zu demjenigen, was noch nicht erschienen ist, und alle die sich mit der größten Zuversicht der göttlichen Gnade rühmen, alle die in ihrem Leben den treuen Gehorsam der Gerechtigkeit darstellen, und sich Gotte begeben haben mit allen ihren Kräften zu Werkzeugen der Gerechtigkeit, diese werden dennoch gestehen müssen, ja die Sünde sei noch in ihnen. Wie würde sonst auch, m. g. F., der Apostel Johannes, der Vertrauteste | Freund, der geliebteste Jünger seines Herrn, wie würde der zu denen die er seine Kinder nennt in Khristo sagen können: „wenn jemand sündigt, so 20 wie] so SAr 105, B. 241v; Textzeuge: wo offenbar ein Satzteil. 1 Vgl. Mt 11,30 1Joh 2,1
2–3 Röm 7,24
26–27 in welchem ... wäre.] Hier fehlt
7 Vgl. Mt 6,24, Lk 16,13
37–1 Vgl.
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haben wir einen Fürsprecher bei Gott, wenn unser Herz uns verdammt, so ist Gott größer und seine Gnade reicher als unser Herz.“ Wie würde der Herr selbst zu den Jüngern, von welchen er seinem Vater sagt, er habe sie ihm treu erhalten, und habe keinen von ihnen verloren, wie würde er zu denen gesagt haben und es ihnen so oft wiederholt haben, wie sie den gefallenen Bruder stärken, ermahnen und zurechtweisen, wie sie vergeben sollten ohne Ziel und Maaß Einer dem Andern. Denn wo keine Sünde | ist, da ist auch kein Fall, und es bedarf keiner Zurechtweisung, wo keine Sünde ist, da bedarf es auch unter Khristen gar keiner Vergebung. Das also rechtfertigt unser Bewußtsein, daß auch bei der göttlichen Gnade die Sünde noch ist, das rechtfertigt einen Tag wie der heutige, wo wir mitten in dem Gefühl der göttlichen Gnade voll Trostes und in dem lebendigen Glauben an den, der uns frei gemacht hat, doch vor Gott bekennen unsere Sünde und unsere Schuld, aber nur um uns aufzurichten an dem Trost seiner Gnade, um in uns das Bewußtsein seiner Vergebung zu erneuern und zu befestigen, und um dann je mehr wir bekennen daß wir | nichts sind für uns selbst, desto mehr den allein zu preisen, der allein uns stark machen kann, und der mächtig ist in dem Schwachen. Wie nun ist die Sünde noch in uns mit der göttlichen Gnade und neben ihr? Sie ist in uns als die Schwachheit des neuen Lebens. Denn so ist es; es beginnt schwach wie jedes Leben bedürftig der Hülfe und der Unterstüzung von außen, bedürftig der Nahrung an welcher es sich allmälig kräftigen kann, und erst eben in dem Verhältniß wie es sich nährt aus der Quelle des göttlichen Wortes und der lebendigen Gemeinschaft mit Khristo, in dem Maaße gründet es sich erst allmälig in sich selbst. Wie kann es | also fehlen, daß dieses neue Leben sich noch oft schwach zeigt, und den Erfolg nicht im Stande ist herbeizuführen in einzelnen Augenbliken, wo die Neigungen und Triebe, welche so lange unter dem Gehorsam der Sünde gestanden haben, auf denselben Weg abgelenkt werden und geleitet. So wie in dem alten Leben des Gehorsams gegen die Sünde einzelne Augenblike der göttlichen Gnade durchleuchten, ohne welche es nicht möglich wäre, daß das alte Leben untergehen könnte in dem neuen, so auch in dem Zustande des Gehorsams gegen die Gerechtigkeit sind einzelne Augenblike, die da verkündigen das ehemalige Leben, welches dem neuen gewichen ist, die uns zurükversezen in jenen Zustand, aber | nicht wieder im Stande sind ein zusammenhängendes Leben der Sünde und des beharrlichen Gehorsams zu begründen, Augenblike der Schwäche, wo wir fallen, 35 da] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 243r 1–2 Vgl. 1Joh 3,20
39 fallen] so SAr 105, Bl. 243r; Textzeuge: fehlen
3–4 Vgl. Joh 17,12
4–7 Vgl. Mt 18,21–22; Lk 17,3–4
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aber nicht um liegen zu bleiben oder um den Fall unter ähnlichen Umständen immer zu wiederholen, sondern wenn wir gedemüthigt sind, uns wieder aufzurichten, Augenblike, denen die Schmerzen der Reue folgen und das demüthige Bekenntniß der Schuld vor Gott und vor uns selbst, Augenblike in welchen dann die Seele mit erneutem Glauben ihre Zuflucht zu dem nimmt, dem sie das Wort der Verheißung vorhalten kann, daß diejenigen recht frei sein sollen, die der Sohn frei gemacht hat, Augenblike durch welche | wir desto behutsamer gemacht werden und desto weiser zur Seligkeit, durch welche wir lernen immer tiefer in die Tiefe unseres Herzens einzudringen und immer deutlicher zu sehen, wie wir gestaltet waren, und wie wir noch gestaltet sein würden, und welcher Ordnung unser Leben noch folgen würde, wenn nicht Khristus in uns lebendig geworden wäre. Die Sünde ist in uns als eine Schwachheit des neuen Lebens, indem wir auch da wo wir uns selbst begeben zum Gehorsam und das beweisen durch die That, zwar das Wollen finden, aber das Vollbringen uns niemals gelingt, die That immer zurükbleibt hinter dem Vorsaz, und das was hernach wirklich dasteht, dem nur unvoll|kommen entspricht was wir gewollt haben. Was hat uns gehemmt, wenn wir schwach und lässig sind in den Handlungen des göttlichen Gehorsams? Was anders als die Sünde. Was hat uns gehemmt wenn unsere That nicht rein und vollkommen das Bild und die Ueberschrift dessen trägt, dem zur Ehre und Liebe sie doch unternommen ist? Was hat das Werk des göttlichen Geistes in uns getrübt und verringert? Was anders als die Sünde. So ist sie in uns als die Schwachheit des neuen Lebens, so ist sie in uns als die Unvollkommenheit des neuen Lebens. Darum ladet uns der Herr ein weil wir schwach sind uns immer aufs neue zu stärken in der Vereinigung | mit ihm, darum ermahnt uns die Stimme des Geistes, daß wir wachsam sein sollen und nüchtern, damit das neue Leben nicht unkräftig in einen Traum zurüksinke, und die Sünde wenn auch nur zu einem vorübergehenden Leben in uns erwache und wirke, damit wir immer weniger empfänglich werden für den Rausch in welchen die Lust der Sünde uns versezen kann, welche wenn sie empfangen hat die Sünde gebirt. Ja das, m. g. F., das ist unsere Erfahrung, das ist das Bekenntniß womit wir alle an dem heutigen Tage vor Gott treten, welches wir gegen einander ablegen, indem wir uns hier vereinigen zur Buße und zum Gebet. Aber entspricht es auch den Worten | des Apostels? Sagt der nicht „sollen wir sündigen weil wir unter der Gnade stehen, und nicht unter 39 Gnade] so SAr 105, Bl. 244r; Textzeuge: Sünde 7–8 Vgl. Joh 8,36
16 Vgl. Röm 7,18
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dem Gesez? das sei ferne!“ Liegt in diesen Worten nicht noch mehr, als daß nur die Herrschaft der Sünde aufgehoben ist wo die göttliche Gnade lebt und waltet? Liegt nicht darin ganz unleugbar dies, daß weil wir unter der Gnade stehen, wir überall nicht sündigen? Unleugbar, m. g. F., liegt dies in den Worten des Apostels, aber laßt sie uns nur recht genau und recht vollständig betrachten. Werden wir ihm nicht darin beistimmen müssen, daß in sofern wir noch sündigen, in sofern wir nicht unter der Gnade stehen, sondern unter dem Gesez, daß so weit wir unter der Gnade stehen, wir auch nicht mehr | sündigen? Was ist denn, m. g. F., dieser Unterschied, dieser Gegensaz, den uns der Apostel so oft und so sehr deutlich und schlagend auch hier aufstellt zwischen der Gnade und dem Gesez? Kann denn wo die Eine ist das Andere nicht mehr sein? Das ist seine beständige und immer wiederkehrende Äußerung. Gehen wir nun darauf zurük, daß das Wesen der göttlichen Gnade darin besteht, daß wir aus dem Tode lebendig geworden sind mit Khristo in einem neuen Leben wandelnd, so daß nicht wir leben, sondern er in uns, und wir fragen uns: war denn Khristus dem Gesez unterthan? war sein Leben nach einem Gesez eingerichtet ausgenommen das äußerliche Gesez, dem er unter|than war durch seine Geburt? Nein den Willen seines Vaters trug er in sich, aber weil er ihn in sich trug und Eins mit ihm war, so war es auch kein Gesez mehr, welches den Menschen immer von außen gegeben wird. Diese Erfahrung, m. g. F., müssen wir auch alle gemacht haben, wenn in der That die Gnade Gottes in uns waltet und Khristus sein Leben in uns lebt. So weit er es ist, der in uns lebt, und nicht wir selbst, so weit tragen wir auch den Willen seines himmlischen Vaters in unserem Herzen, so weit muß er ja auch sein unser eigen geworden durch den, der uns nach sich zieht und uns immer mehr zu sich erhebt und mit sich Eins macht. Da ist ein freies sich Hingeben Gottes, und wo | die freie Hingebung ist, da ist kein Gesez, da ist ein reines Walten des göttlichen Geistes in dem Innern, und wo nur innere Bewegungen des Lebens sind, die alles im Stande sind zu vollbringen, da bedarf es keines äußerlichen Gesezes, und da ist auch keins. Aber wo wir noch sündigen, sei es dadurch, daß in der That Augenblike des alten Lebens in seiner zerrütteten Gestalt wiederkehren, oder sei es auch nur dadurch, daß wir das Werk Gottes, zu welchem wir berufen und gestärkt sind in unserer Seele, nicht in jedem Augenblik vollkommen vollbringen, sofern wir noch sündigen auf die eine oder die andere Art, so stehen wir auch unter dem Gesez. Denn nur durch das Gesez kommt Erkenntniß | der Sünde, und die Sünde kann nicht sein, so wie sie allein in dem Leben des begnadigten 15–16 Vgl. Röm 6,4
16–17 Vgl. Gal 2,20
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Khristen sein kann, ohne die Erkenntniß der Sünde. Beides also entsteht zugleich in uns und besteht mit einander. Wo die Sünde ist, da tritt uns das Gesez entgegen, denn da fühlen wir den Willen Gottes nicht in unserem eigenen Innern vollkommen, aber die göttliche Gnade stellt ihn uns vor das Auge des Geistes und der Erkenntniß, und wir schauen das Gesez, und das Gesez giebt uns Erkenntniß der Sünde, und wir lernen einsehen daß wir gefehlt haben; und indem sich uns das Gesez darstellt wo wir noch an einem Gesez halten und die Bedürftigkeit desselben fühlen, da, m. g. F., können wir auch mit Sicherheit rechnen ist auch die Sünde noch in uns. | Denn wenn die Sünde nicht wäre, so wäre auch das Gesez nicht, wie der Apostel sagt, „wer die Frucht des Geistes trägt, der steht nicht unter dem Gesez, wider den ist kein Gesez“, und ein Gesez nehmen wir nur an und es gilt uns als ein solches, insofern wir in irgend einer Hinsicht dawieder sind. So hat der Apostel, m. g. F., auch darin Recht, so weit wir noch sündigen, so weit stehen wir nicht unter der Gnade, sondern unter dem Gesez, so weit wir noch von uns gestehen müssen, das Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen finde ich nicht, so weit wir noch sagen müssen, nach dem inwendigen Menschen habe ich einen Wohlgefallen an dem Willen Gottes, aber äußerlich dient das Fleisch noch oft dem | Gesez der Sünde, so weit stehen wir auch noch unter dem Gesez, und es ist uns noch übrig uns zu streken nach dem, was wir noch nicht ergriffen haben, uns noch vollständiger der göttlichen Gnade hinzugeben und sie in uns walten zu lassen, uns noch inniger zu vereinigen mit dem, der uns in seinem geistigen Leben geworden ist zur Weisheit und zur Heiligung. Denn wo die Kraft der Weisheit und der Heiligung lebendig ist und ungestört waltet, da bedarf es förder keines Gesezes. Darum auch der Herr da, wo er das Innerste des wahren geistigen Lebens aber doch als Gesez aufstellt, sagt: das ist das Wesen alles Gesezes „du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, und deinen | Nächsten als dich selbst.“ Was sagt er weiter: „thue das, so wirst du leben.“ Von demjenigen aber, der an ihn glaubt und in dem lebendigen Glauben Eins mit ihm geworden ist, sagt er: „der ist aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen, der hat das ewige Leben.“ Das Gesez und das Stehen unter dem Gesez, das ist immer nur die Vorbereitung zum Leben, wer das thut, der wird leben, wer durch Gehorsam gegen das Gesez die Herrschaft der Sünde immer mehr bricht, in dem wird sich das Leben gestalten; in dem Maaße aber als es sich gestaltet hat und Khristus in 1 sein] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 245v 11–13 Vgl. Gal 5,22–23 29–31 Vgl. Lk 10,27–28
24 uns] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 246r
16–20 Vgl. Röm 7,18–23 33–34 Vgl. Joh 5,24
24–25 Vgl. 1Kor 1,30
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ihm lebt, ist auch das Gesez für ihn nicht mehr da, in dem Glauben an ihn und in der lebendigen Vereinigung mit ihm ist er zu dem | Leben hindurchgedrungen, welches in dem Gehorsam gegen das Gesez noch immer etwas Künftiges ist. Ja, m. g. F., in diesem Leben Khristi, in diesem Leben Khristi in uns, da vollendet sich jenes große und herrliche Wort, da ist kein Geschrei des Gesezes, welches Vorwürfe und Drohungen in das verstokte Ohr des Sünders hineindonnert, da ist kein Schmerz mehr und keine Thräne des Gefallenen, der sich niederwerfen muß und vor Gott demüthigen um Buße zu thun für seine Sünde. Das ist die Herrlichkeit der Kinder Gottes, die jezt noch nicht offenbart ist in uns, aber das Verlangen nach ihr ist das ewige Seufzen der Kreatur. Wir streken uns danach als nach demjenigen, was wir noch nicht | ergriffen haben, aber es ist das Ziel was uns ewig vorschwebt. In jedem Augenblik wo Khristus in uns waltet und lebt, in jedem solchen Augenblik fühlen wir und sind gewiß, daß wir dieses Leben in uns tragen, aber noch unrein und unvollkommen, ein noch unvollkommen gebildetes Kleinod noch in zerbrechlichen Schaalen. In jedem Augenblik wo die Sünde noch in uns sich regt und lebt, da fühlen wir die Gebrechlichkeit des neuen Menschen, da werden wir inne, daß Khristus und wir noch nicht so Eins sind, wie er Eins ist mit seinem Vater, und nehmen unsere Zuflucht zu ihm, daß er immer mehr kommen möge und Wohnung machen in unseren Herzen, damit auch diese | Scheidewand, die uns trennt von ihm, verschwinde, und er immer mehr Eins werde in uns allen, und wir alle Eins in ihm. Amen. Wir rufen Dich gläubig an, barmherziger Gott und Vater in Khristo, erhöre Du das demüthige Gebet Deiner Kinder, die in dem Bewußtsein der Schuld Vergebung von Dir erflehen, vernimm das demüthige Bekenntniß unserer Unwürdigkeit, mit welchem wir vor Dir erscheinen. Erhöre die Fürbitten für die ganze Kirche Deines Sohnes, daß sie immer mehr mögen befreit werden von der Sünde, und ohne Fleken und ohne Tadel sich immer mehr möge darstellen können vor Dir. Ja stärke Du über|all in ihr das Leben des Hauptes, welches alle Glieder durchdringt, ja kräftige Du Deinen Geist in uns, damit wir uns entschlagen können des Gesezes, ja mache Du immer mehr alle frei, auf daß wir freie Knechte Khristi seien und uns mit allen unseren Kräften Dir immer mehr begeben als Werkzeuge der Gerechtigkeit. So wird Dein Reich sich immer mehr 28 welchem] anders SAr 105, Bl. 247v: welcher 5–9 Vgl. Offb 21,4 9–11 Vgl. Röm 8,19 12–13 Vgl. Phil 3,12 2Kor 4,7 21–22 Vgl. Joh 14,23 31–32 Vgl. Eph 5,27; Kol 1,22
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bauen, so wird die Sünde immer mehr weichen aus unseren Grenzen, so werden wir uns immer mehr erfreuen des seligen Friedens, den uns Dein Sohn so gern lassen will, und der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Dazu laß Du denn besonders auch an dem heutigen Tage das Gebet Dir wohlgefallen für unser theures Vater|land, auf daß alle die darin leben immer näher kommen mögen dem Ziele khristlicher Vollkommenheit, und wir immer mehr und allein unser Verhältniß ansehen als eines Volkes des Herrn. Laß Dir empfohlen sein den König und das ganze königliche Haus. Dein Segen walte über seinem Hause, und befestige Du in demselben immer mehr wahre Gottseligkeit und den Frieden und das Wohlergehen, die hieraus entspringen. Verleihe dem Könige zu seiner Regierung den Beistand Deines Geistes. ppp. Umgieb ihn pp. Erhalte seine Unterthanen pp. Segne überall zur Vermehrung aller khristlichen Tugend und Gottseligkeit die Verkündigung Deines Wortes und die Spendung | der heiligen Sakramente. Segne die Erziehung der Jugend in der Furcht und Vermahnung zum Herrn. Laß uns alle immer treuere Arbeiter werden in Deinem Weinberge, dann wird es uns nicht fehlen an theuren und lieben Erfahrungen davon, daß Du auch uns gebrauchst als Werkzeuge der Gerechtigkeit. Laß Deine Gnade sich immer mächtig zeigen in dem Schwachen, dann werden wir auch immer mehr glauben und inne werden, daß denen die Dich lieben alles zum Besten gereichen muß, und daß die Unvollkommenheit, die noch in uns ist unter dem Beistande Deines Geistes uns werden kann zum Segen der Erleuchtung und der Heiligung. Das gieb um Khristi willen. Amen.
1–2 Grenzen] Kj Herzen
17 Furcht] Furcht und Furcht
12–14 Schleiermacher wiederholte diesen Passus in der Regel im Fürbittengebet. Er lautete: „Verleihe dem Könige zu seiner Regierung den Beistand Deines Geistes, damit er den Beruf, den Du ihm auferlegt hast, Deinem Willen gemäß erfülle. Umgieb ihn mit treuen und eifrigen Dienern, die ihm helfen erkennen und ausführen, was recht und wohlgefällig ist vor Dir. Erhalte seine Unterthanen treu und gehorsam in dem ganzen Umfange seines Reiches, damit wir unter seinem Schutz und Schirm wachsen mögen in christlicher Vollkommenheit, und des heiligen Namens, den wir führen, immer würdiger werden.“ (Vgl. KGA III/7, S. 1066) 20–21 Vgl. 2Kor 12,9 22– 23 Vgl. Röm 8,28
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[Liederblatt vom 12. Mai 1824:] Am Bettage 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Aus meines Herzens etc. [1.] Auf, auf, an diesem Morgen / Schwing dich mein Herz empor! / Um für dein Heil zu sorgen / Tritt an das Licht hervor. / Bekenne deine Schuld, / Dies ist ein Tag der Reue, / Mit Thränen komm und schreie / Zu Gott um Gnad und Huld. // [2.] Noch läßt der Herr dich leben, / Und trägt Geduld mit dir, / Ob du nicht wollest streben / Nach reiner Seelen Zier. / Entsag’ aufs neu der Welt! / Er wird dir Heil’gung schenken, / Und Herz und Sinnen lenken / Auf das, was ihm gefällt. // [3.] Ja, Herr, in solchem Glauben / Tret ich vor deinen Thron, / Du wirst mich nicht berauben / Des Rechts an deinen Sohn. / Ein flehend Angesicht, / Ein Herz in Reu zerbrochen, / Das dir sich neu versprochen, / Verschmähest du ja nicht. // [4.] So sei in deinem Namen / Gesegnet dieser Tag; / Sprich auf mein Bitten Amen, / Daß ich mich trösten mag! / Daß mich dein guter Geist / Mit seinen Gaben schmücke, / Das Herz mit Freud’ erquicke, / Das jetzt in Thränen fleußt. // Nach dem Gebet. – Mel. Meine Hofnung etc. [1.] Auf ihr Christen, Christi Glieder, / Hanget fest an eurem Haupt! / Wachet auf, ermannt euch wieder, / Eh der Feind die Waffen raubt; / Denn er beut / Kampf und Streit / Christo und der Christenheit. // [2.] Folgt des Heilands Kreuzesfahne, / Trauet seinem starken Arm, / Wenn auch auf des Kampfes Plane, / Tobt der Feinde wilder Schwarm. / Christi Heer / Kann viel mehr, / Hält sichs fest nur um ihn her. // [3.] Nur auf Christi Wort gewaget, / Mit Gebet und Wachsamkeit, / Dies allein macht unverzaget / Und recht tapfre Kriegesleut. / Christi Wort / Ist der Hort, / Der uns schirmet fort und fort. // [4.] Seine Kraft hat schon empfunden / Vieler Heilgen starker Muth, / Da sie haben überwunden / Fröhlich durch des Lammes Blut. / Sollten wir / Alle hier / Nicht auch streiten für und für? // [5.] Wer der Sünde Knechtschaft liebet, / Der hat wenig Lust zum Streit; / Wer sich ihrem Dienst ergiebet, / Der versäumt die Gnadenzeit; / Sündennacht, / Höllenmacht / Hat ihn in den Schlaf gebracht. // [6.] Aber wen die Weisheit lehret, / Freiheit sei des Christen Theil, / Wessen Herz zu Gott sich kehret, / Seinem allerhöchsten Heil, / Sucht allein / Ohne Schein / Christi freier Knecht zu sein. // [7.] Gott giebt seinen frommen Knechten / Dort der Treue Gnadenlohn; / In den Hütten der Gerechten / Schallet dann ihr Siegeston, / Wo fürwahr / Gottes Schaar / Christum lobet immerdar. // Nach der Predigt. – Mel. Wachet auf etc. Jesu mächtiger Ueberwinder, / Dir nach zeuch die verlornen Kinder, / Die du erkaufst mit deinem Blut. / Stärk in uns das neue Leben, / Daß wir uns stets zu dir erheben, / Wenn uns entfallen will der Muth. / Geuß auf uns deinen Geist, / Durch den die Liebe fleußt / In die Herzen. So halten wir / Getreu an dir in Tod und Leben für und für. //
Am 12. Mai 1824, Begräbnis Termin: Ort:
Bußtag, Begräbnis / Friedhofseinweihung Neuer Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde vor dem Halleschen Tor Bibeltext: Ohne Textzeuge: Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 375–380 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 821–825; 21844, S. 864–868 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 673–676 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Begräbnis des Posamentiers Carl Christian Lipcke
a. Drucktext Schleiermachers Rede bei Eröffnung eines neuen Begräbnißplatzes.
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Zum Erstenmale heute schlägt unser Trauerzug den ungewohnten Weg ein in diesen neu umschlossenen Raum. Der Vorstand unserer Kirche ist genöthiget gewesen, eine neue Ruhestätte für die Entschlafenen unseres Kirchspiels einzurichten, denn die bisherige ist angefüllt, und nur eine seltene Ausnahme wird es seyn, wenn wir dort noch einen Todten einsenken. Doch unverschlossen bleibt auch jener Raum der frommen Andacht, welche dort unter den Gräbern wandeln will, um das frohe Bewußtseyn des ewigen Lebens, zu dem wir berufen sind, mit dem heilsamen Gefühle irdischer Vergänglichkeit zu durchdringen. Gern werden wir es sehen, wenn kindliche Ehrfurcht und Dankbarkeit, wenn väterliche und mütterliche Liebe, wenn zurückgebliebener Gatten treue Anhänglichkeit und Sehnsucht und verlassener Freunde liebevolles Andenken fortfährt, dort theure Grabhügel zu besuchen und zu schmücken. Und wenn wir, die wir jetzt zum Erstenmale hier zu diesem schmerzlichen Geschäfte versammelt sind, uns mit unseren Gedanken dorthin versetzen, uns zurückrufend, wie viel Thränen dort geweint worden sind von solchen, die nun auch schon nicht mehr weinen, sondern selbst ruhen bei den Beweinten; wieviel 2–7 Zu dem seit 1742 existierenden Dreifaltigkeits-Friedhof I mit einer Größe von 7.750 m2 wurde 1825 der Dreifaltigkeits-Friedhof II geöffnet. 1855 wurde dieser Alleequartierfriedhof erweitert und erstreckt sich heute über eine Fläche von 55.112 m2. Vgl. Mende, Berliner Grabstätten, S. 86.90.
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schmerzliche Klagen dort zu Gott gedrungen sind, kaum zu besänftigen durch die heiligen Worte christlicher Tröstung; welche heiße Gebete der Verlassenen, denen alle menschliche Hülfe geraubt war mit dem Begrabenen, dort Hülfe von Oben erfleht haben; welche reuevolle und gewiß oft gesegnete Gelübde dort abgelegt worden sind von solchen, welche sich bewußt waren, daß sie tiefe Schmerzen gebracht hatten über ein | nun beendetes Leben, und wenn wir nun um uns schauen in diesem noch öden Raume, und denken, wie er sich auch allmählig anfüllen wird vor uns und nach uns, und wie sich auch hier, wie dort, Thränen und Seufzer, Gebet und Flehen, leidenschaftlicher noch ungeheiligter Schmerz, stille Ergebung, fruchtbares Nachdenken, heilsame Zerknirschung, fromme Dankbarkeit, heitere Hoffnung, sich lagern werden über den Gräbern: welch ein Bild des menschlichen Lebens in seinen Leiden und Seligkeiten, in seiner Herrlichkeit und seiner Schmach steht dann vor unserer Seele! Doch der heutige Tag1 m. Fr., fordert uns noch zu einer besonderen Betrachtung auf. Warum widmen wir denn einen neuen Raum der Ruhe des Grabes und der stillen Abgeschiedenheit, in der desto tiefer alle jene Empfindungen die Seele durchdringen können? Warum öffnen wir nicht gleich wieder die Gräber, damit dieselben Stätten neue Bewohner einnehmen können, unbekümmert darum, wieviel die Verwesung noch unversehrt gelassen hat von ihrem früheren Raube? Um diese Frage richtig zu beantworten, müssen wir uns mit anderen Völkern vergleichen. Einige haben immer auf alle Weise gesucht, die Leichname der Verstorbenen theils gegen die Verwesung bestmöglichst zu verwahren, und sie so an besonders heilig gehaltenen Orten aufgestellt, oder wenigstens was sich von den zerstörten Körpern am Besten aufbewahren ließ, in ihrer nächsten Umgebung als ein Kleinod aufbewahrt. Andere im Gegentheil legen gewaltsam Hand an ihre Todten, um die Zerstörung nach Möglichkeit zu beschleunigen und vollständig zu machen. Das Erste ist eine thörichte Zärtlichkeit gegen den todten Stoff, von welchem doch nun der Geist gewichen ist, eine Zärtlichkeit, die oft in abergläubige Verehrung ausartet; das Andere erscheint uns, Jenem gegenüber, fast wie eine Mitwirkung mit dem Tode, um das Werk des Lebens und das Werkzeug des Geistes zu zerstören. Die allgemeine Sitte der christlichen Völker steht zwi|schen beiden in der Mitte. Alles, was Leib ist und dem Leibe angehört, hat für uns nur einen Werth, sofern er belebt wird von der erlösten Seele, welche den Geist der Kindschaft empfangen hat. Ist diese hinaufge1
Es war der jährliche Buß- und Bettag.
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stiegen, wohin der Herr Alle nach sich zieht: so können wir kein Verkehr der Liebe und Freundschaft mehr haben mit dem, was ihr Leib war. Aber der Natur anheimgefallen, soll er auch nur durch diese aufgelöst werden, ungesehen und ungestört soll sie ihr Werk vollenden im Schoße der Erde. Aus dieser Ursache, nicht etwa, als ob hier die Erde in einem vorzüglicheren Sinne des Herrn wäre, werden unsere Begräbnißplätze umschlossen und eingefriedigt, und eben dieses ist die Hauptabsicht, wenn so Viele von den Unsrigen die Gräber ihrer Angehörigen auf mancherlei Weise befestigen und mit Zeichen der Theilnahme und der Zärtlichkeit umgeben, damit zufällige Beschädigung verhütet und die Lust zu irgend muthwilligem Frevel durch ein wehmüthiges Mitgefühl erstickt werde. Und so allgemein wünschen wir, daß das Werk der Verwesung in der Verborgenheit vollbracht werde, daß wir selbst den Durst nach Erkenntniß der Ursachen des Todes, wenn er Ausnahmen verlangt, eifersüchtig bewachen, und daß, wenn die Gerechtigkeit das Leben eines Unglücklichen gewaltsam endet und seinem Leichname die Aufnahme in den Schoß der Erde versagt, dies fast als eine gemeinsame Strafe für Alle empfunden wird, weil die entseelte Hülle Eines, der doch unser Bruder war, behandelt wird, als sey die Seele, die dort gewohnt, nicht selbst auch Wohnsitz und Werkzeug des göttlichen Geistes gewesen. Aber, m. g. F., ist für uns ein solcher Unglücklicher mehr verwerflich, als ein Anderer, der zwar nicht solche Thaten verübt hat, durch welche er der Gerechtigkeit anheimfiel, aber in dem doch der Geist eben so wenig Raum gewinnen konnte, und der eben so wilden Leidenschaften und eben so zügellosen Begierden preisgegeben war? Gewiß gilt uns Einer, was der Andere, wenn doch der Mensch bei uns nach äußerlichen Werken nicht gerichtet wird, der Mangel gottgefälliger Gesinnung aber immer verwerflich macht. So laßt uns denn an diesem Tage der Demüthigung und der Buße | daran denken, wieviel wohl noch fehlt, daß Alle, deren Ueberreste wir der Erde anvertrauen, dazu geeignet sind, diese heilige Scheu zu unterhalten, und die zarten Aeußerungen derselben zu verdienen. Ach wie Viele, deren am Leiblichen und Irdischen haftende Sinnlichkeit kein geistiges Leben aufkommen ließ, mögen auch dort ruhen an der jetzt geschlossenen Stätte! Wie Viele, die mehr nur gezügelt wurden durch menschliche Schaam und äußerliche Sitte, als daß der Geist von Innen her Maß und Uebereinstimmung in ihr Leben gebracht hätte! Und sollten es nicht Alles die irdischen Ueberreste wahrer Christen seyn, die in solcher bewahrten Stille ruhen? Wenn auch nur Wenige ein stilles Gebet des Herrn beten, ehe der Hügel aufgeworfen wird über den Todten, sollte es nicht immer Wahrheit seyn, indem wir es auf den Abgeschiedenen beziehen? Und die ist es doch nur, wenn er dem Reiche Gottes wahrhaft angehörte, von dem
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da allein die Rede ist, wenn er als ein solcher, dem die Sünden vergeben sind, nun der Versuchung entnommen und von allem Uebel erlöst ist. Demüthigen wir uns nun hierüber vor Gott, wie das gewiß unsere gemeinschaftliche Gemüthsstimmung ist: so liegt darin zugleich der Wunsch, daß dieser neue Ruheplatz immer würdiger einer Gemeine des Herrn möge angefüllt werden. Der größte Theil nun derer, die hier werden zur Ruhe gebracht werden, wird immer, wenn gleich auch auf diesem Gebiete der Lebenserhaltung dankenswerthe Fortschritte sind gemacht, dennoch wird immer ein großer Theil aus den Kleinen bestehen, welche nach dem auf dieser Erde waltenden göttlichen Rathschlusse schon in der ersten Entwickelung wieder hinweggenommen worden. Diese unschuldigen Gräber, – ja so mögen wir, die wir auf so mancherlei Weise von der Sünde berührt und befleckt sind, sie wohl mit Recht nennen, wenn gleich auch in den Kindern schon der Keim des Verderbens schlummerte, – diese unschuldigen Gräber, wenn nur nicht durch Mangel an gottergebenem Sinne, oder auch durch stumpfe Gleichgültigkeit derer, denen ein solches Opfer abgefordert wurde, entweiht, werden dieser Stätte nie unwürdig seyn, und uns nie andere als reine Empfindungen | hoffnungsvoller Wehmuth erregen. Fast eben so diejenigen, deren Leiber hier ruhen werden, nachdem sie das höchste Ziel des menschlichen Lebens erreicht haben. Denn wie viel Feinde überwindet nicht die Seele schon dadurch, daß sie sich lange hienieden geduldet! Wie sehr kommt die Zeit den Wirkungen des göttlichen Geistes zu Hülfe! Wie viel Irdisches fällt nicht in einem, der göttlichen Gnade nur nicht ganz verschlossenen, Gemüthe leicht und wie von selbst wieder ab in dem letzten Zeitraume des Lebens! Wie viel Scharfes wird nicht abgeschliffen, wie viel Härten erweicht, wie viel Leidenschaftliches gemildert! Ja gewiß selten oder nie werden uns die Gräber unserer Alten nicht ehrwürdig und erbaulich seyn. Aber wäre es doch eben so, würde es doch immer mehr eben so auch mit denen, welche der Tod abruft in der blühenden Jugend, auf welche immer die reizendsten Versuchungen anstürmen, mit denen, welche von uns scheiden in dem Zeitraume der fruchtbarsten Thätigkeit, verwickelt in alle Sorgen, allen Eifer, allen Zwist eines bunten und bewegten Lebens. Daß wir auch für alle solche, wenn wir ihre entseelte Hülle hieher geleiten, Gott mit Wahrheit mögen danken können dafür, daß sie gewußt haben, ihre Seele zu bewahren, und daß ihr Andenken im Segen bleibt, – darauf hinzuarbeiten aus allen Kräften an uns und Anderen, wie denn alles Gute nur ein gemeinsames Werk ist, das, m. g. F., sey heute unser Gelübde an dieser Stätte. Und als eine gute Vorbedeutung dürfen wir es ansehen, daß wir hier zuerst heute die Leiche eines achtungswerthen Mannes bestatten, auf dessen Leben Alle, die ihn näher gekannt haben, mit Wohlgefallen
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zurücksehen, dem vergönnt gewesen ist, seine Kinder zu einem wohlgeordneten und selbstständigen Leben heranzuziehen, der seinem Hauswesen wohl vorgestanden, und sein Geschäft als ein tüchtiger und löblicher Bürger geführt hat, der immer fleißig gewesen ist zu erscheinen in unseren gottesdienstlichen Versammlungen, und nun wohlbetagt in christlicher Hoffnung sich zur Ruhe gelegt hat, um als treuer Haushalter einzugehen in seines Herrn Freude; so daß wir Gott danken | können für alle Barmherzigkeit und Gnade, die er an diesem unserem Mitbruder gethan hat. So möge denn sein sterblich Theil hier ruhen in Friede, als der Erstling unter denen, die hier schlafen sollen! Möge sein und Aller die ihm hier folgen werden, Andenken in Segen bleiben, und ihre Werke ihnen nachfolgen, indem ein reicher Segen zurückbleibt aus den frommen Erinnerungen an die Dahingeschiedenen, die sich auch hier an ihrer Ruhestätte oft und kräftig erneuern! Mögen hier keine andere Seufzer gehört werden als die, wenn gleich schmerzlich, doch sanft bewegter Herzen, und keine andere Thränen hier fließen als solche, deren Bitterkeit gemildert ist durch den Trost aus dem göttlichen Worte, und dieser Raum ein wahrhaft christlicher Friedhof seyn, und ein hoffnungsreicher Gottesacker. Amen. Schl.
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Cantate, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 5,1–15 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 316–330; Andrae (Titelblatt der verloren gegangenen Druckvorlage in SAr 87, Bl. 44v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 55, Bl. 131v–139r; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium Liederangabe (nur in SAr 87)
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Am Sonntage Cantate 1824. Tex t. Joh. 5, 1–15. Danach war ein Fest der Juden und Jesus zog hinauf gen Jerusalem. Es ist aber zu Jerusalem bei dem Schaafhause ein Teich, der heißt auf hebräisch Bethesda, und hat fünf Hallen, in welchen lagen viele kranke, blinde, lahme, dürre; die warteten, wenn sich das Wasser bewegte. Denn ein Engel fuhr herab zu seiner Zeit und bewegte das Wasser. Welcher nun der erste, nachdem das Wasser bewegt war, hineinstieg, der ward gesund, mit welcherlei Seuche er behaftet war. Es war aber ein Mensch daselbst acht und dreißig Jahre krank gelegen. Da Jesus denselben sahe liegen und vernahm, daß er so lange gelegen war, spricht er zu ihm, Willst du gesund werden? Der kranke antwortete ihm, Herr ich habe keinen Menschen, wenn das Wasser sich bewegt, der mich in den Teich lasse; und wenn ich komme, so steigt ein anderer vor mir hinein: Jesus spricht zu ihm, Stehe auf, nimm dein Bette und gehe hin. Und alsobald ward | der Mensch gesund und nahm sein Bette und ging hin. Es war aber desselbigen Tages der Sabbat. Da sprachen die 0 SAr 87, Bl. 44v: „Lieder 64,1–7; 66; 40“. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, „Mein Herzens Jesu“ (Melodie von „Nun freut euch, lieben Christ’n“); „Mein Jesu, süße Seelen-Lust“ (Melodie von „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“); „Im finster’n Stall“ (Melodie von „In dich hab’ ich gehoffet“). Möglicherweise liegt bei der letzten Ziffer ein Schreibfehler vor, da das Lied von der Geburt Christi eher in die Adventszeit passen würde.
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Juden zu dem, der gesund geworden, Es ist heute Sabbat, es geziemt dir nicht das Bette zu tragen. Er antwortete ihnen, Der mich gesund machte, der sprach zu mir, Nimm dein Bette und gehe hin. Da fragten sie ihn, Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat, nimm dein Bette und gehe hin? Der aber gesund war geworden, wußte nicht wer er war, denn Jesus war gewichen, da so viel Volks an dem Ort war. Darnach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm, Siehe zu, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas ärgeres widerfahre. Der Mensch ging hin und verkündigte es den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. M. a. Fr. Von dem, was unserem Erlöser in Galiläa begegnet, wohin er gegangen war, nachdem er in der samaritischen Stadt so viele hatte gläubig an sich gemacht, erzählt uns Johannes weiter nichts als jene Geschichte, die wir neulich mit einander betrachtet haben, und er stellt uns nun den Erlöser wieder dar, wie er auf das Fest nach Jerusalem ging mit seinen Jüngern. Er war von dort weggegangen, wie uns Johannes vorher erzählt hatte, weil vor die Pharisäer gekommen war, daß er noch mehr Jünger mache denn Johannes der Täufer, und er hatte sich hernach über Jerusalem und Judäa so geäußert, daß der Prophet nichts gelte in seinem Vaterlande. Darum war er nach Galiläa gegangen und war dort, wie Johannes uns erzählt, mit vieler Ehrerbietung aufgenommen worden, weil die Galiläer die Zeichen gesehen, die er auf dem Feste zu Jerusalem gethan hatte. | Daß er nun wieder nach Jerusalem ging, das war der Gehorsam, den der Erlöser besonders in der Beziehung leistete in welcher der Apostel Paulus von ihm sagt, Als aber die Zeit erfüllet war, da sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesez gethan. Er war als Mitglied des jüdischen Volks dem Geseze Moses gehorsam, und das gebot, daß, wer es nur vermöchte, jährlich auf eins der hohen Feste nach Jerusalem gehen sollte; darum ging er hin, ohnerachtet ihn seine übrigen Verhältnisse von dort hinweggeführt hatten. Der Teich aber, wo so viele kranke und leidende aller Art umher lagen in den Hallen desselben, um zu warten bis sich das Wasser bewegte, auf daß jedesmal nur einer von ihnen gesund würde, der ist uns, m. g. Fr., ein trauriges Bild von einem sehr gewöhnlichen Zustande in dieser Welt. Wie dort die kranken umher lagen um gesund zu werden, ohnerachtet jeder einzelne unter diesen Umständen nur wenig 12–15 Vgl. oben 9. Mai früh über Joh 4,43–54 25 Vgl. Joh 4,44–45 28–30 Gal 4,4
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Hoffnung dazu hatte, so sehen wir die Menschen in großen Haufen von dem Tichten und Trachten nach den irdischen Dingen und nach den Gütern dieser Welt ergriffen und sich mit einander verbinden und unter einander versammeln, wie sie dieselben zu erreichen haben. Sparsam nur wie auch hier die Hülfe war, die dem einzelnen gewährt werden konnte, ist die Ausbeute jenes Strebens und Jagens nach den irdischen Dingen gewöhnlich in der Welt auch. Viele laufen, und nur einer wird gekrönt mit der vergänglichen Krone des Sieges. Viele sind der suchenden und begehrenden, aber nur dann und wann, nur hie und da, wie es auch hier der Fall gewesen zu sein scheint, daß sich erst etwas bewegen mußte, auf daß einer von den vielen seines Wunsches theilhaftig würde, nur so gleichsam zu bestimmten Zeiten wird die Mühe und die Anstrengung auf diesem Gebiete mit dem erwünschten Erfolge gekrönt, und nur einer ist es | unter den vielen, der das Glükk hat die Gelegenheit zu erhaschen, wo es etwas bedeutendes von den Gütern dieser Welt davonzutragen giebt. Dennoch werden die Menschen nicht müde und gewähren uns in ihrem eitlen Tichten und Trachten ein eben so trauriges Schauspiel wie die Menge von kranken und elenden, die hier in den Hallen des Teiches lagen. Wenn wir uns nun denken, der Erlöser trat an den Teich, und die Menschen hätten gewußt, wer das war, und was er ihnen geben konnte: so lehrt uns ja die Geschichte bei allen ähnlichen Gelegenheiten, daß wenn sie auch alle so viel ihrer waren gerufen hatten, Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich unser, so wären sie alle ihres Wunsches theilhaftig geworden und hätten nicht weiter zu warten gebraucht, bis der Engel allemal herabfuhr und das Wasser bewegte. So, m. g. Fr., ist es auch in der Welt. Wenn die Menschen, die mit so vieler Mühe, mit so vieler Anstrengung und Geduld den vergänglichen Dingen dieser Welt nachtrachten, wüßten, wer der Erlöser ist, und was er ihnen geben kann, so würden sie von allem, worauf vorzüglich das Tichten und Trachten ihres Herzens gerichtet ist, Herz und Auge abwenden, und sie riefen ihn an, daß er ihnen helfen möchte, nicht zu den vergänglichen Gütern dieser Welt, sondern von dem eitlen und leeren Bestreben nach denselben hinweg, um den Geist mit etwas besserem zu sättigen und um ihnen statt des vergänglichen das ewige und statt des irdischen das himmlische zu geben. Gehen wir aber nun zu der Geschichte selbst zurükk, so finden wir hier dasjenige nicht, was der Herr gewiß gern gesehen, und was auch jenen leidenden zum Heil gereicht hätte. Der Erlöser kommt zu dem Teiche und sieht die Menge von kranken vor sich, es ist aber keiner da, der ihn erkennt, keiner da, der ruft, Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner. Wie mag | solches wol zugegangen sein, da er doch wol schon so viele Zeichen gethan hatte?
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Ja, wie mag es wol zugehen, daß noch immer, ohnerachtet das Evangelium nun schon erschollen ist in einem großen Theile der Welt, ohnerachtet es das größte Wunder ist, welches je geschehen kann, nämlich die Menschen durch den Glauben zum ewigen Leben zu bringen, ohnerachtet dieses Wunder schon durch so viele Geschlechter der Menschen sich wiederholt hat, und so tausendfältige Zeugen von der unfehlbaren Kraft desselben erschienen sind, wie mag es wol zugehen, daß ohnerachtet alles dessen es immer noch so viele Menschen giebt, die sich noch nicht an den Erlöser wenden, wiewol er ihnen nicht fremd ist, wiewol sie wissen, wie sie zu der nähern Bekanntschaft mit ihm kommen können, und wie sie sich an ihn wenden sollen? Wenn wir uns das erklären sollen, m. g. Fr., so wird es uns schwer, und wir werden wol auf nichts anderes in der menschlichen Seele zurükkgehen können als auf den Unglauben. Denn die Entschuldigung, die jenen kranken, welche in den Hallen des Teiches lagen, zu gute kommt, daß sie doch vielleicht von dem Erlöser nichts gewußt haben, die kann den meisten von denen, welche unterlassen bei ihm die geistige Hülfe zu suchen, nicht zu gute kommen. Aber es ist der Unglaube auf der einen Seite, es ist die Unentschlossenheit auf der andern, und beides ist wiederum in seiner tiefsten und innersten Wurzel eins und dasselbige. Kann der Mensch zu dem festen Entschluß kommen das irdische fahren zu lassen und dem ewigen nachzustreben: ach dann wird ihm auch bald das Auge des Geistes aufgehen um die rechte Quelle des Heils zu suchen und zu finden, aus welcher dann das ewige Leben kommt. So lange er aber noch zwischen dem vergänglichen und dem ewigen schwankt, so kann er auch zu keinem festen Willen kommen in Beziehung auf die ewigen Güter, deren Inhaber und Spender der Erlöser ist, so kann er auch den Unterschied zwischen dem irdischen und | dem himmlischen und das Zusammensein des irdischen und des himmlischen nicht erkennen. Von diesen kranken aber, die in den Hallen des Teiches lagen, dürfen wir wol glauben, daß ohnerachtet dieser Teich in der Nähe von Jerusalem oder vielleicht noch innerhalb der Mauern der Stadt lag, ohnerachtet daselbst an früheren Festen der Herr schon Zeichen und Wunder gethan hatte, die seinen Ruf auch in die entferntesten Gegenden verbreitet, daß sie doch von ihm nicht gewußt haben, und keiner von denen, die da krank lagen und zu ihm ihre Zuflucht zu nehmen unterließen, ihn erkannt hat, sonst würden sich die Bitten derer, die gesund werden wollten, wol an ihn gewendet haben. Und hier sehen wir denn, m. g. Fr., wie auch der Erlöser diesem gewöhnlichen menschlichen Schikksal unterworfen war, daß die Verbreitung seiner Kenntniß in der Welt und der Kenntniß dessen, was er auch für das irdische Wohl der Menschen thun konnte, gar sehr un-
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gleich war und auf jenen Zufälligkeiten beruhte, von denen nicht nur das kleinste, sondern auch oft das größte in menschlichen Dingen abhängt; daß auch in solchen Gegenden, wohin der Erlöser nur selten kam oder vielleicht noch nie gewesen war, doch sein Name bekannt war, und gleich, wenn er hin kam, überall wo er auftrat sich die leidenden an ihn wandten: und hier in der Nähe der Hauptstadt, wo er jedes Mal zum Feste erschien, wo er öffentlich in dem Tempel lehrte und von der großen Menge täglich gesehen werden konnte, und wo er auch seine Zeichen und Wunder nicht gespart hat, weil daselbst die Menge der hülfsbedürftigen und leidenden gewiß am größten war, da waren sehr viele, zu denen sein Ruf nicht erschollen war; und auch unter allen den unglükklichen, die hier am Teiche lagen, sehen wir nicht einen, der ihn als den Sohn Davids erkannte und seine Hülfe anflehte. Das, m. g. Fr., das sind die unerforschlichen Wege des Höchsten in Beziehung auf die Leitung der irdischen Angelegen|heiten der Welt, das ist es was die Schrift in so vieler Beziehung sagt, daß es mit des Menschen Thun und Laufen nichts sei, und daß Gott seine Gaben vertheile wie er will. Den Erlöser selbst aber finden wir hier auf eine andere Weise handeln als er gewöhnlich thut. Denn das gewöhnliche, was wir in dieser Beziehung bei ihm finden, ist dies, daß er seine Hülfe nicht anbietet, aber wenn die Menschen sie fordern, so ist er gleich bereitwillig sie zu leisten. Hier nun fordert keiner seine Hülfe, aber er will doch auch nicht weggehen von dieser großen Menge elender und leidender, ohne ein Zeichen seines Daseins zurükkzulassen. Wodurch aber wurde seine Wahl geleitet? Das, m. g. Fr., vermögen wir nicht zu beurtheilen; nur so viel können wir sagen, wie wir ihn überall handeln finden in dieser Beziehung und leidenden seine Hülfe gewähren, so sehen wir, daß er das nie angesehen hat als den eigenthümlichen Gegenstand seines Berufs; sondern nur im Vorbeigehen, nur wenn sich ihm die Gelegenheit darbot, dann gewährte er die menschliche Hülfe, um die er gebeten wurde, und machte dadurch einem bestimmten Leiden ein Ende. Und so haben wir nicht Ursach zu glauben, daß er sich hier werde die Zeit genommen haben, sich zu erkundigen nach den Umständen der leidenden, danach welcher von ihnen der bessere und welcher der schlechtere sei, wer am meisten und wer am wenigsten sein Leiden verschuldet habe, auch nicht danach, wer am meisten und wer am wenigsten Aussicht habe, dadurch daß er sich wirklich auf eine thätige Weise hergab und seine hülfreiche Hand darbot, die Hülfe zu erlangen; sondern auf eben die Art, wie wir dies im Leben durch den Ausdrukk des zufälligen zu bezeichnen pfle16–18 Vgl. Röm 9,15–16
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gen, ist seine Aufmerksamkeit auf diesen gerichtet worden, von dem er vernahm, daß er acht und dreißig Jahre krank gelegen habe. | Wenn wir aber nun, um die ganze Erzählung richtig zu verstehen, fragen: wie haben wir uns diesen Menschen zu denken, der hier der Hülfe des Erlösers ungebeten theilhaftig wurde? so müssen wir gestehen: verhält es sich so, wie er zu dem Erlöser selbst sagt, daß er keinen Menschen habe, der ihn schnell genug, wenn das Wasser sich bewegt, in den Teich hinablasse, sondern daß, wenn er komme, immer schon ein anderer vor ihm hineinsteige, dann muß sein Leiden ein solches gewesen sein, welches ihm zwar nicht unmöglich machte sich selbst zu bewegen, aber ihm doch das Gehen erschwerte, denn das liegt darin, daß er sagt, Ehe ich komme, steigt ein anderer vor mir hinein. So müssen wir gestehen, er hatte keine Hoffnung an diesem Orte Rettung zu finden, und der Erlöser hatte Recht ihn zu fragen, wie bedenklich eine solche Frage sonst auch scheinen mag, Willst du gesund werden? Denn der kranke, der ein rechtes Verlangen nach der Gesundheit hat, der hat ein Verlangen nach der Thätigkeit des Lebens und will das Hinderniß, welches ihm dabei im Wege steht, aufgehoben sehen; er will frei sein von Schmerzen, er will zu dem rechten und vollkommnen Besiz seiner Gliedmaßen gelangen, um sie zu gebrauchen; kurz er will gesund werden, um in der Ausübung seines Berufs nicht durch Leiden gestört zu werden. Wenn aber dieser leidende mit so wenig Mitteln ausgestattet war, um die Gelegenheit zu finden und zu ergreifen, die hier an eine besondere Bedingung gebunden war, indem nur der, welcher, wenn sich das Wasser bewegte, am ersten und am schnellsten in den Teich hinein kam, gesund wurde: so müssen wir sagen, hätte er ein rechtes Verlangen nach der Gesundheit gehabt, so wäre er von diesem Orte fortgeblieben, wo er die Kräfte, die ihm noch übrig waren, nicht gebrauchen konnte, sondern in einem müßigen Zustande mußte verkommen lassen, und wo er keine Wahrscheinlichkeit hatte, jemals von seinem Leiden befreit zu werden; und er hätte dann gewiß bei sich gedacht, | was er noch von Kräften besaß, lieber auf eine andere Weise zu irgend einem heilsamen Zwekke zu verwenden, als hier unthätiger Weise die Zeit hinzubringen. Darum mußte der Erlöser zweifelhaft sein, ob in diesem Menschen wirklich ein rechtes Verlangen nach der Gesundheit sei, welches seinen rechten Grund in dem Gemüthe selbst hat, und wir sehen auch aus der Antwort des Menschen, wie er sich entschuldigt, daß er noch nicht gesund geworden sei, und wie er die Schuld von sich ab und auf die Umstände wendet. Er hat also sein Uebel ertragen und ertragen wollen, und in dieser äußerlichen Unthätigkeit, in diesem bloß leidenden Zustande, wo es ihm aber eben deshalb, weil der Ort mit einer unmittelbaren Kraft von Gott ausgestattet war und daher auch ohne Zweifel häufig besucht wurde, gewiß an
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Unterstüzungen frommer Menschen, die ihre Dankbarkeit gegen die göttliche Hülfe gern durch Mittheilung von Almosen an die Nothleidenden unter ihren Brüdern an den Tag legten, nicht gefehlt hat, wollte er lieber müßig verharren, als die Kräfte die er noch hatte, durch Anstrengung zu etwas gutem und nüzlichem gebrauchen, wie wir denn dies bei leidenden, wenn sie sich einmal durch die Länge der Zeit an ihr Leiden gewöhnt haben, nicht selten finden. Der Erlöser aber, der macht nun seinem Leiden ein Ende, und sagt zu ihm, Stehe auf, nimm dein Bett und gehe hin, und sofort thut er es. Als er aber nun ging, so kamen die Juden – darunter versteht unser Evangelist immer nicht ohne Unterschied jedes Mitglied des Volks, sondern die angesehneren unter ihnen, und die es sich zum besondern Geschäft machten, sei es nun ihr bestimmter Beruf gewesen oder nicht, auf Ordnung und Gesez im Volke zu halten – die kamen und sprachen zu ihm, Ei, es ist nicht schikklich heute am Sabbath das Bett zu tragen. Und er antwortete ihnen, Der mich gesund | gemacht hat, der gebot mir, Nimm dein Bett und gehe hin. Sie hörten also, daß dieser Mensch, von dem sie, wenn sie ihn auch nicht kannten, doch gleich an Ort und Stelle Nachricht einziehen konnten, wie lange er schon da auf Hülfe geharrt hatte, von einem war gesund gemacht worden, da doch gewiß keine menschliche Hülfe mehr für ihn zu sein schien. Aber das macht so wenig Eindrukk auf sie, daß sie zwar danach fragen, wer denn das gewesen sei, der zu ihm gesagt habe, Nimm dein Bett und gehe hin, aber wie uns der Evangelist in der Folge erzählt, nur um Jesum zu verfolgen, weil er solches gethan hatte auf den Sabbath. Hier, m. g. Fr., zeigt sich uns recht deutlich, welch ein gefährliches Ding es ist um die Anhänglichkeit des Menschen an das äußerliche. Das war doch immer nur ein äußerliches Gesez, welches auch nach verschiedenem Maaße konnte ausgelegt werden, daß am Sabbath nicht sollte gearbeitet werden. Nun war das auch keine Arbeit, daß dieser sein eigenes Bett nahm, um von der Stelle, wo er so lange krank gelegen hatte, nach Hause zu gehen. Es waren auch am Sabbath erlaubt alle Werke der Noth und alles dasjenige, was ein Werk der Liebe war. Und warlich man kann sagen, das war ein rechtes und wahres Sabbathwerk. Denn indem dieser, der acht und dreißig Jahre hindurch dort krank gelegen hatte – gewiß nicht eine unbekannte Person, sondern indem viele in der Nähe des Teiches werden gewandelt haben, wie der Herr es hier auch that, so haben sie ohne Zweifel es gleich erfahren, daß unter den leidenden dort auch ein solcher sich befinde, der einen großen Theil seines Lebens hindurch an einer Krankheit leide, 24–26 Vgl. Joh 5,16
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und so war er auf jeden Fall ein bekannter Mensch, wie solche leidende, die an bestimmten Stellen sich aufzuhalten pflegen, es gewöhnlich sind und immer mehr werden – indem dieser jezt nach so langer Zeit von seinem Uebel befreit war, so wurden alle diese dadurch aufgefor|dert zum Lobe Gottes für die Hülfe, die dem elenden geworden war, und so war dies ein rechtes Werk des Sabbaths, welches dazu Veranlassung gab und die Menschen aufforderte den Allmächtigen zu preisen, der sich hier auf eine so ausgezeichnete Weise verherrlicht hatte. Und daß dies ein wahres Werk des Sabbaths war, das hätten nicht nur die, welche jenen fragten, selbst denken können, sondern auch er hätte ihnen so antworten können und sollen. Aber sie sahen nun in der erwiesenen Hülfe des Erlösers sowol, als in dem Gehorsam dessen, der genesen war, nur die Uebertretung des äußerlichen Gesezes. Ja wohl, m. g. Fr., müssen wir es uns überall sagen, und können es uns nicht oft genug sagen und klar genug vor Augen stellen, wie es nichts giebt, was so sehr das Herz des Menschen verfälscht und dadurch zugleich auf der andern Seite seinen Verstand verfinstert, als diese knechtische Anhänglichkeit an das bloß äußerliche in Gesezen, Sitten und Gebräuchen. Darum mögen wir keine Gelegenheit vorbei lassen Gott dafür zu danken und zu preisen, daß er uns davon frei gemacht hat, indem uns der Erlöser erhoben zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit; darum mögen wir uns vereinigen in dem Vorsaz, uns diese Freiheit der Kinder Gottes zu bewahren, und nicht wieder Knechte der Menschen zu werden und äußerlichen Sazungen uns zu unterwerfen, damit wir nicht den reinen innern Segen des göttlichen Wortes verlieren. Je mehr sich diese Knechtschaft des menschlichen Gemüths bemächtigt, desto mehr wird der Geist des Menschen von dem großen abgezogen und von Kleinigkeiten gefesselt; desto mehr wird das innere fahren gelassen, und der beschränkte Sinn auf das äußerliche gerichtet; der lebendige Geist weicht von dem Menschen, und er ist nur noch ein Werkzeug für den todten Buchstaben. Als nun der Erlöser den Menschen, den er gesund gemacht | hatte, im Tempel wieder fand, so ging er zu ihm und sprach zu ihm, Siehe zu, du bist nun gesund geworden, sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas ärgeres widerfahre. Warum, m. g. Fr., hat doch der Erlöser das gethan? Was für einen Erfolg es unmittelbar hatte für den Menschen, das erzählt uns der Evangelist nicht. Aber der Mensch ging hin und zeigte den Juden an, wer es wäre, der ihn gesund gemacht habe. Das hat der Menschen-Sohn, der wol wußte was in des Menschen Herzen war, auch gewußt, es ist 40–41 Vgl. Joh 2,25
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ihm nicht verborgen gewesen. Wollte er denn verfolgt werden, wie ihm nachher geschehen ist, daß die Juden ihn verfolgten und zu tödten suchten, weil er das gethan hatte auf den Sabbath? Sollte er es gethan haben, um verfolgt und getödtet zu werden? Gewiß nicht; denn er wollte sich nicht in die Hände seiner Feinde liefern, wie wir dies aus tausend andern Fällen wissen. Oft entzog er sich ihnen, weil er wußte, daß sie ihm Nachstellungen bereiteten; oft vermied er absichtlich das Zusammentreffen mit ihnen, weil er wußte, daß sie ihn zu tödten suchten, und so that er alles, was in seinen Kräften stand, um nicht in ihre Hände zu fallen und um sich seine Wirksamkeit zu sichern. Warum that er aber doch dies? M. g. Fr., das war der Drang seines Herzens, zu der leiblichen Wohlthat eine geistige hinzuzufügen. Vorher ging zu dem Menschen und redete der Wunderthäter, auf dessen Gebot die Krankheit ihn verließ, und die frische Kraft des Lebens zurükkkehrte, die ihm so lange gefehlt hatte, und weil viel Volks an dem Ort war, wo der Mensch gesund wurde, und daher gewiß viele sich werden zu ihm gedrängt haben, so ging er von dannen. Als er ihn nun wieder fand, da wollte er auch zu ihm reden als Erlöser, und er sprach zu ihm, Siehe zu, du bist | gesund geworden, sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas ärgeres widerfahre. Die leibliche Wohlthat, die er ihm erwiesen, erinnert den liebreichen Geber ihn auf das größere geistige Bedürfniß aufmerksam zu machen, welches nun noch befriedigt werden mußte, ihn zur rechten Dankbarkeit gegen Gott und zu einem frommen dem Dienste der Wahrheit und der Thätigkeit in dem geistigen Leben gewidmeten Dasein aufzufordern, und ihm den rechten Zusammenhang seines bisherigen Leidens mit der Sünde nahe zu bringen. Denn indem er ihm sagt, Sündige hinfort nicht mehr, so liegt darin ganz unverkennbar die Meinung des Erlösers, daß dasjenige Leiden, von welchem ihn der Herr befreit hatte, auch nicht ohne Zusammenhang gewesen wäre mit der Sünde. Das war sein Beruf, den er auch an dieser verlorenen Seele erfüllen zu müssen glaubte, und nachdem er ihm die leibliche Wohlthat erwiesen, und dadurch wieder sein Verhältniß zu der menschlichen Gesellschaft und zu dem äußern Leben hergestellt hatte, so glaubte er ihm auch die geistige um so mehr darreichen zu müssen, und ohnerachtet er wußte, was ihm dadurch bevorstand, und wie dies auf sein Verhältniß zu den Juden zurükkwirken werde, so unterließ er es doch nicht. O, m. g. Fr., welch ein herrliches Beispiel giebt uns auch bei diesem geringen Anlaß der Erlöser davon, worin die rechte Treue des Christen in seinem Beruf besteht, nämlich darin, niemals auf den Erfolg zu sehen, sobald das Gewissen etwas verlangt, sobald der christliche Sinn und Geist uns treibt, sobald wir uns das Zeugniß geben müssen, es
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gehört zu unserem Beruf, da auf keinen Erfolg zu sehen, sondern zu thun was wir Gott und unserem Gewissen schuldig sind. Das ist die wahre Treue des Christen. So hat der Erlöser überall gehandelt, und auch da wo es ihm gewiß war, daß sie ihn deshalb verfolgen würden; und so sollen auch wir bei allen ähnlichen Gelegenhei|ten nach keinem andern Gesez handeln. So sei denn auch dies immerdar die Richtschnur unseres Lebens! Aber, m. g. Fr., die größte Verstokktheit des Herzens zeigt sich nun in dem, was der Evangelist uns zulezt erzählt, Der Mensch ging hin, nachdem Jesus das zu ihm gesagt hatte, und verkündigte den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Nichts erzählt er uns davon, was für einen Eindrukk das auf sein Gemüth gemacht, nichts davon, wie ihn das aufgefordert hat und getrieben, dem, der ihm leiblich geholfen, seinen Dank abzustatten nicht mit Worten allein, sondern mit der Freude, mit welcher die Gabe wol verdiente aufgenommen zu werden, nichts davon, daß er in dem, der ihm die leibliche Gesundheit geschenkt hatte, und der ihm nun auch das Herz erweichen und für das ewige aufschließen wollte, etwas größeres und höheres erkannt hätte als den Wunderthäter und den Retter von irdischen Leiden, sondern er ging hin und verrieth ihn den Juden, von denen er wußte, daß sie aus keinem andern Grunde nach ihm gefragt hatten, als um ihn zu verfolgen und als einen Uebertreter des Gesezes zu tödten. Eine größere Verstokktheit und ein größerer Undank ist schwerlich zu finden; und doch wenn wir fragen, Wie kam der Mensch zu dieser tiefen Verworfenheit? so sehen wir keinen andern Grund als dieses beides zusammen, Auch in ihm war die Anhänglichkeit an das äußere und der große Werth, den er auf das äußere legte, und deswegen eine übertriebene Ehrfurcht und ein falscher Gehorsam, den er denen, die das äußere Gesez verwalteten und nur für ihr Ansehen und zu ihrem Nuzen zu verwalten suchten, schuldig zu sein glaubte; und dann die Gleichgültigkeit gegen alles höhere und göttliche, die in ihm das acht und dreißigjährige unthätige und müßige Warten auf Hülfe hervorgebracht hatte. Ja wohl, ja wohl! je länger der Mensch nur danach trachtet, die irdischen Güter der Welt zu erhaschen und von irdischen | Uebeln frei zu werden, desto mehr verliert er das Vermögen nicht nur selbst nach dem höheren und ewigen zu streben, sondern auch zu erkennen, wo es ist. Darum, m. g. Fr., laßt uns überall wo es in unseren Kräften steht dafür wirken, daß sich die Menschen um uns her nicht verstokken in diesem Tichten und Trachten nach dem, was vergänglich ist; laßt uns, m. g. Fr. – das ist die Dankbarkeit, die wir dem Erlöser schuldig sind – unermüdet danach streben, sie von allem äußerlichen wegzuwenden und ihre Herzen begierig zu machen nach dem geistigen, und ihnen
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die Schönheit des neuen ewigen Lebens, welches uns der Herr gegeben hat, recht nahe zu bringen, damit auch sie sobald als möglich zu dem himmlischen und ewigen erhoben werden, ehe sie den Sinn dafür verlieren, und ehe es zu spät ist. Ja wir alle, die wir durch ihn erlöset sind und aus dem Tode zum Leben gebracht, wir alle sind ihm diese Dankbarkeit schuldig, die Menschen um uns her dazu zu erwekken und sie auf den hinzuweisen, der ihnen, wenn sie in das irdische versenkt sind, viel höheres geben kann als was sie bitten und begehren. Amen.
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Am 23. Mai 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Rogate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,44–48 Nachschrift; SAr 87, Bl. 45r–61v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 249r–260v; Andrae Nachschrift; SAr 63, Bl. 11r–14r; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
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Tex t. Lucä XXIV, 44–48. Er aber sprach zu ihnen: das sind die Reden, die ich zu euch sagte, da ich noch bei euch war; denn es muß alles erfüllet werden, was von mir geschrieben ist im Gesez Mose, in den Propheten, und in den Psalmen. Da öffnete er ihnen das Verständniß, daß sie die Schrift verstanden. Und sprach zu ihnen: Also ist es geschrieben, und also mußte Khristus leiden, und auferstehen von den Todten am dritten Tage; und predigen lassen in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern und anheben zu Jerusalem. Ihr aber seid deß alles Zeugen. | M. a. F., Die Worte, welche der Erlöser in den Tagen seiner Auferstehung mit seinen Jüngern geredet hat, sind gleichsam die lezte Gabe, welche er ihnen und uns zurükließ vor seinem Hingehen aus dem Schauplaz dieser Welt, und wir müssen sie deswegen auch besonders werth und heilig halten, daher wir uns gewöhnlich in dieser Zeit zwischen dem Feste seiner Auferstehung und dem seiner Himmelfahrt mit denselben beschäftigen. Wie sollten nun nicht die eben verlesenen von einer ganz 1 Rogate 1824] Ergänzung von Schleiermachers Hand; SAr 105, Bl. 149r: Predigt am Sonntage Rogate 1824. 14 zurükließ] vgl. SAr 105, Bl. 249v; Textzeuge: zurük 1 Die Überschrift ersetzt das ursprüngliche Titelblatt, welches wohl durch die Lieferung der im Konvolut ehemals vorangehenden Predigt (vgl. oben 12. Mai nachm.) an die Setzerei verlorenging.
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besondern Wichtigkeit für uns sein, weil hier der Erlöser nachdem sein Leiden überstanden und ihm selbst dasjenige, was ihm vorher nur als ein Künftiges | vorschwebte, unmittelbar gegenwärtig und nahe geworden war, nachdem seine Jünger getröstet waren über seinen Tod und befreit von den Schmerzen, die er ihnen gemacht hatte, in ihrem Glauben aber eben durch ihn schon erleuchtet und voll von allen den Hoffnungen, welche die Thatsache seiner Auferstehung mit sich führt, so hier zu ihnen redet über die ganze Ordnung des Heils, die Gott beschlossen über das ganze menschliche Geschlecht, auf der einen Seite zurükweisend, auf die Vergangenheit, auf der andern hinaus in die Zukunft, auf der einen von dem redend, was er selbst dabei zu thun und zu leiden hatte, auf der andern auch davon, was seinen | Jüngern nach ihm und mit ihm obliege. So laßt uns denn dieser Rede des Herrn in der gegenwärtigen Stunde der Andacht mit einander nachgehen, und seine Erklärung über die göttliche Ordnung des Heils vernehmen, wie er sie uns darstellt auf der einen Seite als selbst und persönlich ausgeführt durch ihn, auf der andern Seite uns aber auch dessen erinnert, was seine Jünger und also auch wir dabei zu thun haben. Das sei es denn, worauf wir jezt mit einander unsere khristliche Aufmerksamkeit lenken wollen. I. Laßt uns zuerst hören, wie der Erlöser hier redet von dem, was ihm selbst habe be|gegnen müssen um die göttliche Ordnung zu erfüllen. Er weiset dabei seine Jünger zuerst zurük auf die Schrift, und dann erst auf diesem Grund erklärt er ihnen die göttliche Ordnung selbst. Er sagt zu ihnen: „das sind die Reden, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch beständig bei euch war, denn es muß alles erfüllt werden, was von mir geschrieben ist in dem Gesez Mose, in den Propheten und in den Psalmen.“ Er weiset also zurük auf die Schrift, wie er es oft schon während seines Lebens nicht nur seinen Jüngern insbesondere, sondern auch allen Andern gethan, indem er sagte: Ihr forschet in der Schrift, und sie ist es eben, die von mir zeuget, | und weiset auf sie zurük als von ihm zeugend und von ihm handelnd. Aber Unrecht würden wir thun, m. g. F., und den Sinn des Herrn nicht nur nicht erschöpfen, sondern von einer gewissen Seite angesehen sogar ganz verfehlen, wenn wir hier vorzüglich oder ausschließend stehen bleiben wollten bei den Stellen in den Schriften des alten Bundes, welche auf Einzelnes 25 diesem] diesen 31–32 Vgl. Joh 5,39
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in dem Leben und in dem Ergehen des Erlösers anspielen oder anzuspielen scheinen. Denn darauf hat er unseren Glauben keinesweges gründen wollen und können, auf der einen Seite weil in jenen heiligen Büchern gar oft neben solchen Stellen, welche ausdrüklich dazu gemacht scheinen, uns an | Einzelnes aus dem Leben des Herrn zu erinnern, andere stehen, welche etwas ganz Entgegengeseztes aussagen von dem, was ihm wirklich begegnet ist. So hat von jeher der Glaube der Khristen, gestüzt auf die Hinweisung unserer heiligen Bücher selbst in dem drei und fünfzigsten Kapitel des Propheten Jesaias, ein solches Reden und Handeln von den Leiden des Erlösers gefunden, und auch er selbst hat gewiß diesen hier wie sonst mit im Sinne gehabt. Wenn wir aber auf die einzelnen Umstände sehen, die dort erzählt werden, wie er unsere Krankheit auf sich genommen und unsere Schmerzen getragen, wie er verhöhnt und verspottet worden von den Menschen, so | finden wir dicht daneben zugleich gesagt, er sei gestorben wie ein Reicher und begraben wie ein Gottloser, welches wenn man es auf einzelne Ereignisse [im Leben] des Erlösers anwenden wollte, grade das Gegentheil aussagen würde von dem, was ihm wirklich begegnet ist. So in jenem zwei und zwanzigsten Psalm, auf den er uns selbst hinwies, als er am Kreuze hing, und worin so viel einzelne Ausdrüke für einzelne Umstände seines Leidens sich schiken, da lesen wir zugleich, daß der welcher da redend eingeführt wird, Gott bittet, er wolle seine Seele erlösen von dem Schwert, und hernach rühmen, wenn der Herr sein Gebet erhört habe, so daß wer diesen Psalm für sich liest und dabei nicht schon | jene Beziehung sich fest eingeprägt hat, gewiß nicht glauben kann, daß hier von einem solchen die Rede ist, dessen Leiden mit dem Tode geendigt haben, sondern von einem solchen, den Gott von seinen Leiden gerettet hat. Und so könnten durch Beziehung solcher einzelnen Äußerungen der Schrift, auf einzelne Umstände in dem Leben und Leiden des Erlösers bezogen, eben so viele Gewissen irre gemacht werden als auf ihn hingeführt. Dazu kommt noch dies, daß unter jenen einzelnen Umständen so manche sind, die uns gar leicht hätten ganz verschwiegen sein können, weil sie zu der wesentlichen Darstellung dessen, was dem Erlöser begegnet war und um unseretwillen begegnen sollte, nicht gehören, | wie eben dies, daß die Kriegsknechte seine Kleider theilten und das Loos über sein Gewand warfen, welcher Ausdruk eben so in jenem Psalm sich findet. Wenn wir das erwägen, muß uns nicht leicht der Gedanke kommen, daß wenn wir 24 liest] so SAr 105, Bl. 252r; Textzeuge: ließ 13–14 Vgl. Jes 53,3–4 15–16 Vgl. Jes 53,9 19–20 Vgl. Mt 27,46 Ps 22,21–22 35–37 Vgl. Ps 22,19; Joh 19,24
21–24 Vgl.
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alle einzelne Umstände wüßten, die sich in den Tagen seines Fleisches und besonders seines Leidens ereignet haben, wir vielleicht noch mehreres finden würden, was im Widerspruch stände mit jenen Stellen der heiligen Bücher des alten Bundes, wenn man sie so auf einzelne Umstände und Begebenheiten anwenden wollte. Nicht also das ist die eigentliche Meinung des Erlösers gewesen, als er zu seinen Jüngern sagte: Das sind die | Reden, die ich zu euch sagte, als ich noch bei euch war, und alles muß erfüllt werden, was von mir geschrieben ist in dem Geseze Moses und in den Propheten und in den Psalmen, wie denn auch besonders in dem Geseze Mose niemand etwas auf irgend einen einzelnen Umstand in dem Leben und in dem Leiden des Erlösers Deutendes finden möchte. Sondern wie hat er seine Jünger vielmehr auf die Schrift verwiesen? Als solche Thaten erzählend, welche nur gleichsam natürliche Vorbereitungen waren auf dasjenige, was ihm selbst begegnen mußte, und es also einem innern Zusammenhange nach andeutend und als allgemeine Ahndungen und Hoffnungen der von Gott erleuchteten | und begeisterten Männer aussprechend, welche eben weil sie Seufzer des göttlichen Geistes in ihnen waren, in dem und durch den, der zum Erlöser der Welt bestimmt war, auch mußten in Erfüllung gehen. In jener Hinsicht finden wir oft in seinem Leben den Erlöser auf die Schrift zurükweisen, in wiefern sie enthält die Geschichte aller von Gott gesendeten und ausgerüsteten Männer, wie auch die einen ähnlichen Kampf zu kämpfen hatten, wie auch der Propheten Wort nicht angenommen wurde, sondern ihre Predigt verschmäht, daß sie seufzen mußten, wer glaubt unserem Predigen, wie auch sie verfolgt wurden und zum Theil getödtet, weshalb der Erlöser von sich selbst sagt, sie würden | es ihm nicht besser machen als sie es gethan hätten den Propheten, die vor ihm gewesen. Das alles durfte und konnte er anführen als von ihm redend und handelnd, sich selbst aneignend das, was der Natur der Sache zufolge denen begegnete, die er überall als seine Vorläufer ansieht, und die auch wir als solche ansehen müssen, weil das große Werk Gottes zur Erlösung der Menschen nur Ein in sich genau Zusammenhängendes Ganze ist. Noch mehr aber weiset er auf die Schrift zurük als aussprechend die Ahndungen und Hoffnungen der am meisten von Gott erleuchteten Männer alter Zeiten, sich anlehnend an jene erste Verheißung, als der Kampf angekündigt ward zwischen dem Menschen Sohn und der Schlange, | er werde ihr den Kopf zertreten, sie werde nur vermögen ihn in die Ferse zu 24–25 verschmäht] so SAr 105, Bl. 253r; Textzeuge: verschwächt Bl. 253v; Textzeuge: eben 35 Hoffnungen] Hoffnungen, 25 Vgl. Jes 53,1
27–28 Vgl. Mt 5,12
36–1 Vgl. Gen 3,15
33 aber] so SAr 105,
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stechen, hieran sich lehnend, hierauf sich stüzend weht in allen heiligen Schriften des alten Bundes der Geist hoffnungsreicher Ahndung, daß es einen Sieg geben werde durch Gott herbeigeführt über die Gewalt der Sünde, daß sie sich immer auflehnen werde gegen den, der in der Kraft Gottes und von ihm gestärkt zum Widerstand gegen sie auftreten würde, daß aber das was sie denen zu thun vermöge die Gott früher gesandt, nichts sei im Vergleich mit dem Siege, der in seiner Kraft werde errungen werden. Diese Hoffnungen, diese Ahndungen wendet der Erlöser alle auf sich an, und sagt eben in Beziehung auf sie ganz vorzüglich, | daß die Schrift es sei die von ihm zeuge. Jene waren die Vorbereitung, er war die Erfüllung, und darum führt er die Schrift an und weiset auf sie zurük als auf eine ununterbrochene Kette von Beispielen jener göttlichen Ordnung, durch welche das Heil der Menschen soll bewirkt werden. Denn das ist es, was er sagt, wenn er spricht: Alles muß erfüllt werden, was von mir geschrieben steht, denn also mußte Khristus, also mußte der Gesalbte und Auserwählte des Herrn leiden und sterben, und wieder auferstehen, und Buße und Vergebung der Sünden predigen lassen in seinem Namen. Das ist also zweitens die göttliche Ordnung, auf welche er uns hinweist, daß so wie an ihm hat müssen | in Erfüllung gehen alles was nothwendig gewesen ist, so auch der welcher von Gott zum Heil der Menschen gesandt war, hat müssen leiden und sterben und auferstehen, und Vergebung der Sünden verkündigen lassen in seinem Namen. Und gewiß, m. g. F., so wahr die Sünde ist in der Welt, und so wahr Gott den Tod des Sünders nicht will, sondern daß er sich bekehre und lebe, so ewig wahr und nothwendig ist diese göttliche Ordnung, so klar muß es uns werden, denen das Wort des Herrn überhaupt Wahrheit ist, daß das alles also und nicht anders geschehen mußte. Die Sünde wäre nicht, wenn wir sie nicht fühlten als einen Widerstand gegen das Gute, welches allein Gott will, und welches | allein die einzige Wahrheit seines Wirkens und seines Willens ist. Aber weil wir sie in diesem unserm gegenwärtigen Zustande in uns selbst fühlen als eine Kraft des Fleisches und der Lust, welche sich auflehnt gegen den Geist, und die in uns ist eine Feindschaft gegen Gott, wir aber auch wissen, daß Gott zu gerecht ist als daß er die Sünde könnte herrschen lassen immerdar: so wahr und nothwendig ist es also, daß er eine Ordnung gründen mußte, um die Gewalt der Sünde zu überwältigen, und eine solche zusammenhängende Folge einzelner Theile dieser göttlichen Ordnung war alles, was den Inhalt der Bücher des alten Bundes ausmacht. Dazu war das Gesez, 1 stechen] stehen 9–10 Vgl. Joh 5,39
8 diese] so SAr 105, Bl. 254r; Textzeuge: die
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dazu die Propheten, | dazu die ganze so merkwürdige Geschichte des Volkes, aus welchem der Erlöser der Welt entspringen sollte. Aber alle, die von Gott erleuchtet und ausgerüstet sich der Herrschaft der Sünde widersezten, mußten auch den Stachel ihrer Gewalt fühlen, sonst wäre sie keine Gewalt, sonst hätte sie nicht das Fleisch und seine Lüste zu ihrem Bundesgenossen. Darum mußten die Herolde Gottes leiden vor ihm, und als derjenige kam, den sie alle nur vorbereitet hatten, und auf den sie mit ihrem ganzen Dasein und Wirken deuten sollten, so war es auch natürlich, daß sich auch gegen ihn am stärksten die Gewalt der Sünde auflehnte, daß er am meisten durch die|selbe leiden mußte, darum war es der göttlichen Ordnung gemäß, daß er mußte fallen in die Gewalt der Sünde und sein Leben lassen zum Lösegeld als ein Befreiungsmittel für uns alle. Denn dieser Sieg der Sünde, der nichts anderes sein durfte, als daß die Schlange im Verscheiden den Menschen Sohn in die Ferse stach, an diesen auch scheinbaren Sieg mußte sich anknüpfen der wahre und vollkommne Sieg Gottes und seiner heiligen Ordnung; darum mußte der, der gestorben unter den Händen der Sünde, wieder auferstehen, und mit diesem ersten Anfang seines Sieges beginnen die endliche Erfüllung jenes göttlichen Werks, Buße und Vergebung der Sünde | mußte gepredigt werden in seinem Namen. Denn dies war nun eben so nothwendig und eben so gemäß der göttlichen Ordnung. Wie der Erlöser die Fülle der Gottheit die in ihm war während seines irdischen Lebens, nicht für sich hatte und behielt, und es auch nicht für einen Raub hielt, der ihm allein gebührte, Gott gleich sein, wie er auch nicht herrschen wollte, sondern nur gekommen war um zu dienen, so mußten auch alle diejenigen, die an ihn glaubten und in ihm den Sohn des lebendigen Gottes erkannten, das was von ihm in sie überströmte, die Kraft Gottes die er ihnen mittheilte, nicht haben und behalten wollen für sich selbst, sondern die göttliche Ordnung war, daß auch sie streben mußten | dieselbe mitzutheilen, sein Werk weiter zu fördern und es immer mehr auch äußerlich in der Erscheinung der menschlichen Dinge dem Ziele seiner Vollendung näher zu bringen, indem sie predigten wie er selbst gethan hatte Buße und Vergebung der Sünden in seinem Namen, indem sie einluden wie er selbst gethan hatte die Mühseligen, daß sie Ruhe suchen möchten bei ihm.
5 Lüste zu] Lüste in dem zu
6–7 vor ihm] anders SAr 105, Bl. 255r: von ihr
11–13.25–26 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45 14–15 Vgl. Gen 3,15 Phil 2,6; Kol 2,9 34–36 Vgl. Mt 11,28–29
22–25 Vgl.
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II. Und dies, m. a. F., führt uns nun auf den zweiten Theil unserer Betrachtung, wie nämlich der Erlöser die göttliche Ordnung des Heils auch darstellt so wie sie weiter geführt und gefördert werden soll von den Seinigen, die er zurükließ, als er aus dieser Welt schied. Ueber die | Art aber wie sie sie fördern sollten, sagt er zu ihnen in den Worten unseres Textes: „Ihr aber seid deß alles Zeugen.“ Zeugen also sollten sie sein von dem sowohl was er zuerst über sich selbst sagt, daß er nämlich hatte leiden müssen und sterben, Zeugen sollten sie auch sein von seiner Verherrlichung und von seinem Siege. Wie aber, m. g. F., wie konnten sie denn Zeugen sein davon, daß Khristus hatte müssen leiden und sterben? wie konnten sie denn Zeugen sein davon, daß eben das auch die Schrift schon von ihm gesagt und verkündigt hatte. Nicht nur dadurch eben, daß sie auf die Schrift hinwiesen oder daß sie sagten was geschehen war, denn das leztere war allen bekannt, zu denen sie nur reden konnten, | und vor denen sie als Zeugen hätten auftreten können, das Erstere lag auch allen vor Augen, keinem waren die Stellen der Schrift verborgen, und die meisten von denen, die der Herr auf sich anwendete, waren auch sonst schon verstanden worden von dem, der da kommen sollte. Zeugen also davon, daß Khristus leiden mußte und sterben, konnten sie nur sein durch etwas, was ihnen selbst begegnete. In dieser Beziehung also sind diese Worte: „Ihr aber seid deß alles Zeugen,“ ganz dasselbe, was er oft in den Tagen seines Fleisches zu seinen Jüngern gesagt hatte, es würde ihnen nicht besser ergehen, als es ihm ergangen sei; wie er wäre gehaßt worden, so würden sie gehaßt werden, | der Jünger könne es nicht besser haben als der Meister, und auch sie würden verfolgt werden um seines Namens willen, wie er selbst wäre verfolgt worden um deß willen, was er von sich selbst gesagt und behauptet hatte. Und, m. g. F., auch dieses ist ein nothwendiger Theil jener großen göttlichen Ordnung. Der Erlöser hat zwar die Schrift vollendet und ist der Mittelpunkt jener Ordnung des göttlichen Heils, auf ihn deutet alles frühere hin, an ihn schließt sich alles Folgende an; aber so lange die Gewalt der Sünde noch fort dauert in dem Menschen, so lange besteht auch der Kampf noch, wenn wir ihn gleich nicht mit dem, den er selbst gekämpft hat und kämpfen mußte auf keine Weise vergleichen können, | so sind doch, wie die Schrift sagt, alle Leiden um des Namens Khristi willen Ergänzungen seiner eigenen, indem sie auf dieselben hinweisen und durch dieselbe geistige und natürliche Nothwendigkeit entstehen, aus dem Bestreben sein Werk zu 14 eben] anders SAr 105, Bl. 256v: etwa 24–29 Vgl. Mt 10,22–25; Joh 15,20–21
36–2 Vgl. Kol 1,24–25
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führen, und dazu beizutragen, daß wir es fördern und es immer mehr vollführen. Und so lange es noch Leiden giebt um des Namens des Erlösers willen, so lange muß auch noch der Kampf gegen die Sünde dauern, und das Leiden selbst und ein lebendiges Zeugniß von der göttlichen Ordnung, welche diejenigen, die die Träger seines Wortes sind und die Werkzeuge seines Willens, durch Leiden um seinet willen einführt in ihre Herrlichkeit. Wenn aber der Er|löser vorher gesagt hätte von sich selbst, also müßte es sein, daß er müsse Buße und Vergebung predigen lassen in seinem Namen, so waren nun seine Jünger es eben, durch welche diese Predigt ergehen konnte, und auch dies müssen wir uns darauf zurükführen, daß sie seine Zeugen sein sollten. Es giebt keine andere Kraft dieser Verkündigung als eben die Kraft des Zeugnisses. Wie kann aber davon ein Zeugniß bestehen, daß Vergebung der Sünden ist in dem Namen Khristi? Wie anders, m. g. F., als durch die Kraft der Erfahrung. Die Jünger des Herrn konnten zeugen davon, daß sie den Frieden empfangen hatten davon, welchen er ihnen verlieh, und wo der Friede | Gottes, den er den Seinigen ließ, in dem Herzen ist, da muß die Vergebung der Sünden sein, weil der Stachel der Sünde verschwunden ist; sie konnten Zeugen davon sein, daß sie mit ihm Eins wären, wie er das für sie von seinem Vater erbeten hatte, und daß sie eben dadurch in der innigsten Verbindung und Gemeinschaft mit Gott wären, und wo diese ist, da ist nothwendiger Weise auch die Vergebung der Sünden; denn die unvergebene die fortlebende und fortwirkende Sünde ist Feindschaft gegen Gott, und schließt die Gemeinschaft mit ihm aus. Ohne diese Wahrheit des Zeugnisses, ohne dies, daß die Jünger des Herrn den Menschen unmittelbar in ihrem eigenen Leben zu erkennen | und anzuschauen gaben die Kraft, die zum Heil der Menschen im Namen Khristi führt, wäre ihre Verkündigung leer gewesen und nichtig. Denn was hätten sie gehabt, worauf sie sich hätten verlassen können, was wäre für sie gewesen, wodurch sie hätten wirksam sein können. Und das, m. g. F., ist der große und wesentliche Unterschied zwischen der Verkündigung des Heils, welche mit der Erscheinung des Herrn anfängt, und zwischen der, die ihr voranging. Auch die lezten waren ein Werk des göttlichen Geistes, aber dennoch mögen wir mit Recht von ihnen sagen, was die Schrift sagt von der Ordnung und der Weise des alten Bundes, sie habe nur den Schatten der ewigen Dinge ehe noch das in|nerste Wesen derselben erschienen, sie deutete nur auf das Künftige hin, konnte aber nicht auffassen und lebendig darstellen das Gegenwärtige. Wenn aber die Jünger Khristi auftraten als Zeugen davon, daß Buße und Vergebung sei in dem Namen Jesu Khristi, so konnten sie darauf hinweisen, wie auch sie selbst 19–20 Vgl. Joh 17,21
35–38 Vgl. Hebr 10,1
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in der früheren Zeit ihres Lebens wären allem Wahn und allem Unheil, welches diejenigen trifft, die unter der Herrschaft der Sünde stehen, unterworfen gewesen; aber zeugen konnten und mußten sie in ihrem ganzen Leben davon, wie jezt der Friede Gottes über sie gekommen sei eben dadurch, daß sie sich mit Khristo verbunden hätten, wie nicht sie selbst, sondern er nur in ihnen lebe ein Leben Gottes, | zeugen mußten sie können von der göttlichen Ruhe und Sicherheit dessen, der durch den Glauben an den Erlöser aus dem Tode in das Leben hindurch gedrungen ist, und nur die Kraft dieses Zeugnisses war die Kraft ihrer Verkündigung. Und so ist denn dies auch die fortwährende göttliche Ordnung, so wahr und ewig wie das göttliche Wort selbst und wie das Wort des Erlösers, daß es keine andere Kraft der Verkündigung giebt des Heils in ihm als die Kraft des Zeugnisses. Wahr kann alles sein, was mit Worten der Schrift und andern zur Beseligung der Menschen geredet wird von dem Heil in Khristo ohne eigene Erfahrung; aber eine Kraft der Verkündigung kann darin nicht wohnen, denn die kann auf | nichts anderem ruhen als auf dem lebendigen Zeugniß. Sind wir aber Zeugen Khristi in dem fortbestehenden Kampfe seines Heils gegen die Gewalt der Sünde, so muß es auch uns wie den ersten Jüngern des Herrn natürlich sein und nothwendig mit dieser Kraft des Zeugnisses aufzutreten und Buße und Vergebung der Sünden zu verkündigen und zu predigen in seinem Namen. Darum, m. g. F., ist dies nicht ein ausschließliches Amt Einiger oder Anderer unter den Khristen, die dazu berufen wären, sondern die dazu berufen sind, die sind nur berufen zu einer besondern Art und Weise der Verkündigung des Heils in Khristo, als Khristen aber sollen sich alle dazu verpflichtet und berufen halten, daß sie selbst diese | Kraft des Herrn verstehen und mit ihrem ganzen Dasein Zeugen derselben sind. Wie würden sie denn auch bei sich selbst und vor sich selbst bestehen können, wenn sie sich nicht das Zeugniß geben könnten, daß sie ihm in alle dem die Ehre geben, was seine Kraft in ihnen wirkt, daß sie alles was sie in sich finden, als ein Geschenk von ihm nicht als ein selbsterworbenes Eigenthum, sondern als ein von ihm verliehenes Pfand seiner Gnade ansehen, und vor aller Welt freudig bekennen, daß selbst Alles was sie aus der Fülle der Gottheit des ewigen Sohnes empfangen, das Einzige ist was sie haben und besizen, und daß sie erst aus dem Tode lebendig geworden sind | durch ihn, und mit ihm erst auferstanden zu dem neuen Leben, in welchem der Sieg über die Gewalt der Sünde sich verkündigt und fortgesezt wird bis an das Ende der Tage. Wenn aber, m. g. F., kein Zeugniß 10 so] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 259r 7–9 Vgl. Joh 5,24
19 uns] so SAr 105, Bl. 259v; Textzeuge: nun
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mehr nöthig sein wird, weil alle lebendig und selbst kundig sind des Heils, welches durch Khristum gekommen ist, wenn keine Predigt der Buße und der Vergebung der Sünden mehr nöthig sein wird, weil sie allen schon wirklich vergeben sind, und in dem neuen göttlichen Sinn und in seiner Kraft schon alle wandeln, was dann? Das ist jene Zeit, von welcher der Apostel Paulus redet, wenn er sagt: „dann wird der Sohn das Reich übergeben dem Vater, auf daß | Gott sei Alles in Allem.“ Nicht, m. g. F., als ob jemals die Würde des Erlösers könnte verringert werden und seine Herrschaft verschwinden; aber wenn so sein Werk vollendet wäre, dann, m. g. F., vermöchten wir nicht mehr zu unterscheiden den Khristus außer uns und für uns von dem, der in uns ist und in uns lebt, weil wie der Apostel Johannes sagt, wir ihn dann schon dadurch gleich sein werden, daß wir ihn ganz erkennen wie er ist, und wie er mit dem Vater Eins ist, und dann in uns wäre wie der Vater in ihm. So wäre dann freilich Gott Alles in Allem, aber immer nur durch denjenigen und mit demjenigen, in welchem allein und in keinem anderen Namen Heil ist für Alles was Mensch heißt. Amen.
[Liederblatt vom 23. Mai 1824:] Am Sonntage Rogate 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Komm, o komm, du etc. [1.] Liebe, die du mich zum Bilde / Deiner Gottheit hast gemacht; / Liebe, die du mich so milde / Nach dem Fall mit Heil bedacht: / Liebe, dir ergeb’ ich mich, / Dein zu bleiben ewiglich. // [2.] Liebe, die mich hat erkohren, / Eh’ ich noch ins Leben kam; / Liebe, welche, Mensch geboren, / Meine Schwachheit an sich nahm: / Liebe, dir ergeb’ ich mich, / Dein zu bleiben ewiglich. // [3.] Liebe, die durch Tod und Leiden / Hat genug für mich gethan; / Liebe, die mir ewge Freuden, / Heil und Seligkeit gewann: / Liebe, dir ergeb’ ich mich, / Dein zu bleiben ewiglich. // [4.] Liebe, die mit Kraft und Leben / Mich erfüllet durch das Wort; / Liebe, die den Geist gegeben / Mir zum Trost und Seelenhort: / Liebe, dir ergeb’ ich mich, / Dein zu bleiben ewiglich. // [5.] Liebe, die, zu Gott erhöhet, / Mir erhält, was sie erstritt; / Liebe, die stets für mich flehet, / Und mich kräftiglich vertritt: / Liebe, dir ergeb’ ich mich, / Dein zu bleiben ewiglich. // 5 Zeit,] Zeit. 6–7 Vgl. 1Kor 15,24.28
12–15 Vgl. Joh 17,21; 1Joh 3,2
16–17 Vgl. Apg 4,12
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Nach dem Gebet. – Mel. Der Tag ist hin etc. [1.] O Menschenkind, was trägst du in Gedanken? / Nichts Sterbliches füllt ja der Seele Schranken; / Nur dem, der recht an Jesum Christum denkt, / Wird, was sein Herz ersehnt, von Gott geschenkt. // [2.] Da Christus ist zu deinem Heil geboren, / So bleibe nicht im Irdischen verloren; / So mußt auch du, durch ihn von Sünden rein, / Ein neuer Mensch vom Geist gezeuget sein. // [3.] Wie dir zu gut sein Leben er geführet, / So folge du mit Geist und Kraft gezieret, / In stillem Sinn, wie er in Demuth ging, / Und liebevoll, wie er die Welt umfing. // [4.] Wie er für dich die Schmerzen und die Banden / Und alle Angst des Todes überstanden; / So ist gewiß, daß wer nicht mit ihm stirbt, / Auch nicht die Frucht des Lebens mit erwirbt. // [5.] Wie er empor zur himmlischen Erhöhung / Als Sieger drang nach seiner Auferstehung: / So dringst auch du einst in sein himmlisch Reich, / Hängst du nur treu an ihm, und wirst ihm gleich. // [6.] Was ist es denn, daß wir uns seiner schämen, / Nicht seinen Schmerz mit Freuden auf uns nehmen? / Er sendet uns, wie Gott ihn hat gesandt, / Was er empfing, wird uns auch zugewandt. // [7.] Wie unser Herr und Heiland hat gewandelt, / Nach welcher Art die Welt mit ihm gehandelt, / Das bleibt mit Recht auch seiner Knechte Zier, / Ihr höchster Ruhm, ihr Heil und ihr Gebühr. // [8.] Was er gethan in dem Erlösungswerke, / Das that der Held aus eigner Gottesstärke: / Wir wirken auch von seinem Geist beseelt; / Wir leiden auch durch seine Kraft gestählt. // Nach der Predigt. – Mel. Es ist das Heil etc. [1.] Nun treten, die den Herrn erkannt, / In Glaubenskraft zusammen; / Weil aus dem Grab’ er auferstand, / Kann niemand sie verdammen. / Durch ihn gehn wir nun insgemein / Zum neuen Leben fröhlich ein; / Das hat er uns erworben. // [2.] Gott, unserm Gott sei Lob und Dank, / Der uns den Sieg gegeben, / Und, was in Sünd’ und Tod versank, / Hat wiederbracht zum Leben. / Der Sieg ist unser; Jesus lebt, / Der uns zur Herrlichkeit erhebt, / Gebt unserm Gott die Ehre! //
Am 27. Mai 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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Himmelfahrt, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,51–53 Nachschrift; SAr 87, Bl. 62r–75r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 261r–269r; Andrae Keine
Frühpredigt am Himmelfahrtstage 1824. Lieder. 153; 163, 4 und 5. |
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Tex t. Lucas XXIV, 51–53. Und es geschah da er sie segnete, schied er von ihnen, und fuhr auf gen Himmel. Sie aber beteten ihn an, und kehrten wieder nach Jerusalem mit großer Freude; und waren allewege im Tempel, und priesen und lobten Gott. M. a. F., Diese Worte enthalten von der Begebenheit selbst, welche wir heute feiern, nur eine ganz kurze und allerdings für unsere Wünsche, die wir gern alles was unsern Herrn und Erlöser betrifft, recht genau und vollständig wissen möchten, unzureichende Erzählung. Das ist aber unvermeidlich eben deswegen, weil was da geschah über den Kreis unseres irdischen Lebens | hinaus geht. Dagegen verweilt sich die Erzählung bei den Wirkungen, welche die Erhöhung des Herrn auf seine Jünger hervorbrachte, und diese seien es denn, bei welchen wir gegenwärtig mit einander stehen bleiben. Deren erwähnen aber die Worte unseres Textes zwei, zuerst in Beziehung auf das Verhältniß der Jünger zu dem Erlöser selbst, dann aber zweitens in Beziehung auf ihr Verhältniß untereinander und auf den Beruf, zu welchem der Herr sie bestimmt hatte. I. Nämlich was das Erste betrifft, m. a. F., so ist es uns ganz etwas Neues, was hier erzählt wird, daß als der Herr seine Jünger gesegnet hatte 2 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 153: „Ach! wunder-großer Sieges-Held“ (Melodie von „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“); Nr. 163: „Jetzund betrachten wir“ (Melodie von: „O Gott, du frommer Gott!“)
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und von ihnen schied, und nun die Erde ver|ließ, um aufgehoben zu werden gen Himmel, sie ihn anbeteten. Das finden wir, m. a. F., sonst nirgend erwähnt. So lange der Herr mit seinen Jüngern lebte und unter dem Volke öffentlich lehrte, nannten sie ihn ihren Herrn und Meister, und er sagte: „ihr nennt mich so, und thut Recht, denn ich bin es“, sie erkannten ihn für den Sohn des lebendigen Gottes, und erklärten eben daher ihr Unvermögen sich jemals von ihm zu trennen, weil er allein die Worte des ewigen Lebens habe. So verehrten sie ihn, so erkannten sie das Göttliche in ihm, so hingen sie an ihm mit ganzer Seele, aber nirgend wird uns gesagt, daß sie ihn angebetet hätten. Jezt aber nachdem er von ihnen geschieden | war, erzählt unser Evangelist: „Sie aber beteten ihn an, und kehrten um gen Jerusalem mit großer Freude.“ Um nun dies recht zu verstehen und zu würdigen, m. g. F., müssen wir den eigentlichen Sinn jenes Ausdruks in der Sprache, in welcher unsere heiligen Bücher geschrieben sind, genau betrachten. Nämlich wenn hier gesagt wird, „sie beteten ihn an“, so heißt das nicht eigentlich, sie richteten ihr Gebet und ihre Bitten an ihn, denn davon finden wir in der Geschichte der Apostel und in den Briefen derselben kein Beispiel, und auch keine Anweisung dazu. In allem was ihr Herz bewegte in Freude und Leid richteten die Apostel und die von ihnen unterwiesenen Khristen ihr Gebet | zu Gott, dem Vater unseres Herrn Jesu Khristi, riefen ihn an als denjenigen, der sein heiliges Kind Jesum gesalbt habe und verklärt, und durch ihn das Heil, welches er in ihm den Menschen gegeben und verheißen habe, fördern werde und müsse. Daß sie aber ihr Gebet selbst an Jesum gerichtet hätten, davon wird uns kein Beispiel erzählt, und sie selbst geben den Khristen keine Anweisung dazu, wohl eingedenk des Wortes, welches unser Herr öfters zu ihnen geredet hatte, wenn die Zeit kommen werde, wo er werde von ihnen genommen sein, so würden sie dann bitten in seinem Namen. Oft hat er sie dahin angewiesen, ihr Gebet zu Gott zu richten in | seinem Namen und ihnen verheißen, was sie von Gott seinem und ihrem himmlischen Vater bitten würden in seinem Namen, das würde er ihnen geben. Wie es aber seine Absicht war alle Entfernung zwischen Gott und Menschen aufzuheben, den so lange verborgenen und unbekannten Vater im Himmel ihnen wieder zu offenbaren und nahe zu bringen, so war es eben deswegen auch nicht seine Meinung, daß indem sie gläubig in der Noth ihres Herzens Gebet und Fürbitte und in der Freude ihres 25 selbst] anders SAr 105, Bl. 262v: grade 5 Vgl. Joh 13,13 5–8 Vgl. Joh 6,68 32 Vgl. Joh 14,13–14; 15,16; 16,23
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Herzens Dank und Lobgesang an ihn allein und ausschließlich richteten, er ihnen dadurch den Vater, den er ihnen hatte zeigen und offenbaren wollen, gleichsam wieder | entfernte. Dies also, m. g. F., war nicht das was in den Worten unseres Textes „und sie beteten ihn an“, eigentlich enthalten ist. Und wenn wir freilich nicht sagen wollen, daß es gradezu dem Geist des Khristenthums widerstrebe, wenn wir auch unmittelbar unser Gebet an den erhöheten Erlöser richten, so ist es doch nicht dasjenige, wozu wir seine eigene und seiner Jünger Anweisung haben, und wir mögen uns dabei wohl hüten, daß nicht seine wohlthätige und heilige Absicht uns unmittelbar mit dem Vater im Himmel zu befreunden, und uns so mit ihm Eins werden zu lassen, wie er Eins mit ihm ist, daß die dadurch nicht mehr oder weniger vereitelt wer|de. Was aber in diesem Worte liegt, das ist ein Ausdruk der Verehrung, der sich von der innigsten Bewegung des Gemüths ausgehend auch über die Bewegungen des Körpers verbreitet, wie er ausschließlich Gott und denen geweiht wurde, die sich einer großen und unumschränkten Herrschaft über die Menschen erfreuten. Wenn also nun der Evangelist sagt: „Als der Herr nachdem er sie gesegnet hatte, von ihnen schied und aufgehoben wurde gen Himmel, so beteten sie ihn an“, so will er dadurch sagen, daß sie nun überzeugt waren und ein inniges Gefühl hatten von der Herrschaft, die Gott seinem Sohn verliehen, indem er ihm die Menschen, die er durch seinen Aufenthalt auf Erden und durch | alles, was er während desselben gethan und gelitten hatte, von der Sünde erlöst habe, verliehen, und in alle Ewigkeit erhalten wolle. Den Herrn und Meister, den geliebten Lehrer, den Sohn Gottes, den sie eben deswegen auch wohl in einem höheren Sinne den Herrn schlechthin genannt hatten, in dem verehrten sie nun und beteten an den König und Herrn, denjenigen welchem Gott, wie sie es hernach auch laut und offen verkündigten, alle Gewalt gegeben habe im Himmel und auf Erden, von diesem Gefühl werden sie da erst recht überwältigt und durchdrungen. Und das, m. g. F., ist es nun auch ganz vorzüglich, was bei uns die Erinnerung an diese Erhöhung unseres Herrn | und Meisters von der Erde hervorbringen soll. Davon daß Gott ihn auf eine uns unbegreifliche wunderbare Weise nach seiner Auferstehung von der Erde in den Himmel aufgenommen hat, hat er uns ein bestimmtes Zeichen geben wollen und unsern Glauben fest halten an die Herrschaft, die er ihm verliehen. Denn das konnten seine Jünger und das können auch wir nicht fürchten, daß durch seine Entfernung von der Erde der lebendige Zusammenhang zwischen ihm und uns 22 er durch] er Ergänzung aus SAr 105, Bl. 263v 28–30 Vgl. Mt 28,18
24 verliehen,] verleihen
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aufgehoben sei, das würde den wahren und lebendigen Glauben an ihn in unserem Herzen mildern und austilgen, und so wahr der also in uns fest steht, so wahr müssen wir an einen solchen Zusammenhang glauben. Darum hat | auch der Herr als er von seiner bevorstehenden Trennung von den Seinigen redete, ja auch nach der Erzählung eines andern Evangelisten unmittelbar vor seiner Himmelfahrt in seinen lezten Reden an seine Jünger, sie verwiesen an seine geistige Gegenwart. Wie nun aber diese geistige nicht mehr zugleich eine leibliche ist, wie wir hier auf Erden sind, das heißt drunten, und er in dem Himmel das heißt droben, so ist er nun das Haupt und wir die Glieder, so sind wir versichert, daß seine geistige Gegenwart unter uns eine leitende, eine schüzende, eine regierende [ist], daß Gott ihn uns gesezt hat zu einem Herrn und ihm anvertraut die Leitung seines Reiches auf Erden. So als ihren | Herrn und König verehrten ihn die Jünger indem sie ihn anbeteten, so umfaßt ihn auch jezt noch unser lebendiger Glaube. Wiewohl wir nun einen solchen Unterschied in unserem Verhältniß zu ihm nicht annehmen können, weil wir ihn vorher nicht als unsern Bruder, in menschlicher Gestalt unter den Menschen auf Erden wandelnd, geschaut haben, so ist er doch uns und zwar eben kraft dieser seiner Erhöhung in dem Himmel der Herr und König. Was er freundlichen Mundes geredet als er auf Erden wandelte, das verehren wir nun als das Gebot des uns von Gott gegebenen Herrschers. Was er verheißen hat als er auf Erden wandelte, und sich dabei berief auf die Unterstüzung, die ihm sein Vater gege|ben, auf die Werke die er ihm zeigen und durch ihn thun würde, das ist uns nun die selbständige Verheißung dessen, der Macht hat das wahr zu machen, was er gesagt, dem alle Kräfte unterthänig sind, durch welche das wahr gemacht werden kann, was er verheißen hat. Und so ist unser Aufsehen auf den, den Gott durch seine Erhöhung von der Erde vollendet hat, zugleich unser Glaube an ihn, als unseren Herrn und König, an ihn dessen Wille an uns und Gottes Wille an uns für uns ganz Eins und dasselbige ist, an ihn dessen Reich und Gottes Reich für uns ganz Eins und dasselbige ist, und dessen Macht, so lange dieses sein Reich besteht auf die Weise wie er es selbst gegründet hat, kein Ende | haben wird, bis einst eine Zeit kommt, die wir wohl aussprechen, aber die wir uns lebendig nicht 5 auch] so SAr 105, Bl. 264v; Textzeuge: noch 12 ihn] in den] Erden, 19 und] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 265r Bl. 265r: den 20 Herr] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 265r 4–7 Vgl. Mt 28,20
23–25 Vgl. Joh 5,19–20
15 noch] auch 18 Er20 dem] anders SAr 105,
34–2 Vgl. 1Kor 15,28
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einmal vorstellen können, wo er wie der Apostel sagt, das Reich wieder Gott übergeben wird, und Gott sein wird Alles in Allem.
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II. Zweitens aber erzählt uns nun auch unser Text eine Veränderung in dem Verhältniß der Jünger unter einander oder in Beziehung auf ihren großen Beruf. Er sagt nämlich: „Sie kehrten um gen Jerusalem mit großer Freude, und waren allewege im Tempel, priesen und lobten Gott.“ Hier müssen wir uns zugleich an die ausführlichere Erzählung erinnern, die uns Lukas in dem Anfang der Apostelgeschichte von der Himmel|fahrt unseres Herrn gegeben hat, wo er sagt; „als sie froh der Verheißung, die ihnen geworden war, umkehrten, so waren sie einmüthig bei einander in den Häusern wo sie sich zu versammeln pflegten und in dem Tempel des Herrn.“ Dieses einmüthig Beieinandersein, m. g. F., das war der Anfang einer Verbindung unter den Jüngern des Herrn, die bisher noch nicht Statt gefunden hatte. Nämlich, so lange der Herr unter ihnen wandelte, hingen sie an ihm und hielten zusammen in ihm, das war aber die Verbindung, in welcher jeder Einzelne mit ihm dem Herrn und Meister stand. Was ihr Verhältniß unter einander betrifft, so war es noch nicht fest gegründet, vielmehr finden wir manche Andeutungen, selbst | bestimmte Erzählungen in unseren Evangelien, wie sie untereinander noch gar nicht in der Liebe verbunden waren, sondern manches Menschliche und Falsche sich dazwischen legte. Daher konnte ihnen auch der Herr vorher sagen, daß wenn der Hirt würde geschlagen werden, die Schaafe der Heerde sich zerstreuen würden, und von ihnen sagen, sie würden zurükgehen jeder in sein Eigenes. So erscheint es uns auch als sie getroffen wurden von dem Schmerz seines Todes. Bei seiner Auferstehung aber ließ er ihnen sagen, sie sollten vor ihm hingehen in Galiläa, da würden sie ihn antreffen, und so verband sie seine erneute Gegenwart von neuem, aber nicht anders als auf jene Weise; es war ihre Ver|bindung mit ihm, sie harreten seiner und konnten auch nur seiner harren wo er sie hingeschikt hatte, und die Zeit wo er nicht unter ihnen war, aber doch in jener Gegend verweilte, gingen sie ihrem irdischen Beruf nach, wie uns der Apostel Johannes gegen das Ende seines Evangeliums erzählt. Jezt aber kehrten sie um mit großer Freude gen Jerusalem, und waren von da an einmüthig beieinander nicht auf ihren irdischen, sondern auf 12 den] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 265v 10–13 Vgl. Apg 1,12–14; 2,46 20–23 Vgl. Mt 20,20–28; Mk 10,35–45 25 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27 (nach Sach 13,7} 25–26 Vgl. Joh 16,32 29 Vgl. Mt 28,10 32–34 Vgl. Joh 21,2
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ihren himmlischen und geistigen Beruf gerichtet, mit erneuten Herzen Gott und der Erwartung seines Reiches zugewendet, und sich rüstend auf jene Tage einer größern und lebendigern Thätigkeit, welche der Herr ihnen verheißen, aber gesagt hatte, sie sollten warten bis sie würden angethan werden | mit der Kraft aus der Höhe. Dieses ihr einmüthiges Beieinandersein war also noch nicht die vollkommne Gestaltung der khristlichen Kirche, denn die konnte nur sein, nachdem der Geist des Herrn in seiner ganzen Fülle auf sie und auf alle Gläubigen ausgegossen war, aber sie war eben die auf die gemeinsame Liebe zu Khristo und auf den Glauben an seine Macht und Herrschaft und Herrlichkeit gegründete Vereinigung seiner Jünger unter einander. Zu dieser gelangten sie erst eben mit der Erhöhung des Herrn, mit diesem Gefühl des Glaubens an seine Macht und Herrlichkeit, mit der Ueberzeugung, daß sie nun nur an seine geistige Gegenwart, an die Kraft aus der Höhe, die über sie kommen würde, aber die ihnen | nur vereint verheißen war, und eben deswegen auch an ihr Verhältniß unter einander, an ihre gegenseitige Unterstüzung und Hilfleistung, an ihre gläubige Liebe und Treue gewiesen wären. So indem der Herr von der Erde schied, knüpft er mit einem neuen schönern und festern Bande die Seinigen zusammen, und von der Zeit an waren sie nun einmüthig bei einander. Das Anbeten, die Verehrung desselben Herrn, der gleiche Glaube an seine Macht und Herrlichkeit und an das Heil in seinem Namen, die gleiche Sehnsucht nach ihm, die gleiche Nothwendigkeit seines Andenkens und seines Bildes, um wo möglich jedes seiner heiligen und gesegneten Worte festzuhalten in dem Gemüth, das war das Band, welches sie verband. Und indem der Herr | von der Erde schied, so hat er eben dadurch für alle Zeiten die Seinigen fest und innig mit einander verknüpft, mehr als es möglich war zu der Zeit, wo er selbst auf Erden lebte. Denn da verschwand gegen ihre Liebe zu ihm ihre Liebe unter einander, und diese war nicht frei von den Regungen der Selbstsucht in der Gestalt der Mißgunst und der Eifersucht des Einen gegen den Andern. Aber das konnte auch nur Statt finden, so lange der gesegnete Einfluß des Herrn auf sie die Gestallt des Leiblichen und des Irdischen an sich trug, dadurch bekam ihre Liebe zu ihm noch eine Beimischung des Irdischen und Sinnlichen, und wo das ist, da kann auch eine Liebe der andern in den Weg treten, und eben deswegen konnte ihre Liebe unter einander keine vollkomm|ne und geistige sein und sich auch noch nicht recht und wie er es wollte und gebot gestalten. Als er aber erhöht ward von der Erde, und alles Sinnliche in ihrem Verhältniß zu 20 bei] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 267r 3–5 Vgl. Lk 24,49
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ihm aufhörte, da knüpfte sich desto fester das Band ihrer gegenseitigen Liebe unter einander, da war es nicht mehr möglich, daß zwischen dieser und der Liebe zu ihrem Herrn und Meister irgend ein Zwiespalt entstehen konnte, sondern beide waren nun Eins und dasselbige. Das, m. g. F., ist das schöne Gebot, welches in Beziehung darauf daß seine Gegenwart unter den Menschen nach menschlicher Weise nur etwas Kurzes und Vorübergehendes sein konnte, der Herr den Seinigen und allen ohne Ausnahme zurükgelassen hat, sie sollten sich unter einander lieben mit der Lie|be, womit er sie geliebt habe. Das ist daher auch das Ziel unseres gemeinsamen Strebens, daß unsere Liebe zu dem erhöhten Herrn und unsere Liebe zu allen den Seinigen überall in unserem Leben als Eine und dieselbige sich bewähre, daß die eine ohne die andere nicht gedacht werden könne, daß die eine durch die andere immer mehr befestigt und immer inniger verbunden, alle Herrschaft in unserer Seele ausübe. Darum, m. g. F., müssen wir auch danach trachten, daß die Liebe zu unserem erhöhten Herrn und Meister auch dieser seiner Erhöhung ganz werth sei, daß nicht wieder etwas Irdisches und Sinnliches sich hinein mische, was im Stande wäre die reine und ungetrübte Liebe zu allen nicht nur die | seinen Namen schon bekennen und an ihn glauben, sondern [auch] die noch nicht an ihn glauben und ihm noch nicht zur Beute geschenkt sind und geweiht von seinem himmlischen Vater zu trüben. Das soll für uns alle für ewige Zeiten, so lange sein Reich auf Erden besteht, die Frucht unserer Liebe sein, daß unsere Liebe zu ihm wenn wir uns nicht täuschen wollen, eine rein geistige sein kann, aber daß dazu auch unsere Liebe unter einander erhöht werde, und wir uns alle lieben in ihm, diejenigen welche ihm schon angehören, und diejenigen welche ihm erst angehören sollen. Das m. g. F., das war die große Freude, mit welcher seine Jünger umkehrten von dem Ort, wo er von ihnen geschieden war, daß | sie nun empfanden und inne wurden wie fest er sie unter einander verknüpft und wie er sie durch sein Hinscheiden gesegnet habe zu der rechten treuen Liebe gegeneinander und zu der gemeinsamen Förderung seines Reiches. Darum waren sie einmüthig bei einander in vertrauten Kreisen und in dem Tempel des Herrn, wo sie sich anschikten durch Gebet und Lobgesang zu dem Beruf den ihnen der Herr gegeben hatte, und den sie nun bald sollten in seinem ganzen und reichsten Sinne ausüben. Und so ist dies auch zugleich, m. g. F., das lezte Vermächtniß, welches der Herr uns bei seinem Scheiden hinterlassen hat. Er ist erhöhet als unser Herr, wir gemeinsam sind seine Brüder, | wir gemeinsam 12 ohne] oder 8–9 Vgl. Joh 13,34; 15,12
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sind durch ihn Kinder seines und unseres Vaters im Himmel, wir sind gemeinsam seine Diener als des himmlischen Herrn und Königs, er das Haupt, wir die Glieder, wir durch denselben Einen Glauben, durch dieselbe Eine Liebe so gebunden, daß nie etwas dazwischen treten soll und sie trüben, daß wir mit allen Kräften einander angehören sollen, daß wir in demselben Ziel der Förderung seines Reiches auf Erden unser Heil und unsere Glükseligkeit suchen, daß durch uns seine Herrschaft verkündigt werde und ohne Ende sich mehre, daß das Heil, welches Gott durch ihn den Menschen gegeben, immer tiefere Wurzeln schlage in der menschlichen Natur, daß überall Gott der Vater, der um seinetwillen | es den Menschen gegeben hat, gelobt und gepriesen werde vor aller Welt, dabei aber immer auf den zurükgewiesen, den Gott gesezt und gesalbt hat zum Herrn, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, und in dessen Namen allein das wahre Heil für das menschliche Geschlecht zu finden ist jezt und in Ewigkeit. Amen.
13–14 Vgl. Mt 28,18
14–15 Vgl. Apg 4,12
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Am 30. Mai 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen:
Besonderheiten:
Exaudi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 1,4 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 4, 1826, S. 311–332 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 602–619; 21844, S. 653–670 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 491–505 b. Nachschrift; SAr 105, Bl. 269v–282v; Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 87, Bl. 75v; Slg. Wwe. SM, Andrae (nur Titelblatt vorhanden) Nachschrift; SAr 109, Bl. 13r–16v; Andrae, in: Sobbe Nachschrift; SAr 63, Bl. 15r–18v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers Das Warten des Christen.
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Text.
Apostelgeschichte 1, 4.
In diesen Worten, m. a. F., ist die Rede von der Zeit, welche sich jetzt in unserem kirchlichen Jahre wiederholt, zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Ausgießung des Geistes auf seine Jünger. Denn in Beziehung auf diese gab er ihnen, als er von ihnen hinweggenommen ward und aufgehoben gen Himmel, diesen Befehl; und daß der Herr seinen Jüngern befahl, zu warten, das schien mir merkwürdig genug, um heute zum Gegenstande unserer Betrachtung gemacht zu werden. Denn billig wundern wir uns, daß Er, derselbe Herr, welcher sonst für das Warten und für langsames Harren und Ruhen eben nicht eingenommen war, vielmehr dieses als seinen Wahlspruch bekannte: Mein Vater wirkt und ich wirke auch, und Jenes: Er müsse wirken, so lange es Tag sey, ehe denn die Nacht komme, wo Niemand wirken kann, – daß dieser selbige hier doch seinen Jüngern befiehlt, zu warten. Wenn ich nun wohl von uns Allen annehmen kann, daß wir uns oft zwischen 12–13 Vgl. Joh 5,17
13–14 Vgl. Joh 9,4
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Beiden in Verlegenheit befinden und zweifelhaft von dem Einen zu dem Anderen hingezogen werden, bald uns von Innen heraus unaufhaltsam getrieben fühlen zu einer raschen Thätigkeit, so daß wir keinen Augenblick versäumen möchten, bald wieder gemahnt es uns entgegengesetzt, als sey es besser, noch zu ruhen und zu warten: so muß es uns wichtig seyn, daß auch der Erlöser Beides empfiehlt. Denn daraus sehen wir: Beides ist Recht, nur jedes an seinem | Orte; und daß wir nun eben überall in dieser Hinsicht das Rechte treffen, nicht da warten, wo wir rasch zugreifen sollten, nicht da übereilen, wo uns gebührte, zu warten, – woher anders sollten wir das lernen, als aus dem Beispiele und den Worten des Erlösers? Darum laßt uns eben diesen seinen Befehl mit einander beherzigen, und dem gemäß über das Warten des Christen mit einander nachdenken. Es ist aber in allen Fällen, wo es uns begegnet, daß wir warten, ein Verlangen oder eine Sehnsucht in uns nach etwas, das, und zwar ohne unser Zuthun, da kommen soll; aber im eigentlichen Sinne warten wir dann doch nur, wenn wir dieserhalb und uns selbst in Beziehung darauf aufhalten, so daß wir etwas nicht thun, sondern aussetzen und unterlassen, was wir gerne thun möchten. Wenn wir uns nun so unseres Thuns begeben: so ist auch dieses wiederum nur dadurch ein Warten und kein Entsagen, daß wir die Hoffnung hegen, dieser Zustand werde ein Ende nehmen, und das unthätige Harren werde sein Ziel finden. Dieses also sind die Hauptpunkte in Beziehung auf welche wir die Worte des Erlösers genauer zu betrachten haben – erstlich: wann wir uns in dem Falle befinden, zu warten, welches die Thätigkeiten sind, die sich aufschieben lassen, d. h. womit wir eigentlich warten dürfen oder sollen? – zweitens: um was für eines Verlangens oder einer Aussicht willen es sich wohl ziemt, etwas, das wir schon thun wollten, aufzuschieben, also worauf wir warten sollen? – drittens endlich aber: welches das rechte und wahre Ziel unseres Wartens sey, oder wie lange wir warten sollen? – I. Die erste Frage also, die wir uns vorlegen, um den Befehl des Herrn zu verstehen und ihn in unserem eigenen Leben anzuwenden, ist diese: Womit sollen oder dürfen wir warten, und womit nicht? Giebt es Verhältnisse, unter denen gar kein Warten erlaubt seyn kann, und andere, unter denen es geboten werden kann, wie der Erlöser hier gebietet, und welches sind sie? Das ist offenbar das Erste, worauf es ankommt. | Aber daß nur nicht Jemand, indem ich mich anschicke, diese Frage zu beantworten, einen guten Rath erwartet für die ganz weltliche Behandlung weltlicher Dinge, also Regeln und Vorschriften der Klugheit, unter welchen Umständen wohl dieses und jenes mit Vor-
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theil könne unternommen werden und unter welchen es besser sey, aufzuschieben. Wenn jemals Rathschläge ähnlicher Art hier gesucht, und wie wichtig auch die Gegenstände seyn mögen, und wie wohlgemeint die Vorschriften von dieser Stätte herab ertheilt werden: so liegt das wohl gänzlich außer den Grenzen unseres Berufs. Denn wir finden über solche Dinge nirgends Aufschluß in den Worten des Erlösers und unserer Neutestamentischen Bücher überhaupt. Und wie wir hier versammelt sind, sollen und dürfen wir auch nach nichts fragen, als was zum Reiche Gottes gehört. Es ist freilich schon dieses selbst eine Unvollkommenheit, wie ihr öfter von mir werdet gehört haben, daß ich es dafür halte, wenn wir als Christen glauben, daß es für uns solche weltliche Dinge gebe, die mit dem Reiche Gottes in gar keiner Beziehung stehen, und also bloß weltlich behandelt seyn wollen und dürfen, denn wir sollen Alles auf das Reich Gottes und dessen Förderung beziehen, und wo wir eine solche Beziehung nicht bemerken können, da soll auch das Gleichgültigere anfangen, worauf wir keine besondere Aufmerksamkeit zu wenden berufen sind, und es sich selbst überlassen. Bis dahin aber, und wo dieses noch nicht eingetreten ist, sollen wir auch überall unsere Handlungen nach keinen anderen, als nach den Gesetzen des Reiches Gottes einrichten, und nur so, wie der Stifter desselben es uns vorschreibt, handeln. Haben wir aber noch jene Unvollkommenheit, und behandeln manche Dinge in unserem Leben anders, – wohl so müssen wir auch anderwärts, aber nicht aus dem Worte Gottes, welches nur auf das geistige Leben der Menschen gerichtet ist, die Regeln einer solchen weltlichen Klugheit suchen. Von demjenigen also, was wir selbst, insofern wir noch nicht Alles auf das Reich Gottes beziehen, oder diejenigen, welche überhaupt noch nicht in dem Reiche Gottes und für dasselbe leben, was diese und wir als | solche in Hinsicht auf das Warten zu thun haben oder zu lassen, davon kann hier nicht die Rede seyn. Aber eben so, m. g. F., wenn die Frage davon wäre, aus diesem Zustande des noch Ferneseyns vom Reiche Gottes in den seligen Zustand der durch die Wahrheit freigemachten Kinder Gottes überzugehen, und von nun an in demselben und dasselbe zu leben: o daß es, wenn dieser heilsame Ruf an den Menschen ergeht, gar kein Warten geben kann, welches Gott gefällig wäre, hierauf also auch gar keine Ermahnung zum Warten angewendet werden kann, die wir irgend in Worten des Erlösers antreffen mögen, das soll sich wohl für Alle von selbst verstehen. Denn schon der Vorläufer des Herrn spricht mit dem tiefsten Ernste das Gegentheil aus, und ermahnt mit dem ungeduldigsten Eifer diejenigen, denen noch nicht der Sinn für das Reich Gottes 39–4 Vgl. Mt 3,7–10; Lk 3,7–9
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aufgegangen wäre, indem er ihnen sagt: die Axt sey schon dem Baume an die Wurzel gelegt, und wenn er sich nicht recht bald dazu begeben werde, die rechtschaffenen Früchte der Buße zu tragen, so würde er abgehauen werden und ins Feuer geworfen. Da räth er also zur Eile und nicht zum Warten. Und eben so ernst und dringend redet der Erlöser selbst, bald strenger drohend, bald liebreicher ermahnend, zurufend und Alle einladend, auf’s Baldigste einzugehen in das Reich, welches er zu stiften gekommen war. Und so waren denn auch solche, denen erst Eingehen in das Reich Gottes Noth that, nicht unter denen, welchen er diesen Befehl ertheilte, daß sie warten sollten, sondern dieser ist lediglich an seine Jünger gerichtet, an diejenigen, die schon mit ihm verbunden und vereint waren, die schon sich selbst, so wie ihrem Herrn und Meister und seinem himmlischen Vater, das Wort gegeben hatten, für nichts Anderes, als für sein Reich zu leben. Diese selbst aber haben auch nachher nie aufgehört, eben wie Johannes und der Erlöser selbst, Alle, welche sich mit dem Reiche Gottes noch nicht in Verbindung gesetzt hatten, vom Warten abzumahnen und zur Eile zu ermuntern, damit sie die günstige dargebotene Zeit nicht versäumten. | Dieses nun bei Seite gestellt, dürfen wir uns doch auch, Gott sey Dank, als solche betrachten, welche sich dem Reiche Christi auf Erden schon angeschlossen haben, und dürfen wir nun auch zu unserer eigenen Belehrung fragen: womit also sollten denn die Jünger eigentlich warten? Auf ihre bisherige Thätigkeit für das Reich Christi, die aber freilich nur darin bestand, sich unter einander zu befestigen und zu etwas Größerem geschickt zu machen, auf diese kann der Befehl Christi nicht gehen; denn er befahl ihnen nicht, mit etwas aufzuhören, was sie schon thaten. Und so haben sie auch den Erlöser nicht verstanden. Denn sie blieben, wie es ihnen der Erlöser gesagt hatte, in Jerusalem; aber da waren sie einmüthig bei einander zu eben diesem Zwecke, und, wie uns dieselbe Geschichte erzählt, sowohl in ihrem engeren häuslichen Kreise, als auch in dem eben so gemeinsamen öffentlichen Leben, welches der Tempel darbot, priesen und lobten sie Gott. Ja sie blieben nicht nur, wie bisher, mit einander auf diese Weise verbunden, sondern auch die Rede des Petrus an die versammelten Jünger, worin er ihnen vorschlägt, an der Stelle des einen verlorenen Kindes einen anderen wohl Geeigneten aus dem gesammten Haufen der Jünger zu wählen, der den leeren Platz einnehme, damit, wie ehemals ihrer Zwölfe waren, auch jetzt wieder die Zahl der Zwölf erfüllt würde, – auch diese Rede fällt ebenfalls in die Zeit zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Ausgießung des Geistes. Was also unmittelbar zu 30–33 Vgl. Apg 1,14; 2,46
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ihrer schon bestehenden Verbindung gehörte, was unter ihnen sich von selbst ergab, als der natürliche Ausdruck der sie gemeinsam beseelenden Gesinnung und Hoffnung; was aus dem natürlichen Wechsel der Dinge hervorging und geschehen mußte, wenn Alles nur in dem bisherigen Gange sollte erhalten werden, damit fuhren sie fort und unterließen nichts davon; also darauf bezogen sie auch nicht das Gebot des Herrn, daß sie warten sollten. Und gewiß thaten sie recht daran, und auch wir müssen uns dasselbige sagen. Die selige Gemeinschaft der Seinigen, die der Herr gestiftet hat, soll ununterbrochen fortbestehen, und Jeder, wo sich ihm nur | der Anlaß darbietet, seinen Theil haben an dem gegenseitigen Geben und Empfangen, Erwecken und Beleben, wofür wir auch in unserem heutigen Gesange uns wieder erwärmt haben. Unsere Sorgfalt für dieselbe, um sie in diesem heilsamen Gange zu erhalten, die Lücken, die entstanden sind, zu ergänzen, das Wankende zu stützen, dem Schwachen nachzuhelfen, – Alles, was dahinein schlägt, dabei findet kein Abwarten statt, das leidet keinen Aufschub, Eines reihet sich an das Andere, und wenn wir aufrichtig seyn wollen, so müssen wir sagen: weit entfernt, warten zu dürfen, können wir hier nur wider Willen versäumen, soviel liegt uns immer vorhanden zu thun. Gehen wir aber etwas weiter und fragen: sollten denn die Apostel während dieser Zeit des Wartens etwa ganz unzugänglich gewesen seyn und verschlossen für Alle, die nicht zu dem unmittelbaren immer noch sehr kleinen Kreise der eigentlichen Jünger des Herrn gehörten? Würden sie etwa wegen dieses Befehles Christi, wenn Jemand im Gespräche sie gefragt hätte, ihm nicht Rede gestanden haben über ihren Glauben, über ihre fortdauernde Zuversicht auf Den, den jene freilich gekreutzigt hätten, den aber Gott der Herr wieder auferweckt habe? Das, m. g. F., dürfen wir gewiß nicht annehmen, sondern zuversichtlich – wenn uns auch die Geschichte, wie sie in der Schrift aufgezeichnet ist, nichts darüber meldet – dürfen wir vielmehr das Gegentheil glauben. Denn dazu waren sie schon lange verpflichtet durch das Wort des Erlösers, welches er nicht zurückgenommen hatte, ihn zu bekennen, wenn nach dem Grunde ihres Glaubens gefragt würde. Thaten sie das nicht, so verläugneten sie ihn ja vor der Welt, und das hatte er ihnen unter der schrecklichsten aller Drohungen untersagt. Doch nicht der Drohung wegen allein hätten sie das Bekenntniß nicht unterlassen können, sondern weil es ihnen schon immer auf den Lippen schwebte aus dem vollen Herzen heraus, so konnten sie es nicht mehr zurückhalten, wenn sie noch dazu ermuntert wurden von Au12–13 Vgl. Liederblatt, Lied nach dem Gebet (unten Anhang) 32–36 Vgl. Mt 10,32–33; Lk 12,8–9
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ßen. – Dasselbe nun dürfen wir also nicht nur, sondern müssen es auch uns sagen. Wozu wir schon, vermöge unserer Theilnahme | an dem Reiche Gottes, so stark von Innen her getrieben sind, daß wir uns kaum zurückhalten, es auch ganz auf Gerathewohl zu thun, wenn wir dazu noch einen Anstoß von Außen erhalten, der mit der inneren Neigung zusammentrifft: so muß es uns nicht möglich seyn, noch anzustehen. Damit also zu warten, kann uns der Herr nicht befohlen haben, er müßte denn haben Unmögliches gebieten wollen. Er hat es aber auch nicht geboten. Vielmehr würde es nicht genug seyn, wenn wir sagen wollten: wir dürfen getrost in jedem solchen Falle unserem Herzen freien Lauf lassen, sondern dieses ist wirklich Christi Gebot. Was wir auf solche Weise thun, ist der leichteste und sicherste Gewinn, den wir machen können mit seinen Gaben; und wenn wir es unterlassen, gleichen wir nur zu sehr demjenigen, welcher das ihm anvertrauete Pfund vergrub, statt es auch nur zum Wechsler zu tragen. Hiermit also zu warten, das ist gewiß nicht des Herrn Wille; sondern hieher gehört, daß wir wirken sollen, wenn wir den Vater wirken sehen, der uns ja die Thüre des Bekenntnisses öffnet. Womit also endlich, nachdem wir so Vieles schon abgethan hatten, womit sollten die Jünger des Herrn warten? Damit, was der Herr ihnen schon oft, aber als ein allgemeines Gebot nur im Voraus aufgetragen hatte – in einzelnen Fällen hatten sie es freilich schon geübt, aber jedes Mal nur auf sein besonderes Geheiß – und was er ihnen jetzt eben wiederholt: daß sie sollten seine Zeugen seyn, nicht nur sich untereinander erinnernd oder in der Stille im Kreise ihrer Freunde und Bekannten sein Andenken erhaltend und verbreitend, sondern öffentlich vor allem Volk, und sie sollten sein Zeugniß tragen, so weit sie vermöchten, bis an das Ende der Erde, anhebend aber zu Jerusalem, eben da, wo er gelitten hatte und gestorben war. Dieses nun war so, wie es ihnen jetzt oblag, für sie ein neuer Beruf. Es fehlte ihnen dazu zwar nicht an Antrieb in ihrem Herzen – denn wie wären sonst Dankbarkeit und Liebe zu ihrem Meister in ihnen gewesen? – ; aber die äußere Aufforderung fehlte. Da war Niemand, der ihr Zeugniß verlangte, und sie mußten also nicht | nur zeugen können, sondern auch selbst die Ohren öffnen, welche das Zeugniß aufnehmen sollten, nicht nur Den verherrlichen können, in dem sie schon lange die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes erkannt hatten, sondern auch die Gedanken erst wieder auf ihn richten und die Augen der Menschen öffnen, damit sie seine geistige Schönheit fassen und im rechten Ruhme erblicken könnten. Das war der Auftrag, den sie jetzt erst 14–15 Vgl. Mt 25,18.24–27; Lk 19,20–23 Joh 1,14
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erhielten, verschieden von ihrem bisherigen um so mehr, als die Gegenwart des Erlösers nicht mit ihnen wirkte. Und diesen Auftrag konnte er ihnen, so scheint es, nicht geben, ohne sie zugleich zu verpflichten, daß sie warten sollten. Wie wenden wir nun dieses auf uns an, m. g. Fr., um auch für uns den rechten Unterschied zu finden zwischen denen Fällen, wo wir rasch und unaufgehalten durch allerlei Bedenklichkeiten handeln können, und zwischen denen, wo auch uns, wie hier den Jüngern, gebühren mag, zu warten? – Wenn nun auch uns in allen Fällen, wo ein Ruf der Liebe oder des Bedürfnisses an uns ergeht, nicht kann geboten seyn, zu warten mit dem, wozu schon von selbst unser Herz uns treibt; wenn auch wir nicht zögern dürfen mit dem, was schon von selbst aus wahrer Stellung in der Gemeine Christi folgt und woran ohnedieß nie zuviel geschehen kann: so bleibt schon von selbst nichts übrig, als daß uns das Warten nur kann erlaubt seyn oder geboten werden mit solchen Handlungen, die zwar auch in unserem christlichen Sinne ihren Grund haben, zu denen wir aber nicht so unmittelbar verpflichtet sind, und was uns nicht durch Aufforderungen zugemuthet und denen wir uns nicht entziehen können. Die Hand an etwas legen, was nicht zu dem bisher uns angewiesenen Kreise des Wirkens gehört, Veränderungen bewirken oder hervorrufen in dem bisherigen Zustande der Dinge, in Verhältnisse eintreten, in denen wir bisher noch nicht gewirkt haben, der Thätigkeit unserer Brüder neue Bahnen anweisen, – hiezu und was dem ähnlich ist, und wir mögen wohl sagen Alles, schließt sich diesem an, was in irgend einem Sinne als etwas Neues erscheint: zu dergleichen nun finden wir uns in vielen | Fällen innerlich aufgefordert, und wenn dergleichen nicht Statt fände, wie sollten wohl irgend bedeutende Verbesserungen in menschlichen Dingen entstehen? Aber selbst wenn wir glauben, eine bejahende Stimme Gottes zu vernehmen, dieß bleibt doch das Gebiet, wo wir zweifelhaft seyn dürfen und bedenklich. Oft kann es uns dünken, der erste Augenblick, der den Gedanken in uns erzeugte, sey auch zur Ausführung der rechte, der beste, der von Gott gebotene, und es mag seyn, daß es auch in manchen Fällen dieser Art heilsam ist und recht, rasch zu handeln und nicht zu zaudern; aber gewiß eben so oft wird hier auch an uns der Wille und das Gebot des Herrn dasselbe seyn, daß wir warten sollen. Wann nun aber dieser Fall eintrete, das können wir nicht anders entscheiden, als indem wir uns II. die Frage vorlegen: worauf wir denn in dem Falle, wo uns gebührt zu warten, eigentlich warten sollen? Das Leiden und der Tod des Herrn waren das Werk einer gegen ihn gerichteten und immer tiefer eingewurzelten Feindschaft, eines von Stolz und Selbstsucht ein-
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gegebenen Argwohns gegen dasjenige, was aus seinen Bestrebungen wohl natürlicher Weise hervorgehen möchte und davon zu erwarten wäre. Beides war allmählig in eine niedrige wilde und ganz besinnungslose Leidenschaft ausgeartet, die Gewalt war gemißbraucht, und das Recht zu Unrecht gemacht worden, eine Missethat, schwer zu verantworten, lastete auf dem ganzen Volke, und vorzüglich auf denen, die es leiteten. Durch seinen Tod aber erschienen nun diejenigen, welche so verkehrt von ihm dachten, gänzlich seine höhere Bestimmung verkannten und die Fülle der Gottheit in ihm nicht zu ahnen vermochten, diese erschienen nun äußerlich als Sieger; er hingegen erschien als der Verworfene, alle Ansprüche, die er gemacht hatte, alle Hoffnungen, die Andere auf ihn gesetzt hatten, als nicht bewährt von Gott. Und eben an diesem Orte, unter eben diesen Bewegungen der noch so sehr aufgeregten Gemüther, nach einem so gänzlichen äußerlichen Mißlingen ihres Meisters, sollten die Apostel, die weit hinter ihm zurückstehenden Jünger des Herrn, Zeugen desselben seyn. Sagt | er nun etwa zu ihnen: sie sollten so lange noch warten mit ihrem Zeugnisse, bis sich die Gemüther wieder mehr besänftigt hätten? sie sollten darauf warten, daß diejenigen, welche sich am Schmählichsten vergangen hatten, endlich von selbst einsähen, wie groß ihre Verkehrtheit und ihre Verkennung der Wahrheit gewesen, oder wenigstens darauf, daß diese gefährlichen Feinde weggenommen würden von der Erde, oder ihres Ansehens und ihrer Macht beraubt, so daß sie ihnen nicht mehr so gefährlich werden könnten, wie sie ihm selbst gewesen waren? Nein! nichts dergleichen geht aus seinem Munde. Sagt er etwa: sie sollten warten, bis sonst irgend ein günstiger Umstand sich ereignen würde, der ihnen eine bessere Aussicht gewährte, die drohende Gefahr verringerte, und eine gegründete Hoffnung gäbe, daß ihre Bemühungen nicht ganz vergeblich seyn würden? Nein, m. g. F., nichts von alle dem sagt er ihnen. – Wohl, m. a. F.; dabei laßt auch uns zuerst stehen bleiben und es zu Herzen nehmen. Dergleichen also ist es niemals, worauf der Christ warten soll. Fühlt Einer von uns in sich einen Beruf zu irgend einer Handlung, welche eine Ueberlegung dieser Art erfordert; ist er über die Sache selbst im Klaren und fragt nur noch: ob es gerathen sey, zu warten, oder ob schon unmittelbar der rechte Augenblick da sey, das Werk selbst zu beginnen? dann, so gewiß als es ein Werk im Herrn gethan seyn soll, nur nicht nach solchen äußerlichen Dingen gefragt und auf solche gewartet! nur ja nicht den Ueberlegungen eines noch zweifelhaften Gemüthes die Richtung gegeben, dieses und jenes sich vorzustellen, was den äußerlichen Erfolg begünstigen könnte, und dann das Eine oder Andere von dieser Art 15 die Apostel] der Apostel
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abwarten zu wollen! Und nicht etwa nur deßhalb warne ich davor, weil das nur zu leicht ein Hoffen und Harren wird, was gar sehr zu Schanden werden läßt: sondern es ist keine Handlungsweise, die aus der Gesinnung des Christen hervorgeht; das ist nicht das Verhalten dessen, der für das Reich Gottes und für die Sache der Wahrheit und des Lichtes dasjenige thun will, wozu er sich von Innen getrieben fühlt. So wenig wäre diese weltliche und menschliche | Klugheit für uns schicklich, daß sie nicht nur schon dadurch gar oft in dem Reiche Gottes zu Schanden gemacht wird, daß nicht selten die größten Dinge durch Gottes Segen gerade denen gelingen, welche solche Ueberlegungen nie angestellt haben, sondern alle Regeln dieser vorsichtigen Klugheit aus den Augen setzen; sondern ich will noch mehr sagen, wenn uns etwas auf diesem Wege gelänge, und so, daß Jeder gestände: wenn wir nicht gerade den günstigsten Augenblick mit bewundernswürdiger Geduld abgewartet und dann auch eben so genau und zweckmäßig ergriffen hätten, ein solcher Erfolg nicht wäre zu erreichen gewesen, so müßten wir doch uns mehr darüber schämen, als uns Beyfall geben, und würden billig zweifeln, ob dieser günstige Ausgang sich auch auf die Länge bewähren und auf einem so geführten Unternehmen auch ein bleibender göttlicher Segen ruhen könne. Denn wollen wir an einem Werke Gottes arbeiten, glauben wir auf sein Gebot zu handeln: so müssen wir auch vertrauen auf die Allmacht Gottes, die überall ihr vorgesetztes Ziel zu erreichen weiß. Nicht als ob wir auf etwas Wunderbares rechnen sollten, oder als ob der göttliche Rathschluß in menschlichen Dingen anders ausgeführt werden könnte, als durch menschliche Handlungen; nicht als ob ich mich auf die tausendfältigen Erfahrungen berufen wollte, die freilich Niemand in Abrede stellen kann, wie oft das Unerwartetste ohne alle Klugheit und Vorsicht gelingt, und die beste Ermahnung an dem geringfügigsten Umstande zu Schanden wird: sondern ganz einfach deßhalb, weil der Ausgang gar nicht unser ist, sondern des Herrn, weil wir alle die Handlungen, welche in denselben eingreifen, doch niemals in unserer Gewalt haben können und deßhalb auch unser Verdienst gar nicht in dem Erfolg suchen sollen, weil es eben deßhalb höchst verkehrt wäre, den Ausgang unserer Unternehmungen als den Maßstab ihrer Gottgefälligkeit anzusehen, und wir doch nur nach dem Einen, ohne irgend etwas Anderes einzumischen, überall trachten sollen, daß unser Thun und Lassen Gott wohlgefällig sey. | Wohl also, wenn uns das nie abhalten soll, irgend ein gutes Werk, das uns am Herzen liegt, rasch anzugreifen, daß ungünstige Umstände uns von allen Seiten umringen; wenn uns das nicht hindern darf, daß manches Günstigere uns vielleicht späterhin das Gelingen sehr erleichtern könnte: worauf sollen wir dann warten? Ihr sollt warten, sprach
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der Herr zu seinen Jüngern, auf die Verheißung des Vaters, welche ihr gehört habt von mir. Das war aber keine andere, als wie er es auch anders ausgedrückt hat, nach der Erzählung desselben Evangelisten, an einem anderen Orte: Ihr werdet angethan werden mit Kraft aus der Höhe. Doch hier wird vielleicht Mancher bei sich selbst denken: das ist freilich das alte Verlangen und die Sehnsucht aller Menschen, in denen jemals das wahre Leben sich geregt hat, welche sich so ausspricht: O daß du den Himmel zerrissest und führest herab! So seufzte von alten Zeiten her Jeder, dem etwas ahnte von göttlicher Kraft, welche in dem Menschen seyn und wirken kann, und durch die er sich über das gemeine, vergängliche und weltliche Treiben und über die beschränkten und kleinlichen Regeln desselben erheben würde. Auf eine Mittheilung göttlicher Kraft an den Menschen warten, auf ein Licht warten, welches jedesmal die sichere Leuchte unseres Fußes seyn könnte, das ist freilich das Einzige, was in dem aus eigenen Kräften immer vergeblich erneuerten Kampf allein dem Einigen und Wahren zugewendeten Gemüthern übrig blieb. Aber wir wissen ja, daß diese Sehnsucht längst erfüllt ist, seitdem das Wort Fleisch ward und auf Erden wandelte. Nun sollen wir ja nicht mehr rufen: O daß du den Himmel zerrissest und führest herab! sondern nun heißt es, und das soll unsere lebendige Ueberzeugung seyn: Das Wort Gottes ist uns unmittelbar nahe auf unseren Lippen und in unserem Herzen. Wie kann man nun also den Zweifelhaften noch verweisen auf eine Kraft von Oben, welche ihm gegeben werden soll, da uns Allen Alles schon gegeben ist? Schon recht! die Kraft, auf welche wir zu warten haben, soll auch nirgend anders herkommen, wie auch der Geist, den die Jünger empfingen, Alles nur | von Christo nahm. Aber das wissen wir doch auch, daß die göttliche Kraft auf Erden nur Einem einwohnte ohne Maß, weil dieser selbst das Maß seyn sollte für alle Andere. Wir haben sie nur nach dem Maß und zwar nicht nur Jeder verschieden von den Anderen, sondern Keiner ist auch gleich kräftig zu allen Zeiten. Nun ist aber so viel gewiß, daß wir weniger bedürfen, wenn unser Leben in dem gewohnten ebenmäßigen Gang fortschreitet, mehr aber, wenn wir etwas nicht ganz so aus dem Bisherigen von selbst sich Verstehendes unternehmen wollen. Darum werden wir dann auch so leicht bedenklich, und hätten gern einen bestimmten Befehl, ob wir gleich zugreifen sollten oder warten. Woher kommt das? Von nichts Anderem, als von der Ungewißheit in uns selbst, ob wir das höhere 9 dem etwas ahnte] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 185 4–5 Vgl. Lk 24,49 8.19–20 Jes 63,19 (alte Zählung: 64,1) 21–22 Vgl. Röm 10,8 (nach Dtn 30,14)
18–19 Vgl. Joh 1,14
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Maß von Kraft auch wirklich schon haben, welches allein uns berechtigen kann, dasjenige zu thun, worauf unser innerstes Gemüth gerichtet ist, oder ob wir erst noch eines Zuwachses bedürfen, und je schwerer die innere Unsicherheit zu besiegen ist, um desto mehr ist sie gleichsam selbst schon der Befehl, zu warten. – Ein eben solcher Zuwachs war es ja auch nur, auf welchen die Apostel warten sollten. Denn gewiß waren sie nicht ganz ohne den göttlichen Geist, als der Herr ihnen auflegte, daß sie warten sollten, bis sie würden angethan werden mit Kraft aus der Höhe. Denn Niemand nennt Jesum einen Herrn ohne durch den heiligen Geist; und sie hatten ihn schon seit längerer Zeit erkannt als den eingeborenen Sohn des ewigen Gottes, und er selbst hatte ihnen gesagt: das habe ihnen nicht Fleisch und Blut geoffenbaret, sondern der Vater im Himmel; und deßhalb brauchten sie nun für die weitere Entwickelung ihres eigenen höheren Lebens von diesem Grunde aus schon damals auf nichts mehr zu warten. Sie waren nicht ohne den heiligen Geist, das sehen wir auch daraus, daß Christus selbst ihnen in den Tagen seiner Auferstehung gesagt hatte: Nehmet hin den heiligen Geist, und wem ihr die Sünden erlasset, dem sind sie erlassen, wem ihr sie aber behaltet, dem sind sie behalten. Das war gewiß kein leeres Wort, wie denn auch hier die Rede ist von einem Amt, welches | sie nicht konnten ausüben und zu dem er sie nicht konnte berufen, wenn sie nicht auch den Geist Gottes zu gleicher Zeit von ihm erhielten. Aber dieses Amt beschränkte sich auch auf den Kreis der Ihrigen, und für ihre Thätigkeit in diesem brauchten sie also ebenfalls auf Nichts mehr zu warten, weil sie dieses Maß schon hatten. Hingegen um öffentlich vor aller Welt seine Zeugen zu seyn, wie sie es sollten, und auch verstockte Herzen aufzuregen zur Buße, und ihnen den Verachteten, den Verworfenen, den Gekreutzigten, darzustellen als den Heiland der Welt, ob sie dazu auch schon das gehörige Maß von Kraft erlangt hätten, die Frage hatten sie sich vielleicht noch nicht recht bestimmt vorgelegt; aber der Herr macht gleichsam schon im voraus ihrer Ueberlegung ein Ende, indem er ihnen unumwunden sagt: sie wären noch nicht in dieser Verfassung und müßten daher noch warten, bis sie die Verheißung des Vaters, die sie von ihm selbst gehört, empfangen hätten. So, m. g. F., mögen auch wir es halten. Ist noch eine Ungewißheit in unserem Herzen, wenn wir etwas vorhaben, das nicht in dem Kreise unserer unmittelbaren und durch unsere Verhältnisse fest bestimmten Pflichten liegt; fühlen wir uns nicht hinreichend auf etwas Größeres gerüstet: so mag uns das immerhin ein Zeichen seyn, daß wir das nöthige Maß von Kräften noch nicht haben, und wir mögen dann warten, aber es auch damit so 9–10 Vgl. 1Kor 12,3
10–13 Vgl. Mt 16,16–17
18–19 Joh 20,22–23
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halten, wie die Apostel, welche in dieser Zwischenzeit einmüthig mit einander versammelt in der Gemeine des Herrn, sich immer enger verbanden auf den gemeinsamen Zweck, und sich aus dem Worte Gottes stärkten und trösteten. Denn das ist gewiß: ein anderes Mittel haben wir nicht, um die Gaben des Geistes in immer reicherer Fülle auf uns hinzuleiten, als den Gebrauch des göttlichen Wortes und die Anregungen der Liebe. Aus diesen Quellen können und müssen wir Alle schöpfen, wenn wir fühlen, daß uns noch etwas fehlt, um das getrost zu beginnen, wozu wir berufen sind. Nur, m. Gel., nicht das darf uns ungewiß machen, daß wir nicht sicher sind, ob wir es auch glücklich durchsetzen und den gewünschten Erfolg erringen werden; nicht dazu sollen | wir uns ein höheres Maß von Kräften wünschen und darauf warten. Davon kann auch hier nicht die Rede seyn; sondern nur die Kraft sollen wir begehren, das, was wir thun wollen, auf gottgefällige Weise zu thun, ohne daß wir uns selbst dabei verirren oder verwirren, und so, daß die Einsicht klar bleibt und der Eifer rein, und so, daß äußere Zufälle uns weder eitel machen, noch zaghaft. III. Wohl, m. g. F., ist nun das Herz in dieser inneren Ungewißheit, oder wissen wir bestimmt, daß es noch mehr muß gestärkt und befestigt werden in diesem Sinne: wollen wir dann weder trotzig seyn, noch verzagt, sondern in guter Hoffnung warten auf die Hülfe von Oben, und im lebendigen Glauben dieser Hülfe entgegengehen, wie lange denn sollen wir warten, und welches ist das Ende und das Ziel unseres Wartens? wodurch soll uns bekannt werden, daß wir nun die Kraft aus der Höhe empfangen haben? Laßt uns hören, was der Herr darüber seinen Aposteln sagt. Ihr werdet – diese Worte werden uns an einem anderen Orte erzählt, als bei derselben Gelegenheit gesprochen – ihr werdet ausgerüstet werden mit Kraft aus der Höhe nicht lange nach diesem Tage. Aber was ist lange oder nicht lange? Geduld hat er ihnen dadurch wollen einflößen, daß er ihnen ihr Warten vorgestellt hat als ein solches, welches nicht lange dauern werde. Und das ist freilich auch der natürliche Gang. Verzeucht die Hülfe zu lange, so verliert sich auch der Eifer, der Gegenstand selbst entzieht sich uns vielleicht, oder wir werden von unseren bestimmten Pflichten zu sehr in Anspruch genommen und geben unser Vorhaben auf. Grenzen giebt es also hier allerdings. Aber wie unbestimmt ist nicht doch dieser Ausdruck des Herrn! Indessen wir finden ja gerade diese Unbestimmtheit überall bei ihm, überall weist er uns darauf zurück: Zeit und Stunde gebühre uns nicht zu kennen, die wisse auch er nicht, sondern der Vater habe sie seiner 26–29 Vgl. Lk 24,49
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Macht und Weisheit vorbehalten. Aber gerade in diesem Falle hätte es ihm doch besonders nahe gelegen, seinen Jüngern Zeit und Stunde zu be|stimmen! Denn es war ein denkwürdiger Tag, und der besonders schicklich war, daß seine Verheißung an demselben in Erfüllung ging, es war der Tag der Pfingsten, der Tag, an welchem das jüdische Volk zugleich auch das Andenken an seine alte Gesetzgebung feierte, an demselben Tage sollte nun auch der neue Bund sichtbar werden durch die erste öffentliche Predigt der Jünger und die Sammlung der ersten größeren Gemeine. Angethan mit der Kraft aus der Höhe sollten die Apostel an diesem Tage einer großen Anzahl ihrer Mitbürger das geben, was ihnen das Gesetz nicht zu geben vermochte, nämlich mit der Vergebung der Sünden die Gaben des Geistes, der in dem Reiche Gottes wohnen sollte, in welchem nun jenes Gesetz nicht mehr nothwendig war, sondern vielmehr zum Leben und zur Gerechtigkeit überflüssig, denn die vom Geiste getrieben werden stehen nicht unter dem Gesetz. Und dieser schon an sich für die Erfüllung dieser göttlichen Verheißung so schickliche Tag war noch dazu so nahe, daß es dem Herrn fast auf den Lippen geschwebt haben muß, ihn zu bezeichnen, als er sagte: Nicht lange nach diesen Tagen, und doch fügt er diese Bestimmung nicht seiner Rede hinzu. Wohl! so wollen wir uns denn hierdurch auch warnen lassen, wie ja die Schrift sonst auch oft thut: nicht auf den Tag und die Stunde zu harren. Allzuleicht beschäftigt sich der Mensch in seinen Gedanken mit dem Berechnen der Zeit, wann dieses oder jenes eintreten werde, und wenn er aus den vorliegenden Umständen keinen, einigermaßen sicheren Schluß ziehen kann, so hält er auf Tage, ja wir sehen dieser Schwachheit nicht selten auch sehr bedeutende und geistvolle Menschen unterworfen, doch Schwachheit ist wohl ein zu gelinder Name; es ist ein Wahn, den die Schrift nirgends begünstigt, und der uns ja zu leicht irre führt, daß wir manche gute Stunde versäumen, weil sie nicht auf solche Weise bezeichnet ist, oder auch zu leicht die Hoffnung aufgeben, wenn die am Schönsten bezeichnete Stunde fruchtlos und spurlos vorübergeht. Nicht an ein solches äußerliches Zusammentreffen, nicht an unsichere und dabei doch immer willkührliche Beziehungen | auf früher erwartete Ereignisse, bindet sich der Geist Gottes mit seinen Wirkungen, sondern er wehet, wo und wann er will. Nicht so leicht hat es uns die Vorsehung gemacht, daß wir durch eine geschickte Zusammenstellung von Zahlen oder anderen Zeichen sollten entdecken können, wann einer von seinen Rathschlüssen in Erfüllung gehen wird. Müssen wir 24 wann] wenn 15–16 Vgl. Gal 5,18
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einmal warten, daß wir uns ja nicht auf eine so willkührliche Weise ein Ziel setzen, wie lange. Sehen wir nun umher und fragen: woran erkannten denn die Jünger, daß nun wirklich die Verheißung des Herrn in Erfüllung gegangen war, so daß sie nun nicht länger zauderten, sondern von Stunde an begannen, seine Zeugen zu seyn, anhebend von Jerusalem und so weit sie kommen konnten? Da wird uns erzählt von herrlichen äußerlichen Zeichen, von welchen diese Ausströmung der Kraft aus der Höhe auf die Apostel begleitet war. Der Sturmwind brauste und erschütterte das Haus, in welchem sie waren, und wie feurige Zungen war es zu sehen an den Aposteln des Herrn. Aber wenn wir auch kein Bedenken haben, dieses Alles buchstäblich so zu verstehen: so laßt uns doch nicht vergessen, bei einer früheren Gelegenheit, als Gott sich einem seiner Diener offenbaren wollte, brauste auch der Sturmwind; aber der Herr war nicht in dem Sturmwind. Eben so hätte es seyn können, daß auch jetzt der Geist nicht war in dem Sturmwind, und der war also ein zweideutiges und ungewisses Zeichen, wie denn auch Petrus sich nirgend merken läßt, daß er sich darauf beruft. Und Christus selbst, so lesen wir, als einstens seine Jünger zurückkehrten von einer Sendung, die er ihnen anvertraut hatte, um das Reich Gottes zu verkündigen, und sie sich freuten über den günstigen Erfolg, den ihre Bemühung gehabt hatte, indem ihnen auch die Geister unterthan waren in seinem Namen, da sprach er zu ihnen: Ja ich sah wohl den Satanas vom Himmel herabfahren wie einen Blitz. Also hätte auch das feurige Zeichen eben so gut die Gegenwart eines bösen Geistes verkündigen können, als es hier wirklich zusammentrat mit der wunderbaren Ergießung der Kraft aus der | Höhe. Auch dieses war also nur ein zweideutiges Zeichen. Und so wollen denn auch wir eben so wenig auf äußere Zeichen warten, um an ihnen das Ende unseres Wartens zu erkennen. Zeichen geschehen wohl, wie auch Tage zusammentreffen, aber es ist immer ein verkehrtes und Gott versuchendes Geschlecht, welches nach Zeichen fragt und sie fordert. Woran denn also, m. g. F., wenn auch hieran nicht, woran endlich erkannten die Jünger des Herrn, daß ihr Warten ein Ende habe, und die Stunde gekommen sey, wo sie ihr Zeugniß ablegen und den großen Beruf antreten sollten, den der Herr ihnen übertragen hatte? – Es ist ja wohl nur noch Eines übrig, nicht so äußerlich, nicht so in die Augen fallend, aber desto sicherer, nämlich die frohe und feste Zuversicht, welche plötzlich in ihrem Innern erwachte, in demselben Augenblick, wo sich ihnen auch die Gelegenheit darbot, sie sogleich zu bewähren. 5–7 Vgl. Apg 1,8 Lk 10,17–18
9–11 Vgl. Apg 2,2–3
13–15 Vgl. 1Kön 19,11
18–24 Vgl.
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Denn da liefen herzu Spötter und Verläumder, von denen sie sich hätten können einschrecken lassen, da strömte aber auch herbei eine neugierige Menge, welche gern das Weitere hören wollte, und unter dieser mußte wohl manches für die Predigt des Evangeliums empfängliche Gemüth zu finden seyn. Dieses nun wird auch wohl leicht einen Einwurf niederschlagen, der gewiß Manchen auf den Lippen schwebte. Ich höre nämlich fragen: Sollte es denn nicht auch hierin eine gefährliche Täuschung geben? sollte man sich nicht einbilden können, eine Zuversicht zu haben, die sich doch hernach nicht bewährt? Allerdings ist Nichts häufiger, als dieses; aber nur so lange, bis die Aufforderung zu einem Handeln eintritt, welches ohne feste Zuversicht gar nicht möglich ist. Die Sache selbst muß es zeigen; der entscheidende Augenblick muß es bewähren. Und am Allersichersten ist dieses Zeichen, wenn die Aufforderung so dringend wird, daß was ursprünglich ein ganz freier Entschluß war nun das Ansehen gewinnt, eine Pflicht zu seyn, der man sich nicht entziehen kann. Diese Menge, welche Petrus nun nicht erst aufzusuchen brauchte, sondern welche sich herandrängte, eine | Menge aus einem brüderlich verbundenen Volke, begierig zu hören, hatte sie nicht ein Recht zu verlangen, daß er ihr Rede stehen sollte? Und so finden wir denn auch diese feste Zuversicht bei Petrus und den übrigen Aposteln, als er auftrat und sprach: diese sind nicht voll süßen Weines, sondern das ist es, was der Prophet zuvor gesagt hat: Von meinem Geist will ich ausgießen in diesen Tagen über alles Fleisch! Diese Zuversicht war selbst schon die erste Wirkung jener Kraft aus der Höhe, mit welcher sie in reicherem Maße erfüllt wurden, und sie erkannten sie auch an ihr zuerst, daß der Herr sein Wort gelöst habe, und daß nun nicht länger Zeit sey, zu warten. Wie vorher noch mancherlei Zweifel und Bedenklichkeit in ihnen selbst gewesen waren, in welchen eben der Befehl, daß sie noch warten sollten, gegründet war: so war nun auch der Punkt gekommen, bis wie lange dieser Befehl gültig seyn sollte, nun in ihnen selbst alle Bedenklichkeiten verschwunden waren. Mit der Zuversicht hatten sie nun auch die Ueberzeugung, daß die Stunde gekommen sey, wo sie von ihrem Herrn und Meister Zeugniß ablegen sollten, und bei solcher inneren Gewißheit und solcher dringenden Aufforderung würde es ihnen nicht möglich gewesen seyn, länger zu warten, welche äußerliche Hindernisse ihnen auch in den Weg treten möchten, und wie wenig Unterstützung ihnen auch von Außen geboten werden möchte. Von nun an konnten sie mit Recht sagen: sie könnten nicht anders; der Herr hatte gesprochen, sie mußten gehorchen. 21–24 Vgl. Apg 2,13–17 (mit Zitat nach Joel 3,1 [alternative Zählung: 2,28])
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Und dieses, m. g. F., können wir ohne Bedenken als die allgemeine göttliche Ordnung ansehen. Wenn wir die Stärkung durch die christliche Gemeinschaft, die Befestigung aus dem göttlichen Wort nicht versäumen, dann wird uns zu jedem guten und gottgefälligen Werk, wozu wir uns aufgeregt fühlen, nicht nur die Kraft in der Stille wachsen, bis sie in schöner und fester Zuversicht hervorbricht, sondern wenn es sein Wille ist, daß wir etwas ausrichten sollen, wird er uns auch die Gelegenheit nahe bringen, wie er es hier that. Beides zusammen|treffend ist das Zeichen des Herrn, dem wir so geprüft und so vorbereitet mit Sicherheit folgen können. Versäumen wir überhaupt das Warten nicht, sondern prüfen sorgfältig alle aufsteigenden Entwürfe: so werden sich abentheuerliche, wenn gleich noch so wohlgemeinte, Einfälle nicht in unserer Seele befestigen, und wir werden unsere Zeit nicht an Unternehmungen verschwenden, die gar nicht in den Tagen des Herrn liegen. Halten wir mit dem Warten fest an dieser Regel, wie wir sie an dem Beispiel ausgedrückt finden, welches die Apostel uns geben: so werden wir weder durch etwas Abergläubisches oder Schwärmerisches mißleitet werden, noch auch unsere Kräfte in unnöthigem Harren erlahmen lassen, und so, gleichviel ob Kleines oder Großes, kurz immer Vieles von dem unterlassen, was wir zur Förderung des Werkes Gottes hätten beitragen können. So gewiß, als wir schlechte Werkzeuge Gottes wären, und sein Reich wenig fördern würden, wenn wir auch das Beste und Segensreichste zu früh, das heißt mit einem noch ungewissen und zaghaften Herzen, unternehmen wollten, nicht besser als jener Prophet, der, als ihn der Herr aufhalten wollte, um ihm noch das Nothwendige zu sagen, immer vorwärts eilte und trieb, bis er von dem unvernünftigen Thiere, auf welchem er saß, gestraft wurde; eben so strafbar würden wir seyn, wenn wir der Stimme einer guten und auf die rechte Weise entstandenen und genährten Zuversicht, unähnlich Allen, die in solchen Fällen sprachen: sie könnten nicht anders und Gott werde ihnen helfen, nicht wollten für die rechte Stimme Gottes in uns erkennen, sondern ihr Widerstand leisten, und uns dadurch denen gleich stellen, welche im Harren ohne rechtes Ziel zu Thoren geworden sind. Wenn wir nun auf nichts Anderes gewartet haben und warten wollen, als auf die Kraft von Oben, welche uns in den Stand setzt, richtig zu handeln, und keinen anderen Zeichen in dieser Hinsicht trauen, als der festen Zuversicht, welche als die erste Wirkung jener höheren Kraft auch zugleich das sicherste Zeichen derselben ist: so wollen wir uns denn auch vollkommen ge|nügen lassen, wenn wir in dieser Kraft richtig handeln, ohne uns einen Vorwurf, weder der Uebereilung oder Versäumniß, noch auch der Abweichung von dem 25–27 Vgl. Num 22,18–27
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geraden Wege, machen zu dürfen. Wie viel aber dann aus unserer Thätigkeit entstehen soll, ob sie einen bleibenden Erfolg hervorbringt, oder nur Vorbereitung bleibt, die aber doch gewiß einer reiferen und besseren Zukunft einmal zu Statten kommt, das können wir nur Gott überlassen; uns ist dieses eben so wenig zu wissen vergönnt, als uns überhaupt auf Zeit und Stunde zu achten erlaubt ist. Eines von Beiden aber kann nicht fehlen. Derjenige, der kein Haar verloren gehen läßt, der Seufzer und Thränen zählt und wägt, welche doch oft nur kraftlose Wünsche sind und unthätiges Bedauern, der läßt gewiß nicht eifrige Bestrebungen ungenutzt, welche das Zeugniß seines Geistes für sich haben und in seinem Namen gewagt sind. In diesem Sinne also wird gewiß jedes gottgefällige Werk eines Christen gekrönt, auch in dem, daß, je weniger er irgend einen Erfolg seiner Bemühungen wahrnimmt, um desto gewisser er auch inne wird, daß der Segen, den er Anderen bringen wollte, auf ihn selbst zurückkommt. Denn gefördert werden wir selbst gewiß durch Alles, was wir ohne Selbstsucht und Eitelkeit nur als Christi Diener und für ihn verrichten: weil denen, die Gott lieben, Alles zum Besten dienen muß. Was mehr als dieß geschieht, das ist nicht unser, sondern des Herrn; oder um es anders zwar, aber eben so richtig, auszudrücken: das Uebrige ist nicht mehr unmittelbar unser Werk, sondern vielmehr schon der Lohn für unser Werk. Denn der Herr kennt keinen anderen Lohn, als daß der getreue Knecht über mehr gesetzt wird. Sind wir nun selbst so gesegnet gewesen, das Reich Gottes, wenn auch nur um ein Weniges zu reinigen oder zu erweitern: so sind wir eben dadurch schon über Mehreres gesetzt. Dahin führt uns reiner Wille, geduldiges Warten, kräftige Ausführung. Da aber aller Lohn von Oben nur uneigentlich so heißt, und nicht Gerechtigkeit ist, sondern Gnade: so wollen wir auch niemals scheel sehen, wie jene Arbeiter, die mehr auf ihren Nutzen bedacht waren, als auf das | Werk, an dem sie geholfen hatten. Gedeiht die Arbeit des Einen zu hundertfältiger Frucht; nutzt sich das Werk des Anderen zehnfältig, und giebt es auch solche, die nur dreifältig erndten: so sollen doch Alle Den loben und preisen, der sie dessen gewürdiget hat. Denn Er allein hält Maß und Wage in sicherer Hand; sein ist das Werk. Er wird es hinausführen. Amen. Schl.
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Tex t. Apostelgeschichte I, 4. Und als er sie versammelt hatte, befahl er ihnen, daß sie nicht von Jerusalem wichen, sondern warteten auf die Verheißung des Vaters, welche ihr habt gehört, (sprach er) von mir. Es ist hier, m. a. F., die Rede von der Zeit, in welcher wir eben jetzt leben, zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Ausgießung des Geistes auf seine Jünger; es war der Befehl, den er ihnen gab als er von ihnen hinweggenommen ward und aufgehoben gen Himmel und daß der Herr seinen Jüngern befahl zu warten, das ist es, m. g. F, weßwegen ich diese Worte heute zum Gegenstande unserer Betrachtung gewählt habe. Er derselbe Herr, welcher sonst nicht für das Warten, und für das langsame Harren und Ruhen war, sondern als seinen Wahlspruch bekannte, sein Vater wirke und er auch, und er müsse wirken, so lange es Tag sei, ehe denn | die Nacht komme, wo niemand wirken kann, er derselbe befiehlt doch jetzt seinen Jüngern zu warten. Auch wir, m. g. F, befinden uns ja oft zwischen dem Einen und dem Andern zweifelhaft von dem Einen zu dem Andern hingezogen. Bald fühlen wir uns von innen heraus unaufhaltsam getrieben zu einer raschen Thätigkeit und wollen keinen Augenblick versäumen, bald gemahnt es uns entgegengesetzt, es sei besser noch zu ruhen und zu warten. Beides sehen wir ist Recht, aber jedes an seinem Ort, und daß wir nun eben überall in dieser Hinsicht das Rechte thun, nicht da warten, wo wir rasch zugreifen sollen, nicht da übereilen, wo uns gebührt zu warten, woher anders sollten wir das lernen, als aus dem Beispiele und den Worten des Erlösers. Und darum laßt uns eben diesen seinen Befehl mit einander beherzigen, und über das Warten des Christen demselben gemäß mit einander nachdenken. Es ist aber, m. g. F., wenn wir warten allemal in uns ein Verlangen und eine Sehnsucht nach etwas, das da kommen soll, und gerade eine | solche um derentwillen wir uns selbst nun aufhalten und etwas nicht thun oder aussetzen und unterlassen, was wir gern thun möchten, wir begeben uns aber darein in der Hoffnung, daß dieser Zustand werde ein Ende nehmen und das Warten sein Ziel finden. Das ist es also, worüber wir mit einander nachzudenken haben, zuerst wenn wir uns in dem Falle befinden zu warten, womit wir denn eigentlich warten sollen; dann aber welches das Verlangen sei, worauf unsere Seele gerichtet ist, und also worauf wir warten 14 Vgl. Joh 5,17
14–16 Vgl. Joh 9,4
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sollen; endlich aber welches denn sei das rechte und wahre Ziel unseres Wartens, worin es sein Ende findet.
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I. Die erste Frage also, die wir uns vorlegen um den Befehl des Herrn zu verstehen und auch in unserem Leben anzuwenden, ist diese, wann und unter welchen Umständen gebührt uns zu warten, und womit also aus alle demjenigen, was in unser Leben hineingeht, dürfen und sollen wir warten? Wenn nun jemand, m. th. F., dies etwa beziehen wollte auf weltliche Dinge, | welche nur auf weltliche Weise können und müssen behandelt werden, und also hiebei fragen nach Regeln und Vorschriften einer weltlichen Klugheit, so würden wir dies gar nicht aus den Worten und dem Befehl des Erlösers beantworten können. Wie wir hier versammelt sind sollen und dürfen wir auch danach nicht fragen. Es ist freilich schon dies selbst eine Unvollkommenheit, wenn wir als Christen glauben, daß es für uns noch weltliche Dinge gebe, die bloß weltlich behandelt sein wollen und dürfen, denn wir sollen alles auf das Reich Gottes und dessen Förderung beziehen, und überall nach keinem Andern als nach dessen Gesetzen und den Zwecken, die es uns vorschreibt, handeln. Haben wir aber noch jene Unvollkommenheit, wohl so müssen wir anderwärts aber nicht aus dem Worte Gottes, welches nur auf das geistige Leben der Menschen gerichtet ist, die Regeln einer solchen weltlichen Klugheit suchen. Von demjenigen also was wir selbst, insofern wir noch nicht alles auf das Reich Gottes beziehen, oder | diejenigen welche überhaupt noch nicht in dem Reiche Gottes und für dasselbe leben, was diese und wir als solche in dieser Hinsicht zu thun haben oder zu lassen, davon kann hier nicht die Rede sein. Aber eben so, m. g. F., wenn die Frage davon wäre aus einem solchen Zustande in denjenigen überzugehen, wo wir nun in dem Reiche Gottes und für dasselbe leben: o dann möchte es wohl gar kein Warten geben, welches Gott gefällig wäre, oder in Beziehung auf welches wir ein Wort des Erlösers oder gar einen Befehl desselben anwenden wollten. Denn schon sein Vorläufer redet mit dem tiefsten Ernst und ermahnt mit dem ungeduldigsten Eifer diejenigen, denen noch nicht der Sinn für das Reich Gottes aufgegangen ist, ihn zu öffnen und dasselbe zu suchen, indem er sagt, die Axt sei schon dem Baume an die Wurzel gelegt, und wenn er sich nicht recht bald dazu begeben werde, die rechtschaffenen Früchte der Buße zu tragen, so würde er abgehauen werden. Und eben so ernst und dringend redet der Erlöser selbst, bald drohend, bald lieb1 sollen] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 13r 31–37 Vgl. Mt 3,7–10; Lk 3,7–9
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reich ermahnend, zurufend und einladend alle einzugehen in das Reich, welches er zu stiften gekommen war. | Und so war denn auch dieser Befehl, daß sie warten sollten, an keine Andern gerichtet als an seine Jünger, diejenigen, die schon mit ihm verbunden und vereint waren, die sich selbst schon ihrem Herrn und Meister und seinem himmlischen Vater das Wort gegeben hatten, für nichts Anderes als für sein Reich zu leben. In dieser Beziehung so uns selbst betrachtend dürfen wir nun fragen, womit sollten denn die Jünger eigentlich warten? Ihre bisherige Thätigkeit wie sie dieselbe schon Christo und seinem Reiche geweiht und sich unter einander zu derselben verbunden hatten, gaben sie nicht auf, und fanden also das auch nicht in seinem Befehl. Sie blieben, wie es ihnen der Erlöser gesagt hatte, in Jerusalem, aber da waren sie einmüthig bei einander, und wie uns dieselbe Geschichte erzählt, verbunden in häuslichen Kreisen, eben so gemeinsam in dem öffentlichen Leben des Tempels priesen und lobten sie Gott. Ja sie blieben nicht nur so mit einander verbunden, sondern auch die Rede des Petrus an die versammelten Jünger, wo er ihnen vorschlägt an der Stelle des einen verlorenen Kindes ein anderes aus dem gesammten Haufen zu wählen, | das sie einnehmen, und wie ehemals ihrer Zwölfe waren, auch jetzt wieder die Zahl der Zwölf erfüllt würde, auch diese Rede fällt ebenfalls in die Zeit zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Ausgießung des Geistes. Was also in der Natur ihrer bisherigen Verbindung lag, was natürlich hervorging aus ihrem auf das Reich durch Christum gerichteten Sinn, was dazu gehörte, diesen Sinn zu stärken und zu befestigen, was ein wahrer und lebendiger Ausdruck desselben war, davon unterließen sie nichts, und darauf bezogen sie nicht das Gebot des Herrn zu warten. So, m. g. F., mögen wir also auch zu uns selbst sagen, die schöne Gemeinschaft, die der Herr gestiftet hat, und in welcher allein wir unsere Seligkeit finden, welche wir uns in dem Gesange, den wir eben mit einander gesungen, lebendig vor die Augen gestellt und unser Gefühl für dieselbe erwärmt haben, diese zu erhalten, diese auf alle Weise zu stärken, in diese uns immer mehr zu vertiefen, das ist es was keinen Aufschub leidet, das ist es was keine Zeit übrigläßt, die in dieser Beziehung möchte der Ruhe und dem Warten gewidmet sein. Wenn wir aber uns selbst fragen, sollten denn die Apostel in | dieser Zeit nun ganz unzugänglich gewesen sein und verschlossen für alle, die nicht zu dem unmittelbaren engeren Kreise der Jünger des Herrn gehörten, sollten sie jedermann, der sie gefragt hätte, 4 Jünger,] Jünger, die
24 Reich durch Christum] Kj durch Christum errichtete Reich
12–15 Vgl. Apg 1,14; 2,46 16–20 Vgl. Apg 1,15–22 Lied nach dem Gebet (unten Anhang)
29–31 Vgl. Liederblatt,
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nicht Rede gestanden sein über ihren Glauben, über ihre fortdauernde Zuversicht auf den, den sie freilich gekreuzigt hätten, den aber Gott der Herr wieder auferweckt habe. Das, m. g. F., dürfen wir gewiß nicht glauben, sondern zuversichtlich wenn uns auch die Geschichte der Schrift nichts darüber meldet, zuversichtlich dürfen wir das Gegentheil annehmen. Denn dazu waren sie schon lange verpflichtet, das war schon längst ihr Beruf und sie durften demselben keinen Einhalt thun, weil sie sonst Zeugen gewesen wären gegen sich selbst und gegen den, für welchen sie freilich in einem größeren Maaßstabe erst in der Zukunft zeugen sollten. Das dürfen wir also und müssen es uns sagen, was unmittelbar zusammenhängt mit dem Kreise gottgefälliger Thätigkeit, in welcher wir schon begriffen sind, was sich anschließt an einen Beruf, den wir schon angetreten haben, oder was aus dem Begriffe desselben natürlich hervorgeht, o darüber sind wir Gott | Rechenschaft schuldig von jeder Stunde und von jeder einzelnen Handlung, da giebt es nichts aufzuschieben, wenn wir nicht saumselig sein sollen, wie diejenigen, welche ihr Pfund vergraben statt es zu benutzen, und die Gelegenheit vorbeilassen wo ihnen etwas vorhanden kommt zu thun. Womit also sollten die Jünger des Herrn warten? Der Herr hatte ihnen gesagt und schon oft aufgetragen während seines Lebens und es ihnen jetzt noch wiederholt, sie sollten seine Zeugen sein nicht nur unter einander nicht nur in dem stillen Kreise ihrer Freunde und Bekannten, sondern öffentlich vor allem Volk, und sie sollten sein Zeugniß tragen soweit sie vermöchten bis an das Ende der Erde, anhebend aber zu Jerusalem, da wo er gelitten hatte und gestorben war. Das, m. g. F., das war ein neuer Beruf für sie, das war ein Wirkungskreis, der ihnen nun erst eröffnet ward, weit verschieden von allem was sie bisher gethan, und wiewohl der Herr ihnen nun den Befehl dazu giebt, ihnen seinen Auftrag auf das Bestimmteste erneuert, so gebietet er ihnen doch zugleich, sie sollten noch warten. So, m. g. F., werden denn auch wir den rechten Unterschied finden | zwischen dem raschen und unaufhaltsamen Handeln und zwischen solchen Gelegenheiten, wo uns gebühren mag zu warten. Auch wir wenn sich uns irgend ein neuer Kreis des Wirkens, irgend eine neue Art der Thätigkeit darstellt, wenn wir in Verhältnisse eintreten sollen, in denen wir bisher noch nicht gewirkt haben, dann kann es sein, daß auch auf uns der Befehl des Erlösers sich bezieht zu warten, dann können wir unserer Sache nicht im Voraus so gewiß sein und nicht im Voraus die Überzeugung haben, der erste Augenblick sei auch der rechte, der beste, der von Gott gebotene, 2–3 Vgl. Apg 4,10 Apg 1,8
16–17 Vgl. Mt 25,18.24–27; Lk 19,20–23
21–25 Vgl.
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sondern da mag es sein, daß auch in manchen Fällen es wiederum gut ist und recht, rasch zu handeln und nicht zu warten, in andern aber auch geboten sein kann und gerathen sein muß zu warten. Wann nun aber das der Fall sei, das können wir nicht anders entscheiden als indem wir uns die zweite Frage vorlegen, nämlich worauf wir denn in dem Falle wo uns gebührt zu warten, eigentlich warten sollen? II. Das Leiden und der Tod des Herrn waren die Wirkung einer immer tiefer eingewurzelten | Feindschaft gegen ihn und eines Argwohns gegen dasjenige, was aus seinen Bestrebungen wohl natürlicher Weise hervorgehen möchte und davon zu erwarten wäre. Ausgeartet war diese in eine wilde ganz besinnungslose Leidenschaft, das Recht war darüber zu Unrecht gemacht worden, eine Missethat schwer zu verantworten lastete auf dem ganzen Volke und vorzüglich auf denen, die es leiteten. Durch seinen Tod erschienen nun diejenigen, welche so ungleich von ihm dachten, die seine höhere Bestimmung verkannten und die Fülle der Gottheit in ihm nicht zu ahnden vermochten, die standen wirklich als Sieger da; er erschien als der Verworfene und alle die Ansprüche, die er gemacht hatte, alle Hoffnungen, die Andere auf ihn gesetzt hatten als nicht bewährt von Gott. Und eben an diesem Orte unter eben diesen Bewegungen der noch so sehr aufgeregten Gemüther nach einem so gänzlichen Mißlingen sollten die Apostel Zeugen des Herrn sein. Sagt er etwa zu ihnen, sie sollten warten darauf, daß sich die Gemüther wieder mehr [besänftigt hätten], sie sollten warten darauf, daß diejenigen, welche sich am schmählichsten vergangen hatten, nun einsähen ihre Verkehrtheit und ihre Verkennung der Wahrheit oder wenigstens darauf, bis sie würden weggenommen sein von der Erde oder von der Ausübung | ihrer Macht, und also ihnen nicht so gefährlich werden könnten, wie sie ihm gewesen waren? Nein. Sagt er etwa sie sollten warten bis irgend ein günstiger Umstand sich ereignen werde, der ihnen eine Spur von Hoffnung gäbe, daß ihre Bemühungen nicht ganz vergeblich sein würden? Nein, m. g. F., nichts von dem sagt er ihnen. O, m. g. F., dabei laßt uns zuerst stehen bleiben und es zu Herzen nehmen. Das ist es niemals, worauf der Christ warten soll. Fühlt er in sich einen solchen Beruf, der ihn zu der Überlegung nöthigt, ob es gerathen sei zu warten, oder ob nicht, ob der rechte Augenblick da sei eine lebendige Thätigkeit anzufangen oder ob nicht, dann nur nicht 24–25 sich die Gemüther wieder mehr [besänftigt hätten], sie sollten warten darauf, daß] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 14v. Die Handschrift weist eine Lücke auf, die mit Hilfe der parallelen Formulierung in Schleiermachers Drucktext (s.o.) gefüllt werden kann. 35 Überlegung] so SAr 109, Bl. 14v; Textzeuge: Überzeugung
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nach solchen äußerlichen Ausgängen gefragt, daß dann nur nicht seine Überlegungen einen solchen Ausgang nehmen, daß er wartet auf etwas Äußerliches. Das ist nicht eine Klugheit, die aus der innern Gesinnung des Christen hervorgeht, das ist nicht ein Verhalten dessen, der für das Reich Gottes, für die Sache der Wahrheit und des Lichts thun will, wozu er sich von innen getrieben fühlt, und alle solche weltliche und menschliche Klugheit, die kann nicht anders als in dem Reiche Gottes zu | Schanden gemacht werden, und wenn sie es nicht würde, so würden wir nur um so mehr Ursache haben zu trauern, und was auf eine solche Weise gewonnen wird, welche herrliche Spuren menschlicher Klugheit darauf ruhen mögen, wie verständig es auch gewählt, wie künstlich es auch berechnet wäre, der Segen Gottes und das Gedeihen für sein Reich kann nicht auf etwas ruhen, was aus einer Gesinnung hervorgegangen ist, die getrübt und unrein ist. Denn wollen wir dem Werke Gottes trauen, so müssen wir vertrauen auf die Allmacht Gottes, die überall ihr vorgesetztes Ziel erreicht, so müssen wir nicht glauben, daß sie gebunden sei an den Gang, welchen menschliche Berechnung einschlägt, und daß sie den menschlichen Dingen unterworfen sei. Und wie sollten wir nicht durch tausendfältige Erfahrungen in dem Reiche Gottes und in der Geschichte des menschlichen Geschlechts in diesem Glauben schon befestigt sein, ja er sollte kein Glaube mehr für uns sein, sondern eine Erfahrung | die uns zur freudigen Dankbarkeit gegen Gott erheben muß. Wohl uns wenn uns das nie abhalten soll an dem Werke Gottes zu arbeiten, daß ungünstige Umstände uns von allen Seiten umringen, wenn uns das nicht hindern darf, daß wir keine Hoffnung an etwas Äußerliches knüpfen sollen, worauf sollen wir denn warten? Ihr sollt warten, so sagte der Herr zu seinen Jüngern auf die Verheißung des Vaters, welche ihr gehört habt von mir. Das war aber keine andere als wie er es auch anders ausgedrückt hat nach der Erzählung desselben Evangelisten an einem andern Ort „ihr werdet angethan werden mit der Kraft aus der Höhe.“ Ja, m. g. F., das ist der alte Gegenstand des Verlangens und der Sehnsucht aller Menschen, in denen jemals das wahre Leben sich geregt hat. O daß du den Himmel zerrissest und führest herab, das ist die alte Sehnsucht aller Herzen, die etwas ahndeten von der göttlichen Kraft, welche in dem Menschen sein und wirken und ihn über sein vergängliches und weltliches Treiben und über die beschränkten | und kleinlichen Regeln desselben erheben soll. Auf eine Offenbarung der göttlichen Kraft in dem Menschen warten, auf das Licht warten, welches allein die wahre Leuchte unseres Fußes sein soll und sein kann, das ist das alte Verlan30–31 Vgl. Lk 24,49 Ps 119,105
33–34 Jes 63,19 (alte Zählung: 64,1)
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gen und die alte Sehnsucht aller dem Ewigen und Wahren zugewendeten Gemüther. Wir wissen nun freilich, daß sie erfüllt ist seitdem das Wort Fleisch ward und auf Erden erschien, und daß wir nun nicht mehr sagen sollen, o daß du den Himmel zerrissest und führest herab, sondern wir sollen es wissen mit einer lebendigen Überzeugung, daß das Wort Gottes uns unmittelbar nahe ist auf unseren Lippen und in unserem Herzen. Aber Gott der Herr theilt seine Gaben aus nach dem Maaß, und nur Einer war, welcher sie besaß ohne Maaß, weil er selbst das Maaß sein sollte für alle Andern. Das wissend und eben davon tief durchdrungen, wo sich in uns etwas regt was über das unmittelbare Bedürfniß des Augenblicks hinausgeht, wo wir selbst etwas Neues beginnen sollen und mit einer neuen Thätigkeit eingreifen in das Reich Gottes, was soll uns da zweifelhaft machen, ob wir rasch zugreifen sollen oder ob uns noch gebührt zu warten? | Nichts anderes als die Ungewißheit in uns selbst, ob wir das Maaß von höherer Kraft schon haben, welches uns berechtigt dasjenige zu thun, worauf unser innerstes Gemüth gerichtet ist, oder ob wir noch bedürfen, daß uns der Herr einen Zuwachs davon gebe in unserem Innern. Das, m. g. F., war auch der Fall, in welchem die Apostel sich befanden. Sie waren nicht ohne den göttlichen Geist als der Herr das zu ihnen sagte, daß sie warten sollten bis sie würden angethan sein mit Kraft aus der Höhe; denn sie hatten ihn schon länger erkannt als den eingebornen Sohn des ewigen Gottes, und er selbst hatte ihnen gesagt, das habe ihnen nicht Fleisch und Blut geoffenbart, sondern der Vater im Himmel. Sie waren es nicht, denn er selbst hatte ihnen in den Tagen seiner Auferstehung gesagt, nehmet hin den heiligen Geist, und wem ihr die Sünden erlasset, dem sind sie erlassen, wem ihr sie aber behaltet, dem sind sie behalten, ein Amt, welches sie nicht konnten ausüben und zu dem er sie nicht konnte erwählen, wenn sie nicht den Geist Gottes | damals schon gehabt und von ihm empfangen hätten. Aber um seine Zeugen zu sein, wie sie es sollten, und die verstockten Herzen aufzuregen zur Buße und ihnen den Verachteten, den Verworfenen, den Gekreuzigten darzustellen als den Heiland der Welt, als den Einzigen, der da kommen sollte, sie mochten sich fragen, ob sie dazu schon das gehörige Maaß des Geistes hätten, und der Herr macht ihrer Überlegung ein Ende, indem er ihnen sagt, sie möchten warten bis sie die Verheißung des Vaters, die sie von ihm selbst gehört, empfangen hätten. So, m. g. F., mögen 7 Herr] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 15r 2–3 Vgl. Joh 1,14 4 Jes 63,19 (alte Zählung: 64,1) 5–7 Vgl. Röm 10,8 (nach Dtn 30,14} 20–21 Vgl. Lk 24,49 21–24 Vgl. Mt 16,16–17 26–27 Vgl. Joh 20,22–23
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auch wir sagen, ist noch eine Ungewißheit in unserem Herzen in Beziehung auf irgend etwas Neues, Besonderes, in den unmittelbaren Kreis unserer Pflichten unmittelbar nicht Gehörendes, was wir unternehmen wollen, so mag sie uns ein Zeichen sein, daß wir das Maaß von Kräften noch nicht haben, welches dazu erforderlich ist, und wir mögen dann so lange warten wie die Apostel warteten, einmüthig mit einander versammelt in der Gemeine des Herrn, sich ver|bindend durch das Wort Gottes und sich stärkend und tröstend durch dasselbe. Denn das ist der Weg, auf welchem der Reichthum des Geistes sich in immer größerer Fülle über die Menschen ergießt, das ist die Quelle, aus welcher wir alle schöpfen können, wenn wir fühlen, daß es uns noch fehlt zu demjenigen, wozu wir berufen sind. Denn darauf allein sollen wir warten, aber nicht auf Menschen vertrauen, denn die auf Menschen vertrauen gehen unter in ihrem Wahn und werden zu Schanden, die aber Gott vertrauen, die auf ihn warten und seine Hand und seine Unterstützung suchen, denen wird seine Kraft und sein starker Arm. III. Wohl, m. g. F., ist nun das Herz in dieser innern Ungewißheit, daß es noch mehr muß gestärkt und befestigt werden, will es weder trotzig sein noch verzagt, sondern in guter Hoffnung warten auf die Hilfe von oben und im lebendigen Glauben dieser | Hilfe entgegengehen, wie lange denn sollen wir warten, und welches ist das Ende und das Ziel unseres Wartens? Wo soll uns die Gewißheit und die Zuversicht herkommen? Laßt uns hören was der Herr darüber seinen Aposteln sagt. Ihr werdet, so drückt er sich an einem andern Orte eben darüber aus, ausgerüstet werden mit Kraft aus der Höhe nicht lange nach diesem Tage. Aber was ist lange und nicht lange? Geduld hat er ihnen dadurch wollen einflößen, daß er ihnen ihr Warten dargestellt hat als ein solches, welches nicht lange dauern werde. Aber wie unbestimmt ist nicht dieser Ausdruck des Herrn! Aber freilich finden wir diese Unbestimmtheit überall bei ihm, überall weist er uns darauf zurück Zeit und Stunde gebühre uns nicht zu wissen, die wisse auch er nicht; sondern der Vater habe sie seiner Macht und Weisheit vorbehalten. Und in diesem Falle hätte es ihm doch so nahe gelegen seinen Jüngern Zeit und Stunde zu bestimmen, denn es war ein denkwürdiger Tag und der besonders schicklich war, an welchem seine Verheißung in Erfüllung ging, es war der Tag der Pfingsten, der Tag an welchem das jüdische Volk zugleich auch das Andenken an die Gesetzgebung Mosis feierte, an dem Tage 23–24 Wo soll ... herkommen?] Ergänzung aus SAr 109, Bl. 15v 25–27 Vgl. Lk 24,49
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ging seine Verheißung | in Erfüllung, indem seine Jünger angethan wurden mit der Kraft aus der Höhe, mit der Kraft, die dem Menschen das geben kann, was ihm das Gesetz nicht zu geben vermochte, mit der Kraft, die in dem Reiche Gottes wohnen sollte, wo nun jenes Gesetz nicht mehr nothwendig sein sollte sondern überflüssig, denn die vom Geiste getrieben werden stehen nicht unter dem Gesetz. So nahe war dieser Tag, so schicklich war er für die Erfüllung der göttlichen Verheißung, und doch setzt der Herr diese Bestimmung seiner Rede nicht hinzu. So mögen wir uns denn, m. g. F., dadurch warnen lassen, wie es die Schrift sonst auch thut, nicht auf Tag und Stunde zu harren. Allzu leicht beschäftigt sich der Mensch in seinen Gedanken mit dem Berechnen der Zeit wann dies oder jenes eintreten werde, und sucht auf eine äußerliche Weise durch ein äußerliches Zusammentreffen von Umständen zu bestimmen, ob Zeit und Stunde gekommen sei. Aber es ist ein Wahn der uns leicht irre führen kann und den die Schrift niemals begünstigt. Nicht an ein solches äußerliches Zusammentreffen von Umständen, nicht an das was auf diese Weise menschliche Wahrscheinlichkeit ge|winnt für menschliches Warten ist der Geist Gottes mit seinen Wirkungen, ist die Vorsehung mit ihren Wegen gebunden, und auf diese Weise können und sollen wir niemals das Ende unseres Wartens berechnen wollen. Aber woran erkannten denn die Jünger, daß nun wirklich die Verheißung des Herrn in Erfüllung gegangen war, und fingen nun an von Stunde an seine Zeugen zu sein anhebend zu Jerusalem und fortfahrend so weit sie kommen konnten? Herrliche äußerliche Zeichen begleiteten freilich diese Überströmung mit Kraft aus der Höhe, der Sturmwind brauste und erschütterte das Haus, in welchem sie waren, und wie feurige Zungen war es zu sehen an den Aposteln des Herrn. Aber, m. g. F., früher bei einer andern Gelegenheit als der Herr sich offenbaren wollte einem seiner Diener, da war er nicht in dem Sturmwind, den dieser brausen hörte, und der war also ein zweideutiges ungewisses Zeichen. Und der Herr selbst als einstmals seine Jünger zurückkehrten von einer Sendung, die er ihnen anvertraut hatte um das Reich Gottes zu verkündigen, und sie sich freuten über | den günstigen Erfolg, den ihre Bemühung gehabt hatte, indem ihnen auch die Geister unterthan waren in seinem Namen, da sagte er, „ja ich sahe wohl den Satanas vom Himmel herabfahren wie ein Blitz“; das feurige Zeichen also, das konnte eben so gut das Zeichen eines bösen Geistes sein als das Zeichen der Kraft aus der Höhe, und war also auch ein zweideutiges. Woran denn, m. g. F., woran erkannten die Jünger des Herrn, daß ihr Warten ein Ende habe und die Stunde gekommen sei, 5–6 Vgl. Gal 5,18 36 Vgl. Lk 10,17–18
26–28 Vgl. Apg 2,2–3
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wo sie zeugen sollten und handeln und den Beruf anfangen, den der Herr ihnen übertragen hatte? An nichts Anderem, m. g. F., als an der frohen und festen Zuversicht, die in ihrem Innern erwachte, und die allemal das sicherste Zeichen ist von dieser Kraft aus der Höhe, die sie nun in ihrem Herzen tragen mußten um das große Werk zu beginnen. Diese Zuversicht finden wir als Petrus auftrat und sprach, diese sind nicht voll süßen Weins, sondern das ist es was der Prophet zuvor gesagt hat, „von meinem Geist will ich ausgießen in diesen Tagen über alles Fleisch;“ diese Zuversicht bemächtigte sich ihrer indem sie erfüllt wurden mit Kraft aus | der Höhe, nun erkannten sie, es sei nicht länger Zeit zu warten, nun waren alle Zweifel und Bedenklichkeiten gehoben, die der Grund des Befehls ihres Herrn gewesen waren. Aber eben deswegen wußten sie auch, nun sei die Zeit erschienen wo sie Zeugniß von ihrem Herrn und Meister ablegen sollten, nun würde es tadelnswerth sein länger zu warten, welche äußerlichen Hindernisse ihnen auch in den Weg treten möchten, wie wenig Unterstützung ihnen auch von außen geboten werden möchte. In dieser Zuversicht handelten sie, und die war ihnen das Zeichen der Kraft aus der Höhe. So, m. g. F. hat der Herr immer seine Diener ausgerüstet und ihnen davon ein Zeichen gegeben. Wenn sie in sich fühlten die Kraft und den Muth das große Werk des Herrn zu fördern, wenn sie sich stark fühlten zum Streit gegen die Macht des Bösen, wenn sie sich tüchtig fühlten alle äußerliche Hindernisse zu besiegen, allen Leiden entgegenzugehen, sich durch keine menschliche Gewalt hemmen zu lassen, dann konnten sie überzeugt sein, die Kraft sei in ihnen, die den Schwachen mächtig macht, die von keinem Andern herkommen kann | als von oben, und die nothwendig übereinstimmen muß mit dem, dessen Kraft und Macht Alles leitet. Diese Stimme der Zuversicht sollen wir nicht überhören, und so gewiß als wir schlechte Werkzeuge Gottes wären und sein Reich wenig fördern würden, wenn wir mit einem ungewissen und zaghaften Herzen handeln wollten, eben so strafbar würden wir sein, wenn wir mit dem Geiste Gottes ausgerüstet und erfüllt mit Kraft aus der Höhe noch warten wollten, und der innern Stimme Widerstand leisten, wie jener Prophet, der nicht vorwärts wollte als ihn der Herr trieb, und eben deswegen gestraft wurde von dem unvernünftigen Wesen unter ihm. Das ist das einzige Zeichen, welches der Herr giebt, an seiner Kraft erkennen 34 wollte] so SAr 109, Bl. 16r; Textzeuge: wals 6–9 Vgl. Apg 2,13–17 (mit Zitat nach Joel 3,1 [alternative Zählung: 2,28]) 25 Vgl. 2Kor 12,9 33–35 Vgl. Num 22,18–27. Dass hier Bileam gemeint sein muss, erhellt die Parallele in Schleiermachers Drucktext (s.o.), wo die Passage inhaltlich korrigiert wird.
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wir ihn und an der Zuversicht, die an diese Kraft gebunden ist. In der sollen wir handeln, dann aber auch seiner Kraft gewiß sein, denn der Herr verläßt sein Werk nicht, sein ist es denn, was er aus demjenigen machen will, was seine Diener in seiner Kraft thun, und gefällt es ihm nicht das Werk zu krönen, so wissen sie doch, daß sie im Stande sind Rechenschaft abzugeben von dem, was er ihnen | gegeben und anvertraut hat; so wissen sie doch, daß sie nicht werden vor ihm erscheinen als solche, die das köstliche Pfund, welches er ihnen verliehen, vergraben haben statt es zu gebrauchen. Und so, m. g. F., wird gewiß das Werk eines jeden Christen, der manches Gute und Schöne vor sich sieht, aber wozu er sich in dem ersten Augenblick noch nicht stark genug fühlt und noch nicht gerüstet genug in seiner Seele, wenn er nur wartet auf die Kraft aus der Höhe und dann frisch und unverzögert daran geht, so wird das Werk eines jeden gekrönt werden. Ist es eine Stimme Gottes gewesen, die ihn zum Warten aufgefordert hat, o so nehme er seine Zuflucht zu der Quelle, aus welcher alle Kraft fließt zu dem Geiste Gottes, der in der Gemeine der Gläubigen waltet, und so wird er sich ermannen und früher oder später aber nicht lange nach diesen Tagen wird sein Herz voll werden der festen Zuversicht, und dann mag auch er sich sagen, daß seine Stunde gekommen sei. Der Herr aber, m. g. F., der bestimmt was für Frucht ein jeder tragen soll. Wenn das Werk des | Einen hundertfältig gedeiht und das Werk des Andern zehnfältig und das Werk des Andern dreifältig, so mag der Eine wie der Andere ihn loben und preisen. Denn er hat allein das Maaß in seiner Hand und leitet Alles, sein ist das Werk, er wird es hinausführen; er ruft seine Diener um sie, wenn sie über Weniges getreu gewesen sind, über Vieles zu setzen. Amen.
[Liederblatt vom 30. Mai 1824:] Am Sonntage Exaudi 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Gott des Himmels etc. [1.] Dankt dem Herrn, ihr Gottesknechte, / Kommt erhebet seinen Ruhm! / Das erlösete Geschlechte / Ist und bleibt sein Eigenthum; / Jesus Christus ist noch heut, / Gestern und in Ewigkeit. // [2.] Segnend walten nun die Hände / Eures Gottes euch zum Heil; / Seine Liebe sonder Ende / Reichet jeglichem sein Theil. / Er bleibt allen zugewandt, / Die durch Christum ihn erkannt. // [3.] Haltet nur in allen Dingen / Euch nach unsres Gottes Treu; / Laßt euch 8–9 Vgl. Mt 25,18.24–27; Lk 19,20–23
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nichts zur Freude bringen, / Eh euch unser Gott erfreu! / Und betrifft euch Schmerz und Noth / Christus fleht für euch zu Gott. // [4.] Alle die auf Menschen bauen, / Gehn zu Grund’ in ihrem Wahn; / Nur die unserm Gott vertrauen, / Wandeln auf der sichern Bahn. / Christi Jüngern wird bekannt / Gottes Hülf’ und starke Hand. // [5.] Danket Gott, ihr Gottesknechte! / Kommt, erhebet seinen Ruhm! / Du erlösetes Geschlechte, / Weih dich ihm zum Eigenthum! / Jesus Christus bleibet heut, / Gestern und in Ewigkeit. // Nach dem Gebet. – Mel. O du Liebe meiner etc. [1.] Herz und Herz vereint zusammen, / Suchet Ruh in Gottes Herz, / Lohnt mit reiner Liebe Flammen / Eures Heilands Lieb’ und Schmerz. / Er das Haupt, wir seine Glieder, / Er das Licht, wir dessen Schein; / Er der Meister, wir die Brüder: / Er ist unser, wir sind sein. // [2.] Kommt des Gottesreiches Kinder, / Und befestigt euren Bund! / Schwöret Treu dem Ueberwinder / Allesammt aus Herzensgrund! / Und wenn noch dem Kreis der Liebe / Festigkeit und Stärke fehlt: / Fleht bis durch des Geistes Triebe / Er des Bundes Kette stählt. // [3.] Solche Liebe nur genüget, / Wie in seinem Herzen wohnt, / Die dem Kreuz sich willig füget, / Die auch nicht des Lebens schont. / So wollt Er für Sünder sterben, / Und für Feinde floß sein Blut; / Allen soll sein Tod erwerben / Ewgen Lebens höchstes Gut. // [4.] Darum, treuster Freund, vereine / Deine dir geweihte Schaar, / Daß sie sich so herzlich meine, / Wie dein lezter Wille war! / Jeder reize stets den Andern, / Helfe gern mit Rath und That, / Dir, o Heiland, nachzuwandern / Des Gehorsams selgen Pfad. // [5.] Der du deiner Schaar geboten, / Daß sie Liebe üben soll, / Wehre sie, weck’ auf die Todten, / Mach die Trägen geistesvoll! / Laß uns so vereinigt werden, / Wie du mit dem Vater bist, / So daß auf der ganzen Erde / Kein getrenntes Glied mehr ist. // [6.] So wird dein Gebet erhöret, / Durch den Sohn sind alle frei, / Und die Welt wird recht belehret / Wie dein Reich so selig sei. / Preis dem Vater aller Geister, / Der in dir erschienen ist, / Preis dir, unserm Herrn und Meister, / Der du alle nach dir ziehst. // Nach der Predigt. – Mel. Seelenbräutigam etc. [1.] Herr, du gingst voran / Auf der Leidensbahn; / Und wir wollen nicht verweilen, / Dir getreulich nachzueilen. / Hin zum Vaterland / Leit uns deine Hand. // [2.] Soll es hart ergehn: / Hilf uns feste stehn! / Daß wir nie in schweren Tagen, / Unterm Kreuze muthlos klagen; / Denn durch Trübsal hier / Geht der Weg zu dir. //
Am 6. Juni 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Pfingstsonntag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 16,12–15 Nachschrift; SAr 87, Bl. 76r–88v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 283r–292r; Andrae Nachschrift; SAr 63, Bl. 19r–21r; Woltersdorff Liederangabe (nur in SAr 105)
Erster Pfingsttag 1824.
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Johannes XVI, 12–15. Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jezt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht von ihm selbst reden, sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist wird er euch verkündigen. Derselbige wird euch verklären, denn von dem Meinen wird er es nehmen und euch verkündigen. Alles was der Vater hat das ist mein; darum habe ich gesagt, er wird es von dem Meinen nehmen und euch verkündigen. M. a. F., Als an dem Tage der Pfingsten das Volk sich versammelte um die Apostel und die andern Khristen her, welche von dem Feuer | des Geistes gehoben und erfüllt waren, und sich nun wunderten der Dinge die da geschahen, da führte der Apostel Petrus sie zurük auf eine alte Weissagung und sprach: das ist es was geschrieben stehet, was schon 1 Erster Pfingsttag 1824.] Ergänzung von Schleiermachers Hand; ursprünglich lautete die Überschrift wohl wie in SAr 105, Bl. 283r: Frühpredigt am ersten Pfingsttage 1824. (Lieder 171, 1–8; 184, 8 und 9). 0 SAr 105, Bl. 283r: „Lieder 171, 1–8; 184, 8 und 9“. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, „Gott Vater! sende deinen Geist“ (Melodie von „Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn“); „O theurer Tröster, heilger Geist“ (Melodie von „Komm heilger Geist“). 1 Die Überschrift ersetzt das ursprüngliche Titelblatt, welches wohl durch die Lieferung der im Konvolut ehemals vorangehenden Predigt (vgl. oben 30. Mai vorm.) an die Setzerei verlorenging. 12–2 Vgl. Apg 2,1–17 (mit Zitat aus Joel 3,1 [alternative Zählung: 2,28])
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jener alte Prophet gesagt hat „in den lezten Tagen will ich von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch“. Er konnte nicht anders als auf ein Wort des alten Bundes sie zurükführen, denn was der Herr gesagt hatte, das hatten sie theils nicht gehört, theils nicht verstanden. Wir aber um diese göttliche Gabe recht zu begreifen, um uns auch unseres Antheils an derselben zu erfreuen, wir gehen wohl zunächst auf die Worte des Erlösers selbst zurük, und solche haben wir nun eben gelesen. Der Apostel Johannes | hat uns in seinem Evangelio in den lezten Reden des Herrn mit seinen Jüngern ehe er in die Hände seiner Feinde übergeben ward, vieles aufbehalten von den Verheißungen, die er seinen Jüngern gab über den Geist, der über sie sollte ausgegossen werden. Die Worte die wir eben gelesen haben, sind die lezten, welche in diesen Reden vorkommen, und worin der Herr gleichsam alles was er zerstreut vorher gesagt hat, noch einmal zusammenfaßt. In jenen Worten des alten Propheten, m. g. F., da können wir uns leicht denken, wie jenem alten Seher war offenbart worden die ganze Zeit des neuen Bundes, und sich ihm nicht unterschieden hatte, was der der da kommen sollte, selbst ist und was nach ihm | der Geist, den der Vater senden würde in seinem Namen, beginnen und ausrichten sollte, uns aber unterscheidet sich beides, und es ist für uns in diesen festlichen Tagen gewiß eine der wirksamsten Betrachtungen, daß wir uns das Verhältniß zwischen dem Erlöser und dem göttlichen Geist, zwischen dem was jener gethan und dem was jenem obliegt, deutlich zu machen suchen, um uns ganz der göttlichen Gabe zu freuen. Dazu laßt uns nun die verlesenen Worte jezt mit einander benuzen. Der Herr sagt hier, „ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jezt nicht tragen, wenn aber jener kommen wird, der Geist der Wahrheit, der wird euch dann in alle Wahrheit leiten.“ Früher | als er zu seinen Jüngern redete von seinem baldigen Hinscheiden und wie ihr Herz würde betrübt werden, wenn er würde von ihnen genommen sein, sagte er zu ihnen: „ich will aber den Vater bitten, und er soll euch einen andern Tröster geben, der bei euch bleibe ewiglich.“ Dort also sagt er, sie bedürften noch eines Andern außer ihm, hier verweiset er sie ebenfalls von sich als der ihnen jezt noch nicht Alles sagen konnte, was sie wissen mussten, auf den Andern, den er nennt den Geist der Wahrheit. Wie stimmt nun aber das, m. g. F., mit demjenigen was der Herr selbst sonst von sich sagt, daß ihm alle Macht gegeben sei, daß von ihm alles Heil ausgehe was seine Jünger mit | einem so starken Glauben sagen und immer wiederholen, daß in keinem Andern Heil zu 18 senden] so SAr 105, Bl. 284v; Textzeuge: finden 31–32 Vgl. Joh 14,16
39–1 Vgl. Apg 4,12
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finden, und kein Anderer Name den Menschen gegeben sei? War er nicht zulänglich, daß sie noch eines Andern warten mußten? hatten sie nicht genug an ihm, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte? Er führt aber den Grund an, warum sie noch eines Andern bedürften, indem er sagt, er hätte ihnen zwar noch vieles zu sagen, jezt aber könnten sie es nicht tragen. Deswegen also bedurften sie eines Andern, weil was in dem kurzen Zeitraum der irdischen Erscheinung des Erlösers er ihnen noch hätte sagen können, sie noch nicht zu tragen vermochten. Wir können aber nicht anders denken, m. g. F., als daß in den Worten des Erlösers, | die ihm der Vater gegeben für das verlorene Menschengeschlecht, alles auf das genaueste zusammenhängt; konnten sie das Eine noch nicht tragen, so konnten sie auch nicht das Uebrige verstehen, festhalten und sich auch nicht vollkommen aneignen, und waren und blieben also in jeder Hinsicht bedürftigt. Darum sagte er, daß sie noch eines Andern bedürften, und daß er den Vater bitten werde, ihn zu senden in seinem Namen. Wollten wir nun vorwizig fragen, m. g. F., also wenn sie nur schneller hätten fassen und begreifen können, wenn dem Erlöser länger vergönnt gewesen wäre unter ihnen zu bleiben, so lange unter ihnen zu bleiben bis sie Alles zu tragen vermochten, was er auf dem Herzen hatte, dann würden sie genug gehabt haben an | ihm und an sich selbst, und dann würden sie dieser großen göttlichen Gabe des heiligen Geistes nicht bedurft haben. Diese Frage, wenn wir sie uns beantworten wollen, so scheinen wir bald zu dem Einen bald zu dem Andern getrieben zu werden: Wohl sind wir geneigt zu denken, es muß nur an der Unfähigkeit der Menschen gelegen haben, daß sie an dem Erlöser selbst und an seiner göttlichen Erscheinung nicht genug hatten, bald mögen wir denken, was wäre es doch gewesen, wenn sie des göttlichen Geistes nicht in ihrem Innern wären theilhaftig geworden. Aber, m. g. F., das führt uns eben darauf, in wiefern Eins etwas Anderes ist oder Beides dasselbige. Der Erlöser selbst führt uns darauf in jenen Worten, wo er zu den Jün|gern sagt, „ich will euch einen andern Tröster geben.“ Ein Anderer war es also, indem er aber sagt, „einen andern Tröster“, so schreibt er sich schon dasselbe Amt zu, was jener ausrichten sollte, denn der Geist wäre nicht ein anderer Tröster gewesen, wenn dies nicht auch wäre der Erlöser gewesen. Und, m. g. F., was anders war wohl sein ganzes Amt und sein ganzes Geschäft auf Erden? Zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel war er ge14 bedürftigt] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, 21796, Sp. 1355 bleiben, so lange] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 285v 3 Vgl. Kol 2,9
31–33 Vgl. Joh 14,16
18–19 unter ihnen zu
37–1 Vgl. Mt 15,24
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sandt, zu den Kranken nicht zu den Gesunden, zu den Sündern, nicht zu den Frommen, und zwar zu denen die sich so fühlten, die des Trostes bedürftig waren, die sich verloren glaubten, die sein göttliches Dasein zu ihrem Heil erkannten, die seine gött|liche Sendung aufnahmen. Und was that er anders als die mühseligen und geschlagenen Herzen bei sich einzuladen, damit sie bei ihm Ruhe fänden, und diese beruhigende Kraft ist die des Trostes. Es ist also dasselbe Geschäft, welches er angefangen hatte, und welches der Tröster, den der Vater seinen Jüngern senden würde in seinem Namen, fortsezen sollte. Hätten sie also ihn ganz vernehmen können und alles aus seiner göttlichen Fülle sich aneignen, dann würden sie eines Andern nicht bedurft haben. Aber hätten sie dann nicht wirklich den Geist Gottes in sich gehabt? Denn wenn sie noch bedürftig gewesen wären, so hätten sie an dem Herrn nicht genug gehabt. Sein Trost muß|te also ganz der ihrige werden, seine beruhigende Kraft mußte sich in ihre Seele senken, erfüllt mußten sie werden von dem, was er so lange er lebte den Menschen gesagt hatte, und wären sie voll davon gewesen, so wären sie auch voll gewesen des heiligen Geistes. Denn konnten sie gleich noch nicht alles tragen, hatten sie gleich noch nicht alles vernommen und gehört: was sie hatten von dem Erlöser, was ihr Eigen geworden war, das war auch schon die Gabe des Geistes in ihnen. Das Zeugniß giebt ihnen ja der Herr selbst, als er zu ihnen sagte, wenn sie ihn erkenneten für den Sohn des lebendigen Gottes, so wäre das die Offenbarung des Vaters in ihnen. So trugen sie also die göttliche Kraft, die | das Heil erkannte, in sich, und was anders ist die Gabe des Geistes als dies? Nur also allmälig würden sie aus den Worten des Erlösers immer mehr den Geist geschöpft und in sich aufgenommen haben, nicht nöthig hätten sie gehabt eines besondern Erfülltwerdens mit Kraft aus der Höhe in einem eigenen von Gott besonders erwählten wunderbaren Augenblik, sondern was da plözlich in ihnen gewirkt ward, das hätte das Wort des Erlösers allmälig in ihnen hervorgebracht, aber die Wirkung wäre dieselbe gewesen. Hätten sie das was er ihnen sagte aus der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, in sich aufgenommen, so wäre es ebendasselbe gewesen und geworden, was sie | erfüllte als die Stunde kam, da seine Verheißung in Erfüllung ging. So erklärt sich auch der Erlöser in den Worten unseres Textes darüber, indem er sagt: „von dem Meinigen wird er es nehmen, und wird es euch geben, nicht wird er von sich selbst reden, sondern von dem Meinigen wird er es nehmen, 1 Sündern, nicht] Sündern nicht, 1 Vgl. Lk 5,31 Kol 2,9
25 dies?] dies.
5–6 Vgl. Mt 11,28–29
22–24 Vgl. Mt 16,16–17
32–33 Vgl.
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und euch verkündigen.“ Also was sie jezt noch nicht tragen konnten, das sollte er ihnen geben, was jezt noch nicht fest und unerschütterlich in ihnen war, sondern worüber ihre Seele noch schwankte, das sollte er ihnen klar machen und in ihnen befestigen, aus dem Schaze des Herrn es nehmend und ihn verklärend, welches ja nichts anderes heißt als sein Geschäft an sie in ihnen weiter fördern. Aber freilich der Herr hätte ja nicht Recht gehabt zu sagen, | daß sie noch nicht Alles zu tragen vermöchten, was er in sich und auf dem Herzen hatte, und was er so gern zu ihnen reden möchte, wenn er ihnen schon Alles gesagt hätte, was der Geist ihnen verklären sollte. Darum erklärt er auch jene Worte „von dem Meinigen wird er es nehmen und euch verklären“, durch die folgenden, „Alles was der Vater hat, das ist mein, darum sage ich, von dem Meinen wird er es nehmen und euch verkündigen.“ Wenn er aber sagt „Alles was der Vater hat ist mein“, so will er eben damit sagen, wie er es an andern Stellen ausdrükt, daß der Vater ihm Alles gezeigt und gegeben habe, daß Alles was Gott dem menschlichen Geschlecht zu sagen und zu lehren habe, alle | Kräfte womit er es ausrüsten wolle, wirklich in ihm waren, nur daß er in der kurzen Zeit seines irdischen Lebens nicht vermochte es ihnen wiederzugeben auf eine solche Weise, daß sie es wirklich empfangen und festhalten konnten. Wenn nun auch die Kraft des Geistes, die über sie gekommen war, manches in ihnen als wahr deutlich machte, so daß es in kräftigen Worten hervortrat worauf sie sich nicht besinnen konnten es von dem Erlöser selbst gehört zu haben, so war es doch von dem Seinigen, es war nichts Eigenes und Neues. Und das ist eben die genaue Verbindung zwischen dem Werke des Herrn und dem Werke seines Geistes, daß Alles was jemals und in alle Zukunft hinaus der göttliche Geist in dem menschlichen Geschlecht | als göttliche Wahrheit offenbaren wird, nichts dem Erlöser Fremdes, nichts sein kann, was in seiner Seele nicht gewesen wäre, sondern Alles von seinem Eigenthum genommen. Das aber, m. g. F., das müssen wir nicht nur seinen Worten glauben, sondern es soll in uns selbst unmittelbare Wahrheit sein. Ja was seit jenem heiligen Tage der göttliche Geist die ersten Verkündiger des Khristenthums gelehrt hat, wenn wir auch nicht sehen, daß dasselbe schon in der Lehre des Herrn enthalten ist, was wir in den Schriften seiner Apostel finden, wenn sie sich auch nicht bewußt waren dasselbe von ihm gehört zu haben, so verklärte ihnen dennoch der Geist den Erlöser indem sie es aufnahmen, und sie mußten es wissen, und wir können es | auch wissen und können es in der Schule des göttlichen 30 genommen] so SAr 105, Bl. 288v [vgl. Joh 16,14.15]; Textzeuge: gewonnen 15–16 Vgl. Joh 3,35; 5,20
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Geistes immer mehr lernen, daß Alles was wir als sein Wort finden, welches der Geist in den Jüngern des Herrn geredet hat, auf das genaueste zusammenhängt mit dem, was der Herr selbst in den Tagen seines Fleisches geredet hat. Und so ist das Werk der Erlösung und das Werk der Erleuchtung des menschlichen Geschlechts, welches beides wir nicht von einander trennen können, Eins und dasselbige, was er angefangen hat, das hat sein Geist vollendet, aber nichts hinzugethan, sondern Alles nur von dem Seinigen genommen. Darum, m. g. F., wenn der Herr sagt „mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden“, so ist das dassel|bige was er hier sagt „in mir ruht alle Wahrheit, welche Gott durch seinen Geist dem menschlichen Geschlecht ertheilen kann.“ Denn sein Reich war ja ein Reich der Wahrheit, und er weiß von keiner andern Gewalt, will auch keine andere üben, und keine andere in seinem Namen geübt haben als die Gewalt der Wahrheit. Nur indem ihm alle Wahrheit gegeben war, war ihm auch alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden, und indem der göttliche Geist es aus dem Schaze seiner Wahrheit nahm und seinen Jüngern verklärte, so nahm er es auch von seiner Macht und theilte es ihnen mit. Und das, m. g. F., ist nun freilich noch ein anderer eben so wichtiger Theil dieses großen | Geschäftes des göttlichen Geistes. Wie hier der Herr vorzüglich davon redet, in wiefern es eine Erleuchtung sein soll der noch nicht ganz von der Kraft der Wahrheit durchdrungenen und erfüllten Seelen, so sagt er an einem andern Orte von eben denselben Tagen, sie würden angethan werden mit Kraft aus der Höhe, und das Licht, welches der göttliche Geist in ihren Seelen anzünden sollte würde in ihnen ein Tag werden, wodurch sein Licht in die dunklen Seelen ausgegossen und das göttliche Feuer der Liebe in die erkalteten und verstokten Herzen dringen würde. Auch diese Kraft war keine andere als die Kraft des Erlösers, in welchem die göttliche Liebe | gleichsam verkörpert auf Erden erschienen war, und in dem sich die Liebe des Vaters offenbart hatte, so daß sie dieselbe aus seinem ganzen Leben, aus seinem Leiden und Tode, der für sie starb als sie noch Sünder waren, erkannten, wie sie aus keinem Andern konnte erkannt werden. Diese Kraft der Liebe goß er in ihre Seelen, gab sie ihnen nicht bloß als sein Gebot, sondern erfüllte sie damit, und wollte sie immer mehr damit erfüllen. Und was hieß es auch anders wenn er sagt, er sei der Weinstok und sie die Reben, die Kraft, die göttliche Kraft des Weinstoks müßte sie durchdringen als die Kraft seines Daseins, sonst könnten sie keine Frucht bringen. Was war aber | die Kraft seines Daseins anders als die Kraft der Liebe? Von der sollen wir erfüllt werden, die sollen wir 9 Vgl. Mt 28,18 23–24 Vgl. Lk 24,49 36–39 Vgl. Joh 15,4–5
34–35 Vgl. Joh 13,34; 15,12; 1Joh 3,23
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über Andere ergießen, und das ist die Erregung des göttlichen Geistes in uns, das ist die Mittheilung des göttlichen Geistes durch ihn, das ist die Kraft aus der Höhe mit der die Jünger angethan wurden, die aber nichts war als die Kraft des Erlösers. Wie war denn nun der göttliche Geist ein anderer Tröster? War es eine andere Kraft? Nein dieselbe göttliche Kraft. War es ein anderes Geschäft? Nein dasselbe Geschäft das Göttliche zu vereinigen mit der menschlichen Natur, diese wieder aufzurichten und zu einer höhern Stufe des geistigen Lebens zu erheben, dessen wir nur fähig | waren dadurch, daß das Wort erschien und Fleisch ward. Der einzige Unterschied aber ist der, in der Person des Erlösers und so lange er auf Erden lebte, da war diese Fülle der Gottheit mit der menschlichen Natur vereinigt in einer einzelnen menschlichen Erscheinung. Als der Herr zu seinen Jüngern sagte, „ich will den Vater bitten, und er soll euch einen andern Tröster geben“, da hätten sie leicht glauben können, er verweise sie auf eine andere ähnliche menschliche Erscheinung, die eben so äußerlich vor ihnen stehen sollte und das vollenden, was er begonnen hatte. Aber so verstanden sie ihn nicht, durch vielfältige andere Worte und durch den Glauben, daß nach ihm kein Anderer zu erwarten sei, gekräftigt | und versichert, sondern als sie angethan wurden mit Kraft aus der Höhe, als die Kraft des Geistes über sie kam, da fühlten sie das sei die Verheißung, die der Herr ihnen gegeben, da fühlten sie den kräftigen allgewaltigen und allgegenwärtigen Tröster in sich, da fühlten sie das in sich lebendig und klar, was ihr Herr und Meister ihnen hatte geben wollen, aber was sie noch nicht hatten tragen können. Was Anders ist es also, wodurch er vor uns steht und in uns ist, in uns allen die göttliche Kraft ist, die in dem Erlöser war, die wir aber nur besizen in ihm und durch ihn, die wir nur besizen als ein gemeinsames Gut, welches wie damals auch jezt noch ausgeht von seinem Wort; denn der Glaube kommt durch die Predigt, und | die Predigt kommt durch das Wort, die Predigt aber ist keine andere als die von dem Fleisch gewordenen Wort, die Predigt von ihm und über ihn. So ist das Wort des Erlösers und der göttliche Geist in uns Eins und dasselbige. Darum auch nach diesen Reden, aus welchen die Worte unseres Textes genommen sind, wo der Herr in seinem lezten Gebet Gott Rechenschaft ablegt von seinem Geschäft und ihm seine Jünger empfiehlt und befiehlt, da lesen wir nichts ausdrüklich und buchstäblich von dem Geist, den sie noch empfangen sollten, er bringt nicht für dieses Erfülltwerden vom Geiste eine Bitte vor seinen Vater, aber wohl die Bitte, 39 Bitte vor] Bitte, vor 14–15 Vgl. Joh 14,16 30–31 Vgl. Röm 10,17 3 Vgl. Joh 17,21–23.26
35–37 Vgl. Joh 17,1–26
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daß sie sollten Eins sein mit ihm, wie er Eins war mit seinem himmlischen Vater: „Sie in mir und ich in ihnen, | wie Du in mir und ich in Dir.“ Daß er also in uns ist, daß wir durch die Kraft seines Wortes die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, in uns aufnehmen und dies als Eins und dasselbe gedenken, daß wir ausgerüstet werden mit Kraft aus der Höhe, und daß er unter den Seinigen gegenwärtig ist auf eine geistige Weise bis an das Ende der Tage, und daß der Geist Gottes nicht aufhören wird in der Gemeine des Herrn zu walten, sie zu leiten und zu trösten und immer mehr die Schönheit und Herrlichkeit in ihr zu verklären, die ihr gebührt, weil sie der Leib des Herrn ist, der sie als das Haupt von oben herab regiert, das Alles ist nicht verschieden, sondern Eins und dasselbige. | Und wie könnte auch das Werk des Erlösers schöner und herrlicher vollendet werden als dadurch, daß die Fülle der Gottheit wie sie in dem Erlöser war als er auf Erden wandelte, nun wohnt in der Gemeine seiner Gläubigen. Das ist das heilige Vermächtniß, welches er den Seinigen hinterlassen hat, das ist das Band, womit er sie verbindet, denn nur in der Gemeinschaft bleiben wir des göttlichen Geistes theilhaftig, und in diesem Einen Geist des Glaubens und der Liebe, können wir den rechten Segen des Höchsten erfahren. Und so wollen wir denn untereinander verbunden bleiben durch die Kraft des Geistes, und dadurch des himmlischen Trostes voll, und in unserem Glauben immer stärker und in unserer Liebe immer kräftiger werden. Amen.
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6–7 Vgl. Mt 28,20
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Am 7. Juni 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Pfingstmontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 2,14–21 Nachschrift; SAr 87, Bl. 89r–105r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 292v–304r; Andrae Nachschrift; SN 621/4, Bl. 10v–13r; Crayen Nachschrift; SAr 63, Bl. 22r–24v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am zweiten Pfingsttage 1824. |
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Tex t. Apostelgeschichte II, 14–21. Da trat Petrus auf mit den Elfen, hob auf seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, lieben Männer, und alle die ihr zu Jerusalem wohnet, das sei euch kund gethan, und laßt meine Worte zu euren Ohren eingehen. Denn diese sind nicht trunken wie ihr wähnet, sintemal es ist die dritte Stunde am Tage. Sondern das ist es, daß durch den Propheten Joel zu vor gesagt ist: Und es soll geschehen in den lezten Tagen, spricht Gott, ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch, und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Ältesten sollen Träume haben, und auf meine Knechte und auf | meine Mägde will ich in denselbigen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen, und ich will Wunder thun oben im Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut, und Feuer, und Rauchdampf; die Sonne soll sich verkehren in Finsterniß und der Mond in Blut, ehe denn der große und offenbarliche Tag des Herrn kommt; und soll geschehen, wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll selig werden. M. a. F., Um der versammelten Menge das zu erklären, was sie schauten, worüber sie sich staunend verwunderten, und wie es den leichtsinnigen Kindern der Welt oft ergeht, es ungleich und verkehrt auslegten, 6 eingehen] so SAr 105, Bl. 293r; Textzeuge: hingehen Textzeuge: gesezt
8 gesagt] so SAr 105, Bl. 293r;
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Am 7. Juni 1824 vormittags
weiset der Apostel sie hin auf ein altes | Wort der Weissagung, und führt ihnen zu Gemüthe, wie das die Erfüllung desselben sei. In diesem Worte sehen wir dann auch abgespiegelt, was uns die vorhergehende Erzählung von den wunderbaren Begebenheiten jenes Tages sagt. Aber indem der Apostel sich auf den Propheten beruft, und dies alles rechnet zu der Ausgießung des Geistes, welchen der Herr verheißen habe für die lezten Tage, was dringt sich uns da für eine Frage auf? Sind diese Zeiten der Ausgießung des Geistes noch unter uns? Sie müßten es ja wohl eben deswegen weil der Apostel diese Zeiten wo der Geist Gottes werde ausgegossen sein über alles Fleisch, die lezten Tage nennt. Hätte der Herr ihn wieder weggenommen, | so wären die Tage seiner Ausgießung seiner heilsamen und wunderbaren Gegenwart nicht die lezten gewesen. Und dennoch was uns die Erzählung, was uns die bildlichen Aussprüche der Propheten Wunderbares sagen, das ist aus unserer Mitte verschwunden. Wenn wir nun demohnerachtet den Glauben festhalten sollen, daß es die lezten Tage sind, der lezte Zeitraum des menschlichen Geschlechts, in welchem auch wir leben, und daß also der Geist Gottes, einmal ausgegossen in diesen lezten Tagen, auch wirksam bleiben muß bis an das Ende, so müssen wir nothwendig zu unterscheiden wissen, was in dieser Ausgießung des Geistes das Wesentlichste ist – denn das muß bleiben – und was das Vor|übergehende war, denn das darf auch nur ein Zufälliges sein, über dessen Vorübergehen wir uns müssen trösten, wenn wir das Wesentlichste behalten. Darüber wollen wir also in der gegenwärtigen festlichen Stunde näher mit einander nachdenken, indem wir zuerst auf das zurükgehen, was wir in jener Erzählung von den denkwürdigen Tagen der Pfingsten finden, und was jezt in der khristlichen Kirche nicht mehr zu finden ist, dann aber zweitens auch auf das Wesentliche und Bleibende unser Augenmerk richten. I. Wenn wir fragen nach den wunderbaren Zeichen und Gaben, durch welche sich der Geist Gottes als er ausgegossen ward über die | Jünger des Herrn, verkündigte, so dürfen wir nicht grade bei diesem Tage stehen bleiben, wie alle Nachrichten der Apostelgeschichte von dem, was sich in den ersten Anfängen der khristlichen Kirche begeben, zeigen uns die Fortdauer dieser wunderbaren Erscheinung, alle Schriften der Apostel sind noch voll von den Spuren derselben, und mehr oder minder glaubwürdige Nachrichten führen uns dies herab durch meh10 Tage] Tagen 3–4 Vgl. Apg 2,1–13
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rere Jahrhunderte bis es uns endlich anfängt zu verschwinden. Da finden wir als eine Gabe des Geistes die Gabe gesund zu machen. Petrus und Johannes gingen hinauf in den Tempel, Gold und Silber hatten sie nicht zu geben, aber im Namen Jesu von Nazareth sprachen sie zu den Leidenden | und Elenden: stehe auf und wandele, und es geschahe; im Namen Jesu von Nazareth verrichteten sie solcher Thaten eine Menge, so daß uns erzählt wird, die Menschen hätten die Kranken und Elenden nur zu bringen gesucht wenigstens unter den Schatten der Apostel, daß er sie beschiene, und sie wären gesund geworden. Da sehen wir als eine Gabe des Geistes die Gabe der Weissagung. Einer erscheint und sagt vorher eine große Hungersnoth, die sich begeben werde über das ganze jüdische Land; voll Glaubens an das Wort des Geistes beeilen sich die Khristen ihr Scherflein zusammenzutragen, um wenn die Noth kommen werde den Leidenden beizustehen, und sie kommt und der Trost ist bereit durch | jene Kraft des Geistes. Da erscheint einer und verkündigt dem reisenden Apostel und sagt: also wird diesem Manne geschehen, wenn er kommen wird in die Hauptstadt des jüdischen Landes, und die weissagenden Töchter des Evangelisten wiederholen ihm in der Nähe der Hauptstadt dieselbe Weissagung; er aber gebunden im Geist geht hin, und es geschieht wie ihm gesagt worden war. Da finden wir als eine Gabe des Geistes unmittelbar an jenem Tage und oft wiederholt auch die Gabe der Sprachen, ungeübte Zungen in fremden und ungewohnten Tönen sprechen begeisterte Reden aus, und preisen die großen Thaten Gottes, und der Geist ist es | der so aus ihnen redet. Alles das, m. g. F., ist jezt in der khristlichen Kirche verschwunden, wir sind gewiesen an die gewöhnlichen Kräfte der Natur und an das, was menschliche Erfahrung von einem Geschlecht zu dem andern fortpflanzt und bereichert, um die Leiden des Lebens und die Krankheiten des Leibes zu lindern, wir sind gewiesen an die gewöhnliche an die natürliche Gabe der menschlichen Klugheit aus dem Gegenwärtigen hier und da wiewohl nur unsicher zu errathen das Zukünftige, aber wie jenes ein Werk der Kunst ist und nicht des Geistes, so ist dies ein Werk der Klugheit und der Berechnung, aber nicht mehr die Gabe der Weissagung. Und eben so ist es freilich der Eifer für | das was jeder sucht, wonach er strebt, wovon er andere 3 Gold] auch SAr 105, Bl. 295r; Textzeuge: Geld 5 es] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 295r 8 nur zu bringen] so SAr 105, Bl. 295r; Textzeuge: umzubringen 14 Leidenden] so SAr 105, Bl. 295r; Textzeuge: Leiden 26 Kirche] Kirche, 32 errathen] so SAr 105, Bl. 296r; Textzeuge: verrathen 2–5 Vgl. Apg 3,1.6–8 20 Vgl. Apg 21,8–14
7–9 Vgl. Apg 5,15 10–14 Vgl. Apg 11,27–30 21–25 Vgl. Apg 2,1–11
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Menschen überzeugen möchte, was die Kraft der Sprache in ihm entwikelt, aber eben auf dieselbe Weise, eben unter derselben Gestalt eben mit demselben Grade der Kraft und der Anmuth dient sie auch andern und nicht immer den besten menschlichen Bestrebungen, wie sie auch der Sache des Geistes dient. Es ist also die Kunst der Sprache, es ist die natürliche Gabe der Wohlredenheit, aber nicht mehr die Gabe des Geistes. Wo, m. g. F., wo sind also diese himmlischen Zeichen hingeschwunden? Sind wir es weniger würdig, daß sich die Kraft Gottes so noch unter uns offenbart, oder wie sollen wir es verstehen, daß unsere Tage nicht mehr sind wie | jene? Zuerst, m. g. F., laßt uns nur das festhalten, daß eben diese Gaben wie das Vorübergehende so auch nur das Zufällige waren. Denn bald und auch schon unsere heiligen Schriften geben uns Zeugniß darüber, bald wurden mancherlei Mißbräuche getrieben mit demjenigen, was ursprünglich eine himmlische Gabe des Geistes gewesen war, mit der Gabe der Sprachen, mit der Gabe der Gesundheit wurde nun Eitelkeit getrieben, Einer wollte es zuvorthun dem Andern. Wie kann nun das, worüber der Apostel schon die Gemeine zu Korinth schilt und sie ermahnt, daß sie sich reinigen sollte von solchen Untugenden, und ihr zu Gemüthe führt, daß die Sprachen untergehen werden und daß die Weissagungen untergehen werden, | wie kann das das Wesentliche gewesen sein in jener Ausgießung des Geistes? Sondern so, m. g. F., müssen wir es verstehen. Die Wundergaben der Apostel stammten einer Seits her von der Kraft, die in der Person des Herrn unseres Erlösers gewesen war, er hatte sie ihnen übermacht, sie waren eine Fortsezung, ein Nachhall von der seinigen, von seiner Kraft durchdrungen, in seinem Namen handelnd vermochten sie es, aber es hing zusammen nicht mit seiner eigentlichen geistigen Gegenwart unter uns, sondern mit der leiblichen Gegenwart, durch welche sie ihm waren verbunden gewesen; mit dieser zugleich konnte es denn allmälig auch sich verlieren und verschwinden, schwächer ging es über von den Aposteln | auf ihre Schüler, und verlor sich allmälig in der großen Ausdehnung der Khristen[.] Aber der Herr hatte nicht mit Zungen geredet, diese Gabe der Sprachen die kam erst über die Jünger an dem Tage der Pfingsten, sie war also eine neue und eigenthümliche Aufregung durch den Geist, durch die Kraft aus der Höhe, mit welcher sie ausgerüstet waren, die durchdrang ihre Natur, und durchbrach die Schranken derselben auf mancherlei Weise. Aber wenn der Geist die verborgenen Tiefen der Natur aufgeregt hat auf eine Weise, die wir nicht zu begreifen vermögen, die wir aber auch nicht leugnen können, dann kann das was sich einmal in der menschlichen Natur entwikelt hat, auch ein Natürliches fortfahren zu sein, gelöst 17–19 Vgl. 1Kor 12,28–31
19–21 Vgl. 1Kor 13,8
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von dem Zusammenhange | mit dem Geist, der es ursprünglich gewirkt hat, und dann können sich die Schattenbilder wunderbarer Thaten wiederholen auch in befangenen, auch in eitlen, auch in kleinlichen und irdischen Gemüthern, die von dem Geiste wenig, von den natürlichen Wirkungen desselben aber viel in sich tragen. Darum auch jezt noch, wenn sich ähnliche Erscheinungen unter uns erneuern, so fragen wir nun nach uns verborgenen aber natürlichen Kräften, wir suchen den Zusammenhang derselben zu erspähen aber in den Grenzen der Natur, wir suchen ihre Grenzen und ihren Umfang zu erforschen, aber indem wir uns darauf besinnen und darauf anwenden, wie ein Natürliches in das andere eingreift, bald helfend und unterstüzend, | bald begrenzend und störend, und nicht mehr wagen wir es wenn dergleichen unter uns erscheint, es eben wie damals der unmittelbaren Wirksamkeit des göttlichen Geistes zuzuschreiben. Und wenn auch ungewöhnliche geistige Erscheinungen mit ungewöhnlichen Entwiklungen der Natur zusammen sind, so fühlen wir uns gebunden unter jene Worte der Schrift, welche uns ausdrüklich zu jenem Behuf gegeben sind, „prüfet die Geister, ob sie von Gott sind oder ob nicht“. Wenn dem nun so ist, so wollen wir uns trösten, daß dies Vorübergehende in den Wirkungen des Geistes wie sie sich in jenen Tagen, wie sie sich in den nächsten Jahrhunderten der khristlichen Kirche offenbart haben, daß dies | vorübergegangen ist und nicht mehr da. Als etwas Zufälliges sah es auch der Apostel an, dessen Worte unsere Betrachtung leiten. Denn wenn er das, was damals Wunderbares geschahe, hätte für das Wesentliche in dieser Ausgießung des Geistes gehalten, so hätte er nicht die Stelle jenes Propheten anführen können; denn die versammelte Menge ergoß sich freilich in begeisterte Lobreden über die großen Thaten Gottes, die er verrichtete durch sein Kind Jesum; und diese begeisterten Reden sie waren auch gewiß der Weissagung nahe und mit derselben vermählt, aber Gesichte sah keiner, und daß es nicht Träume seien, dagegen vertheidigt ja der Apostel die Anwesenden. Und Zeichen | am Himmel wurden nicht erblikt, die Sonne verkehrte sich nicht in Finsterniß und der Mond nicht in Blut und kein Feuer und Rauchdampf erfüllte die geistige Wirkung, die der Herr übte. Wäre also das das Wesentliche, so hätte der Apostel die Weissagung unrichtig angewendet. Aber das führt uns nun auf den zweiten Theil unserer Betrachtung, auf die Frage, was ist denn nun das Wesentliche, welches also auch das Bleibende sein muß. 11 eingreift] so SAr 105, Bl. 297v; Textzeuge: einzieht 18 Vgl. 1Joh 4,1
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II. Womit schließt der Apostel jene Anführung der Worte des alten Propheten? Begonnen hatte er sie mit der Stelle, „Und es wird geschehen, in den lezten Tagen werde ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch“; und er be|schließt sie mit der Stelle: „und es wird geschehen, wer den Namen des Herrn anrufen wird, der wird selig werden.“ Und nicht sollen wir beides von einander trennen, sondern beides auf das unmittelbarste verbinden. Das ist die Ausgießung des Geistes, das ist sein bleibendes und wesentliches Werk, daß wer durch ihn den Namen des Herrn anruft, der wird selig werden. Ja, m. g. F., durch ihn und nur durch ihn vermögen wir den Herrn so anzurufen, daß wir selig werden. Denn wie der Apostel sagt: „niemand kann Jesum einen Herrn heißen, denn nur durch den heiligen Geist,“ und wie derselbe Apostel sagt „wir haben den Geist der Kindschaft, welcher in uns ruft lieber Vater,“ | so ist er es durch den und in dessen Kraft wir den Namen des Herrn anrufen, und deß werden wir alle Zeugniß geben müssen, wenn wir jemals aus der Tiefe unseres Herzens den Namen des Herrn angerufen haben, wenn er jemals unserem Innern nahe und gegenwärtig gewesen ist, so ist das die Regung und das Werk seines Geistes in unserem Herzen. Wenn der Apostel sagt: das wird geschehen in diesen lezten Tagen der Ausgießung des Geistes, daß über alles Fleisch er sich verbreiten wird, und auch allerlei Seelen ohne Unterschied anderer menschlichen Verhältnisse, die den Namen des Herrn anrufen, werden die Seligkeit in ihrem Herzen erfahren: was sagt uns der | Herr? „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig.“ Der Glaube kommt aus der Predigt, und die Predigt ist das Werk des Geistes; getauft werden wir zur Gemeinschaft in dem Bund der Liebe, der erlösenden Liebe des Herrn, und diese Gemeinschaft ist das Werk des Geistes. So sind wir Viele Ein Leib, so und nicht anders als weil wir Eines Geistes theilhaftig 22 auch] aus 25–1 Der Glaube ... geworden sind.] SN 621/4, Bl. 11v: Und wie der Glaube kommt aus der Predigt seines Wortes, so ist die Taufe der Bund der Gemeinschaft an diesem göttl[ichen] Worte – in welchem der Geist ruhet und daraus wirckt; – und Beides ist wiederum das Werck des Geistes der da zeuget: daß Christus der H[err] sei – der da ist erhöhet zur Rechten des Vaters als unser Haupt die wir sind die Glieder seines geistigen Leibes. Und weil er denn nun über uns Allen ausgegossen hat von diesem seinem Geist – und in so fern wir denn nun Alle genommen haben aus dieser seiner göttl[ichen] Fülle – so sollen denn nun auch wir Alle ein Leib sein durch ihn und in ihm – der uns Allen geworden ist das Brod das vom Himmel kommen ist, und der unversiegbare Quell des lebendigen Waßers – das da einfließt in das ewige Leben [vgl. Joh 4,14; 6,51] – und aus Welchem wir miteinander schöpfen sollen, als Brüder, diese Krafft der lebendigen Liebe mit welcher er uns geliebt hat. 12–13 1Kor 12,3 Röm 10,17
13–14 Vgl. Röm 8,15
24–25 Mk 16,16
25–26 Vgl.
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geworden sind. Dieses Anrufen des Namen des Herrn in der Kraft des Herrn, diese Seligkeit im Glauben und in der Liebe, das, m. g. F., das ist das große Werk der Pfingsten, das ist die ewig bleibende Segnung, für welche wir bei jeder solcher Feier Gott eine neue Dankbarkeit darbringen. So haben es auch die Jünger | des Herrn angesehen, und ihr Wort steht da um es zu beweisen. So außer dem Apostel, in dessen Worten wir es unmittelbar lesen, der Apostel Paulus, welcher also redet, daß die Sprachen aufhören werden, und die Weissagung aufhören wird, und daß Erkenntniß aufhören wird, und die Gabe gesund zu machen aufhören wird, aber Glaube, Liebe und Hoffnung, diese drei werden bleiben. So sagt er: befleißiget euch der köstlichsten Gaben, aber ich will euch noch einen köstlicheren Weg sagen, sorget dafür daß ihr Liebe habt, sonst seid ihr mit allen andern Gaben des Geistes nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. So auch der Jünger, der an der Brust des Herrn lag, was empfiehlt | er den Khristen, die er seine Kinder nennt auf jeder Seite seines herrlichen Briefes? Das neue Gebot, daß sie sich unter einander lieben sollen, so wie der Herr sie geliebt hat. Ja, m. g. F., mögen denn alle jene andern Gaben verschwunden sein, mögen wir mit allem, was wir gern thäten in dem Dienste des Herrn, mit unserer innigen Sehnsucht uns selbst ihm zum Opfer darzubringen, gewiesen sein in die Grenzen der gewöhnlichen Natur, und keine außerordentliche und unmittelbare Erscheinungen uns mehr Zeugniß geben von dem Walten des Geistes, wir haben diesen Geist in uns, wenn er es ist, der lieber Vater aus uns ruft, wenn er es ist, der uns in dem Glauben den Sieg giebt, welcher die Welt überwindet, wenn durch seine | Kraft die Liebe Khristi uns also dringt, wie sie jenen großen Apostel gedrungen hat unter aller Noth der Erde und unter allen Beschwerden und Versuchungen ihm überall zu leben, und nach der Förderung seines Reiches zu trachten. Darin, m. g. F., darin sind wir selig, und diese Seligkeit ist die wahre Gewährleistung dafür, daß der Geist Gottes auch in unseren Tagen noch ausgegossen ist über alles Fleisch. Der Glaube, der in uns ruft lieber Vater, der ist es auch welcher uns lehrt, daß denen die Gott lieben alle Dinge zum Besten dienen müssen, und so sind wir durch die Kraft des Geistes froh und kindlich ergeben bei allem, was Gott über uns verhängt hat. Die Liebe welche der Herr uns geboten hat, | welche uns unter einander verbindet auf 3 Segnung] so SAr 105, Bl. 299v; Textzeuge: Regung 11 köstlichsten] so SAr 105, Bl. 300r; Textzeuge: köstlichen 24 lieber Vater aus uns ruft, wenn er es ist, der] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 300v 7–11 Vgl. 1Kor 13,8.13 11–14 Vgl. 1Kor 12,31–13,1 16–18 Vgl. Joh 13,34; 15,12; 1Joh 3,23 25 Vgl. 1Joh 5,4 33–34 Vgl. Röm 8,28
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die heiligste Weise, daß wir zu Hilfe kommen in der Kraft des Geistes überall der menschlichen Schwachheit, daß wir uns unter einander stärken und erbauen, daß jeder sich freut über die Gaben, die Gott dem Andern verliehen hat, und über die Werke, die er durch Andere ausrichtet, diese Liebe, m. g. F., in deren Kraft Alles unser ist und uns Alles gehört was der Geist Gottes in dem ganzen Umfange des menschlichen Geschlechts bewegt und wirkt, sie ist unsere Seligkeit, sie ist es, in deren Kraft wir durch den Tod hindurchgedrungen sind und im Glauben das ewige Leben schon hier haben. Und wo anders her? Nicht aus der Kraft der menschlichen Natur, | sondern des höhern Geistes, den Gott ausgegossen hat über diejenigen, welche glauben an den Namen seines Sohnes. Darum, m. g. F., jene schöne Verheißung, mit welcher der Apostel seine Rede an das versammelte Volk schließt, „thut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu zur Vergebung der Sünden, so werdet auch ihr empfahen die Gabe des heiligen Geistes,“ diese ist es, worauf unser Vertrauen ruht und unsere Gewißheit, daß auch wir dieses Geistes theilhaftig sind. Wer in Schmerz über die Sünde zerknirscht und gedemüthigt Vergebung gesucht hat in dem Namen Jesu, wer sich an ihn angeschlossen hat und in seine und der Seinigen Gemeinschaft aufgenommen ist durch den lebendigen Glauben | daran, daß er der Sohn Gottes sei, der Inhaber aller Worte des Lebens, der empfängt auch die Gaben des Geistes, diese Gaben die uns allein durch die Seligkeit der Kinder Gottes, durch die Freiheit der Kinder Gottes, durch die Zuversicht der Kinder Gottes über Alles erheben, dem sonst die Menschen, die vergänglichen Söhne der Erde unterworfen sind, wenn es ihnen an dem höhern Geiste fehlt. Aber, m. g. F., nicht fehlen uns auch die Gaben des Geistes, und nicht bleibt er bloß in dem einzelnen Herzen verschlossen um es in seiner innersten Tiefe zu beseelen. Nein wie er nur ein gemeinsames Gut aller Khristen ist, so auch spricht er sich aus und tritt laut und kundbar in ihre Mitte, und nicht anders als damals auch. Ja, m. g. F., | wenn wahre khristliche Liebe die Lagerstätte unserer Kranken und unserer Sterbenden umgiebt, wenn der freundliche Eifer und der gefällige Dienst khristlicher Wohlthätigkeit ihre Leiden zu lindern sucht, wenn das Liebe strömende Herz sie von dem Zeitlichen auf das Ewige zu führen und durch die Freuden des Geistes und des Glaubens sie zu erheben sucht über das, was das irdische Leben ihnen Schmerzhaftes giebt und noch Schmerzhafteres droht, o dann erfahren wir was der Apostel Jakobus sagt, daß das Gebet des Gerechten viel vermag, o dann schenkt uns der Herr die Freudigkeit der gläubigen Seele zum schönen Lohn der Liebe, dann wird der Schmerzvolle getragen über die Leiden der Erde hinaus in die 13–16 Apg 2,38
38–39 Vgl. Jak 5,16
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Freuden des ewigen Lebens. O welche schöne und herrliche Gabe | gesund zu machen! Wenn es unter den Verwirrungen des Lebens oft scheinen will, als laufe das Reich Gottes Gefahr, als sollten uns seine besten Schäze geraubt, seine edelsten Kräfte geschwächt werden, wenn die Dunkelheit hereinbrechen will in das Gebiet des khristlichen Lebens und es scheint als wenn das Licht sich zurükzöge, o dann versammeln sich die Geister der Gläubigen im Gebet, dann öffnen sich uns die verschlossenen Tiefen des göttlichen Wortes, dann tritt der Erlöser in unsere Mitte und ruft uns zu: meinen Frieden gebe ich euch, nicht gebe ich euch wie die Welt giebt, meinen Frieden gebe ich euch und lasse euch; in der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden, o dann leuchtet es hell in unserer Seele, daß auch | die Pforten der Hölle nicht werden überwältigen können die Gemeine, die der Herr gepflanzt, dann werden wir voll Hoffnung, daß alle Feinde immer mehr werden überwunden werden und zu den Füßen dessen liegen, der erhöhet ist zur Rechten Gottes, und der Tod in seiner trüben Gestalt wenn auch als der lezte Feind weichen wird müssen dem Leben, dem Leben des Glaubens und der heiligen Liebe, dem Leben der Freiheit der Kinder Gottes. O welche herrliche Gabe der Weissagung! was könnte uns fehlen wenn diese noch unter uns ist. Und wenn der Eifer eben die Seligkeit, die uns geworden ist weiter zu verbreiten über das menschliche Geschlecht die Diener des Herrn hinaus treibt über die gewöhnlichen Grenzen | ihres Berufs, wenn die geistige Verbindung unter den Menschen, die entstanden ist theils aus natürlicher Wißbegierde, theils aus Bewegungen eines immer weiter getriebenen Eigennuzes und einer niedern Gewinnsucht, wenn diese benuzt werden zu dem Dienste des Herrn in Sprachen, die bisher nur gewesen sind, der Siz eines dunklen und finstern Aberglaubens, oder nur gedient haben den niedern Bedürfnißen oder dem gewöhnlichen Verkehr der Menschen wenn diese das Wort des Herrn hören, wenn sie hören die Töne des Glaubens an den, in dessen Namen allein Heil ist, 2–12 Wenn es unter ... überwunden,] SN 621/4, Bl. 12v: Und, wenn es Zeiten giebt, wo, unter den Verwirrungen des Erdenlebens es uns scheinen will: als laufe das Reich Gottes Gefahr unterzugehen auf Erden – wenn da die Gläubigen Deßen einmüthiglich sich versammeln – der da gesagt hat: „Fürchte dich nicht du kleine Heerde – denn es ist das Wohlgefallen meines Vaters im Himmel, Dir das Reich zu lassen!“ [vgl. Lk 12,32] und wir nun so untereinander und miteinander uns trösten aus seinen kräfftigen Worten und Verheißungen – ist es da nicht als träte er selbst mitten unter uns, und hauchte seinen Frieden auch uns ein – den Frieden den die Welt nicht uns geben – aber auch nicht uns nehmen kann! und als spräche er auch zu uns: „In der Welt zwar habt ihr Angst – aber fürchtet euch nicht – denn ich habe die Welt überwunden!“ 29 nur gedient] so SAr 105, Bl. 303r; Textzeuge: unverdient 9–11 Vgl. Joh 14,27 11–12 Joh 16,33 1Kor 15,25–26; Hebr 10,12–13
13–14 Vgl. Mt 16,18
14–18 Vgl.
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wenn sie aufgefordert werden sich der ewigen Liebe hinzugeben, und in dem Sohne, den Vater zu erkennen, o welche herrliche, welche wundersame Sprache ist das. Wohlan, m. g. F., so läßt | sich also der Herr auch unter uns nicht unbezeugt, so waltet und weht sein Geist Einer und derselbe jezt wie immer, und einmal ausgegossen über alles Fleisch wird er seine Regungen nicht wieder zurükziehen. Weihen wir uns denn immer mehr zu einem Tempel in welchem er wohnen kann, und lassen ihn uns immer mehr verklären in das Bild dessen, aus dessen Fülle wir alles nehmen, um uns zu erbauen, um uns immer mehr zu verbinden zu einer lebendigen und seligen Gemeinschaft, auf daß da sei Ein Herr, Ein Gott, Ein Glaube, Eine Taufe, Eine Liebe, Ein Geist. Amen. Gebet. Ja heiliger gnädiger Gott und Vater, der Du Dich unter uns nicht unbezeugt lässest, und auch uns mit|getheilt hast den Geist Deines Sohnes, durch den wir Dich anrufen als Deine Kinder, o was wollten wir noch von Dir begehren, da wir dieser großen Gabe sind theilhaftig geworden. Nur Dank und Preis und Lob für Dein Erbarmen und für Deine Gnade entströme unseren Lippen und die Eine Bitte, zu erhalten was Du gegeben hast und es unter uns immer noch zu mehren[.] Aus deiner Kraft und aus dem Leben Deines Wortes strömt der Geist immer mehr in die Herzen der Menschen ein, und indem er uns immer mehr verklärt in Deinem Sohn und aus uns ruft lieber Vater. So mögen wir denn immer inniger geweiht werden in die Gemeinschaft, der uns Dein Sohn empfohlen hat, auf daß Du mit ihm kommest Wohnung zu machen in unserem Herzen. Amen.
[Liederblatt vom 7. Juni 1824:] Am zweiten Pfingsttage 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Nun komm der Heiden etc. [1.] Geist vom Vater und vom Sohn, / Weihe dir mein Herz zum Thron! / Schenke dich mir immerdar, / So wie heut der frommen Schaar. // [2.] Geist 6 Regungen] Kj Segnungen (SAr 105, Bl. 303v: Satzungen) Bl. 304r; Textzeuge: in denen 10–11 Vgl. Eph 4,4–6
26–27 Vgl. Joh 14,23
23 indem] so SAr 105,
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der Wahrheit, leite mich! / Eigner Wille täuschet sich, / Daß er leicht des Ziels verfehlt, / Und statt Heil sich Unglück wählt. // [3.] Geist des Trostes! tröste mich / Durch dein Zeugniß innerlich; / Wenn mir mein Gewissen droht, / Hilf mir aus der Seelennoth. // [4.] Geist des Betens! steh mir bei, / Wenn ich um Errettung schrei. / Mach’ mein Bitten freudig rein: / So wird’s auch erhörlich sein. // [5.] Geist der Heiligung verklär’ / Jesum in mir mehr und mehr! / Mindre stets, was mich befleckt; / Mehre was du selbst erweckt. // [6.] Geist des Glaubens! stärk’ in mir / Solchen Glauben für und für, / Der mich Christo einverleibt, / Und zu guten Werken treibt. // [7.] Geist der Lieb’! erweck’ in mir / Guter Gaben Füll’ und Zier, / Daß ich hülfreich mild und treu / Deiner Gnade Werkzeug sei. // [8.] Geist der Hofnung! rufe du / Meiner Seel ermunternd zu; / Daß ich deiner stets mich freu, / Und in Hofnung selig sei. // Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Ihr Christen rühmt erhebt und preiset / Aus einem Herzen, einem Mund, / Die Gnade, die der Herr erweiset / In seinem neuen ewgen Bund. / Er tränkt mit Himmelskraft die Seelen, / Und gießt den Geist der Kindschaft aus; / Zum Tempel will er sie erwählen, / Und weihen sie zum Gotteshaus. // [2.] Der Heiland strömt auf seine Glieder / Das Salbungsöl, die Feuertauf, / Bringt die zerstreuten Seelen wieder / Aus der verworrnen Welt zu Hauf. / Er schreibt des Himmelreichs Geseze / Mit Gotteskraft den Seelen ein, / Und schlingt um sie der Liebe Neze, / Mit ihm Ein Geist und Leib zu sein. // Chor. Auf, auf ihr Herzen und ihr Zungen, / Verkündigt Gottes hohen Ruhm! / Sein Name werde stets besungen, / In seinem heilgen Eigenthum. / O daß ein Geist des Lebens wehe, / Und was nur Athem hat erfüll’; / Daß alle Welt die Wunder sehe, / Die Gott in Christo schaffen will! // In den lezten Tagen, spricht der Herr, will ich ausgießen von meinem Geist über alles Fleisch; und eure Söhne und Töchter sollen weissagen. // Drei Stimmen. Komm hernieder heilger Gottesgeist, / Erfüll die Herzen deiner Gläubigen, / Und zünde das Feuer der reinen Lieb’ in ihnen an. // Chor. Ihr waret weiland Finsterniß; nun aber seid ihr ein Licht in dem Herrn. Wandelt wie die Kinder des Lichts. // Gemeine. [3.] Im Geiste laßt uns Pfingsten halten, / Geheiligt werde unser Sinn! / Denn ließen wir die Sünde walten, / Wo bliebe dann des Heils Gewinn? / Wir müssen neu geboren werden, / Das Christi Geist auch in uns leb’ / Und unser Sinn schon hier auf Erden / Durch himmlisch Thun zum Himmel schweb. // Nach der Predigt. [4.] Laß, Jesu, nichts in uns vermindern / Des Glaubens hohe Zuversicht; / O mach uns ganz zu Gottes Kindern / Durch deines Geistes Kraft und Licht! / O zünde deine reine Liebe / In unser aller Seelen an, / Und schaffe, daß mit heilgem Triebe, / Was lebt, dich ewig lieben kann. //
Am 13. Juni 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 5,16–23 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 331–346; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 139r–147v; Saunier, in: Schirmer Nachschrift; SAr 63, Bl. 25r–28r; Woltersdorff Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am Sonntage Trinitatis 1824.
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Tex t. Joh. 5, 16–23. Da sie nun aber Jesum verfolgten, weil er solches gethan hatte auf den Sabbath, antwortete er ihnen und sprach, Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch. Darum trachteten ihm die Juden nun vielmehr nach, daß sie ihn tödteten, daß er nicht allein den Sabbath brach, sondern sagte auch, Gott sei sein Vater und machte sich selbst Gott gleich. Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen, Warlich, warlich ich sage euch, der Sohn kann nichts von ihm selbst thun, denn was er sieht den Vater thun; denn was derselbe thut, das thut gleich auch der Sohn. Der Vater aber hat den Sohn lieb, und zeigt ihm alles, was er thut, und wird ihm noch größere Werke zeigen, daß ihr euch verwundern werdet. Denn wie der Vater die todten auferwekkt und macht sie lebendig, also auch der Sohn macht lebendig, welche er will. Denn der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohne gegeben, auf daß sie alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat. | 332
M. a. Fr. Der Evangelist Johannes erzählt gewöhnlich von den wunderbaren Thaten des Erlösers vorzüglich nur um der Reden willen, welche sich an solche Thaten knüpfen, und welche aus ihrem Zusammenhange herausgerissen nicht hätten können verstanden werden; das ist dasjenige, wodurch er sich in dieser Hinsicht sehr merkwürdig von den andern Evangelisten unterscheidet. So auch jene Begebenheit von dem 24–2 Vgl. Joh 5,1–15
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acht und dreißigjährigen kranken, den Christus heilte an dem Teiche Bethesda, hat er vorzüglich erzählt um dieser Rede willen, die sich an jene Handlung knüpfte, und die sich durch dieses ganze Capitel des Evangeliums hindurchzieht. Den Anfang derselben haben wir jezt mit einander gelesen und werden diese Worte auch eben nur verstehen können, wenn wir auf den Zusammenhang Achtung geben, in welchem der Erlöser sie gesprochen hat. Er hatte jenen kranken geheilt am Sabbath; das machten ihm die Juden zum Vorwurf, verfolgten ihn und, wie es im sechzehnten Verse heißt, suchten ihn zu tödten, weil er solches gethan hatte auf den Sabbath. Er aber antwortete ihnen, Mein Vater wirkt bisher, und ich wirke auch. Das Gesez des Sabbaths in dem alten Bunde, welches ihnen eine gänzliche Ruhe von aller Arbeit befahl, stand im Zusammenhange mit dem, was im Anfange der heiligen Schriften des alten Bundes von der Schöpfung gesagt wird, welche nämlich beschrieben wird, als habe Gott der Herr sie vollbracht in sechs Tagen, und wo bei solchen Abschnitten allemal bemerkt wird, Da ward aus Abend und Morgen der erste, zweite oder dritte Tag u. s. w., und dann wird gesagt, am siebenten Tage aber habe Gott geruht. Hierauf bezieht sich nun als auf den Grund dieses Gesezes | das erste Wort des Herrn, Mein Vater wirkt bisher, und ich wirke auch, und er will damit ganz gewiß sagen, daß eben jenes nur eine Darstellung nach menschlicher Weise gewesen sei, daß in Wahrheit aber die Wirksamkeit des allmächtigen Gottes auf die Welt bei ihrem Entstehen und in der Welt bei ihrer Fortdauer auf eine solche Weise als ein Gegensaz und Wechsel zwischen Thätigkeit und Ruhe nicht könne oder dürfe gedacht werden; sondern, sagt er, Wie mein Vater ununterbrochen wirkt bis jezt, so wirke ich auch ohne Aufhören und kann in meiner eigenen Wirksamkeit einen solchen Gegensaz zwischen Thätigkeit und Stillstand nicht anerkennen, wie es unmöglich, wenn die Welt fortbestehen soll, einen Stillstand des göttlichen Handelns geben darf. So waren nun aber auch von dem Geseze des Sabbaths selbst und von der Ruhe, die in dieser Zeit geboten war, die Werke der Noth und die Werke der Liebe – Werke der Noth sind aber auch Werke der Liebe – ausgenommen, die Liebe aber ist die eigentlich göttliche Thätigkeit in dem Menschen. Für diese also war in dem Gesez auch kein Stillstand geboten und gesezt, sondern es galt nur für diejenigen 15–19 Vgl. Gen 1,1–31 19–20 Vgl. Gen 2,2–3 33–36 Zu der Frage, ob am Sabbat Heilungen erlaubt seien, gab es unterschiedliche Lehrmeinungen. Vgl. dazu Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, edd. Strack / Billerbeck, Bd. 1, 1922, S. 622–629.
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Werke des Menschen, welche seinen irdischen Geschäften angehören und in der gewöhnlichen irdischen Sorge begriffen sind und eben deshalb eine Aehnlichkeit mit der göttlichen Wirksamkeit nicht haben. Es steht daher auch dies, daß der Herr auf solche Weise nicht nach seinem eigenen Urtheil und Gefühl, sondern nach dem minder gereinigten seiner Zeit, das Gesez des Sabbaths löste und brach, nicht im Widerspruch mit dem, was er anderwärts sagt, Ich bin nicht gekommen das Gesez aufzulösen, sondern zu erfüllen und zu vervollständigen, und so vervollständigt er es auch hier durch seine Erklärung, indem er sagt, Meine ganze Wirksamkeit auf Erden ist nicht so in die Schranken der menschlichen | Sorge und der irdischen Geschäfte eingeschlossen, sondern weil sie ganz eine göttliche ist, auf nichts anderem beruhet als auf dem großen Werk der Erlösung und der Wiederbringung des menschlichen Geschlechts, so gestattet und erfährt sie auch eben so wenig eine Unterbrechung und einen Stillstand, als die göttliche schaffende und erhaltende Thätigkeit einen solchen erleiden kann. Was aber, m. g. Fr., folgt wol daraus nun zunächst für uns, die wir nun freilich nicht sagen können, daß unsere ganze Thätigkeit eben so wie die des Erlösers eine göttliche sei und an dem irdischen keinen Theil habe? Sollen wir nun sagen, daß wir, was er hier gethan und gesagt hat, auf uns nicht anwenden können? Dann würden wir den Worten widersprechen, welche er anderwärts und zu wiederholtenmalen gesagt hat, daß wie ihn der Vater gesandt habe, so sende er seine Jünger. Wir sollen also auch jene unsere Thätigkeit eben so nach der seinigen und nach dem Wesen derselben einrichten, wie er sagt in den Worten unseres Textes, daß alle seine Thätigkeit der Thätigkeit seines Vaters ähnlich sei und ihr folge. Es verhält sich aber damit so, daß auch unsere irdische Thätigkeit allzumal soll geheiligt sein und immer mehr eine geistige und göttliche werden, indem wir alles, was wir thun, wie auch der Apostel die Christen ermuntert, zur Ehre Gottes thun sollen, auch das was seinem oberflächlichen Ansehn nach nur ganz in das Gebiet der irdischen Bedürfnisse und der irdischen Sorgen gehört. Darum soll auch für uns ein solcher Unterschied zwischen Tagen des Werks und der Arbeit und zwischen Tagen des Sabbaths und der Ruhe nicht sein, sondern wie wir leztere vorzüglich der Stärkung und Erhöhung des geistigen Lebens widmen, und alles, was sich darauf bezieht, ein eigenthümliches Geschäft derselben sein soll, so sollen doch die Tage des irdischen Werks und der irdischen Arbeit keinesweges ein Ruhen sein von jener | höhern Thätigkeit, es soll eben so wenig unser Leben einen solchen Gegensaz haben, es soll alles ein ruhiges 7–8 Vgl. Mt 5,17
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Werk des Sabbaths sein, es soll alles zur Ehre Gottes gethan, es soll alles in Beziehung auf das Reich des Erlösers gesezt werden, und so unser ganzes Leben sich immer mehr in ein gleichförmiges gestalten, in allen Zeiten ohne Unterschied von demselben Geist geleitet, zu demselben Zwekke benuzt, auf das Eine, was allein noth thut, Bedacht darin genommen werden. Und dann werden auch wir gewiß sagen können, wie der Vater bisher wirkt ununterbrochen, wie der Erlöser bisher wirkt ununterbrochen, so wirken auch wir in der Aehnlichkeit mit der göttlichen Thätigkeit und in dem lebendigen Bewußtsein, dessen wir uns dann werden getrösten können, daß wir nicht nur in den Tagen des Sabbaths, nicht nur da, wo wir uns zur Förderung des geistigen Lebens, welches wir allein von dem Erlöser haben, zur Auffrischung seines Bildes in unserem innern und zur Betrachtung seines Worts mit einander versammeln, sondern auch in den Tagen des Werks und der Arbeit, je mehr wir alles darin auf das geistige richten, seiner Wirksamkeit, der himmlischen und geistigen, uns erfreuen, und dieselbe in unserm innern erfahren werden. Wie erging es aber dem Erlöser, als er das gesagt hatte? Der Evangelist erzählt uns, Nun hätten die Juden ihm noch viel mehr nachgetrachtet, daß sie ihn tödteten, weil er nicht allein den Sabbath brach, sondern auch gesagt, Gott sei sein Vater und sich also Gott gleich gemacht habe. So ging es ihm also; indem er das, was er gethan, vertheidigen und rechtfertigen wollte, so zerfiel er durch seine Vertheidigung immer mehr mit den Menschen, die das erste nicht verstanden. Das war also auch sein Ergehen in der Welt, wie es denn natürlich ist. Wenn die Menschen einmal von ganz entgegengesezten Ansichten ausgehen und in dem Grunde ihres innern ganz von einander abweichen, so muß auch, indem sie sich gegen ein|ander zu erklären suchen, das Mißverständniß immer größer werden, und der Zwiespalt, der in dem innern schon herrscht, auch äußerlich in seinem ganzen Umfange sich darstellen. Es wird also auch uns, in wie fern wir in einem ähnlichen Gegensaz sind mit vielen Menschen unserer Zeit, wie der Erlöser mit den obersten unter seinem Volk, es wird auch uns nicht anders ergehen können, als es ihm ergangen ist. Haben sie einmal den innersten Grund des christlichen Glaubens und des christlichen Lebens nicht, so werden wir auch, wenn wir das einzelne aus diesem Grunde zu rechtfertigen suchen, dies immer nur wenig vermögen, aber immer mehr wird dagegen das an das Licht treten, was uns von ihnen und sie von uns scheidet. Der Erlöser ließ sich aber dadurch nicht irre machen, wie gefährlich es sich auch anließ, daß sie suchten ihn zu verfolgen und zu tödten, 36 zu] zn
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und daß, je mehr er sich vertheidigte, um so mehr ihre Feindschaft gegen ihn wuchs. Er scheute weder das Volk, noch diejenigen, mit denen er es unmittelbar zu thun hatte. Er scheute das Volk nicht, denn er wußte, daß seine Stunde noch nicht gekommen war, wiewol er das wußte, was ihm bevorstand. Er scheute die Leiter des Volks nicht und hörte nicht auf ihnen die Rechenschaft abzulegen, die er ihnen schuldig zu sein glaubte über die lezten und innersten Gründe seines Thuns, ohnerachtet er wußte, daß sie ihn weder verstehen würden, noch annehmen, was er ihnen von Gott sagte, denn ihm war nicht verborgen, was in dem Herzen des Menschen ist; aber er hörte nicht auf ihnen diese Rechenschaft abzulegen, weil es zu seinem Berufe gehörte, weil er ihnen dadurch den Vater kund zu machen suchte, zu dem er sie führen wollte, weil das Heil, welches er ihnen zu bringen bestimmt war, von seiner Erkenntniß abhing, und weil er suchen mußte ihnen dasselbe auf jede Weise zu geben. Und auch darin, m. g. Fr., können und sollen wir ihm und nur ihm nachfolgen. Auch wir sollen nie, wenn es darauf ankömmt, den innern Grund unsers Glaubens und Lebens den | Menschen kund zu thun und ihnen Rechenschaft zu geben von der Hoffnung die in uns ist, je mehr sich auch die Menschen gegen dasjenige sezen, was wir lieben und suchen, je mehr sie auch alle Macht und Gewalt, die ihnen zu Gebote steht, anwenden und anwenden möchten, um uns in der Förderung des Reiches Gottes zu stören, nie sollen wir aus Scheu vor dem Erfolg das unterlassen, was wir als den göttlichen Willen erkennen, denn es kann uns nichts anderes begegnen, als was die göttliche Allmacht und die göttliche Weisheit für das beste hält, was in dem ewigen Willen dessen, dem wir uns zu Dienern und Werkzeugen begeben, gegründet ist, und was zur Förderung seines Reiches gehört, worauf sich alle seine gnädigen und weisen Absichten mit uns beziehen. Wollen wir aber die Hand an den Pflug legen und dann wieder zurükksehen, so würden wir nicht tüchtig sein zum Reiche Gottes. Wie nun bei den Worten des Herrn, Mein Vater wirkt bisher, und ich wirke auch, seine Zuhörer eine Ahndung hatten davon und sie mußten zurükkgeführt werden darauf, daß er sich in ein eigenthümliches besonderes Verhältniß zu Gott seze, und deswegen noch mehr ihn zu verfolgen suchten, ja sogar zu tödten, weil er Gott in einem besonderen Sinne seinen Vater nannte und sich Gott gleich machte: so fährt er nun fort, ungestört durch den Eindrukk, den diese Worte auf sie gemacht hatten, in Beziehung auf die That, um derentwillen sie ihn verfolgten, er fährt weiter fort, sich gegen sie zu erklären und seine That zu rechtfertigen, aber immer so, daß er von diesem besondern Verhält9–10 Vgl. Joh 2,25
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niß zwischen sich selbst und Gott ausgehet, und so, wie er sich in einem ganz vorzüglichen Sinne den Sohn Gottes und Gott seinen Vater nennt, er fährt also fort, Warlich, warlich ich sage euch, der Sohn kann nichts von ihm selbst thun, denn was er siehet den Vater thun, denn | was derselbige thut, das thut gleich auch der Sohn; der Vater aber hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er thut, und wird ihm noch größere Werke zeigen, daß ihr euch verwundern werdet. Wie jene Worte, Mein Vater wirkt bisher, und ich wirke auch, auf jene alttestamentarische Erzählung von der Geschichte der Schöpfung und also auf die schaffende und erhaltende Wirksamkeit Gottes auf die ganze Welt zurükkgehen: so müssen wir auch diese Worte des Erlösers an jene anknüpfen und daraus zu verstehen suchen. Zweierlei muß uns darin besonders auffallen und merkwürdig sein. Zuerst daß der Erlöser sagt, Der Sohn kann nichts von ihm selbst thun, denn was er siehet den Vater thun; was aber der thut, das thut gleich auch er. Er will nämlich durch das erste zeigen, daß indem er auftrat, um ein neues Reich Gottes auf Erden zu stiften, in den Gesezen, nach welchen er dabei handelte, in der Grundlage, worauf er jenes Reich erbauen wollte, nichts willkührliches sei, sondern daß das Reich, welches er stiften wollte, das Reich der Gnade, in dem unmittelbarsten Zusammenhange stehe mit dem allgemeinen Reich Gottes, mit dem Reiche der göttlichen Macht, mit dem ganzen Umfange der schaffenden und erhaltenden Kraft des Allerhöchsten, und daß es dieselben Geseze seien, nach welchen der Vater die ganze Welt leitet und regieret, die der Sohn in dem geistigen Reiche, welches er unter dem menschlichen Geschlecht zur Ehre seines himmlischen Vaters gründen wollte, befolge, daß beides eins und dasselbe sei, daß das eine, das eben erst entstehende und besondere, nur das reine Abbild jenes allgemeinen sei. Das hängt nun genau damit zusammen, wie uns die Schrift den Sohn beschreibt als das Ebenbild des göttlichen Wesens und den Abglanz seiner Herrlichkeit. Nun kennen wir aber | das göttliche Wesen nicht anders als nur, indem wir sein wahrnehmen an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; die göttliche Macht, wie sie in ihrem innersten Grunde darauf beruht, daß sich der Höchste offenbaret, um seine Liebe zu verherrlichen an seinen Geschöpfen: das ist das göttliche Wesen selbst. Wie wir nun Gott nicht anders als in der liebevollen Ausübung seiner Macht kennen, so ist auch das Wesen des Sohnes nichts anders als die liebevolle Gewalt, die er über die Menschen ausübt, um 36 Geschöpfen: das] Geschöpfen. Das 30–32 Vgl. Hebr 1,3
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sie in das Reich Gottes zu führen und dabei zu erhalten, und beides stellt er uns hier dar als eins und dasselbige, das Walten des Höchsten und die ewige Offenbarung seiner Macht durch seine Liebe auf der einen Seite, und das Schauen der göttlichen Wege und Werke in dem Sohne auf der andern Seite, beides als eins und dasselbige und in dem genauesten Zusammenhang stehend. Alle Willkühr, alles eigene Thun und Treiben ist ganz ausgeschlossen von dem Sohne; er ist auf der einen Seite ganz versenkt in die Betrachtung Gottes, wie er ihn immer gegenwärtig hat und immer erfüllt ist von dem Bewußtsein, daß er in dem Vater ist und der Vater in ihm, aber auf der andern Seite immer begriffen in dem Ausströmen dieser Fülle seiner göttlichen Kraft auf die Menschen; und beides ist nicht verschieden, sondern eins und dasselbige, wie auch in Gott die ewige Fülle seines Wesens, seiner Macht und seiner Liebe und das Ausströmen seiner Macht auf die Welt und auf das menschliche Geschlecht, die Offenbarung seiner ewigen Kraft und Herrlichkeit eins und dasselbige ist. In diesem Sinne sagt Christus, daß er nichts von sich selbst thue, daß keine Willkühr sei in seinem Handeln und in den Gesezen, die er selbst hervorbringe und befolge bei der Gründung des Reichs der Gnade, sondern daß alles in Uebereinstimmung sei mit dem allgemeinen | göttlichen Thun und Wirken, und das seinige nur ein Ausströmen von diesem allgemeinen göttlichen Thun und Wirken. Aber was uns dabei zweitens Wunder nehmen muß, ist die besondere Art, wie Christus redet, wenn er sich auf der andern Seite eben so bestimmt vom Vater zu trennen scheinet, wie er sich vorher mit ihm verbindet, indem er fortfährt, Der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er thut, und wird ihm noch größere Werke zeigen, daß ihr euch verwundern werdet. Da stellt er sich selbst dar gleichsam als den Zögling Gottes und als noch fähig eines allmäligen Wachsthums seiner Einsicht und seiner Wirksamkeit; vorher aber hatte er gesagt, Er könne nichts von sich selbst thun, sondern was er den Vater thun sehe, das thue gleich auch der Sohn, nun aber sagt er, wie der Vater den Sohn lieb habe, so werde er ihm auch immer größere Werke zeigen, also der Sohn werde immer mehr sehen von dem ganzen Werk der göttlichen Macht und Liebe, und je mehr er selbst sähe, desto mehr werde er auch thun. Hat der Erlöser hier nicht zu gering von sich geredet, und denen zu viel Vorschub gethan, die ihn selbst nur wie einen andern Menschen ansehen und darstellen wollen? Aber laßt uns, m. g. Fr., nur dies bedenken, daß, wenn der Herr sich den Sohn nennt, er dabei immer das rein göttliche und ihn von allen Menschen unterscheidende in sich im Sinne hat; aber so wie er 9–10 Vgl. Joh 14,11
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sich selbst giebt, und wie auch wir ihn nicht anders kennen, als nur wie das göttliche und menschliche in ihm eins ist, so redet er auch hier von sich und von dieser Vereinigung des göttlichen und menschlichen in sich, von diesem Fleisch gewordenen Worte Gottes, von diesem Sohne Gottes, der Fleisch und Blut angenommen hat und allen Gesezen der menschlichen Natur unterworfen gewesen ist; davon konnte er sagen einmal, daß der Vater ihn lieb habe, wie er derjenige ist, | auf welchem alles göttliche Wohlgefallen ruht, und eben so konnte er von sich sagen, daß seine Einsicht und seine Wirksamkeit zunähmen, wie auch die Schrift ihn in den Jahren seiner Jugend beschreibt, daß er zugenommen habe nicht nur an Alter, sondern auch an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen. So darf uns also das nicht stören und uns nicht irre machen in dem, was der Erlöser vorher gesagt hat, daß er den Vater in sich selbst habe und schaue, daß das göttliche Wesen es sei, welches seine ganze Wirksamkeit leite und alle seine menschlichen Kräfte in Bewegung seze, und nachdem er dies auf eine so deutliche Weise gesagt hat, so kann er auch[,] das menschliche in seiner Wirksamkeit und in seinem Thun heraushebend[,] sagen, daß der Vater den Sohn lieb habe und ihm alles was er thut zeige. Denn sowol sein Reich auf Erden, in seiner Verbreitung über das menschliche Geschlecht, als auch der Anfang, den er selbst dazu gemacht hat, war ebenfalls dem Gesez alles menschlichen unterworfen, daß es von einem kleinen Anfang ausgehen und immer weiter sich erstrekken mußte unter den Menschen. Und so zeigt sich auch im Leben des Herrn, bei dieser und jener Veranlassung, dieses Gesez seines eigenen Thuns und Lebens, wie denn auch diese Begebenheit ein Beispiel davon gewesen war, daß sich ihm die Gelegenheit darbot zu der rechten Auslegung von dem Gesez des Sabbaths und von dem wahren geistigen Sinn desselben. So von einem kleinen Anfang sich immer weiter erstrekkend und immer tiefer eingreifend, konnten erst allmälig die Züge zu dem Bilde seines göttlichen Lebens zusammentreten. Aber wie er selbst nur als Mensch und in der menschlichen Welt sollte in jedem Augenblikk seine Aufmerksamkeit bloß auf alles dasjenige richten, was der Augenblikk mit sich brachte, aber sich wohl bewußt war der Fülle der göttlichen Kraft, die ihm in keinem Augenblikk fehlte: so konnte er auch so von sich reden, daß | der Vater ihm immer mehr zeige. Denn je mehr sich sein Reich auf Erden befestigte und verbreitete, desto mehr war er im Stande zu thun, desto mehr erkannte er menschlicher Weise, was zu thun sei für seine Bestimmung, und desto mehr vermochte er auf das göttliche hinzusehen, welches allein ihn 10–12 Vgl. Lk 2,52
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leitete, ohnerachtet er alles auf gleiche Weise, aber nicht auf gleiche Weise in dem menschlichen Bewußtsein vor sich hatte. Er hat dies also alles gesagt auch um unseretwillen, wozu es uns auch gereichen wird, wenn wir bedenken, daß er uns in dasselbe Verhältniß mit sich selbst sezt, in welchem er zu seinem Vater stand. Wie er in dem Vater war und der Vater in ihm, so sollen auch wir in ihm sein, und er in uns, und seine Erkenntniß und die Erkenntniß seines göttlichen Wesens in uns ein niemals wechselndes und uns immer leitendes sein. Auch wir sollen nichts von uns selbst thun, sondern nur was wir den Sohn thun sehen, das sollen wir gleich auch thun. Aber wenn uns unsere Bemühungen freilich auf mancherlei Weise in dieser Beziehung zweifelhaft erscheinen, so sollen wir uns dessen getrösten, daß wie der Sohn uns lieb hat, er so auch uns immer größere Werke zeigen werde, daß sich uns immer mehr enthüllen werde der Zusammenhang aller irdischen Begebenheiten mit dem großen Werke der Erlösung, und daß wir in keinem Augenblikk außer Stand sein werden ihm nachzufolgen und so das zu thun, was ihm wohlgefällig ist; der eine jezt und in diesen Verhältnissen, der andere später und in andern Verhältnissen. Aber nachdem der Herr seine Zuhörer auf das Verhältniß seiner Thätigkeit zu der Thätigkeit seines Vaters aufmerksam gemacht hat, so unterläßt er auch nicht ganz besonders zu sagen, worauf vorzüglich diese Thätigkeit sich bezieht, Wie der Vater die todten auferwekkt und macht sie lebendig, also auch der Sohn macht lebendig, welche er will, denn der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohne gegeben. | Auch diese Worte verstehen wir nur recht, wenn wir sie im Zusammenhange mit jener Begebenheit, die der Erlöser und seine unmittelbaren Zuhörer immer im Sinne hatten, betrachten. Denn jener Wechsel zwischen Thätigkeit und Ruhe, der nicht in der Thätigkeit Gottes Statt findet, aber sich in seinen Geschöpfen auf mannichfaltige Weise offenbaret, dem liegt, wie schon dem täglichen Wechsel zwischen Licht und Finsterniß, zwischen Tag und Nacht, der Anschein eines Gegensazes zum Grunde zwischen dem todten und lebendigen. Aber das todtscheinende wird immer wieder erwekkt, die verstorbene Natur erwacht mit jedem neuen Frühling aus ihrem Schlummer, und es regen sich in ihr neue Kräfte, der schlafende Mensch wird immer wieder von neuem ins Leben gerufen, alles durch die Macht Gottes, und was dem Tode schon nahe ist, das wird nicht selten mit neuer Lebenskraft erfüllt durch die Macht dessen, der alles geschaffen hat und erhält. Also als Leben 5–7 Vgl. Joh 15,5; 17,21
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mittheilend, als Leben erhaltend, als Leben fördernd zeigt sie sich überall. So wie der Sohn nichts von sich selbst thut, aber alles, was er den Vater thun sieht, auch gleich thut, so ist auch die geistige Wirksamkeit des Sohnes eine solche belebende, Leben mittheilende und Leben erhaltende. Das, m. g. Fr., wissen wir alle, die wir an ihn glauben, aus unserer eigenen Erfahrung. Es ist uns ein neues Leben, welches wir von ihm empfangen haben, und wir wissen, daß wir es nur, in so fern wir in dem lebendigen Zusammenhange mit ihm und in der Aehnlichkeit mit ihm bleiben, behalten können, wir wissen, daß wir es immer aufs neue von ihm empfangen, daß wir immer aufs neue durch ihn erwekkt werden zum geistigen Leben, und daß er es ist, der uns immer aufs neue nährt und stärkt aus der Fülle seiner Kraft und seiner Weisheit, und der nie aufhört uns einzuladen, daß wir uns unausgesezt von ihm mögen tränken lassen aus der Quelle des lebendigen Wassers. Indem er aber sagt, Also auch der Sohn macht le|bendig, welche er will, so erklärt er uns dies durch die folgenden Worte, Der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohne gegeben. Auch diese Worte, m. g. Fr., mögen uns auf eine eigenthümliche Weise Wunder nehmen, indem der Herr anderwärts sagt, Er sei nicht gesandt in die Welt, um die Welt zu richten, sondern um sie selig zu machen, hier aber sagt er um zu erklären, daß er lebendig mache, welche er will, er sagt, daß der Vater niemand richtet, sondern daß er alles Gericht ihm, dem Sohne, überlassen habe. Wir werden aber auch dies leicht verstehen, wenn wir an die vorhergehenden Worte des Erlösers denken. Wie kann er doch sagen, er mache lebendig, welche er will, da er vorher gesagt hat, der Sohn thue nichts von sich selbst, sondern nur, was er den Vater thun sieht, das thue gleich auch er. Es ist also auch kein eigener Wille des Sohnes von dem Willen des Vaters unterschieden, der ihn bei dieser Leben hervorrufenden und Leben erhaltenden Thätigkeit leitet, sondern wie der Vater und der Sohn eins ist, so ist auch der Wille des Sohnes kein andrer als der seines himmlischen Vaters. Aber wie das Werk des Sohnes ein fortschreitendes und in dem Laufe der Zeit ein immer mehr sich entwikkelndes ist, und also darin ein früheres und ein späteres ist und ein Zurükkgehen auf ihn selbst: so will er sagen, daß das kein anderer Wille ist als der Wille seines Vaters, der in der Welt gebietet und herrscht, und wie der Sohn den Vater thun siehet in dem ganzen Umfange seiner Schöpfung, so thut auch er in dem Reiche der Gnade, welches er gestiftet hat. Wie 15 lebendigen] ledendigen 20–22 Vgl. Joh 3,17; 12,47
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nun in dem weiten Reiche der göttlichen Macht alles allmälig zu Stande kommt, so wird auch in dem geistigen Reiche des Sohnes der eine früher, der andere später aus dem Tode zu dem lebendigen Gefühl des geistigen Lebens und zur Freiheit der Kin|der Gottes gerufen. Aber wie wir wissen, daß alles, was der Vater thut, das beste ist – denn das liegt eben darin, daß er alles zu einem schönen Ziele hinausführt – so fühlen wir uns dadurch getröstet, daß, wenn auch in dem Reiche des Sohnes, in dem Reiche der Gnade, alles erst allmälig zu Stande kommt, dennoch was in jedem Augenblikk geschiehet das beste ist, und daß wenn der Herr den einen früher, den andern später lebendig macht, er keinen andern Grund hat als die größte mögliche Entwikkelung seines Reiches auf Erden, wie es den Gesezen der Zeit und alles menschlichen unterworfen ist. In diesem Sinne also hat der Vater dem Sohne die Unterscheidung des frühern und des spätern, die Auswahl dessen, was lebendig gemacht werden soll, überlassen, auf daß, fährt er fort, sie alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren; wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat. Und so kehrt er denn wiederum zurükk auf das innige Verhältniß zwischen sich selbst und dem Vater, auf die wesentliche Einheit zwischen sich und Gott, denn ohne dies vorauszusezen, können wir nicht verstehen, daß wer den Sohn nicht ehrt auch den Vater nicht ehrt, der ihn gesandt hat. Das ist dasselbe, was er anderwärts sagt, Es kann niemand zum Vater kommen denn nur durch den Sohn, es kann niemand den Vater schauen, denn nur durch den Sohn. So sollen wir in dieses Reich der göttlichen Gnade versenkt, wovon er der Grundstein und das Haupt ist, so daß die ganze Kraft des neuen Lebens, welches alle Glieder seines Leibes durchdringt, von ihm und von der Fülle der Gottheit in ihm ausgeht, so sollen wir seinem Worte trauen, daß eben diese Kraft der göttlichen Gnade in ihm und die allmälig schaffende und erhaltende Kraft Gottes eins und dasselbige sei, ein und dasselbe Gesez in ihm, wonach er sein Werk vollbringt und die todten lebendig | macht, und in dem Vater, wonach er das ganze seiner Schöpfung leitet; so sollen wir seinem Worte trauen, daß wir in ihm den Vater ehren, und sollen uns bescheiden, daß wenn wir die Kraft der Gnade in Christo nicht erkennen und die Kraft seines Geistes im Christenthum [nicht] sehen, daß wir dann auch die Kraft und die Macht Gottes und alles was in das Gebiet des Vaters gehört nicht verstehen. Denn nur in so fern wir die unmittelbare Nähe des Sohnes in uns erfahren, können wir den begreifen und sein Werk und seinen Willen verstehen lernen, den er uns offenbaret hat. 23–24 Vgl. Joh 14,6
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Wenn wir aber, m. g. Fr., aus der eben vergangenen festlichen Zeit noch besonders dessen gedenken, daß der Sohn vom Vater ausgegangen ist, und daß er seinen Geist über uns ausgegossen hat, der uns in dem Namen des Sohnes dem Vater zuführt: so führen wir dies auf jenes Wort des Apostels zurükk, daß niemand kann Christum einen Herrn nennen ohne den heiligen Geist, daß wie wir nur die Macht des Sohnes erkennen, weil dieselbe göttliche Macht und dasselbe göttliche Wesen in ihm wohnet, und er nur dadurch in den Stand gesezt war zu thun, was er den Vater thun sah, so auch nur, wenn wir den Geist Gottes haben, der der Geist des Sohnes ist, und aus diesem Geiste heraus mit der ewigen Liebe des Sohnes rufen, Lieber Vater, wir nur dadurch im Stande sind den Sohn zu erkennen, sein Thun zu verstehen, in ihm das göttliche anzuschauen, in ihm den Vater zu sehen. Und so können wir sagen, daß das sein erlösendes Werk ist, daß er uns von seinem Geiste gegeben, daß nur dadurch der reine Zusammenhang zwischen uns und ihm möglich ist, und nur dadurch das Wort wahr wird, daß der Vater mit dem Sohne kommt um Wohnung zu machen in unserem Herzen durch die Kraft des Geistes. Amen.
5–6 Vgl. 1Kor 12,3
10–11 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6
16–18 Vgl. Joh 14,23
Am 20. Juni 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
1. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 4,16–18 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 289–302 Wiederabdrucke: Keine b. Nachschrift; SAr 88, Bl. 1r–15v; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 63, Bl. 29r–32r; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers 289
Die Vollkommenheit der Liebe. Text.
1. Johannes 4., V. 16–18.
M. a. F. Wenn der Apostel Paulus, wo er an die Christen zu Korinth über den rechten Gebrauch der Gaben des Geistes schreibt, zu ihnen sagt, daß, wenn sie sich auch der köstlichsten Gaben befleißigten, er ihnen doch noch einen herrlicheren Weg zeigen wolle, der sey nämlich, daß sie sich der Liebe befleißigen sollten; wenn er in dem Briefe an die Galater, wo er die Früchte des Geistes beschreibt, um das Leben desselben und seine Werke von den Werken des Fleisches zu unterscheiden, nichts Anderes thut, als nur die verschiedenen Arten und Abschattungen der Liebe: Friede, Gütigkeit, Freudigkeit, Geduld, Sanftmuth, mit den lieblichsten Worten beschreiben: was können wir Anderes hieraus schließen, als daß die Liebe unter allen Früchten und Gaben des Geistes die höchste sey, diejenige, in die alle andere eingeschlossen sind, aus der Alles seinen Ursprung nehmen muß, was nur irgend wirklich Frucht und Gabe des Geistes seyn soll. Doch damit wir nicht nur wüßten, daß die Liebe die vollkommenste Gabe sey, sondern auch, welches da sey die höchste Vollkommenheit eben dieser Liebe: so führt uns der Apostel Paulus eine ganze 19–1 ganze Reihe] ganzeReihe 3–7 Vgl. 1Kor 12,31–13,13
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Reihe der herrlichsten Aeußerungen und Wirkungen derselben vor Augen in jener bekannten begeisterten Lobrede. In gedrängter Kürze aber, und fast kindlicher Einfalt, giebt uns nun der Apostel Johannes in den eben verlesenen Worten die Kennzeichen an, wonach wir beurtheilen können, ob die Liebe in jener Vollkommenheit in uns sey oder nicht. Was | könnte nun für uns, m. g. F., ein schönerer und würdigerer Nachhall des herrlichen Festes seyn, welches wir vor Kurzem gefeiert, und an welchem wir uns mit Dankbarkeit gegen Gott dessen erfreut haben, daß er seinen Geist ausgegossen hat über alles Fleisch, als wenn wir, aufgeregt von diesen Worten des Apostels, uns im Geiste auf die höchste Zinne christlicher Vollkommenheit stellen, um von da herab das ganze Werk des Geistes in der menschlichen Seele, und dasjenige, was wir durch ihn werden sollen, zu beschauen. Wir müssen aber die Worte des Apostels, wenn wir sie uns ganz aneignen wollen, aus einem zwiefachen Gesichtspunkte betrachten. Zuerst laßt uns sehen, was ist es eigentlich, was der Apostel angiebt als das Zeichen der Völligkeit der Liebe, aber dann auch wieder umgekehrt zweitens, was meint er eigentlich damit, und wie hängt es zusammen, daß das, wovon er redet, nur durch die Völligkeit der Liebe kann bewirkt werden. Das sey es also, worauf wir in dieser Stunde gemeinsamer Andacht unsere christliche Aufmerksamkeit richten wollen. I. Wenn wir zuerst fragen: was giebt uns der Apostel hier an als Zeichen von der Vollkommenheit der Liebe in unserer Seele? so ist es dem ersten Anscheine nach zweierlei, was er sagt. Er sagt zuerst: „Daran ist die Liebe völlig bei uns, daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts,“ er sagt dann zweitens: „Daran ist die Liebe völlig bei uns, wenn sie die Furcht austreibt; denn Furcht ist nicht in der Liebe.“ Zweierlei scheint dies beim ersten Anblicke, genau betrachtet aber werden wir sehen, daß es nur Eins ist und Dasselbige. Denn was fürchtet der Mensch, wenn er fürchtet? Bei dieser Frage stellen sich uns zuerst eine Menge dem Menschen furchtbarer Gegenstände dar, die sich aber nur auf sein leibliches und sinnliches Daseyn beziehen. Allein diese gesammte Furcht, wie mannigfaltig sie auch scheine, ist nichts Anderes, wenn wir sie genau betrachten, als die Furcht vor dem Tode. Alle Schmer|zen, alle Krankheiten, alle körperlichen Beschwerden, alle äußeren Entbehrungen in Beziehung auf die Heiterkeit und den frohen Genuß des irdischen Lebens, wenn wir sie als solche fürchten, warum fürchten wir sie? Nur deßwegen, weil dabei der Tod im 7–9 Vgl. oben 7. Juni vorm. über Apg 2,14–21
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Hintergrunde lauert, weil wir unser Leben gehemmt, beschränkt, niedergedrückt fühlen, und uns also aus jedem solchen Zustande die Vergänglichkeit desselben und sein unvermeidliches Ende entgegentritt. Denn wenn wir alle solche Zustände nur auf unser geistiges Leben beziehen, so haben wir keine Ursache, sie zu fürchten, da die Kraft des Geistes sich während derselben vollkommen entfalten, und die Treue des Gehorsams sich vollkommen bewähren kann. Fürchten wir also, so geschieht es nur in Bezug auf unser sinnliches Leben; und dann fürchten wir sie als Bilder oder Vorboten des Todes. Aber warum fürchten wir den Tod selbst? Der Stachel des Todes, sagt der Apostel, ist die Sünde, und den Tod fürchtet der Mensch nur, weil, wie die Schrift sagt, ihm gesetzt ist, einmal zu sterben, und darnach das Gericht. Und gewiß, leicht können wir uns davon überzeugen, daß wir den Tod nicht fürchten würden, wenn das Gericht nicht dahinter wäre. Denn wüßten wir, daß, was es nach dem Tode für den Menschen giebt, dem gegenwärtigen Leben ganz gleich wäre: so hätten wir eben so wenig Ursache, den Tod zu fürchten, als den Schlaf, auf welchen der morgende Tag folgt. Wir sind aber schon von Natur geneigt zu glauben, daß, giebt es etwas für den Menschen nach dem Tode, wir dort nicht wieder dasselbe Untereinanderverworrenseyn des Guten und Bösen mit dem Angenehmen und Unangenehmen finden können, so daß auch dort das Uebel vorzüglich die Guten trifft, und die Bösen sich des Wohlergehens erfreuen; und darum fürchten wir, im Bewußtseyn der Schuld, das Uebel, welches die Folge des Bösen und Unvollkommenen seyn muß, und also das Gericht. Giebt es aber für uns nichts nach dem Tode: was wäre das anders, als eben das strengste Gericht des Höchsten über alles Menschliche, wenn er es ganz und ohne Ausnahme zum Untergange verdammte! – So ist denn alle sinnliche Furcht Furcht | vor dem Tode, und alle Todesfurcht ist Furcht vor dem Gericht, und nur um deß willen, nur um des Gerichtes willen, sind die Menschen, wie die Schrift sagt, aus Furcht des Todes Knechte ihr Lebelang. Aber freilich ist jene Furcht nicht die einzige. Es giebt noch eine andere; denn wir fürchten auch Vieles, was uns aus dem Zusammenleben mit Anderen in den mannichfaltigsten Verhältnissen entsteht, und unmittelbar unser sinnliches Bestehen und unser äußeres Wohlergehen nicht bedroht; wir fürchten es aber deßhalb, weil die freie Thätigkeit unsers Geistes dadurch gehemmt, die Ausführung unserer Absichten und Entwürfe dadurch gestört und gehindert werden würde. Was für eine Furcht ist nun eigentlich dies, m. g. F.? Was können wir wohl, recht bedacht, für unser geistiges Leben fürchten? Etwa Hindernisse, 10–11 Vgl. 1Kor 15,56
12–13 Vgl. Hebr 9,27
31–32 Vgl. Hebr 2,15
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welche andere Menschen dem Guten in den Weg legen möchten, welches wir fördern und dadurch Gott unseren schuldigen Dienst leisten wollen? Nein, m. g. F., die sollen wir nicht fürchten; sondern, wie der Apostel sagt, wenn wir auch verachtet sind von den Menschen, und sie sich mit allen ihren Kräften und allen eigenthümlichen Hülfsmitteln der Kinder der Finsterniß gegen uns stellen, in dem Allen überwinden wir weit um Deß willen, der uns geliebt hat. – Etwa Prüfungen, welche drohen, uns wankend zu machen, indem sie uns an den äußersten Rand unserer geistigen Kraft hinführen? Die, m. g. F., können wir auch nicht fürchten, so wir uns anders des Beistandes des göttlichen Geistes in unserem Herzen bewußt sind. Denn dann wissen wir auch, daß Gott uns nicht läßt versucht werden über Vermögen, sondern, wenn er uns versucht, nichts Anderes daraus für uns hervorgehen kann, als durch den glücklichen Widerstand eine befestigende Stärkung im Guten, und durch die Notwendigkeit eines so kräftigen Widerstandes eine genauere Kenntniß unserer inneren Beschaffenheit, unserer Kräfte auf der einen, unserer Mängel auf der anderen Seite. Dies Alles aber ist ein Segen vom Herrn, den wir nicht fürchten dürfen oder scheuen. Nur wenn wir einer hinreichenden | Mitwirkung des göttlichen Geistes nicht gewiß sind, so daß die Versuchung uns leicht über die Grenzen unserer geistigen Kraft hinaus führen kann, so daß Hindernisse, welche die Menschen uns in den Weg legen, gar wohl die verborgene Unlauterkeit ans Licht bringen, die Selbstsucht mit ins Spiel ziehen, und Leidenschaftliches und Verkehrtes unseren Thaten beigemischt wird: dann freilich haben wir Ursache zu fürchten. Aber was anders, als daß die Prüfungen, welche wir zu bestehen haben, die Kämpfe, welche die Welt uns anbietet, uns werden zum Gericht ausschlagen: und was ist also auch diese Furcht anders, als nur dieselbe Furcht vor dem Gerichte? Wenn also der Apostel sagt: „die völlige Liebe treibt die Furcht aus,“ so ist es dasselbe, als wenn er, noch ausführlicher aus dem Vorigen wiederholend, gesagt hätte, sie treibe aus die Furcht vor dem göttlichen Gerichte. Aber diese Völligkeit der Liebe, die uns von aller Furcht befreit, von aller sinnlichen Furcht, wenn wir nämlich schon ganz in einem höheren geistigen Leben begriffen sind, in welchem wir das Sinnliche gering achten, von aller geistigen Furcht, wenn wir nämlich so weit vorgeschritten sind, zu wissen, daß wir das Gericht des Herrn nicht mehr zu fürchten haben, sondern zu denjenigen gehören, von denen er sagt, daß sie nicht in das Gericht kommen. Diese Befreiung von aller Furcht, sage ich, ist 9 hinführen] hinzuführen 6–7 Röm 8,37
12 Vgl. 1Kor 10,13
38–39 Vgl. Joh 3,18; 5,24
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nun nicht etwa selbst wieder ein unbestimmter oder unzureichender Zustand des Gemüths, zu welchem erst noch etwas Anderes hinzukommen müßte, wenn uns wahrhaft wohl seyn sollte, so daß wir die Seligkeit schmecken, nein, m. g. F., wo die Furcht vor dem Gerichte aufhört, da geht auch die Freudigkeit an auf den Tag des Gerichts; und so wenig wir außer dieser noch Etwas bedürfen, weil nämlich diese Freudigkeit die Seligkeit selbst ist, eben so wenig giebt es zwischen dieser Freudigkeit und jener Furcht noch etwas Drittes in der menschlichen Seele; sondern nur in der Unvollkommenheit unseres geistigen Lebens eine Mischung von beiden. Ja, m. g. F., um hiervon gewiß zu seyn, brauchen wir nur unsere eigene Erfahrung und unser innerstes Bewußtseyn zu fragen. Wenn der Wechsel in dem irdischen Leben | des natürlichen Menschen sich am Besten ausdrücken läßt durch jenes Wort der Schrift: daß das Herz des Menschen sey ein trotziges und verzagtes Ding, und der natürliche Mensch das Gleichgewicht selten zu finden vermag zwischen der Furcht, die ihn zagen macht, und zwischen dem Uebermuthe, der ihm eben durch den Trotz des Herzens den Fall bereitet: so läßt sich aller Wechsel in den Zuständen der Menschen, die zu dem geistigen Leben hindurchgedrungen sind, aber die Vollkommenheit desselben noch nicht erreicht haben, nicht besser beschreiben als so, daß sie leben in einem sich immer erneuernden Wechsel zwischen jener Furcht und dieser Freudigkeit. Je mehr der Mensch noch in dem Anfange des geistigen Lebens begriffen ist, desto mehr steht er noch in der Furcht, weil er das Wollen wohl hat, aber das Vollbringen nicht. Sein innerer Mensch hat Wohlgefallen an dem Willen Gottes; aber der äußere Mensch muß noch vielfältig dem Gesetze dienen, welches er in seinen Gliedern findet; und dieses Bewußtseyn kann in ihm nichts Anderes werden, als Furcht. Fühlt er aber die Kraft des Geistes in sich erstärkt, fühlt er die Segnungen und das Heil der Erlösung in seinem ganzen Leben sich mehren: o dann ist es die Freudigkeit auf den Tag des Gerichts, die sein Inneres erfüllt. Denn er erfreut sich des belebenden Bewußtseyns von seiner immer mehr sich entwickelnden Uebereinstimmung mit Gott; und indem er, durch eine immer reichere und vielseitigere Erfahrung belehrt, Alles, was Gott ihm zuschickt: Freude und Ungemach, Ruhe und Kampf, nur als ein Förderungsmittel des göttlichen Lebens betrachtet, und also willig und liebevoll aufnimmt, so ist eben diese heitere Erwartung, diese gleichmäßige Zuversicht, die wahre Freudigkeit eines Herzens, welches sich immer nur durch das Maß des geistigen Lebens, und also durch die Aussicht auf den Tag des Gerichts, bestimmt. Wo daher die Kunde von diesem Gerichte, welche deßhalb auch die 14–15 Vgl. Jer 17,9
24–27 Vgl. Röm 7,18–23
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Schrift überall auf das Genaueste mit der frohen Bothschaft von der Erlösung verbindet, wo diese Kunde einmal erschollen und Bestimmungsgrund des Lebens geworden ist: da kann es auch ein Drittes nicht geben zwischen | Furcht und Freudigkeit. Denn ist die Seele einmal durch diese Kunde geweckt: so ist eine gänzliche Bewußtlosigkeit über unseren inneren Zustand, oder eine völlige Gleichgültigkeit gegen denselben, nicht mehr möglich. Vermindert sich also die Furcht, so wächst die Freudigkeit; werden wir der Furcht wieder unterworfen, so nimmt die Freudigkeit ab, kurz steigt die eine, so sinkt die andere wieder. Ist also die Freudigkeit auf den Tag des Gerichts in uns vollkommen, o dann vertreibt sie alle Furcht sogleich aus der Seele und alle Pein, welche die Furcht mit sich bringt. Dies also, m. g. F., ist das Kennzeichen, welches der Apostel uns angiebt, damit wir daran unterscheiden sollen, ob die Liebe auch völlig in uns sey, ob diese herrliche und göttliche Gabe und Kraft des Geistes auch so vollkommen in uns gebildet und unser ganzes Leben so in sie hineingewachsen sey, daß alle unsere inneren Seelenzustände sich aus ihr allein erklären lassen. Um aber die Meinung des Apostels, daß diese Freudigkeit das Maß der Liebe sey, recht zu verstehen, so laßt uns nun Zweitens fragen: ob es sich denn auch so verhalte, wie der Apostel zu verstehen giebt, daß dieser herrliche und in der That vollkommenste und höchste Zustand des Menschen, wenn alle Furcht aus seiner Seele verschwunden ist, und nichts Anderes in ihm als Freudigkeit auf den Tag des Gerichts, in nichts Anderem begründet ist, und nichts Anderes dazu gehört, als die Völligkeit der Liebe? II. Auf diese Frage nun, m. g. F., liegt die Antwort theils in den Worten unseres Textes selbst, theils in denen, welche sie zunächst umgeben. Denn da sagt der Apostel: „Wer da spricht, er liebe Gott, und liebt seinen Bruder nicht, der lügt, denn wenn er seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie will er Gott lieben, den er nicht sieht.“ Damit will er nun nicht etwa sagen: die Liebe zu dem Nächsten sey das Geringere, welches eben deßhalb vorangehen müsse, und die Liebe zu Gott das Größere, welches dann erst folgen könne; vielmehr ist der innerste und tiefste Sinn seiner Worte der: daß alle Liebe, so sie | wahrhaft ist, nichts Anderes seyn kann, als Liebe zu Gott, daß es aber auch keine Liebe zu Gott geben kann, ohne daß sie sich äußere eben in der Liebe zu denen, die wir sehen. Oder, m. g. F., was wollen wir an dem Menschen überhaupt lieben? Wenn wir doch das Elend der 5–6 Bewußtlosigkeit] Unbewußtlosigkeit 28–30 Vgl. 1Joh 4,20
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Sünde ausnehmen müssen, wenn wir doch nicht bei den Erscheinungen des Zeitlichen und Vergänglichen in ihm stehen bleiben wollen: so bleibet ja nichts Anderes übrig, als daß wir an ihm lieben den lebendigen Odem, den Gott ihm eingehaucht, das Gepräge, das der Schöpfer ihm aufgedrückt hat. Heißt also, den Menschen lieben und achten, etwas Anderes, als an dem Werke liebend den Schöpfer erkennen, in dem Bilde Den verehren, als dessen Bild es geschaffen ist? Und wir, die wir uns Glieder an Christo zu seyn rühmen, wollen wir an uns selbst etwas Anderes lieben, als den Geist, den Gott ausgegossen hat über uns, und durch welchen wir ihn als unseren lieben Vater anrufen, diesen Geist und Alles, was sein Werk ist, in unserer Seele? Fern sey von uns jede andere Liebe! Denn dann wäre unsere Liebe zu den Menschen überhaupt und unsere Liebe zu uns selbst fleischlich, und fleischlich gesinnt seyn, ist eine Feindschaft wider Gott. Soll also unsere Liebe nicht Feindschaft wider Gott seyn: so darf sie auch nichts Anderes seyn, als Liebe zu Gott selbst. Denn wie Gott Geist ist, und der Herr Geist ist, so ist auch alles Geistige göttlich, und die ganze Fülle desselben vom Herrn, offenbar daher es ein Drittes auch hier nicht giebt. Wollen wir an unserem Bruder in Christo etwas Anderes lieben, als denjenigen, der ihn wie uns Alle geliebt, und uns mit ihm verbunden hat durch das Gebot der Liebe, welches er seinen Jüngern gegeben; wollen wir in ihm etwas Anderes lieben, als daß er mit Allem, was er in seinem geistigen Leben ist und immer mehr wird, das Gepräge und die Ueberschrift des Erlösers an sich trägt: dann wäre unsere Liebe zu ihm, welches auch ihr unmittelbarer Gegenstand seyn möchte, immer nur fleischlich, und keine christliche Liebe. Und, um noch mehr zu sagen, an dem Erlöser selbst, was sollen wir an ihm lieben, wenn doch auch er vielleicht nicht von Allen auf gleiche und auf | die rechte Weise geliebt wird? Offenbar wollen wir doch nicht das Fleisch und Blut an ihm lieben, welches er an sich genommen hat! Wenigstens sagt sich der Apostel Paulus von einer solchen Liebe auf das Bestimmteste los, wenn er schreibt. Sondern was wir an dem Erlöser eigentlich lieben, das ist doch nur die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnt, der Vater, der sich uns in ihm offenbart, und zu dem er uns hinführen will. So ist denn alle Liebe die auch dem unentwickeltsten Menschenleben natürlichste und gewöhnlichste, so sie nur nicht von der Sünde verunstaltet ist, so wie jene heiligste, deren wir uns in dem Bunde der Christen ausschließend und eigenthümlich erfreuen, alle ist nichts Anderes, als Liebe zu Gott. So wir Gott aber lieben, wie können wir ihn fürchten? Wie kann bei so treuer und wahrer Liebe 9–11 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6 14 Vgl. Röm 8,7 1Joh 3,23 33–34 Vgl. Kol 2,9
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Furcht vor ihm in uns seyn, und Furcht auf den Tag des Gerichts? Denn was wir lieben, dasselbe, m. g. F., sind wir nicht im Stande, auch zu fürchten, sondern wie die Furcht in sich selbst Pein trägt, so auch Mißfallen an dem, was man fürchtet. Wer Gott also fürchtet, der liebt ihn in sofern nicht, und in sofern wir ihn lieben, ist alle Furcht aus der Seele verbannt. Was könnte also die völlige Freudigkeit des Herzens auf den Tag des Gerichts Anderes seyn, oder was könnte noch sonst dazu erfordert werden, als die Völligkeit der Liebe zu Gott, vor welcher alle Furcht entwichen ist. Aber, m. g. F., noch tiefer, und auf eine noch heiligere und geheimnißvollere Weise, dringt das Wort des Apostels in diesen Zusammenhang ein, wenn er sagt: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm. Nämlich weil Gott die Liebe ist, und also, wenn die Liebe völlig in uns ist, auch Gott völlig in uns ist: so kann denn, will der Apostel sagen, mit der Völligkeit der Liebe auch deßhalb schon keine Furcht mehr bestehen, weil wir Gott nicht mehr nur außer uns haben, sondern vielmehr noch in uns; nicht außer uns als den Gesetzgeber, der uns seinen Willen als einen fremden verkündigt, nicht außer uns, als den Richter, der uns mit unseren Thaten als Fremden vor sich stellt; sondern viel|mehr in uns haben wir ihn als unser eigenes tiefstes Leben, als die innerste uns bewegende und treibende Kraft, der alle andere untergeordnet sind. Was wir aber in uns selbst haben, was uns selbst eigen ist, das können wir unmöglich fürchten; denn Furcht bezieht sich eben auf die Hinderung des Daseyns, und des Lebens, das Leben selbst aber und die innerste und tiefste Kraft des Daseyns kann unmöglich gefürchtet werden. Das ist so klar, daß ich gar nicht wüßte, wie ich noch ein Wort hinzufügen sollte, oder wozu ein solches nöthig seyn möchte, wenn nicht etwa das Eine noch zu bedenken seyn möchte, was Jemand sagen dürfte: Wir kennten doch Alle die Stimme eines inneren Richters, diese bewirke eben das, was derselbe Apostel sagt, daß bisweilen noch unser Herz uns verdammt. Diese Stimme, wird er sagen, fürchten wir doch; denn wer fürchtet nicht das, was Gewalt hat, zu verdammen. Wir hören sie aber nicht von Außen, sondern in unserem Inneren, und wir erkennen sie für nichts Geringeres, als eine göttliche. Also fürchten wir doch noch Gott, wiewohl wir ihn in uns haben, weil wir ihn auch in uns haben als unsern Richter. Wohl, m. g. F., das müssen wir zugestehen! Aber laßt uns nur fragen: was ist es doch, worüber unser Herz uns verdammt? Und gewiß werden wir die Antwort geben müs30 Stimme] Stimmen 31–32 Vgl. 1Joh 3,20
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sen: es ist immer nichts Anderes, als die Unvollkommenheit der Liebe, und Alles, worüber unser Herz uns jemals verdammen kann, werden wir darauf zurückzuführen haben. So wie alle Liebe Liebe zu Gott ist, und alles Gute in dem Menschen nur aus der Liebe zu Gott hervorgehen kann: so ist auch jeder Mangel des Guten in nichts Anderem begründet, als in dem Mangel eben dieser Liebe. Erscheint uns bisweilen dasjenige, worüber unser Gewissen uns verdammt, nicht als ein Mangel an Liebe, sondern vielleicht gar als eine zu große Liebe, – o! m. g. F., so ist dies nichts, als eine Täuschung, womit unser eigenes Herz uns irre führt. Denn die wahre Liebe hat kein Maß, welches sie überschreiten könnte. Und so wie wir, wenn wir uns denken: Gott ist die Liebe, doch zugleich wissen, daß Gott unbeschränkt und unend|lich ist: so kennt auch die wahre Liebe in uns keine Grenzen, sondern kann und soll sich immer weiter ausbreiten, und immer mehr zunehmen an Innigkeit und Lebendigkeit; wenn sie nun keine Grenzen kennt, so kann sie auch niemals zu groß seyn. Sondern was uns eine zu große Liebe dünkt, das ist vielmehr eine zu kleine, weil sie, mit irdischem Sinne am Irdischen haftend, nur auf etwas Kleines und Geringes gerichtet ist, nicht das wahrhaft geistige Seyn und das wahre Wohlergehen Dessen, dem wir mit einer solchen Liebe zugethan sind, zu ihrem Gegenstande hat. Wo aber dieses Bestreben fehlt, da ist in demselben Maße nicht Liebe, sondern Lieblosigkeit. Sind wir aber nun unter dieser Täuschung nicht mehr befangen, als könne es auch eine zu starke und heftige Liebe geben: werden wir dann wohl noch irgend Etwas aufzeigen können, worüber unser Herz uns verdammt, was nicht seinem wahren Wesen nach ein Mangel der Liebe wäre? Eines kommt uns freilich noch entgegen, das ist der Unglaube, wenn von dem unter uns die Rede seyn soll. Aber, m. g. F., nicht nur ist der Glaube, wie die Schrift sagt, durch die Liebe thätig, und auch wiederum die rechte, dem Gebot Christi gemäße Liebe so ganz einzig auf den Glauben an ihn gegründet, daß, wo dieser Glaube nicht ist, auch jene Liebe nicht seyn kann, und also ist der Unglaube immer zugleich der Mangel an Liebe; – sondern, wenn wir nun fragen: woher kommt denn der Glaube? so können wir doch nur mit dem Apostel antworten: er kommt aus der Predigt. Aus keiner anderen aber doch, als aus der Predigt von der Liebe des Vaters, der seines Sohnes nicht verschont hat, sondern ihn für uns Alle dahingegeben; und von der Liebe des Sohnes, der sich selbst für uns dargeboten hat, um den gnädigen Willen des Vaters zu erfüllen. Und wenn diese Predigt nun dennoch in Jemanden den Glauben nicht erregt, der hernach durch die Liebe thätig ist, ja sie zur beständigen That unseres ganzen 29 Vgl. Gal 5,6
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36–37 Vgl. Röm 8,32
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Lebens macht: worin liegt die Schuld? Doch immer muß es darin an Empfänglichkeit fehlen für den Inhalt dieser Predigt. Und ist es wohl anders möglich, als | daß der Mangel an Sinn und Empfänglichkeit für die göttliche Liebe des Vaters und des Sohnes nicht selbst ein Mangel an Liebe ist? Also auch hier kommen wir auf dasselbe zurück, und es giebt also nichts Anderes, worüber unser Herz uns verdammt, als Mangel an Liebe. Zu allen Zeiten also, und auf jeder Stufe unserer Entwickelung: so lange wir noch eine solche richtende Stimme in unserem Innern haben, Kraft deren unser Herz uns verdammt, kommt dies immer daher, weil noch nicht ganz und ausschließend wir in Gott sind, und Gott in uns, weil es noch etwas Anderes giebt, was uns bewegt und treibt, hält und leitet, als die völlige Liebe. Ist aber immer die Liebe allein wirksam, und ganz wirksam, und Alles in ihr, also in Gott, gethan; ist sie stark genug, auch das Auge des Geistes zu erheben, und die Nebel zu zerstreuen, die uns sonst verwirren: dann kann eine solche richtende und verdammende Stimme sich niemals mehr in uns vernehmen lassen. Nicht also fürchten wir Gott, wenn und insofern er in uns ist und wir in ihm; sondern insofern unser Leben noch getrennt ist von ihm, der die Liebe ist, also insofern die Liebe noch nicht völlig in uns ist. Immer sind wir dann noch ähnlich dem ersten Menschen, von welchem die Schrift sagt, daß er Gott geantwortet habe: ich fürchtete mich, als ich deine Stimme hörte im Garten. So wie jene Furcht ihren Grund hatte in der Sünde, so hat jede Furcht, wenn die Liebe noch nicht zu ihrer Völligkeit in uns gediehen ist, ihren Grund in der Sünde. So wie jene Furcht beschrieben wird als eine Furcht vor der äußerlich gehörten Stimme Gottes, so geschieht es auch jetzt noch immer nur insofern, als der Wille Gottes für uns noch ein äußerlicher, ein Gesetz ist, das vor uns steht, und dessen Stimme wir in unserem Innern vernehmen, daß eine Furcht vor Gott in unserem Herzen erwacht. Wenn aber, wie Gott die Liebe ist, er in uns ist, und wir in ihm, und also die Liebe völlig in uns ist, und die Gegenwart Gottes, als eine geistige und unvergängliche, uns zu einer inneren geworden ist, so ist sie denn auch die Quelle jener unermüdlichen Freudigkeit, in welcher keine Furcht mehr empfunden wird. Darum | giebt es auch keine so reine und kräftige Freude, als an der Gegenwart Gottes in unserem Inneren. Jeden Augenblick streben wir sie zu genießen, jeden Augenblick fühlen wir sie in der Kraft der Liebe, und eben dies giebt uns eine Freudigkeit auf den Tag des Gerichts. Diese besteht in der festen Ueberzeugung, daß irgend eine äußere Gegenwart Gottes, von der wir könnten gestraft werden, für uns gar nicht zu fürchten ist, wie denn der Herr von den Gläubigen sagt: sie 20–22 Vgl. Gen 3,10
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werden nicht gerichtet, oder kommen nicht ins Gericht, daß aber die innere lebendige Gegenwart Gottes in uns unser unverlierbares und immer wachsendes Erbtheil ist. Wenn also, m. g. F., der Herr sagt: daß er nicht in die Welt gekommen sey, um zu richten, sondern um die Welt selig zu machen, – was ist das anders, als eben dies, was der Apostel uns hier sagt? Selig sind wir durch die Freudigkeit unseres Herzens auf den Tag des Gerichts, dadurch, wenn wir dessen, daß unser Herz uns verdammt, ganz überhoben sind durch Den, der uns vertritt als unser Hohepriester bei Gott, und der sowohl uns den Vater in unserem Inneren zeigt durch die Liebe, die aus dem Glauben an ihn hervorgegangen ist, als auch ihm, dem Vater, uns immer nur darstellen kann als diejenigen, in denen er schon Wohnung gemacht hat mit demselben. Wenn unser Erlöser sagt: Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander lieben sollt, wie ich euch geliebet habe, und wir das wohl wissen und fühlen, daß er uns dieses Gebot nicht gegeben hat als einen äußeren Buchstaben, sondern daß für alle diejenigen, die an ihm sind, wie die Reben an dem Weinstocke, die in ihm bleiben und sich von der Kraft seines Lebens durchdringen lassen, eben dieses Gebot die eigentliche ihnen nun natürliche Weise ihres Lebens selbst ist, die Art, wie sich ihre innere Natur offenbart und entwickelt, und die Regel, nach welcher sie von selbst wandeln und leben; wenn wir, sage ich, wissen, daß er uns dieses Gebot so gegeben hat und in unser Herz hineingelegt, so ist es uns auch dasselbe mit dem, was er anderwärts sagt, daß er gekommen sey, die Welt selig zu machen. Denn nur durch den Glauben, und dadurch, daß die Liebe völlig | in uns wird, wie sie in Gott ist, sind wir selig; und die ganze Welt kann nur auf diese Weise selig werden, weil Seligkeit nur in denen ist, aus deren Seele alle Pein und alle Furcht herausgetrieben ist, nur in denen, welche allein zu Gott Freudigkeit haben in ihrem Herzen, und deren Freudigkeit zu Gott alles Andere übertrifft und überwindet. O herrliches Ziel, welches uns Allen vorgesteckt ist, daß die Liebe völlig in uns seyn soll, daß alle Furcht und alle Pein verschwinden soll aus unserem Leben, und unser ganzes Daseyn sich erheben zu einer ununterbrochenen Freudigkeit des Herzens zu Gott! O herrliches Ziel, das uns nur hat vorgesteckt werden können durch Den, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, der Eins war mit dem Vater, und ihn in sich trug, und auch uns zu ihm hinführen will. O herrliches Ziel, zu welchem wir nicht anders gelangen können, als durch den Geist Gottes, den der Herr, der uns das Gebot der Liebe gegeben, uns nicht 4–5 Vgl. Joh 12,47 12–13 Vgl. Joh 14,23 13–14 Joh 13,34 Joh 15,5 36–37 Vgl. Kol 2,9 37 Vgl. Joh 10,30
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nur verheißen hat, sondern auch wirklich erbeten von seinem Vater, so daß er ausgegossen ist über alles Fleisch, welches den Namen Christi bekennt. Anders können wir freilich nicht zu diesem Ziele gelangen, als durch das Wirken des göttlichen Geistes in unseren Herzen, der uns stark macht und treibt zu demjenigen, was wir zwar als das Gute erkennen, aber auf keine Weise ohne seine Hülfe erringen mögen, und der zu dem lebendigen Wollen des Guten und Göttlichen dann auch das Vollbringen hinzufügt in immer reicherem Maße, so wir nur ihn allein walten lassen in uns und nichts von dem begehren, was ihn betrübt und ihn aus unseren Herzen entfernt. So laßt uns denn jenes Gebot festhalten, und durch die Kraft des Geistes immer mehr hindurchdringen zu dem Leben aus Gott, zu der Freudigkeit des Herzens, zu der Seligkeit der Liebe, und eben dadurch zu dem reinen Schauen, und dem reinen Genuße der Wahrheit, und zu der lebendigen Freiheit der Kinder Gottes. Amen. Schl.
b. Nachschrift
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Tex t. 1. Johannes IV, 16–18. Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm. Daran ist die Liebe völlig bei uns, auf daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibet die Furcht aus. M. a. F. Wenn der Apostel Paulus wo er an die Gemeinde zu Corinth über den rechten Gebrauch der Gaben des Geistes schreibt, zu ihnen sagt, daß wenn sie sich auch der köstlichsten Gaben befleißigten, so wolle er ihnen noch einen herrlichern Weg zeigen, das sei nämlich, daß sie sich der Liebe befleißigen sollten; wenn er in dem Briefe an die Galater, wo er die Früchte des Geistes beschreibt, um das Leben desselben und seine | Werke zu unterscheiden von den Werken des Fleisches, nichts anders thut, als nur die verschiedenen Arten und Abschattungen der Liebe, Friede, Gütigkeit, Freudigkeit, Geduld[,] Sanftmuth mit den lieblichen Worten beschreibt: was können wir anders als hieraus schließen, daß die Liebe unter allen Früchten und Gaben des Geistes die höchste sei, diejenige, worin alle andern eingeschlossen sind, worin sie 22–26 Vgl. 1Kor 12,31–13,13
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alle ihren Ursprung finden müssen, sind sie anders wirklich Früchte und Gaben des Geistes. Ganz besonders aber in den verlesenen Worten zeigt uns nun der Apostel Johannes, welches da sei die rechte Vollkommenheit der Liebe und giebt die Kennzeichen an, wonach wir beurtheilen können, ob sie völlig in uns sei oder nicht. Was könnte für uns, m. g. F. ein schönerer und würdigerer Nachhall sein des herrlichen Festes, welches wir vor kurzem gefeiert und in welchem wir uns mit Dankbarkeit | gegen Gott dessen erfreut haben, daß er seinen Geist ausgegossen hat über alles Fleisch, als wenn wir bei diesen Worten des Apostels verweilen und uns in Gedanken auf die höchste Zinne christlicher Vollkommenheit stellen, um von da herab das ganze Werk des Geistes in der menschlichen Seele und dasjenige, was wir durch ihn werden sollen zu beschauen. Wir können aber die Worte des Apostels und müssen sie, wenn wir sie uns ganz aneignen wollen, aus einem zwiefachen Gesichtspunkte betrachten. Zuerst laßt uns sehen, was ist es denn eigentlich, was der Apostel angiebt als das Zeichen der Völligkeit der Liebe, aber dann auch wieder umgekehrt zweitens, was meint er eigentlich damit und wie hängt es damit zusammen daß das, was er sagt nur durch die Völligkeit der Liebe kann bewirkt werden. Das sei es also, worauf wir in dieser Stunde gemeinsamer Andacht unsere christliche | Aufmerksamkeit richten wollen. I. Wenn wir zuerst fragen was giebt uns der Apostel hier an, als die Zeichen von der Vollkommenheit der Liebe in unsrer Seele, so ist es dem ersten Anschein nach zweierley, was er sagt. Er sagt zuerst: „daran ist die Liebe völlig bei uns, daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts“ er sagt dann zweitens „daran ist die Liebe völlig bei uns, wenn sie die Furcht austreibt, denn Furcht ist nicht in der Liebe[.“] Zweierley scheint dies dem ersten Anblick[,] genau betrachtet werden wir sehen, daß es nur Eins ist und dasselbige. Was fürchtet der Mensch, wenn er fürchtet? Zuerst erblicken wir da eine Menge von dem Menschen furchtbaren Gegenständen, die sich aber nur auf sein leibliches und sinnliches Dasein beziehen. Allein diese Furcht ist nichts anders, wenn wir sie genau be|trachten, als die Furcht vor dem Tode. Alle Schmerzen, alle Krankheiten, alle körperliche Beschwerden, alle äußere Entbehrungen in Beziehung auf die Freudigkeit und auf den Genuß des irdischen Lebens, wenn wir sie als solche fürchten, warum fürchten wir sie? Nur deswegen, weil dabei der Tod im Hintergrunde steht, weil 1 anders] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 281 6–9 Vgl. oben 7. Juni vorm. über Apg 2,14–21
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wir unser Leben gehemmt fühlen, beschränkt, niedergedrückt, und uns also aus jedem solchen Zustande die Vergänglichkeit desselben und sein nothwendiges Vergehen entgegentritt. Aber warum fürchten wir den Tod? Der Stachel des Todes, sagt der Apostel, ist die Sünde und den Tod fürchtet der Mensch nur, weil wie die Schrift sagt, ihm gesetzt ist einmal zu sterben und darnach das Gericht. Ohne diesen Zusammenhang würden wir den Tod nicht fürchten, wenn das Gericht nicht dahinter wäre, wenn wir nicht wüßten, giebt | es etwas für den Menschen, so kann es nicht wieder sein dasselbe Untereinanderverworrensein des Guten und des Bösen, des Uebels, welches die Guten trifft, giebt es aber nichts nach dem Tode, was wäre das Anders als eben das strengste Gericht des Höchsten über alles Menschliche, wenn er es ganz und ohne Ausnahme zu vergehen verdammte. So ist nun alle sinnliche Furcht, Furcht vor dem Tode, und alle Todesfurcht ist Furcht vor dem Gericht, und nur um deswillen, nur um des Gerichts willen, sind die Menschen, wie die Schrift sagt, aus Furcht des Todes Knechte ihr Lebelang. Aber freilich ist das nicht die einzige Furcht, es giebt noch eine andere, wir fürchten auch vieles, was unmittelbar mit unserm sinnlichen Bestehen und unserem sinnlichen Wohlergehen nichts zu schaffen hat, wir fürchten auch vieles, was uns in diesem irdischen Leben begegnet durch unser Zusammensein mit den Menschen | und nur die freie ungehemmte Thätigkeit unseres Geistes, das freie Wohlergehn mit allerlei Uebeln bedroht. Was für eine Furcht ist nun eigentlich das, m. g. F. was können wir für unser geistiges Leben fürchten? Sind es Hindernisse, die andere Menschen dem Guten in den Weg legen, welches wir möchten, und wodurch wir Gott unsere Dienste leisten wollen? Nein, m. g. F. die fürchten wir nicht, sondern wie der Apostel sagt, wenn wir auch verachtet sind von den Menschen, wenn sie sich auch mit aller ihrer Gewalt gegen uns stellen, in dem allen überwinden wir weit um deßwillen, der uns geliebt hat. Sind es Prüfungen, welche drohen uns an den äußersten Rand unsrer geistigen Kraft und der Stärke des Geistes in uns hinzuführen? Die, m. g. F. fürchten wir auch nicht, so wir uns des Beistandes des göttlichen Geistes in un|serm Herzen bewußt sind, denn dann wissen wir auch, daß Gott uns nicht läßt versucht werden über Vermögen, und wenn er uns läßt versucht werden, dadurch nichts anderes für uns hervorgehen kann, als eine genauere Kenntniß unsers innern Zustandes, unsrer Kräfte auf der einen und unsrer Mängel auf der andern Seite, und das ist ein Segen 25 andere] andern 4 Vgl. 1Kor 15,56 5–6 Vgl. Hebr 9,27 30 Röm 8,37 34–35 Vgl. 1Kor 10,13
16–17 Vgl. Hebr 2,15
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vom Herrn, den wir nicht fürchten dürfen oder scheuen. Aber wenn die Versuchung uns droht über die Grenzen unserer geistigen Kraft hinauszuführen, wenn die Hindernisse, welche die Menschen uns in den Weg legen uns damit drohen, daß das Unlautere in unserm Thun, das Selbstsüchtige in unseren Absichten, das Leidenschaftliche und Verkehrte in unseren Thaten an’s Licht kommt, und dann die natürlichen und unmittelbaren Folgen uns treffen, dann m. g. F. | dann wird beides, die Prüfung und die Versuchung sowohl, als der Kampf, den uns die Welt anbietet, das wird uns beides zum Gericht. Was ist also auch diese Furcht anders als Furcht vor dem Gericht? Wenn also der Apostel sagt „die völlige Liebe treibet die Furcht aus“, so ist es dasselbe, als wenn er noch ausführlicher aus dem Vorigen wiederholend gesagt hätte, sie treibe aus die Furcht vor dem göttlichen Gericht. Aber diese Völligkeit der Liebe, die uns von aller Furcht befreiet, von aller sinnlichen Furcht, weil wir ganz in einem höhern geistigen Leben begriffen sind, in welchem wir das Sinnliche gering achten vor aller geistigen Furcht, weil wir nämlich wissen, daß wir das Gericht des Herrn nicht mehr zu fürchten haben, sondern zu denjenigen gehören, von denen der Herr sagt, daß sie nicht in das Gericht kommen, diese Befreiung von aller Furcht sage ich, ist | nun nicht etwa selbst wieder ein unbestimmter Zustand des Gemüthes, der auch wieder so sein könnte oder anders, nein, m. g. F. wo die Furcht vor dem Gericht aufhört, da geht auch die Freudigkeit an auf den Tag des Gerichts, und etwas Drittes, etwas zwischen beiden, giebt es nicht in der menschlichen Seele. O, m. g. F. wir brauchen nur unsere eigene Erfahrung und unser innerstes Bewußtsein zu fragen, um davon gewiß zu sein. Wenn der Wechsel in dem Leben des natürlichen Menschen sich am besten ausdrücken läßt durch jenes Wort der Schrift, daß das Herz des Menschen sei ein trotziges und verzagtes Ding, und der natürliche Mensch das Gleichgewicht selten zu finden vermag zwischen der Furcht, die ihn zagen macht, und zwischen dem Uebermuth, der ihn eben durch den Trotz des Herzens den Fall bereitet, so läßt sich der Wechsel in dem Leben des Menschen, der zu dem geistigen | Leben hindurch gedrungen ist, aber die Vollkommenheit desselben noch nicht erreicht hat, nicht besser beschreiben, als so, sie ist ein beständiger Wechsel zwischen Furcht und Freudigkeit. Je mehr der Mensch noch in dem Anfange des geistigen Lebens begriffen ist, desto mehr steht er noch in der Furcht, weil er das Wollen wohl hat, aber nicht das Vollbringen, weil sein innerer Mensch Wohlgefallen hat an dem Willen Gottes, aber der äußere Mensch noch 24 O,] O. 18–19 Vgl. Joh 3,18; 5,24
28–29 Vgl. Jer 17,9
37–1 Vgl. Röm 7,18–23
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vielfältig dienen muß dem Gesetz, welches er in seinen Gliedern findet, und dieses Bewußtsein kann in ihm nichts anders werden als Furcht. Fühlt er aber die Kraft des Geistes in sich verstärkt, fühlt er die Segnungen und das Heil der Erlösung in seiner Seele sich mehren, o dann ist es die Freudigkeit auf den Tag des Gerichts, die sein Inneres erfüllt, dann ist es das belebende Bewußtsein von seiner immer mehr sich entwicklenden | Uebereinstimmung mit Gott, dann ist es dies, daß er alles immer mehr in Beziehung auf das göttliche Leben betrachtet, liebt und schätzt, und das ist die Freudigkeit des Herzens und ein Drittes zwischen Beiden giebt es nicht, es müßte eine gänzliche Bewußtlosigkeit sein über unsern innern Zustand. Vermindert sich also die Furcht, so wächst die Freudigkeit, werden wir der Furcht wieder unterworfen, so nimmt die Freudigkeit ab, steigt diese, so sinkt jene wieder. Ist also die Freudigkeit auf den Tag des Gerichts in uns vollkommen, o dann treibt sie alle Furcht gleich heraus aus der Seele und alle Pein, welche die Furcht mit sich bringt. Das also, m. g. F. das ist das Kennzeichen, welches der Apostel uns angiebt, daß wir daran erkennen sollen, ob die Liebe auch völlig in uns sei, ob diese herrliche und göttliche Gabe und Kraft des Geistes auch recht in uns ausgebildet sey, unser ganzes Leben in | sie hineingewachsen, und alle unsere innern Seelenzustände aus ihr sich erklären lassen. Um aber dies nun recht zu verstehen, so laßt uns nun zweitens fragen, wie meint es denn der Apostel, daß dieser herrliche und in der That vollkommenste und höchste Zustand des Menschen, wo alle Furcht aus seiner Seele verschwunden ist, und nichts anders als Freudigkeit auf den Tag des Gerichts in ihm, in nichts anderm begründet sey und nichts anderes dazu gehöre, als die Völligkeit der Liebe. II. Auch darauf, m. g. F. liegt die Antwort theils in den verlesenen Worten unseres Textes selbst, theils in denen, welche sie zunächst umgeben. Denn da sagt der Apostel „wer da spricht, er liebe Gott und liebt seinen Bruder nicht, der lügt, denn wenn er seinen Bruder nicht liebet, den er doch siehet, wie will er | Gott lieben, den er nicht siehet.“ Damit will er nun nicht etwa sagen, daß die Liebe zu dem Nächsten das Geringere sei, welches vorangehen müsse, und die Liebe zu Gott das Größere, welches dann erst folgen könne, vielmehr ist der erste und tiefste Sinn seiner Worte der, daß alle Liebe, so sie wahrhaft ist, nichts anderes in uns ist, als Liebe zu Gott. Oder, m. g. F. wollen wir an dem Menschen 9 schätzt] schlägt
26 sey und] sey,
31–33 Vgl. 1Joh 4,20
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überhaupt etwas anderes lieben, als daß wir aus dem Werke den Schöpfer erkennen, aus dem Bilde den, zu dessen Bilde er geschaffen ist? Wollen wir an uns selbst etwas anderes lieben, als den Geist, den Gott ausgegossen hat über uns, und durch welchen wir ihn als unsern lieben Vater anrufen? Fern sei es von uns, denn dann wäre unsere Liebe zu den Menschen überhaupt und unsere Liebe zu uns selbst fleischlich, und fleischlich gesinnt sein ist eine Feindschaft wider Gott. Soll unsere Liebe | nicht sein Feinschaft wider Gott, so darf sie auch nichts anders sein, als Liebe zu Gott selbst, denn ein Drittes giebt es auch hier nicht. Wollen wir in unserm Bunde in Christo etwas anders lieben, als denjenigen, der ihn und uns alle geliebt hat, und der uns mit ihm verbunden hat durch das Gebot der Liebe, welches er seinen Jüngern gegeben, wollen wir in ihm etwas anders lieben, als daß er mit allem, was er in seinem geistigen Leben ist, und immer mehr wird, das Gepräge und die Ueberschrift des Erlösers an sich trägt, wenn wir etwas anders an ihm liebten, dann wäre unsere Liebe keine christliche. Und in dem Erlöser selbst, was lieben wir anders an ihm? Nicht das Fleisch und Blut, welches er an sich genommen hat, sondern die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnt, den Vater, der sich in ihm uns offenbart, | und zu dem er uns hinführen will. So ist denn alle Liebe die natürlichste und gewöhnlichste, so sie nur nicht von der Sünde verunstaltet ist, so wie die heilige, deren wir uns in dem Bunde der Christen auf eine besondere Weise erfreuen, alle ist nicht anders als Liebe zu Gott. Wenn wir aber Gott lieben, wie können wir ihn fürchten? Wie kann die Furcht in uns sein vor ihm und auf den Tag des Gerichts? Denn was wir lieben, dasselbe, m. g. F., das sind wir nicht im Stande zu fürchten, sondern wie die Furcht in sich selbst Pein trägt, so auch Mißfallen an dem, was man fürchtet. Wer Gott fürchtet, der liebt ihn nicht, und in so fern wir ihn lieben, ist die Furcht aus der Seele verbannt. Was kann also die völlige Freudigkeit des Herzens auf den Tag des Gerichts, was kann sie | anders sein, als die Völligkeit der Liebe zu Gott, welche die Furcht austreibt. Aber, m. g. F. noch tiefer in diesen Zusammenhang und auf eine noch heiligere und geheimnißvollere Weise gehet das Wort des Apostels hinein, wenn er sagt: „Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm.“ Weil Gott die Liebe ist und also, wenn die Liebe völlig in uns ist, auch Gott völlig in uns ist, so kann denn mit der Völligkeit der Liebe keine Furcht mehr bestehen, weil wir nämlich Gott nicht mehr außer uns haben, nicht außer uns als den Gesetzgeber, der uns einen fremden Willen verkündigt, nicht außer uns, als den Richter, der uns vor sich stellt, sondern in uns als unser 3–5 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6 7 Vgl. Röm 8,7 1Joh 3,23 18–19 Vgl. Kol 2,9
11–12 Vgl. Joh 13,34; 15,12;
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eigenes, innerstes und tiefstes Leben. Und was wir in uns selbst haben, was uns | selbst eigen ist, das können wir unmöglich fürchten, denn Furcht bezieht sich eben auf die Hinderung des Dasein und des Lebens. Das Leben selbst also und die innerste und tiefste Kraft des geistigen Daseins kann unmöglich gefürchtet werden. Das ist so klar, daß ich gar nicht wüßte, wie ich noch ein Wort hinzufügen sollte, oder wozu ein solches nöthig sein möchte, aber nur das Eine müssen wir betrachten, daß jemand sagen könnte, die Stimme des innern Richters, welche eben macht, daß wie der Apostel sagt, bisweilen noch unser Herz uns verdammt, ist das nicht eine Stimme Gottes? Wir haben sie in unserm Innern, und wir erkennen sie, als eine göttliche. Also fürchten wir doch noch Gott, wiewohl wir ihn in uns haben, weil wir ihn auch in uns haben, als unsern Richter. | Wohl, m. g. F. das müssen wir zugestehen, aber laßt uns nur fragen, was ist es doch, worüber unser Herz uns verdammt? Und wir werden die Antwort geben müssen, es ist immer nichts anders als die Unvollkommenheit mit der Liebe, alles, worüber unser Herz uns jemals verdammen kann werden wir darauf zurückzuführen haben. So wie alle Liebe Liebe zu Gott ist, und alles Gute in dem Menschen nur aus der Liebe zu Gott hervorgehen kann, so ist auch jeder Mangel des Guten in nichts anderm begründet, als in dem Mangel der Liebe. Erscheint uns bisweilen dasjenige, worüber unser Herz uns verdammt, nicht als ein Mangel an Liebe, o, m. g. F. so ist das nichts als eine Täuschung, womit unser eigenes Herz uns irre führen will, denn die wahre Liebe hat kein Maaß, welches sie überschreiten könnte, und so | wie wir uns denken, Gott ist die Liebe und doch wissen müssen, daß Gott unbeschränkt und unendlich ist, so ist es auch die wahre Liebe in uns, sie kennt keine Grenzen, und weil sie keine Grenzen kennt, so kann sie auch niemals zu groß sein. Was uns aber eine zu große Liebe dünkt, das ist vielmehr eine zu kleine, weil sie nur auf etwas Kleines und Geringes gerichtet ist, das ist eine falsche und verkehrte, weil sie nicht das wahrhaft Geistige, das wahre Sein und das wahre Wohlergehen dessen, was sie mit einer solchen Liebe lieben, zu ihrem Gegenstande hat. Wenn wir aber von dieser Täuschung nicht befangen sind, würden wir noch irgend etwas aufzeigen können, worüber unser Herz uns verdammt, | das da nicht wäre ein Mangel der Liebe? Noch eins kommt uns freilich entgegen, das ist der Unglaube. Aber m. g. F., der Glaube wie die Schrift sagt, ist durch die Liebe thätig, wo also der Glaube nicht ist, da ist auch die Liebe nicht, und der Unglaube ist immer zugleich der Mangel an Liebe. Aber woher kommt denn der Glaube selbst? Der Glaube, wie der Apostel sagt, kommt aus der Predigt. Aus welcher Predigt? Ach giebt es eine andere, als eben die 9–10 Vgl. Joh 3,20
37 Vgl. Gal 5,6
40–41 Vgl. Röm 10,17
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Predigt der Liebe? Giebt es eine andere, die unsern Glauben erwecken könnte, als die Predigt von der Liebe des Vaters, der seines Sohnes nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahin gegeben? giebt es eine andere, als die Predigt von der Liebe des Sohnes, der sich selbst für uns hingegeben hat, um den gnädigen Willen | des Vaters zu erfüllen? Und wenn diese Predigt nun in uns den Glauben nicht erregt, was ist es, m. g. F. das uns hindert die Kraft des Geistes, der in dem göttlichen Worte wohnet, aufzunehmen in unser Herz und dadurch den Glauben entstehen zu machen, der die Liebe in dem Herzen wirkt und sie zur That des ganzen Lebens macht? Sollen wir sagen, daß der Mangel an Sinn und Empfänglichkeit für die göttliche Liebe des Vaters und des Sohnes, nicht selbst ein Mangel an Liebe sei? So giebt es also nichts anders worüber unser Herz uns verdammet, als den Mangel an Liebe. Wohl also, wenn wir noch eine solche richtende Stimme in unserm Innern haben, kraft deren unser Herz uns verdammt, so kommt das daher, weil noch nicht ganz und ausschließend | wir in Gott sind und Gott in uns, weil es noch etwas anderes giebt, was uns bewegt und treibt und hält und leitet, weil sonst alles aus der Liebe in uns hervorgegangen sein würde, und überall und in jedem Augenblicke unseres Lebens die wahre Unendlichkeit und Ueberschwenglichkeit der Liebe in jeder unsrer Thaten zum Vorschein kommen würde. Nicht also fürchten wir Gott wenn und in sofern er in uns ist und wir in ihm, sondern in sofern unser Leben noch getrennt ist von ihm, der die Liebe ist, also in sofern die Liebe noch nicht völlig in uns ist. Immer sind wir dann noch ähnlich dem ersten Menschen, von welchem die Schrift sagt, daß er Gott geantwortet habe, ich fürchtete mich, als ich deine Stimme hörte im Garten. So wie jene Furcht ihren Grund hatte in der | Sünde, so hat jede Furcht, wenn die Liebe noch nicht zu ihrer Völligkeit in uns gediehen ist, ihren Grund in der Sünde. So wie jene Furcht eine Furcht war vor der äußerlich gehörten Stimme Gottes, so ist es auch immer noch, wenn der Wille Gottes für uns noch ein äußerlicher, ein Gesetz ist, das vor uns steht, und dessen Stimme uns in unserm Innern ertönt, daß dann die Furcht vor Gott in unserm Herzen erwacht. Wenn aber, wenn Gott die Liebe ist, er in uns ist, und wir in ihm, und also die Liebe völlig in uns ist und die Gegenwart Gottes als eine geistige und neue gänzliche uns zu einer innern geworden ist, so ist sie denn auch die Quelle jener unauslöschlichen Freudigkeit, in welcher dann keine Furcht mehr gehört wird, so haben wir auch an nichts eine solche | Freude als an der Gegenwart Gottes in unserm Innern, jeden Augenblick streben wir, sie zu genießen, jeden Augenblick fühlen wir sie in der Kraft der Liebe, und eben dies giebt uns eine Freudigkeit auf den 2–3 Vgl. Röm 8,32
25–27 Vgl. Gen 3,10
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Tag des Gerichts, daß irgend eine äußere Gegenwart Gottes von der wir könnten gestraft werden in unserm Herzen, nichts ist und in keinem Gegensatz und in kein Mißverhältniß und in keinen Widerspruch kann gestellt werden mit dieser innern Gegenwart Gottes in unserm Herzen. Wenn also, m. g. F. der Herr sagt, daß er nicht in die Welt gekommen sei um zu richten, sondern um die Welt selig zu machen, was ist das anders als eben dies, was der Apostel uns hier sagt. Selig sind wir durch die Freudigkeit unseres Herzens auf den Tag des Gerichts | dadurch wenn wir alles Verdammens unseres Herzens überhoben sind durch den, der uns vertritt als unser Hohepriester bei Gott, und der uns den Vater in unserem Innern zeigt durch die Liebe, die aus dem Glauben an ihn hervorgegangen ist, und ihm uns immer neu darstellen kann als diejenigen, in denen er schon Wohnung gemacht mit demselben. Wenn unser Erlöser sagt: „ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander lieben sollt, wie ich euch geliebt habe“, und wir das wohl wissen und fühlen, daß er uns dies Gebot nicht gegeben hat als einen äußern Buchstaben, sondern für alle diejenigen, die an ihm sind wie die Reben an dem Weinstock, die in ihm bleiben und sich von der Kraft seines Lebens durchdringen lassen, ist eben dieses Gebot das innere Gesetz ihres Lebens selbst, die Art, wie sie | sich ihrer innern Natur bewußt sind und das Gesetz, nach welchem sie innerlich leben, daß er uns also so dieses Gebot gegeben hat und in unser Herz hinein gelegt, das ist dasselbe, was er sagt, daß er gekommen sei die Welt selig zu machen. Denn nur durch den Glauben und dadurch, daß die Liebe völlig in uns wird, wie sie in Gott ist, sind wir selig, denn die Seeligkeit ist nur, wenn alle Pein und alle Furcht aus der Seele herausgetrieben ist, die Seeligkeit ist nur, wenn zu nichts mehr, als zu Gott der Mensch eine Freudigkeit hat in seinem Herzen und wenn die Freudigkeit zu Gott alles andere übertrifft. O herrliches Ziel, welches uns allen vorgesteckt ist, daß die Liebe völlig in uns sein soll, daß alle Furcht und alle Pein ver|schwinden und aussterben soll in unserm Leben und unser ganzes Dasein eine Reihe ununterbrochener Freudigkeit des Herzens zu Gott. O herrliches Ziel, das uns nur hat vorgesteckt werden können durch den, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, der Eins war mit dem Vater und ihn in sich trug und auch uns zu ihm hinführen will. O herrliches Ziel, zu welchem wir nicht anders gelangen können als durch den Geist Gottes, den der Herr, der uns das Gebot der Liebe gegeben, uns nicht nur verheißen hat, sondern auch wirklich erbeten 14 sagt:] sagt. 5–6.23–24 Vgl. Joh 12,47 13 Vgl. Joh 14,23 14–15 Joh 13,34 Joh 5,15 34 Vgl. Kol 2,9 34–35 Vgl. Joh 10,30
17–19 Vgl.
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von seinem Vater, so daß er ausgegossen ist über alles Fleisch, welches den Namen Christi bekennt. Anders freilich können wir nicht zu diesem Ziele gelangen, als durch das Wirken des göttlichen Geistes | in unserm Herzen, der uns stark macht und treibt zu demjenigen, was wir zwar als das Gute erkennen, aber auf keine Weise ohne seine Hülfe erringen mögen[,] zu dem lebendigen Wollen des Guten und des Göttlichen, und zu dem Wollen dann auch das Vollbringen hinzufügt in immer reicherem Maaße, so wir nur ihn allein walten lassen in uns und nichts von dem begehren, was ihn betrübt. So laßt uns denn jenes Gebot festhalten, und durch die Kraft des Geistes immer mehr hindurchdringen zu dem Leben aus Gott, zu der Freudigkeit des Herzens, zu der Seligkeit der Liebe und eben dadurch zu dem reinen Schauen und reinen Genuß der Wahrheit | und zu der lebendigen Freiheit der Kinder Gottes[.] Amen.
[Liederblatt vom 20. Juni 1824:] Am 1sten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Wunderbarer König, Herrscher von uns Allen, / Laß dir unser Lob gefallen! / Deine Gnadenströme läßt du auf uns fließen, / Ob wir schon dich oft verließen; / Demuthsvoll / Freudig soll / Unsre Stimm’ erklingen, / Unser Herz dir singen. // [2.] Ja du, meine Seele, singe fröhlich, singe / Ihm dem Schöpfer aller Dinge; / Was nur Odem holet, falle vor ihm nieder, / Bringe Dank- und Freudenlieder! / Er ist Gott / Zebaoth, / Alles soll ihn loben / Hier und ewig droben. // [3.] Hallelujah singe, wer den Herrn erkennet / Und in Christo Vater nennet! / Hallelujah singe, wer da Christum liebet, / Ihm von Herzen sich ergiebet! / Uns zu Theil / Ward sein Heil, / Und wir sollen droben / Ohne Sünd’ ihn loben. // Nach dem Gebet. – Mel. Sollt’ ich meinem etc. [1.] Unter allen großen Gütern, / Die uns Christus zugetheilt, / Ist die Lieb’ in den Gemüthern, / Himmelsbalsam der sie heilt; / Ist ein Stern, der herrlich strahlet, / Und ein Kleinod, dessen Preis / Niemand auszusprechen weiß, / Weil kein Gold es je bezahlet; / Ist die Macht, die jedermann / Zwingen und erfreuen kann. // [2.] Liebe kann uns alles geben, / Was uns ewig nüzt und ziert; / Sie kann unsre Seel erheben, / Sie ist’s die uns aufwärts führt. / Menschen- oder Engelzungen, / Welche Kraft sie auch beseelt, / Wenn dabei die Liebe fehlt, / Wie beherzt sie angedrungen: / Nur ein Erz- und Schellenklang, / Ist ihr herrlichster Gesang. // [3.] Was ich von der Weisheit höre, / Die in alle Tiefen dringt, / Von geheimnißvoller Lehre, / Die sich auf zum Höchsten schwingt; / Selbst die Berge zu versezen, / Durch des Glaubens starke Kraft, /
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Die der Wunder Fülle schafft; / Alles ist für nichts zu schäzen, / Wenn nicht auch der Liebe Geist / Kräftig sich darin beweist. // [4.] Gäb’ ich alle meine Habe / Auch den Armen freudig hin, / Opfert’ ich mich selbst dem Grabe / Hoher Wahrheit zum Gewinn; / Ließ ich meinen Leib gleich brennen, / Und ertrüge jeden Schmerz; / Ist von Liebe leer mein Herz, / Wird es mir nichts nüzen können; / Nur der Liebe reine That, / Ist der wahren Freuden Saat. // [5.] Glaube, Hofnung, Liebe leiten / Uns nicht nur im Pilgerstand; / Ihre Kraft wird uns begleiten / In das wahre Vaterland. / Ja es strecken ihre Grenzen / Sich bis in die Ewigkeit; / Und auch dort wird Liebe weit / Ueber Glaub’ und Hofnung glänzen; / Sie schafft Heil und Segen hier, / Sie beseligt für und für. // [6.] O du Geist der reinen Liebe, / Segensquell in Freud und Schmerz! / Laß mich spüren deine Triebe, / Komm’ und senk dich in mein Herz! / Laß mich kräftig widerstreben / Allem, was nicht gut es meint / Mit dem Feind wie mit dem Freund, / Was mich reizt nur mir zu leben. / Geist der Liebe, lenke hin / Zu der Liebe meinen Sinn. // Nach der Predigt. – Mel. Jesu der du meine Seele etc. Heil und unvergänglich Leben, / Thust du Gott uns allen kund. / Um zu dir uns zu erheben, / Schloß dein Sohn der Liebe Bund. / Seit er in dem bängsten Streite / Sich mit seinem Blut mir weihte, / Zeiget nun den Weg zu dir / Nur der Geist der Liebe mir. //
Am 27. Juni 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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2. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 5,24–30 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 347–364; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 147v–156r; Saunier, in: Schirmer Nachschrift; SAr 63, Bl. 33r–36v; Woltersdorff Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 2. Sonntage nach Trinitatis 1824. Tex t. Joh. 5, 24–30. Warlich, warlich ich sage euch, Wer mein Wort höret und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist von dem Tode zum Leben hindurchgedrungen. Warlich, warlich ich sage euch, es kommt die Stunde und ist schon jezt, daß die todten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören werden, die werden leben. Denn wie der Vater das Leben hat in ihm selbst, also hat er dem Sohne gegeben das Leben zu haben in ihm selbst. Und hat ihm Macht gegeben, auch das Gericht zu halten, darum, daß er des Menschen Sohn ist. Verwundert euch deß nicht, denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören, und werden hervorgehen, die da gutes gethan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber übels gethan haben zur Auferstehung des Gerichts. Ich kann nichts von mir | selbst thun, wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist recht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der mich gesandt hat. Der Erlöser, m. a. Fr., fährt in diesen Worten noch eben damit fort, was auch schon der Inhalt des vorigen Theils unserer Rede war, auf der einen Seite sich selbst darzustellen in der vollkommenen Uebereinstimmung mit seinem himmlischen Vater, so aber, daß er alles auf ihn als 20–21 Vgl. oben 13. Juni früh über Joh 5,15–23
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die ursprüngliche und erste Quelle zurükkführt, zugleich aber sich darzustellen als denjenigen, von welchem und durch welchen uns alles kommt, alles Heil und alles Leben, und als den Mittelpunkt aller menschlichen Dinge. Es sind aber nun die verlesenen Worte nicht etwa eine bloße Wiederholung dessen, was der Herr früher schon gesagt, sondern überall finden wir auch in diesen Worten eigenthümliches und besonderes, was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. So fängt er gleich damit an, Warlich, warlich ich sage euch, wer mein Wort höret und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Sonst führt der Erlöser alles auf den Glauben an sich selbst zurükk. Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, hat er schon früher bei unserem Evangelisten gesagt, auf daß, wer an ihn, den Sohn, glaubt, nicht gerichtet werde; wer aber nicht glaubt, der sei schon gerichtet, weil er nicht glaube an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes. Hier aber sagt er, Wer mein Wort hört und glaubt – und nun fährt er nicht fort an mich, sondern an den, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben. Sagt er nun das eine Mal etwas anderes als das andere Mal? Oder ist denn das eine etwas anderes als | das andere? Das dürfen wir wol nicht glauben, sondern wir müssen bedenken, was er anderwärts sagt, es kenne niemand den Vater als der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren, und es könne niemand zum Vater kommen als durch den Sohn, und eben so müssen wir an das denken, was er hier sagt, daß er nichts von sich selbst weder rede noch thue, sondern nur, was ihm der Vater zeigt, und was er den Vater thun siehet. So giebt es also keinen andern Glauben an ihn, als welcher ist der Glaube an den, der ihn gesandt hat; aber es giebt auch keinen andern Glauben an den Vater, als an den, der den Sohn in die Welt gesandt hat. Und gewiß, m. g. Fr., ist das der einzige Glaube an Gott, von welchem das wirklich gesagt werden kann, daß der, der ihn gefaßt hat, das ewige Leben habe, wie der Erlöser sagt. Wenn der Apostel Jakobus in seinem Briefe redet von einem Glauben an Gott, den die Teufel auch haben, aber sie zittern, so ist das also ein Glaube, der das Leben nicht giebt, sondern mit welchem und in welchem noch der Tod ist. Was liegt aber zwischen diesen beiden, zwischen diesem Glauben und dem Glauben an den Vater, als den, der seinen Sohn gesandt hat in die Welt, auf daß die Welt durch ihn selig werde? Nichts anderes, m. g. Fr., als ein solches Ungewisses Schwanken des menschlichen Herzens zwischen dem Glauben und dem Unglauben, in welchem das ewige Leben 13–16 Vgl. Joh 3,17–18 25–26 Vgl. Joh 5,19–20
22–23 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22 32–34 Vgl. Jak 2,19
23–24 Vgl. Joh 14,6
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nicht ist. Der Glaube an Gott, als den Urheber der Welt, der Glaube an ihn, als denjenigen, der alles erhält und trägt, der allein kann das Herz nicht selig machen; denn in demjenigen, was wir hier sehen, was wir inne werden als das Werk Gottes, sehen und fühlen wir auch etwas, was der Keim und der Grund unserer Unseligkeit ist. Nur wenn wir ihn erkennen und an ihn glauben als an denjenigen, der auch dieser Unseligkeit ein Ende macht, nur dann ist in dem | Glauben an ihn das ewige Leben; und auf keine andere Weise konnte und wollte er – denn beides ist nicht verschieden, sondern eins und dasselbige – dieser Unseligkeit ein Ende machen, als indem er seinen Sohn in die Welt sandte, auf daß, wer an ihn glaubt, nicht verloren werde. Nur in diesem Glauben an ihn den Vater, der seinen Sohn gesandt hat, welchen Glauben wir dadurch haben, daß wir das Wort des Sohnes hören, nur darin haben wir das ewige Leben. Also wer mein Wort hört, konnte der Erlöser mit vollem Rechte sagen, so daß er dem, der mich gesandt hat, glaubt, und auch daran glaubt, daß ich vom Vater in die Welt gesandt sei, der hat das ewige Leben. Und auch hier, m. g. Fr., dürfen wir nicht an den Worten des Erlösers deuten, daß er etwa sagen will, dem ist das ewige Leben erst verheißen, daß er es in Zukunft einmal erlangen wird, sondern er sagt, Der hat das ewige Leben, und das meint er auch ganz buchstäblich und wörtlich, wie wir uns auch davon überzeugen können, wenn wir auf den Zusammenhang sehen, in dem er sagt, Der kommt nicht in das Gericht. Haben wir jezt noch nicht das ewige Leben in dem Glauben an ihn, sondern suchen es erst zu erlangen, wenn wir aus diesem irdischen Leben hinübergehen zu einem andern Abschnitt unseres Daseins, so erlangen wir es erst durch das Gericht. Der Erlöser aber sagt, Wer mein Wort höret und glaubt dem, der mich gesandt hat, der kommt nicht in das Gericht, er kann also auch das ewige Leben nicht erst bekommen, sondern muß es schon haben, wie das denn auch übereinstimmt mit dem, was der Erlöser gleich darauf sagt, Der ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen, was doch niemand von einer sei es nahen oder fernen Zukunft verstehen kann, sondern immer als etwas unmittelbar gegenwärtiges denken muß. Wie sollten wir auch, m. g. Fr., daran zweifeln, wie sollte es nicht unser eigenes innerstes Bewußtsein und die unmittelbare | Erfahrung unseres Herzens sein, daß wir im Glauben an ihn das ewige Leben wirklich haben und schon jezt vom Tode zum Leben hindurch gedrungen sind? Der Erlöser, m. g. Fr., als er diese Worte sprach, da hatte er wol nur erst eine sparsame menschliche Erfahrung davon, wie sich das in den Menschen ereignete und entwikkelte, daß sie im Glauben an ihn 10–11 Vgl. Joh 3,16
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das ewige Leben hatten. Klein war die Anzahl derer, die den lebendigen Glauben an ihn und an den, der ihn gesandt hatte, aus seinen Reden schöpften; wankelmüthig war der Glaube derer, die er seine Jünger nannte, und die sich selbst so nannten und aus seinen Worten das Leben zu schöpfen suchten. Aber in der Fülle seines Bewußtseins, in dem Bewußtsein der göttlichen Kraft, die in ihm wohnte, in diesem unumstößlichen Glauben, daß er der Sohn Gottes sei, daß er eins sei mit seinem Vater, konnte er diese Worte reden mit einer solchen Zuversicht, wie wir sehen, daß er sie nicht nur hier und öfter auch in unserm Evangelio, sondern auch bei den andern Evangelisten häufig geredet hat, und gewiß auch sonst noch dasselbe gesagt. Und so, m. g. Fr., ist es auch mit dem ewigen Leben, welches wir im Glauben an ihn und an den, den er gesandt hat, haben. Wir haben es, so gewiß wir von diesem Glauben erfüllt sind; aber wir fühlen auch, was davon zur Erscheinung kommt in diesem unserem irdischen Leben, was sich davon in unserer äußeren Wirksamkeit zeigt und so in unser eigenes Bewußtsein zurükkstrahlt, das ist noch etwas schwaches und unvollkommenes, aber in diesem lebendigen Glauben des Herzens, in diesem lebendigen Gefühl unseres innersten Daseins und des geistigen Lebens, welches, wie getrübt auch die äußere Erscheinung sein mag, doch immer eins und dasselbe ist, darin haben wir das ewige Leben, und darum ist der Glaube selbst das ewige Leben, weil er in dem innersten tiefsten Bewußtsein des Menschen ist, wo er seine | unvergängliche Kraft ausübt und offenbart, wenn er gleich nicht immer in die Erscheinung tritt und das ewige Leben, welches in ihm ruht, äußerlich darstellt. Aber da haben wir es so gewiß, als wir glauben an ihn und in diesem Glauben mit ihm Eins geworden sind und wissen, daß wir aus dem Tode zum Leben hindurch gedrungen sind, wenn es gleich vieles in unserem Leben giebt, was uns daran mahnet, daß wir in dem Lande des Todes wandeln, wenn auch die äußere Erscheinung des ewigen Lebens noch unterworfen ist, wie denn alles in diesem irdischen Leben ein Wechsel ist zwischen Wachen und Schlaf, zwischen Licht und Finsterniß, so noch auf mannigfaltige Weise unterworfen ist dem Wechsel des stärkern und des schwächern, des bedeutendern und minder wichtigen. In der Erscheinung ist der Wechsel, aber im innern giebt es eine feste und unwandelbare Gemeinschaft zwischen Gott und der Seele, zwischen Christo, von welchem das Leben ausgeht, welches über allen Wechsel erhoben ist, und zwischen der Seele, die so durch ihn genährt wird. Wie konnte aber wol der Herr daran denken, daß nur diejenigen, welche so sein Wort hören, daß sie glaubten an den der ihn gesandt hat, vom Tode zum Leben hindurch gedrungen sind, ohne mit seinem Herzen voll Liebe auch an diejenigen zu denken, welche noch im Tode liegen? Aber darum fährt er in seinem Glauben an seine göttliche Be-
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stimmung damit fort, daß er sagt, Warlich, warlich ich sage euch, es kommt die Stunde und ist schon jezt, daß die todten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben. Denn daß der Herr hier von keinem andern als von diesem geistigen Tode redet, aus welchem die Menschen nur durch den Glauben an ihn zum ewigen Leben hindurchdringen können, das sehen wir an der ganzen Art und Weise seiner Rede. Denn einmal sagt er, Die Stunde sei schon jezt, da die todten seine Stimme hören, und | welche sie hören, sagt er, die werden leben, woraus wir eben sehen, daß er nicht jene Zeit der Auferstehung meint, wo alle todten seine Stimme hören werden, von welcher er in der Folge redet, sondern er stellt uns dies, daß die todten seine Stimme hören, als etwas unmittelbar gegenwärtiges dar, als etwas, was schon angefangen habe und immer mehr um sich greifen würde unter den Menschen. Die Zeit hat angefangen, daß die todten die Stimme des Sohnes Gottes hören, sie fährt immer fort durch das menschliche Geschlecht zu dringen, und die welche sie hören, die werden leben, die dringen auch vom Tode zum Leben hindurch und haben das ewige Leben im Glauben. Dessen freuete sich der Herr, als er die in dem geistigen Tode erstarrte Welt um sich her sah, damit tröstete er sich während seines irdischen Lebens, als er nur eine so kleine Anzahl derer erblikkte, die an ihn glaubten, und von denen er fühlte, das er ihnen das ewige Leben geben könne. Die Stunde ist da, die Zeit hat angefangen und geht nun immer fort seit seiner Erscheinung, so lange das menschliche Geschlecht auf Erden lebt; denn so lange verhallt die Stimme des Sohnes Gottes nicht mehr, sondern immer weiter verbreitet sie sich über alle Geschlechter der Menschen, so daß alle todten, die weit und breit zerstreut sind in dem großen Gebiet der göttlichen Schöpfung, sie hören, und welche sie hören, die werden leben. Wie er nun ist, so sagt der Jünger, der uns diese Rede des Herrn mitgetheilt hat, so sind auch wir in dieser Welt. Wohl, m. g. Fr., erschallt noch immer die Stimme des Sohnes Gottes, so daß noch jezt die todten diese Stimme hören und aus dem Tode zum Leben übergehen. Aber sie erschallt durch die Gemeine des Herrn. Freilich zunächst erschallt sie durch das Wort der heiligen Schrift, durch das feste Wort seines Mun|des, welches nun auch nicht wieder untergeht, sondern, wie wir zu Gott hoffen, aus einer Zeit in die andere wird fortgepflanzt werden. Aber auch dieses hat sein Bestehen nur in der Gemeine des Herrn und durch sie, sie ist der Träger des Worts, welches der Herr geredet hat, und das lebendige Wort aller derer, die an ihn glauben und dem geschriebenen Worte Zeugniß geben, daß kein andrer Name den Men30–31 Vgl. 1Joh 4,17
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schen gegeben ist, darin sie sollen selig werden, denn allein der Name Jesu Christi, das ist die ununterbrochen fortgehende Stimme des Sohnes Gottes, und welche todten sie hören, die werden leben und im Glauben an ihn und in der Freiheit, die sie ihm zu verdanken haben, aus dem Tode zum Leben hindurchdringen. Denn, fährt er fort, wie der Vater das Leben hat in ihm selbst, also hat er dem Sohne gegeben das Leben zu haben in ihm selbst. In diesen Worten nun kehrt der Erlöser zurükk zu jener Vergleichung zwischen sich und dem Vater, zu jenem Gefühl seines Verhältnisses zu Gott, welches er auch im vorigen schon ausgesprochen hatte, er könne nichts von ihm selbst thun, sondern nur, was er den Vater thun sehe, das thue gleich auch er. Hätte der Vater das Leben nicht in sich selbst, so hätte es auch der Sohn nicht in sich selbst, wie es aber der Vater hat, so hat es auch der Sohn eben deswegen, weil der Vater ihm die Macht gegeben hat, es in sich selbst zu haben. Wie hat nun der Vater das Leben in ihm selbst? Nicht so, daß er allein lebte, und alles um ihn her todt wäre, auch nicht so, daß er das Leben in ihm selbst hätte, und andere Wesen hätten auch das Leben in ihnen selbst. Nicht also; sondern so hat der Vater das Leben in ihm selbst, daß sein Leben die Quelle ist von allen andern. Und also hat er auch dem Sohne | das Leben gegeben zu haben in ihm selbst, nicht so, daß er die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, für einen Raub hielt und als solchen für sich behielt, sondern daß sein Leben die Quelle würde alles andern geistigen Lebens, welches kein andrer in ihm selbst hat, sondern alle nur aus seiner Fülle nehmen, aus seiner Fülle immer reicher und seliger schöpfen können; und niemals erschöpft sie sich und versiegt, sondern immer können neues Leben aus derselben hernehmen alle diejenigen, die ernstlich verlangen nach der geistigen Nahrung. Das ist das innerste und tiefste Bewußtsein, welches der Erlöser von sich selbst hatte, daß er die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, die Worte, die er von seinem Vater gehört, die Werke, die ihm der Vater zeigte und die Macht dazu in ihn gelegt hatte, ansah und fühlte nicht nur als sein Leben, sondern auch als die Quelle alles andern Lebens, die aber auch nur er in sich selbst hatte. Wir haben das Leben nicht in uns selbst, sondern wir haben es aus ihm und durch ihn, aber er hat es uns nun auch gegeben, daß es als das von ihm kommende die Quelle des Lebens für andere sein soll. Alle, die an ihn glauben und im Glauben an ihn das Leben haben, so daß sein Leben in ihnen hindurchgedrungen ist, die sollen auch zugleich, daß ich so sage, ein Durchgang sein seiner beseligenden und belebenden Kraft, und von ihm aus soll ihr Leben, welches kein andres 11–12 Vgl. Joh 5,19–20
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ist als das seinige und sein Leben in ihnen geworden ist, in andere überströmen. Das ist die Fortpflanzung seines Lebens über das menschliche Geschlecht, das ist die Fortsezung der seligen Gemeinschaft des Geistes, der ihn erfüllte, in allen denen, die ihr Heil in ihm suchen, die Fortsezung der ihm ursprünglichen Offenbarung Gottes, kraft welcher er in dem Vater war, und der Vater in ihm und eins mit ihm, und eben so auch er in uns, und wir in ihm und eins mit ihm. Wie der Vater das Leben hat in | ihm selbst, so hat er auch dem Sohne gegeben das Leben zu haben in ihm selbst, und deswegen eben ist er der eingeborne Sohn Gottes, aber wir sind immer nur durch ihn Kinder Gottes, und das ewige Leben des Sohnes, das sollen wir auch haben nicht als eine ursprüngliche Quelle, aber als einen Strom des Lebens, der von ihm ausgeht und sich immer weiter verbreitet, so daß immer mehr dadurch das todte zum Leben gebracht werde, und immer weiter sich erstrekke das Leben, welches der Vater dem Sohne gegeben hat zu haben in ihm selbst. Aber nun fährt er fort, Und hat ihm Macht gegeben, auch das Gericht zu halten, darum, daß er des Menschen Sohn ist. Wenn der Erlöser hernach fortfährt, Verwundert euch des nicht, so mögen wir uns doch wol verwundern. Denn wenn er früher schon gesagt hat, Ich bin nicht gekommen die Welt zu richten, sondern daß ich die Welt selig mache, so sagt er nun hier, wie er es freilich auch vorher schon gesagt hat, Der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohne gegeben, so wiederholt er dasselbe nun auch hier, Der Vater hat dem Sohne Macht gegeben auch das Gericht zu halten, darum, daß er des Menschen Sohn ist. Wie bringen wir dies beides in Uebereinstimmung? Der Sohn ist nicht dazu in die Welt gekommen, daß er die Welt richte, sondern daß er sie selig mache. Das ist der eigentliche Zwekk seines Lebens, dadurch allein wird der ewige Rathschluß Gottes mit dem menschlichen Geschlecht erreicht. Aber zwischen diesem, da liegt nun freilich das Gericht, da liegt die immer weiter fortgehende und immer weiter sich entwikkelnde Scheidung derer, die das Wort des Sohnes, welches an sie ergeht, hören und dadurch aus dem Tode zum Leben hindurchdringen, von denen, die es nicht hören und deshalb noch im Tode bleiben. Wir sollen uns also dieses Gericht denken als etwas nothwendiges und unvermeidliches, aber als das, wodurch doch der ei|gentliche Zwekk der Sendung des Erlösers keinesweges erreicht wird, sondern erst durch das Seligmachen, erst durch die allgemeine Verbreitung seiner Seligkeit über die Welt wird dieser Zwekk erreicht, denn dazu, sagt der Herr, sei er in die Welt gekommen; das Gericht zu halten aber hat ihm der Vater deshalb 21–22.27–28 Vgl. Joh 3,17; 12,47
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gegeben, weil er des Menschen Sohn war. Nicht deswegen sagt er, weil er der Sohn Gottes ist, denn deswegen würde von ihm eben nur dasselbe gelten, was von dem Vater gilt, Der Vater richtet niemand, sondern deswegen, weil er des Menschen Sohn ist. Er allein, in welchem göttliches und menschliches vereint war, er allein vermag die Menschen zu richten, und ihm allein hat der Vater die Macht gegeben das Gericht zu halten. Das ist dasselbe, was der Apostel von ihm sagt, Er hatte nicht nöthig, daß man ihm sagte, was in dem Menschen war, sondern er wußte immer im Voraus und erkannte die innersten Tiefen des menschlichen Herzens; das ist dasselbe, was wir anderwärts lesen, daß das Wort Gottes, welches in ihm Fleisch geworden ist und unter uns gewandelt hat auf menschliche Weise, eben dasselbe lebendige und ewige Wort Gottes jezt wie immer Mark und Gebein durchdringt und bis in das innerste der Seele und des Lebens hineindringt. Er allein, eben deswegen, weil er des Menschen Sohn ist, weil er das göttliche und menschliche vereinigt in sich trägt, weil er allein den Zusammenhang und das Verhältniß des menschlichen und göttlichen zu verstehen und zu beurtheilen vermag, er allein kann richten, und darum hat der Vater ihm und keinem andern die Macht gegeben das Gericht zu halten. Und wiewol er nicht richten will, und auch diejenigen, die an ihn nicht glauben, gerichtet werden, weil sie nicht glauben an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes, so daß also das Gericht nicht seine That | ist, so ist er es doch allein, der die Macht hat das Gericht zu halten, er ist es allein, auf dem alle Scheidung unter den Menschen beruht, derer, welche an ihn glauben, und derer, in welchen der Glaube an ihn noch nicht aufgegangen ist, derer, die in der Gemeinschaft mit ihm ihr Heil suchen, und derer, die es versäumen ihr Heil bei ihm zu suchen, derer, die im Glauben an ihn das ewige Leben haben, und derer, die nicht glauben und deswegen im Tode bleiben. Verwundert euch des nicht, fährt er fort, denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören, und werden hervorgehen die das gute gethan haben zur Auferstehung des Lebens, die aber das schlechte gethan haben zur Auferstehung des Gerichts. Hier nun redet der Erlöser von jenem Ende aller menschlichen Dinge, von jener Zeit, wo alle die in den Gräbern sind seine Stimme hören werden, und hier redet er nicht von den geistig todten, sondern von denen, die in den Gräbern sind, und unterscheidet dadurch deut13 menschliche] menschlische 3 Joh 5,22
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lich und bestimmt jene frühern Worte, in denen er auf das Lebendigmachen der geistig todten hinweist, von diesen Worten, wo er von einer Zeit redet, in welcher alle seine Stimme hören werden und auf den Ruf seiner Stimme hervorgehen werden aus den Gräbern. Und nun drükkt er jene Scheidung aus, Die einen werden hervorgehen zur Auferstehung des Lebens, das sind die, die das ewige Leben schon gehabt haben im Glauben an ihn. Wie könnten diese auch anders aus den Gräbern hervorgehen, wie könnte irgend ein Zustand, in welchen sie dann übergehen sollen, etwas anders sein als die Fortsezung des ewigen Lebens, dessen sie hier schon theilhaftig geworden sind. Diese also gehen hervor zur Auferstehung des Lebens, die andern aber nicht des Todes, sagt er, sondern des Gerichts. Und wir dürfen es auch nicht glauben, m. g. Fr., daß er durch | diesen Ausdrukk habe verhüllen wollen den eigentlichen Zustand derer, die nicht an ihn geglaubt haben, sondern er meint es ganz ernstlich und wörtlich und will uns davon eine Ahndung geben, daß es eine Auferstehung zum ewigen Tode nicht giebt, sondern nur zum Gericht, weil diejenigen immer schon gerichtet sind, die nicht an ihn glauben; aber nicht glauben ist ein Zustand, der vorüber gehen kann durch die immer fortgehende und immer weiter sich verbreitende Stimme des Sohnes Gottes, weil er gekommen ist, die ganze in dem geistigen Tode ruhende Welt zur Anschauung und zum Genuß des ewigen Lebens zu bringen, und seine eigene Seligkeit in alle menschliche Herzen einzusenken. Denn was sollte der Kraft dessen zu gering oder zu groß sein, dem Gott die Macht gegeben hat das Gericht zu halten? Aber woran unterscheidet nun hier der Erlöser die, welche hervorgehen zur Auferstehung des Gerichts und die, welche hervorgehen zur Auferstehung des Lebens? Hier werden wir zu unserer großen Verwunderung nicht zurükkgewiesen nach der Aehnlichkeit mit seinen frühern und spätern Worten, die wir bald hören werden, wir werden nicht zurükkgewiesen auf den Glauben an ihn und an den, der ihn gesandt hat, sondern, Die das gute gethan haben, sagt er, die werden hervorgehen zur Auferstehung des Lebens, die aber das schlechte gethan haben, zur Auferstehung des Gerichts. Sollen wir nun glauben, auch das sei wieder etwas anderes als jenes Glauben an ihn und jenes Nichtglauben, und der Erlöser rede hier von jenem Gutesthun, welches auch von denen gelten kann, die nicht an ihn glauben, und er unterscheide dieses Gutesthun von einem Schlechtesthun, welches auch denen in einzelnen Augenblikken der Schwachheit begegnen könne, die an ihn glauben, und dieses wiederum von dem Schlechtesthun derer, die nicht an ihn glauben? Das 17–18 Vgl. Joh 3,18
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kann seine Meinung nicht gewesen sein; warum aber drükkt er sich nicht so aus wie sonst und auf die gewöhnliche und uns bekannte Weise? Warum | reißt er uns hier aus dem Zusammenhang des Glaubens in das Gebiet des menschlichen Thuns, aus dem allgemeinen und in sich selbst einen in etwas besonderes und mannigfaltiges, und führt uns auf so etwas allgemein menschliches zurükk, wie da ist der Unterschied zwischen dem Gutesthun und dem Schlechtesthun? Gewiß, m. g. Fr., muß etwas tiefes und verborgenes in den Worten des Erlösers liegen, was wir uns erst müssen an das Licht ziehen, und was wir auch finden werden, wenn wir davon ausgehen, daß in ihm kein Widerspruch ist, und daß er nicht, wie dies andern Menschen nicht selten begegnet, einmal so und dann wieder entgegengesezt gedacht und gemeint hat. Es giebt, m. g. Fr., kein anderes gutes, als was aus dem Glauben an ihn hervorgeht, weil es kein anderes Leben giebt, als was aus dem Glauben an ihn kommt, so wie das das einzig schlechte ist, was seinen Grund und Ursprung in dem Unglauben hat. Der Erlöser hat sich aber so ausgedrükkt, weil er redet von allen, die in den Gräbern sind; aber in den Gräbern sind viele und werden daraus hervorgehen, die weil sie die Stimme des Sohnes Gottes, welche auch sie zum Leben rufen kann, in ihrem zeitlichen und irdischen Leben nicht gehört haben, auch nicht an ihn glauben konnten. Dann aber, wenn alle die in den Gräbern sind, aus denselben hervorgehen sollen, müssen sie auch alle hervorgehen entweder zur Auferstehung des Lebens, oder zur Auferstehung des Gerichts. Die nun das gute gethan haben, welches mit dem Glauben an den Erlöser nothwendig und wesentlich zusammenhängt, die werden hervorgehen zur Auferstehung des Lebens. Die das Bewußtsein und das Gefühl haben, daß der Mensch ohne eine besondere Hülfe von oben und ohne ein neues Leben, welches in ihm gegründet werden muß, das Ziel seiner Bestimmung nicht erreichen kann, die, da sie gegangen sind in ihrem irdischen Leben in der Sehnsucht nach dem besseren, in dem Gefühl ihres verwirrten verfinsterten und ver|derbten Zustandes, und aus dieser Sehnsucht und aus diesem Gefühl heraus gehandelt haben, was daraus hervorgehen kann in einem von dem lebendigen Worte Gottes nicht erleuchtetem Leben, die haben das gute gethan, weil sie das gethan haben, was mit dem Glauben an den Erlöser zusammenhängt und von demselben nicht getrennt werden kann, weil sie solche gewesen sind, die, wenn sie die Stimme des Sohnes Gottes gehört hätten, wenn sie zu ihren Ohren gedrungen wäre, ihr auch würden geglaubt haben und sich mit ihrem Herzen hingewendet zu dem, der allein allen das ewige Leben geben kann. Die aber das schlechte gethan haben, weil das Wort 7 Schlechtesthun] Schlechtesthnn
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Gottes nicht tiefe Wurzel geschlagen hat in ihrem innern, und ist wieder untergegangen unter den Sorgen und Genüssen, unter den Trübsalen und Freuden des irdischen Lebens, oder mögen sie es nicht gehört haben, oder auch nicht haben hören können, haben aber das gethan, was diejenigen thun, die das Wort hören aber sie verlieren es wieder, weil es keinen festen Grund in ihrem Gemüthe hat und auf einen schlechten Boden gefallen ist, die haben das schlechte gethan, was diejenigen thun, welche noch nicht hervorgehen zur Auferstehung des Lebens, sondern zur Auferstehung des Gerichts. Aber auch diesen Ausgang der menschlichen Schikksale will der Erlöser nicht sich selbst zuschreiben, denn er sagt, Ich kann nichts von mir selbst thun; wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist recht, denn ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der mich gesandt hat. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist recht; dazu gehört nun zweierlei: einmal, was der Erlöser nicht ausdrükklich sagt, daß er auch richtig höre, und daß, nachdem er richtig gehört hat, er auch richtig beurtheile. Beides | zusammen stellt er dar als dasjenige, was er nicht von sich selbst thue. Er kann nicht anders als richtig hören, weil er die Wahrheit ist, und daher hat er die Macht das Gericht zu halten, weil er die selbständige untrügliche Wahrheit ist, und das wahre in ihm ist; daher hat er auch allein die Macht das Gericht zu halten, die Menschen zu erkennen und zu beurtheilen. Er kann deswegen, weil er das Maaß des guten und des schlechten in sich trägt, weil er im Stande ist das menschliche in dem Lichte der Wahrheit zu sehen, vollkommen zu sehen und zu beurtheilen, so kann er nur richtig sehen. Er thut aber auch das nicht von ihm selbst, sondern es ist das von dem Vater ihm gegebene. Wie er nun nicht anders als richtig hören kann, so kann er auch, nachdem er gehört hat, nicht anders als recht richten, weil er überall nicht seinen Willen thut, sondern den Willen des Vaters, der ihn gesandt hat. Deswegen also weil er nicht anders kann als urtheilen nach dem Maaße, welches in der Fülle der Gottheit liegt, die in ihm wohnt, weil er kein anderes Maaß nehmen kann als den Unterschied zwischen dem Leben und dem Tode, so kann er auch nicht anders richten als nach dem Willen dessen, der ihn gesandt hat. Was ist nun aber dieser Wille? Kein andrer, als daß diejenigen, die an den Sohn Gottes glauben, das ewige Leben haben im Glauben an ihn und in der Vereinigung mit ihm, und daß durch den, den der Vater gesandt hat, die ganze Welt selig werde. Auch die Auferstehung als solche, in so fern sie eine Scheidung ist der Auferstehung zum Leben 33 Vgl. Kol 2,9
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und der Auferstehung zum Gericht, ist noch nicht die gänzliche Vollendung des göttlichen Willens, denn der ist immer nur vollendet, wenn alle durch | den, der vom Vater in die Welt gesandt ist, wirklich selig geworden sind. Gerecht und wahr ist aber zu jeder Zeit das Gericht, vermöge dessen die einen hervorgehen zum Leben, und die andern zum Gericht; gerecht und wahr ist das Gericht, vermöge dessen die einen das ewige Leben schon haben, die andern aber es erst bekommen müssen, und dieses Leben den Tod in ihnen überwinden muß. So, m. g. Fr., stellt sich der Erlöser hier dar als den Mittelpunkt aller menschlichen Dinge. Ihm hat der Vater die Macht gegeben das Gericht zu halten, und wie der Vater die ganze Welt geschaffen hat kraft des Lebens, welches in ihm ist, so schafft der Sohn die geistige Welt, das Leben, die Freiheit und den Frieden aus dem Leben, welches ihm Gott gegeben hat, daß er es habe in ihm selbst; und wie er allein in dem Lichte Gottes schauet, so weiß er allein, was in jedem Menschen ist, und kennt die, welche schon durch ihn und durch seine Kraft aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen sind, wird aber auch nicht aufhören zu seiner Zeit diejenigen zu erwekken – denn wie sollte er, dem alle Gewalt gegeben ist, nur für diejenigen da sein und wirken, zu denen seine Stimme schon gedrungen ist? – die noch im Tode liegen, wenn wir auch nicht begreifen, wann und wie er sie lebendig machen wird. In allem aber, was er thut, ist er eins mit dem Vater, denn er thut nichts von ihm selbst, sondern nach den Worten, welche er von dem Vater gehört, nach den Werken, die ihm der Vater gezeigt hat. Für uns aber ist er der Anfang und das Ende aller Seligkeit, für uns ist er die Quelle des Lebens, die uns Gott geöffnet hat, und aus der wir alle schöpfen können, und nur durch ihn und durch sein Wort, indem wir es hören, können wir aus dem Tode zum Leben hindurchdringen, so aber, | m. g. Fr., daß wir niemals das Leben in uns selbst haben, sondern immer müssen wir in ihm bleiben, wie die Reben an dem Weinstokk, immer aufs neue müssen wir das Leben von ihm empfangen. Haben wir es aber einmal von ihm empfangen, so werden wir nimmer aufhören es wieder von ihm zu nehmen; wo sollten wir hingehen? denn er allein hat Worte des ewigen Lebens! Amen.
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31–32 Vgl. Joh 15,4
34–35 Vgl. Joh 6,68
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Am 4. Juli 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
3. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 17,3 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 303–317 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 495–507; 21844, S. 547–559 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 405–415 b. Nachschrift; SAr 88, Bl. 16r–33v; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 63, Bl. 37r–40v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers Vom christlichen Strafen und Vergeben.
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Text.
Luc. 17, V. 3.
M. a. F. Worüber wir neulich nach Anleitung der Worte des Apostels Johannes mit einander geredet haben, daß es nämlich die höchste Vollkommenheit der Liebe sey, wenn sie alle Furcht austreibe, so daß von dieser und ihrer Pein nichts mehr zurückbleibe in dem Menschen: dies hat sich mir als etwas so Großes und Wichtiges für das ganze Leben des Christen dargestellt, daß ich für gut gehalten habe, diesem Gegenstand noch im Einzelnen in mehreren Vorträgen nachzugehen. Dazu gehört denn auch, was der Erlöser in den verlesenen Worten uns als eine Vorschrift aufstellt in Beziehung auf die Sünden unserer Brüder; eine Vorschrift, welche, wie Alles, was aus seinem Munde kommt, nur den Geist der Liebe athmen kann, und der reinste Ausdruck der Liebe in ihrer höchsten Vollkommenheit seyn muß; wir wollen nun sehen, indem wir diese Worte ihrem ganzen Inhalte nach nä8 diesem] diesen 3–9 Vgl. oben 20. Juni vorm. über 1Joh 4,16–18. Folgende Vormittagspredigten gehören außerdem zu der Themareihe: 4. Juli über Lk 17,3; 25. Juli über Mt 16,24–25; 1. August über Mt 14,28–31 sowie 15. August über Lk 14,26.
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her erwägen, wie auch hierbei, im Strafen und Vergeben, Alles darauf ankommt, daß die Liebe ohne Furcht sey. Es wird aber dazu nöthig seyn, daß wir zuerst den Fall näher ins Auge fassen, den der Erlöser hier voraussetzt, und dann werden wir erst im Stande seyn, zweitens seine Vorschrift selbst ihrem wahren Inhalte nach zu begreifen. I. Der Erlöser sagt nämlich, was das Erste betrifft: „so dein Bruder an dir sündigt.“ Diese Worte, m. g. F., können dem gewöhnlichen Menschen ganz verständlich erscheinen und natürlich, der Christ aber wird sich nicht erwehren können allerlei | Bedenken dagegen in seiner Seele Raum zu geben. Was heißt das eigentlich, m. g. F., „so dein Bruder an dir sündigt?“ Giebt es eine andere Sünde, als Sünde gegen Gott den Herrn? Ist Sünde überall etwas Anderes als dasjenige, was gegen Gottes Gebot und Willen ist, und geschieht? Und wenn nun das ist, wie kann dabei noch irgend ein Verhältniß des sündigenden Menschen gegen andere Einzelne in große Betrachtung kommen? Ja für den, welcher diesen Gesichtspunkt nicht ins Auge faßt, giebt es allerdings ein Sündigen des Bruders an ihm, nämlich wenn die Sünde eine Beleidigung in sich schließt, wenn durch die Sünde ein Schaden erfolgt, und Beides oder eins von Beiden gerade ihn trifft und keinen Anderen, dann sagt er, derjenige, welcher dies verschuldet, habe an ihm gesündigt. Das ist aber gar nicht der Gesichtspunkt, aus welchem wir als Christen alle Schwachheiten und Fehler der Menschen betrachten sollen. Alles Andere soll in unserer Seele verschwinden vor dem Bewußtseyn des göttlichen Willens; dieser allein ist der Maßstab, wonach wir Alles messen, sowohl das Löbliche und Wohllautende, als das Verkehrte und Tadelnswerthe, das Unvollkommene und Leidenschaftliche. Und wie groß auch da die Unruhe und Verwirrung sey, welche der Fehltritt des Einen in dem Gemüthe und in dem Lebenskreise eines Andern anrichtet: so tritt doch dies so sehr in den Hintergrund gegen das Größere, daß der Mensch sich aufgelehnt hat gegen den ewigen und allein guten Willen des Höchsten, daß wir immer nur sagen können: es habe Einer gesündigt an Gott, nicht aber an diesem und jenem. Und eben so laßt uns auf der anderen Seite auch dieses bedenken, daß, wenn wir überhaupt die Sünde in Beziehung auf die Menschen betrachten, wir wohl nicht werden finden können, daß eine einzelne eben mehr eine Sünde sey an dem Einen, als an dem Andern. Denn weil Alle kein anderes Ziel haben, als das Reich Gottes zu bauen: so müssen sich auch Alle auf gleiche Weise beeinträchtigt fühlen, durch Alles, wodurch das Reich Gottes gefährdet, und der Wille Gottes, das ewige Gesetz dieses Reiches, verletzt wird. Wenn also auf diese Weise jede | Sünde alle gleichmäßig trifft: wie verhalten wir uns denn zu einander, in Beziehung auf das, was wir wider die Sünde zu
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thun haben? Darüber, m. g. F., kennen wir nur Eine große Regel des Evangeliums: das Böse soll überwunden werden mit Gutem. Aber das Böse ist der allgemeine Feind Aller, die sich selbst der Befolgung des göttlichen Willens geweiht haben, und in dem Reiche Gottes leben und wirken wollen; und wie jeder gemeinsame Feind, will es daher auch nur durch gemeinsame Kräfte angegriffen und überwunden werden. Von einem Rechte ist hierbei nicht die Rede, wohl aber von einer theuern und heiligen Pflicht; und Alle haben wir eine gleiche Pflicht, gegen das Böse aufzutreten, es anzugreifen, und, so viel an uns ist, durch das Gute zu überwinden. Steht es nun hiermit so: warum wendet sich der Erlöser mit seiner Vorschrift an einen Einzelnen, weil er der sey, an welchem der Andere gesündigt habe? Etwa deßhalb, weil der, welcher durch die Fehler des Anderen beleidigt, dem durch dieselben ein ansehnlicher Schaden zugefügt wird, gerade am Geschicktesten sey, diese heilige Pflicht der Ueberwindung des Bösen durch das Gute zu erfüllen? Die menschlichen Ordnungen und Gesetze wenigstens, m. g. F., schlichten die Sache anders; sie verbieten es dem, der durch einen Anderen ist beleidigt worden, selbst Strafe über ihn zu verhängen; sie verbinden ihn, so viel sie können, auf alle Weise durch Zureden und durch Drohungen zu einem leidentlichen Betragen, indem sie ihm ihrerseits betheuern, daß alle Kräfte, die menschlicher Obrigkeit durch mancherlei Einrichtungen zu Gebote stehen, dazu angewendet werden sollen, das Böse, was ihm nachtheilig geworden ist, auf das Vollständigste zu überwinden. Dieses nun, m. g. F., hat freilich seinen Grund darin, daß die menschlichen Ordnungen und ihre Verwalter sich nicht unbedingt darauf verlassen können, daß der rechte Geist der Liebe in allen Einzelnen lebt und sie regiert, weshalb sie denn mehr darauf denken müssen, der Vervielfältigung der Beleidigungen und des Schadens vorzubeugen, welche nur gar zu leicht entstehen kann, wenn der Beleidigte in einem gereitzten und leidenschaftlichen Zustande ge|gen das Böse, welches ihn getroffen hat, selbst auftritt. Aber unser Erlöser, in den Worten unseres Textes, hat es allerdings so gewollt für seine Jünger, wie die bürgerlichen Gesetze für ihre Untergebenen es nicht wollen. Denn fragen wir nun weiter: wer kann dann wohl in dem Sinne des Erlösers der seyn, an welchem ein Anderer besonders gesündiget hat? so kann der Erlöser hier wohl nichts Anderes gethan haben, als sich der gewöhnlichen Sprache der Menschen bedient. Es giebt nichts Böses, was nicht, indem es aus dem Inneren des Herzens heraustritt in die äußere Erscheinung, irgend Einem oder Einigen mehr als den Uebrigen irgendwie zum Nachtheil oder zur Verwirrung gereicht, und gerade dem, der so durch das Böse 2 Vgl. Röm 12,21
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getroffen ist, und gegen den die Sünde gerichtet war, diesem giebt er den Auftrag, zu strafen auf der einen, zu vergeben auf der anderen Seite. Er weiß also nichts von jenem Mißtrauen, daß der Gekränkte zum Vergeben könnte zu ungeneigt seyn, im Bestrafen hingegen zu weit gehen und zu viel thun, was er nachher Ursach hätte, zu bereuen: ein Mißtrauen, welches wir an menschlichen Gesetzen billigen und loben. Aber wie anders ist es mit dem weltlichen Reiche, und mit dem Reiche, das nicht von dieser Welt ist! O bemerket es nur recht, m. g. F., wie sich in diesen Worten die ganze Vollkommenheit der Liebe ausspricht, mit welcher der Erlöser durch die Seinigen die ganze Welt umfaßte! Aus seiner Liebe zu denen, die an ihn glauben, und sich durch ihn den Willen Gottes so gefallen lassen, daß sie der Befolgung desselben ihr Leben weihen, war alle Furcht mit ihrem ganzen Gefolge von Aengstlichkeit und Argwohn völlig abgetrieben. Er konnte nicht anders, als das Vertrauen zu ihnen haben, und aus diesem Vertrauen heraus reden, daß die Seinigen allein von dem Geiste der Liebe würden regiert werden, der, alle Selbstsucht überwunden habend, nach nichts Anderem trachtet, als das Reich Gottes auszubreiten, und dem göttlichen Willen immer mehr Kraft und Ansehen unter den Menschen zu verschaffen. In diesem Vertrauen nun hat er so, und nicht anders, geboten. | In diesem aber, m. g. F., gewiß auch mit vollem Rechte. Nicht deßwegen soll zunächst der strafen und vergeben, an welchem ein Bruder gesündigt hat, weil er als der Gekränkte etwas an sich gut machen zu lassen hat; sondern weil er natürlicher Weise als derjenige, zu dem des Bruders Sünde in einem näheren Verhältniß steht, als zu Anderen, sie auch am Genauesten hat entstehen sehen, und daher am Besten wissen muß, was eigentlich in dieser Handlung seines Bruders das Böse ist, welches durch das Gute soll überwunden werden. Derjenige hingegen, der schon mehr ferne steht, und nicht in ihr Verhältniß unmittelbar verwickelt ist, hat auch nicht die Mittel, es eben so richtig zu beurtheilen. Wenn es also die gemeinsamen Kräfte Aller sind, die sich gegen das Böse richten sollen, um es durch Gutes zu überwinden: wer kann besser der Bevollmächtigte Aller seyn, wem kann die christliche das Beste suchende Verwaltung dieser Kräfte zweckmäßiger und mit mehr Aussicht auf einen guten Erfolg anvertraut werden, als dem, der allein im Stande ist, das Böse, gegen welches gehandelt werden soll, in seinem wahren Lichte zu sehen, und aus dem richtigen Gesichtspunkte zu beurtheilen. Darum hat der Erlöser Beides, das Strafen, wie das Vergeben, in die Hände dessen gelegt, an welchem gesündiget ist. Verweilen wir aber nur, m. g. F., noch etwas bei dieser Vergleichung des Reiches Gottes mit der menschlichen Gesellschaft, damit,
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wenn sich hier auf eine ganz eigene Weise die Vorzüge des einen vor der anderen vor unseren Augen entfalten, wir auch dieser ihr Recht angedeihen lassen, und die Stellung beider gegen einander nicht mißkennen. In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht überall ein freilich durch alle Erscheinungen der Sünde, und durch alle Abstufungen ihres Wirkens in dem menschlichen Leben, hinlänglich gerechtfertigtes Mißtrauen gegen den Einzelnen, wenn er in seinen eigenen Angelegenheiten straft und vergiebt; in dem Reiche Gottes aber, in welchem nur diejenigen wahrhaft sind, die der Geist Gottes treibt, der Alle auf gleiche Weise zu Kindern Gottes macht, ist diese Furcht und | dieses Mißtrauen mit eben dem Rechte verschwunden, mit dem es in der bürgerlichen Gesellschaft herrscht. Denn in dieser sind eine Fülle von solchen, die der Geist Gottes noch nicht zu Kindern Gottes gemacht hat, und sie kann nur auf diesen Zustand berechnet seyn. Wenn nun in dieser das Strafen und Vergeben einem Anderen obliegt, als in jenem: so tritt Beides einander nicht in den Weg, weil das Eine einen ganz anderen Zweck hat, als das Andere. Daher können wir uns in allen unseren äußerlichen Angelegenheiten, wie wir auch sollen unter die Ordnung der menschlichen Gesetze, auch darin fügen, daß wir, wenn an uns gesündiget ist, das Strafamt nicht selbst führen. Nämlich das, welches der bürgerlichen Gesellschaft obliegt, welches aber gar nicht jenen großen und heiligen Zweck hat, das Böse unmittelbar in der Seele selbst zu überwinden durch das Gute, sondern nur den untergeordneten, durch eine ihm entgegentretende äußere Kraft die ferneren Ausbrüche desselben zu hindern, und es, wenn es auch nicht mit seiner innersten Wurzel ausgerottet werden kann, denn dazu reichen solche Kräfte nicht hin, doch unschädlich zu machen für die Gesellschaft. In dem Reiche Gottes nun ist auch eben der, welcher am Besten die Sünde zu erkennen im Stande ist, auch der Nächste zum Vergeben, weil er auch wissen muß, wenn sein Strafen geholfen hat, und ob der Verirrte auf der Rückkehr von seinem Wege ist, und also die Sünde angesehen werden kann als etwas Gewesenes und Verschwundenes, wogegen es auf keine Weise mehr etwas zu thun giebt. Die bürgerliche Gesellschaft aber überläßt auch dieses Recht nicht dem Einzelnen, und wir können uns dem unbesorgt fügen, in allen Fällen, von denen sie irgend Kenntniß nimmt. Denn ihre Vergebung geht nicht darauf, die Sünde als inneren Zustand des Menschen für etwas zu erklären, was zwar sonst dagewesen ist, jetzt aber vergessen und dahinten liegt, sondern sie hat nur den untergeordneten Zweck, einerseits zu verhüten, daß nicht durch allzugroße Gelindigkeit das Böse aufgemuntert 39 dahinten] dahinter
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werde, andererseits das Urtheil der Menschen über die einzelnen Handlungen selbst, welches sich so leicht hinneigt | zur Unbilligkeit und zur Härte, in seinen Aeußerungen zu mäßigen und in Schranken zu halten. So besteht also Beides sehr gut neben einander, das mehr äußerliche Strafen und Vergeben, welches in einem wohlgeordneten geselligen Zustande der Einzelne nicht selbst üben darf, welcher beleidigt worden ist, und das mehr innerliche Vergeben sowohl als Strafen, welches der Erlöser nicht anders kann, als eben diesem Einzelnen übergeben. II. Und so laßt uns nun zweitens den Auftrag, den der Erlöser hier seinen Jüngern überhaupt giebt, näher ins Auge fassen, besonders auch in der angegebenen Beziehung, daß wir ihm nur vollkommen genügen können, wenn unsere Liebe schon frei geworden ist von aller Furcht. So sagt denn der Erlöser zuerst: „So dein Bruder an dir sündiget, so strafe ihn.“ Was „ihn strafen“ heiße, darüber, m. g. F., können wir unmöglich in Zweifel seyn. Ein Christ als solcher hat, das wissen wir, keine andere Gewalt, welche er gegen einen Bruder anwenden könnte, als die des göttlichen Worts; und sein Strafen kann in nichts Anderem bestehen, als in dem Gebrauche dieser Waffen des göttlichen Wortes, um den, der gesündigt hat, zur Erkenntniß seiner Sünde zu bringen, und den Willen zum Widerstande gegen das Böse in ihm zu erwecken und zu beleben. Sendet nun der Erlöser zu jedem Bruder, der gesündigt hat, aus den vorher von uns erwogenen Gründen eben denjenigen, an welchem er gesündigt hat: so mögen wir dies Amt nun ansehen als ein heiliges Recht, oder als eine heilige Pflicht, – denn Beides ist in menschlichen Dingen zwar von einander geschieden, in dem Reiche Gottes aber Eines und Dasselbe, – immer ist es ein anvertrautes Geschäft, das wir uns um keinen Preis sollen streitig, oder uns von der gottgefälligen Ausübung desselben abwendig machen lassen. Fragen wir nun aber, wie es in dieser Beziehung unter den Christen steht: o wie selten finden wir, daß der, an welchem ein Bruder gesündiget hat, auch wirklich diesen Befehl des Herrn befolgt! Wie viel häufiger überläßt Jeder diejenigen, | welche gegen ihn gefehlt haben, sich selbst, mag er nun ernstes Nachdenken von ihnen erwarten, oder leichtsinnige Sorglosigkeit, und läßt sich, statt auf dem Standpunkte des Christen stehen zu bleiben, zu dem niedrigen der menschlichen Gesellschaft herab, die Jeden so ansieht, wie sie es mußte, wenn auch der Geist Gottes nicht ausgegossen wäre über die Kinder des 16 Was „ihn strafen“] Was, ihn strafen,
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Lichts. Denn auf diesen stellen wir uns ja, wenn wir die Besorgniß hegen: der Bruder, der an uns gesündigt hat, und zu dem wir nur in der besten Absicht kommen, um ihn zu strafen, und ihm die Augen über seine Abweichung von dem göttlichen Gebote zu öffnen, der werde in eine leidenschaftliche Bewegung gerathen, und das Werk, welches wir als Werkzeuge des göttlichen Geistes in ihm fördern wollen, in seinem ersten Anfange zerstören; oder wenn uns bange ist, er möchte glauben: es sey uns weniger um seine Besserung, weniger um das Heil seiner Seele zu thun, als daß wir uns auf einen Augenblick auf der Höhe, von welcher der Beleidigte den Beleidiger unter sich erblickt, recht gütlich thun wollten, und das möchte sein Herz mit Unmuth und Bitterkeit erfüllen, und jeden Versuch von unserer Seite so vereiteln, daß jeder Andere besser im Stande seyn würde, ihn zu strafen. Das sind die Entschuldigungen, die wir oft genug hören, und weit öfter, als wir sie hören können, zieht sich die menschliche Trägheit auf sie zurück. Aber wir werden es wohl gestehen müssen, daß sie mit dem rechten Geiste der Liebe nicht in Uebereinstimmung sind, sondern nur hervorgehen können aus einem Gemüthe, in welchem die Furcht noch wohnt. Denn wenn wir es doch mit einem Christen zu thun haben, der nicht nur demselben Herrn, wie wir, zu dienen bekennt, und der desselben Geistes theilhaftig seyn will, sondern auch wissen muß, wieviel Hülfe seine Schwachheit bedarf: so dürfen wir ja nicht fürchten, daß, wenn wir wirklich mit der Stimme der herzlichen Liebe zu ihm treten, nicht in der Gestalt des Beleidigten, sondern eines Dieners der Gemeine, um an ihm ein heilsames Amt, welches sie zu versehen hat, auf’s Beste auszurichten, er uns mit feindseligen und zerstörten Gemüthsbewegungen entgegen kommen | werde. Vielmehr sollen wir voraussetzen, daß, wenn auch das Böse noch einen Zugang gehabt hat in seiner Seele, doch das in ihm schon gewirkte Gute noch die Kraft haben werde, jenes zu überwinden! Wenn wir uns hier fürchten und feigherzig zurücktreten: wie wollen wir denn bestehen neben den Dienern des Evangeliums, die bei ihrer Predigt: Thut Buße, auf Nichts rechnen konnten in denen, zu welchen sie gesendet wurden, als auf den unter vergiftendem Wahn und Jahrhunderte alten Thorheiten ganz verstockten und kaum noch glimmenden göttlichen Funken? Und da der Herr zu jenen selbst gesagt hat: „Wenn diejenigen, die mich hassen, nun euch um meinetwillen auch werden vor Gericht ziehen, so sorget nicht, was ihr sagen werdet, denn der Geist wird es euch geben zur Stunde,“ und sie sich auf dies göttliche Wort verlassen 34 Wahn] Zahn 36–39 Vgl. Mt 10,19–20; Mk 13,11
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haben bei der Vertheidigung des Evangelii gegen diejenigen, denen es im innersten Herzen zuwider war: so sollten wir, wenn wir es mit einem Bruder zu thun haben, der selbst den Erlöser anerkennt, und dem die heilsamen Regungen seines Geistes nicht fremd sind, dennoch fürchten, es könne uns fehlen, unseren Beruf bei ihm geltend zu machen, es werde uns mißlingen mit unserem Strafamte an seiner Seele? Gewiß wird es uns nicht fehlen, wenn wir nur dem Geiste, den er auch uns verhießen hat, Raum lassen. Haben wir in unserem Verhältnisse zu einem Bruder, der gefehlt hat, alles Leidenschaftliche bei Seite gelegt, allen Hochmuth überwunden, treten wir mit der eindringenden Kraft der Liebe vor ihn hin: dann ist nicht zu fürchten, der Geist werde uns darin im Stiche lassen, daß wir nicht wissen sollten, wie wir zu reden und was wir zu thun haben, um ihn so zu ergreifen, daß das gute Werk auch wirklich vollbracht werde. Und was für Unterstützungen bietet uns der Herr nicht außerdem noch dar, wenn wir auch Ursache haben sollten, uns selbst zu mißtrauen! Denn anderwärts sagt er, wenn unser Bruder uns unter vier Augen nicht hört, so sollten wir noch Einen oder Zwei dazunehmen, denen er auch zutrauen müsse, daß sie den Geist Gottes haben, und sollten versuchen, ob es uns auf diesem Wege gelingen | werde. Immer mehr also können wir die Kraft des göttlichen Wortes gegen ihn häufen, so daß wir auch zuletzt die ganze Gemeine in Anspruch nehmen, die ja schuldig ist, dafür zu sorgen, daß das Böse in ihm überwunden werde. O m. g. F., daß wir doch zurückkehren möchten zu der alten Einfalt, welche diese Vorschrift des Erlösers treulich befolgte! Daß uns doch nicht dieses ganze Rüstzeug der strafenden brüderlichen Liebe umsonst anvertraut sey, und, seit Jahrhunderten immer sparsamer gebraucht, zuletzt mitten in der Kirche des Herrn gleichsam verroste! Gewiß wenn uns ein solcher Reichthum in dem Worte des Herrn den Muth nicht einflößt, daß Jeder, da wo es der Herr befiehlt, den Anfang mache mit der Strafe der Liebe: dann fehlt es uns gewiß noch an der rechten Vollkommenheit der Liebe. Denn was ist es am Ende, weshalb wir zögern, und uns dem Auftrage des Herrn entziehen, als daß uns noch nicht einmal die kleinliche Furcht ausgetrieben ist vor den unangenehmen Eindrücken, welche zurückbleiben könnten, wenn wir mißverstanden und abgewiesen werden. Und nicht anders, m. Br., ist es mit dem zweiten Worte des Erlösers: „Wenn dein Bruder anderes Sinnes wird, so vergieb ihm.“ Ja gewiß, so selten wir die rechte Gründlichkeit und Freudigkeit des Strafens finden in dem gewöhnlichen Leben der Christen, durch die es soviel vollkommener würde gereinigt werden: eben so selten finden 17–20 Vgl. Mt 18,16
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wir auch die rechte Reinheit und Freudigkeit des Herzens im Vergeben, durch die unser Leben so unendlich würde verschönt werden. Nicht, daß ich sagen wollte, kalte Hartherzigkeit oder feindseliges Nachtragen wäre häufig in unseren Gemeinen; vielmehr mag dieses nur selten seyn, und überall die Wohlwollenden und Gesitteten die Oberhand haben, welche die Süßigkeit des Verzeihens bei jeder Gelegenheit genießen, und sich nur wundern, daß man es für etwas Großes und Schweres halten könne. Aber ist es nun auch das rechte Vergeben? Bei den Meisten besteht es wohl nur darin, daß sie die Kränkungen und die Nachtheile gern und leicht verschmerzen, die ihnen aus den Fehlern ihrer Brüder erwachsen. Was | dieses anbelangt, so ist es freilich leicht, daß ein Christ zu sich selbst sage: Wenn dir doch so manches Unbequeme und Widerwärtige beständig erwächst, theils durch die Einflüsse der äußeren Natur, theils durch die einander durchkreutzenden Wege der menschlichen Handlungen, wovon wir Niemanden die Schuld beimessen können, sondern es nur als göttliche Fügung hinnehmen müssen: warum willst du denn dasjenige nicht eben so hinnehmen, oder wenigstens noch etwas Anderes dabei empfinden, was freilich auf eine Schwachheit oder Verirrung in deinem Bruder hinweiset! Denn was dir widerfahren ist, bleibt ja doch für dich göttliche Fügung, und soll dir also zum Besten dienen; und des Thäters Schwachheit würde ja sonst, wenn jenes nicht daraus hervorgegangen wäre, nur deine Theilnahme erregt haben, – warum willst du jetzt unwillig seyn! Das ist recht schön und gar nicht zu tadeln, ja es scheint großmüthig, wenn man es nach gewöhnlichem Wege beurtheilt; aber es ist nicht das Vergeben, wovon der Erlöser redet, denn es hängt gar nicht mit unserem Strafamte zusammen, und es bezieht sich gar nicht auf die Sünde, wie doch der Erlöser sagt, sondern nur auf den Schaden, den wir ja freilich, komme er auch woher er wolle, für nichts achten sollen, so wir Christum gewinnen. Der Herr aber will, die Sünde sollen wir, wenn wir sie mit Erfolg gestraft haben, hernach vergeben. Das setzt nun offenbar voraus, gar nicht wie jene oben gehörte Rede klingt, daß, wenn unser Bruder an uns sündiget, wir gar nichts Besonderes dabei empfinden sollen, – denn wie sollten wir dann darauf kommen, ihn zu strafen? – sondern freilich soll durch seine Sünde eine Trübung in uns entstehen, weil das Reich Gottes getrübt worden ist, welches uns nie gleichgültig seyn darf, aber sie soll sich hernach abklären, und Alles soll wieder Licht und Liebe seyn zwischen uns und ihm. Das ist die Vergebung, von welcher der Herr 16 Niemanden] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 3, 1777, Sp. 809 29–30 Vgl. Phil 3,8
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redet; und diese scheint wohl nicht etwas so gar Leichtes und Wohlfeiles zu seyn, wie er sie denn auch gar nicht so darstellt. So giebt es denn auch wohl Viele unter uns, die, wenn gegen sie gesündiget wird, allerdings nicht bloß an den Schaden denken oder die | Beleidigung, sondern wohl vorzüglich von der Sünde bewegt werden, und auch freilich die Verpflichtung fühlen, sie zu vergeben. Aber wenn sie nun glauben, vergeben zu haben, so ist es nur ein halbes Werk. Die menschliche Schwachheit sey eben ein allgemeines Uebel, in dem Einen etwas anders gestaltet, oder auch etwas stärker, als in dem Andern, im Ganzen aber erfahren wir nicht leicht an einem Anderen, was wir nicht auch in uns selbst fänden. Es sey also auch wieder nur eine Schwachheit, über das, woran wir längst gewöhnt seyn sollten, als über etwas Unerwartetes aufzubrausen, oder dasselbige einem Anderen übler zu deuten, als uns selbst. Dies aber nicht thun, wäre dies schon das vom Erlöser vorgeschriebene Vergeben? Gesetzt nun, wir hätten in diesem Sinne unserem Bruder verziehen, und, wie man zu sagen pflegt, nichts mehr gegen ihn: haben wir deßwegen etwas für ihn? Geht daraus schon eine wahre lebendige Liebe zu ihm hervor, und kann er darin eine Ursache finden, viel zu lieben, weil ihm viel vergeben ist? Nein wahrlich nicht; denn diese gleichgültige Nachsicht mit menschlicher Schwachheit kann nur zu leicht auch kalte Gleichgültigkeit seyn gegen den Menschen selbst. In dieser Art zu verzeihen, wird kein ursprünglich hülfreiches brüderliches Verhältniß vorausgesetzt, und also auch keines durch sie wieder hergestellt; Christus aber redet überall nur von dem, was unter Brüdern geschehen soll. Worin nun aber das freudige Vergeben, wozu er uns anweiset, eigentlich besteht? Um das zu finden, dürfen wir uns nur erinnern, daß er uns anderwärts lehrt, wenn wir von Gott Vergebung erbitten, uns darauf zu berufen, daß auch wir denen vergeben, welche von uns Vergebung bedürfen. Dies setzt doch offenbar voraus, daß die Vergebung, die wir ertheilen, derjenigen ähnlich seyn muß, die wir erbitten. Welcher Art aber die göttliche Vergebung ist, und wie wir sie erfahren in unserer Seele, das wissen wir ja wohl. Zuerst ja erspart sie uns die Buße nicht, und gründet sich nicht auf ein leichtes Uebersehen der menschlichen Schwachheit; sondern erst muß die Aufforderung zur Buße durch das Amt, welches die Versöhnung predigt, an’s | Herz gedrungen seyn, der Schmerz über die Sünde muß das Innere erfüllt haben. So auch mit der Vergebung, die wir zu ertheilen haben, wenn an uns gesündiget worden ist. In uns muß dann der Schmerz 10 erfahren] hier vermutl. als Konjunktiv I gemeint 28–30 Vgl. Mt 6,12; Lk 11,4
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über die Sünde seyn, und darum müssen wir ihn auch erregen, und nur jene nüchterne Verzeihung, nicht die wahrhaft brüderliche, ist möglich ohne die Strafe des Geistes um die Sünde, und ohne die Sinnesänderung, welche dadurch bewirkt wird. Aber, m. Gel., haben wir Buße gethan: so ist auch die Vergebung, die uns zu Theil wird, die göttliche Vergebung in Christo, diejenige, mit der zugleich wir auch alles durch Christum erworbene Heil erlangen: Friede mit Gott und Freude an ihm, Gemeinschaft mit Gott durch den Geist, der in uns lieber Vater ruft, und der in den Kindern Gottes die Fülle guter Früchte hervorbringt: so daß die göttliche Vergebung zugleich die lebendige Vereinigung Gottes mit uns ist. Eben so nun soll auch unsere Vergebung seyn gegen die Brüder, daß sich ihnen zugleich unser ganzes Herz zuwendet in Liebe und Freude, daß sich eine innige Lebensgemeinschaft unter uns mehr als je befestige, und wir nur ein Recht mehr erlangt haben, ihnen beizustehen in dem Werke der Heiligung, wie wir nur vermögen, kurz ihr Verhältniß zu uns muß so klar und rein hergestellt seyn, wie in der Seele dessen, der Vergebung erlangt hat, Alles klar und ungetrübt ist in Beziehung auf unseren himmlischen Vater. Wie aber, m. g. F., die göttliche Vergebung als wahre Mittheilung Gottes der reinste Ausfluß der göttlichen Liebe ist: so hängt auch bei uns das Vergeben in diesem höheren Sinne ganz davon ab, daß unsere Liebe vollkommen sey, und die Furcht mit ihrer Pein uns nicht mehr erschüttere. Und nicht etwa nur in sofern, als wir, um so vergeben zu können, vorher müssen gestraft haben ohne Furcht, sondern auch unmittelbar. Denn wenn unser Vergeben zugleich der Anfang seyn soll einer fortdauernden Wirksamkeit hülfreicher und heiligender Liebe: so gehört zuerst auch festes Vertrauen dazu, das seinen Weg geradeaus geht, ohne, wie die Furcht, bald rechts, bald links, bald rückwärts zu sehen; Vertrauen, daß der göttliche Geist es ist, der durch die | Liebe wirkt, und daß der nicht vergeblich arbeiten kann. Demnächst aber müssen wir auch in solcher Vergebung selbst das Gelübde der Geduld ablegen, wohl wissend, daß, wenn gleich Buße und Schmerz über die Sünde der Anfang der Heiligung ist, der Mensch doch nie auf Einmal der Sünde los und ledig wird. Wir müssen uns im Voraus darüber trösten, und es auch im Voraus schon vergeben haben, daß er doch noch ab und zu in denselben Fehler verfallen wird, daß aber doch allmählich das Böse wird überwunden werden durch das Gute, so wir nur nicht versäumen, zu Hülfe zu kommen, wo er noch schwach ist. 3 um] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 795 8–9 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6
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Diese thätige Geduld aber ist die schönste Frucht der Furchtlosigkeit und des frischen Muthes, so wie der Ungeduld immer eine Furcht zum Grunde liegt. Durch solches Strafen und Vergeben nun muß die Gemeine des Herrn sich immer mehr verherrlichen, indem der Geist derselben immer reiner und gleichmäßiger aus jedem Einzelnen sich verkündigt; aber auch verbreiten kann sie sich nur dadurch, daß immer Mehrere, von jener Strafe des Geistes getroffen, sich in diese schöne und selige Gemeinschaft der Vergebung aufnehmen lassen. Darum laßt uns zunehmen in der strafenden und vergebenden Liebe ohne Furcht, auf welcher der fortgehende Sieg über die Sünde beruht, und in welcher sich die Gewalt offenbart, welche der Erlöser den Seinigen über die Sünde gegeben hat. Denn eben dies ist der wahre und tiefe Sinn des geheimnißvollen Wortes: „Wem ihr die Sünde erlasset, dem ist sie erlassen, und wem ihr sie behaltet, dem ist sie behalten.“ Wem sie erlassen, dem ist sie so erlassen, daß er nun keiner neuen Strafe oder neuen Vergebung mehr bedarf, daß in Beziehung auf diese Sünde zwischen uns und ihm die Liebe nie mehr kann gestört oder getrübt werden, sondern er in die Gemeinschaft aller Wirkungen des Geistes und der Gnade aufgenommen ist. Wem wir sie behalten, weil es weder uns einzeln, noch den vereinigten Kräften Aller, für jetzt gelingen will, ihn zu einer fruchtbaren Erkenntniß der Sünde zu bringen, und das uns anbefohlene Strafamt mit Erfolg zu üben, dem sind | sie behalten, und zwar so, wie der Herr an einem anderen Orte sagt: Wenn dein Bruder auch die Gemeine nicht hört, so halte ihn wie einen Zöllner und Heiden. Will das aber etwa sagen, wir sollten ihn für einen solchen halten, von dessen Gemeinschaft wir uns ausschließen, und dem wir das göttliche Wort mit seinen Segnungen fern halten sollen? Mit Nichten wohl! denn die Zöllner hat er selbst aufgesucht, um sie zur Seligkeit zu bringen, und zu den Heiden hat er seine Jünger gesandt, um ihnen das Wort Gottes zu verkündigen. Einen Bruder, der gesündiget hat, für einen Zöllner und Heiden halten, heißt also, ihn für einen solchen ansehen, dem das göttliche Wort jetzt noch fremd ist, dem es also noch muß in die Seele gepflanzt werden. Sonach werden wir in diesem Falle nur auf eine andere Art von Liebeserweisung hingewiesen, und auch behalten werden die Sünden nur, um sie zu erlassen, damit das große Werk der Vergebung immer weiter fortschreite, und wir des festen Vertrauens leben können, daß, wenn die wahre Liebe sich überall unter den Christen in schöner Reinheit und wahrer Vollkommenheit zeigt, und ohne Furcht das Werk des Geistes handha14–15 Joh 20,23
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bet, alsdann auch das Böse ganz wird überwunden werden von dem Guten. Amen. Schl.
b. Nachschrift 16r
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Tex t. Lucae XVII, 3 So dein Bruder an dir sündigt, so strafe ihn; und so er sich bessert, vergib ihm. Meine andächtigen Freunde! Worüber wir neulich nach Anleitung der Worte des Apostels Johannes mit einander geredet haben, daß es nämlich die höchste Vollkommenheit der Liebe sei, daß sie alle Furcht austreibe und von der Furcht und ihrer Pein nichts mehr zurückbleibe in dem Menschen, das hat sich mir als etwas Großes und Wichtiges für das ganze Leben des Christen dargestellt, daß ich es für gut gehalten habe, demselben noch im Einzelnen in mehreren Vorträgen nachzugehen. Dazu gehört dann auch dies, was in den verlesenen Worten der Erlöser sagt, wo er uns nämlich eine Vorschrift | giebt in Beziehung auf die Sünde unserer Brüder, eine Vorschrift welche, wie alles was aus seinem Munde kommt keinen andern als den Geist der Liebe athmet, und als ein Wort seines Mundes ein vollkommener Ausdruck derselben ist. Wir wollen nun sehen, indem wir diese Worte ihrem ganzen Inhalt nach näher erwägen, wie auch hierbey alles darauf ankommt, daß die Liebe im Strafen und im Vergeben ohne Furcht sei. Es wird aber dazu nöthig sein, daß wir den Fall zuerst näher ins Auge fassen, den der Erlöser hier voraussetzt, und dann zweitens werden wir erst im Stande sein, seine Vorschrift ihrem rechten Inhalte nach zu begreifen. I. Der Erlöser sagt nämlich, was das Erste betrifft „so dein Bruder an dir sündigt“. Diese Worte, m. g. F. können dem gewöhnlichen Menschen ganz verständlich erscheinen und natürlich, | der Christ aber wird sich nicht enthalten können allerlei Bedenken dagegen in seiner Seele 10 Furcht] Furchts
29 können] könne
7–14 Vgl. oben 20. Juni vorm. über 1Joh 4,16–18. Folgende Vormittagspredigten gehören außerdem zu der Themareihe: 4. Juli über Lk 17,3; 25. Juli über Mt 16,24–25; 1. August über Mt 14,28–31 sowie 15. August über Lk 14,26.
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Raum zu geben. Was heißt es eigentlich, m. g. F. „so dein Bruder an dir sündigt“? Giebt es eine andere Sünde, als die Sünde gegen Gott den Herrn? Ist Sünde überall etwas anderes, als dasjenige, was gegen Gottes Gebot und Willen ist und geschiehet? Und wenn nun das ist, wie kann irgendein Verhältniß des einzelnen Menschen gegen die andern noch dabei in große Betrachtung kommen? Ja für den, welcher diesen Gesichtspunkt nicht ins Auge faßt, giebt es allerdings ein Sündigen des Bruders an ihm, nämlich wenn die Sünde eine Beleidigung ist, wenn durch die Sünde ein Schaden erfolgt, welcher ausgeht von dem, der da sündigt und keinen andern trifft als den, den er beleidigt und dem er Schaden zufügt. Das | ist aber gar nicht der Gesichtspunkt, aus welchem wir als Christen alle Schwachheiten und Fehler der Menschen betrachten sollen. Alles andere soll verschwinden vor dem Bewußtsein des göttlichen Willens in der menschlichen Seele, der allein ist der Maaßstab, wonach wir alle das Verkehrte und Tadelnswerthe, das Unvollkommene und Leidenschaftliche abmessen, und wie weit verschwindet da die Unruhe, die Verwirrung die der Fehler eines Menschen in dem Gemüthe und in dem Lebenskreise eines andern anrichtet, gegen das Große, was der Mensch sich aufgelöst hat gegen den ewigen und allein guten Willen des Höchsten. Aber eben so auch auf der andern Seite, wenn wir überhaupt auf die Sünde sehen, und nun nicht finden | können, daß sie eben sei mehr eine Sünde in dem Einen, als in dem Anderen, weil alle, indem sie kein anderes Ziel haben als das Reich Gottes zu bauen, auch auf gleiche Weise sich beeinträchtigt fühlen müssen durch das, wodurch das Reich Gottes gefährdet und gehindert wird, und der Wille Gottes, der das ewige Gesetz dieses Reiches ist, verletzt. Wenn also jede Sünde alle auf die gleiche Weise trifft, wie steht es mit dem, was wir in Beziehung auf die Sünde zu thun haben? Darüber, m. g. F. kennen wir nur eine große Regel des Evangeliums, das Böse soll überwunden werden mit Gutem. Das Böse ist der allgemeine Feind aller, die sich selbst der Befolgung des göttlichen Willens geweiht haben und Glieder in dem Reiche Gottes sind, wie jeder gemeinsame | Feind will es auch nur durch gemeinsame Kräfte angegriffen und überwunden werden. Von einem Recht ist hierbei nicht die Rede, aber von einer theuren und heiligen Pflicht, und alle haben wir eine gleiche Pflicht gegen das Böse aufzutreten, es anzugreifen, und so viel an uns ist, durch das Gute zu verhindern. Steht es so, warum wendet sich der Erlöser mit seiner Vorschrift an den Einzelnen, an welchem der Andere gesündigt hat? Sollen wir glauben, der durch 10 dem] den
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die Fehler des andern beleidigt, dem durch dieselben ein ansehnlicher Schaden zugefügt wird, daß der am geschicktesten sei, die heilige Pflicht zu erfüllen, das Böse mit Gutem zu überwinden? Die menschlichen Ordnungen und Gesetze wenigstens, m. g. F. schlichten die Sache anders, sie verbieten es dem, | der durch einen andern ist beleidigt worden Strafe an ihm zu nehmen, sie verbinden ihn soviel sie können auf alle Weise durch Zureden und durch Drohungen zu einem leidenden Betragen, indem sie ihn darauf hinweisen, daß alle Kräfte, die menschlicher Obrigkeit und menschlichen Einrichtungen gegeben sind, dazu angewendet werden sollen, das Böse, was ihm nachtheilig ist, zu überwinden. Ja, m. g. F. das hat nun freilich seinen Grund darin, daß die menschlichen Ordnungen und die menschlichen Gesetze sich nicht unbedingt verlassen können darauf, daß der rechte Geist der Liebe in allen Einzelnen lebt und regiert, das hat seinen Grund darin, daß sie mehr darauf denken müssen, dem Schaden vorzubeugen, welcher dadurch gar leicht entstehen kann, wenn der Mensch, der beleidigt ist, in einem gereitzten und leidenschaftlichen | Zustande gegen das Böse, welches ihn beleidigt hat, auftritt. Aber unser Erlöser in den Worten unseres Textes hat es allerdings so gemeint. Fragen wir nun, wer ist denn der, an welchem ein Anderer besonders kann gesündigt haben, so hat der Erlöser hier nichts anders gethan, als sich der natürlichen Sprache der Menschen bedient. Es giebt nichts Böses, was nicht indem es aus dem Innern des Herzens heraustritt in die äußere Erscheinung irgend Einem – und zwar mehr, als den übrigen [ – ] zum Schaden, zum Nachtheil und zur Verwirrung gereicht, und gerade dem, der durch das Böse getroffen ist, an dem sich die Sünde gezeigt hat, gegen den sie gerichtet war, dem giebt er den Auftrag zu strafen auf der einen Seite, zu vergeben aber auf der anderen Seite. | Er weiß also nichts von dem Mißtrauen, daß der Gekränkte, daß der Beleidigte eben darin zu weit gehen könne und zu viel zu thun, was er nachher Ursache hätte zu bereuen. O sehet da, m. g. F. wie auch in dem Erlöser selbst gegen uns alle gewesen ist und sich in diesen schönen Worten ausspricht seine Liebe, mit der er die ganze Welt auffaßte, in ihm war in der Liebe zu denen, die an ihn glauben, und sich durch ihn den Willen Gottes gefallen lassen und der Befolgung desselben ihr Leben weihen, in der Liebe zu diesen war aus seinem Herzen alle Furcht ausgetrieben. Er konnte nicht anders, als das Vertrauen zu ihnen haben und aus diesem Vertrauen heraus reden, daß die Seinigen allein von seinem Geist, von dem Geist der Liebe, der nichts anderes thut und nach nichts | anderem trachtet, als das Reich Gottes auszubreiten und dem göttlichen Willen immer mehr Kraft und Ansehen unter den Menschen 24 den] dem
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zu verschaffen, er konnte nichts anders als vertrauen, von diesem Geiste allein würden sie regieret werden, und in diesem Vertrauen hat er so und nicht anders geboten. In diesem aber m. g. F. gewiß auch mit vollem Recht. Nicht deswegen soll der zunächst strafen und vergeben, an welchem ein Bruder gesündigt hat, weil er der gekränkte und beleidigte ist, sondern weil natürlicher Weise er es ist, welcher, weil die Sünde steht in dem Verhältniß zu ihm und zu dem Andern, sie auch am genauesten hat entstehen sehen, wie sie von dem Anderen ausgegangen ist, und weil er am besten erkennen kann, was eigentlich in seinem Bruder das | Böse ist, welches durch das Gute soll überwunden werden, was derjenige der mehr ferne steht und nicht in jenes Verhältniß unmittelbar verwickelt ist, gar nicht auf die gleiche Weise zu beurtheilen weiß. Wenn es also die gemeinsamen Kräfte aller sind, die sich gegen das Böse richten sollen, um es durch das Gute zu überwinden, wer kann besser der Bevollmächtigte des Ganzen sein, wem kann der Gebrauch und die Verwaltung dieser Kräfte zweckmäßiger und mit mehr Aussicht auf einen guten Erfolg anvertraut werden, als dem, der allein im Stande ist das Böse, gegen welches gehandelt werden soll, in dem rechten Lichte zu sehen und aus dem richtigen Gesichtspunkte zu beurtheilen. Darum hat der Erlöser beides, das Strafen wie das Vergeben in die Hände dessen gelegt, an welchem gesündigt ist. Bleiben wir nun, m. g. F. in dieser Vergleichung des Reiches Gottes mit der mensch|lichen Gesellschaft, wie sie durch menschliche Ordnungen und durch menschliche Gesetze besteht, o welch ein großer Unterschied wird sich da vor unsern Augen entfalten, und wie sehr werden uns die Vorzüge des Einen vor der Andern einleuchten. In dieser überall ist ein freilich durch alle Erscheinungen der Sünde und durch alle Abstufungen ihres Wirkens in dem menschlichen Leben hinlänglich gerechtfertigtes Mißtrauen gegen das, was der Einzelne in seinen eigenen Angelegenheiten thut, in dem Reiche Gottes aber, zu welchem nur diejenigen gehören können, in welchem nur diejenigen wahrhaft sind, die der Geist Gottes treibt, der sie alle auf gleiche Weise zu Kindern Gottes macht, da ist diese Furcht und dieses Mißtrauen verschwunden. In allen unsern äußerlichen Angelegenheiten, da fügen wir uns mit Recht unter den Willen und unter die Ordnung der menschlichen Gesetze, das Strafamt welches diese zu führen haben, das führt da nicht | derjenige selbst, an welchem sein Bruder gesündigt hat, aber diese haben auch nicht jenen großen und heiligen Zweck das Böse unmittelbar und in seiner innersten Wurzel zu überwinden durch das Gute, sondern nur durch die ihm entgegentretende Kraft, die ferneren Ausbrüche desselben zu hindern und es unschädlich zu machen für die 1 verschaffen] verschassen
27–28 Abstufungen] Abstechungen
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Gesellschaft der Menschen. Das Amt zu vergeben, welches die menschliche Ordnung und die menschlichen Gesetze dem Einzelnen verbieten, indem sie erklären, was für eine Beleidigung und für eine Sünde sei gehalten worden, das sei in Wahrheit keine oder wenigstens nicht diese, dieses Amt zu vergeben, üben wir auch nicht selbst aus in unseren eigenen Angelegenheiten, sondern erkennen das Recht, welches die Menschen haben von der Richtigkeit des Urtheils, welches von dem ausgeht, der selbst beleidigt ist und an dem der Andere gesündigt hat, zu zweifeln, aber dieses Amt zu vergeben hat auch | nicht den großen Zweck die Sünde, wo sie wirklich ist, gänzlich verschwinden zu machen, so daß keiner sie mehr ansehen kann, als etwas was noch da ist, sondern als etwas, was längst da gewesen ist, jetzt aber vergessen und da hinten liegt, sondern es hat den Zweck das Urtheil der Menschen, welches sich so leicht hinneigt zur Unbilligkeit und zur Härte, zu mäßigen und in Schranken zu halten. In dem Reiche Gottes aber, von welchem bei dem Erlöser die Rede ist, in dem Verhältniß derer, welche alle von Einem Geiste, dem göttlichen Geiste getrieben sind, der Einzelne aber immer noch der menschlichen Schwachheit und der Sünde unterworfen ist, in diesem – und davon allein redet der Erlöser, wenn er sagt „so dein Bruder an dir sündigt, so strafe ihn, und so er sich bessert, so vergib ihm“ – hat Strafen und Vergeben einen höhern Zweck und | eine höhere Bedeutung. Aber deswegen kann der Erlöser auch nicht anders, als dieses Amt dem Einzelnen übergeben, wohl wissend, daß wenn einer wahrhaft ein Mitglied des Reiches Gottes ist, so könne er auch nicht anders, als eben in diesem Sinne und so wie es der große Zweck aller Kinder Gottes erfordert jenes Amt verwalten. II. Und so laßt uns nun in dem zweiten Theile unserer Betrachtung den Auftrag, den der Erlöser hier giebt, näher ins Auge fassen, besonders in der Beziehung, daß wir ihm nur vollkommen genügen können, wenn unsere Liebe ist ohne alle Furcht. So sagt denn der Erlöser zuerst, „so dein Bruder an dir sündigt, so strafe ihn“. Was „ihn strafen“ heißt, darüber m. g. F. können wir unmöglich in | Zweifel sein. Der Christ hat keine andere Gewalt, welche er gegen einen Bruder anwenden könnte, als die des göttlichen Wortes, und sein Strafen kann in nichts anderem bestehen, als in dem Gebrauch dieser Waffen des göttlichen Wortes um den, der gesündigt hat, zur Erkenntniß seiner Sünde zu bringen und den Willen in ihm zu erwecken und zu beleben dem Bösen in ihm 1–5 Das Amt ... nicht diese,] Zum besseren Verständnis vgl. SAr 63, Bl. 38r: Eben so üben die Gesetze auch das Amt zu vergeben indem sie erklären daß das was für Sünde gegen einen andern sei gehalten worden, diese nicht sei (...).
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selbst Widerstand zu leisten. Aber dazu gehört in jedem einzelnen Falle die richtige Erkenntniß des Bösen, und darum sendet der Erlöser zu jedem Bruder, der gesündigt hat, denjenigen der am meisten im Stande ist, ihm seine Sünde in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, und dann das darauf anzuwenden, was das göttliche Wort darüber urtheilt; darum sagt er, soll der strafen, an welchem sein Bruder gesündigt hat. Wir sollen dies also ansehen, als ein heiliges Recht, oder als eine heilige Pflicht – denn | beides ist zwar in menschlichen Dingen von einander unterschieden, in dem Reiche Gottes aber Eins und dasselbige – als einen solchen heiligen Besitz sollten wir diesen Auftrag des Erlösers ansehen, den wir uns um keinen Preis sollten streitig machen lassen oder jemals der Ausübung dieses Befehls aus dem Wege gehen. Fragen wir nun aber, wie es in dieser Beziehung steht unter den Christen, o wie selten ist es dann, daß der, an welchem der Bruder gesündigt hat, auch wirklich diesen Befehl des Herrn befolgt, wie viel häufiger überlassen wir diejenigen, welche gefehlt haben, ihrem eigenen Nachdenken, stellen uns, statt auf dem Standpunkte des Christen stehen zu bleiben, auf den niedrigen der menschlichen Gesellschaft, wie sie besteht und bestehen müßte, auch wenn der Geist Gottes nicht ausgegossen wäre über | die Kinder des Lichts, auf diesen stellen wir uns. Da haben wir die Besorgniß, den Bruder, der an uns gesündigt hat und zu dem wir nun in der besten Absicht kommen, um ihn zu strafen und ihm die Augen über seine Abweichung von dem göttlichen Gebote zu öffnen, der werde in eine leidenschaftliche Bewegung gerathen und das Werk des göttlichen Geistes, welches wir in ihm fördern wollen, in seinem ersten Anfang zerstören, da haben wir die Besorgniß, er möchte glauben, es sei uns weniger um seine Besserung, weniger um das Heil seiner Seele zu thun, als daß wir uns auf einen Augenblick die Befriedigung verschaffen möchten, zu stehen auf der Höhe, auf welcher der Beleidigte steht und auf welcher er den Beleidiger unter sich erblickt und das möchte sein Herz mit Unmuth und | Bitterkeit erfüllen, das möchte jeden Versuch von unserer Seite vereiteln, und jeder andere möchte besser im Stande sein ihn zu strafen. Das sind die Entschuldigungen, die wir oft hören und weit öfters, als wir sie hören können, zieht sich die menschliche Trägheit im Strafen auf sie zurück, aber wir können es nicht leugnen, daß sie mit dem rechten Geist der Liebe nicht in Uebereinstimmung sind, sondern immer nur hervorgehen aus einem Gemüthe, in welchen die Furcht noch wohnet. Denn anders, m. g. F. ist es nicht. Es ist nicht die reine ungetrübte Liebe, sondern die Furcht steht ihr noch zur Seite, und also ist die Liebe unvollkommen. Wenn wir es mit einem Christen zu thun haben, der mit uns demselben Herrn 2 richtige] wichtige
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zu dienen bekennt, der denselben Geist erkennt, als den, dem wir alle Folge leisten sollen, da sollten wir | uns fürchten, daß wenn wir wirklich mit der Stimme der herzlichen Liebe zu ihm treten, wenn wir vor ihn treten nicht in der Gestalt des Beleidigten, sondern in der Gestalt eines Dieners der Gemeine Gottes an ihm, der allein im Stande ist, das Amt, welches sie zu versehen hat, aufs beste auszurichten, da sollten wir uns fürchten vor solchen unrichtigen Bewegungen in der Seele? Wir sollten nicht wissen, daß wenn das Böse auch noch hinzukommt in der Seele, das Gute doch noch die Kraft haben werde, es zu überwinden? Wir sollten nicht lieber alles thun, was in unseren Kräften steht, um das Bewußtsein der Sünde in ihm hervorzurufen und mit der lebendigen Erkenntniß derselben, die Kraft ihr zu widerstehen und sie zu vertilgen, in ihm zu erwecken und so als | treue Arbeiter an dem großen Werke des Herrn, und als lebendige Glieder seiner Gemeine zu erscheinen, als daß wir der kleinlichen Besorgniß Raum geben, wir würden jenes nicht vermögen? Hat der Herr nicht selbst gesagt, „wenn sie euch werden vor Gericht ziehen, so sorget nicht, was ihr sagen werdet, denn der Geist wird es euch geben zur Stunde“? Wenn wir uns so verlassen können und sollen auf das göttliche Wort und auf die Vertheidigung der Sache Gottes gegen den, der ihr zuwider ist, wie sollten wir da wo wir es zu thun haben mit einem Bruder, der den Erlöser schon anerkannt und der nicht ohne seinen Beistand und ohne die Wirksamkeit seines Geistes in seinem Herzen ist, wie sollten wir fürchten, daß es uns | nicht gelingen werde mit unserem Strafamt, wenn wir alles Leidenschaftliche beiseite gelegt und allen Stolz überwunden haben, und wenn wir mit der Kraft der rechten Liebe zu ihm treten, wie sollten wir befürchten, der Geist werde uns im Stiche lassen, daß wir nicht wüßten, wie wir handeln und auf ihn zu wirken hätten. Ja, wenn wir solche Besorgnisse haben, dann können wir den Befehl des Herrn nicht ausrichten, aber dann fehlt es uns auch an der rechten Kraft und Reinheit der Liebe, denn sie hat die Furcht, die kleinliche Furcht vor menschlichen Bewegungen in der Seele noch nicht erstickt und ausgetrieben. Eben so, m. g. F. ist es mit dem Zweiten, indem nämlich der Erlöser sagt „und wenn dein Bruder anders Sinnes wird, so vergieb ihm“. Ja gewiß so wenig | wir den rechten Grund und die rechte Freudigkeit zu strafen in dem gewöhnlichen Leben der Christen finden, eben so wenig werden wir auch sagen müssen, ist es mit dem Vergeben. Die rechte Reinheit und Freudigkeit des Herzens dabei, ach wie selten ist diese! Wie viele giebt es der Augenblicke, wo ein Bruder an dem Anderen sündigt, 7 Bewegungen] Bewegungen, –
18 Stunde“?] Stunde.“
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aber die rechte Freudigkeit und Seeligkeit des Vergebens, wie selten finden wir sie. O freilich es giebt ein gewisses großmüthiges Verzeihen, wozu wohl gesittete Menschen geneigt sind, und was ihnen, haben sie einmahl eine Fertigkeit darin erlangt, auch gar nicht als etwas so Großes und Besonderes erscheint, als die Bewunderung der Menschen es achtet. Aber was ist dies? Nichts anders als ein Vergeben der Beleidigung | oder des Schadens, den ihnen die Sünde des Bruders bereitet hat, nichts andres, als ein Vergeben, welches nicht achtet auf das, was uns dabei Nachtheiliges im Leben entstehen kann. Aber davon, m. g. F. redet der Erlöser nicht, hier ist nicht von dem Vergeben der Beleidigung und des Schadens die Rede, in dieser Beziehung haben wir die Vorschrift, daß wir alles für nichts achten sollen, daß wir es übersehen und betrachten sollen wie alles Nachtheilige, was uns durch den Lauf der menschlichen Dinge in dem gewöhnlichen Leben trifft, denn es ist nichts anderes, als das Widerstreben der menschlichen Natur, die uns so oft entgegen tritt und von der wir so oft das Nachtheilige erfahren. Von diesem Vergeben also ist in den Worten des Erlösers nicht die Rede, sondern die Sünde sollen wir vergeben, der Schmerz, den wir | empfinden über die Sünde des Bruders soll aufhören, die Trübung, die durch seine Sünde in dem Kreise unseres Lebens und in dem Reiche Gottes entstanden ist, die soll sich abklären, so daß das Licht der reinen göttlichen Wahrheit wieder unser Verhältniß zu ihm beleuchte, und er diesem Lichte auf immer wieder gegeben sei. Das ist die Vergebung, von welcher der Herr redet, und wahrlich das ist so wohlfeil und so leicht nicht, und daher finden wir es auch so selten. Denn wie oft sagen wir, daß wir unserem Bruder vergeben haben, aber es bleibt noch ein geheimes Mißtrauen in unserer Seele zurück, es ist noch ein Eindruck in uns vorhanden, der nicht sein sollte und auch nicht da sein würde, wenn die Handlung vergessen wäre und als | nicht geschehen angesehen. Ja, wenn unsere Liebe ganz ohne Furcht sein wird, dann wird auch unser Vergeben rein sein. Aber wie der Erlöser das Vergeben selbst erst auf das Strafen gründet, so kann es auch nur rein erscheinen, wenn wir in jener Beziehung ganz ohne Furcht gehandelt haben. Nämlich der Erlöser fängt gar nicht damit an zu sagen, „wenn dein Bruder anderes Sinnes wird, so vergib ihm“, das kann ja nicht geschehen, sondern das Böse soll auch durch das Gute überwunden werden, aber das kann nur geschehen durch die Kraft des göttlichen Wortes und darum sollen wir mit der Kraft des göttlichen Wortes vor unsern Bruder treten und ihn strafen, und sind wir in | diesem Augenblick nicht fähig genug, diese 4 nicht] nicht,
17 in] von
11–14 Vgl. Phil 3,8
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Kraft recht zu gebrauchen, und ist er in diesem Augenblicke nicht empfänglich genug diese Kraft in sein Inneres aufzunehmen, so lehrt uns der Erlöser anderwärts, daß wenn wir einen unserer Brüder strafen unter vier Augen und er hört nicht, so sollen wir noch ein oder zwei Brüder mitnehmen und versuchen, ob es auf diesem Wege gelingen werde, immer mehr sollen wir die Kraft des göttlichen Wortes häufen, bis er zur Erkenntniß seiner Sünde kommt, und hört er auch die nicht, so sollen wir die Kraft der ganzen Gemeine wieder in Anspruch nehmen, denn sein Wechsel ist es ja, daß das Böse in ihm überwunden werde, und nicht eher, als bis uns dieses heilige Strafamt gelungen ist, den Bruder | zur Erkenntniß seiner Sünden zu bringen und den Schmerz darüber in seiner Seele erwecken, nicht eher soll unser Vergeben eintreten. Aber dann soll es auch vollkommen und ganz sein, dann sollen wir in Beziehung auf unseren Bruder erkennen, daß der göttliche Geist auch über ihn seine Herrschaft wiedergewonnen hat, dann sollen wir ihn mit voller Liebe aufnehmen als einen, der ganz der Sache Gottes angehört und der selbst das Seinige thun wird, so wie wir ihm geholfen haben, seine Sünde zu erkennen und das Böse zu überwinden mit Gutem, er auch das Seinige thun wird, dem Bösen in der Welt nach allen Kräften zu steuern und die Gewalt des Guten, aus allen Kräften zu mehren. Grade so, m. g. F. ist die göttliche Vergebung, sie ist | auch gebunden an die Buße, sie kann nicht eher in Wirksamkeit treten in Beziehung auf einen Menschen, als bis er zur Erkenntniß seiner Sünde gekommen ist und der Schmerz über dieselbe sein Innerstes erfüllt und durchdrungen hat, aber dann ist sie auch so ganz und vollkommen, wie jeder sie in seinem Herzen findet, der durch die Buße hindurchgedrungen gerechtfertigt ist durch die Kraft des Glaubens, der nachdem ihm die Erkenntniß der Sünde geworden ist durch das göttliche Wort, sich geeinigt hat mit dem, der allein im Stande ist die Sünde zu vergeben. So ganz wie in diesem Zustande, wenn der Schmerz über die Sünde uns ergriffen hat | und wir durch den Glauben an den Erlöser die göttliche Vergebung empfangen haben, unser Herz ganz ruhig ist und selig, Gottvertrauend und in Gott vergnügt[,] so ganz soll denn auch unser Vergeben gegen unsern Bruder sein, eben so rein unser Verhältniß gegen ihn hergestellt wie das unsrige gegen Gott, eben so klar und ungetrübt alles in seiner Seele [wie in der Seele] des Gerechtfertigten alles in Beziehung ist auf seinen himmlischen Vater. Dazu gehört aber nicht nur, daß wir ohne Furcht das Strafamt an ihm geübt haben 5 Brüder] vgl. SAr 63, Bl. 39v; Textzeuge: Augen 9 Wechsel] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 1420 20 steuern] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 363 2–9 Vgl. Mt 18,15–17
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bis unser Werk gelungen ist, sondern es gehört auch dazu, daß wir vertrauen auf die Kraft des göttlichen Geistes im menschlichen Herzen, wohl wissend auf einmahl wird der Mensch nicht ledig | und los der Sünde, ist er aber in einer Gestalt derselben einmal zur tiefen Erkenntniß gekommen, ist der Schmerz und der Abscheu dagegen in seiner Seele aufgegangen durch das göttliche Wort, o dann kann er noch öfter in diesen oder jenen Fehler verfallen, von selbst entsteht dann der Schmerz darüber und wird immer größer und in dem einen Falle hat er für alle Zukunft die Vergebung, vorausgesetzt, daß die Lust und Liebe an dem göttlichen Worte, die sich in ihm gebildet hat, auch künftig noch stark sei und daß wir zu Hülfe kommen werden unserem Bruder, wo er noch schwach ist und noch nicht recht befestiget, in der Ausübung des göttlichen Willens. Was könnte dann noch in unserer Seele Trübes und Unreines zurückbleiben? Wie sollte nicht unsere Vergebung der göttlichen Vergebung immer | ähnlicher werden und dadurch die Gemeine Gottes immer reiner erscheinen auf der einen Seite in sich selbst, wie sie sich in jedem einzelnen Gliede abspiegelt in seinem Verhältniß zu den übrigen, aber auch auf der andern Seite in ihrem Verhältniß zu der Welt, indem die Kraft des göttlichen Wortes sich immer mehr in dieser offenbart und alles immer mehr von dem göttlichen Geiste durchdrungen wird. Aus der Liebe ohne Furcht also besteht der beständig fortgehende Sieg in dem Menschen, darauf sich gründend, daß sie zur Erkenntniß gebracht werden der Sünde durch das göttliche Wort, daß sich dann aber auch alles auflöse in die Einheit des Glaubens und in die Einheit der Liebe gegen den, der es uns kund gemacht hat. Auf diesem Strafen und Vergeben ohne Furcht beruht auch die Gewalt | die der Erlöser gegeben hat den Seinen über die Sünde. Das ist der wahre und tiefste Sinn des geheimnißvollen Wortes „wem ihr die Sünde erlaßt, dem ist sie erlassen, und wem ihr die Sünde behaltet, dem ist die Sünde behalten“. Wem wir sie erlassen, dem ist sie so erlassen, daß nun nichts mehr in dieser Beziehung von seiner Seite jemals das Verhältniß der Liebe stören und trüben kann, und daß wir wissen, es bedürfe nun nicht mehr einer neuen Strafe und einer neuen Vergebung in Beziehung auf unseren Bruder, sondern er sei vollkommen gerechtfertigt vor Gott und ganz aufgenommen in die Gemeinschaft der göttlichen Gnade[.] Wenn wir sie behalten, weil es weder uns noch den vereinigten Kräften aller gelingen will, ihn zur Erkenntniß der Sünde zu bringen | und dem Strafamt des göttlichen Wortes sein Recht zu gewähren, dann ist sie behalten. Aber wie? So 24 auflöse] auflößte 29–30 Vgl. Joh 20,23
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wie der Erlöser an einem andern Orte sagt, „wenn dein Bruder die Gemeine nicht hört, so halte ihn für einen Heiden und Zöllner“. Was will das sagen? Etwa für einen solchen, von dessen Gemeinschaft wir uns ausschließen sollen? Dem wir das göttliche Wort und seine Segnungen fern halten sollen? Nein denn die Zöllner ging der Herr zu suchen und seelig zu machen, und unter die Heiden schickte er seine Jünger, um ihnen das Wort Gottes verkündigen zu lassen. Einen Bruder, der gesündigt hat für einen Zöllner und Heiden halten, heißt also nichts andres, als ihn für einen | solchen halten, dem das göttliche Wort noch muß in die Seele gepflanzt werden, dem es jetzt noch ferne ist, aber sein Gemüth soll von demselben erfüllt werden. Und also nur auf eine andere Erweisung der Liebe sind wir hier gewiesen, aber nicht auf eine Störung derselben, oder auf eine Vernichtung des Bundes zwischen uns und ihm. So werden die Sünden behalten, nur um sie zu erlassen, und so sehen wir das große Werk der Vergebung der Sünde in der Kraft des göttlichen Wortes fortschreiten und sollen des festen Vertrauens leben, daß sie nicht mehr sein wird, wenn die rechte Liebe überall ohne Furcht das Werk des Geistes handhabt und jeder gegen die Sünde auftritt, wo er sich kann dazu berufen | fühlen. Ja, m. g. F. so sehen wir auch hier die Liebe, wenn ihr Werk gelingen soll, wenn sie sich in schöner Reinheit und wahrer Vollkommenheit in dem Christen zeigen soll, so muß sie ohne Furcht sein, die Furcht und die Pein muß von ihr ausgetrieben sein. Nur so wird der Mensch Gottes, wie es sein soll immer mehr zu allen guten Werken geschickt. Amen.
[Liederblatt vom 4. Juli 1824:] Am 3ten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Mein Gott und Herr, gedenke meiner, / Sei mit mir jezt und allezeit; / Denn außer dir ist nirgend Einer, / Der mich mit Rath und Trost erfreut. / Dein Wort macht mich voll Zuversicht, / Und sagt mir, du vergißt mein nicht. // [2.] Gedenke meiner, wenn ich höre / Dein süßes Evangelium, / Und mach durch diese Himmelslehre / Mein Herz zu deinem Heiligthum: / So wird dein Wort in mir gedeihn, / Und reich an guten Früchten sein. // [3.] Gedenke 4 Dem] den 22 zeigen] zeugen endlich ihm gleich werden.“ 1–2 Vgl. Mt 18,17
24 geschickt] SAr 63, Bl. 40v ergänzend: „und
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meiner, wenn ich bete, / Und laß dein Ohr mir offen stehn; / Wenn ich in Christo vor dich trete, / Laß gnädig, was ich bat, geschehn! / Sonst aber gieb mir das allein, / Was mir kann gut und nüzlich sein. // [4.] Gedenke meiner, wenn ich falle, / Und gieb mich nicht der Sünde hin; / Da ich, so lang ich hier noch walle, / Zum Guten schwach und träge bin. / O, stärke mich in meinem Lauf, / Hilf gnädig meiner Schwachheit auf. // [5.] Gedenke meiner, wenn ich sterbe, / Und mein die ganze Welt vergißt! / Verseze mich in jenes Erbe, / Wo du mein Theil und Leben bist; / Denn bliebst du nicht im Himmel mein, / So möcht ich nicht im Himmel sein. // Nach dem Gebet. – Mel. Jesu, der du meine etc. [1.] Laß, o Jesu, mich empfinden, / Welche Seligkeit es ist, / Daß du, mich von Wahn und Sünden / Zu befrein, erschienen bist; / Daß ich Gottes Wege walle, / Daß du liebreich, eh’ ich falle, / Die Gefahr mir offenbarst, / Mich ergreifest, mich bewahrst. // [2.] Doch wie könnt’ ich dies empfinden, / Und kaltsinnig Menschen sehn, / In der Sklaverei der Sünden / Wege des Verderbens gehn, / Und nicht rufen, daß sie’s hören, / Eilet, Brüder, umzukehren, / Nüzt zur Heiligung die Zeit, / Ringet nach der Seeligkeit. // [3.] Auch für meiner Brüder Seelen, / Nicht für meine Seel’ allein / Soll ich sorgen; wenn sie fehlen, / Wo ich kann, ihr Führer sein. / Wenn sie sündigen und sterben, / Und ich führe vom Verderben / Liebevoll sie nicht zu dir: / Wie besteh’ ich dann vor dir? // [4.] Von des Irrthums Finsternissen / Selbst errettet, soll auch ich / Lockend rühren das Gewissen, / Dessen, der vom Guten wich; / Soll ihm zeigen, was ihn blende, / Und, daß er zu dir sich wende, / Vor dem Fall ihn warnen, ihn / Bitten, weil er kann, zu fliehn. // [5.] Hilf du mir sein Herz erweichen, / Und, wenn meine Bitten nicht / Bis zu seinem Herzen reichen, / Sei mein Beispiel ihm ein Licht; / Daß er an mir sehen möge, / Wie so heilsam Gottes Wege / Jedem der sie lieb gewinnt, / Und mit Treue wandelt, sind. // [6.] Laß ihn sehn an meinen Freuden, / Wie beglückt der Fromme sei, / Wie so heiter, auch im Leiden, / Ohne Furcht und sorgenfrei. / Ja laß ihn durch mich auf Erden, / Weise, fromm und ruhig werden; / Selig, selig ist der Christ, / Wenn er Seelenretter ist. // (Brem. Gesangb.) Nach der Predigt. – Mel. Ach was soll ich etc. [1.] Gieb mir, Vater, daß ich übe, / Was dein Wille mir gebeut, / Nachsicht, Sanftmuth, Gütigkeit, / Daß, wie Christus liebt, ich liebe, / Redlich liebe, mild getreu, / Sanft und leicht versöhnet sei. // [2.] O ihr Eines Hauptes Glieder, / Christi, der für Alle starb, / Allen Gnad’ und Heil erwarb, / Lieben will ich euch, ihr Brüder. / Für euch beten, euch erfreun, / Wohlthun, dulden und verzeihn. //
Am 11. Juli 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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4. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 5,31–40 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 365–379; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 156r–163r; Saunier, in: Schirmer Nachschrift; SAr 63, Bl. 41r–42r; Woltersdorff (unvollendet) Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 4. Sonntage nach Trinitatis 1824. Tex t. Joh. 5, 31–40. So ich von mir selbst zeuge, so ist mein Zeugniß nicht wahr. Ein anderer ist es, der von mir zeuget, und ich weiß, daß das Zeugniß wahr ist, was er von mir zeuget. Ihr schikktet zu Johannes, und er zeugte von der Wahrheit. Ich aber nehme nicht Zeugniß von Menschen, sondern solches sage ich, auf daß ihr selig werdet. Er war ein brennendes und scheinendes Licht, ihr aber wolltet eine kleine Weile fröhlich sein von seinem Lichte. Ich aber habe ein größeres Zeugniß, denn Johannis Zeugniß; denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat, daß ich sie vollende, dieselbigen Werke, die ich thue, zeugen von mir, daß mich der Vater gesandt hat. Und der Vater, der mich gesandt hat, derselbige hat von mir gezeuget. Ihr habt nie seine Stimme gehört, noch seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht in euch wohnend, denn ihr glaubet dem nicht, den er gesandt hat. Suchet in der | Schrift, denn ihr glaubt, ihr habt das ewige Leben darin, und sie ists, die von mir zeuget. Und ihr wollt nicht zu mir kommen, daß ihr das Leben haben möget. Unser Erlöser, m. a. Fr., nachdem er in den Worten, welche wir bisher betrachtet haben, von seinem Verhältniß zu dem Vater und von der Macht, welche ihm der Vater gegeben hat, so große und herrliche 20–1 Vgl. oben 13. Juni früh über Joh 5,16–23 und 27. Juni früh über Joh 5,24–30
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Dinge gesagt, so war es wol natürlich, daß er bei sich selbst dachte, ob ihm wol werde geglaubt werden, und ob auch die Menschen glauben möchten, daß sie ein Recht hätten ihm zu glauben, und daran nun knüpften sich die Worte, die wir jezt mit einander gelesen haben, aber freilich auf eine solche Weise, die noch einer nähern Erklärung bedarf, welcher wir eben diese Stunde widmen wollen. Denn zuerst, wie der Herr sagt, So ich von mir selbst zeuge, so ist mein Zeugniß nicht wahr, ein anderer ist es, der von mir zeuget, und ich weiß, daß das Zeugniß wahr ist, welches er von mir zeuget: so stehen diese Worte, wie es scheint, in einem offenbaren Widerspruch mit anderen, welche wir weiter unten in einem der folgenden Capitel erhalten werden. Da nämlich machen ihm die Juden zum Vorwurf, daß er von sich selbst zeuge, nach einer Rede, wo er ähnliches von sich gesagt hatte, wie er bisher in unserem jezigen Capitel von sich behauptet, und da antwortet er ihnen auf eine entgegengesezte Weise, Wenn ich auch von mir selbst zeuge, so ist mein Zeugniß doch wahr, denn ich weiß, von wannen ich gekommen bin und wohin ich gehe, ihr aber wisset es nicht. Wie sollen wir nun zuerst uns diesen Widerspruch erklären? Wir sehen hier eben, m. g. Fr., wie leicht es ist, daß einer sich selbst zu widersprechen scheint, indem er unter verschiedenen Umständen das entgegengesezte von dem sagt, was er ein | andermal gesagt hat. Bei dem Erlöser aber können wir dies gewiß nur für einen Schein halten, denn die Worte dessen, der die Wahrheit selbst war, müssen nothwendig mit sich selbst übereinstimmen. Wenn wir es uns auch in Beziehung auf andere Menschen wollen gefallen lassen zu glauben, daß sie mannigmal in einen Widerspruch verwikkelt sind mit sich selbst, so kann das doch dem Erlöser nicht begegnet sein. Dort aber hatten es ihm die Juden zum Vorwurf gemacht, daß er selbst von sich zeuge, und da mußte er sich gegen die Juden das Recht beilegen, von sich selbst zu zeugen, und sie dazu anhalten, daß sie seinem eigenen Zeugniß von sich glauben sollten. Wo sollte ihm auch ein anderes Zeugniß herkommen, welches für ihn abgelegt werden konnte? Alles das, was der Herr hier als das Zeugniß eines anderen anführt, wenn wir es genauer betrachten, so ist es von einer andern Seite angesehen ein Zeugniß von sich selbst. Was war eigentlich sein ganzes Leben und seine ganze Verkündigung als ein fortgehendes Zeugniß von sich selbst? Wenn er sagt, der Vater habe ihn gesandt das verlorne zu suchen und selig zu machen, wenn er die Menschen einladet zu ihm zu kommen, damit sie Erquikkung und Ruhe finden möch12–18 Vgl. Joh 8,13–14
38–39 Vgl. Lk 19,10
39–1 Vgl. Mt 11,28–29
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ten, für ihre Seele, wenn er sagt, das Reich Gottes sei nahe herangekommen, in Beziehung auf ihn, der es gestiftet, was ist das anderes, als ein Zeugniß von sich selbst? Ja auch die ersten Worte unseres heutigen Textes sind nichts anders. Denn wenn er sagt, Ein anderer ist es, der von mir zeugt, und ich weiß, daß das Zeugniß wahr ist, welches er von mir zeugt, was anders thut er, als das Zeugniß Gottes – denn den meint er, wenn er sagt, Ein anderer zeugt von mir – durch sein Zeugniß zu bestätigen, und sie daher zu verweisen auf sein Zeugniß Gottes von ihm, welches wahr sei. Wenn er also sagt, So ich von mir | selbst zeuge, so ist mein Zeugniß nicht wahr, so kann er offenbar nichts anders gemeint haben als dieses: wenn ihr mein Zeugniß nach gewöhnlicher menschlicher Weise beurtheilt, wie man einem, der von sich selbst zeugt, um so weniger zu glauben verpflichtet ist, als das, was er von sich zeugt, über die Grenzen des wahrscheinlichen und gewöhnlichen hinausgeht, so habt ihr Recht, daß mein Zeugniß von mir selbst keine Gültigkeit hat. Was er aber als ein zuverlässiges und wahres Zeugniß eines andern anführt, ist wiederum ein Zeugniß von sich selbst, in Beziehung auf das, was ihn von allen andern Menschen unterscheidet, in Beziehung auf dieses sein eigenes Verhältniß zu Gott, dem himmlischen Vater, und dies beruhet eben darauf, daß er ein ganz anderes Recht hatte von sich zu zeugen und das Zeugniß von sich selbst einen andern Gehalt, als das Zeugniß anderer Menschen. Es ist auch offenbar, daß das Zeugniß Gottes, wovon der Herr in den folgenden Worten redet, doch immer wieder seines eigenen Zeugnisses bedurfte, wie denn seine ganze Rede nichts ist als die Bestätigung davon. Ehe nun aber der Herr weiter redet von diesem Zeugniß, welches Gott für ihn ablegt, so kommt er hier wieder auf das Zeugniß des Johannes. Ihr schikktet zu Johannes, sagt er, und er zeugte von der Wahrheit, er war ein brennendes und scheinendes Licht, ihr aber wolltet eine kleine Weile fröhlich sein von seinem Lichte. Wir wissen aus der frühern Erzählung unseres Evangelisten, wie die Juden zu Johannes dem Täufer geschikkt haben, um ihn zu fragen, ob er Christus sei. Da verlangten sie also auch ein Zeugniß, welches er von sich selbst ablegen sollte, nur freilich, daß sie sich vorbehalten wollten, es zu prüfen und aus anderen Gründen zu entscheiden, wie viel oder wie wenig seinem Zeugnisse Glauben von sich selbst zukomme. Wenn nun der Herr | zu ihnen sagt, Johannes zeugte von der Wahrheit, so will er sie darauf zurükkführen, wie Johannes ihnen das Zeugniß gegeben, er selbst der Täufer sei nicht Christus, aber der von welchem und für welchen er zeuge, der sei schon mitten unter sie getreten, und 1–2 Vgl. Mt 4,17; 10,7; Lk 10,9 Joh 1,20.24–26
31–33 Vgl. Joh 1,19–20
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immer bestimmter und deutlicher, je mehr er Jesum erkannte für den, den der Vater gesandt hatte, wies er auch die, welche ihn hörten, zu Christo hin. Da sagt also wieder der Herr, das Zeugniß des Johannis von sich bestätigend, Er zeugte von der Wahrheit, und giebt also auch dem menschlichen Zeugniß, welches von ihm abgelegt war, seine Bestätigung und eine größere Gültigkeit. Wenn nun aber darin, daß die Juden zu Johannes schikkten um ihn zu fragen, ob er Christus sei, der Schein liegt, als ob es ihnen darum zu thun gewesen sei, den Gesandten Gottes, den sie erwarteten, sobald als möglich zu erkennen, um ihm Folge zu leisten und das Werk des Herrn zu fördern unter dem Volke, so will der Erlöser sie darauf zurükkführen, wie wenig das bei ihnen der Fall gewesen sei, und wie eben deswegen, weil ihre Frage nicht aus dem rechten Grunde gekommen sei, auch das Zeugniß des Johannes nicht seine rechte Wirkung bei ihnen habe hervorbringen können. Er sagt, Er war ein brennendes und scheinendes Licht, ihr aber wolltet eine kleine Weile fröhlich sein von seinem Licht, das heißt, Johannes war dazu gesandt, dem Herrn den Weg zu bereiten, Zeugniß von ihm abzulegen und im Voraus die Aufmerksamkeit und den Glauben des Volkes auf ihn hinzulenken. Sie nun sahen ihn an freilich eben nur als den Vorläufer des erwarteten Erlösers, nachdem er selbst bezeugt hatte, daß er der Erlöser nicht sei; aber weil sie keine andere Vorstellung hatten, als die von der äußerlichen Erlösung und von einem irdischen und weltlichen Heil, so konnten sie auch nur so lange fröhlich sein bei seinem Lichte, bis sich ihnen dieses ganz zerstreute, und sie aus der Art, worin er selbst fortwirkte, und wie der Erlöser seine Wirksamkeit | anfing, sahen, daß ihre Erwartungen nicht sollten in Erfüllung gehen. Wenn aber der Erlöser sagt, Ich nehme nicht Zeugniß von Menschen, das heißt, das menschliche Zeugniß ist nicht dasjenige, worauf ich euch verweisen kann, ich nehme es nicht an, sondern, Solches sage ich euch, auf daß ihr selig werdet, wenn er diesen Gegensaz hervorhebt zwischen diesem Seligwerden und zwischen dem kurzen und vergänglichen Fröhlichsein, welches das Volk suchte bei dem scheinenden Lichte des Täufers in der Wüste: so will er sie aufmerksam machen auf den Gegensaz zwischen seiner Wirksamkeit und der des Johannes, und sie darauf verweisend, wie jener, indem sein scheinendes Licht ihnen nur eine flüchtige Lust gewährt hatte, den erwünschten Erfolg seiner Bemühungen für das herannahende Reich Gottes nicht gesehen habe, so will er ihnen andeuten, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei, daß er gekommen sei von der Wahrheit zu zeugen, so sie nur vermöchten diesem Rufe zu folgen und dadurch selig zu werden. 39–40 Vgl. Joh 18,36–37
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Und nach dieser Vorbereitung geht er darauf zurükk, was er sagen will, nämlich auf das göttliche Zeugniß, indem er sagt: so wie das Zeugniß des Johannes euch zum Heil gereichen kann, wenn ihr es annehmet, keinesweges aber ein bloß menschliches Zeugniß dies vermag, so sage ich euch, Daß ich ein größeres Zeugniß habe als das Zeugniß des Johannes, die Werke, die mir der Vater gegeben hat, daß ich sie vollende, dieselbigen Werke, die ich thue, zeugen von mir, daß mich der Vater gesandt habe. Was, m. g. Fr., was sollen wir uns unter diesen Werken denken, welche der Herr hier als das göttliche Zeugniß von sich anführt? Zunächst freilich fallen einem jeden dabei ein die wunderbaren Thaten des Erlösers, die er allerdings auch nicht selten in einem besonderen Sinne seine Werke nennet, aber | genauer betrachtet werden wir sehen, daß wir dabei wenigstens nicht ganz und ausschließend mit unserer Aufmerksamkeit stehen bleiben müssen. Denn wenn wir nun fragen, was konnten denn diese Werke für ein Zeugniß von ihm ablegen? Allerdings konnten sie ein Zeugniß davon sein, daß Gott ihn gesandt habe, wie auch Nikodemus zu ihm sagt, indem er sein Gespräch mit ihm eröffnet, Wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen, denn niemand kann die Zeichen thun, die du thust, es sei denn Gott mit ihm. Das Volk war von alter Zeit her und durch seine frühere Geschichte, die es freilich nur noch in den heiligen Büchern kannte, daran gewöhnt, die Wunder als Zeichen einer göttlichen Sendung anzusehen und einen, der Wunder that und dabei lehrte, als einen Lehrer von Gott gekommen zu betrachten. Aber dadurch ist doch die Sendung des Erlösers nicht unterschieden von der Sendung der andern Propheten des Herrn, und also ein anderes Zeugniß hatten die Werke nicht abgelegt von ihm und für ihn, als daß er vom Vater gesandt sei eben so wie auch andere von ihm gesandt waren, und sie hätten also nicht das Zeugniß gegeben, welches ihm genügen konnte, daß er nämlich von dem Vater gesandt sei als der Sohn des lebendigen Gottes, sondern daß er von dem Herrn und König des Volks gesandt sei als einer seiner Diener und Knechte, wie jeder von den ausgezeichneten Männern im alten Bunde es war. Ein anderes als dieses Zeugniß hätte der Herr aus seinen Werken nicht nehmen können, und das hätte ihm eben so wenig genügt, als das menschliche Zeugniß des Johannes. Aber wenn wir weiter fragen, waren denn auch die Wunder des Herrn die Werke, von denen er sagen konnte, Die Werke, die mir der Vater gegeben hat, daß ich sie vollende, dieselbigen Werke, die ich thue, zeugen von mir? Wie? wären die Wunder alle zusammengenommen die Werke ge|wesen, die ihm sein Vater gegeben und aufgetra19–21 Joh 3,2
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gen, daß er sie vollenden sollte, dann müßten wir glauben, daß mit der Verrichtung dieser Wunder auch der Zwekk der Sendung des Erlösers erfüllt sei; und das sei ferne von uns. Denn laßt uns doch der Worte gedenken, die wir an einer andern Stelle der Schrift lesen, Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne und nähme Schaden an seiner Seele. Diejenigen, welche der Herr befreiete von irdischen Leiden und Uebeln, ja sogar die, welche er erwekkte vom Tode oder zurükkhielt vom Tode, was gewannen sie denn anderes, als das irdische auf eine kurze Zeit, bis doch wieder das Ende des menschlichen Lebens kam? Ja diejenigen, denen er die Kraft mittheilte, daß ihnen die Geister unterthan waren, was gewannen sie anders, als eben in einem untergeordneten Sinne, wie er es in jenen Worten nur meinen kann, das himmlische und geistige und die Kraft, die diesem genügen kann? Aber Schaden an der Seele konnten sie deswegen alle leiden, diejenigen sowol, denen durch die Wunder des Herrn geholfen wurde, als auch diejenigen, auf welche sich seine Wunderkraft fortsezte. Das Werk aber, welches ihm der Vater gegeben hatte, daß er es vollenden sollte, das war zu suchen und selig zu machen das verlorene, das heißt, allen Schaden der Seele wieder gut zu machen und in der Zukunft zu verhüten, und das sind also die Werke, von denen er sagt, daß der Vater sie ihm gegeben habe, auf daß er sie vollende, und die er sich in jedem Augenblikk seines Lebens mit dem besten Grunde zuschreiben konnte, daß er sie wirklich thue. Denn worauf zwekkten doch alle seine Reden und alle seine Handlungen ab, als auf das Suchen und Seligmachen des verlornen? Wofür arbeitete er sein ganzes Leben hindurch, als daß der Seele des Menschen geholfen, daß sie gegen allen Schaden bewahrt werde, und ihre Seligkeit festgegründet? | Diese Werke also, die beschreibt er nun als das Zeugniß, welches der Vater selbst von ihm ablegt, und damit stimmt freilich überein, was er an einem andern Orte sagt, daß niemand zum Sohne kommen könne und an ihn glauben, es ziehe ihn denn der Vater. Er sieht also auch das wiederum nicht an als sein eigenes, sondern als das Werk des Vaters. In so fern dieses Werk, die Beseligung der Menschen durch sein Leben, Dasein und Wirken, ein Werk des Vaters war, in so fern gilt auch das, was er am Anfange unseres Textes sagt, daß sein Zeugniß von sich selbst nicht wahr wäre, denn indem er das Zeugniß des Vaters von dem seinigen sondert, so betrachtet er sich in dieser Sonderung für sich als den Menschen und den Menschen-Sohn, der mit allen andern 4–6 Mt 16,26; Mk 8,36 32 Vgl. Joh 6,44
10–11 Vgl. Lk 10,17.20
18 Vgl. Lk 19,10
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denselben Gesezen unterworfen ist, und in dieser Beziehung konnte er von sich selbst sagen, sein Zeugniß sei nicht wahr, so er von sich selbst zeuge, und habe keine Gültigkeit und verdiene keinen Glauben. Aber, sagt er, zu diesem menschlichen komme nun das Zeugniß des Vaters hinzu, das Zeugniß des Vaters, der in ihm wohnte und wirkte, und dessen Werk das seinige war, und in so fern dieses Werk Gottes, die Seelen der Menschen zu dem Erlöser zu ziehen, auf der einen Seite das Werk des Vaters war, auf der andern das Werk des Sohnes, weil er den Vater in sich wohnen hatte, in so fern konnte er an jener Stelle sagen, Wenn ich von mir selbst zeuge, so ist mein Zeugniß wahr, denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe, ihr aber wisset es nicht. M. g. Fr., worauf verweiset uns der Erlöser hier als auf den rechten Grund alles lebendigen Glaubens an ihn, auf das rechte Zeugniß, dem alle die Wahrheit nicht absprechen können, zu denen es gelangt? Auf nichts anderes als auf die eigene innere Erfahrung des Herzens. Es ist ganz dasselbe, was er an | einem andern Orte und in einer besondern Beziehung so ausdrükkt, So jemand diese Lehre thut, der wird inne werden, daß diese Lehre von Gott ist, dem wird dann das Zeugniß des Erlösers ein himmlisches Zeugniß, weil er fühlt und inne wird, es sei eine wahrhaft göttliche Lehre, welche in ihrer Kraft die Seligkeit des in sich selbst verlorenen, den Frieden des mit sich selbst entzweiten, die Ruhe des in einem ewigen Kampf begriffenen hervorbringt, es sei eine göttliche Lehre, die von dem Erlöser ausgeht, weil er erfährt diese Lehre nur als ein göttliches Werk von ihm, weil er weiß, daß die Lehre, welche von ihm zeugt, das heißt die Lehre, die in den Worten wiederhallt, Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquikken, daß diese Lehre, wenn wir sie thun, uns als eine göttliche erscheint, und daß wir ihrer Göttlichkeit inne werden in dem Zeugniß, welches der Vater ablegt von dem Sohne, und wodurch er die Herzen der Menschen zu dem Sohne hinzieht, und daß die Werke, die der Erlöser thut, Werke sind aus Gott gethan und Werke der ihm einwohnenden Kraft und Fülle der Gottheit. Zu diesem nun aber fügt der Herr hinzu Worte, die allerdings schwer zu verstehen scheinen, Und der Vater, der mich gesandt hat, der zeugt von mir, das heißt, die Werke, die er mir gegeben hat zu vollenden, und die ich wirklich thue, die sind ein Beweis davon, sein Zeugniß ist abgelegt, es giebt schon solche, die an meinen Namen glauben, und denen ich dadurch die Macht gegeben habe Kinder Gottes zu werden, es giebt schon solche, die mich aufgenommen haben und die deshalb aus der Finsterniß zum Lichte, aus dem Tode zum 10–12 Vgl. Joh 8,14 18–19 Vgl. Joh 7,17 Joh 1,12 40–1 Vgl. Joh 5,24
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Leben hindurchgedrungen sind, der Vater hat schon von mir gezeugt, ihr aber habt nie weder seine Stimme gehört, noch seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht in | euch wohnend, denn ihr glaubet dem nicht, den er gesandt hat. Wie kann der Herr das seinen Zuhörern zum Vorwurf machen, daß sie niemals die Stimme seines Vaters gehört noch seine Gestalt gesehen hätten? Denn indem er von einem Sehen der Gestalt redet, so sehen wir daraus, daß auch das, was er von der Stimme Gottes sagt, auf eine eigentliche Weise zu verstehen ist. Wie kann nun das aber sein, da Gott keine Gestalt hat und in demselben Sinne auch keine Stimme? Wir müssen aber hierbei, m. g. Fr., uns erinnern an die Zeiten des alten Bundes, wo allerdings öfters von einer Stimme Gottes geredet wird, ja auch von einem solchen Sehen der Gestalt, welches für den, der sie sah, in einem Augenblikke besonderer geistiger Erregung und einer besonderen Erhöhung des in der Seele ruhenden Bewußtseins Gottes eine vorzügliche Vergegenwärtigung Gottes des Herrn war, wie wir dergleichen Beispiele in den Schriften des alten Bundes mehrere aufbewahrt finden. Daran also will der Herr seine Zuhörer erinnern, und sagt ihnen um es anders auszudrükken etwa so viel, So wenig ihr aus allen Stimmen jener alten Diener des Volkes, die der Herr mit seiner Kraft ausgerüstet hatte, und die ihm wohlgefällig waren in der Verkündigung seines Willens an das Volk in einem jeden besonderen Zustande desselben, so wenig ihr je eine dieser Stimmen Gottes gehört oder eine Gestalt gesehen habt, die euch ein besonderes Zeichen von dem Herrn sein konnte, eben so wenig habt ihr sein Wort in euch wohnen. Dieses Wort, von welchem der Herr sagt, daß sie es in sich wohnen haben könnten, aber nicht hätten, das ist das Wort der Schriften des alten Bundes, das Wort, in welchem aufbewahrt waren alle Führungen Gottes mit diesem Volke, und alle Stimmen, die seine Diener als die Verkündiger seines Willens geredet, und alle Gestalten, in denen sie die Herrlichkeit des Herrn offenbaret hatten, das Wort, welches selbst ein Zeugniß | war von dem besonderen Wohlgefallen Gottes an diesem Volke und von der Treue, mit welcher der Herr es geleitet hatte, so daß das Heil der Welt aus demselben hervorgehen sollte. Stimmen Gottes zu hören und seine Gestalt zu sehen, stand nicht in der Macht derer, zu denen der Herr redete, aber das Wort Gottes, welches sie hatten, vergegenwärtigte ihnen jede Zeit und sollte ihnen das gegenwärtige mit dem zukünftigen verknüpfen. In dem Worte Gottes aber deutete alles auf das künftige Heil, welches schon an den Glauben Abrahams als des ältesten Dieners Gottes geknüpft war und von ihm herab durch die ganze lange Zeit der Geschichte seinem Saamen verheißen. Hätten sie also das Wort Gottes in sich wohnen gehabt, so wäre es ihnen ein Zeugniß Gottes gewesen, so wäre dadurch die Sehnsucht nach einem höhern geistigen und ewigen Heil erregt worden in ihnen, welche zu
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erregen die Bestimmung der Schriften des alten Bundes ist, nicht zu befriedigen – denn es konnte dies nur der Sohn, der in die Welt gekommen ist und Fleisch und Blut angenommen hat – aber zu erregen und immer lebendig in ihnen zu erhalten. Hätten sie das Wort Gottes in sich wohnen gehabt, so wäre auch jene Sehnsucht in ihnen gewesen, und diese wäre dann ein Anknüpfungspunkt gewesen für die Wirkung, die von Christo ausgehen sollte, und für das Werk, welches der Vater vollbrachte, die Seelen der Menschen zu dem Sohne zu ziehen. Nun aber sagt der Herr, Ihr habt sein Wort nicht in euch wohnen, wiewol ihr könntet, weil ihr nicht glaubet an den, den der Vater gesandt hat, und darum suchet ihr wol in der Schrift, weil ihr überzeugt seid, daß ihr das ewige Leben darin findet, wie sie es auch ist, die von mir zeuget, aber zu mir wollt ihr nicht kommen, daß ihr das Leben haben möget. Laßt uns, m. g. Fr., nur noch einen Augenblikk bei diesen Worten des Erlösers stehen bleiben. Hier macht er seinen Zuhörern einen Vorwurf daraus, daß sie das Wort Gottes | nicht in sich wohnen hätten, und sieht das also als ihr Werk an und sagt, hätten sie es in sich wohnen, so würden sie zu ihm kommen und an ihn glauben, damit sie von ihm das Leben empfingen; so aber forschten sie nur in der Schrift, in der Meinung, das ewige Leben darin zu haben, das heißt, nicht in dem rechten Streben nach dem wahren ewigen Leben, sondern nur in der falschen Vorstellung, welche sie davon hatten, und darum könnten sie zum Glauben an den, den Gott gesandt hat, nicht gelangen. Hätten sie das Wort des Herrn in sich wohnen, so hätten sie die Kraft auch in sich wohnen, und in dieser Kraft Gottes wendet sich der Herr an sie und sagt, wer die habe, der werde auch durch den Glauben von dem Vater zu ihm gezogen, und der wesentliche Unterschied zwischen denen, die während seines Lebens der Herr selbst, und hernach in jedem folgenden Zeitraum die Verkündiger des Heils zum Glauben an ihn gebracht hätten, und zwischen denen, die nicht dazu gelangt wären, der sei immer nur, wenn man auf das erste zurükkgeht, der zwischen denen, die jene Kraft des Wortes Gottes in sich wohnen hätten, und zwischen denen, die nicht; zwischen denen, in denen das Reich Gottes tiefe Wurzel schlägt und sich fest erhält gegen alles, was es zu zerstören sucht, und zwischen denen, in welchen es nicht zum Leben gedeiht und nur zu einer kurzen Freude, zu einer flüchtigen Bewegung des Gemüthes wird, aber nicht zu einer festen Gestaltung. Und so will er uns auch hier darauf führen, daß das ganze Werk Gottes ein zusammenhangendes ist. Denn das ist die ursprüngliche Mittheilung Gottes an die menschliche Natur, kraft deren der Mensch auf der einen Seite, indem er wahrnimmt die Werke der Schöpfung in der Welt, auf der andern Seite, indem er merkt auf die Werke Gottes in 39–3 Vgl. Röm 1,20
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der Geschichte der Welt, wie sie auch in den heiligen Büchern sich finden, dahin kommen kann, Gottes ewige Kraft und sein allmächtiges Wesen wahrzu|nehmen und zu erkennen. Hat der Mensch dieses Wort Gottes in seiner Seele wohnen, dann ist er vorbereitet, das neue tiefere und herrlichere Wort Gottes, welches durch den Herrn offenbaret ist, in seine Seele aufzunehmen, weil er dann ein Verlangen hat in seinem Herzen nach dem Vater, der durch den Sohn sich offenbaret hat und dann glaubt er dem Zeugniß des Vaters von dem Sohne und läßt sich von dem Vater zum Sohne hinführen, und die so an ihn glauben, die sind es, die das ewige Leben haben. Gesezt also, wir haben das Wort Gottes in der Schrift, aber nicht in uns wohnen, so mögen wir forschen, so viel wir wollen, von einer solchen falschen und verkehrten Meinung von dem ewigen Leben aus, so werden wir doch das Zeugniß, welches der Herr abgelegt hat, nicht finden, das Zeugniß, daß die Menschen in ihrem natürlichen Zustande nicht konnten zu Gott kommen, sondern nur durch die Mittheilung des göttlichen Wortes, welches in dem Sohne erschienen und Fleisch geworden ist. Zum Glauben an ihn werden wir also, wenn wir auf eine solche äußerliche Weise in der Schrift forschen, nicht gelangen, sondern die das Wort Gottes in sich haben, finden auch die rechte Deutung des geschriebenen Wortes, welches unter uns wohnt, und werden dadurch zu dem geführt, der allein die Quelle alles Heils und alles Lebens ist. Aber was ist nun das Wort, welches wir unter uns wohnen haben, anders als Zeugniß des Herrn von sich selbst? Denn auch das Zeugniß seiner Jünger ist nichts anderes als sein Zeugniß, weil sie nur durch ihn zum Glauben sind gebracht worden, und sein Zeugniß unter uns ist das von der Macht, die er und nur er in die Seelen derer ausgießt, die an ihn glauben, das in tausendfältigen Gestalten sich wiederholende Zeugniß des Apostels, welcher spricht, Wohin sollten wir gehen, du hast Worte des ewigen Lebens. | O laßt uns nur den innersten Grund und Boden des Herzens freihalten, damit das ursprüngliche Wort Gottes in uns wohne und nicht vergehe unter den Sorgen und Lasten der Welt, dann wird auch das herrliche Wort Gottes, welches uns der Erlöser gebracht hat, in uns sich immer mehr verklären, und der Glaube an des Herrn Zeugniß von sich selbst und an seines Vaters Zeugniß von ihm immer lebendiger werden, bis wir so fest mit ihm vereiniget sind, daß wir wissen, weder Licht noch Finsterniß, weder Leiden noch Tod, nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu. Amen.
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Am 18. Juli 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
5. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 16,24–25 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 318–333 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 508–521; 21844, S. 560–572 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 415–426 b. Nachschrift; SAr 88, Bl. 34r–50r; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers 318
Von der Selbstverläugnung. Text.
Matthäi 16., V. 24–25.
M. a. F. Daß Christus unser Herr uns in diesen Worten eine Beschreibung geben will von der rechten Treue und der vollkommenen Liebe seiner Jünger gegen ihn, das leuchtet wohl einem Jeden ein; und daß er zugleich warnen will vor einer Furcht und Besorgniß, die sich dennoch auch derjenigen bemächtigen könnte, welche ihn lieben und ihm ihre Liebe auf jede Weise bezeigen wollen, das ist auch wohl deutlich genug. Denn wenn wir in den Fall kommen, uns eines besonderen Willens, das Leben zu erhalten, bewußt zu werden: so muß auch eine Besorgniß da seyn, daß es könne verloren gehen. Aber ich besorge doch, wir können bei dem ersten Vernehmen dieser Worte nur gar zu leicht auf einen falschen Weg mit unseren Gedanken geführt werden, und uns vor einer Furcht gewarnt glauben, an welche der Erlöser nicht gedacht hat, und dann würden wir auch nicht zu der richtigen Vorstellung von der vollkommenen Liebe zu ihm gelangen, die er eigentlich hier gemeint hat. Laßt mich also zuvörderst jene sehr nahe liegende unrichtige Deutung seiner Worte abwehren; und dann wollen wir mit einander sehen, welches denn der wahre und vollkommene Sinn dieser Rede des Erlösers sey.
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Wenn der Herr sagt: Wer mir nachfolgen will und mein Jünger seyn, der nehme sein Kreutz auf sich, und so folge er mir; denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren: so ist wohl gar natürlich, daß wir denken, er habe im | Allgemeinen sagen wollen, daß derjenige nicht sein Jünger seyn könne, der vor den Widerwärtigkeiten des Lebens erschrickt, und dem bei jedem Gedanken an die Möglichkeit, das Leben einzubüßen, gleich eine unbedingte Lust, das Leben zu erhalten, entsteht. Nun ist dies an sich zwar wahr; denn ein solcher würde beständig abgeschreckt werden von der Nachfolge des Erlösers. Aber wenn wir hierbei allein stehen bleiben wollten, so würden wir offenbar eine viel zu geringe Meinung fassen von diesen Worten des Herrn. Denn gewiß das ist etwas gar Leichtes und Gemeines, und bei zu vielen Menschen bemerken wir es, welche doch weit entfernt sind von seiner rechten Nachfolge, daß sie eben keine Furcht haben vor den Widerwärtigkeiten, die sie auf ihrem Lebenswege treffen, ja auch das Ende des Lebens, wenn es ihnen unerwartet erscheint, ist ihnen gleichgültig. Und doch ist das bei vielen ungebildeten Völkern und einzelnen Menschen nichts Anderes, als eine gewisse Stumpfsinnigkeit des Gemüths, die nur daher rührt, daß sie den Werth des Lebens noch nicht so gut zu schätzen wissen, als Andere. Sollen wir nun glauben, daß solche Menschen eben aus dieser Ursache sich besser eignen zu tüchtigen und vollkommenen Jüngern des Herrn, da doch ihre Stumpfsinnigkeit offenbar ein Mangel ist, und zwar ein großer geistiger Mangel, von dem sie erst müssen befreiet werden? – Andere wiederum finden wir auch häufig genug, die aus bloßer Vergnügungssucht sich mit großer Leichtigkeit der Furcht vor allerlei Widerwärtigkeiten und Beschwerden zu entschlagen wissen, ja sich wie im Scherze und lediglich aus Lust in Fährlichkeiten einlassen und das Leben auf das Spiel setzen, wenn sie sich einmal an Vergnügungen gewöhnt haben, die nur hierdurch ihren höchsten Reitz und ihren ausgesuchtesten Geschmack bekommen. Soll nun eine solche Gemüthsverfassung eine wahre und unmittelbare Verwandtschaft haben mit der höchsten und ernsten Liebe zum Erlöser? – Endlich giebt es auch Menschen genug, die wenigstens dann, wann irgend eine heftige Leidenschaft sie aufregt, und am Meisten gilt dies von den feindseligen Bewegungen des Gemüths, im Stande sind, | sich in eine Menge von Gefahren und Widerwärtigkeiten hineinzustürzen, und sich nicht irre machen lassen, auch wenn ihnen der Verlust des Lebens droht. Soll uns nun das geschickter machen, Jünger des Erlösers zu seyn, was eben so gut aus einem Gemüthszustande hervorgeht, der dem eines Jüngers Christi am Meisten entgegengesetzt ist? Daß die Kinder dieser Welt auf eine solche Seelenstärke, wie sie es nennen, einen unbedingten Werth legen,
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das ist natürlich; aber wenn es doch nichts hilft, die ganze Welt gewinnen, wenn Einer Schaden leidet an seiner Seele: so kann auch diese Seelenstärke an und für sich kein Gewinn seyn, welche mit solchem Schaden an der Seele zusammen bestehen kann. An und für sich betrachtet also, kann eine solche Selbstverläugnung nicht ein besonderes Erforderniß seyn für die Jünger des Herrn. Aber, könnte man sagen, aus Liebe zu ihm sich selbst verläugnen und das Leben gering achten, auch wenn alles Andere zusammenstimmte, es uns angenehm zu machen, das sey etwas von jenem ganz Verschiedenes. – Wohl! nur dieses ist dabei zu bedenken, ob denn die Liebe zum Erlöser in einem besonderen Verhältnisse steht zu dieser Entsagung und Selbstverläugnung, anders als jede andere Liebe; und das würden wir schwerlich bejahen können. Am Ende nämlich ist es nicht möglich, daß der Mensch leben kann ohne irgend eine Liebe. Er ist aber auch nicht ein bewußtloses Geschöpf, welches nur einem ihm selbst unbekannten Drange und Triebe der Natur folgt, sondern fähig, sich die Frage vorzulegen, ja er muß sie sich vorlegen: wozu lebst du eigentlich? Was ist es denn, was dein Leben erfüllt, worin du dasselbe und deine Kräfte darin fühlst? Wenn er sich diese Frage gar nicht beantworten könnte: so wäre er der elendeste unter allen Menschen, ja sein Zustand sänke unter die menschliche Natur herab. Sey es aber übrigens, was es sey, was er als den wahren Inhalt seines Lebens ansieht, so ist ja natürlich, daß je klarer ihm das geworden ist, desto mehr er alles Andere um deßwillen in den Wind schlägt. Und so finden wir oft genug, daß eine Liebe zu unwürdigen Gegenständen sich | des Menschen in einem eben so hohen Grade bemächtigen kann. Das Häßliche wie das Schöne, das Schlechte wie das Gute, den Irrthum wie die Wahrheit, kann der Mensch so hoch stellen, daß er Gesundheit, Ruhe, Sicherheit seines Wohlstandes in der Welt, ja auch sein Leben in täglichen Gefahren unbedenklich aussetzt. Und wenn sie so ihr Leben gering achten, und ihr Kreutz auf sich nehmen: so trösten sie sich mit eben demselben, was auch der Erlöser in den Worten unseres Textes sagt: Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren. Sie sagen auch zu sich selbst: Was ist wohl unsicherer, als das Leben? wie vermag doch der Mensch, so wenig als er seiner natürlichen Länge etwas hinzusetzen oder davon thun kann, eben so wenig auch der Länge seines Lebens, mag er auch sorgen und sich mühen, mag er sich überwinden, entbehren und entsagen, so viel er will, irgend etwas hinzusetzen, und die Ueberzeugung bei sich gewinnen, er habe es wirklich verlängert, und dies sey nun der Gewinn davon, daß er seine wahre Liebe hintangesetzt habe, und ihr untreu geworden sey, 1–2 Vgl. Mt 16,26; Mk 8,36
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eben aus Liebe zum Leben. Ist das nun nicht möglich, sprechen sie weiter zu sich selbst, und gilt dasselbe auch von den äußeren Widerwärtigkeiten des Lebens, daß wenn man ihnen das eine Thor ängstlich verrammelt, sie doch zu einem anderen hineindringen können: so ist ja bei Weitem gerathener, dieses Alles gehen zu lassen, wie es kann und will, und nur aus allen Kräften für den Genuß und den Gehalt des Lebens zu sorgen, der eben Jedem über Alles geht, und ohne den es doch, währete es auch noch so lange, ihm keine Befriedigung gewähren würde. So ist demnach auch dies etwas Gemeines, und nicht den Jüngern des Herrn Eigenthümliches. Wenn also der Erlöser nur dies gemeint hätte, so würde er gesagt haben: „Wer nicht sich selbst verläugnen, und sein Kreutz auf sich nehmen kann, der kann überall nichts lieben, also auch freilich mich nicht, sondern er muß sehen, wie er sich, ohne irgend einer festen und bestimmten Neigung Raum zu geben, an dem genügen läßt, was ihm gerade der Augenblick zuwirft, wer sein Leben erhalten will, der kann nicht in irgend einer Sache tüchtig werden, | also auch nicht als mein Jünger.“ Da er aber so nicht gesprochen, da er gewiß Etwas hat bezeichnen wollen, ohne welches wir in allem Anderen gut seyn könnten und ehrenwerth, nur nicht als seine Jünger: so muß er nothwendig mit seinen Worten noch etwas Anderes gemeint haben, und es muß gewiß etwas Größeres und Tieferes seyn, was er sagen wollte, als er die Worte unseres Textes sprach. Um nun dies recht inne zu werden, so laßt uns nun seine Worte in ihrem Zusammenhange genauer betrachten, und dem gemäß zuerst sehen, was doch das für eine Furcht ist, von welcher der Erlöser uns befreien will, und von welcher er sagt, daß sie seinen Jüngern nicht gezieme, und dann zweitens darauf achten, wie in der That nur die ganze und vollkommene Liebe zu ihm im Stande ist, diese Furcht zu überwinden und auszutreiben. I. Unmittelbar vorher, so erzählt der Evangelist, hatte der Erlöser zuerst angefangen, zu seinen Jüngern zu reden von seinem Leiden, daß sie nun bald würden nach Jerusalem kommen, daß er dort würde überantwortet werden in die Hände der Heiden, und daß er viel leiden würde und sterben. Da sprach Petrus zu ihm, indem er ihn bei Seite nahm: Herr, schone doch dich selbst, das widerfahre dir nicht! Dem Herrn aber war diese Rede so wenig genehm, daß er zu diesem seinem lieben und treuen Jünger in jene harten Worte ausbrach und zu ihm sagte: „Hebe dich von mir Satan, du bist mir ärgerlich, denn du suchest nicht das Göttliche, sondern das Menschliche,“ und dann 31–40 Vgl. Mt 16,21–23
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wandte er sich zu der Gesammtheit seiner Jünger, die ihn eben umgaben, und sprach die Worte unseres Textes. Zuerst also: was veranlaßte ihn zu diesen Worten, und worauf bezogen sie sich? Offenbar auf die Worte, welche Petrus sprach, der nicht für sich selbst fürchtete, sondern für ihn, seinen Herrn und Meister, und darauf, daß er wünschte, sein Meister möge sich noch bei Zeiten hüten, daß ihm das nicht begegne, was er vorhersagte. Wenn wir also die Worte des Meisters recht verstehen wollen: so müssen wir vor allen Dingen seine Mißbilligung der Worte des Schülers zu verstehen suchen. | Wie also, m. g. F., auch eine solche zarte Liebe will der Erlöser nicht? O wie oft dünken wir uns in einer solchen recht schön und edel bewegt, und glauben die rechte Stärke und Tiefe unserer Liebe gerade dadurch erst selbst recht wahrzunehmen und auch Anderen anschaulich zu machen. Wenn wir uns der treuen Liebe, des lebendigen Einflusses derer, die uns Gott gegeben und auf eine besondere Weise zugesellt hat, recht erfreuen, wenn wir recht tief fühlen, wie innig wir an ihnen hangen, und wir geben dann auf einmal auch nur dem Gedanken Raum: du könntest die verlieren, an denen deine Seele so hängt, – wie werden wir dann nicht ergriffen von dem Gefühle des Verlustes, der Zerstörung unseres ganzen Zustandes, und der Nichtigkeit, die sich dann über unser Leben verbreiten würde. Ach und wenn nun gar irgend Einem von denen, die unserem Herzen so am Nächsten stehen, eine Gefahr wirklich droht, durch Krankheit, oder von Seiten seiner Verhältnisse in der Welt: mit welcher Besorgniß begleiten wir dann jeden bedenklichen Augenblick! Wie fürchten wir beständig, er möchte hier oder dort zu viel oder zu wenig thun! Wie möchten wir ihn warnen bei jedem, wovon wir glauben, es könnte auch im Geringsten die schlimme und schwierige Lage, in welcher er sich befindet, dadurch erschwert werden! Und diese zarte Besorgniß der Liebe verwirft der Erlöser so, daß wir denken müßten, wenn die Geliebten unseres Herzens dem Erlöser recht ähnlich wären, müßten sie auch zu uns sagen: Gehe von mir, du bist mir ärgerlich? Ja es müßte offenbar nun, von dem Einzelnen abzusehen, dieselbe Bewandtniß haben mit unserem Verhältniß zu dem größeren Gemeinwesen, dem wir angehören, und dem wir so gern unsere Kräfte weihen, um in dem gemeinsamen Wohlergehen des Ganzen unser eigenes zu fühlen. Also wenn wir jener Jahre gedenken, die jetzt längst hinter uns liegen, als wir, fast gleichgültig gegen das eigene Wohl, nur von 37–8 Schleiermacher erinnert hier an die Befreiungskriege 1813–1815, die Preußen in Koalition mit Großbritannien, Russland, Österreich, Schweden und zahlreichen deutschen Kleinstaaten gegen Frankreich führte und die die Herrschaft Napoleons über Mitteleuropa beendeten.
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Besorgniß für das Wohl des gemeinsamen Vaterlands durchdrungen waren, und mit Bangigkeit nicht nur jedem wichtigen Ereigniß entgegensahen, welches bevorstand, sondern auch Kleinigkeiten unserer Sorge nicht entgingen, welche | doch vielleicht irgendwie das zerstörende Ungewitter näher herbeiziehen könnten; als wir jeden Augenblick fürchteten, man würde ganz und vielleicht für immer von einander getrennt werden, was, erschöpft und gelähmt, wir noch schwach zusammenhalten konnten; und ohnerachtet wir in dieser bangen Sorge die Stärke und die Kraft unserer Liebe fühlten, welche sich leider auf thätigere Weise nur wenig äußern konnte, – sollte dennoch eben dieses theure Vaterland, für welches wir in Liebe versunken, und immer bereit waren, ihm uns selbst und das Unsrige zum Opfer zu bringen, sollte eben dieses, wenn es uns hätte anreden können, uns nicht gelobt haben als seine treuen Kinder, sondern auch jene harten Worte ausgesprochen, mit denen der Herr seinen Jünger abwies? Laßt uns nur, m. g. F., gehörig unterscheiden. Betrübniß und Trauer über den bevorstehenden Verlust seines Meisters, sprach Petrus hier eigentlich nicht aus. Und daß diese menschliche Empfindung der Erlöser nicht tadelt, das wissen wir aus der Art, wie er darüber, nach dem Berichte des Johannes, mit ihnen zärtlich theilnehmend ohne allen Vorwurf gesprochen hat. Darüber also werden auch die Unsrigen uns nicht hart anlassen, wenn sie die Gesinnung des Erlösers theilen, und auch unser Vaterland hätte es nicht gethan. Ja auch den Wunsch, daß ihm das doch lieber nicht begegnen möchte, was er voraus sagte, würde der Herr dem Petrus so nachgesehen haben, wie er ja selbst gewünscht hat, daß, wo möglich, der Kelch ihm möchte vorübergehen; und eben so wenig wird irgend ein Geliebter unseres Herzens uns tadeln, als wäre es etwas Unchristliches, wenn wir in Zeiten der Gefahr seine Erhaltung und sein unversehrtes Wohlseyn wünschen, noch auch hätte unser Vaterland uns deßhalb gescholten. Was aber Petrus wirklich aussprach, das war der Wunsch: der Herr möge sein selbst schonen, damit ihm das nicht widerfahre; er möge lieber etwas nachlassen in seinem Eifer, lieber eine Zeitlang nicht tadeln, was er doch tadeln mußte, und nicht verkündigen, wozu er doch berufen war, lieber sich zurückziehen und nicht dahin gehen, wo er doch seiner Pflicht und seines Berufes wegen | immer erwartet wurde. Und laßt uns nur gestehen, wenn wir denen, die wir lieben, etwas Aehnliches zumuthen wollten, wenn ihnen auf dem einfachen Wege ihres Berufs irgend Gefahr droht, möchten sie doch zurückweichen, um sich sicher zu stel26 ihm] ihn 18–21 Vgl. Joh 16,1–33
25–27 Vgl. Mt 26,39; Mk 14,36; Lk 22,42
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len: so würden wir uns nicht wundern, wenn sie uns Aehnliches zuriefen, wie der Erlöser dem Petrus. Ja wenn wir in jenen gefahrvollen Zeiten das Vaterland nicht nur mit unserer Sorge begleitet, und ihm dieselbe Bereitwilligkeit bewiesen hätten, wie Petrus seinem Herrn, daß er nämlich gern mit ihm in den Tod gehen wollte, zugleich aber auch demselben bei jedem gefahrvollen, aber nothwendigen Schritte auf der Bahn des Rechts und der Ehre hätten zurufen wollen: sich doch lieber zu schonen, nicht auch das noch in Gefahr und auf das Spiel zu setzen, was noch nicht verloren war, und sich lieber in Alles zu fügen, um, wenn auch für jeden Preis, wenigstens noch fortzubestehen: so hätte es wohl ein gleiches Recht gehabt, uns nicht als treue Kinder zu loben, sondern als verführerische Rathgeber von sich zu weisen, welche nicht suchten was göttlich, sondern was menschlich ist. Das also ist es, was der Herr nicht wollte, sondern mißbilligen mußte, daß Petrus ihn gern verleitet hätte zu einer Schonung seiner selbst, welche doch ohne einen Mangel an Treue, ohne eine Verringerung seines Gehorsams, nicht hätte geübt werden können. Wenn er nun in Bezug hierauf sich zu den übrigen Jüngern wendete, und sprach: „Wer mir nachfolgen will, der verläugne sich selbst, und nehme sein Kreutz auf sich;“ so hängt das wohl mit dem Vorigen so zusammen. Wir wissen ja, wie die Jünger des Herrn immer nach dem Reiche desselben fragen, und ihr Verhältniß zu ihm ganz auf dieses Reich beziehen. So auch Petrus, als Christus von seinem bevorstehenden Leiden redete, erschrak vorzüglich deßhalb, weil er nicht einsah, wie, wenn sein Meister jetzt überantwortet würde in die Hände seiner Feinde, und, wie er selbst vorhersagte, wirklich getödtet, alsdann noch dieses Reich könnte gegründet werden. Darum ermahnte er ihn, für den Augenblick lieber nachzugeben, damit er Zeit ge|wönne für die Ausführung seiner Absichten. Der Herr nun wußte, daß in seinem Reiche und für dasselbe gar nichts gewonnen werden kann dadurch, daß man den Menschen nachgiebt, wenn doch das Gewissen dawider ist; aber weil er zugleich wußte, und es auch öfter vorher gesagt hatte, daß seiner Gemeine noch trübe Zeiten bevorstanden, und daß es den Jüngern nicht besser ergehen würde, als dem Meister, so mußte er natürlich denken: wenn die Besorgniß der Meinigen, jetzt, da das Ende meines Lebens herannaht, die Wendung nimmt, daß sie wünschen: ich möge weniger treu und gehorsam seyn, damit ich nur noch länger selbst für mein Reich wirksam seyn könne, – werden sie nicht aus eben dem Grunde auch Jeder dem Anderen und Jeder sich selbst in den Tagen der Verfolgung zumuthen, sich auf dieselbe Weise zu 33–35 Vgl. Mt 10,17.24–25; Mk 13,9; Lk 12,11; 21,12; Joh 15,20
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schonen, um sich für den Dienst meines Reiches zu erhalten, Uebles thuend damit Gutes herauskomme. Das war es also, dem der Erlöser entgegen arbeiten wollte. Keiner der Seinigen soll fürchten, das könne jemals ein Uebel seyn für sein Reich, was einem Einzelnen begegnete im Dienste desselben; Keiner soll glauben, es stehe ihm zu, auch nur um ein Geringeres sich seiner Pflicht zu entschlagen, um sein selbst zu schonen, damit er sich nämlich erhalte für den Dienst des Herrn, als ob das Werk Gottes, wenn auch nicht untergehen, doch gar nicht, oder minder gut würde gefördert werden, wenn er nicht daran arbeitete; und eben so wenig soll Einer irgend einen Andern für unentbehrlich halten in diesem Sinne, sondern Jeder guten Muthes bleiben für die Sache, was auch ihm selbst oder anderen Dienern des Herrn begegne, – sonst könne er sein Jünger nicht seyn. Wie wahr nun dieses ist, und wie die Gemeine Christi wohl würde untergegangen seyn, und also die Jünger nicht würden gesammelt haben, sondern zerstreut, wenn jedesmal die ausgezeichnetsten und wirksamsten Diener des Herrn sich hätten schonen wollen, und ihr Leben erhalten in den Tagen der Noth und Verfolgung: das bedarf keiner Erörterung. Daß aber die vollkommenste Liebe dazu gehört, die größte und reinste, über die | keine andere hinausgeht, wenn auch diese Aengstlichkeit von uns genommen werden soll, das haben wir nun noch zu sehen. II. Um nun zu erfahren, worauf es beruht, daß wir von dieser Furcht ganz befreit würden: so laßt uns, weil wir doch einmal wissen, daß Liebe die Furcht austreibt, auf die Verschiedenheiten merken, die es in dieser Hinsicht in der Liebe giebt. Nämlich an jedem Menschen, auf den sich unsere Aufmerksamkeit richtet, nehmen wir auf der einen Seite dasjenige wahr, was ihm von Außen her widerfährt, an Leid und Freude, Glück und Unglück. Eben hieran aber, und an dem, was er, von Innen heraus getrieben, thut und unternimmt, offenbart und bewährt sich uns auch das Innere seines Gemüthes selbst, und dessen besondere Beschaffenheit. Nun ist doch alle Liebe zunächst Freude an dem geliebten Gegenstande; und wenn ich nun frage: welche Liebe ist denn wohl mehr Liebe, welche ist die wahre und vollkommene Liebe, diejenige, deren Befriedigung davon abhängt, was dem geliebten Gegenstande äußerlich begegne, weil sie nur in dem einen Falle sich mit ihm freut, in dem anderen aber mit ihm weinen muß, oder diejenige, welcher es nur darauf ankommt, wie sich das Innere des Geliebten bei jeder Gelegenheit zeigt, weil sie ganz zufrieden ist, so lange sie sich nur der inneren Schönheit seiner Seele, der Tiefe seiner Weisheit, 13 er] es
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der Gründlichkeit seines Muths, und aller seiner herrlichen Eigenschaften erfreut, mag es ihm äußerlich ergehen, wie es wolle, weil ja diese Eigenschaften der Mensch in Freude und Leid gleich vollkommen beweisen kann? O wie unvollkommen, m. g. F., erscheint uns jene Liebe, wenn wir sie mit dieser vergleichen. Wenn wir nun von dieser letzteren recht erfüllt sind: können wir dann wohl irgend ein Unglück fürchten, oder über irgend ein Mißgeschick erschrecken, welches dem geliebten Gegenstand nach Gottes Willen widerfährt? Wie sollten wir wohl, da wir ja unter solchen Umständen eben so viel, ja vielleicht mehr als je, Ursache haben können, uns über ihn zu freuen; wir müßten dann besorgen, daß sein Inneres noch zu schwach sey, und sein Herz noch nicht fest genug, um, wenn dieses oder jenes über ihn | kommt, sich dennoch so zu zeigen und zu bewähren, daß wir die volle ungestörte Freude unseres Herzens an ihm fest halten können. Ein bedeutender Unterschied also stellt sich uns hier von selbst dar. Ist der Gegenstand unserer Liebe so beschaffen, daß wir selbst nicht im Stande sind, zu seiner Läuterung oder Vervollkommnung mitzuwirken; steht er so hoch über uns, daß unsere Liebe für ihn nur eine Alles, was aus seinem Inneren kommt, bereitwillig aufnehmende und sich daran erfreuende Liebe seyn kann: so wäre eine solche Besorgniß immer nur eine Täuschung in unserer Seele. Der Erlöser aber, m. g. F., ist der Einzige, von welchem wir immer nur empfangen können, niemals aber ihm etwas wieder erstatten, und über den wir uns auch nicht einmal täuschen können, als vermöchten wir ihn zu meistern, sondern unsere Liebe zu ihm kann immer nur die Anschauung seiner Herrlichkeit seyn, und das Verlangen, diese in unser Inneres aufzunehmen. Allen Anderen, denn in solche Grenzen ist die Ungleichheit der Menschen eingeschlossen, kann auch Jeder noch irgendwie hülfreich seyn; und je mehr wir fühlen, daß diejenigen, welche wir lieben, unseres Beistandes bedürfen können, um desto öfter kommen wir auch in den Fall, zu besorgen, sie möchten für sich nicht stark genug seyn, um sich in einer gefährlichen Lage tadellos und frei von Vorwürfen zu erhalten, wenn nicht wir mit unserer Hülfe bereit wären, sie zu tragen und zu stützen. Nur auch dann, je kräftiger und stärker unsere Liebe ist, um desto weiter ist auch diese Besorgniß davon entfernt, eigentlich Furcht zu seyn, sondern Vorsicht und Behutsamkeit ist sie, um keinen Augenblick zu versäumen, wo wir dem geliebten Gegenstande etwas leisten können. Wie sollte aber wohl jemals ein Jünger des Herrn haben bange seyn können seinetwegen, als ob Umstände eintreten könnten, unter denen er nicht dieselbe göttliche Schönheit und Kraft der Seele wie immer würde bewiesen haben. Unmöglich also hätte Petrus, sofern er zunächst nur an die Person
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seines Meisters dachte, zu ihm sagen können: „Herr schone dein selbst, das widerfahre dir nicht!“ wenn nicht in seiner Liebe zu Christo noch etwas gewesen wäre von | jener untergeordneten Art der Liebe, die den geliebten Gegenstand immer am Liebsten auch im äußerlichen Wohlbefinden sehen und sich dessen erfreuen will. Aber wenn es auch ganz so, und nur so gewesen wäre: wer unter uns möchte wohl den ersten Stein auf ihn werfen? Wen hat wohl irgend eine Liebe schon so gereiniget, daß es ihm gleichviel gelte, ob der geliebte Gegenstand seine Tüchtigkeit beweiset im frischen ungehemmten Wirken, oder im lähmenden Unglücke, ob sich Gott an ihm verherrlicht in Freude oder in Leid? Wohl mögen wir sagen, je lebendiger wir uns hineindenken, daß das die höchste Vollkommenheit persönlicher Liebe sey. Und da wir doch uns selbst und alle Jünger des Herrn mit keiner anderen Liebe lieben sollen, als ihn selbst, weil wir uns und sie nur in ihm und um seinetwillen lieben: so mögen wir es uns gesagt seyn lassen, daß wir, ohne zu dieser Vollkommenheit der Liebe durchgedrungen zu seyn, uns nicht werden überall als seine Jünger bewähren können. Petrus aber stand vielleicht doch in dieser vollkommenen Liebe, was die Person Christi betrifft, und vielleicht lediglich nur, damit sein Werk nicht zerstört und das Reich nicht von ihm genommen würde, wollte er nicht, daß ihm jenes widerfahren sollte. Und eben so meinen wir es gewiß oft, wenn wir trauern und zagen, sobald ausgezeichneten und geehrten Menschen große Widerwärtigkeiten bevorstehen. Sie sind entweder in irgend einem bestimmten Werke begriffen, wovon wir glauben, es könne nicht ohne Gefahr für das ganze Werk des Herrn unterbrochen werden, oder wir halten überhaupt ihre Kraft in dem Herrn für so stark, und ihren Einfluß auf die schwächeren Glieder für so entscheidend, daß wir fürchten, ihr Unglück werde zu Vielen zum Falle gereichen. Und freilich giebt es Zeiten und Verhältnisse, in denen solche Besorgnisse nur zu gegründet scheinen; und auch Petrus hatte zu der seinigen, wenn wir uns in seine und der anderen Apostel Stelle versetzen, Grund genug. Aber eben daraus, daß auch sie nicht frei davon blieben, müssen wir schon schließen, daß nur die vollkommenste Liebe zum Erlöser | frei davon machen kann, und das wird auch von allen ähnlichen Besorgnissen gelten, welche wir hegen können. Das ist aber die Vollkommenheit der Liebe, auf welche es hier ankommt, daß sie auch vollkommen vertraut, und daß sie nichts vergißt. Das Erste freilich gilt im Allgemeinen nur von der Liebe zu denen, von welchen wir selbst empfangen. Was diejenigen betrifft, denen 1–2 Vgl. Mt 16,22
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wir zu geben und die wir zu bilden haben: so ist freilich Mißtrauen gegen sie immer auch eine Hemmung und Beschränkung der Liebe, und wird oft genug auf das Schmerzlichste empfunden, im Kleinen und im Großen; aber indem wir ihrer Willigkeit und Empfänglichkeit vertrauen, und für jede Erweisung unserer Liebe uns alles Guten zu ihnen versehen, müssen wir jedem Scheine, als ob sie unserer Hülfe nicht mehr bedürften, desto behutsamer mißtrauen. Gegen Alle aber, von denen wir selbst empfangen, ist unsere Liebe nur so rein und innig, als unser Vertrauen stark und fest ist. Denn in dem Maße, als wir ihnen nicht vertrauen, halten wir ihre Einsicht für mangelhaft, oder ihre Kraft für beschränkt, wenn nicht gar ihren Willen für unrein; und wie getheilt und beschränkt ist die Liebe in allen diesen Fällen, welchen Beigeschmack hat sie von Geringschätzung und Bedauern! Das Andere aber ist aller Liebe gemein ohne Unterschied. Denn gewiß, je mehr uns Alles gegenwärtig bleibt im Gemüthe, was sich auf den, welchen wir lieben, bezieht, und am Meisten, was er selbst geredet und gethan hat, desto mehr ist sein ganzes Daseyn in das unsrige verflochten, und desto mehr lieben wir. Wenn nun Petrus nur recht dem vertraut hätte, was der Herr ihm so eben gesagt hatte, auf welchen Fels des Glaubens er seine Gemeine bauen wolle, so daß euch Alles, was aus den Pforten der Hölle hervorgehen kann, sie nicht solle überwältigen können: hätte er dann sagen können: Herr, schone dein selbst, daß dir das nicht widerfahre? Würde er aber nicht auch gleich im Augenblicke diesem theuern Worte, das ihn hernach sein ganzes Leben hindurch geleitet hat, vertraut haben, wenn ihm Alles früher gegenwärtig gewesen wäre, was der Herr in Bezug auf die Zeit nach seinem Leben | auf Erden gesagt hatte, daß es den Jüngern nicht besser gehen werde, als dem Meister, sondern sie würden gehaßt werden um seines Namens willen, daß aber doch, wer bis ans Ende beharre, werde selig werden; daß sie würden vor Fürsten und Könige geführt werden, daß aber, wenn sie sich zu ihm bekennen, er sich auch zu ihnen bekennen würde vor seinem Vater; daß zwar Viele nicht glauben, unter denen große Thaten geschehen wären, daß aber doch dem Sohne alle Dinge übergeben wären vom Vater; und daß die kleine Heerde sich nicht fürchten solle, weil es des Vaters Wohlgefallen gewesen, ihr das Reich zu geben. Ja wenn des Jüngers Liebe so vollkommen gewesen wäre, daß die Erinnerung an alle diese und ähnliche Worte des Herrn in ihm wären Geist und Leben geworden: so hätte 19–22 Vgl. Mt 16,18 22–23 Vgl. Mt 16,22 27–28 Vgl. Mt 10,24–25; Joh 15,20 28–30 Vgl. Mt 10,22; 24,9.13; Mk 13,13 30–31 Vgl. Mt 10,18; Mk 13,9; Lk 21,12 31–32 Vgl. Mt 10,32; Lk 12,8 33–34 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22 34–36 Vgl. Lk 12,32
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der Herr ihm nicht jene scharfen Worte zurufen dürfen, die er in unserem Texte in eine allgemeine Warnung verwandelt. Nun aber konnte er nicht anders, als auch einem so treuen und bewährten Jünger sagen: So lange du noch diese Besorgniß hegst, daß durch irgend Etwas, was mir auf dem Wege meines Berufs begegnet, die Erfüllung des göttlichen Rathschlusses könne gestört werden, bist du noch nicht ganz mein Jünger; sondern in jedem solchen schwachen Augenblicke bist du mein Widersacher, du suchst was menschlich ist, und nicht das Göttliche. Du liebst mich nicht mit reiner und ganzer Liebe, um mein selbst willen, sondern du willst dich nach menschlicher Weise auch an meinen äußeren Verhältnissen erfreuen. Doch, m. g. F., laßt uns von dem Petrus, der noch einer solchen Zurechtweisung bedurfte, ab und auf den Petrus sehen, der, befestigten Herzens, auch als das Häuflein der Gläubigen noch ganz klein war, und das Gebäude der Kirche, auf einen geringen Umfang berechnet, noch kaum über den Grund hervorragte, doch mit dem Wahlspruche: man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, jeglicher Gefahr entgegenging. Da hatte er gelernt, sich selbst verläugnen, und würde Jedem, der ihm hätte zurufen wollen: Petrus schone doch dein selbst, ebenso entgegnet haben, wie der Erlöser ihm hier antwortete. Eben so festen Vertrauens, daß, nachdem Gott sich einmal in Christo | geoffenbart hat, die gesegneten Folgen der Sendung des Sohnes nie wieder könnten verschwinden, daß der Geist Gottes nie wieder aufhören könne zu wehen auf Erden, und gläubige Seelen zu beleben, seit er zuerst den Mund der Jünger aufthat, um die großen Thaten Gottes zu preisen, dieser festen Zuversicht sind von da an alle treuen und eifrigen Diener des Herrn gewesen, welche in dem Kampfe gegen die Welt, die einen inneren heftigeren Widerstand gegen das Reich Gottes entwickelte, ihrer selbst nicht geschont, sondern sich verläugnet haben, um den Herrn zu bekennen; und wie großen Gefahren das kleine Häuflein oft ausgesetzt war, hat diese Zuversicht sie nie verlassen, und so, durch das Feuer, in dem viele Geschlechter den Tod fanden, immer mehr von allen irdischen Schlacken gereiniget, hat sich die Liebe zu Christo in immer reineren Glanz verklärt. In der Kraft dieser Liebe hat sich die Stimme der Wahrheit immer wieder erhoben, so oft auch das Wort des Herrn durch menschliche Schwäche und Verkehrtheit verdunkelt war; und es hat nie an Solchen gefehlt, die ihr Leben daran setzten, um der Kirche Christi eine reinere Gestalt zu erhalten, oder wieder zu geben. So wollen denn auch wir, je mehr wir uns freuen, in diesem erneueten Lichte des Evangeliums zu wandeln, um desto weniger zurück17 Vgl. Apg 5,29
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bleiben. Weit entfernt, zu bedauern, daß wir nicht in den Tagen seines Fleisches leben, wollen wir uns freuen, daß unsere Liebe über diese Versuchung hinaus ist, sein irdisches Leben und Wirken über das von Gott gesetzte Ziel verlängert zu wünschen. Aber je weniger wir das Menschliche suchen, wohl wissend, daß das Fleisch kein Nutze ist, um desto mehr sollen alle herrlichen Worte des Erlösers von der geistigen Gegenwart, mit der er unter uns wohnen, von dem Beistande, den er Allen leisten will, die für ihn zu thun oder zu leiden haben, wie denn das Haupt seine Glieder nicht verlassen kann, diese sollen immer herrlicher in uns tönen. Dann werden wir einen Schatz haben, welcher ausreicht, wenn menschliche Hülfe und menschlicher Muth zu Ende geht, und ein helles Licht, wenn es wieder trübe wird im Reiche Gottes; dann wird uns jede Selbstverläugnung leicht | werden in dem Vertrauen, daß kein Haar von unserem Haupte fällt, ohne den Willen Dessen, der Alles zum Besten seines Reiches zu lenken weiß, und daß Jeder, der in seinem Dienste die Kraft seines Lebens daran setzt und sein Kreutz auf sich nimmt, auch das Ziel, das er sich vorgesteckt hat, erreichen wird. Ja, nichts kann uns schaden, wenn wir nur dem Guten nachtrachten, was sein königliches Regiment über die Gemeine, die Er auf Erden gegründet hat, von uns fordert; und wie der Apostel sagt: weder Trübsal noch Angst, weder Verfolgung noch Hunger, weder Fährlichkeit noch Schwerdt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Leben noch Tod, Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christo unserem Herrn. Amen. Schl.
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Tex t. Matthaei XVI. 24 und 25. Da sprach Jesus zu seinen Jüngern will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden. M. a. F. Auch diese Worte des Erlösers wollen wir miteinander in der Beziehung betrachten, daß die vollkommene Liebe die Furcht austreibt und die Furcht mit der völligen Liebe nicht bestehen kann. Daß der 21–24 Frei nach Röm 8,38–39
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Herr uns in diesen Worten eine Beschreibung geben will von der rechten Treue und | der vollkommenen Liebe seiner Jünger gegen ihn, das leuchtet wohl einem jeden ein, daß er zugleich warnen will vor einer Furcht und Besorgniß, die sich auch derjenigen bemächtigen könnte, welche ihn lieben und ihm ihre Liebe auf jede Weise bezeugen wollen, das ist auch wohl deutlich genug. Aber ich besorge doch, daß bei dem ersten Vernehmen dieser Worte, wir nur gar zu leicht auf einen falschen Weg mit unseren Gedanken geführt werden, und uns vor einer Furcht gewarnt glauben, an welche der Erlöser nicht gedacht, eben deswegen aber auch zu der rechten Vorstellung von der vollkommenen Liebe zu ihm nicht gelangen, die er eigentlich hier gemeint hat. Laßt uns also zuerst | diesen falschen Schein, der aus einer unvollkommenen Deutung seiner Worte entstehen konnte, aus dem Wege räumen, und dann erst miteinander sehen, was denn in dieser Hinsicht der wahre und vollkommene Sinn von dieser Rede des Erlösers sei. I. Wenn der Herr sagt, „wer mir nachfolgen will, und mein Jünger sein, der nehme sein Kreutz auf sich und so folge er mir, denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren: so ist wohl gar natürlich, daß wir denken, die Furcht vor welcher er uns warnen will, und welche seinen Jüngern in der Liebe zu ihm nicht ansteht, das sei im Allgemeinen die Furcht vor den Widerwärtigkeiten des Lebens, die mit der | Nachfolge des Erlösers verbunden sind. Aber gewiß, wenn wir dabei stehen bleiben, so würden wir einen zu geringen Gedanken fassen von diesem Worte des Herrn. Denn gewiß, das ist etwas gar Leichtes und Gemeines, was wir bei vielen Menschen bemerken, welche doch weit entfernt sind von der rechten Nachfolge des Herrn, daß sie eben keine Furcht haben vor den Widerwärtigkeiten, die sie auf ihrem Lebenswege treffen. Oft ist das nichts anderes, als nur die Folge von einer gewissen Stumpfsinnigkeit des Gemüthes, die den Unterschied zwischen dem, was das Leben Erfreuliches hat, und demjenigen, was den Menschen bedrängt und ängstigt, nicht so bestimmt wahrnimmt als andere. Sollen wir das für eine Vollkom|menheit halten und für die rechte Frucht von der vollständigen Liebe zu dem Erlöser, wenn wir denen darin gleich werden, über welche wir ja eben, als die Jünger des Herrn so weit sollen erhoben sein? Ja auch ohne eine solche Stumpfsinnigkeit des Gemüthes, die ja immer ein Mangel ist, und zwar ein großer geistiger Mangel, auch wo diese nicht ist, da finden wir doch, daß es vielen Menschen gar leicht wird, sich der Furcht vor den Widerwärtigkeiten zu entschlagen, sobald sie irgend einen Zweck im Auge haben, den sie 10 zu der] an der
11 hier] hier nicht
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verfolgen, sei er auch noch so geringfügig und unvollkommen. Wie vielen Widerwärtigkeiten und Beschwerden setzen sich nicht viele Menschen aus, schon um eines flüchtigen Vergnügens willen, an welches sie sich gewöhnt haben und welches ihnen zum Be|dürfniß geworden ist. Ja, wenn irgend eine heftige Leidenschaft sie aufregt, und am meisten gilt das von den feindseligen Bewegungen des Gemüthes, so sind sie im Stande, um ihren Zweck zu erreichen und den Trieb ihres Gemüthes zu befriedigen, sich in eine Menge von Gefahren und Widerwärtigkeiten, erscheinen sie auch noch so widerwärtigt hineinzustürzen, und achten es für etwas Geringes, wenn sie nur den Durst eines feindseeligen, rachgierigen sich beleidigt fühlenden Herzens befriedigen können. So vieles, so geringfügiges auf der einen Seite, so Unedles auf der andern Seite, ist oft schon hinreichend der menschlichen Seele diese Furcht vor | den Widerwärtigkeiten des Lebens zu benehmen: wie sollte also wohl der Erlöser auf diese einen solchen Werth gelegt haben? Aber eben so auf der anderen Seite, wenn wir auf die Liebe sehen und auf die Wirksamkeit derselben, in so fern sie eben nur in der Ueberwindung dieser Furcht besteht und sich zeigt, so werden wir auch leicht sehen, daß was dazu gehört, die wahre und vollkommene Liebe nicht sein kann. Ueber der Liebe und um ihrentwillen das Leben in Gefahr zu setzen, die Freuden desselben in die Schanzen zu schlagen, das m. g. F. ist in der That nichts Großes, wenn es auch oft so erscheint, sondern Etwas sehr Geringes. Denn am Ende ist es nicht möglich, daß der Mensch leben kann ohne | irgend eine Liebe. Er ist eben nicht ein bewußtloses Geschöpf, welches einem ihm selbst unbekannten Drange und Triebe der Natur folgt, er ist fähig sich die Frage vorzulegen und muß sie sich vorlegen, warum lebst du denn? was ist es denn was dein Leben erfüllt, worin du dasselbe und deine Kräfte darin fühlst? Und wenn er sich diese Frage gar nicht beantworten könnte, so wäre er der Elendeste unter allen Menschen, ja sein Zustand sänke unter die menschliche Natur herab. Sei es, was es sei, was er als den Inhalt seines Lebens ansieht, so ist natürlich, je klarer ihm das geworden ist, desto mehr schlägt er alles Andere um des willen in den Wind. Und so finden wir daß es oft sinnliche und unwürdige Begierden sind, denen | der Mensch folgt, und die er so hoch anschlägt, daß er darin die Befriedigung seines Lebens findet, und um sie zu befriedigen, setzt er dann seine Gesundheit, seine Ruhe, die Sicherheit seines Wohlstandes in der Welt täglichen Gefahren unbedenkt aus. Und auch ein solcher kann sein Leben gering achten, sein Kreuz auf sich nehmen, aber was ist es doch dem er nachfolgt? Ja, wenn wir auch 1 geringfügig] gering fähig 6 das] des Bd. 2, 21796, Sp. 1355 16 haben?] haben.
9 widerwärtigt] vgl. Adelung, Wörterbuch,
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nicht bei der Besorgniß stehen bleiben, die sich eben hierauf bezieht, sondern gehen auf das, was der Erlöser in den Worten unseres Textes sagt, „wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren“, so müssen wir sagen, auch das ist eigentlich keine große Sache, denn, was ist wohl un|sicherer als das Leben? Wie vermag doch der Mensch so wenig, als er seiner natürlichen Länge etwas hinzusetzen oder davon thun kann, ebenso so wenig auch der Länge seines Lebens, mag er auch sorgen und sich mühen so viel er will, irgend etwas hinzusetzen, und die Ueberzeugung und das Gefühl bei sich gewinnen, daß er es verlängert habe, das sei das Werk seines Denkens und seiner Anstrengung eben aus dieser Liebe zum Leben. Ist das nun nicht möglich und auf der andern Seite wahr, daß jemehr der Mensch irgend etwas, als den eigentlichen Zufall seines Lebens fest in’s Auge gefaßt hat und auch, wenn er dies | verlieren muß und dahin geben, das übrige nicht achtet, und zwar um so mehr auf der einen Seite, als er noch die frische Kraft des Lebens in der Blüthe seiner Jahre fühlt, auf der andern Seite auch eben so wenig, je mehr durch die Gewährung und durch die Länge der Zeit das, wornach er trachtet, ihm zu einem nothwendigen Bedürfniß geworden ist, und er sich unfähig fühlt einen neuen Weg des Lebens einzuschlagen – in beiden Fällen achtet er sein Leben gering um das Eine zu gewinnen, wornach er strebt, und achtet sein Leben für kein Leben wenn er dies dahingeben soll: so kann es ihm nichts Großes sein in der Treue gegen diese Liebe, die sein Herz er|füllt und wovon alle seine Bestrebungen ausgehen, sein Leben wirklich hinzugeben, weil wenn er das nicht könnte, es allen Werth für ihn verloren hätte. Ja gewiß, m. g. F. überlegen wir uns dies recht, so müssen wir sagen, das ist nicht der rechte und volle Sinn von den Worten des Erlösers, daß er will, unsere Liebe zu ihm soll die Furcht vor den Widerwärtigkeiten des Lebens, oder vor dem frühern Ende desselben niederschlagen, das ist nicht seine Meinung, daß er sagen will, das sei die wahre und vollkommene Liebe, die seine Furcht völlig austreibt. Gewiß muß es etwas Größeres sein und Tieferes sein was er meinte, als er die Worte unseres Textes sprach. Um nun dies recht inne zu werden, so laßt sie uns nun in ihrem Zusammenhange genauer | betrachten, und dem gemäß zuerst sehen, welches die Furcht ist, von welcher der Erlöser uns befreien will, und von welcher er sagt, daß sie seinen Jüngern nicht gezieme, und dann zweitens darauf achten, wie es in der That die ganze und vollkommene Liebe zu ihm ist, welche im Stande ist, diese Furcht zu überwinden und auszutreiben.
13 Zufall] Zufalt
33 nun in] nur in
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II. Unmittelbar vorher erzählt der Evangelist, habe der Erlöser zuerst angefangen zu seinen Jüngern zu reden von seinem Leiden „daß sie nun bald würden nach Jerusalem kommen, daß er dort würde überantwortet werden in die Hände der Heiden und daß er viel leiden würde und sterben“. | Da sprach Petrus zu ihm, indem er ihn bei Seite nahm, „Herr schone doch dich selbst, das widerfahre dir nicht“. Dem Herrn aber waren diese Worte so wenig genehm, daß er zu diesem seinem lieben und treuen Jünger in jene harte Worte ausbrach und zu ihm sagte: Hebe dich von mir Satan, du bist mir ärgerlich, denn du siehest nicht das Göttliche, sondern das Menschliche, und dann wandte er sich zu der Gesammtheit seiner Jünger, die ihn eben umgaben, und sprach die Worte unseres Textes. Wovon ging er also aus? wodurch wurde er bewegt? durch die Worte, welche Petrus redete, nicht für sich selbst, sondern für ihn seinen Herrn und Meister, und daß er wünschte, das möge | ihm doch nicht begegnen, und er möge sich noch bei Zeiten hüten, daß es ihm nicht begegne. Und dennoch, m. g. F. auch diese Furcht, auch diese zarte Besorgniß der Liebe will der Erlöser nicht? O wie oft fühlen wir uns von dieser erquickt, und glauben die rechte Stärke, und die Höhe und Tiefe unserer Liebe eben erst in dieser zarten Besorgniß wahrzunehmen. Wenn wir uns der treuen Liebe des lebendigen Einflusses derer, die uns Gott gegeben hat und auf eine besondere Weise zugesellt, recht erfreuen, wenn wir recht tief fühlen, wie innig wir an ihnen hangen, wissen wir ein lebendigeres Zeichen davon, als wenn wir auf einmal dem Gedanken Raum geben, du könntest die | verlieren, an denen deine Seele so hängt, und wir sind dann ergriffen von dem Gefühl des Elendes, der Zerstörung und der Verderbung unseres ganzen Zustandes, und der Nichtigkeit, die sich dann über unser Leben verbreiten würde. Ach und wenn irgend einem von denen, die unserem Herzen so am nächsten stehen, eine Gefahr droht sei es von Seiten seines körperlichen Zustandes, sei es von Seiten seiner Verhältnisse in der Welt, mit welcher Besorgniß begleiten wir dann jeden seiner Schritte, wie fürchten wir beständig, hier oder dort möge er sich zu viel oder zu wenig thun, wie möchten wir ihn warnen bei jedem, wovon wir glauben, es könnte auch im Geringsten die schlimme und schwierige Lage, | in welcher er sich befindet, dadurch erhöhet werden. Und diese zarte Besorgniß der Liebe, die verwirft der Erlöser so? Ja wenn wir von dem Einzelnen absehen, und sehen auf die große Verbindung, auf die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft, der wir angehören und der 21–22 Einflusses] Einfluß 2–11 Vgl. Mt 16,21–23
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wir so gern unsere Kräfte reichen und opfern, und in dem gemeinsamen Wohlergehen des Ganzen unser eigenes fühlen, so daß wir wissen, wir können uns von demselben nicht trennen ohne das Beste in unserem Leben zugleich zu verlieren. O, m. g. F. laßt uns gedenken an jene Jahre, die jetzt längst hinter uns sind, in welchen selbst mitten in der Besorgniß, mitten in dem Gefühl für das eigene Wohl die treue Anhänglichkeit an das gemeinsame Vater|land sich in uns offenbarte, und wir ganz durchdrungen waren von diesem tiefen und innigen Gefühl, welche Besorgniß war in einem jeden Herzen, wie lange sahen wir jedem wichtigen Ereigniß entgegen, welches bevorstand, wie fürchteten wir, doch nur zu leicht könnte dasjenige getrennt werden, was schwach zusammenzuhalten schien. In dieser Besorgniß fühlten wir die Kraft und die Stärke unserer Liebe. Und wir sollen nun denken, der Freund, der Geliebte des Herzens, den wir mit jener Besorgniß begleiten, der würde zu uns sagen können, wie der Erlöser zu seinem Jünger, „hebe dich von mir, du bist mir ärgerlich, denn du suchest nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich“? Wir sollten denken, | das Vaterland, für welches wir in Liebe versunken waren, und für welches wir uns gern und das Unsrige geopfert hätten, wenn es uns wahrgenommen hätte in dieser Besorgniß für seinen Zustand, so würde es uns nicht gelobt haben, als seine treuen Kinder, sondern jene harte Worte zu uns geredet haben, mit denen der Herr seinen Jünger abwies? Und doch ist es nicht anders und wir müssen aus seinen Worten schließen, auch eine solche Furcht will der Herr nicht in seiner Seele haben, das ist seine Meinung, daß die völlige Liebe zu ihm auch die Furcht austreibt und überwindet, und keine Liebe vollkommen sein kann, wenn nicht jede Furcht in Beziehung auf den Gegenstand derselben ganz verschwunden ist | in der Kraft der Liebe. Und in diesem Sinn, in dieser Beziehung, in Beziehung auf seinen Jünger, der jene Besorgniß für das Wohlergehen seines Herrn an den Tag gelegt hatte, wendet er sich nun zu den übrigen insgesammt und sagt, „wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und er nehme sein Kreuz auf sich, und so folge er mir nach.“ Was lag wohl dieser Gedankenverbindung bei ihm zum Grunde? Ganz natürlich, m. g. F. dies. Er dachte, sind meine Jünger so ängstlich besorgt um das was mir bevorsteht, wenn ich ihnen, je näher das Ende meines Lebens herannaht, um desto dringender und inniger das Werk empfehle, welches mir Gott gegeben hat, daß ich es vollende 37 daß] das 4–12 Schleiermacher erinnert hier an die Befreiungskriege 1813–1815, die Preußen in Koalition mit Großbritannien, Russland, Österreich, Schweden und zahlreichen deutschen Kleinstaaten gegen Frankreich führte und die die Herrschaft Napoleons über Mitteleuropa beendeten. 16–17 Vgl. Mt 16,23
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für meine Person, damit sie es unter den Menschen erhalten und weiterführen in der Kraft des | Geistes, werden sie nicht eben aus Liebe zu mir und zu meiner Sache eben so besorgt sein jeder für sich und seine Sache, wie sie jetzt für mein persönliches Wohlergehen besorgt sind, werden sie nicht gerade so wie sie jetzt schon wünschen durch den Mund des Petrus, daß ich meiner schonen möge, aber so in Zukunft jeder sich selbst schonen, damit sie sich erhalten bei meinem Dienst, und das Werk, welches ich ihnen auftrage, nicht wieder zerstört werde. Das war die gerechte und wohlbegründete Besorgniß des Herrn, und darum sagt er, so wenig eine solche Furcht und Besorgniß sein mag in dem Leben derer, die ihn wahrhaft und aufrichtig lieben, so wenig eine solche übrig bleiben kann in Beziehung auf sie selbst, so wenig auch eine ähnliche in Beziehung auf sie selbst insofern sie in seinem Dienste sind. Also keine Furcht, | daß es denen, die ihn lieben, übel ergehen könnte, keine Furcht, daß die Spuren seines Daseins auf Erden könnten verloren gehen, keine solche soll in der Seele übrig bleiben, und irgend einen einzelnen, wenn auch nur kleinen und unbedeutenden Schritt unseres Lebens bestimmen. Das ist es, was der Erlöser will, und die Liebe, die dazu gehört, die m. g. F. ist erst die rechte und vollkommene, die größte, über welche keine andere hinausgeht, die geistige, die alle Furcht austreibt, und wenn diese Furcht ausgetrieben ist, dann kann auch keine andere mehr übrig bleiben. III. Und darum laßt uns fragen, worauf beruht es wohl und was muß in der Seele sein, damit diese Furcht ganz hinweggethan werde aus derselben? Zweierlei m. g. F. woraus eben das Leben der Menschen besteht, und wie es sich von unserem Herzen entwikelt. | Das Eine ist das, was ihm von außen her widerfährt und begegnet, das Andere, das ist die Art wie sich in alledem, was ihm begegnet und widerfährt, sein Inneres zeigt und bewährt. Fragen wir nun, was ist doch die rechte und vollkommene Liebe? Diejenige, welche mit ängstlicher Besorgniß sich die Bilder ausmahlt von dem, was dem geliebten Gegenstande äußerlich begegnen möge oder widerfahren? Oder diejenige, welche nur danach trachtet, den Blick fest gerichtet zu halten, auf das Innere des Geliebten, zu achten darauf wie er sich bei jeder Gelegenheit zeigt, und sich der inneren Schönheit seiner Seele, der Tiefe seiner Weisheit, der Gründlichkeit seines Muths und aller herrlichen Eigenschaften, die der Mensch in Freude und Leiden beweisen kann, recht innig zu freuen? O wie unvollkommen, | m. g. F. erscheint uns jene Liebe, wenn wir sie mit dieser vergleichen. Ist aber diese recht 37 aller] alle
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in ihrer innersten Liebenswürdigkeit und Stärke da, kann sie dann wohl irgend ein Unglück fürchten, welches dem geliebten Gegenstande widerfähret? Gewiß nur dann, wenn noch eine Besorgniß da ist, daß sein Innerstes zu schwach sein werde, um, wenn das über ihn kommt, sich so zu zeigen und zu bewähren, daß wir auch dann die Freudigkeit des Herzens an ihm behalten können. Wenn nämlich die Liebe recht vollkommen ist, dann ist ein solches Mißtrauen auch nicht mehr in ihr. Wenn der Gegenstand ein solcher ist, daß wir nichts anders brauchen in Beziehung auf ihn als die reine Liebe, die alles was aus seinem Innren kommt, aufnehmende Liebe, dann kann eine solche Besorgniß ohne Täuschung | nicht in unserer Seele sein. Der Erlöser aber, m. g. F. das ist derjenige, gegen welchen wir nichts anders sein können in unserem Innern, als eben nur rein und wahrhaftig, und gegen den wir auch nichts anderes zeigen können, als Pnur eineS reine, seine Herrlichkeit schauende und sie in unser Innerstes aufnehmende Liebe. Allen andern Menschen können wir selbst noch hülfreich sein, und wo wir das wissen und fühlen, daß sie unserer Hülfe bedürfen, ja da liegt freilich die Ueberzeugung zum Grunde, daß sie für sich nicht stark genug sein möchten, und da dürfen wir der Besorgniß Raum geben, wenn wir glauben, es könne ein gefährlicher Punct des Lebens für sie zum Vorschein kommen, wenn wir mit unserer Hülfe nicht da wären, und keiner der stark genug wäre, sie zu | unterstützen und über die Schwierigkeit hinwegzuheben. Darum je mehr unsere Liebe zu andren eine solche ist, daß sie sich hülfreich beweisen kann, desto mehr verträgt sie von jener Besorgniß, die nun je kräftiger und stärker die Liebe ist, desto weiter sich entfernt davon, Furcht zu sein, sondern sie ist eine Behutsamkeit keinen Augenblick zu versäumen, wo wir dem geliebten Gegenstand etwas leisten können. Je mehr aber diejenigen, welche wir lieben, uns selbst hülfreich sind, desto mehr sind wir in dem Fall, die Kraft der Liebe von ihnen aufzunehmen. Und gewiß dann ist unsere Liebe desto reiner und vollkommener, je größer das Vertrauen ist, was auch dem geliebten Gegenstande begegnen möge, er werde derselben inne werden und dieselbe Schönheit und Kraft der Seele wiederfinden. Und wenn wir voll solcher | Liebe sind und solchen Vertrauens, dann sollten wir jemals irgend ein Uebel fürchten dürfen, was dem geliebten Gegenstande nahen könnte, dann sollten wir ängstlich und besorgt für die Gegenstände sein, die in das natürliche Verhältniß unseres irdischen Daseins, oder unser persönliches Leben verflochten sind? Nein ohne alle Furcht, ohne alle Besorgniß werden wir was hier der Erlöser von sich selbst sagt, allen Leiden und Widerwärtigkeiten, allen äußerlichen Bedrängnissen und Trübsalen entgegen gehen, ja auch auf das Ende des Lebens hinsehen können, wie sich denn darin eine reine, schöne und heilige Seele am herrlichsten zeigt; und nur eine solche
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Vollkommenheit der Liebe ist es, die alle Furcht austreibt. Aber, m. g. F. mit dem Erlöser hat es denn auch die Bewandniß, daß in unserer Liebe zu ihm, wenn sie so völlig | geworden ist, jede Besorgniß in Beziehung auf uns und auf unsere Brüder, daß es uns und unseren Brüdern jemals übel ergehen könne, indem wir ihm unsere Dienste weihen, daß sein Werk dadurch Gefahr laufen könne, auch alle diese Besorgniß muß verschwinden in der vollkommenen Liebe zu dem Erlöser. O, m. g. F. das haben auch von jeher alle die treuen und eifrigen Werkzeuge des Herrn, das haben sie bewiesen von den ersten Aposteln an, welche das Wort tief in ihr Herz einschlossen, daß die Gemeine, die der Herr gestiftet, durch die Pforten der Hölle nicht können überwältigt werden, welche eben deswegen mit fester und voller Zuversicht dem Widerstand der Welt gegen das Reich Gottes sich immer weiter entwickeln sehen, das kleine Häuflein immer grösseren Gefahren ausge|setzt, denn immer herrlicher tönte in ihrem Innern das schöne Wort des Erlösers: „Fürchte dich nicht du kleine Heerde, denn es ist das Wohlgefallen des Vaters gewesen, dir das Reich zu geben.“ Eben so alle diejenigen, die so oft das Werk des Herrn auf Erden verdunkelt war durch menschliche Schwäche und Verkehrtheit, die Stimme der Wahrheit wieder kräftig erhoben, und ihr ganzes Leben daran setzten, um der Kirche Christi die reine Gestalt wiederzugeben, die sie früher gehabt. Und je mehr wir uns freuen in dieser Zeit des begonnenen und erneuerten Lichtes des Evangeliums zu wandeln, je mehr wir wissen, auch unter uns wohnt der Herr mit seiner geistigen Gegenwart und verherrlicht sich in der Gemeinschaft, der wir angehören desto fester und zuversichtlicher ist auch unser Glaube, daß, was ihr auch bevorstehen möge, sei es durch Wahn und Unverstand, sei es durch die | Verkehrtheit derer, die noch die Finsterniß dem Lichte vorziehen und das Falsche dem Wahren, sie werde niemals untergehen, und jeder, der nur ihr zu dienen die Kraft seines Lebens daransetzt, sein Kreuz auf sich nimmt, und sein Leben in die Schanze schlägt, der werde auch das Ziel seines Lebens erreichen und also sein Leben nicht verlieren. Diese besondere Bewandniß hat es mit dem Erlöser eben deswegen, weil wir nicht an ihn glauben können, ohne des festen Vertrauens zu sein, er werde sich uns zeigen, als denjenigen, für welchen er sich gegeben hat. Ist es nun wahr, was er so oft gesagt hat, daß er von dem Vater in die Welt gesandt sei, daß der Vater Alles in seine Hand gegeben habe, daß er als das Haupt von 15 tönte] tönnte 22 begonnenen] Ungewöhnliche Verwendung des Wortes „beginnen“; möglicherweise liegt ein Schreibfehler vor. 22 Lichtes] Lichte 34–35 als denjenigen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 230 10–11 Vgl. Mt 16,18
16–17 Vgl. Lk 12,32
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oben herab seinen Leib regiere und leite, wie | könnten wir ihn lieben, ohne des festen Vertrauens zu sein, daß wie schon in der leiblichen Ordnung der Welt alle Haare auf dem Haupte gezählet sind, und keines auf die Erde fallen kann ohne den Willen des Vaters im Himmel, so dies noch viel mehr von denen gilt, die der Herr zu der kleinen Heerde, welcher Gott das Reich geben will, die er zu seinen treuen Dienern zählt, die nichts anders suchen, als sein Werk zu fördern. Und darum nun konnte der Erlöser nichts anders als zum Petrus sagen, so lange du noch diese Besorgniß hegst, daß es mir irgend übel ergehen könne, so lange bist du noch nicht mein Jünger, sondern in jedem solchen schwachen Augenblick bist du mein Widersacher, du suchst, was menschlich ist, und nicht was göttlich, du liebst mich nicht | um des göttlichen Willen in mir, sondern deine Liebe ist eine gewöhnliche und menschliche, welche glauben und voraussetzen muß, daß in ihrem Gegenstand Vollkommenes mit Unvollkommenem, Starkes mit Schwachem vermischt sei. Und darum kann auch die Liebe zu dem Erlöser noch nicht die rechte und vollkommene sein, wenn wir, die wir nun nicht mehr in den Tagen seines Lebens auf Erden wandeln wohl aber in den Tagen seiner geistigen Gegenwart und seines königlichen Regiments in der Gemeine, die er auf Erden gegründet hat, wenn wir nicht alle Besorgniß austreiben aus unseren Herzen, als ob denen, die das Gute wollen, denen die nicht andres wollen als den Willen Gottes | thun, den der Sohn Gottes offenbaret hat, als ob denen irgend etwas schaden könne, sondern wie der Apostel sagt, weder Trübsal noch Leiden, weder Verfolgung noch Angst, weder Gefährlichkeit noch Schwert, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Leben noch Tod, nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes in Christo Jesu! Amen[.]
[Liederblatt vom 18. Juli 1824:] Am 5ten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Mein Vater, zeuge mich etc. [1.] Mein Heiland bilde du mich ganz nach deinem Bilde, / Und schaffe selbst in mir die neue Kreatur; / Auf daß ich heilig sei, demüthig, weis’ und milde, / Und in mir ausgetilgt des alten Menschen Spur. // [2.] Mein Licht, erleuchte mich, führ’ mich in alle Wahrheit, / Und bringe meinen Sinn zur rechten 1 regiere] regieren
24 Apostel] Erlöser
5–6 Vgl. Lk 12,32
24–27 Vgl. Röm 8,38–39
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Lauterkeit; / Vertreib den Geist der Furcht durch deines Wortes Klarheit, / Damit ich wakker sei in jedem Kampf und Streit. // [3.] Mein Leben, leb’ in mir, und laß in dir mich leben; / Ich bin ja ohne dich zum Guten gänzlich todt! / Du bist das Lebensbrodt, du kannst mir Nahrung geben, / Und laben meinen Geist in aller seiner Noth. // [4.] Mein König, schüze mich, so oft die Welt voll Sünde / Mit ihrer List und Macht auf meine Seele stürmt! / Sei du mein starker Hort, bei dem ich Zuflucht finde, / Denn der ist sicher nur, den deine Hand beschirmt. // [5.] Mein Hirte, weide mich auf deinen grünen Auen, / Und leite mich zum Quell lebend’gen Wassers hin: / Verirrt’ ich mich von dir in Wüsten voller Grauen, / Dann bringe mich zurück, weil ich dein eigen bin. // [6.] Mein Ein und Alles du! mit dir laß eins mich werden; / So wird mir alles nichts; du wirst mir Alles sein. / Und ist die Stunde da, zu scheiden von der Erden, / Dann geh in Frieden ich zu deinem Frieden ein. // Nach dem Gebet. – Mel. Was Gott thut, das etc. [1.] Dich, Jesus, laß ich ewig nicht, / Dir bleibt mein Herz ergeben, / Du kennst dies Herz, das redlich spricht, / Nur Einem will ich leben. / Nur du allein, / Du sollst es sein; / Du sollst mein Trost auf Erden, / Mein Glück im Himmel werden. // [2.] Dich, Jesus, laß ich ewig nicht, / Ich halte dich im Glauben; / Nichts kann mir meine Zuversicht, / Nichts deine Gnade rauben. / Der Glaubensbund / Hat festen Grund; / Die deiner sich nicht schämen, / Die kann dir niemand nehmen. // [3.] Dich, Jesus, laß ich ewig nicht, / Du büßtest für mich Armen, / Und gingst für Sünder ins Gericht / Aus göttlichem Erbarmen. / Ich will erfreut, / Voll Dankbarkeit, / Um deines Leidens willen / Der Treue Pflicht erfüllen. // [4.] Dich, Jesus, laß ich ewig nicht! / Du stärkest mich von oben. / Auf dich steht meine Zuversicht, / Wenn meine Feinde toben. / Ich flieh zu dir, / Du eilst zu mir; / Wenn mich die Feinde hassen, / Wirst du mich nicht verlassen. // [5.] Dich, Jesus, laß ich ewig nicht! / Das Kreuz soll uns nicht scheiden. / Es bleibet jedes Gliedes Pflicht, / Mit seinem Haupt zu leiden. / Doch all mein Leid / Währt kurze Zeit: / Bald ist es überstanden, / Und Ruh ist dann vorhanden. // [6.] Dich, Jesus, laß ich ewig nicht! / Nie soll mein Glaube wanken, / Und wenn des Leibes Hütte bricht, / Sterb’ ich mit dem Gedanken: / Mein Freund ist mein / Und ich bin sein; / Er ist mein Schuz, mein Tröster, / Und ich bin sein Erlöster. // (Bair. Gesangb.) Nach der Predigt. – Mel. Wo soll ich fliehen etc. [1.] Komm, Kreuzeskelch des Herrn, / Ja komm, ich nehm dich gern; / Magst du mich bitter dünken, / Ich will, wie Er, dich trinken, / Wie Er, der Heil erstritten, / Als er am Kreuz gelitten. // [2.] Mein Glaube sieht auf dich, / O Jesu! stärke mich, / Gleich dir des Vaters Willen, / In Demuth zu erfüllen; / So führen kurze Leiden / Mich einst zu ewgen Freuden. //
Am 25. Juli 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
6. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 5,41–47 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 380–391; Andrae (Titelblatt der verloren gegangenen Druckvorlage in SAr 88, Bl. 50v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 55, Bl. 163r–168r; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 6. Sonntage nach Trinitatis 1824.
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Tex t. Joh. 5, 41–47. Ich nehme nicht Ehre von Menschen. Aber ich kenne euch, daß ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. So ein anderer wird in seinem eigenen Namen kommen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre von einander nehmet? Und die Ehre, die von Gott allein ist, sucht ihr nicht. Ihr sollt nicht meinen, daß ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt, der Mose, auf welchen ihr hoffet. Wenn ihr Mose glaubet, so glaubet ihr auch mir; denn der hat von mir geschrieben. So ihr aber seinen Schriften nicht glaubet, wie werdet ihr meinen Worten glauben? Dies, m. g. Fr., ist nun das Ende der Rede, welche unser Erlöser hielt vor den gesezlichen Eiferern in Jerusalem, die ihn verfolgten und zu tödten suchten, weil er am Sabbath gesund gemacht hatte, und noch mehr, weil er ihnen gesagt, wie er von | Gott seinem Vater gesandt sei, und sich selbst Gott gleich gemacht; eine Rede, in welcher wir Gelegenheit gehabt haben, die unzweideutigsten Eröffnungen des Erlösers über das eigenthümliche und unmittelbare seines Verhältnisses zu Gott und seine Sendung vom Vater zu vernehmen. In Beziehung auf das Ende nun dieser Rede, Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr 15–18 Vgl. Joh 5,18
22–4 Vgl. Joh 5,38–40
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habt das ewige Leben darin, und sie ist’s, die von mir zeugt, aber zu mir wollt ihr nicht kommen, daß ihr das Leben haben möget, und ihr habt Gottes Wort nicht in euch wohnen, denn ihr glaubt dem nicht, den er gesandt hat, in Beziehung auf diese unmittelbar vorhergehenden Worte redet nun der Erlöser hier zulezt noch davon, weshalb denn eigentlich die, zu denen er redet, und die die Führer und obersten des Volks waren, nicht an ihn glaubten. Zweierlei ist es was er anführt, indem er das eine Mal sagt, Ihr habt Gottes Liebe nicht in euch, und hernach, Ihr nehmet Ehre von einander, die Ehre, die von Gott allein ist, suchet ihr nicht. Das sind die beiden wesentlichen Gründe, die er ihnen vorhält, außerdem aber sucht er noch zuerst ihnen begreiflich zu machen, damit sie ihn nicht zu sehr nach sich selbst beurtheilen möchten, weshalb er ihnen so über ihren eigenen Zustand die Wahrheit sage, und dann zulezt giebt er ihnen noch zu bedenken, wie sie allerdings könnten aus der Erkenntniß, die sie schon hätten, über ihren Unglauben an ihn verklagt und verdammt werden. Die Worte, mit denen unser verlesener Text anfängt, Ich nehme nicht Ehre von Menschen, sollen den Zuhörern des Herrn sagen, daß auch in seinem Urtheil über sie nichts unreines und nichts von menschlicher Schwäche sei. Indem er aber sagt, Ich nehme nicht Ehre von Menschen, so will das zugleich so viel sagen, ich strebe nicht nach Ehre vor den Menschen, ich suche sie nicht, sie ist für mich nicht von einer besondern Bedeutung. | Aber, m. g. Fr., seine Ehre von Menschen, die hätte doch nun eben darin bestanden, daß sie ihn erkannt hätten als den, der von Gott gesandt war, und an ihn glaubten; denn wenn sie ihn für einen solchen erkannten, so mußten sie ihn auch für etwas von ihnen selbst ganz unterschiedenes halten, ihn weit über sich selbst und über alle frühere Gesandte Gottes erheben; und das wäre nun die Ehre gewesen, die ihm allerdings zukam. Wie kann aber nun der Erlöser sagen, daß er diese Ehre nicht suche und danach nicht strebe? Es war doch der Zwekk seiner ganzen Sendung, daß die Menschen an ihn glauben sollten, und nur durch den Glauben an ihn konnten und sollten sie das ewige Leben haben, welches er gekommen war zu bringen. Wie kann er also von sich sagen, Ich nehme nicht Ehre von Menschen? Dazu, m. g. Fr., finden wir den Schlüssel in dem, was der Herr in dieser Rede früher gesagt hat, in solchen Aeußerungen wie diese, Der 14 Zustand] Znstand Sp. 204–205) 38–2 Vgl. Joh 5,19
29 frühere] früheren (vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793,
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Sohn kann nichts von ihm selbst thun, sondern nur was er sieht den Vater thun, das thut gleich auch er; der Vater wirkt bisher, und ich wirke auch. Und eben dahin zielen auch die spätern Worte in unserem Text, Ich bin in meines Vaters Namen gekommen, und ihr nehmt mich nicht an, ein anderer wird in seinem eigenen Namen kommen, den werdet ihr annehmen. Nämlich er war gekommen, daß er den Willen vollbrächte seines Vaters im Himmel, dazu zu thun was er konnte, keine Gelegenheit vorüber zu lassen, wo er auf die Herzen der Menschen wirken, sich ihres Zustandes gewiß machen und in ihnen das Verlangen und die Sehnsucht nach dem Reiche Gottes, welches er verkündigte, erwekken konnte; das war sein eigentlicher Beruf und sein Geschäft auf Erden. Wie viel oder wenig unmittelbar, so lange er noch auf Erden lebte, dabei zur Wirklich|keit komme, wie groß oder klein die Zahl derer sei, die ihn wirklich als den Sohn Gottes erkannten, das stellte er Gott anheim, eben deswegen, weil er wohl wußte, daß der Vater bisher wirke und auch wirken werde, und daß der ewige und heilige Wille Gottes nothwendig müsse in Erfüllung gehen, sei es früher oder später. Und so wie der Erlöser in kindlicher Einfalt den Willen Gottes zu thun, den er uns bekannt gemacht, nach unserem besten Wissen und Willen, das ist die Art, wie auch wir von ihm gesandt seinen Willen thun sollen, und für das Reich, welches er gestiftet hat, nach unseren Kräften wirken. Wie viel oder wie wenig dabei als ein unmittelbarer Erfolg herauskommen werde, den gewissermaßen wir uns selbst zurechnen können, darauf sollen wir eben so wenig sehen, wie der Erlöser hier sagt, daß er nicht Ehre von Menschen suche und danach strebe, sondern das alles Gott anheimstellen. Nur bei einer solchen Gesinnung kann unter dem Widerstand, den auch jezt noch die Förderung des Reiches Gottes unter den Menschen findet, unser Urtheil über die Menschen rein sein und unverfälscht, und unsere Liebe gegen sie troz aller ihrer Schwächen, Verblendungen und Verkehrtheiten unerschütterlich sein. Streben wir aber nach Ehre bei Menschen, so fühlen wir uns gekränkt durch jedes Mißlingen, durch jeden Erfolg, der nicht so ausfällt wie wir hoffen konnten; und dann wird auch unser Urtheil über die Menschen durch die gekränkte Eigenliebe verfälscht. Wenn der Herr also hier sagt, Ich nehme nicht Ehre von Menschen, so ist es dies, was er meint, Wie viel oder wie wenig das, was ich nach dem Willen Gottes thue, jezt bewirkt, wie viel oder wie wenig ich in der Welt anerkannt werde, das ist mir gleich, und eben deswegen ist auch mein Urtheil über euch rein, und könnt ihr es ansehen als schlichte Wahrheit. Und nach dieser Vorrede geht er zu der Auseinandersezung der Gründe, weshalb sie nicht glauben konnten, und | die ich schon vorher 2–3 Vgl. Joh 5,17
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namhaft gemacht habe. Der erste ist der, ich kenne euch, daß ihr nicht Gottes Liebe in euch habt, und der zweite der, Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre von einander nehmet. Was nun den ersten betrifft, m. a. Fr., so kann es uns freilich wunderbar vorkommen, wie der Erlöser hier das als den Grund ihres Unglaubens ansehen will, daß sie Gottes Liebe nicht in sich hätten. Denn des Vaters Liebe erkennen wir alle nur in dem Sohn, und würden in der That nicht zu sagen wissen, wie wir zu einer richtigen Erkenntniß der Liebe Gottes zu uns kommen sollten, wenn nicht eben darin die Liebe Gottes erschienen wäre, daß er seinen Sohn für uns gegeben hat als wir noch Sünder waren, um uns von der Sünde zu erlösen und uns das ewige Leben zu geben. So können wir also nicht anders sagen als, Der Glaube an den, den Gott gesandt hat, der muß erst vorangehen, ehe wir die Liebe Gottes in uns haben können, wir müssen sie erst in dem Sohn erkannt haben, und durch den Sohn muß der Vater uns kund und offenbar geworden sein, ehe wir seine Liebe können in uns haben. Der Herr aber sagt hier zu den Schriftgelehrten und Eiferern des mosaischen Gesezes, an welche seine ganze Rede gerichtet ist, Ihr könnt eben deswegen nicht an mich glauben noch mich erkennen, weil ihr Gottes Liebe nicht in euch habt. Das ist gewiß, wenn wir betrachten, was für eine Erkenntniß Gottes vor den Zeiten des Erlösers unter dem menschlichen Geschlecht gewesen ist, so werden wir sagen müssen, die rechte Stellung zu Gott, die war noch nicht in dieser Erkenntniß enthalten. Der Apostel Paulus sagt, die Menschen hätten keine Entschuldigung, denn sie könnten Gottes ewige Kraft und Allmacht und sein göttliches Wesen wahrnehmen an seinen Werken. Das, m. g. Fr., das ist nun die Erkenntniß des all|mächtigen Gottes. Dem Volke Gottes, unter welchem der Erlöser geboren war, hatte Gott das Gesez gegeben, auf welches der Herr auch hier in der Folge seiner Worte sich beruft, Der Moses, auf welchen ihr hofft, der ist es, welcher euch verklagt; er hatte sich ihm zu erkennen gegeben als den Gott seiner Väter in einem besonderen Bunde, den er mit jenen geschlossen, und sich anheischig gemacht die Verheißungen zu erfüllen, die er jenen gegeben hatte; er hatte dem Volke verheißen, er wolle sein König und sein Herr sein. Das war freilich eine genauere Erkenntniß Gottes und auch eine andere Verbindung, als welcher die übrigen Völker sich rühmen konnten; aber weil diese Verbindung nur an ein Gesez geknüpft war, weil diese Erkenntniß nur die Erkenntniß einer Herrschaft war, so war sie nicht die Erkenntniß davon, daß Gott ein Vater sei und wir seine Kinder, so war sie nicht eine Verbindung mit dem liebevollen Vater, in welchem wir leben, weben und sind. Und 9–12 Vgl. 1Joh 4,9
25–27 Vgl. Röm 1,20
41 Vgl. Apg 17,28
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eine andere Liebe kennen wir doch nicht, mit der wir Gott zugethan sein könnten und sollten als die Liebe des Kindes zu dem Vater. Wenn diese schon vorher da gewesen wäre, so hätte der Sohn Gottes nicht kommen dürfen, um sie uns zu offenbaren. Und so sagt er nicht zu viel von sich selbst, wenn er sagt, Niemand kennt den Vater, denn der Sohn, und wem dieser es will offenbaren. Demohnerachtet aber auf der andern Seite hatte der Herr schon aus den Worten des alten Bundes die Vorschrift hergenommen, die er für das Wesen des ganzen Gesezes erklärte, Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit allen deinen Kräften. Da ist also allerdings die Rede von einer Liebe zu Gott, aber nicht von der Liebe, welche nur die Erscheinung des Erlösers in dem Herzen der Menschen erregen konnte, sondern von der Liebe zu Gott als dem Herrn, | und also ganz in jenem Sinn und Geist des Alterthums. Diese Liebe, diese Liebe zu Gott als ihrem Herrn, die hätten jene Pharisäer und Eiferer allerdings haben können und sollen; und die besteht nun darin, daß man dem Herrn unterthänig und gehorsam ist nicht aus Noth oder aus Furcht, sondern um des Gewissens willen, und von der Ueberzeugung aus, daß sein gebietender Wille gut und heilig ist. Wenn sie diese Liebe zu Gott als ihrem Herrn gehabt hätten, so hätten sie auch natürlicher Weise, und sie besonders, von welchen der Herr so oft sagt, daß sie die Schlüssel des Himmelreichs hätten, weil ihnen die Erkenntniß der Schrift auf eine besondere Weise anvertraut war, so hatten sie, eben wie sie sorgfältig nachzuforschen verpflichtet waren allen Leitungen des Höchsten mit dem Volke, dem sie angehörten, und immer von neuem sich ins Gedächtniß zu rufen, wie es vor ihnen gewesen war, eben so auch alle dem eifrig nachgespürt, was in den heiligen Schriften ihres Volks auf die Zukunft hinwies und eine Spur des ewigen Lebens, welches in dem erwarteten Sohn Gottes aufgehen sollte, in derselben war. Und wenn sie nun dazu genommen hätten jene natürliche Erkenntniß Gottes, so hätten sie allerdings nicht glauben können, daß der Gottesdienst und die heiligen Gebräuche, welche der Herr angeordnet hatte für die Zeiten des alten Bundes, daß diese das Wesen der ewigen Güter enthalten, die er so gern den Menschen mittheilt, so hätten sie zu der Erkenntniß kommen müssen, die der Verfasser des Briefes an die Hebräer mit den Worten ausdrükkt, Der alte Bund hatte nur den Schatten der ewigen Güter, das Wesen aber war aufbewahrt 4 dürfen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 1774, Sp. 1481 5–6 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22 9–11 Vgl. Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27 (nach Dtn 6,5) 22 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52 36–37 Vgl. Hebr 10,1
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der Zeit, auf welche nicht nur alle Schriften des alten Bundes, sondern die ganze Verfassung desselben hinweisen sollte. Beides aber, die heiligen Schriften, in die sie wie in einen Spiegel schauen konnten, und die ihnen vergangenes und | zukünftiges darstellten, und die ganze Verfassung des alten Bundes mit allen Lehren und Vorschriften, welche lezteren sie nur noch erweitert hatten auf eine lästige und den Geist niederdrükkende Weise durch eine große Menge von Menschensazungen, weil sie beides zu keinem andern Zwekk gebrauchten, als damit sie selbst als die Hüter des Volks, das ihnen anvertraut war, geachtet würden und unterschieden von den übrigen Söhnen der Erde, weil sie diese heiligen Einrichtungen Gottes nur betrachteten aus dem Gesichtspunkt ihres eigenen Ansehens und ihres irdischen Vortheils, so sagt der Herr mit Recht, daß sie die natürliche Anhänglichkeit, die sie als Glieder des göttlichen Bundes zu Gott ihrem Herrn haben müßten, nicht hätten und eben deshalb an ihn nicht glaubten. Das hängt nun genau zusammen mit dem was er am Ende unseres Textes sagt, daß sie nicht glauben sollten, er werde sie verklagen bei seinem Vater. Wie weit er davon entfernt war, das wissen wir aus seinem ganzen Leben und noch aus den lezten heiligen Augenblikken desselben, wo er statt zu verklagen Verzeihung von seinem himmlischen Vater erbat für diejenigen, die ihn zum Tode führten; aber, sagt er, es ist einer der euch verklagt, der Moses, auf welchen ihr hofft. Wenn ihr mit der Liebe zu Gott als eurem Herrn und König, die er schon in dem Gesez von euch fordert und als das erste Gebot unter allen, die euch durch ihn mitgetheilt sind, aufgestellt hat, wenn ihr mit dieser Liebe, mit diesem Bestreben den Willen Gottes recht zu verstehen, tief in euer Herz zu verschließen und in eurem ganzen Leben an den Tag zu legen, wenn ihr so seine Schriften leset und alle Ordnungen des alten Bundes betrachtet: so würdet ihr nothwendig zu der Ueberzeugung gekommen sein, daß diese Ordnungen auf etwas anderes, etwas höheres und zukünftiges hinweisen, und daß das Gesez mit allen heiligen Einrichtungen nicht die ganze Offenbarung Gottes sei; so würdet ihr die Andeutungen davon, die in den Schriften des alten Bun|des unter dieser und jener Gestalt vorkommen, auf eine solche Weise benuzen und mit einer solchen Begierde ergreifen, daß ihr nicht umhin könntet mich zu erkennen als den, auf den die von Gott begeisterten Männer der Vorzeit hingedeutet haben, und an mich zu glauben als an den lang erwarteten Retter des Volks. Der zweite Grund, den der Herr anführt, weshalb sie nicht an ihn glauben könnten, ist der, daß sie Ehre von einander nehmen, aber die Ehre, die von Gott allein ist, nicht suchen. 21–22 Vgl. Lk 23,34
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Wie sehr das die Menschen von der reinen Wahrheit abhält, wenn sie Ehre von einander nehmen, das lehrt uns die tägliche Erfahrung, und wir können uns nicht genug davor hüten, weil jeder Mensch schon an sich in seinem innern diese Neigung hat. Streben wir aber nach Ehre von Menschen, so können wir auch keinen Unterschied machen zwischen dem, was sie für gut und ehrenvoll halten, was es aber nicht ist, und zwischen dem, was es wirklich ist. Indem also freilich diejenigen, welche noch Ehre von Menschen nehmen und suchen, auf der einen Seite zu manchem guten aufgemuntert und hingeführt werden, was sie sonst nicht thun würden, so ist es doch ein unsicherer und schlüpfriger Pfad, weil sie auf diese Weise zu dem unvollkommenen hingeleitet werden, was sie eben deshalb preisen und suchen, weil das Auge ihres Geistes noch nicht vollkommen aufgegangen ist, sondern noch eine Dekke vor ihren Augen liegt, welche sie hindert, das einzig würdige Ziel aller ihrer Bestrebungen in ungetrübtem Lichte zu schauen. Je mehr wir aber das erkennen, desto mehr müssen wir nach den andern Worten des Erlösers fragen, was es denn eigentlich sei, was er damit meint, Die Ehre aber, die von Gott allein ist, suchet ihr nicht. Darüber giebt uns der Apostel Paulus in seinem Briefe an die Römer einen schönen und herrlichen Aufschluß, wenn er sagt, Derjenige, der nicht bei dem Buchstaben stehen bleibt, sondern dem | Geiste nachforscht, dessen Lob ist nicht aus Menschen, sondern aus Gott. Sehet da, m. g. Fr., das ist also die Ehre, die von Gott allein ist, und in den Zusammenhang der Worte des Erlösers geht dies schön zurükk und bestimmt hinein. Denn eben das Ehre von Menschen nehmen führt den Menschen und seine Bestrebungen von der reinen Wahrheit ab, weil in keinem Menschen die reine Wahrheit ist; und wenn wir uns auch darauf beschränken wollten Ehre zu nehmen nicht von dem großen Haufen, der das höhere und bessere nicht im Stande ist klar ins Auge zu fassen, sondern nur von denen, die auf eine vorzügliche Weise etwas gelten in der Welt und die trefflichsten und besten sind, so ist doch auch in ihnen die Wahrheit verfälscht. Streben wir also nach Ehre von Menschen, so sind wir nicht im Stande nach der Ehre zu streben, die aus Gott ist. Das ist die Ehre, die von Gott allein ist, wenn der Mensch nur der Wahrheit nachtrachtet, wenn er um zu ihr zu gelangen, sich immer mehr lossagt von allem Schein, wenn er von Gott sich nichts erbittet als ein einfältiges Herz und einen gewissen Geist, wenn er mit festem Schritte dem einen Ziele entgegengeht die Wahrheit zu erkennen, durch welche allein der Mensch frei werden kann. So sagt der Erlöser, daß uns von keinem andern die rechte Ehre kommt als von 21–23 Vgl. Röm 2,29
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39–40 Vgl. Joh 8,32
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Gott allein. Wenn wir aber uns noch an irgend etwas anderem erfreuen als an der Wahrheit, dann sind wir auch noch auf dem Wege Ehre von Menschen zu nehmen; sind wir aber in dem lebendigen Bestreben begriffen die Wahrheit zu suchen, die er gebracht hat, und wovon er die Quelle in sich trägt, und durch sie zur Freiheit der Kinder Gottes hindurchzudringen, das ist auch die Ehre, die Gott einem jeden giebt, der sie redlich sucht. Denn die Menschen geben Ehre nach ihrer Weise; die Ehre aber, die von Gott kommt, das ist die rechte und wahre, denn er ist die Wahrheit. | Deswegen, m. g. Fr., laßt uns das ansehen und annehmen als das theuerste Vermächtniß des Herrn, welches er uns in diesen Worten gegeben hat, indem wir uns bewußt sind aller Versuchungen zum Unglauben, daß wir uns warnen nicht Ehre zu suchen bei Menschen, sondern allein die Ehre, welche von Gott kommt. Es ist auch wahr, daß jeder, der sich dessen erfreut, und darauf sein Heil begründet, daß der Sohn Gottes ihm gemacht sei zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung, der kann nicht Ehre von Menschen suchen, er muß sagen wie der Apostel, Mir ist es gleich, ob ich von euch gerichtet werde, oder von einem andern menschlichen Tage, er muß es wissen, daß der Herr allein im Stande ist zu richten, und daß er nur seinem Herrn und keinem andern steht oder fällt. Mit diesem Glauben werden wir immer mehr frei werden davon Ehre bei Menschen zu suchen, und nur mit einfältigem Herzen nach der Ehre trachten, die von Gott allein kommt, und die nur aus denen strahlt, welche sich durch die Wahrheit frei machen lassen, damit sie verklärt werden aus einem Lichte in das andere und aus einer Klarheit in die andere. Dann wird sich auch der ganze Zusammenhang des göttlichen Willens immer mehr vor unsern Augen enthüllen und sich nicht wieder aufs neue verdunkeln – denn so es geschieht, so hat es seinen Grund in der Verfinsterung des Herzens – dann werden wir immer mehr die feste Zuversicht des Gemüths und die reine Erkenntniß gewinnen, welche den Menschen zum Heil seiner Seele führt, und die er nur mit einfältigem Herzen ergreifen kann, und mit einem so einfältigen Herzen werden wir immer mehr frei werden von alle dem, was die göttliche Kraft der Liebe schwächen und trüben kann in dem Herzen, damit wir unter allem Streit und unter allen Verwikkelungen und Prüfungen der Welt auch darin dem Erlöser gleich werden, daß wir | sagen können zu denen, die ungleich von uns denken und uns in unserem schlichten Dienste vor Gott nicht anerkennen, Ihr sollt nicht denken, daß ich euch vor dem Vater verklagen werde; sondern je mehr wir uns der Wahrheit freuen, desto mehr werden wir aus reinem Herzen 15–17 Vgl. 1Kor 1,30
18–19 1Kor 4,3
19–21 Vgl. Röm 14,4
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inbrünstig beten für alle Menschen, daß sie endlich zur reinen Erkenntniß der Wahrheit und dadurch zur Freiheit der Kinder Gottes erhoben werden, und alles thun, was in unsern Kräften steht, damit die Hindernisse, die ihnen noch im Wege stehen, daß sie nicht den heiligen Willen Gottes, der ihnen offenbart ist, erkennen und demselben folgen, immer mehr überwunden werden, und damit sie mit uns den Sohn Gottes aufnehmen als denjenigen, von welchem allein alles Heil kommt, und in ihm die ewige Wahrheit schauen und durch ihn frei werden! Diesem reinen Dienste laßt uns unser ganzes Leben weihen, aber auch suchen selbst immer mehr zu der reinen Erkenntniß des Vaters und des Sohnes hindurchzudringen, die uns immer mehr befestigen kann auf dem Wege der Wahrheit und allein bewahren vor allen Verdunkelungen des Verstandes. Amen.
Am 25. Juli 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen:
Besonderheiten:
6. Sonntag nach Trinitatis, 11 Uhr Friedrichswerderkirche zu Berlin Mt 5,23–24 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 6, 1829, S. 263–276 (Druckvorlage in: SM–DLA 58.368, Bl. 1r–15v) Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 717–728; 21844, S. 769–780 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 586–595 b. Autograph Schleiermachers; SN 57, S. 1–20 (Fragment, 1. Teilstück; Fotokopie in: SAr 88, Bl. 67r–86r); SAr 88, Bl. 87r–88v; Slg. Wwe. SM (Fragment, 2. Teilstück) [unvollendete Überarbeitung der unter c. gebotenen Nachschrift; verworfener erster Versuch der Predigtbearbeitung für das Festmagazin] Texteditionen: Keine c. Nachschrift; SN 57, S. 1–20 (Fragment, 1. Teilstück; Kopie in: SAr 88, Bl. 67r–86r); SAr 88, Bl. 87r–93r; Slg. Wwe. SM, Andrae (Fragment, 2. Teilstück) Texteditionen: Keine Autograph Schleiermachers; SM–DLA 58.368, Bl. 1r–15v (Druckvorlage; Bearbeitung einer Parallele der unter c. gebotenen Nachschrift) Nachschrift; SM–DLA 58.368, Bl. 1r–15v; Andrae (Textzeugenparallele zu c.) Nachschrift; SAr 88, Bl. 51r–65r; Slg. Wwe. SM, Andrae (Textzeugenparallele zu c.) Vertretung für Küster; letzter Gottesdienst in der alten Friedrichswerderkirche
0 Schleiermacher vertrat in der Friedrichswerderschen Kirche Samuel Christian Gottfried Küster (geb. 1762 in Havelberg, gest. 1838 in Berlin). Küster war seit 1785 an dieser Kirche tätig, wo er 1793 von der dritten auf die zweite und 1797 als Nachfolger seines Vaters auf die erste Pfarrstelle aufrückte. Er war außerdem Superintendent der Diözese Friedrichswerder und ab 1804 Direktor des königlichen Seminars für Volksschulen. Von 1817–1829 gehörte er, wie Schleiermacher auch, der Gesangbuchkommission an. Küster ist Verfasser einer Vielzahl von Gedichten, Reden, Programmen und kleiner Gelegenheitsschriften. Vgl. ADB 17, S. 439–440. In Bezug auf seinen Gottesdienst schrieb Schleiermacher am 26. Juli an seine auf Rügen weilende Frau: „Ich kam etwas früher in die Werdersche Kirche, wo ich für Küster predigten sollte, hörte noch das Ende von Palmiers französischer Predigt, und als er hernach in die Sakristei kam mit den übrigen Predigern der Kirche und fast allen Aeltesten, fielen die Männer sich
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a. Drucktext Schleiermachers Christi Vorschrift, wenn Einer etwas wider uns hat. Text.
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M. a. F. Wir haben keine Altäre mehr, auf welchen Gaben und Opfer dargebracht werden. Seitdem der Schatten dem Wesen Platz gemacht hat, und wir als Mitglieder des neuen Bundes zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit geleitet sind, ist Alles, was den Opfern ähnlich ist, aus unseren Gottesdiensten verschwunden, indem wir nur Ein Opfer erkennen, und eine Gabe, welche Gott wohlgefällig ist dargebracht worden von dem Hohenpriester des neuen Bundes, als er nämlich sich selbst einmal geopfert hat am Kreutze. Was sollen wir also für eine Anwendung machen von einer Vorschrift unseres Erlösers, die nur den Genossen des alten Bundes gegeben zu seyn scheint, welche fortwährend auf den Altären des Herrn Opfer und Gaben des Dankes darzubringen hatten? Dennoch sind sie in der That uns gegeben auch, diese Regeln des Herrn, denn er beginnt eine ganze Reihenfolge von Vorschriften, wohin auch die verlesenen Worte gehören, damit, daß er sagt: „Es sey denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ So konnte er nur seine Jünger anreden, nur solche, die in das Himmelreich begehrten, dessen Besitz er nur seinen Jüngern zusichert; und denen also giebt er hier Vorschriften, welche sie | würden zu beobachten haben, wenn sie sich dieses verheißenen Besitzes wirklich erfreuen wollten. Laßt uns aber nicht vergessen, m. g. F., das Darbringen der Opfer auf dem Altare war begleitet mit frommen Gebeten, und war also eine Handlung der Andacht; alle verschiedenen 8 eine] Druckvorlage, Bl. 1r: Eine 15–16 Reihenfolge] Druckvorlage, Bl. 1v: Reihe Folge 20 Himmelreich] zu ergänzen wohl zu kommen um den Hals und weinten ihre bitteren Thränen. Es war nämlich der Abschied von der Kirche, in der sie noch 100 Jahre hätten ruhig bleiben können, und die nun der Baugeist einreißt, um ihnen eine viel zu kleine dafür wieder zu geben. Diese Willkür, die keine Verletzung scheut, hat etwas Empörendes, und ich mußte mich recht zusammen nehmen, daß mich der Eindruck nicht störte in meiner Predigt.“ Vgl. Schleiermacher als Mensch, ed. H. Meisner, S. 333. Für die baufällig gewordene, alte Friedrichswerderkirche, ein von 1648–1701 zur französisch-deutschen Doppelkirche umgebautes, ehemaliges kurfürstliches Reithaus von 17x80 Metern, waren seit Beginn der 1820er Jahre Vorschläge zum Neubau gemacht worden. Im März 1824 war die Entscheidung, dem Wunsch des Kronprinzen gemäß, schließlich zugunsten eines von K. F. Schinkel geplanten neugotischen Backsteinbaus gefallen, der bis 1830 errichtet wurde. Vgl. Gottschalk, Altberliner Kirchen, S. 175–176. 4–5 Vgl. Hebr 10,1 17–19 Mt 5,20
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Arten der Opfer waren vorgeschrieben in dem göttlichen Gesetze, und ihre Darbringung war also eine Handlung des Gehorsams, und wer nun darbrachte, was ihm das Gesetz darzubringen gebot bei dieser oder jener Gelegenheit, sey es auf Veranlassung einer Schuld, die er auf sich geladen, oder einer göttlichen Wohlthat, die ihm geworden, der hoffte, im Vertrauen auf die Kraft des göttlichen Gesetzes, dadurch des göttlichen Wohlgefallens auch würdig zu werden. Von dem Gehorsame gegen die Einsetzungen Gottes und besonders von der gemeinsamen öffentlichen Andacht ist hier die Rede, und so lasset uns denn in näherer Erwägung der Worte des Herrn, die wir mit einander gehört haben, fragen: was er uns denn in diesen Worten auch insbesondere in Beziehung auf unsere gemeinsame christliche Andacht hat lehren wollen? Wir finden aber bei unserer Betrachtung zuerst, daß unser Erlöser hier einen allgemeinen Grundsatz ausspricht; dann aber auch zweitens, daß er von demselben eine besondere Anwendung macht. Auf Beides laßt uns nun in der folgenden Betrachtung mit einander Rücksicht nehmen.
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I. Wenn ich sage: der Erlöser spricht über das rechte Wesen der christlichen Andacht in dieser seiner Vorschrift einen allgemeinen Grundsatz aus, so möchte dieß vielleicht nicht einem Jeden sogleich einleuchten. Die Sache aber ist die. Der Herr stellt Einen dar, im Begriffe, seine Gabe auf dem Altare darzubringen, der aber am Altare, ehe die heilige Handlung noch vollbracht ist, inne wird, daß einer seiner Brüder etwas wider ihn habe. Lobt der Herr oder tadelt er den, welchem, indem er in einer Handlung der Andacht begriffen ist, dieß in seiner Seele lebendig wird? Offenbar ja tadelt er ihn nicht, sondern er lobt ihn; denn wäre er nicht eingedenk geworden, daß sein Bruder | etwas wider ihn habe, und nicht umgekehrt und hätte sich mit ihm versöhnt: so wäre, sagt er, die Gabe, die er darbringen wollte, keine wohlgefällige gewesen. Lobt nun der Herr, wenn der, der eine Gabe darbringen soll, eingedenk wird in seiner Seele, daß sein Bruder etwas wider ihn hat, wird er nicht auf dieselbe Weise auch loben müssen, wenn wir mitten in den Handlungen der Andacht eingedenk sind alles dessen, was irgend zu den geistigen Verhältnissen unseres Lebens gehört? Und das ist eben der allgemeine Grundsatz, den der Erlöser über das rechte Wesen der christlichen Andacht in diesen Worten ausspricht. Keineswegs also ist er der Meinung, m. g. F., daß, wenn wir versammelt sind an den Stätten der öffentlichen Gottesverehrung, derjenige am Wohlgefälligsten seyn werde, der am meisten sich selbst 14 unserer] Druckvorlage, Bl. 2v: näherer
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vergißt, der da meint, er müsse nun alle Verhältnisse seines Lebens, in denen er doch entweder Gott wohlgefällig gewandelt hat, oder nicht, als Unbedeutendes oder Zeitliches hinter sich werfen, und ganz allein in das Bewußtsein des höchsten Wesens, welchem er in Andacht nahen will, versunken seyn. Keineswegs ist derjenige der Frömmste, welcher glaubt, er müsse in den Stunden der andächtigen Betrachtung vergessen, wie er sich in allen Verhältnissen des Rechts, der Ordnung, der Liebe, die vergangene Zeit über erwiesen hat, er dürfe sich durch Erinnerungen an Personen und Begebenheiten nicht stören lassen, damit er ganz in der Betrachtung der göttlichen Geheimnisse unseres Glaubens, der hohen Lehren und Verheißungen des göttlichen Wortes vertieft bleiben könne. Daß aber unser Erlöser dieser Meinung auch gar nicht habe seyn können, m. g. F., davon können wir uns sehr leicht überzeugen. Wenn der Apostel Paulus in seinem Briefe an die Römer von der natürlichen Erkenntniß Gottes redet, wozu die Fähigkeit und die Anleitung in der menschlichen Natur selbst liegt, und dort sagt: die Menschen könnten an den göttlichen Werken wahrnehmen die ewige Kraft und Gottheit des höchsten Wesens: was will er damit anders sagen, als daß für Jeden, welcher nur dieser Anleitung des Besten und Edelsten in seiner Natur folgt, | das Bewußtseyn des Schöpfers mit der Erkenntniß seiner Werke unzertrennlich verbunden sey. Von einem Bewußtseyn Gottes also, welches jedes andere Bewußtseyn ausschließt und die Seele ganz allein erfüllt, weiß er nichts, und weiß uns keine Anleitung dazu zu geben oder nachzuweisen in unserer Natur; denn wenn ihm eine Fähigkeit zu einer solchen von der Beschäftigung des Menschen mit den Werken Gottes ganz unabhängigen Erkenntniß Gottes bekannt gewesen wäre, so würde er ja noch vielmehr auf diese verwiesen haben. Sondern in und mit den Werken Gottes sollen wir uns zugleich der ewigen Kraft und Gottheit des Schöpfers bewußt werden. Aber freilich, die natürliche Erkenntniß des Menschen von Gott, werdet ihr sagen, bleibt weit zurück hinter der Erkenntniß des erleuchteten Christen. Allerdings wohl! aber worauf beruht diese? Darauf, daß uns die väterliche Liebe Gottes erschienen ist in seinem Sohne, so daß wir nun nicht nur in der Welt, in welche wir gesetzt sind, die Spuren der göttlichen Allmacht finden, sondern in der göttlichen Veranstaltung, um den Frieden und die Vervollkommnung unserer Seele zu bewirken, so wie sich die göttliche Gnade in uns selbst bewährt, außer der Allmacht auch die Liebe Gottes sich uns verkündigt, und wir das Herniedersteigen des Vaters, der mit dem 18 Wesens:] Wesens in seinen Werken: 17–18 Vgl. Röm 1,20
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Sohne Wohnung machen will in unserem Herzen, mit inniger Dankbarkeit wahrnehmen. Wie also vor der Erscheinung Christi das Bewußtseyn Gottes unzertrennlich verbunden war mit der Wahrnehmung seiner Werke: so ist in der Seele des Christen dieses Bewußtseyn bedingt durch die Erkenntniß des Erlösers und durch die Erfahrung von den Gnadenwirkungen des göttlichen Geistes in der menschlichen Seele. Und wie der natürliche Mensch keine andere Fähigkeit hat, sich Gottes bewußt zu werden, als mit seinen Werken zugleich: so der begnadigte Mensch keine andere, als sich des himmlischen Vaters bewußt zu werden in der Liebe des Sohnes, und zugleich mit dem neuen Leben des Geistes, welches dieser erweckt hat. Dieß ist aber auch kein in sich selbst abgeschlossenes; sondern alle Gaben des Geistes sind zum gemeinen Nutzen und erweisen sich | daher vorzüglich in der Gesammtheit unseres gemeinschaftlichen Lebens. Also um desto lebendiger wird auch unsere Andacht, zumal unsere öffentliche und gemeinsame Andacht seyn, je klarer das geistige Leben vor uns liegt, welches in der Gemeinschaft von Christen besteht, der wir selbst angehören, und je mehr wir uns alle Früchte des Geistes vergegenwärtigen, durch welche sich die göttliche Gnade in demselben verherrlicht. Wie wäre das aber möglich, ohne daß auch unser Antheil an demselben uns bestimmter vor Augen träte, so daß wir uns selbst an dem Ganzen messen, und uns bewußt werden, wie viel von diesen Früchten des Geistes auch in uns wachsen und gedeihen, und worin hingegen wir zurückbleiben und leider das Unkraut in uns noch nicht erstickt ist. Und daß nur nicht Jemand denke, es genüge in dieser Beziehung schon zur Lebendigkeit unserer Andacht, wenn jeder Einzelne dem Ganzen gegenüber sich nur als den Geringsten ansehe unter seinen Brüdern, denn eine solche vergleichende und doch unbestimmte Demuth kann gar leicht unwahr seyn und krankhaft, oder wenn jeder Einzelne sich nur im Allgemeinen der Sündhaftigkeit des Menschen überhaupt und also auch seiner eigenen bewußt wird, und also mit einem nach neuen Erweisungen der göttlichen Gnade verlangenden Herzen kommt, und es sey in der That der Sache angemessener, und die ruhige Betrachtung weniger störend, wenn wir uns mit diesem allgemeinen Bewußtseyn begnügen, als wenn wir es zu einer mehr zerstreuenden Vergegenwärtigung der Einzelheiten des Lebens ausdehnen. Nicht also! denn daß wenigstens der Erlöser das Gegentheil gedacht, und bei Darbringung der Gaben und Opfer nicht nur das allgemeine Bewußtseyn der Sündhaftigkeit vorausgesetzt habe, sondern gerade eine solche lebendige Vergegenwärtigung unseres ge15–16 gemeinsame] Druckvorlage, Bl. 6r: gemeinschaftliche Druckvorlage, Bl. 6r: bestimmt
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sammten Gemüthszustandes, wie er sich in den verschiedensten einzelnen Momenten kund giebt, in denen wir im Verhältniß zu Anderen unsere einzelnen Fehler und Gebrechen und die Art, wie sie in die Erscheinung treten, deutlich wahrnehmen können, das sehen wir aus dem einzelnen Beispiele, welches der Erlöser hier anführt. Denn aus dem allgemeinen | Bewußtseyn der Sündhaftigkeit und des Verderbens konnte das nicht hervorgehen, daß Einer, der seine Gabe darbringen wollte, eingedenk wurde, wie irgend Einer seiner Brüder etwas wider ihn haben könne; sondern dazu gehört eben jene Vergegenwärtigung des ganzen Lebens, welche also gerade das ist, was der Erlöser fordert. O wie könnten wir auch sonst das, was uns in den Stunden der gemeinschaftlichen Andacht am meisten beschäftigt, sey es die allgemeine Betrachtung der hülfreichen Gnade und Barmherzigkeit Gottes, oder seyen es die heiligen Lehren unseres Glaubens und die tiefen Geheimnisse desselben, wie könnten wir dieß unmittelbar anwenden und in unser Leben einführen – und von da muß doch aller Zuwachs der Gottseligkeit kommen – wenn nicht unser ganzes Leben uns bei solchen Betrachtungen gegenwärtig wäre? Nur also in einem solchen sich selbst bewußten Gemüthe können aus den Stunden der gemeinsamen Andacht die Vorzüge entstehen, welche der Besitz des Wesens, das uns der neue Bund sichert, nämlich der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, statt des Schattens, mit dem der alte sich begnügen mußte, uns zu verschaffen geeignet ist. Denn so bilden sich bei jeder Veranlassung in der Seele von selbst die Hinweisungen auf das, was jedem Einzelnen vorzüglich noth thut, so gedeiht das allgemeine Wort zu einem besonderen und eigenthümlichen Leben, so gestaltet sich die allgemeine Verheißung zu einer bestimmten und erregenden Hoffnung, und die Zuversicht zu der göttlichen Gnade richtet sich unmittelbar auf das Werk, was einem Jeden obliegt, und in dessen Umfang er sich in jedem Augenblicke auf eine bestimmte Weise seiner Gaben und Tugenden, sowie seiner Gebrechen bewußt wird. Je mehr die Seele so ihrer selbst eingedenk wird in den heiligen Stunden der Andacht, desto herrlichere Früchte tragen sie, desto wohlgefälliger steigt das Gebet der Christen zu dem Herrn hinauf, desto gesegneter ist jede Gabe der Demüthigung und der Selbsterkenntniß, welche sie an den Stätten christlicher Andacht nicht darbringen, sondern empfangen durch den Beistand des göttlichen Geistes, und desto mehr gehen sie nicht nur | gerechtfertigt, sondern auch gestärkt durch die Kraft des Wortes in das Leben zurück. II. Aber laßt uns nun Zweitens, m. g. F., von dem allgemeinen Grundsatze aus auch den bestimmten Fall noch besonders betrachten, an welchem der Erlöser in unserem Texte jenen Grundsatz darstellt.
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Er sagt: „Wenn du deine Gabe opfern willst auf dem Altare, und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich hat: so kehre schnell um und versöhne dich mit ihm, und dann komm und opfere deine Gabe.“ Hier, m. gel. F., ist nicht die Rede von unserer eigenen Versöhnlichkeit, falls wir etwas haben gegen einen unserer Brüder in unserem Herzen, und uns von ihm gekränkt, beeinträchtigt oder beleidigt glauben. Auch zu dieser ermuntern wir uns mit Recht, und ermahnen uns untereinander schon immer, zu vergeben, wie Gott uns Allen um Christi willen viel tausendmal mehr vergiebt, besonders aber auch, wenn wir zu dem heiligen Mahle der Liebe uns bereiten, bei welchem eben diese brüderliche Liebe der Christen unter einander ganz ungetrübt und rein vor Gott erscheinen soll. Doch hier ist nicht von unserer Versöhnlichkeit die Rede, sondern davon, wenn einer unserer Brüder etwas hat in seinem Herzen wider uns. Und das könnte freilich wohl eine harte Rede scheinen, daß uns dieß auch unschuldigerweise zu einer solchen Unterbrechung unserer Andacht gedeihen soll. Denn wie oft geschieht es nicht und wie leicht kann es nicht geschehen, daß einer unserer Brüder etwas wider uns hat ohne all’ unser Verschulden! Aber der Erlöser unterscheidet das nicht in seiner Rede, ob auch von Seiten dessen, der seine Gabe darbringen will, ein Verschulden da ist oder nicht; sondern nur so du deß eingedenk wirst, verhalte es sich übrigens, wie es wolle. Wissen wir nun nichts davon, daß unser Nächster etwas wider uns hat: nun dann können wir freilich dessen nicht eingedenk werden, und also auch nicht hingehen, um uns mit ihm zu versöhnen, und die Vorschrift des Erlösers findet keine Anwendung, sondern erledigt sich von selbst. Wissen wir es aber, so sollten wir eben deßhalb, weil wir uns unseres ganzen Lebens vor Gott bewußt | seyn sollen, vorzüglich auch eines solchen Verhältnisses eingedenk seyn; und werden wir dessen eingedenk, nun so wissen wir, daß wir uns auch pünktlich zu halten haben an die Vorschrift des Herrn. Es wird uns aber auch, m. g. F., in Beziehung hierauf nicht schwer seyn, den Grund zu dieser Vorschrift des Herrn einzusehen, so daß sie uns nicht zu groß und ausgedehnt erscheint, wenn wir die Sache nur von der rechten Seite betrachten. Es gab nämlich keinen anderen Altar Gottes zu den Zeiten des alten Bundes, als in dem heiligen Umkreise des Tempels; dort mußten alle Opfer und Gaben dargebracht werden, anderwärts durfte es nicht geschehen, dieser Ort war also der öffentlichste für die Versammlung der Frommen, und an diesem sollte Jeder eingedenk werden, wer etwas wider ihn habe. Wollen 23–24 dann können wir freilich dessen] Druckvorlage, Bl. 9v: dann freilich können wir dessen 27 sollten] Druckvorlage, Bl. 9v: sollen 33–34 wir die Sache nur von] Druckvorlage, Bl. 9v: wir nur die Sache von
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wir die Anweisung Christi recht verstehen, so müssen wir fragen: was haben denn wir wohl für besondere Ursache, dessen, was Jemand wider uns hat, eingedenk zu werden an den Oertern unserer gemeinsamen Gottesverehrung, welche auch die öffentlichsten sind für die Versammlung der Frommen? Nun können wir doch nicht läugnen, so oft wir uns dort versammeln, um uns gemeinsam zu stärken in der christlichen Gottseligkeit, sollen wir einander auch vertreten mit Gebet und Fürbitte, und sollen die Wirksamkeit des göttlichen Wortes zur Reinigung unserer Herzen nicht ansehen als eine Angelegenheit des Einzelnen, sondern, wie sie es auch ist, als die gemeinsame Angelegenheit der Christenheit. Nicht steht Jeder von uns dort vor Gott für sich selbst, sondern Jeder für Alle und Alle für Jeden. Kann aber, m. g. F., Wahrheit seyn und Treue in diesem Gedanken von einem Zusammenwirken, wo wir aus der Quelle des göttlichen Wortes schöpfen, in dieser Vorstellung von einer Kraft gemeinsamer Fürbitten und Danksagungen, wenn wir nicht vor allen Dingen darnach trachten, zu halten die Einigkeit im Geiste, sondern gleichgültig seyn können bei dem Gedanken, es könne einer unter unseren Brüdern etwas wider uns haben in seinem Herzen, so daß er lieber nicht möchte in einer solchen Gemeinschaft der Erbauung und des Gebetes mit uns ste|hen, sondern sich lieber von uns trennen würde, wenn er könnte, als sich in dieser heiligen Beziehung mit uns vereinigen? Nein, m. g. F., der rechte Segen der gemeinsamen Andacht beruht auf einer ungeheuchelten Vereinigung aller Herzen zur christlichen Frömmigkeit vor Gott, auf dem ungestörten Bestande des brüderlichen Vereins, der unter allen Bekennern des Herrn stattfinden soll, daß Jeder sich freut, wenn er eingedenk wird, daß ein Anderer, mit dem er in irgend einer bestimmten Gemeinschaft steht, oder dessen Leben überhaupt irgendwie auf das seinige einwirkt, seiner auch in irgend einer besonderen Beziehung brüderlich gedenkt beim Gebet und bei gemeinsamer frommer Betrachtung. Ja dieß soll uns besonders erwecklich zu Herzen gehen, und wir dürfen sagen, daß ohne solche Regungen wahrer Bruderliebe unsere öffentliche Andacht wenig wäre oder nichts. Denn ihr Wesen besteht darin, daß wir uns unter einander erbauen, nicht etwa nur Jeder für sich. Solche Zuversicht und Freudigkeit aber kann nur stattfinden, wenn Keiner etwas hat wider den Anderen. Daher hat der Herr ganz Recht, daß wir innehalten sollen mit Gaben und Opfer, weil ja doch der Segen der Andacht uns verkümmert bleibe, wenn, wie es nicht anders seyn kann, die Freudigkeit des Gemüths uns gestört und die Erhebung des Herzens in der gemeinsamen Andacht entkräftet wird, sobald wir dessen eingedenk werden, daß einer unserer Brüder, dem wir auch einen immer reicheren Genuß der Segnungen des Christenthums wünschen, und den wir einschließen in unser Ge-
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bet und in unsere Fürbitte, etwas wider uns hat in seinem Herzen, weßwegen er vielleicht gar diese lieber möchte von sich stoßen als annehmen. Darum werden unsere Zusammenkünfte nur dann vor Gott recht wohlgefällig seyn und mit reichem Segen von ihm gekrönt, wenn von solchen Widrigkeiten gar nicht die Rede ist unter den Christen. Soll schon die Sonne nicht untergehen über den Aufwallungen des Zorns: wie viel weniger noch die Woche endigen über den Nachwehen desselben. Alle Mißverständnisse sollen immer schon aufgehoben seyn, ehe unser gottesdienstlicher Tag kommt, damit wir uns | ungestört mit einander des Herrn freuen können, indem wir uns auf’s Neue im Glauben an ihn verbinden zu rechter fester Treue in seinem Werke, und uns reiche mittheilbare Erfahrungen wünschen von allem Guten, womit er uns nach seiner Verheißung segnen will. Und diesen rechten Frieden wieder herzustellen, dazu soll Jeder immer der Erste seyn wollen, am meisten aber der, dessen eigene Gemüthsruhe am wenigsten getrübt ist. Nicht genug, m. g. F., können wir diese Ermahnung und Vorschrift des Herrn zu Herzen nehmen; und gewiß, wenn wir uns fragen: warum unsere christliche Zusammenkünfte nicht in solchem Grade von Gott gesegnet sind, wie wir hoffen dürften, da ja doch das Wort Gottes in seiner Lauterkeit und Reinheit unter uns verkündigt wird, und die ganze Einrichtung unseres Gottesdienstes an sich betrachtet als erbaulich mit Beifall und Freude anerkannt wird? – so fällt gewiß nicht ein kleiner Theil der Schuld eben darauf, daß wir nicht immer vorher unsere brüderliche Liebe abzuklären suchen von Allem, was ihr, sey es klein oder groß, in dem Berufe des Lebens zur Störung gereicht hat, daß wir vorher nicht, könnten wir uns noch so rein und unschuldig dünken, das Herz jedes Bruders zu erweichen und zu gewinnen suchen, der etwas wider uns haben kann. Ich kann mich aber nicht enthalten, von dem bisher Gesagten noch eine besondere Anwendung zu machen, die gegenwärtig uns Allen vorzüglich nahe liegt, so daß Jeder gewiß schon von selbst daran gedacht hat. Denn auch hier geht es wie überall, daß doch Eins vor dem Anderen uns nahe liegt. Geben wir auch gerne zu, daß unsere Andacht immer nur um so gesegneter seyn wird, je deutlicher uns vor Gott unser ganzes Leben vor Augen liegt: so können wir doch nicht in Abrede stellen, daß nicht alle Verhältnisse desselben sich jedesmal gleich sehr dazu eignen, uns vergegenwärtigt zu werden in unseren 25 Berufe] Druckvorlage, Bl. 12r: Laufe 26–27 wir uns] Druckvorlage, Bl. 12r: wir auch uns 31 Jeder gewiß] Druckvorlage, Bl. 12r: gewiß Jeder 6–7 Vgl. Eph 4,26
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Andachtsstunden, so daß es uns in den Sinn kommen müßte, wenn in Hinsicht ihrer Jemand etwas gegen uns hat, sondern jedesmal Eins vor dem Andern. Nur, was ganz unmittelbar mit unseren gottesdienstlichen Anstalten selbst zusammenhängt, das | liegt uns immer am nächsten. Nun leben wir jetzt gerade in einer Zeit, wo die beste Art und Weise der Einrichtung unserer öffentlichen Gottesverehrung, um wahre und christliche Andacht am meisten und allgemeinsten zu fördern, zur großen Freude aller derer, denen es Ernst ist um das Heil der christlichen Kirche, ganz auf’s Neue sowohl ein Gegenstand reiferen Nachdenkens und genauerer Erwägung geworden ist, als auch Stoff zu mancherlei Vorschlägen und Versuchen gegeben hat. Leider aber bringt auch hier die menschliche Schwachheit mit sich, daß je mehr an den Tag kommt, wie weit die Ansichten der Einen und der Anderen über das Beste und Zweckmäßigste und über die richtige Art, es geltend zu machen, auseinandertreten, daraus auch störende Reibungen und widrige Empfindungen beider Theile gegeneinander entstehen. Fern sey es von mir, reinen und löblichen Eifer dämpfen zu wollen, zumal um einen so wichtigen Gegenstand; vielmehr wäre es die Gleichgültigkeit, welche am meisten müßte getadelt werden. Aber liegt es nicht schon in der Natur der Sache, daß dasjenige, was uns eben lieb ist, weil es unsere Vereinigung vor Gott ausspricht, was uns gesegnet seyn soll als ein Stärkungsmittel der Bruderliebe, als eine Befestigung der Einigkeit im Geiste, nicht darf eine Veranlassung werden zur Zertrennung der Geister und zur Störung der Liebe? Das muß wohl Jedem einleuchten. Aber das ist freilich eben so einleuchtend, daß wenn in diesen Dingen zweierlei einander gegenüber gestellt wird, die Gemüther sich unvermeidlich theilen. Unmöglich werden Alle gleich das Alte verwerfen; unmöglich werden ihm Alle treu bleiben, weil doch das Neue nothwendig Einigen muß wahr und gut erschienen seyn, oder es hätte gar nicht können zum Vorschein kommen. Soll also vielleicht, um jede Trennung zu vermeiden, Alles immer bleiben, wie es gewesen ist? Auch das können wir nicht behaupten, weil es sonst überall keinen evangelischen Gottesdienst geben würde; wiewohl allerdings bei allem Gemeinsamen weder möglich noch nothwendig oder auch nur rathsam ist, jede Unvollkommenheit sogleich auszumerzen, wenn Einer oder wenige Einzelne sie als solche | erkannt haben. Eine Grenze aber zieht uns der Erlöser in unserem Texte 1 den] fehlt in der Druckvorlage; vgl. Bl. 12v 7 und christliche] und fehlt in der Druckvorlage; vgl. Bl. 12v 11 hat] haben 13 den] fehlt in Druckvorlage; vgl. Bl. 13r 25 Aber das] Druckvorlage, Bl. 13r: Aber auch das 5–11 Zum Agendenstreit vgl. oben Historische Einführung, Punkt 2 und 3
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auf das Allerbestimmteste. Wie lebhaft auch Jemand überzeugt sey: dasjenige, dem er sich entgegensetzt, sey nicht nur unvollkommen, sondern verderblich; oder wieviel Gutes sich Einer davon versprechen mag, – wenn er das, was nach seiner Ueberzeugung das Bessere ist, geltend machen könnte in den christlichen Versammlungen: werden sie wohl, dieser, wenn er das Seinige glücklich durchgesetzt, jener, wenn er das Alte glücklich beseitigt hat, hinzutreten können zu dem Altare des Herrn, um die neue ihnen selbst wohlgefällige Gabe darzubringen, wenn sie sich doch der Besorgniß nicht erwehren können, daß eben deßhalb, gleichviel ob Einer oder Viele, etwas gegen sie habe? Sagt doch der Erlöser gerade heraus, lieber sollten wir die ganze Andachtsübung aufgeben, als wissen, daß ein Bruder etwas gegen uns habe, und es dabei bewenden lassen! Und ob wir es verschuldet haben durch Heftigkeit im Widerspruch, durch Unbrüderlichkeit im Streite, durch untreue Darstellung der entgegengesetzten Sache, oder überall durch gar nichts, das gilt dem Erlöser völlig gleich; laß deine Gabe auf dem Altare und gehe zuvor hin und söhne dich mit ihm aus. Liegt darin nicht offenbar, daß in solchen Dingen keine Verbesserung der Rede werth ist, wenn irgend eine Widrigkeit, eine Störung der Liebe, daraus entsteht unter denen, die mit einander leben und einander nothwendig eingedenk werden müssen am Altare; es müßte denn seyn, daß Einem sein Gewissen gar nicht gestattete, das Bisherige ferner zu behalten, wie es bei unseren Vorfahren der Fall war, die sich zuerst zur evangelischen Kirche wendeten. So lange nun Einer nur den Anderen zu überzeugen sucht, kann keine Störung der Liebe entstehen, denn dieß ist nur ein Beweis der Liebe. Sobald aber die Sache eine andere Wendung nimmt, daß die Gemüther sich, wie es nicht zum Guten führt, erhitzen und von einander entfernen: so sollen wir den Schwachen tragen, auf daß nicht unserer Freiheit und Einsicht wegen unser Bruder geärgert werde, weil wir ja doch müßten Altar Altar seyn lassen, um erst hinzugehen und ihn uns zu versöh|nen. So hat es der Herr geordnet, der, wie er in anderer Hinsicht deutlich sagt, daß er nicht gekommen sey, Frieden zu bringen, sondern das Schwerdt, so auch wohl wußte, daß unter seinen Jüngern selbst bei der weiteren Entwickelung seiner Lehren sowohl als seiner Ordnungen Verschiedenheit der Meinungen, reiferer und schwächerer Einsichten, richtigeren und gewagteren Verfahrens nicht ausbleiben würde. So hat er es geordnet, damit durch Alles, was geschehen möchte, das Band der Liebe und die Einigkeit im Geiste nicht gelöst, sondern nur befestigt würde. Nur wenn dieß überall das Erste ist, wonach wir trachten, und Jeder auf jede Weise bemüht ist, jede auch 32–34 Vgl. Mt 10,34
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schuldlos von seiner Seite entstandene Störung auf’s Baldigste wieder aufzuheben, so daß wir viel lieber, bis bessere Einsicht sich verbreitet, etwas Unvollkommenes dulden in unserem Gottesdienste, als daß die Liebe gestört werde, nur dann versammeln wir uns zur gemeinschaftlichen Andacht auf eine Gott wohlgefällige Weise; nur dann liegt ein reiner Sinn zum Grunde bei unserem Bestreben, die Angelegenheiten der christlichen Kirche zu fördern, und nur dann auch kann es so gedeihen, daß wir wirklich, was in unseren Kräften steht, dazu beitragen, diese Braut des Erlösers seiner würdig, rein und unsträflich vor ihm darzustellen. So soll Jeder thun, was er vermag, damit durch den rechten Ernst in der Sache der Gottesverehrung und durch ein wohlgeordnetes Streben nach dem Besseren auch hierin die Gemüther einander näher gebracht und dahin gestimmt werden, sich gegenseitig ihres Eifers für dieselbe große Sache zu freuen. Und nachdem wir dieß Alles beherzigt: wie sollten wir uns nicht noch einmal in diesem Sinne mit ganzer Zustimmung das Wort des Erlösers wiederholen: „So du deine Gabe opfern willst auf dem Altare, und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich hat, so gehe erst hin und versöhne dich mit ihm, und dann komme und opfere deine Gabe!“ Sollen wir als Christen anhalten im Gebete und nicht aufhören in der Danksagung: so laßt uns auch auf das Ernstlichste Alles vermeiden, was uns nach dem Willen des Herrn nöthigen würde, Gebet | und Danksagung zu unterbrechen. Haben wir gemeinsam unsere Lust an dem Worte des Herrn und wollen wir uns bei dessen Betrachtung untereinander erbauen mit Psalmen und geistlichen Liedern: so laßt uns bedenken, daß uns geziemt, die Wahrheit zu suchen in Liebe, und der Vollkommenheit in allen Dingen nachzutrachten, aber nicht anders als in Frieden, denn das ist der schönste Schmuck der christlichen Gemeinschaft. Nur was auf diesem Wege gedeiht, ist Gott gefällig; und nur darauf können wir Hoffnungen gründen für uns selbst und für die Geschlechter, die nach uns kommen werden. Und ewig wahr bleibt das Wort des Apostels: unser jetziges Wissen ist Stückwerk; das Stückwerk wird aufhören, wenn das Vollkommene erscheinen wird, daß wir erkennen, wie wir erkannt sind. Was aber jetzt schon nicht Stückwerk seyn soll, sondern ganz, rein und vollkommen, das ist die Liebe, die das Band der Vollkom21 in der] fehlt in Druckvorlage; vgl. Bl. 14v 27 zu] Druckvorlage, Bl. 14v: sollen wir 36 Was] schließt in Druckvorlage ohne Absatz an; vgl. Bl. 15r 32–35 Vgl. 1Kor 13,9–10.12
37–3 Vgl. 1Kor 13,8; Kol 3,14
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menheit ist, und die da bleiben wird, wenn die Erkenntniß aufhört und wenn die Weissagung aufhört und wenn der Glaube aufhört. Amen. Schl.
b. Autograph Schleiermachers 1/67r
[1. Teilstück:] An welche Bedingungen der Segen der christlichen Andacht geknüpft ist Text.
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Matthäi V, 23 und 24.
M. a. F., Wir haben keine Altäre mehr, auf welchen Gaben und Opfer dargebracht werden. Seitdem der Schatten dem Wesen Plaz gemacht hat, und wir als Glieder des neuen Bundes nicht nur sondern auch in dem uns heller scheinenden Lichte des Evangelii zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit angeführt werden, ist alles was den Opfern | des alten Bundes auch nur von weitem ähnlich ist aus unseren Gottesdiensten verschwunden, indem wir nur Ein Opfer erkennen und Eine Gabe, welche Gott wohlgefällig ist dargebracht worden, als nämlich der Hohepriester des neuen Bundes sich selbst einmal geopfert hat am Kreuz. Was sollen wir also für eine Anwendung machen von einer Vorschrift unseres Erlösers, die nur denen gegeben zu sein scheint, welche auf den Altären des alten Bundes ihre Opfer und die Gaben ihres Dankes darbringen wollten? Dennoch sind diese Regeln des Herrn auch uns oder vielmehr ganz eigentlich uns gegeben; denn er beginnt die ganze Reihefolge von Lehren und Vorschriften in welche auch die verlesenen Worte gehören, damit daß er sagt, „Es sei denn eure Gerechtigkeit besser | denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Seine Jünger aber sind es ja eben, denen er einen Antheil an dem Himmelreich gesichert hat, und die ihn also auch um sich desselben zu erfreuen, die Vorschriften zu beobachten haben, die er giebt. Laßt uns aber nicht übersehen, m. g. F., daß die Darbringung der Opfer auf dem Altar der besondern sowol als der gemeinsamen auch mit frommen Gebeten begleitet und also eine Handlung der Andacht 9–10 Vgl. Hebr. 10,1
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war; so wie auch ein jedes Opfer in dem göttlich Gesez vorgeschrieben, und also dessen Darbringung eine Handlung des Gehorsams war. Wer nun so mit rechter Andacht darbrachte, was ihm das Gesez darzubringen gebot bei dieser oder jener | Gelegenheit, sei es auf Veranlassung einer Schuld, die er auf sich geladen, oder einer göttlichen Wohlthat, die ihm zu Theil geworden, der hoffte auch im Vertrauen auf die Kraft des göttlichen Gesezes, dadurch des göttlichen Wohlgefallens in höherem Maaße theilhaft zu werden. Also von dem was zum Gehorsam gegen die Einsezungen Gottes gehört und besonders aber von dem worauf der Segen der gemeinsamen und öffentlichen Andacht beruht ist hier die Rede, und wir machen gewiß nur den richtigsten und natürlichsten Gebrauch von den Worten des Herrn, die wir eben wieder gehört haben, wenn wir uns fragen, an was für Bedingungen er denn in diesen Worten auch für uns den gesegneten Erfolg unserer gemeinsamen christlichen Andacht habe knüpfen wollen? – Um uns nun diese | Frage zu beantworten müssen wir zuerst einen allgemeinen Grundsaz in Betrachtung ziehen, den der Erlöser hier ausspricht, dann aber auch zweitens den besonderen Fall auf welchen er zunächst die Anwendung davon macht. I. Daß nun der Erlöser hier außer dem einzelnen Falle auch noch einen allgemeinen Grundsaz ausspricht, das möchte vielleicht nicht einem jeden sogleich einleuchten. Die Sache aber ist diese. Die Rede Christi stellt einen dar, welcher im Begriff ist seine Gabe auf dem Altar darzubringen, am Altar aber wird | ihm erinnerlich, ehe die heilige Handlung noch vollbracht ist, daß einer seiner Brüder etwas wider ihn habe. Lobt der Herr oder tadelt er den, welchem während er in einer Handlung der Andacht begriffen ist, ein solches Verhältniß aus seinem geselligen Leben in seiner Seele lebendig hervortritt? Offenbar ja tadelt er ihn nicht, sondern lobt ihn, indem er ihn ohne irgendeinen Tadel oder eine Beschränkung auszusprechen uns zum Muster aufstellt. Jener nun, wäre er nicht eingedenk geworden daß sein Bruder etwas wider ihn habe: so hätte er auch nicht umkehren können um sich mit ihm zu versöhnen, und ohne diese Versöhnung, das liegt ja unmittelbar in den Worten des Herrn, wäre die Gabe die der Opfernde darbringen wollte, keine wohlgefällige gewesen. Wäre es nun aber überhaupt Unrecht, wie bei Opfern und Gaben so bei allen heiligen Gebräuchen und Handlungen der Andacht noch an irgend etwas anderes zu denken, als an das was unmittelbar verrichtet wird: so hätte Christus den wol glüklich preisen können, dem nun gerade dieses | ein12 Worten] Worte
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fiel was ihm heilsam wurde; aber er hätte ihn nicht loben können, weil das Glück doch aus einem Unrecht entsprang; und er hätte ihn nicht zum Muster aufstellen können ohne zu sagen, Geschieht euch nun etwas ähnliches, so ist es freilich unrecht, daß ihr überall an etwas anderes denkt: ist es aber doch geschehen, nun so handelt wenigstens eben so. Da er aber nichts dergleichen hinzufügt: so dürfen wir mit vollkomner Sicherheit schließen, nicht etwa, daß er billige oder entschuldige, wenn wir uns bei heiligen Handlungen in fremdartigen Dingen zerstreuen – vielmehr ist dann die Andacht gar nicht mehr vorhanden, und also die Handlung selbst nichtig und leer. Das aber billigt er nicht nur sondern verlangt es, daß wir in solchen Gott besonders geweihten Stunden uns selbst in allen geistigen und sittlichen Lebensverhältnissen gegenwärtig sein, und daß wir uns aller innern Bewegungen unsres Gemüths welche dem göttlichen Urtheil unterworfen sind gern sollen bewußt werden. Daß er nun hieran den Segen und die Gottgefälligkeit der Andacht knüpft, das eben ist der allgemeine Grundsaz den der Erlöser hier aufstellt; und läßt uns recht darauf achten was für sehr gewöhnlichen und weit verbreiteten Vorstellungen über diese Sache er hiedurch entgegen tritt. Keines weges also tritt er der Meinung bei, m. g. F., daß unter denen welche sich versammeln an den Stätten der öffentlichen Gottesverehrung derjenige der wohlgefälligste sein werde vor Gott, der am vollkommensten sich selbst vergißt, alle noch so heiligen und bedeutungsvollen Verhältnisse | seines Lebens hinter sich wirft, um von allem andern gänzlich abgeschieden lediglich in dem Bewußtsein des höchsten Wesens, welchem er in Andacht nahen will, versunken zu bleiben. Keines weges ist seine Meinung diese daß unsern frommen Versammlungen mit Hintansezung aller solcher Ermahnungen oder Zurechtweisungen aus dem göttlichen Worte, welche uns schon durch ihren Inhalt unausbleiblich auf unsere Verhältnisse des Rechts, der Ordnung und der Liebe mit unsern Brüdern zurükführen müßten, so daß daraus solche Erinnerungen wie die in unserm Texte entstehen können, vielmehr allein und ausschließend einer solchen Betrachtung jener göttlichen Geheimnisse unseres Glaubens, und jener tiefsinnigen Lehren müßten gewidmet bleiben, welche Gedanken wie jene am wenigsten aufkommen lassen. Aber noch besser wird uns gerathen, wenn wir uns, wie ich glaube daß es sehr leicht ist auch davon überzeugen, daß der Erlöser | über diese Sache gar nicht anders habe denken können als er hier wirklich äußert. Wenn der Apostel Paulus von der natürlichen Erkenntniß Got13 uns] folgt )alles dessen was uns auf eine dem Urtheil* 27 aller] korr. aus alles ; folgt )dessen* 27 aller] korr. aus alles ; folgt )dessen* 37 Erlöser] folgt ))davon** 39 Paulus] Es folgt ein Einfügungszeichen ohne Einfügung; vermutlich war ein Bibelstellennachweis vorgesehen.
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tes redet, wozu die Fähigkeit und die Anleitung in der vernünftigen menschlichen Natur selbst ursprünglich liegt, und dort sagt, die Menschen vermöchten die ewige Kraft und Gottheit des höchsten Wesens in seinen Werken wahrzunehmen, was will er damit anders sagen, als daß für den, welcher nur dieser Anleitung des Besten und Edelsten in seiner Natur folgt, das Bewußtsein des Schöpfers mit der Erkenntniß seiner Werke unzertrennlich verbunden sei. Von einem Bewußtsein Gottes aber welches jedes andere Bewußt|sein ausschließt und ohne Verbindung mit irgend einem andern entstehend die Seele ganz allein erfüllt, von einem solchen weiß er nichts, muthet uns auch nicht zu ein solches zu haben, und weiß uns keine Anleitung zu geben wie wir zu einem solchen gelangen sollen durch unsere Natur, und keine Fähigkeit zu einem solchen kann er uns nachweisen, sonst würde er dessen an dieser Stelle wol erwähnt haben, sondern nur in und mit den Werken Gottes zugleich sollen wir auch der ewigen Kraft und Gottheit des Schöpfers inne werden. Auch wissen wir es ja aus mancherlei Erfahrungen, daß je mehr einer darauf aus geht, sich die Erkenntniß Gottes oder das Gefühl von Gott so zu vereinzeln daß alles andere in der Seele gänzlich zurüktrete um so mehr er in ein dumpfes und unfruchtbares Grübeln und Brüten geräth, das der lebendigen Gottseligkeit gar nicht förderlich ist. Aber freilich die Erkenntniß des natürlichen Menschen von Gott kann nicht anders als weit zurükbleiben hinter der Erkenntniß des erleuchteten Christen. Indeß, worauf beruht diese? Darauf daß seitdem uns die väterliche Liebe Gottes in seinem Sohne erschienen ist, wir nicht | nur in der Welt, in welche wir gesezt sind, die Spuren der göttlichen Allmacht und fürsorgenden Güte finden, sondern daß jeder, der durch den Glauben aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen ist, in der Tiefe seines so geweckten Gemüthes die väterliche Liebe Gottes der ihn zu sich gezogen hat empfindet und das Herniedersteigen des Vaters, der mit dem Sohne Wohnung machen will in unserem Herzen, mit inniger Dankbarkeit wahrnimmt. Wie also in jenem früheren Zustande das Bewußtsein von Gott unzertrennlich verbunden ist mit der aufmerksamen Betrachtung seiner Werke, so ist in der Seele des Christen das Bewußtsein Gottes unzertrennlich verbunden mit der inneren Wahrnehmung alles dessen was durch die Wirksamkeit des göttlichen | Geistes in ihm ist aufgeregt und befestiget worden. Und wie der natürliche Mensch keine andere Fähigkeit hat sich Gottes bewußt zu werden als mit seinen Werken zugleich, so hat der begnadigte Mensch außerdem immer noch die sich des himmlischen Vaters auch 14 dessen] folgt ))in unserm Bewußtsein anzu-** 2–4 Vgl. Röm 1,20
27–29 Vgl. Joh 5,24
35 verbunden] folgt ))und** 31–32 Vgl. Joh 14,23
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bewußt zu werden in der Erfahrung von der Liebe des Sohnes und von den Gnadenwirkungen des göttlichen Geistes. Diese Erfahrung aber, m. g. F., haben wir ja jeder für sich und Alle gemeinsam nirgend anders als in der Gesammtheit unseres Lebens. Um so lebendiger also wird unsere Andacht sein und um so fruchtbarer unser frommes Versunkensein in die Barmherzigkeit und Güte Gottes im Gegensaz jenes unfruchtbaren und dumpfen Brütens, je klarer und deutlicher unser ganzes Leben vor uns liegt, | je gegenwärtiger uns vor Augen steht, was wir in dem Reiche Gottes empfangen sowol als leisten. Aber freilich müssen wir um so auf Gott geführt zu werden nicht wähnen es sei das unsrige, sondern wir müssen fühlen, daß wir es nur haben vermöge des Beistandes, den uns der göttliche Geist geleistet hat und fortfährt zu leisten. Dazu aber genügt nicht daß wir uns etwa nur im allgemeinen auf unbestimmte Weise der vielbeklagten Unfähigkeit des menschlichen Geistes und der Sündhaftigkeit der Neigungen bewußt werden; sondern von uns selbst und unserer besonderen Beschaffenheit muß die Rede sein in unserm Bewußtsein, wenn der Fall eintreten soll den der Erlöser anführt, mag nun die andächtige Beschäftigung welche wir an die Stelle des Opfers und der Darbringung der Gabe zu sezen haben sein welche sie wolle sei es das stille Gebet, die einsame Selbstprüfung oder seien es die gemeinsamen | gottesdienstlichen Übungen. Denn aus dem allgemeinen Bewußtsein der menschlichen Sündhaftigkeit und des Verderbens konnte das nicht her|vorgehen, daß einer der seine Gabe darbringen wollte, eingedenk wurde, woher irgend einer seiner Brüder etwas wider ihn habe könne; sondern dazu gehört eine klare Vergegenwärtigung des ganzen Lebens. Diese also sagt der Erlöser voraus beim Darbringen aller Opfer und Gaben; und daraus sehen wir, er rechnet zum rechten Wesen der Andacht wie sie bei seinen Jüngern sein soll diese unmittelbare Richtung auf das eigene Leben. Daher auch bei der öffentlichen Lehre aus dem göttlichen Worte jeder selbst es sein muß, der von dem was nur allgemein gesagt werden kann die besondere Anwendung macht auf sich selbst, die so kein Anderer machen kann. Wie könnte uns auch sonst, was an diesemOrtevorkommenkann,dieallgemeinenBetrachtungenüberdiehülfreiche Gnade und Barmherzigkeit Gottes, die heiligen Lehren unseres Glaubens und die tiefen Geheimnisse desselben, wie könnte uns dies alles wirklich nicht nur Geist sondern auch Kraft des eigenen Lebens werden – und davon muß doch aller Zuwachs der Gottseligkeit ausgehen – wenn nicht unser ganzes Leben uns bei solchen Betrachtungen | gegenwärtig wird? In einem solchen sich selbst bewußten Gemüth kann allein aus den Stunden der gemeinsamen Andacht die 31 sein] folgt )soll* ren – **
36 könnte] folgt ))wir sie unmittelbar in unser Leben einfüh-
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Frucht erwachsen, welche uns der Besiz des Wesens eigentlich eintragen soll, in welchen uns der neue Bund gesezt hat, statt des Schattens, mit welchem der alte sich begnügen mußte. Denn auf diese Weise bilden sich in der Seele bei jeder Veranlassung von selbst die Hinweisungen auf das, was jedem Einzelnen vorzüglich Noth thut; so gedeiht das allgemeine Wort zu einem besondern und eigenthümlichen Leben, so gestaltet sich die allgemeine Verheißung daß der Herr da sei wo wir in seinem Namen versammelt sind zu einem bestimmten und sich nie verläugnenden Segen; so wendet sich die neu gestärkte Zuversicht zu der göttlichen | Gnade unmittelbar auf das Werk, was einem jeden obliegt, und in dessen Umfang wir uns in jedem Augenblik auf eine bestimmte Weise jeder seiner Fähigkeiten und seiner Gebrechen bewußt werden müssen. Je mehr die Seele so ihrer selbst eingedenk wird in den heiligen Stunden der Andacht, desto herrlichere Früchte tragen sie, desto wohlgefälliger steigt das Gebet der Christen zu dem Herrn hinauf, desto wohlgefälliger ist jede Gabe der Demüthigung und der Selbsterkenntniß, welche sie in einem solchen Zustande freilich nicht ursprünglich darbringen, sondern vielmehr selbst empfangen durch den Beistand des göttlichen Geistes, aber sie doch gleich dem Geber wieder heiligen und desto mehr gehen sie gerechtfertigt und gestärkt durch die Kraft des Wortes | in das Leben zurük. II. Aber laßt uns nun zweitens m. g. F., nächst dem allgemeinen Grundsaze selbst auch die besondere Anwendung betrachten, welche der Erlöser in unserem Text von jenem Grundsaze macht. Indem er nun sagt „wenn du deine Gabe opfern willst auf dem Altar, und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich hat, so kehre schnell um und versöhne dich mit ihm, und dann komm und opfere deine Gabe“: so sehen wir leicht, hier ist nicht die Rede von unserer eigenen Versöhnlichkeit, wenn etwa wir etwas haben gegen einen unserer Brüder von dem wir uns gekränkt oder beeinträchtigt | glauben. Denn wir wissen schon, daß dafür Christus nichts anders vorschreibt, als ganz einfach das Vergeben. Und dazu ermuntern wir uns mit Recht oftmals und sprechen einander zu, daß doch jeder vergeben wolle, wie Gott uns allen um Christi willen viel tausendmal mehr vergiebt, ganz besonders aber thun wir dies wenn wir zu dem heiligen Mahl der Liebe uns bereiten, bei welchem diese brüderliche Liebe der Khristen unter einander vorzüglich ungetrübt und in vollem Glanz vor Gott erscheinen soll. Hier aber ist allein davon die Rede, wenn einer unserer Brüder etwas hat in seinem Herzen wider uns. 8 und] folgt ))erregen-** 7–8 Vgl. Mt 18,20
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Und das könnte freilich wohl eine harte Rede scheinen, daß uns dies gleichsam zu einer Unterbrechung unserer Andacht gedeihen soll. Denn wie oft geschieht | es nicht und wie leicht kann es nicht geschehen, daß einer unserer Brüder etwas wider uns hat ohne all unser Verschulden. Aber der Erlöser bezeichnet das gar nicht in seiner Rede, ob auch von Seiten dessen, der seine Gabe darbringen will, eine Verschuldung sei bei dieser Widrigkeit seines Bruders oder nicht, sondern nur, so du deß eingedenk wirst, ganz einfach, verhalte es sich übrigens wie es wolle. Wissen wir nun nichts davon, daß unser Nächster etwas wider uns hat, nun dann können wir auch das nicht thun, daß wir hingehen und uns mit ihm versöhnen, und die Vorschrift des Erlösers findet dann keine Anwendung, und dann haben wir auch, wenn wir nichts verschuldet haben, nichts zu thun. Wissen wir es aber, so sollen wir eben deshalb weil wir [2. Teilstück] | uns unseres ganzen Lebens vor Gott bewußt werden sollen, auch dessen eingedenk sein; und werden wir dessen eingedenk so sollen wir uns pünktlich halten an die Vorschrift des Herrn. Das pünktliche aber ist auch hier wie oftmals nicht das buchstäbliche sondern, wie denn der Buchstabe allein nur tödtet und nur der Geist lebendig macht, ist es der Geist dieser Vorschrift, in den wir eindringen müssen. Wie nämlich der Erlöser wußte die Zeit sei nahe daß in jenem Tempel nicht mehr würde angebetet werden: so mußte auch sein Wille sein, daß seine Jünger diese Vorschrift anwenden sollten auch in solcher späteren Zeit. Wie es nun jezt keinen Altar Gottes mehr giebt, wo wie in dem alten Bunde leibliche Gaben dargebracht werden: so haben wir auch keine solche äußerlichen Handlungen der Andacht, wobei wir es mit der Unterbrechung müßten buchstäblich nehmen. Sondern die Rede des Erlösers will uns nur einschärfen, daß, wovon eben hier besonders die Rede ist, unsere öffentliche und gemeinsame Andacht ihren Zweck nicht erreicht und also auch keinen Werth hat, wenn wir nicht immer auf alle Weise suchen den Bruder, der etwas wider uns hat zu versöhnen. Wie genau aber dieses beides zusammenhängt, und wie wenig also die Vorschrift des Erlösers willkührlich ist, sondern tief in der Natur der Sache gegründet, davon m. gel. Fr. werdet ihr euch leicht überzeugen. Im alten Bunde brachte jeder aus dem Volke Gaben und Opfer dar für sich besonders, und nur die Priester opferten für das ganze Volk. Bei uns giebt es einen solchen Unterschied nicht denn wir sind das priesterliche Volk. Jede Gabe eines Jeden von welcher Art sie sei 19 tödtet] todtet 19–20 Vgl. 2Kor 3,6
21–22 Vgl. Joh 4,21
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wird dargebracht für alle. Sei es die stille häusliche Andacht, sei es daß wir uns öffentlich versammeln um uns | gemeinsam zu stärken in der christlichen Gottseligkeit: immer sollen wir uns einander vertreten mit Gebet und Fürbitte, immer sollen wir die Förderung des göttlichen Wortes in unserem Herzen nicht ansehen als eine Angelegenheit des Einzelnen, sondern als die gemeinsame Angelegenheit der Christenheit. Nicht steht also jeder vor Gott sich selbst, sondern jeder für alle und alle für jeden. Offenbar aber können wir nicht aller wirklich eingedenk sein, sondern nur derer mit denen wir im Leben irgendwie verbunden sind. Kann aber, m. g. F., Wahrheit sein und Treue in dieser Gemeinsamkeit der Andacht und des Gebetes, wenn wir unbesorgt bleiben können und gleichgültig bei dem Bewußtsein, daß die Gemeinschaft auf welcher aller Segen ruht wirklich gestört ist? Und ist sie etwa nicht gestört, wenn wir mit Grund besorgen müssen, daß einer unter unsern Brüdern etwas wider uns habe in seinem Herzen, so daß | er lieber nicht möchte in einer innigen Gemeinschaft des Glaubens und Gebetes mit uns stehen, weil wir ihm entfremdet sind? ist sie nicht gestört, wenn wir wissen, daß einer den wir eigentlich mit zu vertreten hätten von unserer geistigen Theilnahme an ihm mehr übles erwartet als gutes? Täuschen wir uns nicht darüber! es giebt keine wahrhaft gemeinsame Andacht als nur so weit eine ungeheuchelte Vereinigung der Herzen zur christlichen Frömmigkeit sich erstrecke; als nur soweit auf dem ungestörten Bestande des brüderlichen Vereins, der unter allen Bekennern des Herrn stattfinden soll, daß jeder sich freut wenn er bedenkt, daß auch der seiner gedacht hat in seiner frommen Betrachtung und in seinem Gebet, dessen Leben auf das seinige wirkt, und mit dem er in einer be|stimmten Gemeinschaft steht.
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c. Nachschrift [1. Teilstück] Predigt am sechsten Sonntage nach Trinitatis 1824.
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Text. Matthäi V, 23–24. Darum wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eindenken, daß dein Bruder etwas wider dich habe; so laß allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder; und als dann komm und opfere deine Gabe. 8 jeden.] jeden; 23 soweit] Ende von Schleiermachers Überarbeitung der AndraeVorlage; vgl. unten S. 495, Z. 10. Es folgt lediglich noch eine Absatzeinweisung auf Bl. 89v; vgl. unten S. 496, Z. 2. 24 stattfinden] Stattfinden 28 Predigt ... 1824.] Ergänzung aus SAr 88, Bl. 51r
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M. a. F., Wir haben keine Altäre mehr, auf welchen Gaben und Opfer dargebracht werden. Seitdem der Schatten dem Wesen Plaz gemacht hat und wir als Mitglieder des neuen Bundes zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit geleitet sind, ist alles was den Opfern | ähnlich ist aus unseren Gottesdiensten verschwunden, indem wir nur Ein Opfer erkennen und Eine Gabe, welche Gott wohlgefällig ist dargebracht worden, als nämlich der Hohepriester des neuen Bundes sich selbst einmal geopfert hat am Kreuze. Was sollen wir also für eine Anwendung machen von einer Vorschrift unseres Erlösers, die nur denen gegeben zu sein scheint, welche auf dem Altar ihre Opfer und die Gaben des Dankes darbringen wollten? Uns sind sie gegeben auch diese Regeln des Herrn, denn er beginnet die ganze Reihe Folge derselben, wohin auch die verlesenen Worte gehören, damit daß er sagt, „es sei denn eure Gerechtigkeit besser | denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Seine Jünger nun sind es, denen er gesichert hat einen Antheil an dem Himmelreich, und welche also auch um sich desselben zu erfreuen, die Vorschriften zu beobachten haben, die er giebt. Laßt uns aber nicht vergessen, m. g. F., das Darbringen der Opfer auf dem Altar war begleitet mit frommen Gebeten, und war also eine Handlung der Andacht, das Darbringen dieser Opfer war vorgeschrieben in dem göttlichen Gesez, und war also eine Handlung des Gehorsams, und wer da darbrachte, was ihm das Gesez darzubringen gebot bei dieser oder jener | Gelegenheit, sei es auf Veranlassung einer Schuld, die er auf sich geladen, oder einer göttlichen Wohlthat, die ihm geworden, der hoffte im Vertrauen auf die Kraft des göttlichen Gesezes, dadurch des göttlichen Wohlgefallens auch würdig zu werden. Von dem Gehorsam gegen die Einsezungen Gottes und besonders von der gemeinsamen und öffentlichen Andacht ist hier die Rede, und so laßt uns denn in näherer Erwägung der Worte des Herrn, die wir mit einander gehört haben, fragen, was er uns denn in diesen Worten auch ins besondere in Beziehung auf unsere gemeinsame khristliche Andacht lehren wollte? Wir finden aber | zuerst bei näherer Betrachtung, daß unser Erlöser hier einen allgemeinen Grundsaz ausspricht, dann aber auch zweitens, daß er von demselben eine besondere Anwendung macht. Auf Beides laßt uns nun in der folgenden Betrachtung mit einander Rüksicht nehmen.
32 Andacht lehren] so SAr 88, Bl. 53r; Textzeuge: Andacht hat lehren 2–3 Vgl. Hebr. 10,1
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I. Wenn ich sage der Erlöser spricht über das rechte Wesen der khristlichen Andacht in dieser seiner Vorschrift einen allgemeinen Grundsaz aus, so möchte dies vielleicht nicht einem jeden sogleich einleuchten. Die Sache aber ist die. Der Herr denkt sich einen, der im Begriff ist seine Gabe auf dem Altar darzubringen, am Altar aber wird | er, ehe die heilige Handlung noch vollbracht ist, inne, daß einer seiner Brüder etwas wider ihn habe. Lobt der Herr oder tadelt er den, welchem, indem er in einer Handlung der Andacht begriffen ist, dies in seiner Seele lebendig wird? Offenbar ja tadelt er ihn nicht, sondern er lobt ihn. Denn wäre er nicht eingedenk geworden daß sein Bruder etwas wider ihn habe, und nicht umgekehrt und hätte sich mit ihm versöhnt, so wäre die Gabe, die er darbringen wollte, keine wohlgefällige gewesen. Lobt nun der Herr wenn der, der eine Gabe darbringen soll, eingedenk wird in seiner Seele, daß sein Bruder etwas wider ihn | hat, wird er nicht auf dieselbe Weise auch loben müssen, wenn wir mitten in den Handlungen der Andacht eingedenk werden alles dessen[,] was es auch sei, was sich auf die geistigen Verhältnisse unseres Lebens bezieht? Und das ist dann der allgemeine Grundsaz, den der Erlöser über das rechte Wesen der khristlichen Andacht in denselben Worten ausspricht. Keines weges also ist er der Meinung, m. g. F., daß wenn wir uns versammeln an den Stätten der öffentlichen Gottesverehrung, derjenige am wohlgefälligsten sein werde, der am meisten sich selbst vergißt, der da meint, er müsse nun alle Verhältnisse | seines Lebens hinter sich werfen und ganz allein in das Bewußtsein des höchsten Wesens, welchem er in Andacht nahen will, versunken sein. Keines weges ist seiner Meinung nach derjenige der Frömmste, welcher glaubt in den Stunden der Andacht und der andächtigen Betrachtung alle Verhältnisse des Rechts, der Ordnung, der Liebe in seinem ganzen Wesen vergessen zu müssen um sich allein in die Betrachtung der göttlichen Geheimnisse unseres Glaubens, der hohen Lehren und Verheißungen des göttlichen Wortes zu vertiefen. Daß der Herr auch dieser Meinung nicht habe sein können, m. g. F., davon | können wir uns sehr leicht überzeugen. Wenn der Apostel Paulus in seinem Briefe an die Römer von der natürlichen Erkenntniß Gottes redet, wozu die Fähigkeit und die Anleitung in der menschlichen Natur selbst liegt, und dort sagt, die Menschen könnten an den göttlichen Werken wahrnehmen die ewige Kraft und Gottheit des höchsten Wesens, was will er damit anders sa19 dann] anders SM-DLA 58.368, Bl. 3v; SAr 88, Bl. 54r: eben 29 Wesen] so SAr 88, Bl. 54v; Textzeuge: Leben 38 Wesens] Wesens in seinen Werken 36–38 Vgl. Röm 1,20
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gen, als daß für den, welcher nur dieser Anleitung des Besten und Edelsten in seiner Natur folgt, das Bewußtsein des Schöpfers mit der Erkenntniß seiner Werke unzertrennlich verbunden sei. Von einem Bewußtsein Gottes also, welches jedes andere Bewußt|sein ausschließt und die Seele ganz allein erfüllt, weiß er nichts, und weiß uns keine Anleitung zu geben oder nachzuweisen in unserer Natur, und keine Fähigkeit desselben in unserem Bewußtsein anzudeuten, sondern in und mit den Werken Gottes sollen wir uns zugleich der ewigen Kraft und Gottheit des Schöpfers bewußt werden. Aber freilich die natürliche Erkenntniß des Menschen von Gott sie bleibt weit zurük hinter der Erkenntniß des erleuchteten Khristen. Aber worauf beruht diese? Darauf daß uns die väterliche Liebe Gottes erschienen ist in seinem Sohne, darauf daß wir nicht | nur in der Welt, in welche wir gesezt sind, die Spuren der göttlichen Allmacht finden, sondern in der Tiefe unserer eigenen Seele, in dem was die göttliche Gnade in uns selbst bewirkt, die Liebe Gottes die sich uns verkündigt, das Herniedersteigen des Vaters, der mit dem Sohne Wohnung machen will in unserem Herzen, mit inniger Dankbarkeit wahrnehmen. Wie also dort das Bewußtsein Gottes verbunden ist und unzertrennlich von dem Bewußtsein seiner Werke, so ist in der Seele des Khristen das Bewußtsein Gottes verbunden und unzertrennlich von dem Bewußtsein der Gnadenwirkungen des göttlichen | Geistes in der menschlichen Seele. Und wie der natürliche Mensch keine andere Fähigkeit hat sich Gottes bewußt zu werden als mit seinen Werken zugleich, so der begnadigte Mensch keine andere als sich des himmlischen Vaters bewußt zu werden in Erfahrung der Liebe des Sohnes und in den Gnadenwirkungen des göttlichen Geistes. Diese aber, m. g. F., haben wir ja nirgend anders als in der Gesammtheit unseres Lebens. Um so lebendiger also wird unsere Andacht sein und unser frommes Versunkensein in die Barmherzigkeit und Güte Gottes, je klarer und deutlicher unser ganzes Leben vor uns liegt, | je gegenwärtiger uns sind in den Gedanken unserer Seele alle Wirkungen der göttlichen Gnade, je mehr wir uns bewußt sind des Beistandes, den uns der göttliche Geist geleistet hat und fortfährt zu leisten. Und eben so wenig, m. g. F., genügt dem, was der Erlöser hier sagt, wenn wir etwa meinen zur Erwekung und zur rechten Unterhaltung unserer khristlichen Andacht sei auch in dieser Beziehung genug wenn wir uns nur ganz im Allgemeinen der Sündhaftigkeit der Menschen und unserer eigenen bewußt sind, und also mit einem nach der göttlichen Gnade verlangenden Herzen kommen, dabei aber meinen, 25 Erfahrung] Erfah 16–17 Vgl. Joh 14,23
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besser | sei es mit diesem allgemeinen Bewußtsein sich zu begnügen als das Einzelne unseres Lebens in der Gegenwart und in der Vergangenheit vor sich zu haben. Daß der Erlöser umgekehrt gedacht habe, und eben die lebendige Vergegenwärtigung unseres gesamten geistigen Zustandes im Sinne gehabt, nicht nur die allgemeine Sündhaftigkeit, sondern unsere einzelnen Fehler und Gebrechen und die Art wie sie uns im Einzelnen in unserem Leben erscheinen, das sehen wir aus dem einzelen Beispiel, welches er nachher anführt. Denn aus dem allgemeinen Bewußtsein der Sündhaftigkeit und des Verderbens konnte das nicht her|vorgehen, daß einer der seine Gabe darbringen wollte, eingedenk wurde, wie irgend einer seiner Brüder etwas wider ihn haben könne; dazu gehört eben jene Vergegenwärtigung des ganzen Lebens, und diese ist eben, die der Erlöser fordert. O wie könnten wir auch sonst, was es sein mag, mögen es die allgemeinen Betrachtungen sein über die hülfreiche Gnade und die Barmherzigkeit Gottes, oder mögen es die heiligen Lehren unseres Glaubens sein und die tiefen Geheimnisse desselben, wie könnten wir sie unmittelbar in unser Leben einführen – und von da muß doch aller Zuwachs der Gottseligkeit kommen – wenn nicht unser ganzes Leben uns bei solchen Betrachtungen | gegenwärtig ist? In einem solchen sich selbst bewußten Gemüth kann allein aus den Stunden der gemeinsamen Andacht die Frucht entstehen, die der Besiz des Wesens, welches uns der neue Bund sichert, statt des Schattens, den der alte hatte, uns eigentlich zu verschaffen geneiget ist. Denn da bilden sich bei jeder Veranlassung in der Seele von selbst die Hinweisungen auf das, was jedem Einzelnen vorzüglich Noth thut, da gedeiht das allgemeine Wort zu einem besondern und eigenthümlichen Leben, da gestaltet sich die allgemeine Verheißung zu einer bestimmten und erregenden Hoffnung, da wendet sich die Zuversicht zu der göttlichen | Gnade unmittelbar auf das Werk, was einem jeden obliegt, und in dessen Umfang er sich in jedem Augenblik auf eine bestimmte Weise seiner Fähigkeiten und seiner Gebrechen bewußt wird. Je mehr die Seele so eingedenk wird in den heiligen Stunden der Andacht, desto herrlichere Früchte tragen sie, desto wohlgefälliger steigt das Gebet der Khristen zu dem Herrn hinauf, desto wohlgefälliger ist jede Gabe der Demüthigung und der Selbsterkenntniß, welche sie in einem solchen Zustande nicht darbringen, sondern empfangen durch den Beistand des göttlichen Geistes, und desto mehr gehen sie gerechtfertigt und gestärkt durch die Kraft des Wortes | in das Leben zurük.
22 Frucht] so SM-DLA 58.368, Bl. 7v; SAr 88, Bl. 57v; Textzeuge: Furcht
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II. Aber laßt uns nun zweitens m. g. F., von dem allgemeinen Grundsaz aus auch die besondere Anwendung verfolgen, welche der Erlöser in unserem Text von jenem Grundsaz macht. Er sagt „wenn du deine Gabe opfern willst auf dem Altar, und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich hat, so kehre schnell um und versöhne dich mit ihm, und dann komm und opfere deine Gabe.“ Hier, m. g. F., ist nicht die Rede von unserer eigenen Versöhnlichkeit, falls wir etwas haben gegen einen unserer Brüder in unserem Herzen, und uns von ihm gekränkt, beeinträchtigt | oder beleidigt glauben. Auch zu dieser ermuntern wir uns mit Recht, und ermahnen uns unter einander zu vergeben, wie Gott uns allen um Khristi willen viel tausendmal mehr vergiebt, oft und besonders auch, wenn wir zu dem heiligen Mahl der Liebe uns bereiten, bei welchem eben diese brüderliche Liebe der Khristen unter einander ungetrübt und rein vor Gott erscheinen soll. Hier ist die Rede davon, wenn einer unserer Brüder etwas hat in seinem Herzen wider uns. Und das könnte freilich wohl eine harte Rede scheinen, daß uns dies zu einer solchen Unterbrechung unserer Andacht gedeihen soll. Denn wie oft geschieht | es nicht und wie leicht kann es nicht geschehen, daß einer unserer Brüder etwas wider uns hat ohne all unser Verschulden. Aber der Erlöser bezeichnet das nicht in seiner Rede, ob auch von Seiten dessen, der seine Gabe darbringen will, ein Verschulden sei oder nicht, sondern nur, so du deß eingedenk wirst, verhalte es sich übrigens wie es wolle. Wissen wir nun nichts davon, daß unser Nächster etwas wider uns hat, nun dann können wir auch das nicht thun, daß wir hingehen und uns mit ihm versöhnen, und die Vorschrift des Erlösers findet keine Anwendung, sondern erledigt sich von selbst. Wissen wir es aber, so sollen wir eben deshalb weil wir [2. Teilstück:] | uns unseres ganzen Lebens vor Gott bewußt sein sollen, auch dessen eingedenk sein; und werden wir dessen eingedenk so sollen wir uns pünktlich halten an die Vorschrift des Herrn. Es wird uns aber auch, m. g. F., in Beziehung hierauf nicht schwer sein den Grund zu dieser Vorschrift des Herrn einzusehen. Es ist hier nämlich wie es keinen Altar Gottes gab in dem alten Bunde als in dem heiligen Umkreise des Tempels, und dieser der öffentlichste Ort war für die Versammlung der Frommen, so ist auch hier besonders die Rede von der öffentlichen und gemeinsamen Andacht, und auf diese vorzüglich die Vorschrift des Herrn zu beziehen. So oft wir aber uns versammeln da wo wir | gemeinsam uns stärken in der khristlichen Gottseligkeit, so sollen wir einander vertreten mit Gebet und Fürbitte; so sollen wir die Förderung des göttlichen Wortes in unserem Herzen nicht ansehen als eine Angelegenheit des Einzelnen, sondern als die gemeinsame Angelegenheit der Khristenheit. Nicht steht jeder vor Gott sich selbst, sondern jeder
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für alle und alle für jeden. Kann aber, m. g. F., Wahrheit sein und Treue in diesem gemeinsamen Nachdenken, in diesen gemeinsamen Betrachtungen, in diesen gemeinsamen Fürbitten und Danksagungen, wenn wir besorgen müssen, daß einer unter unsern Brüdern etwas wider uns habe in seinem Herzen, so daß | er nicht möchte in einer solchen Gemeinschaft des Glaubens und des Gebetes mit uns stehen, so daß er lieber von uns sich trennete in dieser heiligen Beziehung als sich mit uns vereinigte? Nein, m. g. F., der rechte Segen der gemeinsamen Andacht der beruht auf einer ungeheuchelten Vereinigung aller Herzen zur khristlichen Frömmigkeit vor Gott, auf dem ungestörten Bestande des brüderlichen Vereins, der unter allen Bekennern des Herrn Statt finden soll, daß jeder sich freut wenn er bedenkt, daß auch der seiner gedacht hat in seiner frommen Betrachtung und in seinem Gebet, dessen Leben auf das seinige wirkt, und mit dem er in einer be|stimmten Gemeinschaft steht. Diese Zuversicht und diese Freudigkeit kann nur da sein, wo keiner etwas hat wider den andern. Und so kann es nicht anders sein, der Segen der Andacht muß uns verkümmert, die Freudigkeit des Gemüths muß uns gestört, die Erhebung des Herzens in gemeinsamer Andacht muß uns entkräftet werden, wenn wir dessen eingedenk werden, daß einer unserer Brüder, für den wir auch wünschen den immer reicheren Genuß der Segnungen des Khristenthums, den wir einschließen in unser Gebet und in unsere Fürbitte, daß der etwas wider uns hat in seinem Herzen, weswegen er diese lieber möchte | von sich stoßen als annehmen. Darum werden unsere Zusammenkünfte nur dann vor Gott recht wohlgefällig sein und mit reichem Segen von ihm gekrönt, wenn solche Widerwärtigkeiten nicht sind unter den Khristen, aufgehoben sollen sie sein jedesmal, wenn der Tag kommt, an welchem wir uns auf’s neue verbinden im Glauben an denselben Erlöser, zu derselben Treue in seinem Werke, zu derselben Erfahrung der Verheißungen, die durch Khristum ausgehen von dem Throne des Höchsten. Nicht genug, m. g. F., können wir diese Ermahnung und Vorschrift des Herrn zu Herzen nehmen, und wenn wir uns fragen, warum nicht in solchem Grade wie | wir hoffen dürfen, da das Wort Gottes in seiner Lauterkeit und Reinheit unter uns verkündigt wird, unsere gemeinsamen Zusammenkünfte von Gott gesegnet sind? Nicht ein kleiner Theil der Schuld fällt darauf, daß wir vorher nicht abklären unsere brüderliche Liebe von allem, was sei es klein oder groß, sie in dem Laufe des Lebens stört, daß wir vorher nicht, könnten wir uns 6 des Gebetes] des Ergänzung aus SM-DLA 58.368, Bl. 10v; SAr 88, Bl. 60v 20 wünschen] wünschen, 25 sein] Ergänzung aus SM-DLA 58.368, Bl. 11v; SAr 88, Bl. 61r 34 in] so SM-DLA 58.368, Bl. 12r; SAr 88, Bl. 61v, Textzeuge: mit 16–17 uns auch] so SM-DLA 58.368, Bl. 12r; SAr 88, Bl. 62r; Textzeuge: auch uns
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auch noch so rein und unschuldig dünken, das Herz jedes Bruders zu erweichen suchen in seinem Innern, der etwas wider uns hat. Ich kann mich aber nicht enthalten von jener besondern Anwendung, die der Herr macht von jenem allgemeinen Grundsaz, hier | noch eine besondere zu machen. Denn freilich unsere Andacht wird nur um so gesegneter sein, je deutlicher uns vor Gott unser ganzes Inneres klar ist, und unser ganzes Leben vor Augen liegt, aber doch dürfen wir das nicht leugnen, daß nicht alle Verhältnisse desselben in einer gleich nahen Beziehung stehen zu den Handlungen und zu der Vereinigung unserer Andacht, und daß es uns nicht gleich nahe liegt alles dessen eingedenk zu sein, was unser Bruder wider uns haben kann. Wir leben aber jezt in einer Zeit, wo die Art und Weise der Einrichtung unserer öffentlichen Gottesverehrung und unserer khristlichen Andacht wie zur großen Freude aller | derer, denen es Ernst ist um das Heil der khristlichen Kirche, ein Gegenstand geworden ist tiefen Nachdenkens und genauerer Erwägung, so auch, denn das bringt die menschliche Schwachheit mit sich, giebt dies Anlaß zu mancherlei Auseinandertreten der Ansichten und dadurch zu mancherlei Kränkungen des Gemüths und zu störenden Reibungen. Soll nun das, m. g. F., was zu einem Vereinigungsmittel dienen soll unserer Herzen vor Gott, eben eine Veranlassung dazu werden, daß Widerwärtigkeiten des Einen gegen den Andern entstehen? Soll es uns mehr darauf ankommen, daß etwas Vergängliches und Mangel|haftes unseren Anordnungen entzogen wird als darauf, daß wir hartnäkig auf demjenigen bestehen, was jedem Einzelnen das Beste zu sein dünkt? Sollen wir es darauf anlegen Kränkungen der Gemüther, Störungen der ruhigen gemeinsamen Erhebung zu Gott, Trübungen der khristlichen Freudigkeit, Spaltungen in der khristlichen Gemeine zu erregen? Wie große Freude auch der Einzelne daran haben kann, wenn das was nach seiner Ueberzeugung das Bessere ist, sich geltend zu machen weiß in der Gemeine der Khristen, o wie könnte er hinzutreten zu dem Altar des Herrn, um diese neue schöne Gabe darzubringen, wenn er dabei denken müßte, daß | er, sei es durch einen heftigen Streit oder durch einen lebhaften Widerspruch oder sonst wie, eine Ursach davon gewesen ist, daß Einer oder mehrere unter seinen Brüdern etwas wider ihn haben in ihrem Herzen, oder wenn es auch gewesen wäre ohne seine Schuld, daß er doch ohne seine Schuld nicht lieber den unnüzen Widerspruch und den verderblichen Streit fahren gelassen hat und danach gestrebt, das Band der Liebe fester zu knüpfen und die Einheit des Geistes immer mehr zu stärken. Nur so versammeln wir uns auf eine Gott wohlgefällige Weise, und gehören mit reinem Sinne zu der khristlichen Kirche | und tragen 11–19 Zum Agendenstreit vgl. oben Historische Einführung, Punkt 2 und 3
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unseres Theils alles, was in unseren Kräften steht, dazu bei, diese würdige Braut des Erlösers rein und unsträflich vor ihm darzustellen. So soll jeder thun was er vermag, damit durch den Ernst der Gottes Verehrung durch das Streben nach dem Besten die Gemüther einander entgegenkommen, und damit nicht das Band der Liebe gelöst werde. Und in diesem Sinne laßt uns das Wort des Erlösers wiederholen, „so du deine Gabe opfern willst auf dem Altar und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich hat, so gehe erst hin und versöhne dich mit ihm, und dann komm und opfere deine Gabe“. | Khristliche Gemüther sollen nie anhalten im Gebet und in der Danksagung und in der Betrachtung des göttlichen Wortes vor Gott dem Herrn. Vereinigt in einem Glauben sollen wir vor ihn treten, die Wahrheit sollen wir suchen in Liebe, der Vollkommenheit sollen wir nachtrachten, aber nicht anders als in Liebe und Frieden, denn das ist der schönste Schmuk der khristlichen Kirche. Und was auf diesem Wege gedeiht ist Gott gefällig, und darauf können wir Hoffnungen gründen für uns selbst und für die Geschlechter, die nach uns kommen werden. Darum, m. g. F., laßt uns bedenken wie wahr das Wort des Apo|stels ist, daß alles Wissen Stükwerk ist, das Stükwerk wird aufhören, wenn das Vollkommne erscheinen wird. Was aber jezt schon nicht Stükwerk sein soll, sondern ganz und vollkommen und rein, das ist die Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist, und die da bleiben wird, wenn die Erkenntniß aufhört und wenn die Weissagung aufhört und wenn der Glaube aufhört. Amen.
1 bei, diese] bei. Diese 18–20 Vgl. 1Kor 13,9–10
21–23 Vgl. 1Kor 13,8; Kol 3,14
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Andere Zeugen: Besonderheiten:
7. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Mt 14,28–31 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 334–348 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 522–534; 21844, S. 573–585 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 426–436 b. Nachschrift; SAr 109, Bl. 17r–19v; Sobbe (vermutl. Andrae in Sobbe bzw. Parallele der verloren gegangenen Druckvorlage) Texteditionen: Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers 334
Von dem Wankelmuthe in dem, was aus Liebe zum Erlöser geschieht. Text.
Matth. 14, V. 28–31.
M. a. F. In Christo Jesu gilt nichts, als der Glaube, der durch die Liebe thätig ist. Diese Beiden aber sind auch auf das Innigste mit einander verbunden. Wenn der Glaube die Liebe gar nicht hervorbringt, so ist er todt; wenn die Liebe schwach ist, wenn es ihr mangelt an Kraft, Innigkeit, und Ausdauer, so kann der Grund in nichts Anderem liegen, als darin, daß der Glaube, aus dem sie hervorgehen muß, nicht stark und kräftig ist. Aber auch der Glaube seinerseits kommt aus der Predigt, und wächst in der Gemeinschaft, und Beide sind das Werk der Liebe. So sind Glaube und Liebe beide durch einander bedingt, und sollen mit und durch einander wachsen. Aber die menschliche Gebrechlichkeit zeigt uns mehr oder weniger die Unvollkommenheit von Beiden. Diese finden wir auch in dem Wankelmuthe und der Unsicherheit des Apostels, die sich in dem Gelesenen darstellen. Und wenn nun Alles, was geschrieben ist in den heiligen Büchern, uns zur Lehre 4–5 Vgl. Gal 5,6
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angeführt, ich voraussetzen kann, daß das Uebrige sich von selbst euerem Gedächtnisse darbieten wird, ein sehr klares Beispiel dar. Die Jünger befanden sich nämlich in der Dunkelheit der Nacht und bei heftigem Sturme in einem Fahrzeuge auf dem Galiläischen See; der Herr war nicht mit ihnen, aber sie erwarteten ihn, und verlangten nach ihm. Da wurden sie ihn ge|wahr, und meinten erst in der Angst, was sie sähen, sey ein Gespenst; er aber rief ihnen zu, und machte sie gewiß, daß er es sey. Da sprach Petrus unsere Worte, die wir gelesen haben: „Herr, bist du es, so heiße mich, zu dir kommen auf dem Wasser!“ Wahrscheinlich war auch das nicht von ihm allein ausgegangen, daß er zu dem Herrn gehen wollte. Denn Johannes, der dieser Geschichte auch erwähnt, sagt: als der Herr sich ihnen zu erkennen gegeben, hätten sie den Beschluß gefaßt, ihn in’s Schiff aufzunehmen, und zur Ausführung dieses Beschlusses wollte nun wahrscheinlich Petrus schreiten. Warum aber wollten sie den Herrn wohl aufnehmen? Seinetwegen wohl nicht; denn das wußten sie, daß er für sich wohl einen Weg würde zu bahnen wissen, wenn er wollte, auch durch den Sturm und über die Wellen. Sondern um ihrer selbst willen, wie sie sich denn schon oft seiner schützenden Nähe gefreut hatten, wollten sie ihn bei sich haben, damit kein Unheil sie treffen könnte, und sie alles desjenigen sicher blieben, was sie noch mit ihm und für ihn thun könnten; das war also allerdings ein Werk des Glaubens und der Liebe, und was Petrus that, war der erste Schritt dazu. Aber nun laßt uns ja auch die Ungleichheit bemerken unter denen, die hier bei einander waren, damit uns der ganze Verlauf recht klar werde. Die Einen waren so sehr mit der Sorge für die Leitung und Erhaltung des Fahrzeugs beschäftigt, daß sie vielleicht gar nichts von der fremden Gestalt bemerken konnten; die Anderen hatten sie gesehen, und Einer von ihnen hatte gesagt: „es ist der Herr.“ Endlich, als der Beschluß gefaßt war, den Herrn einzunehmen, so war es besonders Petrus, der die Ausführung übernahm. Jenen nun, sowohl den ganz mit dem Aeußeren Beschäftigten, als auch den Ruhigeren, welche nur am Beschlusse theilnahmen, aber doch nicht an der Ausführung, konnte freilich die Gefahr nicht entstehen, wankelmüthig zu werden, sondern nur dem Petrus, der sich wirklich an die Ausführung gab. Und so entgehen Manche der Versuchung, wie Jene; denn nur in der unmittelbaren Thätigkeit kann uns Wankelmuth überraschen, und so kam Petrus dazu, ursprünglich doch durch | seine größere Bereitwilligkeit zum Guten. Anstatt nun den Herrn erst zu fragen: willst du zu uns kommen? ist es dir recht, daß ich dich in das Schiff hole? setzte Petrus 3–8 Vgl. Mt 14,22–27; Mk 6,45–50; Joh 6,16–20 29 Vgl. Joh 21,7
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voraus, das, was die Jünger mit einander beschlossen hatten, werde auch dem Herrn genehm seyn; und er erbittet nur von ihm den Befehl, daß er zu ihm kommen solle, um ihn in das Schiff zu holen. Der Herr sprach: „komm.“ Das klingt allerdings nicht recht wie ein Befehl, sondern eher nur wie eine Einwilligung; und so mag es auch der Herr nur gemeint haben. Doch aber steigt auf dieses Wort Petrus aus dem Schiffe, um durch das Wasser zu dem Herrn zu gelangen. Da erhob sich ein starker Wind, und als dieser ihn traf, wurden seine Tritte unsicher, und er fing an zu zweifeln, daß er sich werde halten können. Auf eben diesem See aber war er schon immer seinem Berufe nachgegangen, und mußte mit allen Gefahren desselben und den Hülfsmitteln dagegen bekannt genug seyn. Allein er hatte wohl aus Liebe zum Erlöser und im Eifer für die Sache etwas Bedenklicheres unternommen, als er sonst würde gethan haben; darum verlor er nun die Ruhe und das Gleichgewicht, und fing an zu sinken. Wäre er indessen nur gewiß gewesen, es sey der Befehl des Herrn, daß er zu ihm kommen solle, wie hätte er dann wohl zweifeln dürfen? Hätte er nicht müssen zu sich selbst sagen: Der, der mich ruft, wird mich auch hindurch führen; der es befohlen hat, dessen Wille muß geschehen, er wird schon dafür sorgen, daß ich erhalten werde, bis ich meine Sendung erfüllt habe. Weil er aber dessen nicht gewiß war, weil ihm im Augenblicke der Gefahr zweifelhaft wurde, ob der Herr befohlen habe, oder nur, weil er es gewünscht, ihm erlaubt zu kommen: so wird er unsicher, seine Tritte werden wankend, und diese Unsicherheit bedroht sein Leben. So, m. g. F., war Petrus zu seinem Wankelmuthe gekommen, und, wiewohl es nicht ausdrücklich geschrieben steht, können wir doch das mit Sicherheit annehmen, wenn er in seinem Inneren ganz gewiß gewesen wäre, daß ihn bei seinem raschen Sprunge aus dem Schiffe nichts Anderes getrieben habe, als die reine Liebe zu dem Erlöser, oder gar, daß es | ein eigentlicher Befehl gewesen sey, welchen dieser ihm gegeben: so würde er nicht wankend geworden seyn, und es würde ihm diesmal an Ausdauer und Standhaftigkeit nicht gefehlt haben. Denn wenn wir freilich, ohnerachtet der herrlichsten natürlichen Anlagen zu einer rechten Festigkeit und Tüchtigkeit, diesen kräftigen Jünger doch mehrere Male mit seinem Muthe in Gefahr sehen: so war die Sache doch anders. Als er seinen Herrn verläugnete, war er nicht wankelmüthig geworden in dem Entschlusse, ihm zu folgen, sondern er ergriff nur in der Ausführung ein für sicherer gehaltenes Mittel, dessen er sich aber als eines feigherzigen schämen mußte. In 39 feigherzigen] Feigherzigen 39–3 Vgl. Mt 26,51–52; Mk 14,47; Lk 22,50–51; Joh 18,10–11
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demselben Entschlusse hatte er vorher das Schwerdt gezogen, und steckte es nur ungern ein, auf des Herrn Befehl, dessen Wort er nur falsch gedeutet hatte. Und als ihn ein Schauder überfiel, indem der Herr seine Leiden und seinen Tod vorher verkündigte, wollte er nicht etwan ihm und seinem Reiche untreu werden, sondern er konnte nur nicht begreifen, wie die Bestimmung Christi, das Reich Gottes zu gründen, und Leiden und baldiger Tod desselben mit einander bestehen könnten. Jetzt aber wurde er mitten in seinem Unternehmen ungewiß; er wußte nicht, ob er vorwärts sollte oder zurück, und der Herr muß ihn anreden als einen Kleingläubigen. Wie er nun doch diesem ganz ergeben war, so scheint sogar aus seinem, wenn gleich auch nicht tadellosen Betragen in jenen anderen Fällen doch dieses zu folgen, daß ihn hier, wenn er nur über den Willen seines Herrn ganz sicher geblieben wäre, seine ursprüngliche Entschlossenheit nicht würde verlassen haben. Und nun laßt uns, m. g. F., von diesem Beispiele die Anwendung machen auf uns selbst. Noch immer und beständig gleicht die Gemeine des Herrn der Gesellschaft jener Jünger auf dem Schiffe. Wie diese dorther kamen, wo sie Zeugen gewesen waren und Werkzeuge des Herrn bei der wunderbaren Speisung mehrerer tausend Menschen, und als auch dem großen, auf das Mannigfaltigste zusammengesetzten, Haufen ein Erstaunen ankam über diesem Zeichen, haben gewiß auch sie damals, und in einem besseren Sinne, einen erneuerten Eindruck erhal|ten von seiner Herrlichkeit; da er ihnen aber befahl über den See zu setzen, in der Dunkelheit der Nacht der Sturm sie dort ergriff: so wechselt auch jetzt noch Beides immer und beständig unter uns. Wenn wir einsam oder gemeinsam auf eine besondere Weise um ihn her sind, und die Betrachtung seines Lebens, seiner Worte und Werke in uns auffrischen, so erneuert sich auch der Eindruck seiner Herrlichkeit, als des eingeborenen Sohnes vom Vater. Geht es aber darauf mit uns in das gewöhnliche Leben hinein, wo es bald Stürme und Unwetter genug giebt; können wir uns in irdischem Schaffen und Wirken ängstlicher Sorge und Anwandelungen der Furcht nicht erwehren: dann verdunkelt sich das Licht der Seele immer mehr durch die Entbehrung der Nähe des Erlösers. Aber es kann doch nicht fehlen, daß es nicht auch dann auf Augenblicke wenigstens aus der Noth und dem Treiben hervorragt, und über das unruhige Meer hinausschaut; und dann gewiß, darin sind wir einander Alle gleich, erblicken wir auch jenseits eine hehre Gestalt, wie eine anderwärts her gekom5 etwan] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 1977–1978 3–8 Vgl. Mt 16,21–22 18–20 Vgl. Mt 14,13–21; Mk 6,31–44; Lk 9,10–17; Joh 6,1–13 24–26 Vgl. Mt 14,22.24; Mk 6,45.48
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mene und diese Unruhe nicht theilende, die uns an etwas Höheres mahnt. Allein von nun an, m. g. F., gleichen wir auch in der Ungleichheit jenem Häuflein der Jünger in dem Schiffe. Einige sind so vertieft in die irdische Wirksamkeit, daß ihre Augen gehalten werden, und sie meinen, was sie sehen, sey nur ein Geschöpf ihrer eigenen Einbildung, da es doch nichts Anderes ist als der einige Gegenstand ihres Glaubens und ihrer Liebe. Gott sey Dank, so giebt es aber auch in jedem Augenblicke Einige unter uns, welche, mehr geweckt für das innere geistige Leben, wie dort Johannes, der geliebte Jünger des Herrn, den Anderen zurufen können: das ist der Herr. So wie wir aber wieder auf ihn geführt werden, kann uns auch das Irdische allein nicht mehr fest halten; mitten in demselben findet sich auch allemal, unsere Lage sey, welche sie wolle, etwas in Beziehung auf ihn zu thun und zu schaffen, etwas in seinem Namen und zur Förderung seines Reiches zu leisten. Da entsteht wieder eine gemeinsame geistige Anregung und Erwekkung, wenn auch nur, wie bei dem Beschlusse der | Jünger, daß wir ihn selbst wieder nahe haben, und uns in seinem Dienste erhalten wollen. Auch unter uns aber hat der Herr seine Gaben verschieden vertheilt. Wenn dem Einen gegeben ist, in einem solchen Augenblicke zuerst den Herrn zu erkennen, so ist einem Andern gegeben, zuerst Hand anzulegen zu dem, was wir gemeinsam ergriffen haben als das Beste und Heilsamste für diesen Augenblick. Alle können wir nicht gleich stark seyn für das Werk des Herrn, und gleich gerüstet zu Allem, was in jedem Augenblicke vorfallen kann. Daß aber nur nicht die Langsameren, welche nicht gleich mit antreten, sondern erst, wenn die schlimmsten bedenklichem Augenblicke schon überstanden sind, sich dann über diejenigen erheben wollen, welche rascher zugreifen, aber dann auch leicht in Wankelmuth verfallen. Wie denn auch wohl Keiner, von denen, die im Schiff blieben, Ursache hatte, auf den Petrus wie von einer Höhe herab zu sehen. Sondern diese mögen wohl bedenken, daß, wenn sie nicht fähig gewesen sind, für sich allein in dem Augenblicke, wo es darauf ankam, den ersten Schritt zu thun, sie auch nicht würden vermocht haben, sich in schwierigen Umständen für sich allein zu erhalten. Das sehen wir aber deutlich, wenn unter uns Alles gut gehen soll, auch nur bis auf den Punkt, wo sich der Wankelmuth des Petrus zeigte: so ist nothwendig, daß wenn in dem Einen der Sinn offen ist, zuerst zu sehen, was Recht ist, und also den Herrn zu erkennen, und in dem Andern der Muth, um die ersten Schritte zur Ausführung zu thun: so muß auch ein gemeinsamer Geist in Allen seyn, der durch jenen geweckt und bestimmt wird, und diesen trägt und unterstützt, wenn Werke in dem Geiste des Glaubens und der Liebe begon9–10 Vgl. Joh 21,7
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nen werden sollen. Und dieses vorausgesetzt, werden wir uns nun auch über die Entstehung eines solchen Wankelmuths ganz verständigen können. Laßt uns nämlich zu dem Falle, in welchem sich Petrus wirklich befand, noch zwei andere hinzudenken. Des einen haben wir schon erwähnt. Wenn Petrus ganz fest wäre überzeugt gewesen, was auf seine Bitte der Herr ihm zurief, das sey ein | ganz bestimmter Befehl desselben gewesen: dann hätten ihn gewiß Sturm und Wellen nicht irre gemacht. Und dasselbe Zeugniß werden wir auch uns geben können. Wo wir gewiß sind, daß der Herr geboten hat, da können wir nicht wankend werden, es müßte denn noch eine andere Liebe in uns leben und uns treiben, als die zu ihm, und dann wäre unser Fehler nicht der Wankelmuth, sondern eben diese Unlauterkeit des Herzens. Wenn hingegen Petrus nicht nur keinen Befehl des Herrn gehabt hätte, sondern seine That hätte auch nicht einmal auf dem Beschluß der Uebrigen im Schiffe geruht, sondern wäre ganz sein eigener Einfall gewesen: dann hätte er gewiß nicht nur gewankt, sondern sobald er gemerkt hätte, daß es ihm schwer werden würde, sich gegen Sturm und Wellen zu halten, würde er umgekehrt seyn, und gesucht haben, das Schiff wieder zu gewinnen, das er verlassen hatte. Und nur deßhalb ist uns dies so wahrscheinlich, weil wir, durch vielfältige Erfahrung belehrt, von uns selbst auch nicht besser denken können. Je weiter wir davon entfernt sind, zu dem, was wir als Christen unternehmen, einen bestimmten Befehl des Herrn zu haben, je mehr ein Entschluß ganz von uns selbst ausgegangen ist, desto natürlicher ist es uns, zaghaft zu werden, und zu überlegen, ob es nicht rathsamer sey, ihn aufzugeben, sobald Schwierigkeiten eintreten, die uns besorgen lassen, es möchte des Herrn Wille nicht getroffen seyn in unseren Anschlägen. Ist nun Jemand in dem Falle des Petrus, daß, was er thun will, nicht von ihm allein ausgeht, sondern die Zustimmung vieler andern Jünger des Herrn für sich hat, und weniger eines Einzelnen, als vielmehr ein gemeinsames Werk ist: dann wächst in demselben Maße die Zuversicht, und der Muth wird fest. Aber auch die allgemeinste Zustimmung wird nie dem Einzelnen bei seinem Theile des Werkes dieselbe Sicherheit geben, als wenn er überzeugt ist, nach einem bestimmten Befehle des Herrn zu handeln. Woher aber dieses? Daher, m. g. F., sind wir auch schon bis zu dem Vertrauen gediehen, daß, wenn wir wissen: der Herr hat geboten, weder Furcht noch irgend ein sinnlicher Reitz uns gefährlich werden kann: so sind wir doch nie | eben so sicher, daß nicht, wenn wir etwas, wenn gleich Wohlgemeintes, für sein Reich aus eigenem Antriebe unternehmen, alsdann nicht noch etwas Anderes in unserer Seele ist, und sich noch immer mehr während der Ausführung hinein mische, als die Liebe zu ihm. Ja wenn wir auch durch die gemeinsame Stimme Aller aufgefor-
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dert sind, hervorzutreten, um, sey es nun den ersten Schritt zu thun, oder sonst bedeutende Hülfe zu leisten, auch da mischt sich gar zu leicht menschliche Eitelkeit mit hinein, und der ursprüngliche Wille, nur das mit zu vollbringen, was Alle als dem Werke des Herrn förderlich erkannt und beschlossen haben, daß es durchgeführt werden soll, wird gar zu leicht durch die Freude an unserer eigenen Thätigkeit, und an unserem künftigen Antheil an dem Ruhme, der das Werk krönen wird, mehr oder weniger verunreiniget. Wenn dann mitten auf dem Wege die günstigen Aussichten verschwinden, der Ausgang zweifelhaft werden will, und wir nicht wissen, ob wir mit eigenen Kräften das Ziel erreichen werden: dann wird zugleich auch das schärfere und tiefere Gewissen erwachen; und weil wir wissen, daß wir keinesweges mit voller Zuversicht auf göttliche Unterstützung rechnen können für etwas, worin sich schon menschlicher Wille und ein Streben von einer anderen Art eingemischt hat, so werden wir mit Recht bedenklich darüber, ob auch des Herrn Wille sey, daß das durchgeführt werden solle, was wir mit solcher Freudigkeit begonnen haben. Dann gleichen wir dem Petrus, als er begann, zu sinken. Ja, m. a. F., als eine gemeinsame Schwäche müssen wir diesen Wankelmuth ansehen, und uns nicht über den Jünger des Herrn tadelnd erheben, der uns als ein so hohes Muster des Glaubens und der Treue erscheint, sondern einkehren in uns selbst, um inne zu werden, daß uns nur Gerechtigkeit widerfahre, wenn uns öfter, als ihn, dasselbe beträfe. Dann wird uns auch gewiß werden, daß jede solche Unvollkommenheit immer ein Zeichen ist davon, daß die Liebe noch nicht rein, und der Glaube noch nicht lauter und unerschütterlich fest ist, und daß wir noch zunehmen müssen in dem Werke des Herrn, wenn wir das Ziel erreichen wollen, was vor uns liegt. | II. Aber so laßt uns zweitens sehen, was es mit diesem Wankelmuthe bei dem, was wir aus Liebe zum Herrn entbehren, und für ihn, in den Seelen derer, die wirklich an ihn glauben und wirklich ihn lieben, für ein Ende gewinne. Petrus, als er unsicher ward und fürchtete, daß er sinken werde, sprach: „Herr hilf mir.“ Da streckte auch bald der Herr seine Hand aus, und hielt ihn mit derselben fest. Freilich war, wie die Vergleichung beider Erzählungen uns lehrt, der Zwischenraum nicht groß, der Beide von einander trennte, und der Meister nahm ihn bei der Hand, um dem Rufenden zu Hülfe zu kommen. Allein das ist nicht etwas, worin wir dem Apostel nachständen. Der 3–4 Wille, nur] Wille nur, 34–36 Vgl. Joh 21,4
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Herr hat ja auch uns seine immer hülfreiche Gegenwart verheißen; wir wissen, daß er von oben herab seine Gemeine regiert, und die Bedürfnisse der Seinigen kennt; denn auch was wir den Vater bitten werden in seinem Namen, soll uns gewährt werden. Wie es nun in dem Zustande, von welchem wir jetzt reden, nicht leibliche, sondern vornehmlich geistige Hülfe ist, deren wir bedürfen: so haben wir auch an seiner geistigen Nähe genug. Bei dem Petrus kam es darauf an, daß sein inneres Zagen aufhörte, und der nachtheilige Einfluß, den die Unruhe seines Gemüthes auf die Sicherheit seiner Bewegungen ausübte; und gewiß denkt Niemand, daß es das Uebergewicht körperlicher Kräfte war, wodurch der Herr ihn rettete, sondern als der Herr seine Hand ausstreckte, war doch auch das mehr eine geistige Hülfleistung, und sie wirkte durch das Vertrauen, das dem Petrus eingeflößt wurde. Unser Fall, wenn uns Wankelmuth befällt, wird also immer derselbe seyn; und wenn wir mit eben soviel Glauben und Liebe im Grunde des Herzens eben so zu ihm rufen, so kann es auch uns nicht schlimmer ergehen, als es dem Petrus erging. Denn freilich ob Petrus, nachdem er wieder auf festen Füßen stand, auch das noch ausrichtete, was er eigentlich gewollt hatte, nämlich Christum in das Schiff zu holen, oder ob er sich begnügen mußte, nur mit ihm in Sicherheit am Lande zu seyn, ohne denen im Schiffe noch seine Hülfe zu bringen, das wissen | wir nicht, ja wir haben eher Ursache, das Letzte zu vermuthen als das Erste. Mehr also können auch wir nicht mit Sicherheit erwarten. Bisweilen ist das, was uns wankelmüthig macht, von der Art, daß auch ohne unseren Wankelmuth das unternommene Werk doch nicht hätte gelingen können; wie denn Vieles, was aus Liebe zu Christo und zum Besten seines Reiches unternommen wird, doch nicht gelingt. Bisweilen aber kann es uns erscheinen, als sey unser Wankelmuth die Ursache des Mißlingens, und als würden wir unseren Zweck erreicht haben, wenn wir ihn mit unwandelbarer Zuversicht und immer gleicher Besonnenheit verfolgt hätten. Denn der Schreck über einen ungünstigen Augenblick, dieser erste Keim alles Wankelmuths, verschuldet gar oft, daß ein günstiger und entscheidender unwiderbringlich versäumt wird. Die nun nie gewankt haben, können nicht anders, als sich ihrer Beharrlichkeit freuen, und wenn das Werk nicht gelungen ist, so sind sie fest und unerschütterlich in dem Troste, es müsse eben nicht Gottes Wille gewesen seyn, daß es gelingen sollte. Wenn aber doch auch von ihnen nicht immer Alles pünktlich zum Ziele geführt wird: wie könnten wohl die Wankelmüthigen Anspruch darauf machen, die Hülfe des Herrn solle sich ihnen immer darin zeigen, daß dennoch immer ein 3–4 Vgl. Joh 14,13–14
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glückliches Ende ihre Unternehmungen kröne? Gewiß wohl nicht! Aber welches ist nun die Hülfe, die alle Gläubigen gewiß zu erwarten haben, wenn ihnen das Menschliche begegnet ist, wankelmüthig zu werden, und sie rufen: Herr hilf mir? Keine andere doch, als daß, soviel möglich, der Unterschied zwischen ihnen und jenen, die einer solchen Hülfe nicht bedürfen, aufgehoben werde. Mir wenigstens erscheint die Sache so. Ob es Gottes Wille sey, daß irgend ein gutes Werk, so wie es unternommen wird, auch gelingen solle, mögen auch Alle dabei treulich das Ihrige thun, oder indem Gott der menschlichen Schwachheit durch günstige Umstände zu Hülfe kommt: das können wir nicht eher wissen, als aus der Erfüllung, durch welche er uns in dieser Hinsicht allein seinen Willen offenbart. Gewiß wissen wir nur das Eine, daß sein Reich bestehen soll und zur | Vollendung kommen; weil wir aber nicht behaupten können, daß irgend etwas Einzelnes zu irgend einer Zeit unerläßlich nothwendig sey: so sind wir über alles Einzelne ungewiß. Wenn wir aber sehen, daß einer unserer Brüder etwas, sey es Großes oder Kleines, das ihm nicht schon von selbst geboten ist durch seinen Beruf, wodurch er diesen aber auch nicht benachtheiliget, mit einem ganz festen menschlichen Glauben, und aus reiner, von aller Selbstsucht geläuterter, mit keiner Eitelkeit vermischter Liebe unternimmt, und so nach Vermögen weiter fördert, daß er bei keiner Wendung der Sache wankend wird, daß kein irdischer Glanz, der irgendwie auf ihn fallen könnte, ihn verleitet, kein persönliches Uebergewicht, das er sich über noch so viele auch in dem Herrn lebende Seelen erwirbt, ihn hochfahrend und gebieterisch macht, sondern er in der schlichten Einfalt des festen Glaubens und der lebendigen Liebe fortfährt, wie er begonnen hat: werden wir wohl jemals zweifeln können, ein solcher habe gewiß die Stimme des Herrn in seinem Inneren vernommen, und ihr folgend thue er, wie er thut; und wie solcher Glaube und solche Treue ein Werk des Herrn sey, so sey es auch sein Wille, daß Beide hierzu sollen verwendet werden? Aber folgt auch, daß das Gelingen sein Wille sey? Nein, m. g. F.! Sonst müßten wir ja sagen: alle ersten, mehr oder minder immer mißlingenden, Versuche sind Vorarbeiten zu dem, was nach dem Willen des Herrn erst künftig gelingen soll, wären gegen Willen des Herrn unternommen worden, da sie doch nothwendig waren, wenn das spätere endlich gelingen sollte, und da sie ganz in demselben Geiste und Sinne unternommen wurden. Gar oft weiset uns Gott durch solche noch nicht gelingenden Entwürfe der Seinigen in eine bessere Zukunft hin, und Handlungen solcher Art sind kräftigere Weissagungen, und eben so vom göttlichen Geiste eingegeben, als Worte. Und auf wie mancherlei Weise wird uns nicht sonst noch ein mißlingendes gutes Werk
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zum heilsamen Zeichen der Zeit, so daß wir solcher gar nicht entbehren können. Ja, nur aus diesem Grunde vorzüglich, weil der Herr unfehlbar aus Allem, was um des Guten willen, | und in gutem Sinne unternommen ist, auch Gutes hervorzubringen weiß, eben darum ist es unrecht, wenn wir wankelmüthig werden bei ungünstigen Zeichen. Darum nun, wenn wir es dennoch geworden sind, thut uns vor allen Dingen Noth, daß wir uns hierüber besinnen und ausrufen: Herr hilf mir, damit die Prüfung uns nicht zur Versuchung und zum Fallstricke werde, und wir nicht Schiffbruch leiden an unserem edelsten Glauben. Und das ist eben die Hülfe, die uns der Herr leistet, daß wir wieder können gegen Wind und Wellen anarbeiten, um festzustehen und fortzuschreiten. Denn prüfen und züchtigen muß uns ja der Herr auf alle Weise, und nur durch Schwierigkeiten und unsichere Umstände gelangen wir sowohl zur rechten Selbsterkenntniß, als zur gehörigen Uebung und Fertigkeit. Aber so wie wir uns keine willkührlichen Uebungen auflegen sollen, als welche uns nur die Zeit rauben, die wir gebrauchen zum Werke des Herrn: so soll auch keine Prüfung, die uns der Herr in den Weg legt, uns abhalten von irgend etwas, was zu unserer Arbeit an dem Werke des Herrn gehört. Und wie dem Petrus das ursprünglich zweifelhafte Wort des Herrn, ob es ein Befehl sey oder nur eine Erlaubniß, nun dadurch, daß der Herr ihm selbst die Hand reichte, um ihm wieder zu helfen, offenbar und ungezweifelt zum Befehle wurde: so auch uns, wenn wir mit Zustimmung unserer Brüder und in dem uns und ihnen gemeinsamen Geiste etwas unternommen haben, wovon wir durch Sturm und Wellen unsicher gemacht wurden, dann aber seine Hülfe anriefen, und nun, mit vollem Bewußtseyn ihm allein den Erfolg anheimstellend, erkannten, daß uns nicht ziemt, uns durch den Erfolg bestimmen zu lassen, und daß wir kein Recht haben, um deß willen das so Unternommene aufzugeben, ist dann erst das Herz völlig fest geworden, eben so, als ob wir von Anfang an einen bestimmten Befehl des Herrn gehabt hätten, und aller Wankelmuth ist besiegt. Aber der Herr streckte nicht nur rettend seine Hand gegen den Petrus aus, sondern er rief ihm auch zu: Kleingläubiger, | was zweifelst du? So wenig er nun in jenem Augenblicke selbst eine bestimmte Antwort erwarten mochte, wie denn auch damals keine Zeit war zu einem ausführlichen belehrenden Gespräch: so ist doch aus seiner Frage deutlich abzunehmen, er wollte, indem er seinem Jünger half, ihn zugleich veranlassen, daß er sich selbst Rechenschaft gebe von den Ursachen seines Wankelmuths. Auch dieses müssen wir uns gesagt seyn lassen, wenn wir uns seiner Hülfe ganz erfreuen wollen. In den Augenblicken, wo es zunächst darauf ankommt, die Anfälle des Wankelmuths durch einen festen Entschluß zu verdrängen, wird es selten
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möglich seyn, mit ruhigem und strengem Blick in unser Inneres zu schauen. Nur die Frage dürfen wir nicht vergessen; wir müssen sie als von dem Herrn an uns gethan in Ehren halten, und dürfen ihm und uns die Antwort nicht schuldig bleiben, damit der Zweck seiner Prüfung ganz erreicht werde. Verdammt uns dann unser Herz wegen einer uns verborgen gebliebenen Unlauterkeit in unseren Bewegungsgründen; wohlan, so wollen wir eilen, uns sogleich zu reinigen, und, der hülfreichen Hand, die sich uns stützend darbietet, auf’s Neue uns weihend, uns selbst immer mehr vergessen und verläugnen, damit die Fortsetzung und das Ende unseres Werkes, falle es auch übrigens aus, wie es wolle, doch in sich selbst besser sey, als der Anfang gewesen ist. Wird uns klar, daß unser Herz zwar lauter gewesen, daß wir aber in der Ausführung einem unwillkührlichen Schauder vor Widerwärtigkeiten und Trübsalen unterlegen haben: so wollen wir denn, weit entfernt, weder an der menschlichen Schwachheit zu verzweifeln, noch uns geduldig darin zu ergeben, daß wir auch die gewöhnlichste noch nicht besser besiegt haben, mit erneuter Inbrunst aufsehen auf den Herzog unserer Seligkeit, welchen Gott bestimmte, durch Leiden zu vollenden, damit auch wir von ihm Gehorsam lernen, und damit wir uns, in der Hoffnung ihm gleich zu werden, wenn wir ihn sehen, wie er ist, alle Leiden dieser Zeit für nichts achtend gegen diese Herrlichkeit, die an den Kindern Gottes soll offenbaret werden, immer lebendiger des zuverläßigen Wortes in seinem rechten Sinne zu unserer Stärkung be|mächtigen, daß wenn wir mit sterben wir auch mit leben, und wenn wir mit leiden wir auch mit herrschen werden. Wir wissen es wohl, m. g. F., daß wir auch so nicht auf einmal siegen; auch das Leben des Gläubigen geht hier auf Erden durch einen sich oft wiederholenden Wechsel, und wenn es Zeiten giebt, in denen wir, ganz durchdrungen davon, daß Er in uns lebt und wir in ihm, und daß sein Geist in uns Abba lieber Vater ruft, frisch und kräftig an das Werk des Herrn gehen, so giebt es wieder andere, in denen wir erfahren, daß Er allein in allen Dingen versucht worden ist, gleichwie wir, doch ohne Sünde. So wir aber nur fest halten daran, daß wir nichts thun wollen ohne ihn, so wird seine Hülfe uns immer nahe seyn, und der Jünger, der durch seine dargebotene Hand Sieger wurde über Wind und Wellen, sey uns immerdar ein sicheres Zeichen, daß diejenigen, die sich an ihn halten, nicht verderben können, und daß 14 unterlegen haben] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 916 18–19 Vgl. Hebr 2,10 20–21 Vgl. 1Joh 3,2 Röm 8,15; Gal 4,6 32–33 Vgl. Hebr 4,15
21–22 Vgl. Röm 8,18
30 Vgl.
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er immer auf vielfache Weise bereit ist, zu stärken und zu bewahren, auf daß der Mensch Gottes immer mehr geschickt werde zu jedem guten Werke. Amen. Schl.
b. Nachschrift Predigt am siebenten Sonntage nach Trinitatis 1824
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Text. Matthäi XIV, 28–31 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr bist du es, so heiß mich zu dir kommen auf dem Wasser – und er sprach: komm her. Und Petrus trat aus dem Schiff und ging auf dem Wasser, daß er zu Jesu käme. Er sah aber einen starken Wind; da erschrak er und hob an zu sinken, schrie und sprach: Herr hilf mir. Jesus aber rekte bald die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: O du Kleingläubiger, warum zweifeltest du? M. a. Fr., In Khristo Jesu gilt nichts als der Glaube, der durch die Liebe thätig ist. Diese beiden aber sind auf das innigste miteinander verbunden. Wenn der Glaube die Liebe nicht hervorbringt, so ist er todt; wenn die Liebe schwach ist, wenn es ihr mangelt an der Kraft, Innigkeit und Ausdauer, so kann der Grund in nichts anderm liegen als darin, daß der Glaube nicht stark und kräftig ist. So sind beide durch einander bedingt und sollen mit und durch einander wachsen. Aber die menschliche Gebrechlichkeit zeigt uns mehr oder weniger die Unvollkommenheit von beiden. Dies finden wir auch in dem Wankelmuth und in der Unsicherheit des Apostels. Und wenn nun alles was geschrieben ist in den heiligen Büchern uns zur Lehre geschrieben ist: so laßt uns auch dies dazu gebrauchen, um nach Anleitung dieses Beispiels jetzt mit einander nach zu denken über den menschlichen Wankelmuth in dem was aus Liebe zum Erlöser unternommen wird, und dabei kommt es auf zweierlei an: erstens daß wir uns fragen, wie kommen wir zu diesem Wankelmuth? und zweitens daß wir einsehen, was es bei denen, in welchen der Glaube an Khristum und die Liebe zu ihm wohnt, für ein Ende nimmt. 17 ist,] ist;
25 um] und
2–3 Vgl. 2Tim 3,17
14–15 Vgl. Gal 5,6
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I. M. a. F., Der Wankelmuth ist immer noch eine gewöhnliche Erscheinung im menschlichen Leben, und wir müssen gestehen, nicht immer unerfreulich. Denn wenn der Mensch etwas unternommen hat, in dem Hochmuth seines Herzens, aus Selbstsucht und eigengefälligem Wesen: wie sollen wir uns nicht freuen, wenn er irre wird und unsicher mitten in seinem Beginnen, und die Hand abzieht, und nicht weiß ob er in seinem Schwanken weiter gehen soll oder nicht? Das muß uns erfreuen. Dies ist ein wohlthätiger Wankelmuth und hat seinen Grund darin, daß etwas Besseres und Tieferes sich in seiner Seele regt, und es liegt das Verlangen in ihm das Werk der Finsterniß zu ersticken. Aber, m. g. F., wenn etwas in dem menschlichen Leben begonnen wird in Beziehung auf den Erlöser und im Glauben an ihn, und aus einem reinen Dichten und Trachten ihm zu dienen, seine Sache zu verrichten und sein Reich zu fördern: wie oft sehen wir nicht daß auch die Fortsetzung dem Anfange nicht entspricht, daß der Zuruf „laßt uns nicht müde werden, denn zu seiner Zeit werden wir ernten ohne Aufhören“, oft vergeblich sein wird für manche Seele. Und darum muß es uns wohl wichtig sein uns selbst zu unterrichten, und es bietet uns die Geschichte des Apostels, die ich nur zum Theil gelesen, weil einiges angeführt ich voraus setzen kann, daß das Übrige sich von selbst darbieten wird, ein sehr klares Beispiel dar. Die Jünger waren nämlich in der Dunkelheit der Nacht und bei heftigem Sturme in einem Fahrzeuge auf dem See. Der Herr war nicht mit ihnen, aber sie erwarteten ihn und verlangten nach ihm. Da wurden sie ihn gewahr, und meinten erst in der Angst, daß es ein Gespenst sei. Er aber rief ihnen zu und machte sie sicher daß er es sei. Da sprach Petrus unsere Worte, die wir gelesen haben: Herr bist du es, so heiße mich zu dir kommen auf dem Wasser.“ Wahrscheinlich ging das nicht von ihm allein aus, daß er zu dem Herrn gehen wollte, denn Johannes, der dessen erwähnt, sagt, als er den Herrn erkannt hätte, so habe er ihn wollen ins Schiff aufnehmen, und diesem Entschluß nun folgten die andern. Aber wie immer so | waren auch da nicht alle gleich thätig gewesen. Es hatten die Einen, die mit der Sorge für die Leitung und Erhaltung des Fahrzeugs beschäftigt waren, vielleicht noch nichts von der fremden Gestalt bemerkt; die Andern hatten sie gesehen, und einer von ihnen hatte gesagt, es ist der Herr. Und als sie den Entschluß gefaßt hatten ihn zu sich zu nehmen, so war es besonders einer der die Ausführung übernahm. Anstatt aber den Herrn zu fragen: willst du zu uns kommen? ist es dir recht daß ich dich in das Schiff hebe, so setzte er voraus, was sie mit einander beschlos16–17 Vgl. Gal 6,9 22–27 Vgl. Mt 14,22–27; Mk 6,45–50; Joh 6,16–20 31 Vgl. Joh 6,21 36 Vgl. Joh 21,7
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sen, werde auch dem Herrn genehm sein. Und er erbittet nur von dem Herrn den Befehl, daß er zu ihm kommen solle, um ihn in das Schiff zu heben. Der Herr sprach: komm. Das klingt nicht wie ein Befehl, sondern wie eine Einwilligung, und auf das Wort steigt Petrus aus dem Schiffe, um durch das Wasser zu dem Herrn zu gelangen. Aber es erhob sich ein starker Wind, und da er den gewahr wurde, so wurden seine Tritte unsicher, und er fing an zu zweifeln, daß er sich werde halten können. Und wenn er auch nur einen kleinen Weg zu dem Erlöser zu vollenden hatte, so mußte er doch, da vorzugsweise sein Beruf hierauf gerichtet war, mit diesem Elemente genug bekannt sein. Er verlor die Ruhe und das Gleichgewicht, und fing an zu sinken. Wenn er gewiß gewesen wäre, es sei der Befehl des Herrn, daß er zu ihm kommen sollte, wie hätte er wohl dürfen zweifeln? hätte er nicht müssen zu sich selbst sagen: der der mich ruft wird mich auch hindurchführen; der es befohlen hat dessen Wille muß geschehen, er wird dafür sorgen daß ich erhalten werde? Aber nun wird er zweifelhaft und unsicher, und diese Unsicherheit macht seine Tritte wankend und bedroht sein Leben. So, m. g. F., war Petrus zu seinem Wankelmuth gekommen. Wenn er also, als der Wind auf einmal das Schiff auf dem Wasser so heftig bewegte, in dem Innern ganz gewiß gewesen wäre, daß nichts anderes ihn getrieben hätte als die reine Liebe zu dem Erlöser; wenn er bei sich ganz gewiß gewesen wäre, es sei ein Befehl, welchen er wahrnahm, in den Worten des Herrn: „komm“, wie hätte es ihm an Muth und Standhaftigkeit fehlen können? Aber freilich es ist nicht das einzigemal, daß wir diesen kräftigen Jünger sehen in Gefahr gerathen mit seinem Muthe. Einmal sagte er zum Herrn, als er von seinen Leiden und Tode spricht: „Herr das widerfahre dir nicht“; und der Herr dorten ihm antwortet: „hebe dich weg, denn du suchest nicht was göttlich ist, sondern was menschlich“; jetzt wird er mitten in seinem Unternehmen zweifelhaft und unsicher, und der Herr muß ihn anreden als einen Kleingläubigen, dann hat er des Muthes zu viel an der unrechten Stelle, und der Herr muß ihm sagen: „wer das Schwerdt zieht muß auch durch das Schwert umkommen“; ach und dann aber wieder, als er sich selbst überhebt und jeder Versuchung und Gefahr gewachsen zu sein glaubt, da muß ihm der Herr sagen: „ehe der Hahn kräht, wirst du mich verleugnet haben“. Bei diesen großen natürlichen Anlagen, zu diesen herrlichen Eigenschaften der Festigkeit und des Muthes, sehen wir doch aus der Rede des Herrn, wie beides in ihm sich nicht hält und bewährt, und wie er in einer gewissen innern Unsicherheit des Gemüths und des Glaubens war, und eine gewisse Unempfänglichkeit in ihm statt fand, 26–29 Vgl. Mt 16,21–23 31–33 Vgl. Mt 26,51–52 Mk 14,29–30; Lk 22,33–34; Joh 13,37–38
33–36 Vgl. Mt 26,33–34;
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die sich daraus so deutlich zeigt, daß er nicht begreifen konnte die Vorhersagung von dem Leiden und dem Tode des Herrn, zusammenhängend mit der Vorhersagung, daß er gekommen sey das Reich zu gründen. Das war die Ursache, daß er auch hier unsicher ward und wankte. Laßt uns, m. g. F., von diesem Beispiele die Anwendung machen auf uns selbst. Noch immer und beständig ist die Gemeine des Herrn gleich der Gesellschaft der Jünger auf dem Schiffe. Sie kamen von dort her, wo sie Zeugen gewesen waren und Werkzeuge des Herrn bei der wunderbaren Speisung mehrer tausend Menschen. Wie dem großen Haufen, der auf das mannigfaltigste zusammengesetzt war, ein Erstaunen ankam, als sie das Zeichen sahen, so müssen auch sie einen Eindruck erhalten haben von | seiner Herrlichkeit. Da befahl er ihnen über den See zu sezzen und in der Dunkelheit ergriff sie Sturm auf dem See. So auch wechselt beides immer und beständig unter uns; und wie in dem geistigen Reiche die Kraft und die Betrachtung seines Lebens, seiner Worte und Werke in uns aufgefrischt sind: so der Eindruck seiner Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater. Dann geht es mit uns in das gewöhnliche Leben hinein, wo bald Zaudern und Bedenklichkeit uns ergreifen, dann giebt es im irdischen Schaffen und Wirken eine ängstliche Sorge, und dann verdunkelt sich das Licht der Seele immer mehr durch die Entfernung von der Nähe des Erlösers. Und mitten in der Sorge und Gefahr schwebt dann der Seele etwas vor von einem andern Streben und einer andern Ordnung der Dinge, sie sucht eine Gestalt, es ist nichts anderes als der Gegenstand ihres Glaubens und ihrer Liebe; aber vertieft in das irdische Leben hält sie es nicht für wahr, sondern für ein Gespenst der eigenen Einbildung. Aber wir, m. g. F., gleichen der Gesellschaft der Jünger in diesem Schiffe. So giebt es in jedem Augenblick einige, welche mehr geweckt sind für das innere Leben; dorten war es Johannes, der geliebte Jünger des Herrn, der ihnen zuerst sagte: es ist der Herr. Es ist nicht möglich m. g. F., in irgend einer Lage des Lebens, daß wir den Herrn suchen können und erkennen, ohne daß wir zugleich etwas hätten für ihn zu thun, um sein Reich dadurch zu fördern, unser ganzes Dichten und Trachten auf das geistige Leben zu richten und auf die großen Angelegenheiten seines Reiches, das mitten in dem irdischen Wirken und Schaffen soll gefördert werden. So war bei den Jüngern, sobald sie den Herrn erkannten, auch das Werk des Augenblicks der Gedanke, ihn zu sich zu nehmen. Weshalb? Um seinetwillen wohl nicht; denn das wußten sie, daß er sich den Weg bahnen würde durch die Wellen und den Sturm, wenn er wollte; aber um ihretwillen; denn sie hatten schon oft seine waltende 7–9 Vgl. Mt 14,13–21; Mk 6,31–44; Lk 9,10–17; Joh 6,1–13 Mt 14,22.24; Mk 6,45.48 29–30 Vgl. Joh 21,7
12–14 Vgl.
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Kraft in seiner Nähe erfahren, und wollten auch jetzt ihn nahe bei sich haben damit sie kein Unheil schrecken und treffen könne. Was war es also anders als das Werk des Glaubens und der Liebe? Aber der Herr hat seine Gaben verschieden vertheilt, wie hier beim Johannes, dem gegeben war zuerst den Herrn zu erkennen, Petrus, dem gegeben war zuerst aus dem Schiffe zu steigen, um dem Herrn zu nahen und wie der im gemeinsamen Geiste aller handelte, so soll es auch unter uns sein. Alle können wir nicht gleich stark sein in der Kraft des Herrn, und uns gleichen weder im ganzen noch in einzelnen Augenblicken des Lebens. Wie in dem Einen der Sinn offen ist zu sehen was Recht ist, in dem Andern der Muth es auszuführen so muß es ein gemeinsamer Geist Aller sein, der sie leitet zu handeln in dem Geiste des Glaubens und der Liebe. Ja wenn Petrus allein in das Wasser gestiegen wäre, so hätte ihn die Furcht vor dem Sturm überwältigt. Wäre er aber ganz in der Zuversicht auf das Geheiß des Erlösers gekommen, so hätte er schon im Glauben die Wellen durchschritten, und wäre zu Khristo gelangt. Aber gar zu leicht ist noch etwas anderes in der Seele derer, die sich ursprünglich berufen glauben und fühlen. Es wird die gemeinsame Stimme aller hervorzutreten und den ersten Schritt zu thun in einer Gemeine erweckt; aber gar zu leicht mischt sich die menschliche Eitelkeit hinein, und der ursprüngliche Wille das selbst zu vollbringen, was alle als seinen Willen erkannt haben und beschlossen, und was durchgeführt werden soll. Gar zu leicht mischt sich die Freude an dem eigenen Werke mit in die Vorstellung von der Freude, welche andre haben an dem Ruhme der das Werk krönt, in das gemeinsame Bestreben, in die Leiden und Freuden derer die in gleichem Sinne mit uns handeln um denn was das Rechte ist, durch uns hervortreten zu lassen und immer geschickt zu sein in der Gemeinschaft zu wirken. Denn wenn der Ausgang zweifelhaft wird, und wir nicht wissen ob unsere eigenen Kräfte zureichen werden: dann wird das schärfere und tiefere Gewissen erwachen, dann werden wir wie Petrus zweifelhaft, | ob auch etwas anderes das Rechte gewesen wäre, oder ob wir nicht lieber bei dem ersten Schritte geblieben, worin sich schon menschlicher Wille von einer andern Art eingemischt hat, da werden wir mit Recht bedenken, ob es auch des Herrn Wille gewesen sei das ganze große Werk durchzuführen, wenn der Sturm des Lebens heftiger erscheint, und der Mensch von Wankelmuth bedroht, beginnt zu sinken. Ja m. g. F., als die gemeinsame Schwäche müssen wir es ansehen, und nicht tadeln den Jünger des Herrn, der uns als ein so hohes Muster des Glaubens und der Treue erscheint, sondern einkehren in uns selbst und bemerken daß es eine gemeinsame Gebrechlichkeit ist, und uns allen auch dasselbe bevorste2 könne] können
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hen kann, wenn uns in dem gewöhnlichen Leben oft ähnliche Veranlassungen treffen. Das ist uns auch gewiß, daß jede solche Unvollkommenheit ein Zeichen ist davon, daß die Liebe noch nicht rein, der Glaube noch nicht lauter ist und unerschütterlich fest, daß wir noch zunehmen müssen in dem Werke des Herrn, wenn wir das Ziel erreichen wollen was vor uns liegt. II. Aber laßt uns zweitens sehen, was es mit diesem Wankelmuth bei dem, was wir aus Liebe zum Herrn und für ihn entbehren, in den Seelen derer, die wirklich an ihn glauben und ihn wirklich lieben, für eine Bewandniß habe. Petrus als er begann zu sinken, oder fürchtete daß er sinken werde, sprach: „Herr hilf mir“ und da streckte auch bald der Herr seine Hand aus und hielt ihn mit derselben fest. Ob es nur Beistand war zur Vollbringung dessen was der Beschluß der Jünger gewesen war den Petrus ausführte; ob nachdem er selbst bei dem Erlöser angelangt war sie beide in das Schiff stiegen, vermögen wir nicht zu entscheiden aus unserm Evangelio. Johannes aber sagt, sie hätten den Herrn in das Schiff nehmen wollen, aber es sei schon nahe am Lande gewesen und sie hätten angelegt. Ob es ein solcher Beistand des Herrn war, der dadurch geschah daß das Werk wie es gedacht so auch durchgeführt werden konnte und ein solches Ende nahm wie die Jünger es sich vorgestellt hatten, das vermögen wir auch nicht zu entscheiden – aber ein rettender Beistand war es, wenn der Herr die Hand des Jüngers ergreift und sie fest hielt, und Petrus konnte nicht mehr sinken, weil er durch die Kraft des Erlösers gestüzt war. Aber es war nicht die Rettung allein, sondern indem der Herr seine hülfreiche Hand darreichte, und die Tiefen seines Innern durchschaut hatte, sprach er mildern zu ihm: „Kleingläubiger was zweifelst du?“ das heißt, warum bist du so kleingläubig, daß du in solchen Zweifel gerathen kannst? und so war der Beistand des Herrn nicht nur eine Rettung sondern auch eine Warnung und Lehre. Es ist gewiß, eben so war Petrus aufgeregt als ihn später Khristus nach seiner Verleugnung fragte, ob er ihn lieb habe, und ihm den Auftrag gab seine Schafe zu weiden. Gewiß haben ihn diese Worte in die Tiefe seines Innern zurückgeführt und ihm den Grund seines Wankelmuths gezeigt; aber auch jetzt hatte er den festen Entschluß gefaßt [nicht daran] zu denken, sondern nur dem Ziele, welches das Bild des Herrn selbst und seine Gestalt uns am sichersten vorhält, mit sicherm Muthe und festem Herzen entgegen zu eilen. Ja, 27–28 mildern] milderm 17–19 Vgl. Joh 6,21
31–33 Vgl. Joh 21,15–17
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m. g. F., schlimmer als so kann es dem nicht gehen, der in der That wie Petrus an den Herrn glaubt, der die Zuversicht in seiner Seele fest gegründet hat daß er gekommen sei das Reich Gottes zu gründen, und ihm in wahrer Treue und Liebe gleicht. Denn der Herr kann die Seinigen prüfen und muß sie prüfen, damit sie selbst immer bestimmter erkennen lernen was ihnen noch gebricht, und was sie selbst noch in sich ändern und aus der Fülle seiner Gnade zu nehmen haben, prüfen kann und muß er sie, er muß sie in unsichere Umstände führen, damit ihre Abhängigkeit deutlich werde. Doch er kann sie nicht sinken lassen. Diese Worte aber führen | uns in das Innere unsers Herzens zurück. Wenn wir ihn erkennen können bei einem Werke was für ihn und in seinem Namen unternommen ein ernstes Streben in uns hervorbringt, was aus der Kraft des Wortes und der heiligen Schriften nicht kommt: dann freilich mögen wir uns wohl fragen, ob das Werk von ihm selbst eingeleitet sei daß es vollbracht werde, oder ob der Anfang unsrer Kleinmüthigkeit uns ein Zeichen sey davon abzulassen. Das können wir m. a. F., nicht anders entscheiden als nur in der Erfüllung dessen was uns sein Wille offenbart. Ja, derjenige der irgend etwas Großes oder Kleines in einem recht festen Glauben und mit einer geläuterten Liebe begonnen hat, und bei keinem Schritte, bei keiner Wendung der Sache, bei keinem menschlichen Glanze der auf ihn fallen könnte, bei keinem Uebergewicht seiner Person über eine große Menge der in dem Herrn geläuterten Seelen aus dieser Festigkeit des Glaubens und aus dieser Lebendigkeit der Liebe herausfällt sondern fest beharrt, an dem würden wir nicht zweifelhaft sein können, sondern wir würden uns sagen, ja es muß die göttliche Stimme des Herrn gewesen sein, die er auch in seinem Innern vernommen hat; ja der Herr ist es gewiß gewesen, der gesprochen hat; sein Wille, sein Werk ist dieser Glaube und dieser Muth und Er kann uns dahin führen, daß das geschehe was Er will. Wie, jede Unvollkommenheit die wir in dem Menschen erkennen, soll sie unsern Glauben schwächen? Nein, von alle dem was Recht ist wissen wir, daß es der Wille des Herrn ist. Aber von welchem menschlichen Werke könnte man das wohl sagen! Wenn wir aber nun wankelmüthig geworden sind und zweifeln, so werden wir darin dem Apostel ähnlich, wo wir fürchten zu sinken daß wir rufen: Herr hilf. Petrus hatte den Herrn nahe bei sich, der Weg von dem Schiffe zu ihm war ein kleiner; er rief, der Herr kam und reichte ihm die Hand. Aber das ist nicht etwas, worin wir dem Apostel nachständen, sondern dasselbe ist auch uns gegeben; er hat uns verheißen seine Nähe und seine Gegenwart bis an das Ende der Tage; wir haben ihn eben so und sind seiner Hülfe gewiß, er regiert von oben herab die Gemeine der Gläubigen, er hört 39–40 Vgl. Mt 28,20
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das Rufen seiner Gemeine und nimmt es auf, und hat uns verheißen, es soll uns gewährt werden was wir bitten in seinem Namen. Umso mehr werden wir uns ihm hingeben mit Selbstverleugnung wie sie seine Jünger zeigten, um dadurch daß er unsrer menschlichen Schwäche aufhilft zur wahren Stärkung in der Selbsterkenntniß und in dem Sittlichen zu gelangen. Das werden wir gewiß erreichen, so gewiß Petrus in dem Glauben durch den Sturm und die Wogen des Meeres ging, von der hülfreichen Hand des Herrn unterstützt und durch ihn gehalten. Durch solchen Wechsel, m. g. F., geht das Leben aller Khristen in dem Augenblick des Glaubens und der Liebe, des innigsten Durchdrungenseins, daß wir leben in ihm, daß sein Geist in uns ruft lieber Vater, daß wir im Werke des Herrn begriffen sind, daß wir in unserm Thun und Trachten ihm nachfolgen, der sich in unsrer Schwachheit mächtig offenbart: das alles wirkt sein Name, wenn unser Leben durch ihn in ein himmlisches übergehen soll. Aber dieser Wechsel soll nie in gläubigen Seelen die Oberhand gewinnen, sondern sie sollen immer fester werden in ihm, damit die Kraft ihres Willens wachse. So wir nur fest halten im Glauben, so ist seine Hülfe nahe, und weil sie immer gegenwärtig ist, so sollen wir es uns immer wie dem Petrus gesagt sein lassen, daß diejenigen, welche sich an ihn halten, nicht verderben können, daß er auf vielfache Weise aufs neue hilft und daß er bereit ist die Seelen der Menschen zu stärken, auf daß so der Mensch Gottes immer | mehr geschickt werde zu jedem guten Werke. Amen.
[Liederblatt vom 1. August 1824:] Am 7ten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu, der du meine etc. [1.] Möchten wir aus Gott gebohren / Rechte Jünger Christi sein, / Die nur ihn zum Herrn erkohren, / Sich nur seinem Dienste weihn! / Dazu wirk’ in unsern Herzen, / Herr, der Buße selge Schmerzen; / Mach uns durch den Glauben neu, / Seine Frucht sei Lieb’ und Treu. // [2.] Sehnlich sei der Seele Hoffen, / Ihre Sanftmuth Jesu gleich / Stets sei deinem Wort sie offen, / Ihr Gebet sei andachtsreich; / Die Geduld unüberwindlich, / Froh die Gottesfurcht und kindlich: / So bild uns sein Eigenthum / Ganz zu unsres Königs Ruhm. // [3.] Rett’ uns aus dem Weltgetümmel, / Bring’ uns unsrer Ruhe nah! / Unser Herz sey schon im Himmel, / Denn auch unser Schaz ist da; / 1–2 Vgl. Joh 14,13–14
11 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6
22–23 Vgl. 2Tim 3,17
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Daß wir immer mehr gewöhnen / Uns nach jener Welt zu sehnen. / Denn dein auserwählt Geschlecht, / Hat des Himmels Bürgerrecht. // (Brem. Gesangb.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun ruhen alle etc. [1.] Du klagst in schweren Leiden, / Christ, daß der Geist der Freuden, / Von dir gewichen ist. / Du seufzest: Herr, wie lange / Verzeuchst du! dir wird bange, / Daß du von Gott verlassen bist. // [2.] Hat, sprichst du, Gott vergeben, / Hat er mir Heil und Leben / In seinem Sohn verliehn: / Wo sind des Geistes Triebe? / Warum fühl ich nicht Liebe, / Nicht freudiges Vertraun auf ihn? // [3.] Sonst eilt’ ich seinen Willen / Mit Freude zu erfüllen, / Sein Wort war mir gewiß. / Jezt kann’s mein Herz nicht fassen, / Mein Muth hat mich verlassen, / Und meinen Geist deckt Finsterniß. // [4.] Oft wenn mich Zweifel quälen, / Klag ich aus Angst der Seelen; / Doch Hülfe bleibt mir fern. / Was ich im Herzen finde, / Ist immer nur die Sünde, / Nur Unmuth, keine Freud’ am Herrn. // [5.] Nicht zage! deine Schmerzen / Entspringen einem Herzen, / Das besser ist, als scheint. / Wenn du dich so betrübest, / Daß du den Herrn nicht liebest: / So bist du schon mit ihm vereint. // [6.] Wie Väter ihrer Kinder, / Erbarmt sich Gott der Sünder, / Die seinen Namen scheun. / Auch dir will er die Sünden, / Die sich bei dir noch finden, / Um Christi willen gern verzeihn. // [7.] Gott ließ so manchen Frommen / In diese Trübsal kommen, / Und stand ihm mächtig bei. / Du sollst dein Nichts empfinden, / Auf Gott allein dich gründen, / Und sehn was seine Gnade sei. // [8.] Du bist ihm werth und theuer; / Wie Gold geprüft im Feuer, / Gehst du aus dieser Last. / Sie soll dem Leichtsinn wehren, / Sie soll dich machen lehren, / Damit du haltest, was du hast. // [9.] Harr’ seiner, bet und wache; / Gott trägt und stärkt uns Schwache, / Ist Güte für und für. / Laß seine Huld dir gnügen, / Sein Wort kann ja nicht trügen, / Er hält die Hand wohl über dir. // (Gellert.) Nach der Predigt. – Mel. Nun danket alle etc. [1.] Will deine Hand mich hier / Auf rauhe Wege leiten, / So unterstüze mich / Wenn meine Tritte gleiten. / Laß mich in aller Noth / Auf deine Hülfe baun; / Und wann sie auch verzeucht, / Doch dir getrost vertraun. // [2.] Zulezt erlöse mich / Von allen meinen Leiden, / Wenn meine Stunde kommt, / Aus dieser Welt zu scheiden. / O Vater, dann verlaß, / Wenn meine Hülle bricht, / Mich Sterbenden mit Trost / Und froher Hoffnung nicht. //
Am 8. August 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
8. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 6,1–15 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 392–401; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 168v–174r; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 8. Sonntage nach Trinitatis 1824.
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Tex t. Joh. 6, 1–15. Darnach fuhr Jesus weg über das Meer an der Stadt Tiberias in Galiläa. Und es zog ihm viel Volks nach, darum, daß sie die Zeichen sahen, die er an den kranken that. Jesus aber ging hinauf auf einen Berg, und sezte sich daselbst mit seinen Jüngern. Es war aber nahe die Ostern, der Juden Fest. Da hob Jesus seine Augen auf, und siehet, daß viel Volks zu ihm kommt, und spricht zu Philippo, Wo kaufen wir Brot, daß diese essen? Das sagte er aber ihn zu versuchen, denn er wußte wohl, was er thun wollte. Philippus antwortete ihm, Zweihundert Pfennig werth Brots ist nicht genug unter sie, daß ein jeglicher unter ihnen ein wenig nehme. Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder Simonis Petri, Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zween Fische; aber was ist das unter so viele! Jesus aber sprach, Schaffet, daß sich das Volk lagere. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich bei | fünftausend Mann. Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie den Jüngern, die Jünger aber denen, die sich gelagert hatten; desselbigen gleichen auch von den Fischen, wie viel er wollte. Da sie aber satt waren, sprach er zu seinen Jüngern, Sammlet die übrigen Brokken, daß nichts umkomme. Da sammelten sie und fülleten zwölf Körbe von Brokken von den fünf Gerstenbroten, die überblieben denen, die gespeiset worden. Da nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus that, sprachen sie, Das ist warlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Da nun Jesus merkte, daß sie kommen würden und ihn haschen, daß sie ihn zum Könige machten, entwich er abermal auf den Berg, er selbst alleine.
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M. a. Fr. Diese Geschichte kennen wir wol alle aus den Erzählungen der andern Evangelisten, und da wir es nun in unserer jezigen Betrachtung mit dem Evangelio Johannis besonders zu thun haben, so laßt uns unsere Aufmerksamkeit vorzüglich auf dasjenige richten, was wir aus seinem Evangelio nur allein ersehen, und wovon die übrigen nichts erwähnen. Das erste dieser Art ist nun, daß Johannes die Sache so darstellt, als ob Christus, sobald er das Volk, das zum Feste in so großer Menge zusammenkam, zu sich heran kommen sah, schon den Gedanken gefaßt habe sie zu speisen, und daß er gleich anfangs die Nachfrage bei seinen Jüngern nur gethan um sie zu versuchen, weil er gewußt habe, was er thun wolle. Nach den andern Evangelisten scheint es, als ob der Herr erst später, nachdem er das Volk gelehrt und die kranken geheilt hatte, und es nun spät geworden war, auf den Gedanken gekommen sei sie zu speisen, hier aber erscheint es als eine vorbedachte Sache. Dabei aber dürfen wir doch nicht vernachläßigen, was die andern Evangelisten sagen. Daß er das Volk vorher lehrte und | auf ihre Bitten die kranken heilte, dies war das beständige Geschäft unseres Erlösers, wo sich die Menschen in großer Menge um ihn her versammelten, und wo sie warteten und wünschten die Worte der Weisheit von seinen Lippen zu hören, und schon gewiß waren, daß er ihre Bitten erfüllen und den Leiden ihrer angehörigen ein Ende machen würde. Das war nun etwas neues, wovon sie bisher keine Erfahrung gemacht hatten, daß der Erlöser sie auch speisete wie ein Hausvater die seinigen, das Gebet sprach, und dann das Brot unter sie theilte. Der Herr selbst aber wollte das angesehen haben als ein Zeichen, und er beklagt sich nachher, daß das Volk ihn suche nicht weil es das Zeichen gesehen und vernommen hatte, sondern weil es vom Brot gegessen und satt geworden sei. Daß sie satt geworden von so geringem Vorrathe auf so außerordentliche Weise, das war also nicht das Zeichen, sondern etwas anderes; und wenn wir den Herrn besser verstehen wollen als jene große Menge, so müssen wir das Zeichen suchen und die geistige Bedeutung dessen, das der Herr that. Lehren und heilen, das war damals sein gewöhnliches Geschäft, und das ist es auch jezt noch; auch jezt noch lehrt er uns in seinem Wort, und durch dasselbe verkündigt er noch jezt und läßt verkündigen das Reich Gottes, wovon er der Grundstein und das Haupt ist, die lebendige Anbetung des Vaters im Geist und in der Wahrheit; noch jezt 20 der] des 1–2.12–15 Vgl. Mt 14,13–21; Mk 6,30–44; Lk 9,10–17 37–38 Vgl. Joh 4,23–24
27–29 Vgl. Joh 6,26
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ziehet sein Wort die Herzen der Menschen zu ihm hin, daß sie auch jezt noch seine Weisheit empfangen. Damals heilte er leibliches Elend, aber auch das nur war ein Zeichen von den großen geistigen Heilungen, und diese gehen auch jezt noch ihren bestimmten und ungestörten Gang. In der Gemeinschaft mit dem Erlöser werden nicht augenblikklich und in diesem Sinne wunderbar, sondern allmälig durch seine Kraft und Hülfe, und also nicht auf die ge|wohnte und übliche Weise die Schwachheiten und Krankheiten der Seelen geheilt und die Schmerzen und Leiden der Sünden von den Menschen genommen. Aber das ist noch nicht alles, es muß noch das dritte hinzukommen, das ist das, daß er diejenigen, die sich wahrhaft um ihn hersammeln, auch speise und nähre. Ja wir haben alle das Gefühl von der Schwachheit und von dem innerlichen Bedürfnisse der menschlichen Seelen; wenn wir nun vom Herrn belehrt sind und kennen das Heil, das Gott den Menschen giebt, so ist unser erstes und nächstes Gebet dieses, Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben. Denn was wir erkennen in der Kraft und im Lichte seines Wortes, das will deswegen immer noch nicht übergehen in unser ganzes Leben, eben deswegen, weil die Triebe des natürlichen Menschen uns immer nach ganz verschiedenen Seiten hinziehen. Dies sind nun aber in ihren verschiedenen Gestaltungen die Krankheiten, die der Herr heilt. In dem Maaße als wir von ihnen genesen, wird der Wille des Menschen frei sich nach dem Evangelio zu sehnen, ob er es wol ergreife. Aber wenn wir auch so als frei gewordene Kinder in uns mehr und mehr das bessere annehmen, so ist das nächste Zeugniß von uns selbst doch immer das, was der Apostel Paulus in jenen Worten ausgesprochen hat, Das Wollen habe ich wol, das Vollbringen aber nicht. Daß wir dies nicht finden, das, m. a. Fr., ist die natürliche Schwäche und Kraftlosigkeit der Menschen, der nicht anders abgeholfen werden kann, als indem der Herr aus der Fülle seiner göttlichen Macht den Menschen nährt und speist. Darum weist er uns auf eine so innige Lebensgemeinschaft mit ihm hin, zum sichern Zeichen, daß wir seine Meinung recht verstehen, oder er stellt sich überall uns dar als das Brot des Lebens, und ladet die Menschen ein, nur das zu ge|nießen, wenn sie erfahren wollten und glauben, daß er der Sohn Gottes sei; so stellt er sich dar als den Weinstokk, aus dem Kraft und Leben in die Reben hineinströmt, und ermahnt die, die an ihn glauben, und das ewige Leben schon gefunden, und also die Kraft schon in sich tragen, auf diese lebendige Weise in ihm zu bleiben, weil sie sonst nichts thun könnten. Indem er ihnen dies sagt, so weist er sie auf die ursprüngliche Schwachheit der menschlichen Seele hin, die nicht durch sich selbst vermöge, den Men16 Mk 9,24
26–27 Vgl. Röm 7,18
33 Vgl. Joh 6,35
35–39 Vgl. Joh 15,5
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schen auf dem rechten Wege des Lebens zu erhalten, welche darin ihren Grund hat, daß von Anfang an der lebendige Geist, den Gott dem Menschen eingehaucht, doch nicht vermocht hat, den Menschen auf dieser Stufe zu erhalten, sondern daß er in die Sünde verfiel. Das ist es also, wodurch die Wohlthaten der Erlösung in uns vollendet sind, das ist die lebendige Gemeinschaft mit dem Herrn, die nicht nur besteht in der Annahme seines Wortes, nicht darin, daß durch das Gesez und durch die Regeln des christlichen Lebens, die er uns vorgeschrieben, die Gewalt der Sünde geschwächt werde, sondern daß wir in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm aus seiner Fülle nehmen Gnade um Gnade, das heißt, Kraft um Kraft, und von einer Kraft geleitet werden zu einer immer höhern. Das ist die Nahrung der Seele, wodurch sie gestärkt wird, und welche nur in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm zu finden ist. Dies hat er nun geoffenbart auf eine solche sinnliche Weise, um diejenigen vorzubilden, die sich damals in so großer Menge um ihn her versammelten, indem, je mehr er sich dem Ende seiner irdischen Laufbahn näherte, desto mehr ihm darum zu thun war, dem Reich Gottes, das er zu stiften gekommen war, einen lebendigen Anfang zu geben. Darum wollte er die Menschen so belehren, daß es nicht genug sei, wenn sie sein Wort hörten, wenn sie von dem Uebel und der Sünde geheilt würden durch | seine Kraft, sondern sie müßten auch von ihm die Nahrung des Geistes in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm empfangen, damit dem Unglauben abgeholfen werde, und zu dem Wollen das Vollbringen käme, damit die lebendigen Säfte des Weinstokks sich überall in die Reben ergössen, sich Leben darin bildete und erhielte. Und eben dies, m. g. Fr., war nichts zufälliges, worauf der Herr gekommen wäre, nachdem sich das leibliche Bedürfniß im Volke gezeigt, sondern es war ihm etwas vorbedachtes. Und als er seinen Jünger fragte, Wo nehmen wir Brot her, daß diese essen und gesättigt werden? so that er dies um sie zu versuchen, denn er wußte wohl, was er thun wollte. Was aber bei ihm ein vorbedachtes ist, das ist auch ein vorbedachtes im ewigen Rathschluß Gottes, denn der Herr thut nichts von ihm selber, sondern nur was er sieht und hört von seinem Vater; denn der Herr sagt, daß er gekommen sei, um den Willen Gottes zu erfüllen. Ach, m. g. Fr., oft hat der Herr durch seine Diener in den Zeiten des alten Bundes die Frage aussprechen lassen, Wo nehmen wir Brot her, daß diese alle essen? er hat verkündigen lassen das Zeugniß von 5 das] daß 9–11 Vgl. Joh 1,16
33–34 Vgl. Joh 5,19
35–36 Vgl. Joh 6,38
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der Schwäche und Kraftlosigkeit der menschlichen Natur, wie sie vom Anfang an gewesen, um uns aufmerksam zu machen auf die größere Kraft, die sich erst durch die Sendung seines Sohnes offenbaren sollte. Aber indem wir solche Klagen lesen über den geistigen Mangel, der sich überall offenbarte, da sich nirgends ein Verlangen zeigen wollte, um die Bedürfnisse der menschlichen Seele zu befriedigen: so that der Herr dies nur, um diejenigen, welche er liebt, zu versuchen, um ihre Sehnsucht aufzuregen und zu steigern; er wußte wohl, was er thun wollte. Das war sein ewiger Rathschluß seinen Sohn zu senden, nicht als Lehrer der Menschen, nicht als sol|chen, der die kranken heilt, sondern als das ewige Brot des Lebens vom Himmel gesandt, das wahrhaftige, von dem es heißt, daß den nicht mehr hungern werde, der davon ißt. Aber auch jezt hören wir noch oft dieselbe Frage, freilich aber nie, daß sie käme aus dem Munde des Herrn selbst, um diejenigen zu versuchen, die er liebt; auch jezt noch fragt man oft, ob eben das, was wir kennen aus seiner Fülle, was seit vielen Jahrhunderten die Gemeine des Herrn genährt, gesättigt und gestärkt hat, ob es genug sei, wenn man sehe auf die Menge der menschlichen Geschlechter, auf ihre verschiedenen Zustände und Kräfte des Geistes und des Gemüthes? Ob, wenn wir aus dieser Quelle unser Heil schöpften, ob dann andere nicht anders woher es nehmen müßten, wenn sie sollten satt werden und stark? Dies ist eine Frage, womit wir oft uns selbst versuchen müssen, um zu sehen, ob unser Glauben wanke, wenn wir sehen, daß es noch so viele kleine und große Gemeinschaften giebt, die, so oft es ihnen dargereicht wird, keinen Geschmakk finden wollen am Worte vom Reiche Gottes und an der Lehre vom Sohn Gottes, die das Wort wohl gehört haben, denen es aber eine Thorheit ist oder ein Aergerniß. Aber, m. g. Fr., laßt uns festhalten an dem Zeugniß, daß der Herr von Anfang an wußte was er thun wollte, und daß das ganze menschliche Geschlecht, wenn es an ihn glaubt, genug haben wird an seiner Fülle und satt werden von ihm als dem beständigen und täglichen Brote des Lebens, als der alleinigen eigentlichen Nahrung des Geistes, als der ursprünglichen Quelle, aus welcher wir die Kraft des geistigen Lebens nehmen können. Das zweite, was unser Evangelist vor den andern voraus hat in dieser Geschichte, ist das Ende des ganzen. Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus that, | erzählt Johannes, sprachen sie, Das ist warlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Da Jesus nun merkte, daß sie kommen würden und ihn haschen, daß sie ihn zum König machten, entwich er auf den Berg. 11–13 Vgl. Joh 6,33.35
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Sie sahen das Zeichen, aber sie verstanden die Bedeutung nicht, sondern blieben am äußerlichen haften und kleben, wie der Herr hernach zu denen sprach, die ihn zu Kapernaum wiederfanden, Ihr suchtet mich nicht darum, daß ihr Zeichen gesehen habt, sondern daß ihr von dem Brot gegessen habt, und weil ihr satt geworden seid. Bei diesem irdischen und leiblichen blieben sie stehen. Nur dürfen wir die freilich nicht tadeln, daß sie auch darin ein Zeichen fanden und ein Zeugniß dafür, daß sie glaubten, er sei ein Prophet, der in die Welt gekommen; auch das dürfen wir nicht tadeln, daß sie Christum zum König ausrufen wollten, denn er soll und will herrschen über die Gemüther der Menschen, und sagt selbst, daß er ein König sei, um ein Reich der Wahrheit zu gründen. Aber als sie kamen ihn zu greifen, daß sie ihn zum Könige machten, entwich er auf den Berg und entzog sich deswegen, weil sie auf eine äußerliche und leibliche Weise, wie es bei Königen dieser Welt geschieht, ihn ausrufen wollten, und er einen Streit für ein äußeres Reich dann beginnen sollte, da er doch sagt, sein Reich sei nicht von dieser Welt, und auch die Waffen dieser Welt für dasselbe nicht ergreifen wollte. Ja, m. g. Fr., so ist es! je mehr wir bei der Betrachtung der Wirkungen, die der Erlöser über die Menschen hervorbringt, beim äußeren stehen bleiben, desto mehr verbirgt er sich uns und entweicht auf das Gebirge, er ganz allein, und es kann auch nicht anders sein. Wer wollte läugnen, groß sind auch die äußern Segnungen des Evangeliums. Es unterscheiden sich die christlichen Völker von andern, die in der Blindheit und der | Finsterniß des Heidenthums wandeln, durch ein mehr geschärftes Auge und Gefühl für Recht und Unrecht; wie viel milder ist das Leben, wie viel angenehmer gestaltet sich auch äußerlich alles, wenn diese herrliche Kraft waltet und herrscht. Aber hiebei stehen bleiben, heißt auch nur den Herrn suchen, weil man das Brot gegessen hat, seine Herrschaft suchen, damit das Leben zur Anmuth und Schönheit erhoben werde. Das heißt nun aber, die Zeichen die er thut nicht verstehen, das innere und die Tiefen seiner Absicht und das Ziel, was er den Menschen bringt, nicht durchdringen. Und wie viel schönes und herrliches wir auch gewinnen mögen an den Segnungen des Christenthums, wenn die Menschen so versammelt sind in seinem Namen, so ist er nicht unter ihnen, sondern entweicht in das Gebirge, um so allen diesen falschen und schlechten Ansichten und Verwirrungen zu entgehen, so viel er vermag. Geistig will der Herr betrachtet sein, geistig ist all sein ganzes Sein und Wirken, und nur der geistige Mensch vermag es zu richten; nicht von dieser Welt ist sein Reich, sondern dazu ist er 3–5 Joh 6,26 Joh 4,23
11–12 Vgl. Joh 18,37
16–17.40 Vgl. Joh 18,36
40–2 Vgl.
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gekommen, daß er dem Vater Anbeter verschaffe im Geist und in der Wahrheit, und in allem andern wird durch seine Kraft erkannt alles in dem Leben, was vom Geist ausgeht. So durchdringt er immer mehr die, die ihn aufsuchen. Das Fleisch ist kein nüze, sagt er in einer folgenden Rede; alles irdische von noch so verschönerten sinnlichen Seiten angesehen, ist nicht nüze; alles äußerliche des Lebens von seiner geselligen lieblichen noch so schönen Seite ist Fleisch. Die Worte des Lebens, die Christus giebt, sind Geist und Leben, und ist er ein König, so ist er es über das Reich des Vaters, der Wahrheit und des Wortes, das in das innerste Mark der Seele dringt und alles durchschneidet, was den Menschen hemmen könnte, zu diesem Geiste zu gelangen. Es ist nur Verdunkelung der Seele und ein neuer Unglaube, wenn wir | die geistigen Wirkungen des Erlösers, oder die Schönheit der Seele, die Reinheit des Herzens, die Kraft des geistigen Lebens, das er zu stiften gekommen war, in der äußern Gerechtigkeit und in der Vollkommenheit äußerer Geseze und äußerlich guter Werke suchen. Denn auch das gesezliche Wirken, abgesondert von der Gemeinschaft mit ihm, von dem Werk des Glaubens, der durch die Liebe thätig ist, das ist Fleisch, das ist kein nüze. Sollen wir ihn erfahren, sollen wir ihn uns aneignen als den Fürsten des Lebens, so müssen wir das alles von uns thun und sein Wirken nur von der geistigen Seite betrachten; dann ist er gegenwärtig, wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen, dann entzieht er sich uns nicht und entweicht auf das Gebirge, dann kehrt er ein in das innere unserer Seele und macht daselbst Wohnung mit dem Vater, den er uns offenbart hat, dann ergießen sich immer reichlicher die Ströme des Lebens von ihm in uns, dann haben wir dasjenige von ihm, wodurch er sich als das Brot, was vom Himmel kam, ankündigt. So laßt uns immer zum innersten uns hinwenden, in der lebendigen Gemeinschaft mit Christo erstarken zu dem Menschen aus Gott, der von der Kraft des Herrn nimmt, und der geschikkt ist zu einem jeglichen Werke Gottes, damit wir so wahre Diener seien und Unterthanen des Königs, dem über die Gemüther und Vernunft der Menschen zu herrschen gebührt! Amen.
4.7–8 Joh 6,63 9–11 Vgl. Hebr 4,12 21–22 Vgl. Mt 18,20 Joh 14,23 27–28 Vgl. Joh 6,41.51 30–32 Vgl. 2Tim 3,17
23–25 Vgl.
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Am 15. August 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
9. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 14,26 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 4, 1826, S. 231–243 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 535–545; 21844, S. 586–596 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 436–445 b. Nachschrift; SAr 109, Bl. 21r–23r; Sobbe (evtl. Parallele der verloren gegangenen Druckvorlage) Texteditionen: Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers 231
Ueber das Gebot Christi: um Seinetwillen zu hassen. Text.
Lukas 14, 26.
M. a. F. Wir dürfen nur hören, daß sich der Herr dieses harten Wortes bedient, das ich nicht einmal gerne wiederhole, so ergreift uns gewiß auch gleich Alle übereinstimmend das Gefühl, so wie wir es gewöhnlich zu brauchen pflegen in seinem eigentlich buchstäblichen Sinne, könne es hier und überhaupt als eine Aufforderung des Erlösers nicht zu verstehen seyn. Auf der anderen Seite aber haben wir gewiß schon oft genug die Erfahrung gemacht, daß gewöhnlich gar wenig Ehrfurcht vor dem göttlichen Worte, wie es aus dem Munde des Erlösers und seiner Jünger gekommen ist, dabei zum Grunde liegt, wenn Manche so leicht dazu schreiten, ein Wort der Schrift, wenn es ihnen in seinem unmittelbaren nächsten Sinne nicht einleuchten will, umzudeuten, und sich mit unbestimmten Milderungen zu begnügen, die sie ihm unterlegen. Denn auf diese Weise ist es nicht möglich, was doch der Segen seines Wortes seyn soll, daß wir auf alle Vorschriften für unser Leben, die wir aus der Schrift ziehen, als auf unumstößliche göttliche Gebote bauen. Vielmehr erkennen wir überall in solchen Beschränkungen auf’s Gerathewohl unsere eigene Willkühr; und darum
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ist es nicht möglich, daß wir auf diese Weise nicht sollten hin und her schwanken, bald mehr bald weniger in solche Vorschriften hineinlegen, und das Herz kann nicht fest werden in dem, was wir befolgen sollen. | Hier aber ist es nicht eine einzelne Vorschrift, die uns der Herr giebt, sondern er stellt sogar eine Bedingung auf, unter welcher allein wir überhaupt ihm nachfolgen und seine Jünger seyn können. Hier also müssen wir, so gewiß unser Glaube an ihn und unsere Hoffnung auf ihn uns lieb und werth sind, danach trachten, seines Wortes ganz mächtig zu werden, um mit vollkommener Sicherheit zu wissen, wie wir es verstehen sollen. So laßt uns denn dieses Gebot des Herrn näher mit einander betrachten, und in dessen rechtes Verständniß einzugehen suchen. Es wird dabei auf Zweierlei ankommen – Erstens, daß wir wissen: was meint der Erlöser, wenn er sagt: „wir sollen hassen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern“?, und Zweitens: unter welchen Umständen findet dieses Gebot des Erlösers seine Anwendung? Diese beiden Fragen wollen wir uns aus anderen Worten des Herrn zu beantworten suchen. I. Zuerst, m. a. F., werden wir wohl dabei bleiben müssen, daß, wenn der Erlöser sagt: Wer nicht hasset Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, der kann nicht mein Jünger seyn, dieses Wort unmöglich eine Aufforderung enthalten könne zu dem Uebelwollen, welches das eigentliche Wesen des Hasses ausmacht. Und dieses behaupten wir nicht etwa, weil es uns so besser gefällt, sondern weil wir nicht seinen und seiner Apostel eigenen deutlichen Worten widersprechen wollen. Sein Gebot ist die Liebe, und wenn wir recht vollkommen sind in seiner Nachfolge, so sollen wir geführt werden bis zu einer Liebe, durch welche unsere Seele befreit werden soll von jeder Furcht. Wäre es also wohl möglich, daß Er selbst uns das sollte zum Prüfsteine für unsere Fortschritte setzen, ob wir auch wohl übelwollen können, und ob wir wirklich übelwollen, und zwar nicht etwa denen, die uns gar nicht näher angehen oder die vielleicht uns selbst hassen, sondern sogar denjenigen, welchen uns die Natur am Nächsten gestellt hat, und auch sie am Nächsten unserer Liebe empfohlen? Wer da fürchtet, der ist ein Knecht, und von dieser Knechtschaft der Furcht soll uns die reine Liebe befreien. Wer aber übel will, der ist ein Zerstö|rer, und weit besser ist es, immer ein Knecht zu seyn, als ein Zerstörer in dem Reiche Dessen, der Alles schafft und erhält! Sollen wir also nicht Knechte seyn, wie viel weniger Zerstörer. Und betrachten 16 Schwestern“?,] Schwestern,?“
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wir weiter, wer denn diejenigen sind, die der Herr hier als Gegenstände unseres Hasses bezeichnet: hat er nicht selbst die Liebe der Kinder zu den Eltern als das Nächste und Natürlichste seiner und unserer Liebe zu dem himmlischen Vater aufgestellt? Wie aber könnte wohl diese menschliche Liebe ein Sinnbild jener göttlichen seyn, wenn sie jemals, unter welchen Umständen auch immer, sich mit Recht in ein Uebelwollen verwandeln könnte? Und derjenige, der nicht einmal vermochte, seine Feinde zu hassen, die ihn zum Tode brachten, sondern ihnen eine mitleidige Liebe schenkte, die sich im Gebete um Vergebung für sie gegen seinen Vater ergoß, weil sie nicht wüßten, was sie thäten, der sollte uns auffordern, irgend Einem, und zwar unserem Nächsten und Liebsten, übel zu wollen um Seinetwillen? Nein, darüber können wir sicher seyn aus seinem Worte; das ganze lebendige Bild, das wir von ihm in unseren Seelen tragen, bürgt uns dafür, dieß kann seine Meinung nicht seyn. So laßt uns denn zunächst, um nicht etwa zuviel zu thun, nur ein Weniges zurückgehen. Es giebt eine Geringschätzung Anderer, welche schon eine gewisse Verwandtschaft hat mit dem, was wir eigentlich Haß nennen, eine Vernachlässigung und Hintansetzung, die nur noch eines Wenigen bedarf, um sich in das Gegentheil der Liebe zu verwandeln; sollte er das vielleicht gemeint haben? Ja freilich hat eigentlich kein einzelner Mensch an sich einen Werth für uns, sondern nur in der Gemeinschaft mit dem Erlöser und um Seinetwillen. Daher auch Alle, die wir stark und fest erfinden in der Liebe zu ihm, immer auch unserer innigsten Achtung am Meisten gewiß sind. Aber sollen und dürfen wir um Seinetwillen diejenigen geringschätzen, denen es noch nicht so gut geworden ist? Unmöglich, m. gel. F., wenn der Erlöser nicht sich selbst widersprechen soll. Denn er hatte Brüder, die nicht an ihn glaubten, er trug sie aber dennoch und entzog ihnen nicht seine brüderliche Liebe. Denn wenn | er freilich vielleicht nicht selten Ursache hatte, ihnen etwas Aehnliches zu sagen, wie das Wort, das der Evangelist Johannes uns aufbewahrt hat: Meine Stunde ist nicht eure Stunde, gehet ihr nur hin, die meinige ist noch nicht gekommen: so ist das keine Geringschätzung. Und wenn er auch ein Andermal sagte: seine Jünger wären ihm Brüder und Schwestern und Mütter: so wollte er damit nur sagen: daß es noch eine höhere brüderliche Liebe gebe, als jene natürliche. Aber noch mehr: hat er nicht gesagt, daß er gekommen ist auf Erden ein Arzt, um die Kranken zu heilen, ein freundlicher Hirt, um das Verlorene zu suchen? und wir könnten glauben, er habe uns aufgefordert, diejenigen zu hassen, die doch der Ge8–11 Vgl. Lk 23,34 Lk 8,21
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genstand seiner eigenen Liebe, seiner heilenden Kraft sind und bleiben werden für alle Zeiten, bis Alles herbeigeführt ist zu seiner Heerde? Nein, m. a. F., ein Geringschätzen auch gegen den Kleinsten und Geringsten, der ein Gegenstand der Liebe und der Wohlthaten des Herrn ist, das können und dürfen wir nicht als sein Gebot annehmen; das würde allen Aufträgen, die er allen seinen Jüngern gegeben hat, widersprechen. Denn wenn wir die Verlorenen geringschätzten: so könnten wir ihm nicht helfen, sie suchen und herbeiführen. Anders als das bisher Versuchte, klingt, was der Erlöser selbst an anderen Stellen sagt: wer sein Jünger seyn wolle, der müsse verlassen Vater, Mutter, Weib, Kind, Brüder, Schwestern, und ihm nachfolgen. Einem solchen verheißt er mit milder schonender Liebe: was er verlassen habe um Christi willen, das werde er hundertfältig wiederfinden im Reiche Gottes. Ist es nun etwa eben dieses Verlassen, was Christus auch hier meint, nur daß er es hier mit einem härteren Namen benennt? Schwerlich werden wir auch das glauben können, wenn wir die Sache etwas näher betrachten. Damals war es freilich nothwendig, daß diejenigen, die sich näher an ihn anschlossen und die erste so vielen Gefahren ausgesetzte Gemeinschaft zur Gründung des Reiches Gottes stiften wollten, sich mehr oder weniger lossagen mußten von den Ihrigen, welche diese Gefahren | nicht theilen und überhaupt in diese Sache nicht verwickelt werden wollten. Aber dieses Verlassen konnte ja in voller Liebe geschehen, und hing eben so sehr mit der Schonung gegen sie zusammen, als mit dem Eifer für die Sache. Nicht anders als jetzt, wo doch auch die Meisten durch ihren Beruf, und also durch die Stimme des Gewissens, von den Ihrigen hinweggetrieben werden, um in der Ferne ihre Pflichten zu erfüllen, an der Stelle, die der Herr ihnen anweist, um dort ihr eigenes Leben zu gestalten, – ist nun dieß Verlassen auf irgend eine Weise auch ein Nachlassen in der Liebe? Mit nichten. Mit sehnsüchtigen Blicken geleiten die Eltern ihre Kinder in die Welt hinaus, freuen sich ihres Wohlergehens, die Gemeinschaft des Geistes bleibt, wenn auch der Raum trennt, und das Verlassen, sofern es der Liebe auch gar keinen Eintrag thut, ist nicht Haß zu nennen. Ja auch jetzt finden wir nicht selten jener Zeit noch ähnlichere Beispiele, daß einzelne Menschen von der inneren Stimme des Berufs getrieben, sich losreißen aus den gewohnten Kreisen, ja auch aus dem Vaterlande, um unter ferneren Völkern, wie die ersten Diener des Herrn, sein Wort zu verkündigen und sein Reich zu fördern. Ob sie Recht haben, so zu thun, das hängt davon ab, wie fest ihr Herz ist, und wie wahr und für sie unabweislich die Stimme, die sie in ihrem Inneren vernehmen. Aber je mehr sie wahr ist, je mehr 10–14 Vgl. Mt 19,27.29; Mk 10,28–30; Lk 18,28–30
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das recht ist, was sie thun, um so weniger kann solche Entfernung der Liebe schaden, oder einen so gehässigen Namen verdienen. Zwar sagt man, es sey schon sonst der Geist mancher kleineren christlichen Gemeinschaft gewesen, und finde sich auch noch jetzt bei mancher, daß diejenigen, die sich zu ihr bekennen, auf eine falsche Weise Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern verlassen und ihnen entsagen müssen, daß es wirklich der Liebe schadet und alle geistige Gemeinschaft abgebrochen wird. Allein die Apostel und die ersten Christen wenigstens haben dieses aus der Vorschrift Christi in unserem Texte nicht gefolgert. Ja, wenn je eine christliche Gemeinschaft den Satz aufstellt und darnach lebt: daß die Liebe zum Herrn erfordere, | der Liebe gegen alle diejenigen zu entsagen, die uns nach den Gesetzen der Natur vorzüglich werth seyn müssen: so dürfen wir dreist sagen, daß, je länger je mehr, wenn auf diesem Wege fortgegangen wird, jede Spur wahrhaft christlicher Gesinnung aus einer solchen Verbindung entweichen muß. Denn daß unser Herz den natürlichsten Verbindungen entfremdet werde, daß wir diejenigen von unserer Liebe ausschließen, um deren Wohl uns zu bemühen zu unserem ursprünglichen Berufe gehört: das kann nie die Wirkung seyn von unserer Anhänglichkeit gegen Den, welcher selbst um das Wohl Aller bis zum Tode bemüht gewesen ist, und uns ihm zu folgen berufen hat. Was bleibt uns also übrig, und welchen Sinn können wir dem Worte des Erlösers beilegen? Laßt uns also fragen, wenn doch Haß, als das Gegentheil der Liebe, immer wenigstens eine Verminderung derselben seyn muß: ob denn vielleicht zu dem eigentlichen Wesen der Liebe noch etwas Anderes gehöre, als jenes Wohlwollen und Wohlthun, etwas, das eher eine Verminderung erleiden kann, als dieses? Allerdings gehört außer dem, was wir dem geliebten Gegenstande gerne thun möchten, zur Liebe auch noch die lebendige Freude an dem Daseyn desselben, die Freude über unseren innigen Zusammenhang mit ihm, das Wohlgefallen an jedem Eindrucke, den er auf uns ausübt, und die Bereitwilligkeit, mit der wir uns gerne allen seinen Einwirkungen hingeben, und Alles mit ihm theilen wollen, was ihn selbst bewegt. Ist es nun etwa dieser Theil der Liebe, der eine Verminderung erleiden kann, welche eine solche Bezeichnung vertrüge? Kann es irgendwie geschehen, daß wir um des Erlösers willen, und also durch ihn und unser Verhältniß zu ihm bewogen, dieser Hingebung Schranken setzen müßten, und uns vielmehr den Eindrücken, die Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern auf unsere Seele ausüben wollen, zu entziehen suchen? Ist es möglich, daß es jemals unsere Pflicht wird, uns gegen diese sonst so geliebten Einflüsse zu verwah5 falsche] Kj solche
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ren? Ja, m. g. F., diese Möglichkeit müssen wir freilich eingestehen! Und höchst wahrscheinlich war eben dieses auch | der Fall des Erlösers, damals, als er seine Brüder nicht vor sich ließ, sondern erklärte: die sein Wort hörten, wären in einem höheren Sinne seine Brüder. Denn aus keiner anderen Aeußerung in unserem Evangelium müssen wir schließen, daß die Seinigen in der Absicht kamen, um ihn, wiewohl aus guter Meinung in seinem Gange zu stören, ihn über seinen Beruf wo möglich ungewiß zu machen, und ihn von demselben abzuziehen. So kann es auch uns begegnen, daß die Unsrigen uns in unserem Berufe, Christo zu folgen, irre machen und uns von Dem entfernen und losreißen wollen, bei dem allein wir unser Heil suchen. Je mehr wir nun für uns selbst unserer Schwachheit wegen zu fürchten haben, um desto mehr muß sich dann das Herz zusammenziehen und stählen gegen die Zumuthungen der Geliebten und gegen das Andringen ihrer mißleiteten Liebe; und daraus entsteht denn ein Widerstreben, welches freilich das Gegentheil ist von jener Hingebung der Liebe, und daher, wenn es recht stark bezeichnet werden sollte, in der Sprache jener Zeit auch mit dem Namen des Gegentheils der Liebe überhaupt benennt ward. Sein Ohr verstopfen gegen das, was Vater, Mutter Weib, Kinder, Brüder und Schwestern verlangen; sich auf alle Weise hüten und verwahren, daß ihre Worte keinen Eingang gewinnen in unsere Herzen, – das ist es, was der Erlöser verlangt, wo es zur Erhaltung unserer Treue gegen ihn nöthig ist, das meint er, wenn er sagt: „wer nicht hasset Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder und Schwestern um meinetwillen, der kann mein Jünger nicht seyn.“ Damit wir aber auch seine Meinung recht genau fassen, und nicht dahin verleitet werden, früher als nöthig ist, wenn auch nur der hingebenden und nicht der thätigen Liebe, etwas zu vergeben: so wollen wir uns nun auch die zweite Frage beantworten: unter welchen Umständen nämlich die Nothwendigkeit eintreten könne, in diesem Sinne die Geliebten unseres Herzens zu hassen? II. Wir kennen gewiß Alle, m. g. F., noch ein anderes ernstes und strenges Wort des Erlösers, wenn er sagt: „wer | nicht mit mir ist, der ist wider mich, wer nicht mit mir sammelt, der zerstreuet.“ Deßhalb ist meine erste Warnung, daß nicht etwa Jemand, von diesem Worte eine falsche Anwendung machend, glaube, schon dieß, wenn Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder und Schwestern nicht mit uns sind, nicht ganz Eines Sinnes mit uns, und Einer Ansicht über das Verhältniß des Erlösers zu uns und über unsere Verpflichtungen gegen ihn, schon dieß sey für uns nach seiner Anweisung hinreichender 3–4 Vgl. Mt 12,47–49; Mk 3,32–35; Lk 8,20–21
33–34 Mt 12,30; Lk 11,23
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Grund, sie in dem angegebenen Sinne zu hassen. Vielmehr würde dieß ganz gegen den Sinn des Erlösers seyn; denn freilich, welche nicht mit ihm sind, die sind in gewissem Sinne wider ihn, – aber ist er deßhalb wider sie? Könnten wir in seinem Namen wider sie seyn, so müßten wir aufhören, mit ihm das Verlorene zu suchen, und durch ihn die geistig Kranken zu heilen, so müßten wir uns selbst ausschließen von der Theilnahme an seinem Werke, und also von dem reinsten Genusse, den uns die Gemeinschaft mit ihm gewährt. Hat er uns aber verheißen, daß er alle die zu sich ziehen wolle, die der Vater ihm gegeben, und hegen wir diese Hoffnung mit Recht für Alle, denen sein Wort eben so nahe ist, als uns: so müssen auch wir, als die früher Hinzugekommenen, uns gern seinem Dienste in unserem Kreise weihen; und ist den Unsrigen noch eine Umkehrung zum Erlöser nothwendig: so muß zunächst unsere Liebe seyn, und was wir thun können, um sie auf den rechten Weg zu leiten, diese Umkehr zu bewirken. Gewiß, wenn der Erlöser nicht sicher ist, daß wir ihm unsere Dienste leisten bei denen, die durch die Natur uns die Nächsten sind: auf welchen anderen Dienst wird er dann wohl von uns rechnen können? Wollten wir aber glauben, ohne Liebe etwas thun zu können, um Glaube und Liebe zu ihm entzünden, so müßten wir vergessen haben, daß der Glaube, der doch hier vorzüglich wirksam seyn muß, nur durch die Liebe thätig ist. Und zwar ist hierzu gerade die Hingebung der Liebe nöthig, die uns erst Vertrauen einwirkt, und uns in den Stand setzt, den Schaden recht kennen zu lernen, den wir gern heilen möchten. Daß also unsere Nächsten und Geliebten noch nicht | mit uns sind, das kann noch kein Grund seyn, sie in dem Sinne des Erlösers zu hassen. Aber wenn sie mit ihrer entgegengesetzten Denkungsart sich auf alle Weise gegen uns stellen; wenn sie, von demselben Eifer für ihre Meinungen beseelt, als wir für die unsrige, uns durchaus überzeugen wollen: ihre Ansicht sey die wahre, wir aber im Irrthume befangen und geblendet; wenn sie uns vielleicht mit Geschick und Kunst zusammengestellte Scheingründe in eine gefährliche Nähe bringen: soll nicht das wenigstens Grund genug seyn, auf unsere Verwahrung zu denken und unser Herz gegen sie zusammenzuziehen und zu verschließen? Nein, gewiß! Denn das würde wenig Vertrauen voraussetzen auf die Sache, der wir dienen. Wir sollen ja bereit seyn zur Verantwortung Jedem, der uns den Grund fordert der Hoffnung, die in uns ist, – und wir sollten nicht auch unsererseits bereit seyn, die Verantwortung 20 ihm] zu ergänzen wohl zu 8–9 Vgl. Joh 12,32
20–22 Vgl. Gal 5,6
37–38 Vgl. 1Petr 3,15
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derjenigen zu hören, die durch die Natur ein Recht haben auf unsere geistige Gemeinschaft, auf unsere Aufmerksamkeit und Theilnahme? Sind ihre Gründe auch nur Scheingründe; wenn sie nur selbst von der Wahrheit derselben überzeugt sind: so geben sie uns durch deren Mittheilung das Beste, was sie haben, und das ist Liebe, eine Liebe, mit der sie die Wahrheit fördern wollen. Die sollten wir durch kaltes Zurückziehen vergelten dürfen? Nein, m. g. F., das kann nicht die Meinung des Erlösers seyn, daß wir uns dem Wahrheitsuchen in Liebe irgendwie, zumal gegen diejenigen entziehen sollten, welche auch auf den Mitbesitz unseres geistigen Eigenthums, so weit ein solcher möglich ist, ein wohlbegründetes Recht haben. Wenn der Herr zu seinen Jüngern sagt: sie sollten in alle Welt gehen und sein Wort verkündigen, – wie viel mehr kann er von einem Jeden unter uns fordern, daß wir ihn, seine Lehre und seinen Bund, denjenigen in der wahren Gestalt darstellen, die gerade uns am Besten verstehen würden, weil sie mit uns am Meisten leben. Wie können wir aber erwarten, daß sie uns hören werden, wenn wir unsererseits uns weigern, sie zu hören! | Wenn nun aber auch ein solches Andringen keine Art von Entfernung hervorbringen darf: was bleibt uns noch übrig, und welches werden die Umstände seyn, unter denen dieses Gebot des Erlösers seine Anwendung findet? Vielleicht giebt es nur Einen solchen Fall, der auch damals gewiß öfter eintrat; eben so oft wir auf irgend eine Weise in diesen Fall kommen, wird auch dieses Gebot des Herrn die einzige Richtschnur seyn, der wir folgen müssen, und von der wir uns, so lieb uns unsere innere Ruhe ist, nicht entfernen dürfen, wie theuer auch die Befolgung derselben uns übrigens mag zu stehen kommen. Ich meine den Fall, wenn diejenigen, die uns nahe stehen und mit uns nicht Eines Sinnes sind, uns von unserer Ueberzeugung abzubringen suchen, und uns zu etwas verleiten wollen, was derselben zuwider ist; aber auf eine andere Weise, als durch Gründe. Gründe sind die Werkzeuge und Waffen der Wahrheit; diese soll Jeder handhaben und damit streiten für seinen Glauben nach seiner besten Ueberzeugung, und aus solcher Eröffnung der Gemüther gegen einander kann zuletzt nie etwas Anderes entstehen, als eine gesegnete Umwandlung dessen, der sich verirrt hatte im Geiste der Wahrheit und des Lichtes. Aber wenn Brüder und Schwestern, oder wer sonst auf eine gleiche Liebe ein Recht hat, irgend etwas, das wider unsere Ueberzeugung streitet, etwa als eine unschuldige Gefälligkeit von uns verlangen, und die Erweisungen ihrer Liebe zum Preise darauf setzen; wenn Vater und Mutter oder die sonst ein ähnliches Ansehen über uns auszuüben ermächtigt sind, was rein aus unserer Ueberzeugung hervorgehen muß, wenn 11–13 Vgl. Mk 16,15
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es nicht Sünde seyn soll, zu bewirken suchen auf einem anderen Wege, etwa wie sie sonst gewohnt waren in den Tagen der Kindheit, als wir Gutes und Böses nicht unterscheiden konnten, und Gründe anzunehmen noch nicht fähig waren, so auch jetzt noch uns zu leiten suchen durch sinnliche Furcht oder Hoffnung, oder wie es im bürgerlichen Leben in solchen Dingen geschieht, bei denen es nur darauf ankommt, daß sie geschehen und möglichst richtig geschehen, mag nun derjenige, der sie zu thun hat, sie für gut | halten oder nicht, wie da für den, welcher sich auszeichnet, angenehme Aussichten und Hoffnungen eröffnet werden, desjenigen aber Strafen warten, der sein Theil nicht gebührend erfüllt; wenn, sage ich, in solcher Art auch auf dem Gebiete des Glaubens auf uns gewirkt werden will, um etwas gegen unsere Ueberzeugung durch Furcht und Hoffnung, durch Drohungen und schmeichlerische Rede von uns zu erreichen: ja dann, m. g. F., dann gilt es, das ohnedies schwache Herz zusammenzuziehen und zu verschließen, gegen verkehrte Einflüsterungen einer mißleiteten Liebe zu bewahren, ehe noch irgend eine verderbte Lust in unserem Inneren ein Bündniß eingeht mit denjenigen, die uns gerne ablenken möchten von dem eingeschlagenen Wege des Heils; dann sind wir gewiß vollkommen befugt, gegen diejenigen, die uns die Liebsten sind, denselben Ernst und dieselbe Strenge anzuwenden, womit der Herr einen geliebten Jünger abwendete, als dieser ihm auch abschmeicheln wollte, er solle sich vor allen Dingen hüten, daß ihm nicht dieses und jenes begegne. Ja, wo immer unser Wahrheitssinn und unser Pflichtgefühl bestochen werden soll; wo man durch Lockungen oder Drohungen Entschlüsse und Handlungen aus uns hervorrufen will, zu welchen nicht nur unser Herz uns nicht treibt, sondern solche, daß wir erst die innerste Stimme des Gewissens übertäuben müßten, ehe wir uns dazu bequemten, – da gilt das Wort: Man muß Gott mehr gehorchen, denn den Menschen, und indem man ihnen Gehorsam und Nachgiebigkeit versagt, lieber das Ansehen auf sich nehmen, daß man sie hasse, damit nur nicht unsere eigene Lust, von natürlicher Liebe und Achtung den Vorwand nehmend, uns untreu mache gegen die Stimme Gottes in uns. Aber, m. g. F., wir können unsere Betrachtung nicht schließen, ohne uns noch über etwas zu verständigen. Auf der einen Seite können wir uns nicht bergen – der Erlöser hat Recht, wie immer; er hat uns das einzige Mittel vor Augen gestellt, wie wir bei unserer Schwachheit können treu seyn in seinem Reiche, wie wir die Versuchungen zum Gegentheile ab|wehren können, auch in ihrer gefährlichsten Gestalt, und sicher ist sein Rath hier wie überall. Aber wenn wir doch genö20–24 Vgl. Mt 16,21–23; Mk 8,31–33
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thigt sind, um das Große festzuhalten, irgendwie der Liebe Gewalt anzuthun, und einen Theil unserer Wirksamkeit aufzuopfern: so ist das sicherlich immer ein Zeichen der menschlichen Unvollkommenheit, von welcher wir uns auch, wie denn Alles unter den Menschen, und zumal unter den Christen, gemein ist, unser Theil zuschreiben müssen, und nicht etwa glauben, daß wir nur darunter leiden, ohne dazu beizutragen. Ja, ich gebe es zu, es ist eine Verkehrtheit, auf den Glauben und die Ueberzeugung anders wirken zu wollen, als durch Gründe und durch die Kraft der Wahrheit. Aber wie entsteht diese Verkehrtheit, und wie erhält sie sich? Thut wohl irgend Jemand – er müßte denn ganz ohne Sinn seyn – etwas, wovon er gar keinen Erfolg erwartet? Gewiß nicht. Wenn also die Unsrigen die Hoffnung hegen, durch solche falsche sinnliche Mittel auf unser Herz zu wirken, damit es den Verstand gefangen nehme und das Gewissen betäube: so müssen wir diese Hoffnung selbst verschuldet haben; und wenn es ein noch so sehr allgemeiner Glaube ist, daß es überall möglich sey, der Unwahrheit und dem Unrechte den Sieg zu verschaffen, weil nämlich ein Jeder solchen Bestechungen unterworfen sey, und daß jeder Mensch für Jedes seinen Preis habe, wenn man es nur verstehe, seine Sinnlichkeit auf der rechten Seite anzugreifen: so liegt auch diesem Glauben eine gemeinsame Verschuldung zum Grunde. Wir veranlassen ihn dadurch, daß wir zu oft zeigen, wie wir weit mehr Werth, als Recht ist, auf dasjenige legen, was Menschen geben und nehmen können, da wir uns doch laut dazu bekennen: nur nach Einem zu trachten und nach dem Reiche Gottes, und nur Eines zu fürchten: daß wir nicht treu erfunden werden. So laßt uns denn darauf unser eigenes Herz prüfen, m. g. F., und damit wir Glauben halten und einen guten Kampf kämpfen, so laßt uns immer mehr von Allem uns reinigen, was je mit denen, die uns von der rechten Bahn ablenken möchten, eine verderbliche Verschwörung eingehen könnte gegen die Stimme unseres | Gewissens, damit endlich unser Herz fest werde. Denn sind wir einmal als solche bekannt, so werden wir nicht leicht mehr in den Fall kommen, von dieser Vorschrift Christi Gebrauch zu machen; und das ist ja viel seliger. Wohl denen, deren Seele schon frei ist von allen Ketten, durch welche noch die Meisten an die Welt gebunden sind, so daß Jedermann von ihnen weiß: in Allem, was ihnen selbst anheimgestellt ist, seyen sie zu Nichts zu bewegen gegen ihre Ueberzeugung, und auf ihre Ueberzeugung sey nicht anders zu wirken, als durch ein gemeinsames Wahrheitsuchen in Liebe. Solche werden nicht mehr nöthig haben, sich zurückzuziehen und zu verschließen, sondern immer gleichmäßig werden sie nach allen Seiten hin das Werk des Herrn fördern können, mit dem erleuchtenden Ernste eines festen und wahrhaften Gemüthes, und mit der erwärmenden Kraft einer ganz frei ge-
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wordenen und nicht mehr zu trübenden Liebe. In solchen und durch solche offenbart sich denn das Reich Gottes in seiner ganzen Würde und Schönheit, so nahe als möglich der Herrlichkeit Dessen, der uns berufen hat. Amen. Schl.
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b. Nachschrift 21r
Predigt am neunten Sonntage nach Trinitatis 1824 Tex t. Lukas XIV, 26. So jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein. M. a. F. Wir dürfen dieses Wort nur hören dessen sich der Herr bedient, so haben wir gewiß alle übereinstimmend das Gefühl, daß wie wir es gewöhnlich zu gebrauchen pflegen in seinem eigentlich buchstäblichen Sinn, es hier nicht könne zu verstehen sein. Aber in ähnlichen Fällen beweißt es wenig Ehrfurcht gegen das göttliche Wort, wie es aus dem Munde des Erlösers gekommen ist, wenn wir uns dabei begnügen mit unbestimmten Milderungen, die wir seinem Worte unterlegen. Denn auf diese Weise ist es nicht möglich, was doch der Segen seines Wortes sein soll, in allen übereinstimmenden Vorschriften unsers Handelns seine Vorschrift zu finden, es ist auf diese Weise nicht möglich, daß wir nicht sollten hin und her schwanken, und das Herz kann nicht fest werden. Wenn aber der Herr davon redet, was die Bedingung ist, unter welcher wir ihm nachfolgen sollen und seine Jünger sein: o dann müssen wir, so gewiß unser Glaube und unsre Hoffnung uns lieb und werth ist, danach trachten daß unser Glaube und unser Herz fest werde, und wir mit Sicherheit wissen, wie wir sein Wort verstehen sollen. So laßt uns denn dies Gebot des Herrn näher mit einander betrachten, und in das rechte Verständniß einzugehen suchen. Es wird dabei auf zweierlei ankommen: erstens, daß wir wissen, was meint der Erlöser wenn er sagt, wir sollen hassen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Bruder, Schwester; und zweitens unter welchen Umständen findet das Gebot des Herrn seine Anwendung. Diese beiden Fragen wollen wir uns aus dem Worte des Herrn zu beantworten suchen. 30 Bruder] Brüder
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I. Zuerst, m. g. F., wenn wir uns fragen, was kann denn der Erlöser meynen, wenn er sagt, wer nicht hasset Vater, Mutter, Weib, Kind, Bruder, Schwester, der kann mein Jünger nicht sein? so kann dieses Wort des Herrn unmöglich eine Aufforderung enthalten zu dem Übelwollen, welches das eigentliche Wesen des Hasses ist. Wenn derjenige, m. g. F., der uns eine Aussicht eröffnet auf eine Liebe, durch welche unsre Seele befreit werden soll von jeder Furcht, der sollte zur Prüfung derselben sagen, daß wir müssen übelwollen können und wirklich übelwollen, und zwar nicht denen die uns hassen, sondern denjenigen, welche die Natur uns am nächsten gestellt hat, und am nächsten unsrer Liebe sind. Wer da fürchtet, der ist ein Knecht und von dieser Knechtschaft der Furcht soll uns die reine Liebe befreien. Wer aber übel will, der ist ein Zerstörer und weit besser ist es immer ein Knecht zu sein als ein Zerstörer. Im Reiche dessen, der alles schafft und erhält – und betrachten wir welches die Gegenstände sind, die der Herr hier meint – hat er nicht da die Liebe der Kinder zu den Eltern als das rechte Vorbild gesezt seiner Liebe zum himmlischen Vater? Wenn aber jene menschliche Liebe ein Sinnbild dieser göttlichen ist, wie könnte es irgend wie Umstände geben, in denen sie mit Recht in ein Uebelwollen könnte verwandelt werden? Und derjenige, der nicht vermochte seine Feinde zu hassen, die ihn zum Tode brachten, sondern der ihnen eine mitleidige Liebe schenkte im Gebet um Vergebung bei seinem Vater weil sie nicht wüßten was sie thäten, der sollte uns auffordern irgend einem und zwar unserm nächsten und liebsten, übel zu wollen um seinetwillen? Nein, das können wir sicher sein nach seinem Worte und nach dem lebendigen Bilde, das wir von ihm in unsern Seelen tragen, das kann seine Meinung nicht sein. Aber es giebt etwas anderes, eine Geringschätzung, ähnlich dem was wir mit dem Namen Haß belegen, eine Vernachlässigung, die nur eines Wenigen bedarf, um sich in das Gegentheil der Liebe zu verwandeln. Sollte er das vielleicht gemeint haben? Ja freilich giebt es keinen Werth, den der einzelne Mensch für uns haben könnte, als in der Gemeinschaft mit dem | Erlöser. Denn alle die gleich sind in der Liebe zum Erlöser, die sind auch unsrer innigsten Achtung am meisten gewiß. Aber sollen und dürfen wir um seinetwillen diejenigen gering schätzen, denen es so gut noch nicht geworden ist? Nein, m. g. F., der Erlöser hatte Brüder, die nicht an ihn glaubten, er trug sie dennoch, und entzog ihnen seine brüderliche Liebe nicht; nur freilich daß er nicht selten Gelegenheit hatte ihnen etwas Ähnliches 27 das wir] daß wir 22–24 Vgl. Lk 23,34
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zu sagen als das Wort das der Evangelist Johannes uns aufbewahrt hat: meine Stunde ist nicht eure Stunde, gehet nur hin, die meinige ist noch nicht gekommen. Aber noch mehr, hat er nicht gesagt, daß er gekommen sei auf Erden ein Arzt, um die Kranken zu heilen, ein freundlicher Hirt, um das Verlorene zu suchen, und wir könnten glauben, daß wir von ihm aufgefordert würden diejenigen zu hassen, die der Gegenstand seiner Liebe, seiner heilenden Kraft sind, und es bleiben werden für alle Zeiten, bis alles herbeigeführt ist zu seiner Heerde? Nein, m. g. F., ein Geringschätzen auch gegen den Kleinsten und Geringsten, der ein Gegenstand der Liebe und der Wohlthaten des Herrn ist, das können und dürfen wir nicht annehmen, und das ganze Leben des Erlösers widerspräche seinem Worte, wenn es diesen Sinn hätte. Aber freilich, das sagt er auch an andern Stellen, daß wer sein Jünger sein wolle, müsse verlassen Vater, Weib, Kind, und ihm nachfolgen. Er verheißt dem mit milder schonender Liebe, was er verlassen habe um seinetwillen, das werde er hundertfältig wiederfinden im Reiche Gottes. Ist es nun dieses Verlassen, das er Haß nennt? Schwerlich werden wir es glauben können, wenn wir die Sache etwas näher betrachten. Damals war es freilich nothwendig, daß diejenigen, die sich näher an ihn anschlossen, die die ersten waren unter denen welche die auf schwachen Füßen ruhende Gemeinschaft seiner Jünger stiften wollten, sich mehr oder weniger lossagen mußten von den Ihrigen, wenn sie an dieser Gemeinschaft des Geistes theil nehmen wollten. Wenn wir aber bedenken, wie jeden die Stimme des Berufs und des Gewissens hinaustreibt in die Ferne, die Bande des Bluts zu lösen und die Pflichten zu erfüllen an der Stelle, die der Herr ihm anweißt, und sein eigenes Leben zu bauen: ist dies Verlassen, auch ein Verlassen der Liebe? Mit nichten. Mit sehnsüchtigen Blicken geleiten die Eltern ihre Kinder in die Welt, freuen sich ihres Wohlergehens, die Gemeinschaft des Geistes bleibt, wenn auch der Raum trennt, und das Verlassen thut nicht der Liebe Eintrag und ist nicht Haß zu nennen. Ja, noch jetzt finden wir nicht selten Beispiele, daß einzelne Menschen von der innern Stimme des Berufs getrieben sich losreißen aus ihren Kreisen, ja von ihrem Vaterlande, um unter fernen Völkern wie die ersten Diener des Herrn sein Wort zu verkündigen und sein Reich zu fördern. Ob sie Recht haben so zu thun, das hängt davon ab, wie fest ihr Herz ist, wie wahr die Stimme, die sie hören – aber je mehr sie wahr ist, je mehr das Recht ist was sie thun, um so weniger kann solche Entfernung der Liebe schaden. 5 um das Verlorene] und das Vertrauen meinen 2–3 Vgl. Joh 7,6.8
13 Stellen, daß] Stellen „daß
13–16 Mt 19,27.29; Mk 10,28–30; Lk 18,28–30
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Und wenn es ja der Geist einer khristlichen Gemeinschaft war oder noch ist, daß diejenigen, die sich zu ihr bekennen, auf eine solche Weise Vater, Mutter Weib Kinder Bruder, Schwester verlassen müssen und ihnen entsagen, wenn es irgend wie ihr Geist zu sein scheint, daß die Liebe zum Herrn es fordert, der Liebe zu entsagen gegen alle diejenigen, die uns der Natur nach werth sein müssen: o so dürfen wir dreist sagen, daß wenn dem wirklich so ist, so muß alle Spur einer wahrhaft khristlichen Gesinnung aus einer solchen Verbindung entweichen. Denn keine Liebe zur Wahrheit, keine Anhänglichkeit an dasjenige was wir für wahr halten, kann jemals das Herz erkalten gegen natürliche, menschliche Verbindungen noch der Bruderliebe Eintrag thun, sondern nur Falsches und Verkehrtes kann eine solche Wirkung hervorbringen. Was bleibt uns also übrig? welchen Sinn können wir den Worten des Erlösers beilegen? Laßt uns also fragen, was ist das eigentliche Wesen | und der wahre Geist der Liebe? Es ist die Freude an dem Dasein des geliebten Gegenstandes, es ist die Freude an dem geliebten Gegenstand selbst, an unserm innigen Zusammenhang mit ihm, an jedem Eindruck, den er auf uns ausübt, es ist die Bereitwilligkeit sich ihm hinzugeben und jeder Einwirkung die er auf uns macht, jedes Gefühl zu theilen das sich in seinem Innern bewegt, und jedem Gedanken der in ihm aufgeht, jedem Entschluß die ganze Kraft zu widmen, die er in uns zu wecken sucht. Das ist der eigentliche Geist und das wahre Wesen der Liebe. Kann es nun irgend wie geschehen, daß wir durch den Erlöser bewogen sein können uns den Einwirkungen, die Vater, Mutter, Bruder oder Schwester auf uns ausüben wollen, zu entziehen? ist es möglich, daß wir uns gegen solche geliebte Einflüsse verwahren sollten? Ja, m. g. F., diese Möglichkeit müssen wir eingestehen, wenn sie uns entfernen und losreißen wollen von dem, der allein unser Heil ist, und dann muß sich das Herz zusammenziehen und stählen gegen dasjenige, was die Geliebten von uns wünschen, dann ist das Widerstreben das Gegentheil der Liebe, und wurde in der Sprache seiner Zeit mit dem Namen jenes Gegentheils belegt. Sein Ohr verstopfen gegen das was Vater, Mutter Bruder und Schwester verlangen, sich auf alle Weise hüten und verwahren, daß ihre Worte keinen Eingang gewinnen in unsern Herzen, das ist es, was der Erlöser verlangt wo es nöthig ist, das ist es wovon er sagt „wer nicht hasset Vater Mutter Bruder Schwester um meinetwillen, der kann mein Jünger nicht sein“. Daß dies nun wahr sei was der Erlöser sagt, davon werden wir uns noch mehr überzeugen, wenn wir uns die zweite Frage beantworten: unter welchen Umständen kann die Nothwendigkeit entstehen in diesem Sinne die Geliebten unsers Herzens zu hassen? 10 erkalten] erkälten 20 das] daß 26 Einflüsse] Entschlüsse
20 seinem] seinen
20 jedem] jeden
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II. Wir kennen, m. g. F., auch ein ernstes und strenges Wort des Erlösers, wenn er sagt: „wer nicht mit mir ist, ist wider mich, wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ Wenn wir dieses anwenden auf den jetzigen Gegenstand unsrer Betrachtung, so könnten wir leicht glauben, daß er uns anweise, wenn Vater, Mutter, Bruder und Schwester nicht mit uns sind sie dann zu hassen. Aber wie, m. g. F., das würde ganz gegen den Sinn des Erlösers sein. Denn freilich die nicht mit ihm sind, die sind in einem gewissen Sinne wider ihn? Könnten wir in seinem Namen wider sie sein, so müßten wir aufhören mit ihm das Verlorene zu suchen und die Kranken zu heilen, so müßten wir uns selbst ausschließen von dem Genuß seiner Wohlthaten, und die Gemeinschaft mit ihm aufgeben. Hat er uns aber verheißen, daß er alle die zu sich ziehen wolle, die der Vater ihm gegeben hat, und hegen wir die Hoffnung, so müssen wir uns auch zu seinem Dienste eignen; und soll auch in ihnen allen eine Umkehrung zum Erlöser gewirkt werden, so muß es unsre Liebe sein und dasjenige was wir thun, um sie auf den rechten Weg zu leiten. Gewiß wenn der Erlöser nicht sicher wäre, daß wir ihm unsere Dienste leisteten bei denen, die durch die Natur uns die nächsten sind, welchen andern Dienst würde er dann von uns fordern? Glauben wir aber, ohne Liebe etwas thun zu können um Glaube und Liebe gegen ihn zu entzünden? Nein, m. g. F., diese Frage brauchen wir uns nur vorzulegen, um sie zu verneinen. Daß unsre Nächsten und Geliebten nicht mit uns sind, das kann nicht der Grund sein, daß wir sie hassen sollten. Aber wenn sie sich gegen uns stellen, wenn sie von demselben Eifer für ihre Ansicht belebt sind als wir für die unsrige; wenn sie uns zu überzeugen suchen, daß ihre Ansicht die wahre sei, daß das Recht auf ihrer Seite sey und wir im Irrthum befangen und geblendet; soll das ein Grund sein unser Herz gegen sie zusammen|zuziehen und zu verschließen? Das würde wenig Vertrauen voraussetzen zu der Sache, der wir dienen. Wir sollen ja bereit sein zur Verantwortung jedermann, der von uns den Grund fordert der Hoffnung die in uns ist: und wir sollten bereit sein die Verantwortung denjenigen zu geben, die durch die Natur ein Recht haben auf unsre geistige Gemeinschaft, auf unsre Offenheit und unser Vertrauen. Nein gewiß, m. g. F., das kann nicht die Meinung des Erlösers sein, daß wir uns bei dem die Wahrheit suchen in Liebe irgendwie entziehen sollten denen, die Ansprüche machen dürfen auf unsre geistige Gemeinschaft. Wenn der Herr zu seinen Jüngern sagt, sie soll24 das] daß
29 verschließen?] verschließen.
3–4 Vgl. Mt 12,30; Lk 11,23 38–1 Vgl. Mk 16,15
35 Vertrauen.] Vertrauen?
13–14 Vgl. Joh 12,32
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ten in alle Welt gehen und sein Wort verkündigen, wie viel mehr kann er fordern von einem jeden unter uns, daß wir seine Wahrheit und die Sache seines Bundes, den er gestiftet hat, verfechten sollen gegen diejenigen, welche mit uns leben, die uns am besten verstehen, und den Zusammenhang unsers Glaubens, unsrer Gedanken und Entschlüsse fassen können. Was bleibt also übrig, m. g. F.? welcher Fall, in welchem das Gebot des Erlösers seine Anwendung findet? Ach nur einer, aber in diesem soll dieses Gebot unsre Richtschnur sein, die wir nicht verlassen, der wir folgen, wie theuer es uns auch zu stehen kommt. Mit den Waffen der Wahrheit soll jeder streiten für seinen Glauben, für seine Ueberzeugung, und aus solcher Eröffnung der Gemüther gegen andere kann nur entstehen eine gesegnete Umwandlung in den Geist der Wahrheit und der Liebe. Aber wenn mit andern Waffen gefochten wird; wenn Vater und Mutter, Bruder und Schwester oder die sonst ein ähnliches Ansehen über uns auszuüben ermächtigt sind, was rein die Sache der Ueberzeugung ist zu bewirken suchen auf einem andern Wege, etwa wie sie sonst gewohnt waren in den Tagen unsrer Kindheit als wir Gutes und Böses noch nicht unterscheiden konnten, uns zu leiten durch sinnliche Furcht oder Hoffnung, wie es in der bürgerlichen Ordnung geschieht, daß demjenigen der Treue beweißt angenehme Aussichten eröffnet werden, desjenigen aber Strafe wartet, der gegen die gewöhnliche Ordnung verstößt; wenn eben so auf uns gewirkt werden soll auf dem Gebiete der Ueberzeugung durch Furcht oder Hoffnung, durch Drohungen oder durch schmeichlerische Reden: dann, m. a. F. dann gilt es das Herz enger zusammenzuziehen und zu verschließen gegen dieses verkehrte Beginnen, dann gilt es uns selbst zu verwahren, damit nicht unser eigenes Innere ein Bündniß eingehe mit denen, die uns ablenken könnten von dem eingeschlagenen Wege des Heils. Wo auf ähnliche Weise danach gestrebt wird, und nicht durch die Kraft der Wahrheit, Ueberzeugungen in uns zu erwecken, Entschlüsse und Handlungen in uns hervorzurufen, zu welchen unser eigenes Herz uns nicht treibt, und wo die innerste Stimme des Gewissens erst übertäubt werden muß: da gilt das Wort Gott mehr zu gehorchen denn den Menschen, da gilt es vor solchen Verhältnissen uns zu hüten, damit unsre natürliche Liebe und Achtung uns nicht untreu mache gegen die Stimme Gottes. Aber m. g. F., wir können uns nicht bergen auf der einen Seite, ja der Erlöser hat Recht wie immer, er hat uns das einzige Mittel vor Augen gestellt, wie wir können treu sein in seinem 11 aus] uns 19 sinnliche] himmlische Bd. 1, 21793, Sp. 803 37 immer] einer 33–34 Vgl. Apg 5,29
26 Beginnen] vgl. Adelung, Wörterbuch,
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Reiche und den Versucher von uns weisen in seiner gefährlichsten Gestalt; Recht hat er hier wie immer. Aber wenn wir genöthigt sind, um das Große festzuhalten irgend ein Streben nach dem Kleinen aufzuopfern: so ist dies ein Zeichen der menschlichen Unvollkommenheit, von welcher wir uns auch, wie alles unter den Menschen gemein ist, unsern Theil zuschreiben müssen. Ja es ist eine Verkehrtheit auf den Glauben anders wirken zu wollen als durch die Ueberzeugung und durch die Kraft der Wahrheit. Aber wie entsteht | sie und wie erhält sie sich? thut irgend jemand, er müßte denn ganz ohne Sinne sein, etwas wovon er gar keinen Erfolg erwartet? Gewiß nicht. Wenn die Unsrigen die Hoffnung hegen durch solche falsche sinnliche Mittel auf die Stimme unsers Herzens zu wirken: so müssen wir diese Hoffnung selbst verschuldet haben. Und daß die Menschen noch hoffen für den Sieg der Unwahrheit und des Unrechts auf die Verführbarkeit, wovon sie glauben, daß alle derselben unterworfen sind, wenn man es nur verstehe von der rechten Seite ihre Sinnlichkeit anzugreifen: diese Hoffnung haben wir verschuldet durch die Schwachheiten unsers Herzens, dadurch daß wir überall zeigen, weit mehr als recht ist, wie viel Werth wir auf dasjenige legen, was Ansehen geben und erhalten kann. O, m. g. F., so laßt uns daher unser eigenes Herz prüfen und reinigen, und immer mehr aus demselben herausreißen, was in ein Bündniß treten könnte gegen die Stimme unsers Gewissens, damit so das Herz fest werde. Dann werden die Menschen, mit denen wir durch die natürlichen Verhältnisse des Lebens am engsten verbunden sind uns nicht mehr entgegen kommen mit solchen Versuchungen; dann werden diejenigen, welche uns kennen und lieben, weit entfernt sein uns in den Fall zu sezzen, daß wir unser Herz gegen sie verschließen müssen; dann werden sie wissen, daß bei dem Suchen des Wahren in Liebe allein auf dem Wege der Ueberzeugung etwas zu erreichen sei. So also m. g. F., müssen wir uns selbst und unsre eigene Seele zuerst frei machen von allem was sie an die vergängliche Lust und den vergänglichen Schmerz bindet, und alle Bande zerreißen, mit denen sie an die Welt gekettet ist: dann werden wir nie in den Fall kommen, daß das Werk des Herrn von denen, die mit uns an demselben arbeiten sollen, mit einem verkehrten Herzen und anders gefördert werde als auf dem ernsten und strengen Wege der Wahrheit und mit der ganzen Kraft der Liebe, und dann wird sich in uns selbst und um uns her sein ewiges Reich immer mehr in seiner rechten Herrlichkeit offenbaren. Amen.
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[Liederblatt vom 15. August 1824:] Am 9ten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Wie lieblich ist doch Herr die Stätte, / Wo deines Namens Ehre wohnt! / Wenn ich voll Andacht sie betrete, / Wie reichlich werd’ ich dann belohnt! / Ich kann mich deines Wortes freun, / Und in dir froh und selig sein. // [2.] Wohl dem, der kommt zu deiner Hütte, / Und dich mit ganzer Seele preist. / Du hörst sein Lob und seine Bitte, / Und stärkst mit neuer Kraft den Geist; / Daß er auf deiner Wahrheit Bahn, / Unsträflich vor dir wandeln kann. // [3.] Dein Wort bleibt niemals ohne Segen, / Dem, der es recht zu Herzen nimmt; / Es giebt den Trost auf Leidenswegen, / Daß du sie uns zum Heil bestimmt, / Verleiht im Kampfe Muth und Kraft, / Und ist ein Schwerdt, das Sieg verschafft. // [4.] So bist du Sonn’ und Schild den Frommen, / Du bist ihr Segen und ihr Heil! / Wenn sie im Glauben zu dir kommen, / Wird Gnad’ um Gnad’ ihr selig Theil. / Was du verheißest, stehet fest; / Wohl dem, der sich auf dich verläßt. // Nach dem Gebet. – Mel. Straf mich nicht in etc. [1.] Mache dich, mein Geist, bereit, / Wache, fleh und bete, / Daß dir nicht die böse Zeit / Plözlich nahe trete! / Unverhofft / Ist schon oft / Ueber viele Frommen / Die Versuchung kommen. // [2.] Säume nicht, und wache auf / Von dem Sündenschlafe, / Sonst ereilt in schnellem Lauf, / Dich Gericht und Strafe. / Sieh es droht / Dir der Tod; / Laß dich nicht in Sünden / Unbereitet finden. // [3.] Wache, daß dich nicht die Welt / Durch Gewalt bezwinge, / Oder, wenn sie sich verstellt, / Listig an sich bringe. / Wach und sieh, / Daß dich nie / Falscher Brüder Lügen / Um dein Heil betrügen. // [4.] Wache, hab auf dich wohl Acht, / Trau nicht deinem Herzen; / Leicht kann, wer es nicht bewacht, / Gottes Huld verscherzen. / Ach es ist / Voller List, / Weiß sich selbst zu schmeicheln, / Frommen Schein zu heucheln. // [5.] Aber bet’ auch stets dabei, / Bete bei dem Wachen; / Denn der Herr nur kann dich frei / Von der Trägheit machen. / Seine Kraft / Wirkt und schafft, / Daß du wacker bleibest, / Und sein Werk recht treibest. // [6.] Glaube nur; in seinem Sohn / Wird er dich erhören, / Und dir deines Glaubens Lohn, / Väterlich gewähren. / Er verheißt / Seinen Geist, / Mit ihm Kraft und Leben, / Auf dein Flehn zu geben. // [7.] Drum so laßt uns immerdar, / Wachen, flehn und beten, / Und, vermehrt sich die Gefahr, / Brünst’ger vor ihn treten; / Denn die Zeit / Ist nicht weit, / Da von allem Bösen / Gott uns wird erlösen. // Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Sei stark, mein Geist, in jedem Leiden, / Dein Glaube kämpfe ritterlich; / Sei treu, das Böse stets zu meiden, / Der schwersten Trübsal rühme dich. / Sei stark, Gott nennt die Ueberwinder / An jenem Tage seine Kinder, / Und macht sie ähnlich seinem Sohn. / Kein Geist kann alle Freuden denken, / Die Jesus wird dem Sieger schenken; / Sei stark, Gott selber ist dein Lohn. //
Am 10. Oktober 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
17. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 4,1–3 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 5, 1827, S. 234–256 Wiederabdrucke: Keine b. Nachschrift; SAr 88, Bl. 94r–109v; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers 234
Ueber die Einigkeit im Geiste. Text.
Epheser 4. V. 1–3.
M. a. F., wenn andere menschliche Gesellschaften vielfältig nur durch irgend einen gemeinsamen Vortheil gebunden und erhalten werden, und ohne eigentliche innere Uebereinstimmung doch zur Erreichung eines gleichen Zweckes zusammenwirken können: so ist es vom ersten Anfang der christlichen Kirche an nur die Einigkeit des Geistes gewesen, welche die Gläubigen zusammenhielt; und auch seitdem ist immer allgemein anerkannt worden, daß diese Uebereinstimmung in Bezug auf das Innerlichste und Höchste auf der einen Seite unbedingt nothwendig ist, wenn die christliche Gemeinschaft soll zusammengehalten werden, weil es nichts Anderes giebt, was alle ihre Glieder unter einander verbinden könnte; auf der anderen Seite aber ist nicht minder allgemein bezeugt worden, daß nur hier eine solche Uebereinstimmung im ganzen und vollsten Sinne des Worts zu finden seyn kann, als die eigenthümlichste und herrlichste Frucht des in diesem Ganzen waltenden Geistes. Aber so allgemein das Anerkenntniß, eben so verschieden die Voraussetzung von der dabei ausgegangen, und die Anwendung, welche davon gemacht wird. Wie weit und über wie Vieles diese Einigkeit des Geistes sich erstrecken solle, was sie Alles in sich begreifen müsse, darüber haben von jeher die verschiedensten Meinungen neben einan-
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der bestanden, und so mußte | auch die Handlungsweise und der Lebensgang der Christen in dieser Beziehung sich sehr verschieden gestalten. Auf der einen Seite, von dem, was wir so eben mit einander gesungen haben, ausgehend, daß nämlich in der Zionsgesellschaft Brüder über alle sonstige Bekannte gestellt werden, und daß diese Brüder, um unter sich recht innig zusammenzuhalten, auch die Verwandten nach dem Fleische verlassen, hat es nie an Christen gefehlt, welche die Einigkeit des Geistes nur mit Solchen festhalten wollten, welche sie nicht nur in Absicht auf alle ihre besonderen Ansichten und Meinungen als Brüder anerkennen könnten, sondern die auch in Allen mehr äußerlichen Zügen und Bewegungen ihrer geistigen Gestalt ihnen so ähnlich wären, wie auch natürliche Brüder einander leiblicherweise nur selten seyn können. Die nun so gesinnt sind in dieser Sache, finden natürlich immer nur Wenige, mit denen sie geneigt sind, die Einigkeit des Geistes zu halten; und indem sie gegen die Uebrigen keine solche Verpflichtung fühlen, so verursachen sie eben dadurch, so viel an ihnen ist, statt der Einigkeit eine Zertrennung der Geister. Auf der anderen Seite hat es immer Viele gegeben, welche, eben aus Mißfallen an dieser Zertrennung, und an allen Spaltungen, welche in’s Kleine gehen, und also auch die innigere Liebe auf ein engeres Gebiet beschränken, im Gegensatze gegen jene den Grundsatz aufgestellt haben: man müsse nicht so große und genaue Ansprüche machen, um die Einigkeit des Geistes zu halten. Aber auf diesem Wege sind sie allmählig dahin gekommen, daß ihnen fast aller Inhalt der christlichen Gemeinschaft nicht zwar verloren geht für ihren eigenen Besitz und Genuß, aber doch als unwesentlich erscheint für die Einigkeit des Geistes, und daß sie sich schon begnügen wollen mit einer Uebereinstimmung nicht etwa nur in dem, was das eigenthümliche Wesen des Christenthums ausmacht, sondern dieses sogar, weil immer auch hierüber gar verschiedene Ansichten obgewaltet haben, lieber ganz bei Seite stellen und Einigkeit des Geistes, ohne eine engere Verbindung zu begehren, mit allen denen halten wollen, welche das allgemein menschliche Gefühl für das | Rechte und Gute festhalten, und darin sich und Andere zu fördern suchen. Zwischen diesen beiden Aeußersten aber, zu deren keinem wir uns wohl gerne bekennen möchten, wo liegt die richtige Mitte? Die Ermahnung des Apostels in den verlesenen Worten ist nicht nur so herzlich und dringend, sondern auch so sehr der eigentliche Mittelpunkt, um welchen sich ein großer Theil seiner folgenden Rede in 10 die auch] die ihnen auch 3–7 Vgl. Liederblatt, Lied nach dem Gebet (unten Anhang)
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diesem Briefe dreht, daß wir mit Recht erwarten dürfen, in denselben einen für unser Bündniß hinreichend klaren Ausdruck seiner christlichen Weisheit und Einsicht über diesen Gegenstand zu finden. So laßt uns denn in unserer gegenwärtigen Betrachtung auf diese Worte des Apostels genauer merken, um den Sinn seiner Ermahnung: daß wir fleißig seyn sollen, zu halten die Einigkeit im Geiste, richtig zu fassen, damit wir dann auch unser ganzes Leben danach einrichten können. Es wird hierbei vorzüglich darauf ankommen, daß wir uns zuerst fragen: worin denn nach dem Sinne des Apostels die Einigkeit im Geiste bestehe? und zweitens: was wir unsererseits zu thun haben, wenn wir nun seiner Ermahnung gemäß auch allen Fleiß anwenden wollen, um sie zu halten?
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I. Wenn wir zuerst fragen: worin denn nach der Meinung des Apostels die Einigkeit im Geiste besteht, zu welcher er die Christen ermahnt? so muß uns Allen aus vielen seiner bedeutendsten Aussprüche gar wohl in’s Gedächtniß eingeprägt seyn, wie er, immer auf mannigfaltige Weise im Streite mit Menschen, welche die Frömmigkeit ganz oder großentheils in äußerlichen Dingen suchten, Geist und Buchstaben gegen einander stellt, jenen als das Lebendigmachende, diesen anderen als das, so bald es vom Geiste getrennt ist, Tödtende; so daß wir nicht zweifeln dürfen, wenn er die Einigkeit im Geiste fordert, so will er darunter keinesweges eine Uebereinstimmung verstanden wissen in alle dem, was wir im weitesten Sinne des Worts zum Buchstaben rechnen. Aber wir dürfen uns hiebei nicht auf den Apostel allein berufen, sondern wir haben eben | hierüber auch gar manches theuere und große Wort unseres Erlösers selbst, von denen ich euch aber nur an das Eine erinnern will: Nicht Alle, die zu mir Herr Herr sagen, werden in das Himmelreich kommen. So Herr Herr zu ihm sagen, das ist der Buchstabe; denn wer Christum im Geiste einen Herrn nennt, der kann es auch nur durch den heiligen Geist, und er ist also schon im Himmelreich. Es ist aber, und das muß uns hier wichtig seyn, der allereinfachste Buchstabe, so daß man glauben sollte, in diesem könne am wenigsten Verschiedenheit enthalten seyn, und doch, wenn der Erlöser sagt: Einige, die Herr Herr zu ihm sagen, würden allerdings in das Himmelreich kommen, aber nicht Alle, sondern einige Andere, die auch so sagen, würden nicht hineinkommen: so giebt er dadurch klar zu verstehen, daß ein und derselbe Buchstabe bekannt werden kann und ausgesprochen, und zwar von Allen, doch 16–20 Vgl. 2Kor 3,6 Mt 7,21
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nicht gedankenlos oder heuchlerisch, sondern als Ausdruck des Gedanken, aber doch bei einem ganz verschiedenen Geiste. Denn dem Geiste nach verschieden müssen doch auf alle Weise die, welche in das Himmelreich eingehen, von denen seyn, welche nicht hineinkommen, weil es eben nur Ein Geist ist, der Geist von Oben, der uns den Weg in dasselbe bahnt. Ist also nach diesem Worte des Herrn die Uebereinstimmung im Buchstaben keine Bürgschaft für die Einigkeit im Geiste: so kann sie auch nicht etwa ein nothwendiger Bestandtheil für denselben seyn; sondern wir müssen auch auf der anderen Seite zugestehen, daß eine Einigkeit im Geiste stattfinden kann auch bei einer großen Verschiedenheit des Buchstaben; und davon zeugt gleich der Anfang der christlichen Geschichte. Denn als in jenen ersten Tagen nach der Auffahrt des Herrn der Geist ausgegossen ward, zufolge der alten von Christo erneuerten Verheißung, über allerlei Fleisch, da gab er sich gleich kund in einer Mannigfaltigkeit der Sprachen, und redete aus Jedem auf eine andere Weise; aber Alle lobten Gott und rühmten seine großen Thaten, nachdem ihnen der Geist gab auszusprechen. Hier haben wir also von Anfang an Beides neben einander: die kräftige und auf die belebendste Weise durchdrin|gende Ausgießung des Geistes, und die freieste und größeste, ja man möchte sagen, als unendlich sich ankündigende Verschiedenheit des Buchstaben. Denn wenn uns doch so bestimmt gesagt wird: es habe derselbige Geist, der Allen mitgetheilt wurde, aus so viel verschiedenen Menschen auch gar verschieden gewirkt, mögen es nun verschiedene Sprachen gewesen seyn, oder nur Mundarten, oder gar nur verschiedene Ausdrucksweisen derselben Sprache: immer sind es doch anders gewendete Gedanken, – denn Beides ist zu genau verbunden, um so getrennt werden zu können, – welche durch verschiedene Worte ausgedrückt werden, und doch waren sie alle das Werk des Einen und selbigen Geistes. Was wollen wir also anders sagen, als daß der ganze Reichthum, die göttliche Fülle dieses Geistes sich gar nicht anders offenbaren kann, als eben in einer solchen Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit des Buchstaben; wie denn noch immer derselbe Geist Jedem auf eine andere Weise giebt auszusprechen, was zwar verschieden klingt, und sich verschieden gestaltet, weil es aus ganz verschieden gearteten Gemüthern hervorgeht, aber doch, indem es auf dieselbe Gesinnung zurückweiset, Zeugniß giebt, daß sie, von derselben göttlichen Kraft durchdrungen, doch bei aller dieser Verschiedenheit festhalten können die Einigkeit des Geistes. Ja wenn nur in so vielen einander theils scheinbar ausschließenden, theils leiblich erzeugenden verschiedenen Weisen dieses Geistes ganze Herrlichkeit sich offenbaren kann: so müssen wir auch 12–17 Vgl. Joel 3,1 (alternative Zählung: 2,28); Apg 2,3–4
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gestehen, daß wir ohne diese Mannigfaltigkeit auch die fruchtbare Kraft des Geistes nicht eben so zu erkennen, also auch die Einigkeit des Geistes nicht eben so fest zu halten vermögen würden. So kann also, m. g. F., wo wir aus anderen sicheren Zeichen Ursach haben, denselben Geist vorauszusetzen, auch die große Verschiedenheit des Ausdrucks und der Gedanken, da sie ja doch denselben Einen Geist verkündigen sollen, uns niemals abhalten, die Einigkeit des Geistes zu halten. Und übersehet nicht, wie schön hiermit auch das übereinstimmt, was wir gesungen haben: Jeder, der nur irgend von Oben geboren ist, der | ist auch von Christo zum Bruder erkoren, und also ziemt auch Allen, die sich eben so rühmen, Brüder Christi zu seyn, daß sie mit jedem solchen, der also auch ihr Bruder in Christo ist, in der wahren brüderlichen Einigkeit des Geistes leben, ohne erst nach irgend etwas Anderem nur besonders zu fragen. Wenn nun aber keinesweges die Uebereinstimmung im Buchstaben nothwendig ist zur Einigkeit des Geistes, so gehört auch eben so wenig dazu die Uebereinstimmung in der Art und Weise zu handeln. – Der Apostel erinnert uns selbst auf eine sehr deutliche Weise in dem ganzen Verlaufe der Rede, aus welcher die Worte unseres Textes genommen sind, an dasjenige, was er hierüber ausführlich in seinem ersten Briefe an die Korinther geschrieben hat. Wem jene herrliche Stelle gegenwärtig ist, der sagt auch gewiß voraus, daß mit der hier geforderten Einigkeit des Geistes auch die dort dargestellte Verschiedenheit der Gaben muß verträglich seyn. Ein Geist, aber vielerlei Gaben, sagt er, Ein Herr, aber vielerlei Aemter, und auf dieser Einheit des Geistes und des Herrn beruht ja auch die Einigkeit des Geistes in der Gemeine des Herrn. Wie aber die Verschiedenheit der Gaben mit der natürlichen Verschiedenheit der Gemüthsart offenbar zusammenhängt: so ist es unmöglich, daß aus dieser ohnerachtet des gemeinschaftlichen Ziels und der gemeinschaftlichen Lebensregel nicht sollte eine große Mannigfaltigkeit in der Art und Weise, zu empfinden und zu handeln, hervorgehen. Diese muß also auch bestehen können mit der Einigkeit des Geistes; und wenn wir, um die Einigkeit des Geistes festzuhalten, auch glauben über einer genauen Aehnlichkeit zwischen unserer Empfindungs- und Handlungsweise und der unserer Brüder halten zu müssen: so verkennen wir den Willen des Herrn, und übersehen, wie Er selbst durch denselben Geist die Gemeine seiner Gläubigen von Anfang an hat gestalten wollen; wir verkennen aller Erfah34 über] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 736–737 9–10 Vgl. Liederblatt, Lied nach dem Gebet (unten Anhang) 12,1–31 24–25 Vgl. 1Kor 12,4–5
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rung zum Trotze, daß sie so auch gestaltet bleiben muß, so lange sie hier auf Erden fortdauert. Denn es ist offenbar, daß hier auf Erden die fast unendliche Verschiedenheit in dem eigenthümlichen Wesen der ein|zelnen Menschen sowohl, als der Geschlechter und Stämme und Völker, den Reichthum Gottes in der Schöpfung der menschlichen Natur bekundet. Und wie der Sohn gekommen ist, nicht den Vater zu verdunkeln, sondern ihn zu verklären: so soll auch dieser Reichthum nicht verdunkelt werden, wenn die Menschen in die Gemeine Christi eingehen, sondern die göttliche Gnade soll Alle erleuchten, aber ohne ihre Verschiedenheit zu zerstören. Daher nun auch in der Gemeine des Herrn nothwendig entsteht die Verschiedenheit der Gaben, weil nicht in der einen Seele sich Alles in demselben Verhältnisse entwikkelt, wie in der anderen, und eben daher nothwendig die Verschiedenheit der Aemter, weil, wenn das Werk des Herrn auf’s Beste soll gefördert werden, auch Jeder in demselben auf diejenige Weise muß gebraucht werden, welche seinen Gaben und der Eigenthümlichkeit seines ganzen Wesens die angemessenste ist. Aber eben daher auch, abgesehen von eigentlichen Gaben und Aemtern, im ganzen Leben die große Mannigfaltigkeit, mit der ebenso gewiß die Einigkeit des Geistes bestehen soll, als die Gemeinheit nur erbauen kann durch die Verschiedenheit der Gaben und der Aemter. Wohlan denn, m. g. F., wenn also auch hier gilt, was wir vorher von dem Buchstaben eingestanden haben, so daß auch die größte Verschiedenheit in der Empfindungsart und Handlungsweise der Menschen, wie sie sich von selbst äußert in dem, was sie äußerlich beginnen und treiben, uns nicht hindern darf, die Einigkeit des Geistes mit ihnen festzuhalten, sofern es nur derselbe Geist ist, der sie zu so Verschiedenem treibt, so fragen wir uns nun billig weiter: worin nun eigentlich diese Einigkeit des Geistes besteht, und woran die Selbigkeit des Geistes erkannt wird, worauf jene beruht? Die Einigkeit des Geistes, die wir halten sollen, besteht zuerst in der anerkannten Zusammengehörigkeit eben dieser Verschiedenheiten zu einem großen in sich völlig zusammenstimmenden, und in seiner Schönheit und Herrlichkeit die Herrlichkeit und Weisheit des Herrn verkündigenden Ganzen. Wie dieß | das erste Stück der allgemeinen Menschenliebe ist, daß wir ein Wohlgefallen finden an allen noch so verschiedenen Gestaltungen und Entwickelungen der gesunden menschlichen Natur: so ist auch das erste Stück in der brüderlichen Einigkeit des Geistes, daß wir uns freuen, in diese Mannigfaltigkeit christlichen Denkens und Lebens gestellt zu seyn, daß die freundlichen Beziehungen zu derselben unser geistiges Wohlbefinden nicht stören, sondern erhöhen, indem dadurch unser Blick geschärft wird und unsere Erfahrung erweitert, und wir selbst uns dadurch in unserem ei-
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genthümlichen Wesen ergänzt finden, und es zugleich als Ergänzung Anderer gleichsam gerechtfertiget wird. Darum sagt der Apostel, wie unmittelbar auf unseren Text folgt: „Ein Leib und Ein Geist,“ wie er auch in dem Briefe an die Korinther sagt: „Wir sind Alle in demselben Geiste zu Einem Leibe getauft, und zu Einem Geiste getränkt.“ Gehört nun zur Einigkeit des Geistes dieses Bewußtseyn, daß wir nicht Jeder für sich allein sind, sondern Ein gemeinschaftliches Leben bilden als Ein Leib: so dürfen wir wohl nicht vergessen, denn der Apostel hat zuviel Fleiß daran gewendet, dieses auf unsere Verbindung zu Einer christlichen Kirche überzutragen, daß wie sie Ein Leib seyn soll, auch in ihr, wie in jedem anderen lebendigen Ganzen, eine große Verschiedenheit der Glieder seyn müsse, die sich unter einander Alles mittheilen, und sich gegenseitig ergänzen zu einer und derselben Lebenskraft und Fülle, so durch und für einander genährt und gebildet, wie die Glieder des Leibes, nur Ein Ganzes bilden, und jedes nur auch mit allen anderen lebt und gesundet. Nur je klarer und inniger dieses Verhältniß ist, desto vollkommener ist auch das Leben entwickelt. Das will es heißen, was der Apostel weiter in demselben Kapitel sagt, aus welchem unsere Textes-Worte genommen sind: „Indem wir hinanreifen zu der vollkommenen Erkenntniß Christi, sollen wir auch immer mehr werden ein vollkommener und vollendeter Mann.“ So soll in Eines zusammengehen alle Mannigfaltigkeit der Gaben und der Aemter, alle Verschiedenheit der einzelnen Naturen, der große Reichthum und die unendliche Fülle | christlicher Gedanken und Empfindungen, die, unter verschiedene Menschen vertheilt, nur zusammengenommen den ganzen Umfang und Inhalt der Wirkungen des Geistes offenbaren. So soll Alles zusammenstimmen zu Einem Ganzen, und das Bestreben, uns des Verschiedenen, aber durch denselben Geist Gebildeten, immer in dieser Uebereinstimmung bewußt zu seyn, das ist der Anfang dieser Einigkeit des Geistes, zu welcher uns der Apostel ermahnt. Wenn aber, wie schon jenes ähnliche Stück der allgemeinen Menschenliebe nur selten gefunden wird, sondern die Menschen schon oft um kleiner Verschiedenheiten willen einander feindselig entgegen treten, statt an der gesammten Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur sich zu erfreuen, da es doch hier so leicht ist, bei der Verschiedenheit doch das Gleiche zu erkennen, was ihr zum Grunde liegt, so auch in der christlichen Kirche fast überall die Verschiedenheit Mißfallen und Widerwillen erregt, und hier noch dazu kommt, daß, wo dieser Fall eintritt, auch immer gleich gestritten wird, ob in dem, was uns zurückstieß, auch wirklich jener, nicht so leicht als die menschliche Natur auszumittelnde Eine Geist vorhanden sey, der uns eben zum 3 Eph 4,4
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Halten der Einigkeit verpflichten soll: so könnten wir wohl bedenklich werden, daß es schon um den ersten Anfang der Erfüllung dieses apostolischen Gebotes so mißlich stehe, und es beklagen, daß der Eine Geist, auf den es hier ankommt, nicht so leicht zu erkennen ist, wie es scheint, als die gemeinsame menschliche Natur. Aber sollte nicht dieser Schein doch immer ein falscher seyn? Freilich an äußerlicher Gestalt und äußerlichem Betragen müssen wir den Geist nicht erkennen wollen; denn mit äußerlichen Geberden kommt das Reich Gottes nicht. Aber wenn wir doch wissen: es ist ein und derselbe Geist verheißen, schon in den Zeiten des alten Bundes, erbeten für uns von Demjenigen, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, ausgegossen dieser Bitte und jener Verheißung gemäß über diejenigen, für welche ihn Christus erbat, und von diesen immer wieder Allen verheißen, welche Christi Namen bekennen würden: ist uns da|durch nicht ganz deutlich das Gebiet bezeichnet, in welchem wir diesen Geist nicht etwa nur suchen sollten, als etwas, das sich, wenn auch sparsam, doch hie und da zerstreut wohl finden werde; sondern vielmehr voraussetzen, als in diesem Gebiete ein für allemal und überall vorhanden? Und wenn es derselbe Geist ist, der diese Einigkeit fordert, auf den sie sich bezieht, und der sie auch bewirken muß: sollte er denn, worauf es doch allein ankommt, nicht sich selbst erkennen? Und haben wir nicht Ursache genug, zu besorgen, daß er in denen am wenigsten sey, die ihn nirgend anders sehen wollen, als an sich selbst und einem kleinen Häuflein. Gewiß, m. gel. F., hat der Apostel Paulus nicht umsonst gesagt: Niemand kann Jesum einen Herrn heißen, denn nur durch den heiligen Geist. Und nicht umsonst lehrt uns Christus selbst auf eine ganz einfache Weise, auch hierin das Wahre vom Falschen unterscheiden, indem er sagt: nur der nenne ihn in Wahrheit, und so, daß es ihn zum Himmelreich führe, einen Herrn, in welchem auch das Bestreben sey, den Willen seines Vaters, den nämlich der Sohn uns offenbaret hat, zu erfüllen. Wem also das Kreutz Christi nicht ein Aergerniß ist und eine Thorheit, sondern wer, was Er gebietet, als den wahren Willen Gottes anerkennt, – denn Gottes Willen kann Niemand anerkennen, ohne ihn auch erfüllen zu wollen, sonst wäre er wahnsinnig, und bejahte, was er in demselben Augenblicke auch verneinte, – wer also Christi Lehre und Gebot als den wahrhaften Willen Gottes anerkennt, der nennt ihn auch wahrhaft einen Herrn, und thut es durch den heiligen Geist. Auf diesem Standpunkte, m. Br., müssen wir uns festhalten, und so müssen wir die Augen öffnen, wenn wir nicht mit jenem mißmüthi8–9 Vgl. Lk 17,20 9–11 Vgl. Joel 3,1 (alternative Zählung: 2,28); Joh 14,16; Kol 2,9 25–26 1Kor 12,3 28–31 Vgl. Mt 7,21 40–1 Vgl. vermutl. Jes 53,1
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gen Propheten glauben wollen, so gut als allein zu stehen, sondern die Tausende sehen, welche der Herr sich aufbewahret hat. Ueberall, wo Christus auch nur so anerkannt wird, da ist der Geist Gottes, und da sollen wir uns freuen an Allem, was er wirkt. Je inniger wir diese Wirkungen mitfühlen, desto größer soll auch unsere Freude seyn an dem, was schon da ist, je mangelhafter sie uns noch erscheinen, | um desto mehr Wohlgefallen sollen wir daran haben, daß doch ein Anfang gemacht, und daß uns selbst und Anderen eine Thür aufgethan ist, um, was derselbe Geist schon reicher und unserer Natur gemäß in uns gewirkt hat, in eine größere Gemeinschaft belebend einzuführen. Diejenigen unserer Brüder aber, welche zu einer solchen freudigen Ansicht nicht durchgedrungen sind, wollen wir doch bei uns selbst entschuldigen mit einem ähnlichen Falle, der uns ganz nahe vor Augen liegt. Wir wissen nämlich aus der Erfahrung, daß zu allen Zeiten, je weniger die Menschen von der großen Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur wußten, um desto mehr regte jede Verschiedenheit sie auf eine feindselige Weise an, je mehr aber die Bekanntschaft mit dem menschlichen Geschlechte sich erweiterte, desto mehr wuchs auch die Befreundung, und das feindselige Wesen verlor sich. Eben so nun ist es in der Kirche Christi. Denen unserer Brüder, welche am wenigsten wissen von der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit in derselben, ist es auch am leichtesten zu verzeihen, wenn sie noch, wo ihnen doch etwas davon aufstößt, zu keiner wahren Freude daran gelangen. Aber die besser Unterrichteten sollten auch darin ihr Licht leuchten lassen und darauf vertrauen, daß sich nichts so leicht fortpflanzt, als die Freude, wenn sie nur mitgetheilt wird. Fühlen wir aber, daß uns Allen hierin noch etwas fehlt, wohl! so laßt uns zu unserm Troste bedenken, daß die Kirche Christi noch nicht so vollständig vorhanden ist, wie wir dieß wohl sagen können von der menschlichen Natur. Wird erst der Name des Herrn überall gepredigt seyn, hat die Gemeine des Herrn erst festen Fuß gefaßt unter allen Völkern und Geschlechtern, dann wird auch unsere Freude vollkommen seyn. Die allgemeine Verbreitung des geistigen Leibes Christi und das vollkommen innere Wohlbefinden desselben, dieses Beides läßt sich nicht von einander trennen. Darum, so lieb es uns ist, daß die Einigkeit des Geistes immer vollkommener werde unter den Christen, und vermöge dieser inneren Zusammenstimmung aller Theile das Bild des Herrn sich immer reiner darstelle in seiner Gemeine, in demselben Maße muß | uns auch daran gelegen seyn, so daß wir den Umständen gemäß gerne daran Theil nehmen, daß das Licht des Evangeliums sich immer weiter verbreite, und alle noch dunkelen Gegenden der menschlichen Welt von demselben erleuchtet werden.
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Und so kommen wir von selbst auf das Zweite. Denn die Einigkeit des Geistes besteht nicht nur in der Zusammenstimmung alles Verschiedenen, von demselben Geiste Ausgehenden, zu Einem Ganzen, sondern es gehört dazu auch das Zusammenwirken dieser verschiedenen Theile des Ganzen zu Einem Zweck und Ziele, nicht nur das ruhige gemeinschaftliche Leben und Wirken. Von einem anderen Ziele aber kann bei uns nicht die Rede seyn, als von dem: das Reich des Herrn auf der Erde zu fördern; dieß ist, so wie der Hauptgegenstand des täglichen allgemeinen Gebetes des Christen, so auch der gemeinschaftliche Beruf Aller. Was nun die Mehrung des Reiches Christi nach außen betrifft, so können wir daran zwar nur sehr mittelbar theilnehmen. Aber erwäget doch auch hier, wie segensreich die Einigkeit des Geistes ist. Wirken nicht für Verbreitung des Evangeliums Christen von verschiedenen Völkern und Kirchengemeinschaften, und in jeder auch wieder von gar verschiedenen Denkungsarten? Wenn nun Keiner die Werke des Anderen stört, sondern sie denken in dem rechten Sinne: So nur Christus verkündigt wird, und fördern einander, wie sie können: sehet, das ist die schöne Einigkeit des Geistes, und Gott segnet sie auch heut zu Tage, wie er immer gethan hat. Wenn aber das Reich uneins würde und Jeder dächte genau genommen: es sey besser, das Christenthum würde gar nicht verkündigt, als in einer Gestalt, welche nicht gerade die seinige ist: so würde das Werk untergehen durch Schuld derer, welche verpflichtet sind, ihm zu dienen. Was uns aber Allen weit näher liegt, ist das Bestreben, die Jugend empfänglich zu machen für die Segnungen des Christenthums, so wie solche unter unseren schon mündigen und selbstständigen Brüdern, welche versäumt worden sind in dem, was zum Heile ihrer Seele gehört. Machen wir hier nicht täglich die Erfahrung, daß Keiner Alles kann? Bedarf nicht Jeder selbst in seiner Wirksamkeit auf | die, welche ihm die Nächsten sind, doch immer der Hülfe und Unterstützung Anderer? Bemerken wir nicht, wenn wir nur einige Zeit gelebt haben, oft große und durchgreifende Veränderungen, so daß gewisse Vorstellungen, gewisse Anfassungen der Gemüther, welche sich lange Zeit höchst segensreich erwiesen hatten, allmählig, oder auch gleichsam auf einmal, ihre Kraft zu verlieren scheinen, und es der Sinnesart, welcher sie angehören, nicht mehr gelingen will, Andere zu erregen und sich ihnen zu empfehlen? Werden nicht ganze Gegenden, wo lange Zeit Gleichgültigkeit und laues Wesen geherrscht hatte, oft erwärmt und wie neu belebt, wenn ihnen das Christenthum in einer anderen als der gewohnten Form dargeboten wird? Zeigen sich nicht auch solche Verschiedenheiten und Wechsel überall im Einzelnen und Kleinen ebenfalls? Sehet, da gilt es nun die Einigkeit des Geistes halten in eifrigem und zugleich hingegebenen
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Zusammenwirken. Und ihr sehet wohl, wie sehr dieses beruht auf jener Freude an den verschiedenen Gestaltungen und Erweisungen des christlichen Geistes. Denn woran wir uns nicht erfreuen können, wie es ist, das werden wir auch nie gerne weder unterstützen in seiner eigenthümlichen Wirksamkeit, noch auch Hülfe dort suchen für die unsrige. Und doch könnte, wenn Alle wären wie Einer, das Werk des Herrn nicht zu seinem Ziele gefördert werden bei dieser Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse, bei dieser verschiedenen Beschränkung der Empfänglichkeit. Auf verschiedene Art muß sich der Geist aussprechen, durch verschiedene Menschen in Wort und That, damit, wo das Eine nicht an die Gemüther dringt, sie erweicht und ergriffen werden von einem Anderen. Der klare Verstand des Einen und das leicht bewegte Gemüth des Anderen müssen einander nicht abstoßen und zu verdrängen suchen, sondern vielmehr Eines das Andere unterstützen. Wo Einer merkt, daß seine Strenge nicht Eingang findet, da rufe er die Milde des Anderen zu Hülfe. Wenn so alle Gaben nicht nur frei gelassen werden, sondern herbeigerufen, wenn so alle Aemter nicht mit einander in Streit liegen, sondern heilsam in einander eingreifen, alle Kräfte einander nicht | abstumpfen, sondern stärken: da ist die wahre Einigkeit des Geistes, und wenn wir die fest halten und die Wirkungen derselben, bald im Großen vereint, bald im Einzelnen zerstreut, zu unserer Freude wahrnehmen, da werden wir immer ausrufen müssen: O welche Tiefe des Reichthums, beide der Weisheit und der Erkenntniß Gottes! Und ist es nicht ganz dasselbe, wenn wir auf die Förderung des Wortes Gottes nach innen sehen, auf die fortschreitende Reinigung der Gemüther von den Irrthümern und den Verderbnissen der Zeit, auf das wachsende Verständniß von dem Worte Gottes, auf die innigere Befestigung der christlichen Gemeinschaft? Wer möchte wohl sagen, daß dazu auch nur in irgend einem kleineren Kreise irgend eine gute Gabe des Geistes, die von Oben herabkommt, überflüssig wäre! Wer wollte nicht dankbar eingestehen, daß, wie jede Schrift von Gott eingegeben, so auch Alles, was von dem Geist Gottes in einer menschlichen Seele zeugt, auch nütze sey zur Lehre und zur Strafe, zur Besserung und zur Züchtigung in der Gerechtigkeit. Alles aber, was wir uns jetzt vor Augen gestellt, die Verbreitung des Evangeliums unter den verschiedensten Völkern, die gleiche, oder vielmehr immer gesegnetere und verklärtere Erhaltung desselben unter allen auf einander folgenden Geschlechtern; die fortschreitende und sich immer erneuernde Reinigung der Gemeinen und ihrer einzelnen Glieder: Alles dieß ist immer nur das Werk der Einigkeit des Geistes. Können nun in allen diesen Beziehungen auf der einen Seite auch 23–24 Röm 11,33
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wir auf unsere Zeit mit herzlicher Dankbarkeit gegen Gott hinsehen, wie der Geist des Zeugnisses sich mächtig regt, nachdem er lange zu schlummern geschienen, wie Jung und Alt mit größerem Ernst nach Gott fragt, wie der Sinn für das Gottgefällige empfindlicher ist und das Urtheil sich bestimmter ausprägt: so laßt uns das zur kräftigen Aufmunterung gereichen, immer fester zu halten an der Lehre und Ermahnung des Apostels. Wenn wir aber zugleich uns nicht bergen können, wie das christliche Leben unter uns auch in dieser Beziehung seine Schattenseite hat, wie es auch jetzt nicht an Unverträglichkeit und | Zwiespalt fehlt, welche nicht erbauen, sondern zerstören; wenn wir gestehen müssen, dieß Verderben sey im höchsten Grade anstekkend, und die Aufforderung oft so dringend, daß manches Mal auch der Mildeste mit verstrickt wird in Störungen des Friedens: wohlan, so laßt uns daraus lernen, daß es mit allem dem nichts Leichtes seyn muß um diese Ermahnung des Apostels. Darum nun laßt uns im zweiten Theile unserer Betrachtung sehen: was wir vornämlich zu bedenken haben und uns aneignen müssen, wenn die Einigkeit des Geistes soll fest gehalten werden? II. Laßt uns zu dem Ende auf den ganzen Zusammenhang und Inhalt der Worte unseres Textes sehen. Der Apostel sagt: Seyd fleißig, die Einigkeit des Geistes zu halten durch das Band des Friedens. Nun ist es freilich deutlich, daß von Frieden die Rede seyn kann, wo es wenigstens Gelegenheit und Veranlassung giebt zum Streite, und daß Friede immer eine Verschiedenheit in den Ansichten und Bestrebungen derer voraussetzt, zwischen denen er statt findet, weil es eben Friede ist und nicht Einerleiheit. Doch aber vermissen wir nur um so schmerzlicher eine nähere Erklärung dieser Worte, und fragen: worin denn das Band des Friedens eigentlich bestehe? Indessen dürfen wir nicht glauben, daß der Apostel hier etwas Unbekanntes werde vorgeschrieben haben, Etwas, wovon er nicht voraussetzen dürfte, daß die, an welche er schrieb, Veranlassung hätten, es auf eine und dieselbe Weise zu verstehen. Und dieß führt uns auf die früheren Worte des Apostels, auf welche er hier zurückverweist: ,,So ermahne nun euch ich Gefangener in dem Herrn, daß ihr wandelt in Demuth und Sanftmuth und durch Geduld, in welcher ihr berufen seyd, und vertraget Einer den Anderen in der Liebe.“ Also dieses, m. g. F., ist das Band des Friedens, durch welches die Einigkeit des Geistes festgehalten werden muß: Demuth und Sanftmuth und Geduld, mit welcher Jeder den Anderen verträgt in der Liebe. Ja, gewiß! bei der großen Verschiedenheit, welche auch unter den Christen statt findet, ist Demuth das Erste und Nothwendigste, wenn 22 Frieden] zu ergänzen wohl nur
33 euch] auch
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die Einigkeit des Geistes soll erhalten | werden. Worin besteht aber eigentlich die wahre Demuth, die uns so oft als die ganz eigenthümliche Tugend des Christen gepriesen wird? Nicht darin, m. g. F., daß Einer sich erniedrige und herabsetze unter die Anderen, denn sonst würde die Demuth des Einen die Demuth des Anderen aufheben und unwirksam machen, und sie würde, statt das Band des Friedens zu seyn, vielmehr, je ernstlicher Alle sich ihrer befleißigten, um so mehr nur eine neue Quelle der Zwietracht werden, und nur daraus entstehen, daß Jeder jede Last und jede Verantwortung suchte von sich ab auf die Anderen zu wälzen. Die wahre Demuth, m. g. F., besteht vielmehr darin, daß Keiner weder bei sich noch bei Anderen, – denn wozu wären wir in einem so engen Sinne als Christen auch Brüder, wenn wir hierin einen Unterschied machen wollten Jeder zwischen sich selbst und einem Anderen? – einen Werth setze auf das, was allein in der gemeinsamen menschlichen Natur und in dem, was in Beziehung auf dieselbe den Einen von dem Anderen unterscheidet, oder in der Person und den persönlichen Umständen eines Jeden seinen Grund hat; sondern daß nur Werth gesetzt werde auf das, was das Werk des göttlichen Geistes ist in der menschlichen Natur. Die wahre Demuth des Christen hat gar nichts gemein mit der persönlichen Schätzung eines Einzelnen in Vergleich mit einem Anderen, sondern sie ist die gerechte Schätzung der menschlichen Natur im Vergleich mit der göttlichen Gnade. Sie bezieht sich aber freilich in Jedem auf seine eigene Persönlichkeit, weil wir das Rein-Menschliche in uns selbst, wenn es gleich auf der einen Seite auch eine göttliche Gabe ist, doch auf der anderen mit demselben Rechte, mit dem wir uns als lebendige und thätige Wesen betrachten, auch uns selbst zuschreiben. Denn, wenn gleich auch schon von Geburt an ein Unterschied unter den Menschen besteht, von dieser natürlichen Seite angesehen: so wissen wir doch, daß dieser sich in einem Jeden nur durch seine eigene Selbstthätigkeit entwickelt, und so läßt sich dann, wenn wir hierauf allein sehen, das allerdings hören, was oft genug gesagt wird: daß Jeder in einem gewissen Sinne sein eigenes Werk ist, indem er das, | was er Anderen in seiner Entwickelung verdankt, – und in diesem Falle befindet sich Jeder ohne Ausnahme, – wieder gut macht durch das, was späterhin auch er wieder Anderen zu leisten im Stande ist. Und da geschieht es denn gar leicht, daß Einer, indem er von diesem Standpunkte aus sich mit Anderen vergleicht, sich seiner selbst überhebt und dann durch Stolz und Hochmuth freilich allemal nur einem tieferen Falle entgegengeht; aber wenn Einer davor bewahrt bleibt, sich selbst mäßig schätzt, und Andere im Vergleich mit sich eher zu erheben geneigt ist, als herabzusetzen, und wir nennen dieß Demuth: so ist das nur die lobenswerthe gesellige Demuth eines gutartigen
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Menschen, welche, wenn sie keine Ziererei ist, sondern mit der Wahrheit besteht, doch nur die möglichste Abwesenheit jenes verkehrten Hochmuths seyn kann, und wozu die Erleuchtung des Christenthums nicht nothwendig ist. Ganz anders aber wird es, sobald uns das höhere und göttliche Leben aufgegangen ist. Dann erkennen wir, wie aller Unterschied, der innerhalb der uns Allen gemeinsamen ursprünglichen menschlichen Natur nachgewiesen werden kann, und wenn wir auch das Gewöhnlichste, ja Niedrigste und Untergeordnetste, unmittelbar mit dem Herrlichsten und Vortrefflichsten vergleichen, was nur die reich begabte Persönlichkeit unter den glücklichsten Umständen leisten kann, daß doch dieser ganze Unterschied verschwindet, sobald wir den natürlichen Menschen auch in seiner größten Schönheit und Herrlichkeit mit dem Menschen vergleichen, der aus Gott geboren ist und in welchem der Geist Gottes wohnt. Das Leben aber, welches dieser uns bringt, vermögen wir nicht uns selbst beizumessen; denn wir wissen, daß es aus Gott kommt. Darüber also muß Jeder, wenn er nicht in der größten Selbsttäuschung leben will, Gott allein die Ehre geben, und eben dieses nun, m. g. F., ist die wahre Demuth des Christen, und auch so wahrhaft eine ihm eigenthümliche Tugend, als dieses Leben aus Gott ihm eigenthümlich ist. Und diese Demuth ist gewiß das Band des Friedens; denn ihr ist es natürlich, jedes Werk des göttlichen Geistes auch in Anderen hoch und werth zu achten. Was | der göttliche Geist Anderen giebt auszusprechen und darzustellen von der Fülle des göttlichen Lebens, das muß jedem wahrhaft Demüthigen nicht nur weit über das Natürlich-Menschliche in ihm selbst gehen, sondern ihm mindestens eben so viel werth seyn, als das, was der Geist ihm selbst gegeben hat hervorzubringen, ja noch höher muß Jeder achten, was dem Anderen gegeben ist, weil das Mangelhafte unseres eigenen Wirkens durch die Gabe des Anderen ergänzt wird. Diese Demuth also befördert sowohl die Uebereinstimmung aller dieser Verschiedenheiten der Gaben, und was damit zusammenhängt, wie wir vorher gesehen haben, als auch das Zusammenwirken derselben zu dem gemeinschaftlichen Zwecke. Denn das Verschmähen dessen, woran wir zwar denselben Geist erkennen, was uns aber sonst fremd ist, wird niemals frei seyn von verderblichem Eigendünkel, und nur die wahre Demuth macht uns geneigt, auch auf untergeordnete Weise und gleichsam in dem Werke, das einem anderen Knechte anvertraut ist, hülfreich zu seyn, worin doch die Einigkeit des Geistes sich am schönsten und rührendsten ausspricht. Aber eben so wesentlich gehören auch Sanftmuth, Langmuth und Geduld zu dem Bande des Friedens, wodurch die Einigkeit des Geistes festgehalten werden muß. Denn das ist wohl eine sehr allgemeine Erfahrung, daß die Ueberzeugung, welche wir von Anderen haben da-
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von, daß sie aus Gott geboren sind und Gaben des Geistes empfangen haben, aus denen ihre Gedanken und Handlungen hervorgehen, gar sehr ungleich ist. Jeder ist das Wohl von Anderen, die ihm näher stehen, so fest überzeugt, daß ihn nicht leicht etwas irre machen könnte, und wo es so steht, hat es auch keine Noth mit der Einigkeit des Geistes. Aber in Beziehung auf Andere ist die Ueberzeugung schwächer, und je schwächer desto mehr auch Schwankungen ausgesetzt. Und in solchem Falle werden wir dann am leichtesten irre, wenn Vieles vorkommt in ihren Äußerungen und ihrer Lebensweise, was unserer eigenen Art und Weise fremd ist. Dann wird es uns schwer, auch dieß aus demselben Geiste zu verstehen; und wenn wir auch nicht kurzweg absprechen und verdammen, so | gerathen wir doch nur zu leicht aus Ungeduld in Verstimmung und in verkehrten Eifer, und die Einigkeit des Geistes ist gestört. Das würde uns nicht begegnen, wenn wir nach dem Rathe des Apostels sanftmüthig und in Geduld allewege nüchtern wären, unbefangen und wachsam, um das Leben des Geistes in allen seinen verschiedenen Verzweigungen und Gestaltungen zu verfolgen, wenn wir nicht eher ruhten, bis wir die Menschen um uns her auch wirklich verstanden haben. Unserer eigenen Schwachheit, sei es nun Beschränktheit oder ungeduldige Uebereilung, sollen wir es immer zunächst zuschreiben, wenn es uns nicht gelingen will, das Fremde zu verstehen, und uns selbst zusprechen zur Langmuth und Geduld. Wir sollten uns niemals begnügen mit einer wahrscheinlichen Vermuthung oder eingebildeten Gewißheit, dieß und jenes, weil es nicht unsere Vorstellung ist und unsere Handlungsweise, sey unchristlich oder sündlich. Wir sollten niemals glauben, unsere Brüder in solchem Falle zu verstehen, wenn wir uns nicht auch Rechenschaft darüber geben können, wie denn eben dieß, wenn es unchristlich ist und sündlich, doch in ihm zusammen besteht mit Allem, worin wir die Selbigkeit des Geistes nicht verkennen dürfen; und sollten so lange immer in Sanftmuth und Geduld ausharren, bis wir zu einem Verständniß gelangen. Wie oft würde die Einigkeit des Geistes ungestört bleiben, und brüderliche Verhältnisse ungetrübt, wenn wir Alle nach dieser Regel handelten! Und ist nun wirklich dem, was doch Wirkung des Geistes ist, auch Sündliches und Verkehrtes beigemischt, finden sich auch in Gemüthern, welchen der Geist Christum verklärt, mehr oder weniger Stellen, wo das Wesen des Christenthums undeutlicher ausgeprägt und vermischt erscheint: dann thut es erst recht Noth, Sanftmuth und Langmuth anzuwenden, um die Einigkeit des Geistes zu erhalten, ohne welche das Uebel nicht kann gebessert werden. Oder wo wären wir insgesammt, wenn der Erlöser mit seinen Jüngern, 3 das Wohl von Anderen] Kj wohl von denen
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an denen so sehr Vieles auszusetzen war, in demselben Sinne nicht hätte wollen durch dieses Band des Friedens die Einigkeit des Geistes erhalten? Ja gewiß nur | auf diesem Wege kann es dahin kommen, daß wir Alle erkennen und erkannt werden; daß wir Alle aus Einem Geiste thätig sind an dem Werke des Herrn, mit einander wirkend und auf einander. Dieß ist der Preis der Demuth und der Geduld. Wenn wir nun, m. g. F., in unseren letzten Betrachtungen darauf vorzüglich aufmerksam gewesen sind, daß, so wie die vollkommne Liebe die Furcht austreibt, so auch Alles, was die Vollkommenheit der Liebe in uns hindert, immer auf irgend eine Weise Furcht ist, – sollen wir nicht auch heute in Beziehung auf dieses herrliche und köstliche Werk der Liebe, nämlich die Einigkeit des Geistes, uns fragen: ob nicht, wenn wir sie nicht festhalten – denn daß alsdann auch die Liebe schwach seyn muß, leidet keinen Zweifel – auch dieses seinen Grund in irgend einer Furcht haben mag? Wohl, m. g. F., wird uns dieses bei näherer Erwägung nicht entgehen können. Denn Hochmuth nicht minder, als Ungeduld und falscher Eifer, haben ihren Grund in der Furcht. Von der Ungeduld oder dem falschen und verkehrten Eifer ist es schon eher klar, daß sie in der Regel bei dem gefunden werden, dessen Herz nicht fest ist, und ein unsicheres Bewußtseyn und Furcht sind so genau mit einander verwandt, daß wir schon in Gedanken Beides nicht von einander trennen können. Bedenken wir aber noch dieses, wie hier Ungeduld und Eifer vorzüglich durch das Fremde in den Vorstellungen und der Handlungsweise Anderer erregt wird, und wir fragen uns: weßhalb doch Einer das, was ihm entgegentritt, auszurotten oder wenigstens entfernt zu halten sucht? so ist wohl kaum eine andere Antwort zu geben, als daß er, weil er es nicht versteht, irre gemacht zu werden fürchtet auf seinem Lebenswege, und diese Furcht ist es eben, wodurch christliche Sanftmuth und Geduld, welche nur von der Liebe ausgehen können, aus seiner Seele verdrängt werden. Schwerer aber ist es vielleicht, vom Hochmuthe einzusehen, wie er mit der Furcht zusammenhängt, da die Hochmüthigen eher scheinen Andere in Furcht zu setzen, als selbst furchtsam zu seyn. Aber wenn wir uns einen Christen denken, der doch einen Werth setzt auf seine Persönlichkeit, und | diese herausheben zu müssen glaubt: müssen wir nicht glauben, daß es ihm noch fehlt an dem rechten Vertrauen auf die Kraft des Geistes, und daß er deßhalb – Mangel an Vertrauen ist aber doch immer Furcht – glaubt, er müsse auch seine einzelne Natur mit ihren Eigenthümlichkeiten und sein besonderes Le7–10 Vgl. oben die Predigten der Themareihe „Über die Liebe“ vom 20. Juni, 4. Juli, 18. Juli und 15. August vorm. Die ebenfalls zur Themareihe gehörige Predigt vom 1. August beschäftigt sich nicht mit Furcht.
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ben wie es sich entwickelt hat, mit in die Wagschale legen. Gewiß kann unter Christen nur ein solcher Mangel an Vertrauen die Ursache seyn, wenn Einer sich selbst überschätzt, und vielleicht für die Förderung des Reiches Gottes sich selbst für unentbehrlich hält mit dem, was er gewissermaßen als sein eigenes Werk und als eigenen Besitz ansehen kann. Ist diese Furcht erst aus der Seele vertrieben, so fällt auch jeder Hochmuth von selbst weg. Wenn wir fest auf das Wort des Herrn vertrauen: daß sein Reich, welches nach unseren besten Kräften zu fördern doch der Zweck unseres Lebens ausschließend seyn muß, von den Pforten der Hölle nicht kann überwältigt werden; wenn wir darauf vertrauen: daß es durch die Wirksamkeit des Geistes Gottes zur rechten Stunde niemals fehlen werde an tüchtigen Werkzeugen, um das auszurichten, was jedesmal geschehen muß; wenn wir in Beziehung auf das, was der einzige Gegenstand unserer Sorge seyn soll, in dieser Furchtlosigkeit gegründet sind: warum sollen wir dann ängstlich zusammenrechnen, was und wie viel gerade wir wohl auszurichten im Stande seyn möchten? Der Gottergebene und Gottvertrauende hat keinen Reitz zum Hochmuth; so wie der, dessen Herz fest geworden ist in dem göttlichen Worte, nicht leicht versucht werden wird zur Ungeduld und zu einem falschen Eifer, sondern in Liebe werden diese jeden Andern ertragen, für die gemeine Sache des Christenthums auf Jeden rechnen, bei welchem sie Spuren antreffen von der Wirksamkeit des Geistes, und jeden solchen verstehen wollen, um selbst von ihm gefördert zu werden, und, wo es Noth thut, auch wieder ihn zu fördern und zu bessern. So, m. g. F., ermahnt der Apostel zur Einigkeit des Geistes die Christen, an welche er schreibt, seiner besonderen Lage gemäß als ein Gefangener des Herrn. Ein solcher nun war er | auf solche Weise, daß man deutlich sieht, aus seiner Seele war alle Furcht verschwunden. In Ketten war er ein Bote des Evangeliums, in aller Freiheit redend und handelnd, und auf nichts Anderes sehend, noch nach etwas Anderem tichtend und trachtend, als daß ihm gegeben werde, freudig den Mund aufzuthun, auf daß er Zeugniß gebe von dem, dessen Diener er war. Als ein solcher Zeuge des Herrn, der keine menschliche Gewalt, kein Uebel, keinen Tod fürchtete, um dem Berufe treu zu seyn, den er von Oben empfangen hatte, als ein solcher ermahnt er zur Einigkeit des Geistes, und dieser Ermahnung soll sein Beispiel den rechten Nachdruck geben und die Christen anspornen, eben so alle Furcht aus ihrer Seele treiben zu lassen durch die Liebe, damit sie auf diese Weise gewiß fleißig würden, durch das Band des Friedens die Einigkeit des Geistes zu halten. 8–10 Vgl. Mt 16,18
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Daß er nun aber ermahnt als ein Gefangener des Herrn, das erinnert uns freilich noch an etwas Anderes. In demselben Sinne wie er, sind es jetzt nur noch wenige Menschen, der Kampf des Lichtes gegen die Finsterniß, der Streit für das Wort des Herrn, hat eine andere Gestalt angenommen; aber soviel liegt doch zu Tage, daß, so lange dieser Streit noch besteht, die Treue in dem Dienste des Herrn eine Quelle mannigfaltiger Uebel wird. Wenn auch nicht Gefangene und Verfolgte, aber doch Gedrückte und Leidende auf mancherlei Weise sind Alle, welche beharrlich und mit Anstrengung arbeiten an dem Werke des Herrn. Giebt es nun immer noch genug zu dulden für diejenigen, welche Diener des Herrn sind: warum sollen wir, m. g. F., die Leiden der Kirche Christi noch vermehren und sie zugleich verunreinigen durch Uneinigkeit? Warum sollen wir die Geburtschmerzen der neuen Welt noch schärfen durch die Pein, welche aus dem Mangel an Einigkeit des Geistes entsteht? Warum soll zu dem äußeren Streite noch der innere Zwiespalt hinzukommen, in welchem die Kräfte sich gegenseitig aufreiben, welche zusammen gehalten werden sollten zur segensreichsten Vereinigung? Warum wollen wir immer auf’s Neue auf die traurigste | Weise die Erfahrung machen, daß selbst das, was der Geist des Herrn unter uns wirkt, uns doch nicht gedeihlich werden kann wenn wir uns in Uneinigkeit einander verzehren. So wollen wir uns denn zu Herzen gehen lassen die Ermahnung dieses großen Streiters Christi, der uns gleichsam bei seinen Banden beschwört. Immer auf’s Neue wollen wir uns einander zusprechen bei allen Kämpfen, die das Reich Gottes noch immer zu bestehen hat mit den Mächten der Finsterniß, festzuhalten die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens. Immer besser wollen wir uns gewöhnen, mit Freudigkeit aus Einem Geiste hervorgehen zu sehen die Mannigfaltigkeit der Vorstellung und des Buchstabens eben so, wie die Mannigfaltigkeit der Gaben und der Aemter und wie die Mannigfaltigkeit der Naturen und Handlungsweisen, damit im Vertrauen auf die Kraft des Einen und selbigen Geistes sich immer freudiger und freier unter uns gestalte die Uebereinstimmung Aller zu einem Ganzen, auf daß so in Allen und durch Alle verherrlicht werde Derjenige, der da wirket Alles in Allem! Amen. Schl.
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b. Nachschrift 94r 94v
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Predigt am siebenzehnten Sonntage nach Trinitatis. 1824. | Tex t. Epheser IV, 1–3. So ermahne nun euch ich Gefangener in dem Herrn, daß ihr wandelt wie sich’s gebühret eurem Beruf, darinnen ihr berufen seid mit aller Demuth und Sanftmuth, mit Geduld, und vertraget einer den andern in der Liebe und seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens. M. a. F. Vom ersten Anfang der christlichen Kirche an, war es nur die Einigkeit des Geistes, welche die Gläubigen zusammen hielt, und seitdem ist es auch immer allgemein anerkannt worden, daß diese Einigkeit des Geistes auf der einen Seite unbedingt nothwendig sei um die christliche Gemeinschaft zusammenzuhalten, auf der andern Seite aber auch nur da in dem vollen Sinne des Wortes zu finden sein könne als die schönste und herrlichste | Frucht des in dem Ganzen waltenden Geistes. Aber so allgemein das Anerkenntniß, eben so verschieden die Auslegung und die Anordnung. Wie weit und über wie vieles diese Einigkeit des Geistes sich erstrecken soll, was sie alles in sich begreifen soll, das ist es worüber von jeher die verschiedensten Meinungen und worüber eben deswegen auch der verschiedenste Lebensgang in dieser Beziehung Statt gefunden. Auf der einen Seite hat es immer viele gegeben, welche ausgehend von dem was wir auch eben mit einander gesungen haben, daß die Zionsgesellschaft Brüder über alle Bekannte stellt, und um sich mit ihnen zusammenzuhalten die Verwandten nach dem Fleische verläßt, die Einigkeit des Geistes nur mit denen halten wollten, welche sie nach ihrer besondern Ansicht als Brüder erkannten, aber sie wollen immer nur diejenigen als Brüder erkennen, welche ihnen auch in allen äußerlichen Zeichen ihrer geistigen Gestalt so ähnlich sind, wie auch natürliche Brüder es nur selten sein können, und eben deswegen sind es denn immer nur wenige, mit | denen sie die Einigkeit des Geistes zu halten sich verpflichtet fühlen, und eben dadurch entsteht eine Zerstreuung des Geistes. Auf der andern Seite hat es immer viele gegeben, welche eben diese Zerstreuung fürchtend, und eben deswegen den Christen den Bund dieser Vereinigung so gering als möglich zu machen suchend, früher oder später, mehr oder weniger dahin gekommen sind, daß fast aller Inhalt den die Einigkeit des Gei3 euch] auch 12 Seite] Seiten schaft] Zionsgesellschafft
18–19 und worüber] und über
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stes haben soll, darüber verloren geht, und daß sie sich begnügen wollten mit einer Übereinstimmung nicht etwa nur in dem, was das eigenthümliche Wesen des Christenthums ausmacht, sondern dieses sogar, weil immer so verschiedene Ansichten darüber Statt gefunden haben, ganz bei Seite stellten und das allgemeinste Menschliche finden und darauf die Einigkeit des Geistes gründen wollten. Zwischen diesen beiden Äußersten aber, wo ist die wahre Mitte? Die Ermahnung des Apostels in den verlesenen Worten ist so herzlich, so dringend, so sehr der ganze Mittelpunkt, um welchen sich ein großer Theil seiner folgenden Rede in diesem | Briefe dreht, daß wir wohl erwarten dürfen wir werden auch hier einen klaren Ausdruck seiner christlichen Weisheit und Einsicht finden. Und so laßt uns denn in unserer gegenwärtigen Betrachtung auf die Worte des Apostels genauer merken, um den Sinn seiner Ermahnung daß wir fleißig sein sollen zu halten die Einigkeit im Geist, auch richtig zu fassen, und dann unser ganzes Leben danach einzurichten. Es wird hiebei vorzüglich darauf ankommen, daß wir uns fragen zuerst, worin besteht denn nach dem Sinne des Apostels die Einigkeit im Geist; und dann was haben wir zu thun, wenn wir nun seiner Ermahnung gemäß auch allen Fleiß anwenden wollen um sie zu halten? I. Wenn wir zuerst fragen, worin besteht denn nach der Meinung des Apostels die Einigkeit im Geist, zu welcher er die Christen ermahnt, so muß uns allen aus vielen seiner bedeutendsten Aussprüche klar und erinnerlich sein, wie er Geist und Buchstaben gegen einander stellt, den einen als das Lebendigmachende, den andern als das, | sobald es vom Geiste getrennt ist, Tötende, so daß wir nicht zweifeln dürfen, wenn er die Einigkeit im Geiste fordert, so will er darunter keinesweges eine Übereinstimmung verstanden wissen in allem dem, was wir im weitesten Sinne des Wortes zum Buchstaben rechnen. Aber wir dürfen uns hiebei nicht auf den Apostel allein berufen, sondern wir haben auch ein theures und großes Wort unseres Erlösers selbst, als welcher sagt, „nicht alle die zu mir Herr Herr sagen werden in das Himmelreich kommen“. Herr Herr zu ihm sagen, das ist der Buchstabe und zwar der allereinfachste, in dem man glauben sollte, daß am wenigsten Verschiedenheit möglich wäre, und doch indem er sagt, einige die Herr Herr zu mir sagen, die kommen in das Himmelreich, andere aber die es auch thun werden nicht hineinkommen, so giebt er dadurch klar zu 15 und] aus
26 einen] einem
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verstehen, daß ein und derselbe Buchstabe bekannt werden kann, und ausgesprochen als Ausdruck des Gedankens bei einem ganz verschiedenen Geiste, denn dem Geiste nach verschieden müssen doch die sein, welche [in] das Himmel|reich eingehen, von denen die nicht hineinkommen, weil nur der Geist es ist, der uns den Weg in dasselbe lehrt. Ist also die Übereinstimmung im Buchstaben keine Bürgschaft für die Einigkeit im Geist, so kann sie auch nicht nothwendig für dieselbe sein, und wir müssen also auf der andern Seite auch zugestehen, daß eine Einigkeit im Geist Statt finden kann bei einer großen Verschiedenheit des Buchstabens. Als in den ersten Tagen des Christenthums der Geist ausgegossen ward nach der alten Verheißung des Herrn über allerlei Fleisch, da gab er sich gleich kund in einer Mannigfaltigkeit der Sprache und redete aus jedem auf eine andere Weise, aber alle lobten Gott und rühmten seine Thaten nachdem ihnen der Geist gab auszusprechen. Hier haben wir also in Verbindung mit der einen kräftigen lebendigen durchdringenden Ausgießung des Geistes gleich vom ersten Anfang an die Verschiedenheit des Buchstabens. Aber wenn wir nun zugeben müssen, daß der Geist aus verschiedenen Menschen verschieden redet, | so sind es eben auch verschiedene Gedanken durch verschiedene Worte ausgedrückt, welche das Werk eines und desselben Geistes sind, und wir mögen also sagen, der rechte Reichthum, die rechte Gottesfülle dieses Geistes kann sich nicht anders offenbaren als eben in der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit des Buchstabens darin, daß er jedem auf eine andere Weise giebt auszusprechen, was verschieden klingt, und verschieden gestaltet aus verschieden gearteten Gemüthern hervorgeht, aber doch Zeugniß giebt von der einen göttlichen Kraft. In diesem Reichthum und in dieser Fülle allein kann sich seine ganze Herrlichkeit offenbaren und ohne diese würden wir sie nicht zu erkennen vermögen wie wir es jetzt im Stande sind. So kann also, m. g. F., wenn wir nur denselben Geist inne werden[,] die Verschiedenheit des Ausdrucks und der Gedanken, welche diesen Einen Geist verkündigen sollen, uns nie|mals abhalten die Einigkeit des Geistes zu halten, wie denn auch damit übereinstimmt, was wir gesungen haben, jeder der nur irgend von oben geboren ist, der ist auch von Christo zum Bruder erkoren, und also ein Gegenstand dieser Einigkeit des Geistes für alle diejenigen, welche eben wie er Brüder Christi, und also auch seine Brüder in Christo sind. Wenn nun aber keinesweges die Übereinstimmung im Buchstaben nothwendig ist, zu Einigkeit 13 alle] allen 16 lebendigen] lebenden 25 und] und sich
18–19 verschiedenen] verschiedene
10–15 Vgl. Joel 3,1 (alternative Zählung: 2,28); Apg 2,3–4 Lied nach dem Gebet (unten Anhang)
33–35 Vgl. Liederblatt,
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des Geistes, so, eben so wenig auch die Übereinstimmung in der Art und Weise zu handeln. Der Apostel erinnert uns selbst auf eine sehr deutliche Weise in dem ganzen Verlauf der Rede, aus welcher die Worte unsers Textes genommen sind, an dasjenige, was er ausführlich geschrieben hat hierüber in seinem ersten Briefe an die Corinther. Wir können, wenn wir uns an diesen erinnern, unmöglich an die Einigkeit des Geistes denken, ohne zugleich auch an die Verschiedenheit der Gaben. Ein Geist, aber vielerlei | Gaben sagt er, Ein Herr aber vielerlei Ämter. Mit den verschiedenen Gaben nun kann unmöglich anderes als auch Verschiedenes gewirkt werden[,] die verschiednen Ämter die können unmöglich anders als jedem auch wieder verschiedene Handlungen zuweisen. Wenn wir also um die Einigkeit des Geistes festzuhalten, sehen wollen auf eine genaue Ähnlichkeit zwischen der Handlungsweise unseres Bruders und unserer eigenen, so übersehen wir wie der Herr durch denselben Geist die Gemeine seiner Gläubigen von Anfang an hat gestalten wollen und wie sie gestaltet bleiben muß so lange sie hier auf Erden lebt. Denn da ist offenbar, um das Werk des Herrn zu fördern, nothwendig die Verschiedenheit der Gaben, nothwendig deswegen weil nicht jeder kann was der andre vermag, nothwendig ist die Verschiedenheit der Ämter, weil wenn das Werk des Herrn gefördert werden soll, jeder in demselben auf | diejenige Weise muß gebraucht werden, welche seinen Gaben und der Eigenthümlichkeit seines ganzen Wesens die angemessenste ist. Wohlan, m. g. F. wenn also auch hier wir sagen, die größte Verschiedenheit in der Handlungsweise der Menschen und in dem was sie äußerlich beginnen und treiben, darf uns nicht hindern die Einigkeit des Geistes mit ihnen festzuhalten, wenn nur derselbe Geist es ist, der sie zu dem so verschiedenen treibt: so fragen wir uns nun billig weiter, worin besteht aber eigentlich diese Einigkeit des Geistes, und woran wird die Selbstständigkeit des Geistes, worauf sie beruht, woran wird diese eigentlich erkannt? Die Einigkeit des Geistes die wir halten sollen, besteht zuerst in der Übereinstimmung eben dieser Verschiedenheiten, welche wir uns vorgehalten haben zu einem großen zusammenstimmenden und in seiner Schönheit und Herrlichkeit die Herr|lichkeit und Weisheit des Herrn verkündigenden Ganzen. Darum sagt der Apostel wie unmittelbar auf unseren Text folgt, „Ein Leib und Ein Geist“, wie er auch in dem Briefe an die Corinther sagt, „wir sind alle in demselben Geiste zu Einem Leibe getauft und zu Einem Geiste getränkt“. Indem 12 um] nun
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er uns aber daran erinnert, daß wir alle sollen Ein Leib sein, so müssen wir von selbst daran denken, wie viel Fleiß er angewendet hat, um zu zeigen, daß in der christlichen Kirche, eben weil sie Ein Leib sein soll, wie in jedem andern lebendigen Ganzen eine große Verschiedenheit der Glieder sein müsse, die aber einander dienen und einander ergänzen aus Einer und derselben Lebenskraft[,] so genährt und gebildet wie die Glieder des Leibes ein Ganzes bilden, und sich durch dasselbe zu jeder das Ganze erhaltenden Kraft des Lebens zu vereinigen wissen. Darum sagt er weiter in demselben | Kapitel aus welchem unsere Textes Worte genommen sind, indem wir hinanreifen, zu der vollkommenen Erkenntniß Christi, sollen wir auch immer mehr werden Ein vollkommener und vollendeter Mann. So soll zusammenstimmen alle Mannigfaltigkeit der Gaben und der Ämter, alle Verschiedenheit der einzelnen Naturen, der große Reichthum und die unendliche Fülle christlicher Gedanken und Empfindungen die unter verschiednen Menschen vertheilt, alle zugleich die ganze Fülle der Wirkungen des Geistes zeigen[,] so soll alles zusammenstimmen zu Einem Ganzen und das Bestreben das Verschiedene aber durch denselben Geist gebildet in dieser Übereinstimmung zu erhalten, das ist die Einigkeit des Geistes, zu welcher uns der Apostel ermahnt. Was wir aber sollen das müssen wir auch als möglich begreifen und dazu hat uns der Apostel hier sowohl | als anderwärts die größte Erleichterung in seinen eigenen Ausdrücken gegeben. Wenn wir sie aber zusammenfassen, so kommt alles darauf hinaus, es ist Ein und derselbige göttliche Geist, verheißen schon in den Zeiten des alten Bundes, erbeten von demjenigen, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, ausgegossen seiner Bitte und jener Verheißung gemäß über alles Fleisch, es ist Ein und derselbe Geist, der aber diese Einigkeit des Geistes von uns fordert und der sie möglich macht, denn wie sollte das nicht zusammenstimmen, was von Einem und demselben Geiste beseelt ist, worin Eine und dieselbe höhere göttliche Lebenskraft waltet? Fragen wir nun weiter, worin sie denn lebt und waltet, so müssen wir doch sagen, es ist die menschliche Natur[;] diese[,] freilich in jedem Einzelnen nach den verschiedenen Räumen der Völker und des menschlichen Geschlechts in den | verschiedenen Zeitaltern seiner Bildung und Entwicklung auch verschieden gestaltet[,] ist demohnerachtet auch in dieser Verschiedenheit Eins; von Einem Blut abstammend, von Einem ursprünglich durch den höchsten selbst entzündeten Leben durchdrungen[,] sind die verschiedenen Völker und Ge1 Leib] Leib,
4 eine] einen
10–12 Vgl. Eph 4,13 Kol 2,9
38 sind] sind,
24–27 Vgl. Joel 3,1 (alternative Zählung: 2,28); Joh 14,16;
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schlechter der Menschen nur ein großes Ganzes. Ist nun der Geist der alle die, welche die christliche Kirche bilden, belebt, Einer und derselbe, ist die menschliche Natur, die er in ihnen belebt, Eine und dieselbe ohnerachtet ihrer verschiedenen Gestalten, wie sollten sie nicht alle zu Einem Ganzen zusammenstimmen? Freilich m. g. F. ganz vollkommen erst dann, wenn es die ganze menschliche Natur sein wird, welche der Geist Gottes durchdringt und belebt, wenn alle Völker und alle Geschlechter der Menschen werden Eine Heerde sein unter dem Einen Hirten, wenn wirklich alle ihre Knie beugen werden [vor dem] Einen, dem | alle Gewalt gegeben ist, im Himmel und auf Erden. Dann erst können wir der vollkommene Mann werden, wie uns der Apostel das Ziel der Christen beschreibt, denn dann ist erst alles beisammen, wodurch das Mangelhafte und Unvollkommene in jedem Einzelnen kann ergänzt werden, und darum ist auch die innere Vervollkommnung der christlichen Kirche niemals zu trennen von ihrer äußern Verbreitung. Darum so lieb uns ist, daß die Einigkeit des Geistes erhalten werde unter den Christen, daß sich das Bild des Herrn selbst durch ihre Zusammenstimmung zu Einem Ganzen immer schöner und vollkommner darstelle in ihr, in demselben Maaße muß uns daran gelegen sein, daß das Licht des Evangeliums sich immer weiter verbreite und alle dunkeln Stellen des menschlichen Geschlechts noch von demselben erleuchtet werden. Aber nicht bloß ist es die Zusammenstimmung des Verschiedenen zu Einem Ganzen, sondern auch das Zusammenwirken der so verschiedenen zu Einem Zwecke und Ziele, was die wahre Einigkeit des Geistes ausdrückt. Ein anderes Ziel | aber können wir nicht haben, die wir den Namen des Herrn bekennen als sein Reich auf Erden zu fördern, wie dies auch der tägliche und alles Andere in sich schließende Gegenstand unseres Gebetes ist seinem Werke unter den Menschen Ehre zu machen und dasselbe immer weiter zu verbreiten, das ist unser gemeinschaftlicher Beruf. Und wenn wir das ins Auge fassen, m. g. F. wie könnten wir wohl anders als willkommen heißen und segnen die große Verschiedenheit, die wir unter denen bemerken, welche die Einigkeit des Geistes festhalten wollen. Denn das muß jeder fühlen, wie vieles es giebt, was zu diesem großen Werke gehört, und was er nicht kann, was jenseit der Grenzen seines Vermögens und seiner eigenthümlichen Beschaffenheit liegt. Wären nun alle wie er, so könnte freilich das was er kann in einem größern Maaßstabe gefördert und erreicht werden, aber was er nicht kann, was außerhalb der Grenzen seines eigenen 2 derselbe] derselben vollkommen 7–9 Vgl. Joh 10,16
17 sich] sich,
10 Vgl. Mt 28,18
19 darstelle] darstellen
10–12 Vgl. Eph 4,13
31 willkommen]
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Wesens liegt, das würde dann | von allen Andern eben so wenig können bewirkt werden als von ihm. Darum kann das Zusammenwirken zu unserem großen Zweck und zu der Förderung desselben auf nichts Anderem beruhen als eben auf dieser Verschiedenheit der Gaben und der Ämter, auf dieser verschiedenen Art wie der Geist sich durch verschiedene Menschen ausspricht in Wort und That, damit wenn Eins nicht an das Herz der Menschen dringt, es erweicht werde und ergriffen von dem Andern, damit was der Eine nicht vermag, geleistet werde durch den Andern. Und so mögen wir denn, wenn wir dieses Ziel recht ins Auge fassen und dabei sehen auf die große Verschiedenheit des Wortes und des Buchstabens, auf die große Verschiedenheit der Naturen, der Gaben und der Ämter, auch hier ausrufen, „O welch eine Tiefe des Reichthums und der Weisheit Gottes“. Wie könnten wir aber anders, wenn wir glauben an den Einen Geist, der alle beseelt, die den Namen Christi | bekennen, als nicht herzliche Freudigkeit und Dankbarkeit gegen Gott auf die ganze Geschichte des Christenthums zurücksehen, wie das Werk des Herrn gewachsen von einem Jahrhundert zu dem andern, wie die Schaar der Christen sich dem Ziele der Vollkommenheit Christi zugleich immer mehr genähert; wie das Licht des Evangeliums ohne zu erbleichen, wie ein irdisches Licht es durch größere Verbreitung thut, sich immer mehr verbreitet hat über die Geschlechter der Menschen. Ja nur das Werk dieser Einigkeit des Geistes, die der Apostel empfiehlt, ist dies immer gewesen, und nur nach dem Maaße dieser Einigkeit können wir ferner fortschreiten in christlicher Vollkommenheit. Wir mögen aber besonders auch auf die Zeit, in welcher wir leben, mit herzlicher Dankbarkeit gegen Gott hinsehen. Wie lebendig sehen wir nicht in den verschiedensten Gegenden das Bestreben das Christenthum über seine bisherigen Grenzen zu verbreiten, wie vereinigen sich zu dem, was als das wirksamste und reinste Mittel dazu erscheint, | Christen von der verschiedensten Sinnes- und Denkungsart, zu einem sichern Zeugniß, wie wenig die Übereinstimmung im Äußern und Einzeln zur Förderung des göttlichen Werkes durch die Einigkeit des Geistes gehört. Aber freilich giebt es auch eine andere und entgegengesetzte Seite des christlichen Lebens, freilich sehen wir überall auf den Zwiespalt, die Einigeit des Geistes auf mannigfaltige Weise gestört. Und wenn wir bedenken die Unsicherheit, welche über diese Vorschrift des Apostels zu allen Zeiten bald mehr bald weniger obgewaltet hat; wenn wir bedenken, wie oft in großen Werken der christlichen Welt fast jede Spur von Einigkeit des Geistes verschwunden 16 Geschichte] Gesichte 12–13 Vgl. Röm 11,33
17 einem] einen
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war; so müssen wir wohl sagen, es muß nicht leicht sein die Ermahnung des Apostels zu befolgen, und das führt uns auf den zweiten Theil unserer Betrachtung, was wir nach der Ermahnung des Apostels zu thun haben, um die Einigkeit des Geistes zu halten. | 5
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II. Er sagt: Seid fleißig, die Einigkeit des Geistes zu halten durch das Band des Friedens. Und wenn es freilich deutlich ist, daß Friede nur Statt finden kann, wo es Gelegenheit und Veranlassung zum Streite giebt, daß Friede immer eine Verschiedenheit in den Ansichten und Bestrebungen der Menschen voraussetzt, weil es eben Friede ist und nicht Einerleiheit, so vermissen wir doch eine nähere Erklärung dieser Worte, worin denn das Band des Friedens eigentlich besteht. Wir dürfen aber nicht glauben, daß der Apostel hier etwas Unbekanntes werde aufgesetzt haben, etwas wovon er nicht voraussetzen durfte, daß die an welche er schrieb, Veranlassung hätten, es auf eine und dieselbe Weise zu verstehen. Und dies führt uns auf die früheren Worte des Apostels zurück: „So ermahne nun euch ich Gefangener in dem Herrn, daß ihr wandelt in Demuth und Sanftmuth und durch Geduld, in welcher ihr berufen seid, und vertraget einer den andern in der Liebe.“ Das m. g. F. das ist, | das Band des Friedens, Demuth und Sanftmuth und Geduld, welche den andern verträgt in der Liebe. Ja gewiß, m. g. F. bei der großen Verschiedenheit, welche auch unter den Christen Statt findet, ist Demuth das Erste und Nothwendigste, wenn die Einigkeit des Geistes soll erhalten werden. Worin besteht aber die wahre Demuth des Christen? Nicht darin, m. g. F. daß Einer sich erniedrige und herabsetze unter den Andern, denn sonst würde die Demuth des Einen die Demuth des Andern aufheben und unwirksam machen, und sie würde statt das Band des Friedens zu sein vielmehr die Quelle der Zwietracht sein. Die wahre Demuth, m. g. F., besteht aber darin, daß keiner weder bei sich noch bei andern einen Werth setze auf das, was allein Grund hat in der menschlichen Natur und in dem, was in Beziehung auf dieselbe den Einen unterscheidet von dem Andern, sondern daß nur Werth gesetzt werde auf das, was das Werk des göttlichen Geistes ist in der menschlichen Natur. Denn das rein | Menschliche, das schreiben wir uns selbst zu mit demselben Recht, als wir uns als lebendige und thätige Wesen betrachten. Wir wissen zwar, daß auch schon von Geburt an ein Unterschied ist zwischen den Menschen von dieser natürlichen Seite angesehen, aber dieser entwickelt sich in einem jeden nur durch seine Selbstthätigkeit, und so können wir sehen, daß jeder in seinem gewissen Sinne sein eigenes Werk ist, indem er das, was er Andern 2 Apostels] Apostels,
40 Werk] Werk,
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verdankt in seiner Entwickelung wieder gut macht durch das, was er Andern zu leisten im Stande ist. Und da kann es denn leicht geschehen, daß der Mensch, indem er sich mit andern vergleicht, sich seiner selbst überhebt und in Stolz und Hochmuth freilich allemal seinem Falle entgegen geht. So bald uns aber das höhere und göttliche Leben aufgegangen ist, so erkennen wir, wie der Unterschied zwischen alle dem, was eine reichbegabte menschliche Natur leisten kann, von dem Gewöhnlichsten ja Niedrigsten und Untergeordnetsten bis zu dem Herrlichsten und Vortrefflichsten, daß dieser verschwindet sobald wir | vergleichen den natürlichen Menschen auch in seiner größten Schönheit und Herrlichkeit mit dem Menschen, der aus Gott geboren ist, und in dem der Geist Gottes wohnt. Das Leben aber, welches dieser uns bringt, vermögen wir nicht uns selbst beizumessen, wir wissen daß es aus Gott kommt. Darüber also muß jeder, wenn er nicht in der größten Selbsttäuschung leben will, Gott allein die Ehre geben, und eben das m. g. F., das ist die wahre Demuth des Christen. Wo nun diese ist, da achten wir auch natürlich jedes Werk des göttlichen Geistes in andern; was er andern giebt auszusprechen von [der] Fülle des göttlichen Lebens, das muß uns mindestens eben so viel werth seyn, als das, was er uns gegeben hat, hervorzubringen, ja noch mehr, weil das Mangelhafte unseres Wirkens dadurch ersetzt wird. Diese Demuth also fördert die Verschiedenheit der Gaben, fördert die Verschiedenheit des Buchstabens und des äußern Lebens, indem sie unsern Blick allein auf das innerste geistige Leben hin|lenkt, woraus alles Einzelne entsteht. Aber eben so, m. g. F. ist auch Sanftmuth und Langmuth und Geduld nothwendig um die Einigkeit des Geistes festzuhalten. Denn wenn wir auch wissen überall wo Menschen sind aus Gott geboren, da ist es auch der Geist Gottes, der sie beseelt, der ihnen die Gaben mittheilt, der ihre Handlungen leitet, so ist es uns deswegen doch nicht leicht, dasjenige, was ein Werk des Geistes ist, zu verstehen. Je ferner von unserer eigenen Art und Weise, desto schwerer ist es uns einzusehen. Darüber ermüdet dann leicht der Mensch und geräth in Ungeduld und in verkehrten Eifer, der die Einigkeit des Geistes stört. Sanftmüthig und in Geduld sollen wir wachen überall um das Leben des Geistes wahrzunehmen, und nicht eher ruhen, bis wir die Menschen um uns her verstanden haben. Unserer eigenen Schwachheit allein sollen wir es zuschreiben wenn es uns nicht so leicht ist, das Fremde zu verstehen, und uns ermahnen zur Geduld und Sanftmuth ohne welche wir nicht im Stande sind, die Vorschrift | des Apostels zu erfüllen. Und so wird durch Demuth und Sanftmuth und Geduld die Einigkeit des Geistes gehalten, denn wo sie sind, da erträgt Einer den Andern in Liebe, da verbindet sich alles, damit die Einigkeit des Geistes immer fester werde, da werden alle Verschiedenheiten immer vollkommner zu Einem Ganzen ge-
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bildet. – Wenn wir nun, m. g. F., in den früheren Betrachtungen unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben, daß was die Vollkommenheit der Liebe in uns hindert, immer auf irgend eine Weise Furcht ist, sollen wir uns nicht auch in Beziehung auf dieses herrliche und tröstliche Werk der Liebe, nämlich die Einigkeit des Geistes, fragen, wenn wir sie nicht festhalten – so muß also freilich auch die Liebe schwach sein – hat auch das seinen Grund in irgend einer Furcht? Wohl m. g. F. werden wir uns das nicht verbergen können. Hochmuth sowohl als Ungeduld und falscher Eifer haben ihren Grund in der Furcht. | Der Ungeduldige oder von einem verkehrten Eifer verzehrte, dessen Herz ist nicht fest, er besorgt durch das Verschiedene, was ihm entgegentritt, weil er es nicht versteht, irre gemacht zu werden auf seinem Lebenswege, und diese Furcht ist es eben was die christliche Sanftmuth und Geduld in seiner Seele verhindert. Der Hochmüthige ist es auch [aus] Furcht, aus Mangel an Vertrauen auf die Kraft des Geistes, glaubt er, daß er auch seine Persönlichkeit, daß er auch seiner einzelnen Natur, daß er auch sein besonderes Leben mit in die Wagschaale legen müsse, und das ist es, was die meisten Menschen dazu bringt, sich selbst zu überschätzen, damit sie desto fester stehen können auf dem, was sie als ihr eigenes Werk und als ihren Besitz ansehen. Wenn die Furcht vertrieben ist aus der Seele und jeder Hochmuth, wenn wir fest vertrauen auf das Wort des Herrn, daß sein Reich worin er allein waltet, und welches zu | fördern der Zweck seines Lebens unter uns ist, von den Pforten der Hölle nicht kann überwältiget werden, wenn wir fest vertrauen daß alles was der Geist Gottes wirkt, so gewiß wahr, so gewiß zusammenstimmend mit sich selbst [ist] als es Eins ist, wenn wir in dieser Furchtlosigkeit gegründet sind, dann kann es uns niemals an Demuth und Sanftmuth fehlen. Der Gottergebene und Gottvertrauende hat keinen Reiz zum Hochmuth, und der dessen Herz fest geworden ist in dem göttlichen Wort, hat keinen Reiz zur Ungeduld und zu einem falschen Eifer, sondern in Liebe wird er den Andern ertragen und ihn zu verstehen lernen suchen, und wo es Noth thut ihn bessern. Darum m. g. F. ermahnt der Apostel zur Einigkeit des Geistes die Christen, an welche er schreibt, seiner besondern Lage gemäß als ein Gefangener des Herrn. Der war er | auf eine solche Weise, daß man deutlich sahe, aus seiner Seele war alle Furcht verschwunden. In Ketten war er ein Bote des Evangeliums, freudig zu reden und zu handeln, und auf nichts 24 Hölle] Hölle,
24 nicht] leicht
1–3 Vgl. oben die Predigten der Themareihe „Über die Liebe“ vom 20. Juni, 4. Juli, 18. Juli und 15. August vorm. Die ebenfalls zur Themareihe gehörige Predigt vom 1. August beschäftigt sich nicht mit Furcht.
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Anderes sehend und nach nichts Anderem tichtend und trachtend, als daß ihm gegeben werde, freudig den Mund aufzuthun und zu zeugen von dem, dessen Diener er war. Als ein Zeuge des Herrn als ein solcher der keine menschliche Gewalt, kein Übel, keinen Tod fürchtete, um dem Beruf treu zu sein, der ihm gegeben war von oben, als ein solcher ermahnet er zur Einigkeit des Geistes, ermahnet die Christen eben so ohne Furcht zu sein, wie er und sie aus der Seele vertreiben zu lassen, durch die Liebe, dann würden sie auch durch das Band des Friedens fleißig sein, die Einigkeit des Geistes zu halten. Daß er nun aber ermahnet als ein Gefangener des Herrn, das er|innert uns freilich noch an etwas Anderes. In demselben Sinne wie er, sind es jetzt nur wenige Menschen, der Kampf des Lichtes gegen die Finsterniß, der Streit für das Wort des Herrn, hat eine andere Gestalt gewonnen, aber das bleibt, daß solange, dieser Streit noch besteht, die Treue in dem Dienste des Herrn eine Quelle mannigfaltiger Übel wird. Wenn auch nicht Gefangene und Verfolgte, aber doch Gedrückte und Leidende auf mancherlei Weise, sind alle, welche treu sind in dem Werke des Herrn. Giebt es nun genug zu dulden für diejenigen, welche Diener des Herrn sind, warum sollen wir m. g. F. die Leiden und Schmerzen der christlichen Kirche noch vermehren durch Uneinigkeit, warum sollen wir die Geburtsschmerzen der christlichen Kirche noch vermehren, durch das Leiden, welches | aus dem Mangel an Einigkeit des Geistes entsteht, warum soll zu dem äußern Streit, noch der innere Zwiespalt noch hinzukommen, der nicht nur alle Kräfte lähmt, sondern auch das Bewußtsein stört, welches uns als Christen sein soll, daß alles was der Geist des Herrn unter uns wirkt, nur dann zum Segen für uns ausschlagen kann, wenn wir einig sind in dem Herrn. Darum sollen wir uns alle ermahnen bei den Kämpfen, die das Reich Gottes noch immer zu bestehen hat, mit den Mächten der Finsterniß[,] festzuhalten die Einigkeit des Geistes, durch das Band des Friedens, und überall mit Freudigkeit aus Einem Geiste hervorgehen sehen, die Mannigfaltigkeit des Wortes und des Buchstabens, die Mannigfaltigkeit der Gaben und der Ämter, die Mannigfaltigkeit der Naturen und der | Handlungsweisen, aber auch auf die Kraft eines und desselben Geistes hoffend und vertrauend, immer mehr wachsen sehen die Übereinstimmung Aller zu Einem Ganzen, und die innere geistige Förderung des Werkes, zu welchem wir alle berufen sind. Amen.
5 dem] den 7 und] uns 9 Daß] Das 10 das] daß ein 30 Freudigkeit] Freudigkeit, 34 Geistes] Geistes,
14 daß] das
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[Liederblatt vom 10. Oktober 1824:] Am 17ten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr dem etc. [1.] Frohlockend, Vater, wacht’ ich auf / Am Tage deiner Ehre. / Mein Morgenopfer dringt hinauf; / Schau du herab und höre! / Du wirst durch deinen Unterricht, / Auch heute Muth und Trost und Licht / In meiner Seele würken. // [2.] Dich beten Erd’ und Himmel an, / O Schöpfer aller Dinge! / Wohl mir, auch ich darf dir mich nahn, / Du hörst, wenn ich dir singe. / Du selbst bedarfst zwar meiner nicht, / Doch kann ich nur das ewge Licht / Bei dir, o Vater, finden. // [3.] O möcht’ ich doch zu jeder Zeit, / Mein Gott, mich deiner freuen, / Und voll von deiner Herrlichkeit / Mein ganzes Herz dir weihen! / So ziehe sanft zu dir mich hin, / Nur dir geheiligt sei mein Sinn / In diesen Feierstunden. // (Cramer.) Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Ihr Kinder des Höchsten, wie stehts um die Liebe? / Wie folgt man dem wahren Vereinigungstriebe? / Bleibt ihr auch im Bande der Einigkeit stehn? / Ist keine Zertrennung der Geister geschehn? / Der Vater im Himmel kann Herzen erkennen, / Wir dürfen uns Brüder ohn’ Liebe nicht nennen, / Die Flamme des Höchsten muß lichterloh brennen. // [2.] Sobald wir von oben aufs neue geboren, / Da sind wir von Christo zu Brüdern erkoren. / Ein Vater, ein Glaube, ein Geist, eine Tauf’, / Ein voller zum Himmel gerichteter Lauf / Kann unsere Herzen vollkömmlich verbinden, / Wir können nichts anders als Süßigkeit finden, / Verdacht, Neid und Aergerniß müssen verschwinden. // [3.] Die Mutter, die droben ist, hält uns zusammen, / Und schickt uns herunter die himmlischen Flammen! / Kein Unterschied findet hier einige Statt, / Weil Demuth die Herzen vereiniget hat. / Wo Eigenheit, Zank und Haß können regieren, / Da wird man den Funken der Liebe nicht spüren, / Noch in den Chor englischer Thronen ihn führen. // [4.] Die Zionsgesellschaft verläßt die Verwandten, / Setzt Brüder am höchsten vor allen Bekannten. / Wer noch ist bezaubert von Liebe der Welt, / Und sich in der Falschheit zum Bruder verstellt, / Den kann sie unmöglich zum Bruder annehmen, / Er müßt’ sich denn völlig zur Buße bequemen, / Sie darf sich des redlichen Sinnes nicht schämen. // [5.] Was ich bin, mein Bruder, das bist du auch worden, / Wir sind an dem himmlischen Erbe Consorten, / Ein jeder für alle zum Vaterland dringt, / Die Kirche nach einem stets kämpfet und ringt. / Wir müssen bereit sein für Brüder zu sterben, / Wie Jesus uns auch so gemacht hat zu Erben. / Ein Glied fühlt und leidet des andern Verderben. // [6.] Drum lasset uns lieben und freuen von Herzen, / Versüßen einander die leidenden Schmerzen, / Dringt kräftig, ihr Geister, in Eines hinein, / Vermehret die Strahlen vom göttlichen Schein, / Ach! drücket zusammen die Herzen und Hände, / Und bittet den Vater, daß Hülfe er sende. / So kennet die Liebe nicht Anfang noch Ende! // (J. A. Bernstein.)
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Nach der Predigt. – Mel. Alle Menschen müssen etc. Hölle hat nur Haß geboren, / Liebe stammt vom Himmel her; / Der hat Gottes Bild verloren, / Der nicht liebet, so wie er. / Konnte er wohl mehr uns geben, / Opferte nicht selbst das Leben / Tief verkannt, voll Schmach und Hohn, / Für die Brüder einst sein Sohn? //
Am 17. Oktober 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
18. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 6,16–26 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 402–415; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 174v–180v; Saunier, in: Schirmer Nachschrift; SAr 63, Bl. 43r–46v; Woltersdorff Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 18. Sonntage nach Trinitatis 1824.
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Tex t. Joh. 6, 16–26. Am Abend aber gingen die Jünger hinab an das Meer und traten in das Schiff und kamen über das Meer gen Kapernaum, und es war schon finster geworden, und Jesus war nicht zu ihnen gekommen. Und das Meer erhob sich von einem großen Winde. Da sie nun gerudert hatten bei fünf und zwanzig oder dreißig Feld Weges, sahen sie Jesum auf dem Meer daher gehen und nahe bei das Schiff kommen, und sie fürchteten sich. Er aber sprach zu ihnen, Ich bin es, fürchtet euch nicht. Da wollten sie ihn in das Schiff nehmen, und alsobald war das Schiff am Lande, da sie hinfuhren. Des andern Tages sahe das Volk, das diesseit des Meeres stand, daß kein anderes Schiff daselbst war, denn das einige, worein seine Jünger getreten waren, und daß Jesus nicht mit seinen Jüngern in das Schiff getreten war, sondern allein seine Jünger waren weggefahren. Es kamen aber andere Schiffe von Tiberias nahe zu der Stätte, da sie das Brot | gegessen hatten durch des Herrn Danksagung. Da nun das Volk sahe, daß Jesus nicht da war, noch seine Jünger, traten sie auch in die Schiffe, und kamen gen Kapernaum, und suchten Jesum. Und da sie ihn fanden jenseit des Meeres, sprachen sie zu ihm, Rabbi, wann bist du hergekommen? [Jesus antwortete ihnen und sprach, Wahrlich, wahrlich ich sage euch, ihr 2 Joh. 6,16–26.] so auch SAr 63, Bl. 43r; Textzeuge: Joh. 6, 16–25. Die folgende Predigt der Homilienreihe hebt bei Vers 27 an. 7–8 Feld Weges] Feldweges
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suchet mich nicht darum, daß ihr Zeichen gesehen habt, sondern daß ihr von dem Brot gegessen habt und seid satt geworden.]
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M. a. Fr. Auf Veranlassung dieser Frage, welche das Volk an Christum that, entspann sich zwischen ihm und ihnen ein Gespräch, an welches sich eine Rede knüpfte in der Gegend von Kapernaum, wohin sie ihn begleiteten, welches Gespräch und welche Rede uns längere Zeit hindurch beschäftigen werden. Der Erfolg davon aber war kein anderer, als wie wir am Ende dieses Capitels lesen werden, nicht nur keinesweges, daß viele von denen, die ihn hörten, an ihn wären gläubig geworden, sondern daß auch viele, die bisher mit ihm gewandelt waren, ihn verließen und aufhörten seine Jünger zu sein. Davon nun liegt, wenn wir genauer aufmerken, der Grund in dem, was wir eben gelesen haben, nämlich in der ganzen Richtung und Gemüthsstimmung, die sich darin offenbart, und zwar auf der einen Seite bei seinen Jüngern, und auf der andern Seite bei dem Volke. Nämlich von den zwölf, von welchen hier die Rede ist, erzählt freilich der Evangelist am Ende des Capitels, daß als der Herr sie gefragt hätte, ob sie ihn auch verlassen wollten, sie sich erklärten, daß sie bei ihm bleiben wollten, denn er allein habe die Worte des Lebens. Also war in ihnen freilich eine treue Anhänglichkeit an den Erlöser, aber wir finden doch auch die Spuren derselben Schwachheit in ihrem Betragen, welche andern eine Veranlassung werden konnte, den Erlöser zu verlassen. Was uns nun aber von den Jüngern berichtet wird, ist dies. Als der Herr merkte – das hat uns Johannes selbst früher erzählt – daß das Volk ihn greifen wollte, um ihn zum König | zu machen, so entzog er sich ihnen und ging einsam in das Gebirge zurükk, seinen Jüngern aber befahl er – was uns hier Johannes nicht ausdrükklich erzählt, was wir aber aus den andern Evangelisten wissen – daß sie allein hinüberfahren sollten nach Kapernaum, woraus schon folgt, daß, da kein anderes Schiff da war als das eine, auf welchem er vorher mit den Jüngern hierher gefahren war, er auch auf einem andern Wege wieder zu ihnen zu kommen gedachte. Nun erzählt uns Johannes, es wäre finster geworden, wie sich denn das große Mahl der vielen tausende allerdings wol natürlich über die gewöhnliche Zeit verlängert hatte. Da nun Jesus nicht bei ihnen war, und sich auf dem See ein großer Wind erhob, so fürchteten sie sich. 3–7 Vgl. unten die Frühpredigten vom 31. Oktober über Joh 8,27–65, vom 14. November über Joh 6,36–44, vom 28. November über Joh 6,45–51 und vom 12. Dezember über Joh 6,52–60. 10–11 Vgl. Joh 6,66 16–19 Vgl. Joh 6,68 24–27 Vgl. Joh 6,15 27–30 Vgl. Mt 14,22; Mk 6,45
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Hier sehen wir nun zuerst eine gewisse Anhänglichkeit an die unmittelbare und leibliche Gegenwart, welche zugleich immer verbunden ist mit einem gewissen Mangel an Glauben an das geistige und an Gefühl von der geistigen Kraft und Wirksamkeit. Hatten sie diesen lezteren Glauben in dem Grade gehabt, wie er allerdings von ihnen wäre zu erwarten gewesen, so sollten sie sich nicht deswegen gefürchtet haben, weil Jesus nicht zu ihnen gekommen war, denn sie waren ja doch auf seinen Befehl in der Abendstunde in den See gefahren, den sie auf der einen Seite zwar sehr gut kannten, von welchem sie auf der andern Seite aber auch wußten, daß er häufig von einem heftigen Winde plözlich bewegt wurde, und daß dann die Fahrt auf demselben unsicher war. Was sie nun auf seinen Befehl thaten, dabei sollten sie den Muth gehabt haben und das Vertrauen, was ihnen auch begegnen möchte, es könne nicht anders als nach seinem Willen geschehen und zu ihrem Frieden dienen, und sie hätten wissen müssen, daß dann auch seine schüzende Macht, die sie aus so vielen Beispielen kannten, eben so über ihnen walten würde, als ob er wirklich unmittelbar unter ihnen zugegen wäre, und daß alles, was in dem Verhältniß, in welchem sie mit ihm standen, sich ereignete, zu | dem großen Werke seines Daseins, zur Befestigung seines Reiches hinführen müsse. Aber sie hingen noch am leiblichen, und eben deswegen hatten sie diesen Muth und dieses Vertrauen nicht. Nur aber in dem Maße, m. g. Fr., als wir das geistige schauen und alles leibliche und äußerliche dazu wirksam sein lassen, können wir unter allen Umständen Jünger des Herrn bleiben und durch nichts in der Welt von ihm abwendig gemacht werden. Denn so ist es von je her gewesen und wird auch so bleiben, so lange das Reich des Herrn in dieser Welt noch im Streit und Kampf leben muß. Die geistige Kraft desselben, die ist immer da, und diejenigen, welche gewohnt sind auf sie zu merken, die nehmen sie auch beständig wahr; aber die äußere Erscheinung, die ist oft nicht nur unscheinbar und gering, sondern es will auch oft die Menschen bedünken, als ob sie im Begriff wäre ganz zu verschwinden, als ob sie sich nicht würde halten können gegen dasjenige, was ihr feindselig gegenüber steht. Und da steht ihr nun immer am meisten entgegen diejenige Stimmung, in welcher der Mensch, wie auch die Apostel damals derselben Gefahr ausgesezt waren, hinter sich geht und den Herrn verläßt, Denn wer einmal noch am äußerlichen hängt, der muß auch dasjenige verlassen, was ihm äußerlich bedenklich scheint, und sich an dasjenige halten, was ihm eine größere Sicherheit und eine größere Kraft gewährt. Von den Jüngern aber hätten wir allerdings erwarten sollen, daß ihr Vertrauen auf die geistige Macht des Herrn schon sollte stärker geworden sein in der Zeit, wo sie mit ihm gelebt hatten, und wo ihnen so viele Beweise von dieser Kraft entgegengekommen waren.
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Das hängt nun mit etwas anderem zusammen, was uns auch aus der Erzählung unseres Textes entgegen tritt, nämlich daß die Jünger zu sehr und ausschließend mit demjenigen beschäftigt waren, was der gegenwärtige Augenblikk mit sich brachte, und dagegen abgelenkt von dem frühern und in Beziehung auf dasselbe bewußtlos. | Es wird wol keiner unter uns sein, dem nicht bei dem, was ich eben gelesen habe, jene andere Geschichte eingefallen wäre, wo die Jünger mit dem Herrn, er aber schlafend, auf demselben See fuhren, und ebenfalls durch einen heftigen Sturm das Schiff in Gefahr kam unterzugehen, wo sie dann ihn wekkten und ihn um Hülfe anriefen, und er sie schalt um ihrer Kleinmüthigkeit willen, daß sie nicht von dem festen Vertrauen belebt wären, daß wo er mit ihnen sei, da könne es ihnen nicht anders als nach dem gnädigen Willen Gottes und also gut ergehen. Sie aber schienen daran nach der Kenntniß, die sie in dem Umgange mit dem Herrn von seiner waltenden Kraft gewonnen haben mußten, und nach so vielen andern Proben, die er ihnen davon abgelegt hatte, ja nach dem was unmittelbar vorhergegangen war, wo er ein großes Zeichen an den fünftausend gegeben hatte, nicht zu denken, sondern waren ganz mit dem Augenblikk beschäftigt. Dies an und für sich selbst, m. g. Fr., ist nicht zu tadeln, sondern höchst lobenswürdig; ja wir sollen ganz in dem Augenblikk leben und für den Augenblikk, welcher eben da ist; unser Leben wird desto reicher und gesegneter sein in jedem Betracht, als uns von keinem Augenblikk desselben etwas entgeht, sondern alles, was eben die Gegenwart erfüllt, klar vor uns liegt. Je mehr wir alles in jedem Augenblikk in das innerste unseres geistigen Daseins aufnehmen, nicht etwa einseitig nur einen Theil desselben, sondern das ganze Leben, wie es sich gestaltet, in uns eingehen lassen und mit unsern Kräften verarbeiten: desto größer wird der Schaz sein, den wir in jedem Augenblikk gewinnen. Aber, m. g. Fr., eins ist nicht ohne das andere, wir gewinnen jenen Schaz, um ihn in die Zukunft mit hinüber zu nehmen, und in dem Maaße als wir das vernachläßigen, wird unser ganzes Leben unsicher und von dem abhängig, was einen Augenblikk | von dem andern unterscheidet. Dieser Zustand legt denn auch den Grund zum Wankelmuth und hindert dasjenige, was uns in der Schrift so oft als das herrlichste Werk des Christenthums dargestellt wird, daß das Herz fest werde. Denn wenn nun die Jünger überall in einem treuen Gedächtniß 14 schienen] scheinen 7–14 Vgl. Mt 8,23–27; Mk 4,35–41; Lk 8,22–25 17–18 Vgl. Mt 14,13–21; Mk 6,30–44; Lk 9,10–17; Joh 6,1–15 36–38 Vgl. Hebr 13,9
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festgehalten hätten, was ihnen in ihrem Umgang mit dem Erlöser schon begegnet war; wenn sie sich jedes Segens, den sie von ihm gehabt hatten in früherer Zeit durch Leben, Ermahnung und Erhebung, in jedem Augenblikk erfreut hätten, und mit jedem gegenwärtigen Augenblikk zugleich die ganze reiche schöne und herrliche Vergangenheit gehabt und genossen hätten: dann wäre es nicht möglich gewesen, daß in irgend einem Augenblikk des Lebens ein Kleinmuth oder eine Furcht sie hätte anwandeln können. Denn jeder Augenblikk des Lebens, m. g. Fr., das bringt die Natur der Sache mit sich, kann nicht gleich wichtig sein und gleich gesezt in Beziehung auf dasjenige, was uns allen das einzig gute und nothwendige ist, nämlich unser unmittelbares Bewußtsein von Gott und dem Erlöser; aber eben deswegen, weil die einzelnen Augenblikke des Lebens darin ungleich sind, wie es denn auch den Jüngern in diesem Augenblikk erging, wo sie den Herrn nicht mit sich hatten, daß sie eben von äußerer Sorge und Noth mitgenommen wurden, weil also, sage ich, nicht alle Augenblikke einander gleichen: so muß einer den andern ausgleichen, und dies kann nur dann geschehen, wenn wir das fest im Gedächtniß halten, was uns Gott der Herr in der vergangenen Zeit unseres Lebens nach seiner väterlichen Güte gegeben hat. So wie es nothwendig ist, daß wir jeden Augenblikk der Gegenwart ganz haben und empfinden: eben so nothwendig ist es, daß wir die Vergangenheit ihrem Inhalt nach begreifen, daß das gute, was sie uns gebracht hat, aus einem Augenblikk in den andern immer schöner und segensreicher übergehe, und daß wir so immer | mehr wachsen in der Lebendigkeit unserer Freude über den Segen der Vergangenheit, in der Fertigkeit, alles was uns begegnet auf den hohen Zwekk unseres Lebens zu beziehen, in der Stärke unseres Bewußtseins von Gott, und so in dem Vertrauen auf seinen heiligen Willen und in der Kraft demselben überall zu gehorchen und uns mit freudigem Herzen in dasjenige zu fügen, was sein väterlicher Rath über uns beschlossen hat. Die Jünger aber, eben deshalb weil sie diese Kraft noch nicht hatten und zu sehr ausschließend von dem einzelnen Augenblikk beherrscht wurden, so fürchteten sie sich; für sich, weil sie den Herrn nicht bei sich hatten, und weil sie ihr Schiff ohne ihn der Gefahr ausgesezt dachten; für ihn, weil, obschon es schon spät war, er doch nicht zu ihnen gekommen war, und sie nicht wußten, wie er sich durch die Dunkelheit der Nacht zu ihnen hindurch finden würde. Als sie ihn nun sahen, und er sich ihnen zu erkennen gab und ihnen zurief, sie sollten sich nicht fürchten, so gewannen sie wieder frischen Muth und wollten ihrer Seits auch für ihn sorgen, indem sie ihn in das Schiff nehmen wollten. Aber diese Sorge war überflüssig, denn, wie uns Johannes er-
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zählt, das Schiff war damals schon am Lande, und zwar da, wo sie anlegen konnten, oder wollten. So, m. g. Fr., geht es oft den Menschen, die wie hier die Jünger auf der einen Seite das geistige vergessen und mit allen ihren Gedanken immer nur auf das leibliche gerichtet sind, auf der andern Seite ganz vom Augenblikk und von dem sinnlichen Gehalt desselben beherrscht werden, so sage ich geht es oft den Menschen, die sich in diesem Zustande befinden, daß sie grade dann auch nicht das äußerlichste und unmittelbarste des Augenblikks verstehn. Indem die Jünger für Christum sorgen und ihn in das Schiff nehmen wollten, so mußten sie nicht wissen, daß sie an dem Ort waren, wo sie mit leichter Mühe an das Land kommen konnten, das mußten sie nicht wissen, obwol der Ort an sich ihnen nicht fremd war, denn es waren die Ufer des ihnen | bekannten Sees. Aber indem der Sturm sich erhoben und das Schiff, auf welchem sie sich befanden, der Gefahr ausgesezt hatte, so waren sie doch aus dem gehörigen Gleichgewicht herausgefallen, und wußten nicht Bescheid mit dem, was sie unmittelbar umgab. Wie dies nun das natürliche Ergebniß ist von dem, was wir bisher betrachtet haben, so ist es auch die natürliche Ursach von dem, was uns Johannes am Ende des Capitels erzählt. Denn der auf eine solche Weise auf das sinnliche gerichtete und von der Gewalt des Augenblikks beherrschte Mensch ist am wenigstens fähig, die große geistige Tiefe, die unsichtbare aber desto wahrere und lebendige Einheit in einem Dasein und in einer Wirkungsart wie die des Erlösers war zu begreifen, weil sie das Gegentheil von dem ist, was ihn selbst bewegt, und von der Art, wie er die Dinge ergreift und behandelt. Daher denn auch natürlich ist, daß diejenigen, welche in dieser Hinsicht nicht besser waren als die Jünger und dabei nicht von einer großen Anhänglichkeit an den Herrn unterstüzt wurden, nach und nach aufhörten seine Jünger zu sein, je mehr er ihnen die Tiefe seiner Lehre, den innersten Grund seiner Weisheit, die hohe Bedeutung seines Lebens aufschloß, sie aber in alle dem immer nur dasjenige hörten, was sie nicht begreifen konnten, und was fern lag von ihrer Art und Weise zu sein und zu denken. Nur eins müssen wir noch erwägen, ehe wir uns von den Jüngern des Herrn trennen und zu dem Volke wenden. Nämlich hier fürchteten sie sich, indem sie selbst in der Gewalt der natürlichen Kräfte waren und den Herrn ebenfalls dem Sturme des Meeres ausgesezt wußten und sich von ihm getrennt. Wenn er ihnen aber sagt, daß er werde in Jerusalem von seinem Volke und dessen obersten den Heiden und Sündern überantwortet werden und leiden und sterben, so verstehen sie es nicht. Vor | demjenigen fürchteten sie sich, weswegen sie ganz 38–41 Vgl. Lk 18,31–34
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sicher hätten sein können und ganz beruhigt in ihrem innern, aber dasjenige beachteten sie nicht, worauf der Erlöser sie selbst hinwies, und worauf er sie vorbereiten wollte. So ist es aber, m. g. Fr., gar sehr häufig und eben in Verbindung mit den Fehlern und Mängeln, die wir uns schon vorgehalten haben. Je mehr der Mensch auf das leibliche und äußere gerichtet ist, desto mehr ist seine Aufmerksamkeit auf dasjenige gespannt, was ihm auch durch das äußere begegnen kann. In dem Reiche des Herrn aber kommt alles auf das lebendige Zusammenwirken aller menschlichen Kräfte an, alles auf die Thätigkeit, welche die Glieder desselben auszuüben berufen sind, alles darauf, was sich unter dem göttlichen Beistande gutes, sind die Menschen aber sich selbst überlassen, böses und verderbliches daraus entwikkelt. Dieses aufzufassen waren die Jünger noch nicht geeignet, vor jenem aber in einer leeren Furcht begriffen. Deshalb bedurften sie noch vieler Zucht und Unterweisung von dem Herrn, um so zu werden, daß sie den Beruf, zu welchem der Herr sie ausersehen hatte, erfüllen könnten. Nun aber laßt uns zweitens sehen, was uns der Evangelist erzählt von dem Volke, welches der Herr gespeist hatte, und welches dadurch in eine solche Bewegung gerathen war, daß sie ihn hatten greifen und zum Könige machen wollen. Da hatte er sich ihnen entzogen und war, wie uns der Evangelist berichtet, auf das Gebirge gegangen, das Volk aber hatte die Nacht an der Stätte zugebracht, wo am verwichenen Tage der Herr sie gespeist hatte. Sie hatten aber wohl gemerkt, daß der Herr seine Jünger allein in das Schiff hatte treten lassen, um wieder hinüber zu fahren, von wo sie gekommen waren, sich selbst aber einsam zurükkgezogen. Die Dunkelheit, welche darüber hereingebrochen war, hatte sie gehindert, ihn weiter zu verfolgen und im Gebirge aufzusuchen. | Was war nun übrig geblieben von dem Zeichen, welches sie gesehen, und von dem verkehrten aber doch lebendigen Eindrukk, den sie von dem Herrn empfangen hatten? Wie es scheint, m. g. Fr., gar nichts. Sie suchten ihn freilich auf und waren froh, als andere Schiffe zu der Stätte kamen, wo sie das Brot gegessen hatten, um auf denselben hinüber zu kommen nach Kapernaum, wo sie wussten, daß die Jünger des Herrn waren, und wo sie auch ihn früher oder später finden mußten. Was war es also, was sie trieb eilig in die Schiffe zu treten und den Herrn zu suchen? Was kann es anders gewesen sein als eine leere Neugierde. Und so zeigt es sich auch gleich, denn als sie zu ihrer Verwunderung Jesum schon am jenseitigen Ufer fanden, was war die Frage, die 19–23 Vgl. Joh 6,14–15
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sie sogleich an ihn richteten? Meister, wann bist du hergekommen? In den unmittelbar folgenden Worten sagt ihnen auch der Herr, daß er wohl wisse, wie leer sie seien in sich selbst, daß sie zwar ihn suchten, aber weder um der Worte des Lebens willen, die sie von ihm hören könnten, und die seine Jünger bei ihm festhielten, so daß sie nicht wieder von ihm gehen wollten, noch weil sie so viele Zeichen von ihm gesehen hätten, sondern weil sie das Brot von ihm gegessen und satt geworden wären. Das, m. g. Fr., giebt uns einen Aufschluß über das Verhältniß, in welchem das wunderbare, welches nach dem göttlichen Willen die Erscheinung des Herrn auf Erden begleitete und begleiten mußte, zu dem wahren Glauben und zu der rechten Anhänglichkeit an ihn steht. Nämlich kurz zuvor nur hatten sie etwas von dem Herrn gesehen, was sie mit einer solchen Verehrung gegen ihn erfüllte, daß sie ihn als König an ihre Spize stellen wollten, und was ihnen durchaus wunderbar erscheinen mußte. Aber was hatte nun das hervorgebracht? Nichts anders als das Verlangen, ob es nicht noch etwas neues wunderbares für sie zu sehen gäbe, | und so erscheint es ihnen auch wunderbar, wie es eben aus ihrer Frage hervorgeht, daß der Herr, obgleich am vorigen Abend kein Schiff in der Nähe war, auf welchem er hätte hinüber fahren können, dennoch am folgenden Tage in der Gesellschaft seiner Jünger ist, die allein zurükkgefahren waren, und sie begehrten Aufschluß von ihm, wann und wie das geschehen sei. So wenig, m. g. Fr., vermag eben das wunderbare, welches sich in der äußern Erscheinung und in dem äußern Erfolg zeigt, das Herz des Menschen in seiner eigentlichen Tiefe zu ergreifen und zu seinem wahren Heil zu führen. Ist nichts anderes da, wovon das Gemüth voll wird, so kann dieses für sich selbst zu nichts anderem führen, als daß die Aufmerksamkeit der Menschen immer mehr auf das wunderbare gerichtet wird, daß sie immer mehr davon zu sehen verlangen und nicht genug haben an demjenigen, was sich ihnen davon schon gezeigt hat, ohne daß das wesentliche und wahre für sie damit verbunden ist und sich in ihrem Gemüthe festsezt. Daher sehen wir denn auch, daß der Herr die großen und ausgezeichneten Kräfte, die ihm Gott gegeben hatte, immer nur da gebrauchte, wo sich ihm eine Gelegenheit darbot zum Nuzen und zum Wohl der Menschen, niemals aber eine Hoffnung für das Gelingen seines großen Werkes darauf gründete und den Glauben der Menschen von seinen Wundern erwartete, und sie daher niemals da that, wo die Menschen sie forderten, damit sie an ihn glauben könnten, weil er wohl wußte, daß auf diese Weise der wahre lebendige Glaube nicht entsteht. 4–6 Vgl. Joh 6,67–68
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Wir, m. g. Fr., wir leben nun nicht in den Zeiten der Wunder, aber etwas können wir doch auch für uns aus dieser Betrachtung nehmen. Laßt uns nur das damit in Verbindung bringen, was uns der Evangelist am Ende des Capitels erzählt. Unter dem Volke, welches der Herr am vorigen Tage gespeist hatte, und an welches er jezt eine Rede hielt, waren viele, die, obwol sie ihm ihr Ohr liehen, doch in nicht geringer Anzahl hin|ter sich gingen, und der Evangelist erzählt, daß sie hinter sich gingen und nicht mehr mit dem Herrn wandelten, weil seine Rede ihnen zu hart war. Denn diese führte sie ganz ab von dem äußerlichen auf das innerliche und machte sie aufmerksam darauf, daß er nur das Brot vom Himmel gekommen sei, an welchem ihre Seele sich nähren könne, aber daß dies nicht anders geschehen könne als durch die allereinfachste und innigste Vereinigung mit demjenigen, den Gott zum Heil der Welt gesandt hat. Diese Rede, die sie von allem äußerlichen zurükkwies auf das innerste, war ihnen zu hart, und sie hörten auf seine Jünger zu sein, weil sie auf einem äußerlichen Wege das von ihm erwarteten, was sie wünschten. Laßt uns fragen, m. g. Fr., geht es uns nicht auch oft auf unserer so sehr verschiedenen Lebensbahn eben so? Hangen wir auch noch viel zu sehr an dem äußerlichen, und wenn wir auch nicht so sehr unseren eigenen und derer, die uns die nächsten sind, Vortheil im Auge haben, sondern die Verbreitung und Vermehrung des guten, die Aufbauung des Reiches Christi, den Sieg des Lichts über die Finsterniß, sind wir nicht immer noch zu viel auf die äußerlichen Angelegenheiten der Welt gerichtet und erwarten von denen das Heil? Sobald schwierige Umstände eintreten für die Kirche des Herrn, oder dasjenige, was aller menschlichen Wohlfahrt zum Grunde liegt, auf irgend eine Weise in Gefahr geräth, erwarten wir dann nicht, daß es besser werden soll, immer noch von etwas äußerlichem; denken wir nicht, wenn dies oder jenes geschähe, wenn dieser oder jener Umstand einträte, dann würden die Angelegenheiten sich wenden, dann würde aufgehoben werden, was uns droht, das gute würde dann seinen früheren gerechten Gang gehen können und sich immer dauernder unter uns befestigen? Das, m. g. Fr., das ist dasselbe, was uns hier von dem Volke erzählt wird. Nicht durch äußerliches, nicht durch diese oder jene größern oder kleinern Begebenheiten, die sich in der | Welt ereignen, kann das Reich des Herrn erbaut werden, so wie es nicht gestört werden kann und gehemmt durch das, was die Macht der Finsterniß äußerlich dagegen zu unternehmen im Stande ist, sondern von innen heraus kann und soll es sich erbauen. Alles äußerliche muß und kann dazu dienen, daß es sich mehre, wenn die Kraft lebendig ist und wirksam, durch welche 3–9 Vgl. Joh 6,60.66
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es sich erhalten und wachsen soll; wo die aber fehlt, da können alle äußerlichen Ereignisse eben so wenig zur Förderung des Reiches Gottes beitragen, als sie den Untergang desselben bewirken können, wo sie da ist. Warum fragen wir also nach dem, was geschehen kann und geschehen wird? Warum ist unsere Aufmerksamkeit so auf die äußerlichen Ereignisse gerichtet? Warum fragen wir nicht vielmehr nach dem innern? Warum, wenn es uns bedenklich zu stehen scheint, fragen wir nicht, wie fest ist der Glaube, wie fest ist die Liebe, wie fest ist die auf Gott gegründete Hoffnung? Das sind die Dinge, auf die wir sehen, und nach denen wir fragen müssen, und die allein im Stande sind über alle Verwirrungen des Lebens zu siegen. Denn das Reich Gottes besteht nicht in äußerlichen Geberden, und es kann nicht anders als durch Glauben, durch Liebe und Hoffnung gebaut und immer mehr befestigt werden. Das ist es, wodurch wir unsern Antheil an demselben bekunden müssen, die Leitung alles äußerlichen Gott überlassen und dem, welchen er gesezt hat zum Herrn seines Reiches. Warum denken wir also nicht unter allen schwierigen Umständen uns zu stärken durch die Worte des Lebens, die wir bei ihm finden, und sehen vielmehr darauf, was durch seine wunderbare Macht und Hülfe äußerlich in der Welt schon geworden ist und immer noch wird? So lange wir denen gleichen, die, weil sie die innerste Tiefe des Herrn nicht verstanden und weil ihnen seine Rede zu hart war, hinter sich gingen, so lange wir seine Herrlichkeit nur in den äußerlichen Führungen sehen wollen und davon den Wachsthum seines Reiches erwarten, so lange sind wir in Gefahr hinter uns zu gehen und nicht mehr mit ihm zu wandeln. | Darum, m. g. Fr., laßt uns von allem äußerlichen und leiblichen immer wieder auf das innere und geistige zurükkgehen und den Herrn ergreifen und festhalten, wo er sich in einer einzelnen Seele und in der Gemeine der gläubigen kund thut; laßt uns immer mehr in die Tiefe des Herzens schauen, aus welcher die schönen und herrlichen Früchte des Geistes, wenn auch einzeln und zerstreut, hervorwachsen, wenn wir auch nicht sehen, wie große Dinge sie ausrichten im Reiche des Herrn. So laßt uns fest werden im lebendigen Glauben und in der wahren Liebe zu ihm und die Dinge, die sich äußerlich unter uns ereignen, seiner weisen Leitung überlassen. Dann wird uns das äußerliche immer mehr nicht etwa so gleichgültig werden, daß wir die Aufmerksamkeit dafür verlören und in keinem Augenblikk thäten, was uns zu thun obliegt, oder in irgend einem Augenblikk das thäten, was wir nicht thun 24 den Wachsthum] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 1326 11–12 Vgl. Lk 17,20
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sollten; aber alles äußerliche wird uns nur sein das Zeichen der Zukunft und ein Ruf des Herrn, der uns zeigt, was wir für das Reich des Erlösers thun sollen; und dann werden wir immer wirken können so lange es Tag ist und zu denen gehören, die ihn lieb haben, weil sie wissen, daß er allein die Worte des Lebens hat. Amen.
1 der Zukunft] anders SAr 55, Bl. 180v; SAr 63, Bl. 46v: des Innern 4–5 Vgl. Joh 6,68
Am 24. Oktober 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
19. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 5,10–11 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 4, 1826, S. 333–352 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 620–636; 21844, S. 671–687 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 506–519 b. Nachschrift; SAr 89, S. 1r–14r; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; FHDS 34, 101/3, Bl. 1r–6v; Andrae Gedenken an den Sieg in der Völkerschlacht zu Leipzig (18. Oktober 1813) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers Der rechte Dank für die Errettung des Vaterlandes.
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Text.
Epheser 5, 10 und 11.
M. a. F., Keiner unter uns wird wohl unterlassen haben am Anfange der vorigen Woche, wenn gleich nicht mehr durch äußerliche Zurüstungen und Festlichkeiten veranlaßt, in dem Innern seines Herzens das Andenken des ersten unter jenen großen Tagen1 zu feiern, durch welche die Wiederherstellung, so wie aller deutschen Völker, so auch unseres Vaterlandes in seine ursprüngliche Ordnung errungen worden ist, und wie ihr wißt, sind wir angewiesen, auch in unseren öffentlichen gottesdienstlichen Versammlungen dieser merkwürdigen Tage zu gedenken. Wenn nun jede fromme Gedächtnißfeier dieser Art vor1
Es war nämlich die nächste Predigt nach dem 18. October.
6–9.12 Der 18. Oktober 1813 war der 3. Schlachttag. Die Alliierten konnten die napoleonischen Bündnistruppen bei Leipzig umfassen und am nächsten Tag in die Flucht schlagen. 9–11 Möglicherweise bezieht sich Schleiermacher auf die in Foerster, Landeskirche 1, S. 248, Anm. 4 erwähnte Kabinettsorder vom 17.11.1816.
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nehmlich Dankbarkeit gegen Gott seyn soll und auf den rechten Gebrauch der göttlichen Wohlthaten, deren wir gewürdiget worden sind, gerichtet: so habe ich die vorgelesenen Worte vorzüglich deßhalb gewählt, weil der Apostel in denselben dieser Dankbarkeit ihre wahre und gottgefällige Richtung giebt. Der Rath, der uns in denselben ertheilt wird, ist zwar ursprünglich ein ganz allgemeiner, den sich alle Christen unter allen Umständen sollen gesagt seyn lassen, und er setzt kein besonderes Verhältniß voraus. Demohnerachtet werden wir hoffentlich bei näherer Betrachtung | finden, daß diese Worte eine ganz vorzügliche Anwendung leiden auf diejenige göttliche Wohlthat, deren wir an dem heutigen Tage zu gedenken haben, so daß wir daraus werden sehen können: Was uns ganz vorzüglich obliegt in Beziehung auf die Errettung, die uns Gott damals hat widerfahren lassen. Dieß sey also der Gegenstand unserer christlichen Andacht und Aufmerksamkeit in dieser Stunde. Es ist aber zweierlei, wozu uns der Apostel in den verlesenen Worten auffordert, zuerst zu prüfen, was da sey wohlgefällig dem Herrn, dann aber auch keine Gemeinschaft zu haben mit den, dem göttlichen Willen und dem Wohlgefallen des Herrn entgegengesetzten[,] Werken der Finsterniß. I. Der größte Theil von uns, m. g. F., kann sich gewiß noch sehr wohl des Zustandes erinnern, welcher jenem großen und von Gott so besonders gesegneten Kampfe unmittelbar voran ging, und erscheint gewiß auch jetzt noch in der Erinnerung Allen, eben so wie damals, als ein allgemeiner Zustand von Lähmung; alle Kräfte fühlten sich gebunden, und fast Niemand war im Stande, den gewohnten Weg seiner Thätigkeit auch mit dem gewohnten Eifer zu verfolgen. So war es denn wohl ganz natürlich, was auch alsbald nach wiedergewonnenem Frieden geschah, daß, nun jener Kampf beendigt war, eine große Thätigkeit sich von allen Seiten regte, um zu ersetzen und nachzuholen, was während jenes Zustandes war versäumt worden und verloren gegangen. Und wie dieß natürlich ist, so ist es auch löblich. Nur, m. g. F., ist nicht jede Thätigkeit des Menschen auch wohlgefällig dem Herrn; und so enthalten denn in dieser Beziehung die ersten Worte des Apostels einen Rath, den wir uns nicht genug vorhalten können. Prüfet, was da sey wohlgefällig dem Herrn, damit ihr die wiedergeschenkten Kräfte nicht nur gebrauchet, sondern auch seinem heiligen Willen gemäß gebrauchet, durch dessen Erfüllung doch allein euer wahres Wohl kann gegründet und gesichert werden. | Zunächst, m. g. F., wenn auch vorher schon die Thätigkeit gar vieler Einzelner unter uns, wie anderwärts, nur eine eigennützige war, auf den eigenen Vortheil, auf das eigene persönliche Ansehen in der
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Welt, auf die Vermehrung der Macht und des Vermögens gerichtet: so schlug auch nachher, ohne hinreichend zu bedenken, wie sehr eben eigennütziges Wesen dazu beigetragen hatte, jenen Zustand herbei zu führen, die Thätigkeit gar Vieler auch denselben verderblichen Weg wieder ein, sey es nun, daß sie ganz auf ihre eigene Hand das Ihrige suchten, oder daß sie es ihrem eigenen Vortheile für das Sicherste und Gerathenste hielten, sich Andern anzuschließen und denen dienstbar und gefällig zu werden, von denen sie jedesmal am Meisten eine kräftige Förderung ihrer Absichten erwarten konnten. Solches Handeln, m. g. F., ist nun immer ein ungeprüftes. Denn wenn der Mensch sich auf die Prüfung seines Thuns einläßt, so kann er nicht umhin, einzusehen, daß er zufolge der göttlichen Ordnung nicht für sich allein gestellt ist in der Welt, daß es nur ein scheinbares und unsicheres Wohlseyn ist, welches er gleichsam im Streit mit Andern und mehr oder weniger auf ihre Kosten sich erringen kann. Daß also nur Keiner glaube, Gott einen wohlgefälligen Dank darzubringen, der wieder auf’s Neue Gottes Ordnung hintansetzen will, und noch nicht gesonnen ist, von den wieder erworbenen Gütern einen andern Gebrauch zu machen, als zu so oberflächlichen und ungenügenden Bestrebungen, durch welche er nur einen leeren und gehaltlosen Schein hervorbringen kann. Aber weit entfernt bin ich, zu glauben, es sey der größte oder auch nur ein bedeutender Theil unserer christlichen Mitbürger, an welche diese Ermahnung muß gerichtet werden! Nein, wie der Krieg, dessen glänzende Tage wir feiern, nicht möglich gewesen wäre ohne einen allgemeinen Geist der Hingebung und Aufopferung für das Ganze: so waltet dieser noch immer unverkennbar fort, und reichlich sehen wir unter uns löbliche und edle Bestrebungen gedeihen, wobei die Einzelnen sich nur als Werkzeuge für das Ganze betrachten, und die ganz auf | das gemeine Wohl gerichtet sind. Aber, m. g. F., es giebt auch eine Vaterlandsliebe, welche nicht prüft, was da ist wohlgefällig dem Herrn. Wir können in Zeiten der Ruhe und des Friedens, wie wir uns ihrer jetzt erfreuen, dem Ganzen, welchem wir angehören, mit aller Aufopferung des eignen Vortheils leben, mit der treuesten Anstrengung aller unserer Kräfte ihm ohne Vorbehalt dienen: aber wenn dieß nur in demselben Sinne und Geiste geschieht, wie der selbstsüchtige Eigennutz des Einzelnen das Eigene sucht: so ist auch unsere Vaterlandsliebe nur Eigennutz in einem größeren Maßstabe; und wenn wir meinen, doch etwas Edles und Gottgefälliges ergriffen zu haben, so ist das ein Wahn, der nur von dem Umfange des einzelnen Wesens, dessen Eigenes wir suchen, erzeugt und genährt wird. Denn auch ein Volk und ein Staat sind Einzelne in ihrem Verhältniß zu den Uebrigen. Wenn wir auch für unser Vaterland nur nach demjenigen streben, was
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zu seinem sinnlichen Wohlbefinden gehört und Reichthum, Macht und Ansehen desselben mehrt: so verkennen wir sein wahres Wohl auf eine eben so gefährliche Weise, wie der niedrige persönliche Eigennutz das seinige verkennt. Wenn der Wetteifer, der sich natürlich zwischen mehreren Völkern erzeugt, welche in Gemeinschaft mit einander auf der gleichen Bahn der Verbesserung fortschreiten, ein solcher ist, daß wir glauben, nur auf ihre Kosten unserm Ziele näher kommen zu können: so wandeln wir auf einem eben so verderblichen Wege, wie der habsüchtige, ehrgeizige und herrschbegierige Einzelne. Wenn wir für die Fortschreitung unseres gemeinsamen auch wahren und höheren Wohlseyns kein anderes Maß kennen, als wie weit wir hinter andern Völkern zurückbleiben, oder sie hinter uns zurücklassen: so artet unsere Vaterlandsliebe in dieselben thörichten und verzehrenden Leidenschaften des Neides und der Schadenfreude aus, wie die ähnliche Eigensucht des Einzelnen. Wenn aus den unglücklichen Zeiten der Unterdrückung und des Krieges sich etwas von dem giftigen Samen der Verachtung oder des Hasses gegen andere Völker festgesetzt hat in unserer Seele: so ist unsere | Vaterlandsliebe weit entfernt, eines christlichen Volkes würdig zu seyn. Und dieses Alles, wie weit auch von persönlichem Eigennutze entfernt, kann doch demjenigen unmöglich wohlgefällig seyn, welcher gemacht hat, daß von Einem Blute aller Menschen Geschlechter auf Erden wohnen, und Ziel gesetzt und zuvor ersehen, wie weit sie sich erstrecken sollen, damit sie, wie von Einem Blute abstammend, so auch immer mehr Ein brüderliches Geschlecht werden, dazu vereint, daß sie den Herrn suchen, ob sie ihn fühlen und finden möchten. Wohlan! wenn wir freilich nicht läugnen können, daß hiervon auch viele von unsern Bessern nicht frey sind, und deßhalb wohl Jeder sich prüfen muß, ob er nicht hierin abgewichen sey von dem wohlgefälligen Willen Gottes: so dürfen wir doch auf der andern Seite freudig bekennen, daß wir reiche Felder mannigfaltiger Thätigkeiten in unserer Mitte aufzeigen können, welche zum Theil sogar in schönem Vereine mit Gliedern anderer Staaten und Völker auf das, was wahrhaft und für Alle gut ist, gerichtet sind, und nichts Anderes, als dieses, bezwecken. In dem aufrichtigen Zusammenwirken der Regierungen, um Friede und Ruhe aufrecht zu halten; in den freien Mittheilungen der Forscher auf jedem Gebiete der Erkenntniß; in den Bestrebungen der Frommen, das Licht des Evangeliums zu verbreiten in der Nähe und Ferne, in dem Allen waltet keine Selbstsucht einzelner Gesellschaften, kein besonderer Vortheil wird gesucht, keine verderbliche Leidenschaft findet Nahrung; sondern hier herrscht eine Gesinnung, 21–26 Vgl. Apg 17,26–27
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welche in der That das allgemeine Wohl fördert und zu dem gemeinsamen Ziele, an welchem sich Alle vereinigen sollen, liebevoll und kräftig hinführt. Wohl wahr, m. g. F., und Gott sey Dank, daß wir an einem Feste des Dankes uns so wohlgefälliger Opfer rühmen können. Laßt uns aber doch, was im Großen betrachtet allerdings diese schönen Züge darstellt, doch auch im Einzelnen und mit besonderer Hinsicht auf die nächst vergangene Zeit, der heute unsere Blicke besonders zugewendet sind, und auf alles Gute und Schöne, was sie uns gebracht hat, aufmerksam und in dem Lichte der reinen Wahrheit etwas genauer betrachten. | Wir mögen wohl sagen, daß wir und alle Völker unseres Welttheils aus dem langen und harten Kampfe hervorgegangen sind mit einem aufrichtigen Verlangen, in Friede und Ruhe die geretteten geistigen Güter anzubauen und zu genießen: aber, weil die Vorstellungen so verschieden waren von dem, was den Menschen frommt, und von der Art, wie das gemeinsame Wohl müsse begründet und sicher gestellt werden, wie viel Streit und Uneinigkeit ist nicht gar zu bald unter denen ausgebrochen, die doch nicht nur selbst behaupteten, sondern denen auch Andere gern das Zeugniß gaben, daß sie nichts wollten als das Gute! Soviel, daß, indem bald die Einen von den Andern des gefährlichsten Irrthums über das Heilsame beschuldigt werden, bald auch die Einen an der Gesinnung der Andern zweifeln, zwar nicht mehr die Völker und Staaten, aber zwei Partheien in allen Staaten, zwei Zeitalter in allen Völkern, einander mit verhaltener Feindseligkeit gegenüber zu stehen scheinen, so mißtrauisch beobachten sie einander, so viel ängstliche Vorsicht ist in ihrem, allerdings nicht ganz aufgehobenen oder zerstörten Zusammenwirken. – Mitten im Drucke des Friedens, im Getümmel des Krieges haben wir Trost und Muth gefunden in der Frömmigkeit; und zur Ruhe und Sicherheit zurückgekehrt, erkannten wir uns zuerst wieder in dem gemeinsamen Gefühle, die Frömmigkeit müsse der Grund seyn, auf welchem wir ein festeres Gebäude aufführen könnten, als das vorige. Aber als nun die Frömmigkeit wieder anfing, wie sonst, sich in Verschiedenen auf verschiedene und zum Theil einander entgegengesetzte Weise auszusprechen: wie bald glaubte da nicht Mancher, auf das Ernstlichste vor denen warnen zu müssen, die er noch vor Kurzem, als Gleichgesinnte, mit der innigsten brüderlichen Liebe umfaßt hatte, ohne eine Verschiedenheit zu ahnen, die zu solcher Trennung führen könnte. – Soll ich noch mehr anführen, oder ist dieses schon genug, um Jeden daran zu mahnen, wie Vieles sich auch in unsere besten und reinsten Bestrebungen eingeschlichen hat, was abweicht von dem wohlgefälligen Willen Gottes? Denn das können wir 19 das] das,
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doch nicht läugnen, daß eben hierdurch das fröhliche und frische Zu|sammenwirken zum Guten vielfältig gar sehr ist geschwächt worden unter uns. Die Thätigkeit der Einen hat die der Andern bekämpft und ihr entgegengearbeitet, und aus dem schönen Aufschwung, den wir genommen, aus der regen Anstrengung von Kräften, welche doch alle demselben guten und wohlthätigen Ziele entgegenstrebten, ist, wir müssen es sagen, wenig Ersprießliches und überall viel weniger hervorgegangen, als wir nach den ersten günstigen Zeichen zu erwarten berechtiget waren. Doch an einem Tage der Freude und des Dankes soll nichts gesagt werden, um christliche Herzen kleinmüthig zu machen. Es sey daher auch nur gesagt, um uns desto dringender die Ermahnung des Apostels an’s Herz zu legen: Prüfet, was da sey wohlgefällig dem Herrn. Viele von diesen Mängeln, die wir nicht genug bedauern können und die uns, mehr als nöthig wäre, der menschlichen Gebrechlichkeit und den daraus entstehenden Irrhümern aller Art Preis geben, haben ihren Grund unstreitig darin, daß sich uns im thätigen Leben nur gar zu leicht die Vorstellung des Guten und Heilsamen trennen will von der Vorstellung des göttlichen Gebotes und Wohlgefallens. Dadurch aber werden wir schon der Zeit ungetreu, an die wir heute besonders gemahnt werden. Denn was in jenem großen Kampfe unsere Bestrebungen so gedeihlich und so segensreich machte, war grade das übereinstimmend in Allen sich aussprechende Gefühl, es sey nur der göttliche Wille, dem wir folgten, es sey nur das göttliche Wohlgefallen, dem wir sein Recht anthun wollten durch alle Hingebung und Aufopferung, das Bewußtseyn, es gehe mit Gott für König und Vaterland. Das war es, worauf der Segen jener Zeit beruhete, und immer wird uns derselbige Segen folgen, wenn wir nichts wollen, als mit Gott gehen, wenn wir Alles nur mit derjenigen Festigkeit wollen, welche aus der erprüften Gewißheit entsteht, daß es Gott wohlgefällig ist. – Doch daß nur nicht, was eine freudige Ermunterung seyn sollte, sich in eine schwermüthige Klage verwandle. Damals hatten wir Alle die zuversichtlichste Gewißheit, was wir thaten sey Gottes wohlgefälliger Wille. Aber, so denkt gewiß Mancher bei sich, das ist eben der eigen|thümliche Vorzug eines solchen Zustandes der Begeisterung, den nur außerordentliche Umstände erzeugen. Aber der gewöhnliche Lebensgang bringt, wo nicht die strenge Pflicht uns einen Weg bestimmt andeutet, eine solche Sicherheit nicht hervor; und schwankt der Mensch erst, so ist er auch Allem wieder ausgesetzt, was wir nur eben wehmüthig weggewünscht haben. Ich weiß hiegegen nichts zu sagen, m. th. F., als daß es sich eben umgekehrt verhalten sollte. Der Zustand der Begeisterung soll uns nicht etwas Seltenes seyn, nur durch besondere äußere Umstände er-
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regt: vielmehr soll es uns etwas Seltenes seyn, ihn ganz zu vermissen, und bald sollen wir uns an einer solchen Schlaffheit wieder ermannen. Nicht als ob wir in sehnsüchtiger Begeisterung erst müßten die Wogen des Meeres tragen, oder den Himmel stürmen, um das Wort Gottes herab zu holen. Es ist uns schon nahe. In der Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater erblicken wir den Vater selbst; wir haben an dem Sohne den Abglanz des göttlichen Wesens, in welchen hineinzuschauen wir immer ertragen können, um in seinem Leben und Wirken den Willen des Vaters und sein Wohlgefallen zu erkennen. Denn er war ja nichts Anderes, um es recht zu sagen, als das unter uns erschienene und menschlich lebendig gewordene Wohlgefallen Gottes. Und ist nicht der Erlöser eben deßwegen ein Gegenstand der uns immer begeistern sollte? Ist es nicht auch die Erfahrung des christlichen Lebens, daß diejenigen, denen Er am meisten gegenwärtig ist, auch am meisten erregt sind, nicht von einer flüchtigen Begeisterung, welche äußere Umstände bedarf und mit ihnen wieder verschwindet, sondern die auch ein äußerliches unscheinbares Leben adelt und durch einen von innen hervorbrechenden Glanz verschönt. Aber nicht nur dieses, sondern die Begeisterung, die von Christo ausgeht, ist auch eine solche, durch welche das Herz fest wird, wie Er immer festen Schrittes wandelte, in jedem Augenblicke von seinem Berufe erfüllt, durch die Anschauung der Werke seines Vaters gekräftigt, und vollkommen in sich selbst gewiß, was das Rechte sey. Eben diese Sicherheit nun, das ist die Erfahrung aller christlichen Zeiten und Völker, geht von | ihm auf jeden Gläubigen über, in dem Maß, als er sich fest an Christum hält, auf sein Vorbild sehend, und sein Wort und Willen in sich aufnehmend. Denn der Geist nimmt es von dem seinigen und verklärt es uns für die, wenn auch noch so sehr von den seinigen verschiedenen, Verhältnisse unseres Lebens. Und für diese Wahrheit sey uns besonders jene Zeit der Begeisterung ein sicheres Zeugniß und Gewährleistung. Werden wir mit einer solchen Verläugnung unsrer selbst begeistert seyn für das Reich Gottes; wird eben so ausschließend oder vielmehr Alles in sich aufnehmend und mit sich verknüpfend die Liebe Christi uns dringen: so werden uns auch eben so alle Schwankungen und Bedenklichkeiten verschwinden, und wie Jeder fest und gewiß seyn wird in sich selbst, so werden wir denn auch unter einander einig seyn und wohl zusammenstimmen. Doch ich will auch das nicht verbergen, daß vielleicht Mancher bei sich selbst denkt, wir hätten es damals auch gewußt, daß wir nicht 8 um] und 3–5 Vgl. Dtn 30,11–14
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Alle immer so zusammen stimmen würden, wie es auch die Erfahrung hernach gelehrt habe, und daß es nur die Noth gewesen sey, durch die wir so innig verbunden wurden und um derentwillen Jeder geneigt gewesen sey, gar viel zu übersehen, zu ersetzen und wieder gut zu machen. Ja keinesweges sey aus einer besonnenen Prüfung die Kraft und die vereinte Tüchtigkeit jener Zeit hervorgegangen, sondern ungeprüft sey auch das Größte gethan worden und die Prüfung sey nur hinten nach gekommen, um für die Zukunft noch eine späte Frucht der Erkenntniß zur Reife zu bringen. Wohl! wir wollen auch, was diese kühlere Betrachtung uns darbietet, nicht verschmähen, ohne jedoch jenes zurückzunehmen. Wahr ist es, auch die am eifrigsten und begeistertsten in der Gemeinschaft Christi leben, sind nicht immer ganz fest, und noch weniger ganz unter sich einig. Wir dürfen es uns nicht verhehlen, so herrlich auch diese erste Regel ist, die uns der Apostel giebt: Prüfet, was da sey wohlgefällig dem Herrn; so ist doch Keiner unter uns, wenn er sich auch sagen könnte, wie aufrichtig und fleißig er auch forsche in dem, was uns aufbehalten ist von dem Worte des Lebens durch die Jünger des Herrn, wie bestän|dig er sich auch das Bild des Erlösers vorhalte, und in der Treue gegen ihn die Sicherheit und die Festigkeit seines Lebens suche, Keiner ist doch davor sicher – denn es ist das allgemeine menschliche Loos – daß er nicht auch hier irren könne; und Keiner ist immer seiner Sache in solchem Grade sicher, daß ihm nicht fehlen kann, die Andern müßten ihn anerkennen und ihm beistimmen. Aber dabei bleibt es auch, und alle Zeiten heftiger Kämpfe für den Glauben beweisen es, je allgemeiner das Gefühl ist, es drohe Gefahr in dem Reiche Gottes, um desto herrlicher offenbart sich auch der ganze Segen der von Christo ausgehenden Begeisterung. Und droht nicht immer Gefahr, diese oder eine andere, so lange Licht und Finsterniß noch mit einander kämpfen, und es noch eine Macht der Finsterniß giebt? Darin laßt uns nun auch die Regeln des Apostels nicht trennen, sondern zu der ersten noch die zweite hinzu nehmen, die grade hierauf führt, wenn er uns nämlich II. sagt: Und habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsterniß, strafet sie aber vielmehr. Auch diesen Rath des Apostels, m. th. F., können wir wohl an einem Tage, wie der heutige, nicht vernehmen, ohne dabei sogleich ganz besonders an die Zeit zurückzudenken, welche jenem heilsamen Kriege voranging. Denn was uns damals, seit einer Reihe von unglücklichen Jahren mit einer fast zauberischen Gewalt drohte und schreckte, und mit noch furchtbarerer List uns umstrickte, das erschien uns Allen in dem tiefsten Grunde des Herzens als ein Werk der Finsterniß, und nicht als ein gewöhnliches etwa, sondern als das größte, was sie mit aller ihrer
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Macht, und durch eine, da das Böse sonst selten einig unter sich zu seyn pflegt, höchst seltene Vereinigung aller ihrer Kräfte, jemals zu Stande gebracht hat, um sich alle weltlichen Dinge zu unterwerfen, und alles Geistige und Höhere davon auszuschließen und so gleichsam auszuhungern, und die herrliche Tapferkeit unseres Volkes ging aus von dem innigen, lange gehegten Wunsche aller Gemüther, aus aller Gemeinschaft mit diesem Werke der Finsterniß loszukommen, welcher Wunsch nun endlich, als die von dem Herrn bestimmte Stunde | geschlagen hatte, auf rechtmäßige und gottgefällige Weise in That übergehen durfte, und so gedieh es dahin, daß wir uns nicht nur lösen konnten von der Gemeinschaft mit diesen Werken der Finsterniß, sondern sie auch, menschlichen Rechten und menschlicher Ordnung gemäß, strafen. Ist es nun nicht der erste und natürlichste Dank für den erfahrenen göttlichen Beistand, daß wir bei diesem, von Gott gesegneten Bestreben, uns von aller Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß nicht nur loszumachen, sondern sie auch zu strafen, nun auch auf dieselbe rechtmäßige und gottgefällige Weise verharren, so lange wir noch an dem Berufe unserer Thätigkeit etwas wahrnehmen von Werken der Finsterniß? Wenn wir damals doch Alles, was der Herr an uns und den Unsrigen that, inne wurden, wie er das segnete, daß wir einen festen Entschluß gefaßt hatten, uns frei zu machen von der Befleckung, die eine solche Gemeinschaft nach sich zieht: müssen wir nicht dadurch die feste Ueberzeugung gewonnen haben, auch die fernere Fortdauer seines Segens könne nur darauf ruhn, daß wir unverrückt stehen bleiben auf der Seite des Lichts und uns eben so auch immer von aller Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß frei zu halten suchen? Wohl verstanden, m. g. F., nicht daß wir auch durchaus keine Gemeinschaft sollten haben wollen mit solchen Menschen, von denen wir zu fürchten Ursache haben – denn mehr können wir doch selten behaupten – daß sie noch immer an den Werken der Finsterniß arbeiten und in ihre Netze verstrickt sind; denn wie der Apostel an einem andern Orte sagt, wenn wir das wollten, so müßten wir lieber auch aus der Welt hinausgehen. Nur mit den Werken der Finsterniß selbst sollen wir keine Gemeinschaft haben, ihnen nicht dienen mit irgend einer von unserem eigenen Willen abhängigen und unserer eigenen Verantwortlichkeit überlassenen That. Wir dienen ihnen aber so, wenn wir ungeprüft mitwirken zu solchen Unternehmungen Anderer, welche uns nicht den Eindruck machen, daß sie Werke des Rechtes sind; wir dienen ihnen, wenn wir unsere Mißbilligung gegen irgend etwas verschweigen, was unserer Ueberzeugung nach der Finsterniß angehört, oder wenn wir gar den Ur|hebern solcher Hand31–33 Bezug unklar
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lungen Beifall heucheln und schmeicheln, während wir sie doch in unserem Innern verurtheilen und verabscheuen. – Wenn aber die Frage aufgeworfen wird, ob wir auch Alle wissen, und also auch einig darüber sind, was für Handlungen denn unter diese Werke der Finsterniß gerechnet werden sollen, mit denen wir keine Gemeinschaft haben dürfen; und ob wir denn wohl in dem gewöhnlichen Gange des Lebens, wo es auf Einzelnes und Geringeres ankommt, ein festes und übereinstimmendes Urtheil hierüber haben werden, als wir in jener außerordentlichen Zeit alle in einem und demselben Gefühle und Urtheile zusammentrafen: was sollen wir dann antworten? Freilich werden wir das schwerlich im Allgemeinen bejahen können, m. g. F., aber was Finsterniß ist, das ist doch so deutlich und klar, und uns Allen eben deßwegen, weil auch unser Herz in demselben Sinne verfinstert gewesen ist, so wohl bekannt, daß auf der andern Seite kaum zu denken ist, wie wir Alle, die wir dem Dienste und der Knechtschaft der Finsterniß schon selbst entkommen sind, nicht die Werke derselben noch von ehedem her erkennen sollten. Denn wenn Jemand sagen wollte, er habe zwar jetzt die tröstliche Ueberzeugung, ein Kind des Lichtes zu seyn; aber er wüßte doch aus seinem früheren Leben nichts, was augenblicklich verdiene, als ein Werk der Finsterniß angesehen zu werden: der bedenkt wohl nur nicht hinreichend, daß, wenn ihm Gott erspart hat, viel Werke der Finsterniß äußerlich zu vollbringen, doch das Verderben, woraus diese hervorgehen, ihm in ihm selbst nicht unbekannt geblieben seyn kann, und daß er dieses wohl soll wieder erkennen können, wo er Werke sieht, die eben daher rühren. Indeß um uns diese Anwendung zu erleichtern, giebt der Apostel uns in den, auf unsern Text folgenden, Worten noch eine besondere Andeutung, die wir nicht versäumen dürfen. Er sagt nämlich: Was heimlich von ihnen geschieht, das ist schändlich zu sagen; und wir können dieß immer, m. g. F., in dem vollsten und allgemeinsten Sinne nehmen. Daß nämlich Alles, was heimlich geschieht, ein Werk der Finsterniß ist. So fing auch damals an, was hernach freilich nur | allzuoffenbar hervortrat, mit heimlichen Aufwiegelungen und Einflüsterungen, nämlich das Bestreben, Alles, was anderwärts Recht und Ordnung und Gesetz war, umzustürzen und Alles in denselben Strudel der Verwirrung hineinzuziehen. Und wo noch jetzt Aehnliches heimlich geschieht, heimlich Einzelne sich verbinden, um, wenn es möglich wäre, den Zustand der Ordnung und der Gesetze unberufen und auf’s Gerathewohl aufzulösen. Aber 20 augenblicklich] augenlicklich 29–30 Vgl. Eph 5,12
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eben so auch auf der andern Seite, wo noch jetzt heimlich Einer auf Worte und Winke des Andern lauert, um ein solches Bild von ihm zu haben, was dann, weiter verbreitet, auch den Unschuldigen verdächtig machen und dahin führen kann, auch an einem solchen eine Sache zu finden, der, wenn man sein ganzes Leben und Thun, wie es offen vor der Welt daliegt, keinem gerechten Tadel ausgesetzt erscheint, da geschieht dasselbe Werk der Finsterniß, was wir in jenen Zeiten der Treulosigkeit und der Verwirrung so oft erlebt haben, ja dasselbe, was auch gegen unsern Herrn in den Tagen seines Fleisches geschah. Und so ließe sich noch Vieles anführen, Aehnliches und Anderes, was heimlich geschieht, und sobald wir es genauer betrachten, werden wir auch immer sagen: es sey ein Werk der Finsterniß und schändlich zu sagen eben deßwegen, weil es das Licht scheut. Welches aber ist dieses Licht, von dem alles Sinnliche, sobald es offenbar geworden, auch gestraft wird, und vor dem sich deßhalb die Werke der Finsterniß, aber auch nur sie, so sehr scheuen? Nun für uns Alle, m. g. F., gewiß kein anderes, als das Licht des göttlichen Wortes, das Licht, welches uns der Erlöser gebracht hat, der nur dadurch uns zur Weisheit und zur Heiligung werden konnte, daß er selbst das Licht und das Leben, der Weg und die Wahrheit ist. Was von diesem Lichte nicht angezogen wird, und sich ihm gerne zuwendet, was nicht in Uebereinstimmung mit Christi Herrschaft über Alles, was auf Erden ist, gebracht werden kann, was sich dessen großem Gebote, in Liebe alle Menschen zu vereinigen, irgendwo entgegenstellt, das ist gewiß ein Werk der Finsterniß und ist nicht in Gott gethan. Und müssen wir nicht Gott danken, daß | dieses Licht so viel wenigstens überall gilt, wo der christliche Name herrscht, daß, was vor demselben wissentlich nicht bestehen kann, auch nur heimlich oder entstellt aufzutreten wagt? – Allein, m. g. F., es giebt auch solche Werke, welche auf alle Weise dafür gelten wollen, mit dem Wesen und den Grundsätzen der Herrschaft des Erlösers übereinzustimmen, und welche gar wohl zu bestehen meinen vor seinem Lichte; sie treten aber doch nicht recht offen heraus, sondern haben etwas Heimliches anderer Art, wobei uns bisweilen gar unheimlich werden will. Sie glauben nämlich, das Licht des Erlösers könne nicht eben so vollkommen bestehen vor dem ihrigen, und sie könnten gar viel in manchen Stücken seiner Meisterschaft über diesem Meister stehen. Einige, in der Meinung, das natürliche Licht der menschlichen Vernunft, die freilich vor Christo nur geirrt habe, und von ihm erst neuen Glanz erhalten, leuchte doch in ihnen stärker, als Er es erhalten konnte; Andere, indem sie sich ein übernatürliches Licht zuschreiben, welches sie 18–20 Vgl. Joh 8,12; 14,6; 1Kor 1,30
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auf eine ursprüngliche Weise und nicht aus der Verbindung mit Christo empfangen hätten. Wenn wir nun denjenigen ohne Bedenken gleich absagen, welche dieß offen und grade heraus behaupten: haben wir nicht alle Ursache, wenigstens sehr behutsam in Beziehung auf diejenigen zu seyn, von welchen wir kaum Anderes glauben können, als daß sie es eben so meinen, und es nur aus weltlicher Klugheit heimlich halten und verstecken. Oder sollte diese Heimlichkeit nicht ein Werk der Finsterniß anzeigen, welche dahin strebt, unvermerkt das göttliche Licht selbst zu verdunkeln? Darum sagt der Apostel in dem Verlaufe seiner Rede: Alles, was offenbar ist und wird, das ist Licht. Nämlich offenbar nicht, als ob die Finsterniß selbst dadurch Licht werden könnte, daß sie recht schwarz und schwer auf unsere Augen drückt, und also offenbar wird; sondern der Apostel meint, Alles, was uns durch das Licht wirklich offenbar wird, so daß wir es im Zusammenhange mit dem Einen, was noth thut, ganz durchschauen können, Alles, was in der allgemeinen Regel unseres Lebens so aufgeht, daß nichts aus dieser nicht zu Erklärendes darin zurückbleibt, das ist Licht, das wirkt mit | jenem göttlichen Lichte, als demselben angehörig; und dieses sollen wir bewahren und dessen Wirksamkeit, so viel an uns ist, fördern, wenn wir anders Gott einen wohlgefälligen Dank darbringen wollen. Was aber durch das Licht nicht offenbar wird, sondern dunkel und ungewiß bleibt, wie es sich zu demselben verhalte, davor sollen wir uns selbst bewahren und uns davon zurückhalten, immer aber auf’s Neue prüfen, ob etwas Gottgefälliges daran sey, damit wir nicht, indem wir an einem Werke der Finsterniß theilnehmen, irgend etwas von dem selbst wieder hervorrufen, wovon Gott uns befreiet hat. Und wenn wir nun, mit dieser genaueren Kenntniß von dem Sinne der Worte des Apostels, noch einmal zurücksehen auf dasjenige, was wir vorher beklagten, nämlich, daß es uns doch nicht immer gelingen wird, wenn wir bei der Prüfung dessen, was wir zu thun haben, nach verschiedenen Seiten hingezogen werden, mit Sicherheit zu erkennen, welches nun dem Herrn am Meisten wohlgefällig sey: wohl, m. g. F., so wollen wir uns begnügen, wenn wir auch später erst und in einem zweiten Augenblick dasjenige finden, was uns in dem ersten bisweilen fehlen kann. Denn wenn das nun auch Jedem begegnen kann, bei dem besten Willen und bei der reinsten Absicht, daß er irrigerweise etwas für wohlgefällig dem Herrn hält, was es wirklich nicht ist: so kann dieser Irrthum niemals lange währen, sondern die Zweifel werden sich bald zerstreuen. Und hierzu müssen uns die Kinder der Finsterniß, selbst freilich wider ihren Willen, gar ein Großes helfen. Nämlich sobald etwas aus dem Innern des 10–11 Vgl. Eph 5,14
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Menschen heraustritt und That wird, so hört auch die Verborgenheit auf; das Gleiche wird von dem Gleichen erkannt und gesucht, und erkennt und sucht es auch selbst. Daß nun eine wirkliche menschliche That so ganz und gar rein und so völlig dem Lichte angehörig sey, daß die Kinder der Finsterniß gar keine Sache daran finden und sich gar nichts davon aneignen können, nichts, worauf sie sich einmal berufen könnten, um sich zu rechtfertigen, oder zu entschuldigen, das ist, so werden wir wohl Alle glauben, streng genommen, der ausschließliche Vorzug Christi, und wenn uns auch anderer Men|schen Thaten bisweilen so vollkommen erscheinen: so hat das seinen Grund entweder in unserer Gelindigkeit, die nicht so tief eindringen will, sondern zufrieden ist, wenn sie in der Hauptsache das Gute erkennt, oder unserer Kurzsichtigkeit, welche nicht tief genug eindringen kann. Die Kinder der Welt aber ersetzen hier unsern Mangel. Denn, daß sie scharfsichtig sind, Unvollkommenheiten aufzuspüren, und die leisesten Spuren des Bösen unter einem sehr erhellenden und vergrößernden Glase zu zeigen, das gehört zu ihrer Klugheit, und daß sie es genau und scharf nehmen mit denen, die nicht zu ihnen gehören, nun das kennen wir an ihnen. Wenn sie nun etwas aufgefangen haben und sich in Gemeinschaft damit sehen wollen um den, welchem etwas Menschliches begegnet ist, noch tiefer zu verwickeln, oder ihn als ihres Gleichen darzustellen, und um wegen der Unvollkommenheit des Guten, das Gute selbst verdächtig zu machen: so laßt uns darauf merken, daß hier etwas seyn müsse, was dem Herrn nicht wohlgefällig ist, weil es eine Gemeinschaft anknüpft mit den Werken der Finsterniß. So gewarnt, wird es uns dann immer mehr gelingen, daß wir uns selbst immer mehr losmachen von Allem, was einen Theil hat an der Finsterniß, und daß wir auch Andern die Augen öffnen und die Hand reichen, um von falschen Wegen umzukehren, wenn wir oder sie glauben könnten, es sey etwas an unsern Handlungen aus der reinsten Liebe des Herzens zum Guten hervorgegangen, was doch von dem noch nicht überwundenen Verderben zeugt; damit so unser Dank immer reiner werde und unser Dienst an dem Reiche Gottes wohlgefälliger und gesegneter, und unser ganzes Leben immer gesonderter von den Werken der Finsterniß. Aber eben deßwegen, m. g. F., weil, wie wir gesehen, alles Unvollkommene, auch an solchen Handlungen, die in der Hauptsache und ursprünglich Gott wohlgefällige sind, doch verwandt ist mit der Finsterniß und, streng genommen, ein Werk derselben, deßwegen, weil Jeder, der auf solche Weise irre geleitet werden kann, schon in dem ersten Augenblicke bei dem innern Anfange einer That, auch in kei13 unserer] unsere
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nem spätern Augenblicke sich selbst genug seyn kann, um jede solche Unvollkommen|heit in der Ausführung wahrzunehmen, oder gar zu verbessern, darum sagt nun der Apostel: der Ruhm, daß wir keine Gemeinschaft haben mit den Werken der Finsterniß, sey nur dann vollkommen, wenn wir die Werke der Finsterniß auch strafen, und darum stellt er uns eben dieß als eine heilige Pflicht jedes Christen dar. Und gewiß unsere eigene Erfahrung, auch die aus unserm gemeinsamen Leben, welche wir heute am Leichtesten und Liebsten hervorrufen, muß dem Apostel hierin beistimmen. Denn wenn selbst in der rühmlichsten, am standhaftesten und tapfersten gegen das Böse und Verkehrte gerichteten, Thätigkeit unbemerkt noch etwas selbst Verkehrtes und Dunkles mitwirkt und ungestraft zurückbleibt: wie bald geschieht es nicht dann, daß die Finsterniß sich wieder Raum macht und um sich greift, um so schneller und gefährlicher, je länger sie sich hinter dem Guten verbirgt, und je leichter sie in der Freude über den glücklichen Fortgang übersehen wird. Dieß an leider nur zu vielen Beispielen in der Geschichte aller menschlichen Dinge klar vor Augen habend, müssen wir wohl einsehen: wie nothwendig es ist, daß sich alle Kinder und Diener des Lichts verbinden zu jedem Widerstande, den sie in ihrer Gewalt haben gegen die Werke der Finsterniß! Aber wenn einmal das nicht genug ist, daß wir nur selbst keinen Antheil daran nehmen, wenn wir sie auch, so viel an uns liegt, nicht dürfen gewähren lassen: so bleibt uns nichts übrig hinzuzufügen, als dieses, daß wir sie auch bestrafen. – Sie werden aber gestraft, indem sie an’s Licht gebracht werden. Denn sobald etwas als der Finsterniß angehörig, und also als dem Lichte fremd und feindlich, auch anerkannt wird: so treten alle Kinder des Lichts davon zurück. Ja welchem wahren Christen so etwas in seiner eigenen That gezeigt wird, der wird sich alsbald davon lossagen. Und wenn schon in der bürgerlichen Gesellschaft das die rechte und gehörige Strafe ist, wodurch die Bösen auch so lange unschädlich gemacht werden, als sie sich nicht bessern: so giebt es auch in dem Reiche Gottes keine andere Strafe, als daß die Werke der Finsterniß ausgeschlossen werden aus der Gemeinschaft des Lichtes und in dem | Gebiete desselben unwirksam gemacht. Dazu aber giebt es kein anderes Mittel, als daß wir, was uns als ein Widerspruch mit dem Geiste und den Gesetzen des Reiches Gottes vorliegt, sobald unsere Ueberzeugung fest geworden ist, auch als solches darstellen. Bei wem dann unsere Strafe fängt, und er sagt sich los von diesem Verderblichen, und wählt, wenn wir ihm Licht und Finsterniß neben einander stellen, nicht die Finsterniß, sondern das Licht, für den ist dann dieses Böse unschädlich gemacht; bei wem sie gar nicht fängt, nun der wird sich dadurch doch aufgefordert fühlen, schärfer zu prüfen, was da sey der wohlgefällige Wille Gottes. Wer aber das
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strafende Urtheil anerkennen wollte, aber doch nicht lassen von dem, was gestraft worden ist, den brauchten wir nicht weiter zu richten, sondern er richtete sich selbst und spräche uns los von der Gemeinschaft mit seinen Werken. Und dieß ist die Strafe, welche der Apostel meint. Seinen Worten einen andern Sinn unterlegen, als ob wir etwa, wenn wir irgendwo ein Werk der Finsterniß erkennen, dadurch die Befugniß erhielten, es in irgend einem äußerlichen und thätlichen bürgerlichen Sinne an seinem Urheber zu strafen, das wäre das größte Unrecht, welches wir dem zufügen könnten, der so oft die Christen ermahnt hat, daß sie unterthan seyn sollen der Obrigkeit, die Gewalt über sie hat, und der allein gebührt, das Schwert zu führen zum Schutz der Guten und zur Rache über die Bösen. Denn selbst in ihrem Sinne strafen wollen, das heißt ihr das Schwert, welches sie von Gott empfangen hat, aus den Händen nehmen, und dieß hieße doch offenbar, den Gehorsam aufkündigen, den wir ihr schuldig sind, und uns selbst unbefugt in das Amt eindrängen, welches Gott ihr gegeben hat. Aber mit dem Schwerte des göttlichen Wortes die Werke der Finsterniß strafen, das kann nicht nur Jeder unter uns, sondern Jeder soll es auch, wenn es ihm anders Ernst ist, die Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß zu meiden. Denn wenn wir durch unser Schweigen die Ungewißheit darüber fortdauern lassen, ob etwas ein Werk der Finsterniß oder des Lichtes ist, während wir doch für uns selbst gar nicht zweifelhaft sind, sondern eine feste Ueberzeu|gung haben, die doch in dem Maße wirksam seyn könnte und sollte, als sie sich auch Andern klar und deutlich darstellen ließe, wenn wir, sage ich, auf diese Weise unsere Wirksamkeit zur Berichtigung des Urtheils und also auch zur Sonderung von den Werken der Finsterniß aufgeben: so heißt das selbst noch in einer verborgenen Gemeinschaft mit denselben bleiben, sowohl insofern auch der Mangel an brüderlichem Vertrauen, der dabei zum Grunde liegen muß, selbst der Finsterniß angehört, als auch sofern durch ein solches Schweigen die Werke der Finsterniß geschützt und gehegt werden. Im Andenken an jene Zeit, m. g. F., als das große und heilige Streben, uns loszumachen von der Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß und dieselben zu strafen, so lebendig Alle beseelte, daß es oft genug herausbrach, auch vor dem äußeren Kampfe, wo noch jedes Wort Gefahr bringen konnte, und daß hernach aus demselben unserm ganzen Vaterlande eine so herrliche Wiederherstellung hervorging, wie die ist, deren wir uns jetzt erfreuen, und wofür wir auf’s Neue Gott danken, so oft einer jener denkwürdigen Tage wiederkehrt, im Andenken an jene Zeit mögen wir es uns sagen, daß wir uns damals 9–12 Vgl. Röm 13,1–4; Tit 3,1
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eine solche Freimüthigkeit in der Liebe schuldig geworden seyn würden, wenn nicht diese heilige Pflicht unter Christen schon immer bestanden hätte. Denn erfüllen wir diese nicht: so haben wir auch damals nichts erworben, weil uns das Erworbene doch nicht gedeihen kann zur Förderung des Reiches Gottes unter uns. Darum laßt uns ja nicht vergessen, daß derselbe Kampf noch fortdauert, und wir, wie der Apostel sagt, immer noch zu kämpfen haben, nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit der Gewalt und Macht der Finsterniß, mit den mannigfaltigsten und in den verschiedensten Abstufungen verderblichen Einflüssen, theils Derer, die noch ganz in die Finsterniß der Welt verstrickt sind, theils Derer, deren Gemüth im Ganzen wohl dem Herrn geweiht ist, in denen aber von dem verkehrten Geiste der Welt doch leider noch Manches zurückgeblieben ist. Darum laßt uns immer mit demselben Eifer, als in jener gefeierten Zeit – denn sonst wäre ja auch jener falsch gewesen – fortfahren in dem guten Kam|pfe, um theils von allen Werken der Finsterniß uns selbst zu lösen, theils auch dadurch, daß wir sie strafen, wie wir können und sollen, nach Vermögen zu der Befreiung derer mitzuwirken, welche wir noch in einer Gemeinschaft mit der Finsterniß erblicken. Damit wir aber einen festen Boden unter uns haben bei diesem Kampfe, so laßt uns auch immer fortfahren, redlich und treu bei dem Scheine jenes himmlischen Lichtes, welches Gott unter uns angezündet hat, zu prüfen, was da sey wohlgefällig dem Herrn. Hierdurch werden wir Alle Gott dem Herrn den Dank abstatten, der ihm wohlgefällig ist, weil wir dadurch seine großen Wohlthaten unter uns befestigen, und was Er uns Gutes erwiesen, auch wieder gewissenhaft verwenden in sein Reich. Und so werden sowohl diejenigen, welche den Segen jener Tage mit haben erwerben helfen, ihren gerechten Ansprüchen auf unsere Dankbarkeit die Krone aufsetzen, wenn sie dieses Weges wandeln und in den Tagen der äußeren Ruhe sich als eben so tapfere Streiter für das Licht bewähren, wie sie in den Zeiten des Krieges tapfere Kämpfer waren für das Recht des Vaterlandes. Wir aber werden auch ihnen nur dadurch unsern Dank, so wie sie ihn als Brüder in Christo erwarten können, darbringen, wenn wir uns ihnen hierbei zugesellen, Jeder nach dem Vermögen, das Gott ihm gegeben hat, und uns mit Allem, was uns wieder erworben ist, dem Dienste dessen widmen, von dem nicht nur alles Gute kommt, sondern in dessen Namen allein auch alles Gute gethan wird. Amen. Schl.
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Predigt am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis 1824. | Tex t. Epheser V, 10 und 11. Prüfet was da sei wohlgefällig dem Herrn; und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsterniß, strafet sie aber vielmehr. M. a. F. Keiner unter uns wird wohl unterlassen haben am Anfang der vorigen Woche, wenn gleich nicht äußerlich doch in dem Innern seines Herzens, das Andenken des ersten unter jenen großen Tagen zu feiern, durch welche die Wiederherstellung, so wie aller deutschen Völker so auch unseres Vaterlandes in seine ursprüngliche Ordnung errungen worden ist, und wir wissen, daß wir angewiesen sind auch in unsern öffentlichen christlichen Versammlungen dieser merkwürdigen Tage zu gedenken. Jedes fromme Andenken aber | m. g. F., soll gegen Gott ein dankbares sein und auf den rechten Gebrauch der göttlichen Wohlthaten, deren wir uns erfreuen, gerichtet. Dieser Dankbarkeit nun giebt der Apostel in den Worten die wir mit einander gelesen haben, ihre wahre und gottgefällige Richtung. Der Rath, den er uns hier ertheilt, ist zwar ursprünglich ein ganz allgemeiner, allen Christen gegeben, und kein besonderes Verhältniß voraussetzend; wir werden aber bei näherer Betrachtung desselben ihn auch auf eine ganz vorzügliche Weise anwenden können auf diejenige göttliche Wohlthat, deren wir an dem heutigen Tage gedenken sollen und werden daraus sehen können, was uns ganz vorzüglich obliegt in Beziehung auf die Errettung, die uns Gott damals hat widerfahren lassen. Das laßt also der Gegenstand unserer christlichen Andacht und Aufmerksamkeit in dieser Stunde sein. Es ist aber zweierlei, wozu uns der Apostel in den verlesenen Worten | auffordert, zuerst zu prüfen, was da sei wohlgefällig dem Herrn, dann aber auch keine Gemeinschaft zu haben mit den dem göttlichen Willen und dem Wohlgefallen des Herrn entgegengesetzten Werken der Finsterniß. I. Wenn wir uns, m. g. F. jetzt noch sehr wohl des Zustandes erinnern, welcher unmittelbar jenem großen und von Gott so besonders gesegneten Kampfe voranging, wie dieser auch jetzt noch erscheint als ein allgemeiner Zustand der Lähmung, wo alle Kräfte sich gebunden fühlten und keiner im Stande war den gewohnten Weg seiner Thätigkeit 8–13 Vgl. oben S. 586, Sachapparat
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mit dem gewohnten Eifer zu verfolgen: so mußte es wohl natürlich sein, wie es auch geschah, daß nachdem jener Kampf beendigt war, eine große Thätigkeit von allen Seiten anging, um zu ersetzen, was in jenem Zustande war versäumt worden. Aber, m. g. F. nicht jede Thätigkeit des Menschen ist wohlgefällig dem Herrn, und so ist es denn in dieser Beziehung der Rath des Apostels, den wir uns nicht genug vorhalten | können: Prüfet, was da sei wohlgefällig dem Herrn, damit ihr die wiedergeschenkten Kräfte nicht nur gebrauchet, sondern auch seinem heiligen Willen gemäß gebrauchet, durch welchen allein euer wahres Wohl kann gegründet und gesichert werden. Freilich, m. g. F. wenn auch vorher die Thätigkeit gar vieler Einzelnen unter uns und anderwärts nur eine eigennützige war, auf den eigenen Vortheil, auf das eigene persönliche Ansehen in der Welt, auf die Vermehrung der Macht und des Vermögens gerichtet, so schlug auch nachher die Thätigkeit gar vieler nur denselben verderblichen Weg ein, sei es nun, daß sie ihren eigenen Weg gingen und suchten, oder daß sie es für das sicherste und gerathenste ihrem eigenen Vortheil hielten, sich an Andere anzuschließen und denen zu folgen, von denen sie am meisten Förderung auf ihrem Wege erwarten konnten. Solches Handeln, m. g. F., ist immer ein ungeprüftes. Denn wenn der Mensch sich auf die Prüfung seines Thuns einläßt, | so kann er nicht umhin einzusehen, daß er nach der göttlichen Ordnung nicht allein gestellt ist in der Welt, daß es nur ein scheinbares Wohlsein ist, welches er gleichsam im Streit mit Andern und mehr oder weniger auf ihre Kosten sich erringen will, und daß alle Bestrebungen dieser Art nicht das wahre reine Wohlsein des Menschen fördern, sondern nur bei der Oberfläche und bei dem äußern Schein seines Daseins stehen bleiben. Aber es giebt auch allerdings unter uns mancherlei Thätigkeiten, die löblicher Art und edler sind, nicht auf das Wohl des Einzelnen vorzüglich gerichtet, sondern das gemeinsame Wohl im Auge habend. Aber auch hier, m. g. F. giebt es eine Thätigkeit welche nicht prüft was da ist wohlgefällig dem Herrn. Denn m. th. F., wenn wir dem Ganzen, welchem wir angehören, leben mit aller Aufopferung des eigenen Vortheils, mit aller Anstrengung aller unserer Kräfte, aber demohnerachtet es eben so behandeln und auf dieselbe Weise für dasselbe | thätig sind, wie der eigennützige Mensch für sich selbst, immer nur daran denkend, es im Gegensatz gegen Andere und auf Kosten Anderer zu erhalten und zu vergrößern, so ist das nichts anders als in einem vergrößerten Maßstabe dieselbe eigennützige Thätigkeit, und gewiß nicht wohlgefällig dem Herrn, der die Menschen geschaffen hat, daß sie alle unter einander seien wie von einem Blute abstammend, so auch ein brüderliches Volk. Wohlan denn laßt uns noch weiter 39–41 Vgl. Apg 17,26
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gehen und sagen, wir können aufzeigen und uns erfreuen gar vielfältiger Thätigkeiten in unserer Mitte, welche in der That auf das Gute gerichtet waren, und nichts anderes als dieses wollten, dasjenige, was also nicht nur das Wohlergehen der Einzelnen oder einzelner Gesellschaften, sondern in der That das Allgemeine fördert und zu dem gemeinsamen Ziele hinführt. Wohl wahr, m. g. F., und Gott sei Dank, daß wir uns dessen rühmen können. Laßt uns aber doch in dieser Hinsicht auf die vergangene Zeit | und was sie uns gebracht hat aufmerksam und der reinen Wahrheit gemäß hinsehen. Wie viel Streit und Uneinigkeit unter denen, die doch nicht nur behaupten, daß sie nichts wollten, als das Gute, sondern denen auch jeder Andere, der im Stande ist ihr Inneres zu erkennen, dasselbe Zeugniß giebt. Wie viel verschiedene und einander entgegengesetzte Vorstellungen von dem was dem Menschen frommt, und von der Art und Weise wie ihr wahres Wohl zu begründen und sicher zu stellen ist. Und von so entgegengesetzten Vorstellungen ausgehend, wie hat nicht auch unter uns eine Thätigkeit die andere bekämpft und ihr entgegengearbeitet, so daß aus der großen Thätigkeit und Anstrengung der Kräfte, die alle einem reinen und wahren Ziele entgegenstrebten, wir dürfen sagen wenig oder viel weniger geworden ist, als wir zu erwarten berechtigt waren. Darum, m. g. F., darum sagt nun der Apostel, „Prüfet was da sei wohlgefällig dem Herrn.“ Wir entfernen uns | immer mehr oder weniger von der reinen Wahrheit und geben uns selbst mehr als wir nöthig hätten der menschlichen Gebrechlichkeit und dem menschlichen Irrthum Preis, wenn wir in unseren Bestrebungen die Vorstellung des Guten und Heilsamen trennen wollen von der Vorstellung des göttlichen Willens und Wohlgefallens. M. g. F., laßt es uns nicht vergessen, was damals in jenem großen Kampfe unsere Bestrebungen so gedeihlich machte und so segensreich. Was war es anders als das übereinstimmend in allen sich aussprechende Gefühl, es sei der göttliche Wille, dem wir folgten, es sei das göttliche Wohlgefallen, dem wir sein Recht anthun wollten, es gehe mit Gott für König und Vaterland. Das war es worauf der Segen dieser Zeit beruhte, und immer nur dieses zu wollen, und alles Handeln danach zu prüfen, was wohlgefällig ist dem Herrn, das ist es allein, m. g. F., was unsern Weg sicher machen kann, und fest, daß unsere Tritte nicht gleiten, | daß wir uns auf unserem Pfade nicht verirren, sondern dem Ziele immer näher kommen, welches wir suchen. Wir dürfen aber, m. g. F., nicht vergessen, daß wir den Willen Gottes und was dem Herrn wohlgefällig ist, nur durch den erkennen, den Gott der Herr selbst uns zum Herrn gesetzt hat. In der Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater schauen wir den Vater selbst, in ihn als den 40–41 Vgl. Joh 1,14
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Abglanz des göttlichen Wesens können wir hineinschauen, um in seinem Sein und Thun den Willen des Vaters und sein Wohlgefallen zu erkennen, denn er war nichts anderes als das unter uns erschienene und menschlich lebendig gewordene Wohlgefallen Gottes. Wenn wir danach unser Thun prüfen wollen und es uns nur rein auf nichts anderes ankommt in unserem Leben als zu thun was wohlgefällig ist dem Herrn, sollten wir dann auch noch demselben Irrthum unterworfen sein? Sollte es auch unter denen die sich zu dieser Regel gemeinschaftlich bekennen, noch denselben Streit geben? | Wenn wir die Erfahrung fragen, m. g. F., so ist so viel gewiß, gar vieler Uneinigkeit und gar großem Streit ist abgeholfen sowohl im Einzelnen als im Gemeinsamen, wenn wir alle einmüthig dieser Regel folgen. Weniger wird sich der verirren, der in das lebendige Wort hineinschaut, um durch dasselbe den göttlichen Willen zu verstehen, der sich bei allem was er verrichtet das Bild des Erlösers vorhält, um seine That mit dem Wesen und Thun desselben zu vergleichen. Aber sind demohnerachtet in allen Handlungen alle solche wahre Bekenner des Herrn vollkommen einig und übereinstimmend? Sehen wir sie nicht auch irre in ihren Meinungen von dem, was in Beziehung auf ihn und auf unser Verhältniß zu ihm die heiligste Wahrheit ist, so auch in ihren Vorstellungen von dem, was wir als Diener des Herrn und als seine Nachfolger und Jünger zu thun haben, wenn wir ihm wohlgefällig sein wollen, daß sie in beiden doch noch auf | mancherlei Weise auseinander gehen? Ja, m. g. F., wir dürfen es uns nicht leugnen, herrlich ist die Regel die uns der Apostel giebt, „Prüfet was da sei wohlgefällig dem Herrn“, aber keiner unter uns ist, wenn er sich auch sagen könnte, wie aufrichtig und fleißig er auch forsche in der Schrift um den Willen Gottes darin zu erkennen, wie beständig er sich auch das Bild des Erlösers vorhalte, und in der Treue gegen ihn die Sicherheit und die Festigkeit seines Lebens suche, keiner ist doch davor sicher – denn es ist das allgemeine menschliche Loos – daß er nicht irrt und auch in seiner Vorstellung von dem göttlichen Willen irrt. Wenn wir nun, m. g. F., weiter nicht als so weit mit diesem ersten Rath des Apostels kommen, wohlan so laßt uns sehen, was uns der zweite noch dazu giebt, indem er uns nämlich sagt, „Und habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsterniß, | strafet sie aber vielmehr.“ II. O, m. g. F. diesen Rath des Apostels können wir wohl nicht vernehmen, ohne dabei gleich an einem Tage, wie dieser auch ganz besonders an 32 als] Ergänzung aus FHDS 34, 101/3, Bl. 4r
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jene Zeit zurückzudenken. Denn was uns damals mit Gewalt drohte und schreckte, und mit noch furchtbarerer List umstrickte, es erschien uns alles in dem tiefsten Grunde des Herzens als ein Werk der Finsterniß, ja nicht als ein einzelnes Werk der Finsterniß, sondern als das größte, was sie mit aller ihrer Macht und mit Vereinigung aller ihrer Kräfte jemals hat zu Stande gebracht, in menschlichen und weltlichen Dingen, und es war der innerste lange gehegte Wunsch des Herzens aus aller Gemeinschaft mit diesem Werke der Finsterniß loszukommen, der endlich als die von dem Herrn bestimmte Stunde geschlagen hatte, in That übergehen konnte, damit wir uns nicht nur lösen könnten | von der Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß, sondern sie auch menschlichen Rechten und menschlicher Ordnung gemäß strafen. Ist es nun nicht natürlich, daß wir in diesen von Gott gesegneten Bestrebungen uns von aller Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß los zu machen, daß wir auch jetzt in diesen bleiben? Wenn wir damals in allem, was der Herr an uns, und den Unsrigen that, sahen wie er es segnete, daß wir uns frei machen wollten von den Werken der Finsterniß, müssen wir nicht wissen und fühlen, daß alle fernere Fortdauer seines Segens darauf ruht, daß wir stehen bleiben auf der Seite des Lichts und keine Gemeinschaft haben mit den Werken der Finsterniß? Wohl verstanden, m. g. F., nicht daß wir durchaus nicht sollten Gemeinschaft haben mit solchen Menschen, die leider noch immer an den Werken der Finsterniß arbeiten, und in ihre Netze verstrickt sind, denn wie der Apostel an einem andern Orte sagt, wenn | wir das wollten, so müßten wir lieber die Welt verlassen. Nur mit den Werken der Finsterniß selbst sollen wir keine Gemeinschaft haben, ihnen nicht dienen in irgend einer von unserem eigenen Willen abhängigen That, ihnen nicht dienen dadurch, daß wir unsere Mißbilligung gegen sie verschweigen, oder vielleicht wohl gar ihnen Beifall heucheln und schmeicheln, indem wir sie in unserem Innern verurtheilen und verabscheuen. Aber wenn wir uns nun fragen, wissen wir auch alle, und sind auch alle einig darüber, was die Werke der Finsterniß sind, mit denen wir keine Gemeinschaft haben sollen? Werden wir in dem gewöhnlichen Gange des Lebens und dem Einzelnen und Kleinen eben so einig darüber sein, als wir damals alle in einem und demselben Gefühl und Urtheil zusammentraten? Freilich nicht, m. g. F., aber was Finsterniß ist, das ist schon deutlich und klar und uns allen eben deswegen, weil | auch unser Herz ein Sitz der Finsterniß gewesen ist, so wohl bekannt, daß kaum zu denken ist, daß wir nicht alle, alle die wir dem Dienste und der 11 Gemeinschaft] Gemeinschaft, 23–25 Bezug unklar
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Knechtschaft der Finsterniß schon selbst entkommen sind, die Werke derselben erkennen sollten. Der Apostel aber giebt uns in den Worten, welche auf die verlesenen Worte unseres Textes folgen, noch allerlei besondere Anleitungen dazu, die wir nicht versäumen dürfen. Zuerst sagt er, „Was heimlich von ihnen geschieht, das ist schändlich zu sagen“, und wir können das immer, m. g. F., in dem vollsten und allgemeinsten Sinne nehmen. Alles was heimlich geschieht ist ein Werk der Finsterniß, und so fing auch damals an, was hernach nur allzu offenbar hervortrat, mit heimlichen Aufwiegelungen und Einflüsterungen, um sich demjenigen was Recht und Ordnung und Gesetz war, entgegen zu stellen. Und wo noch jetzt Ähnliches heimlich geschieht, heimlich Einzelne sich verbinden, um | wenn es möglich wäre den Zustand der Ordnung und der Gesetze in eine allgemeine Verwirrung aufzulösen, wo noch jetzt heimlich Einer auf Worte und Winke der Andern lauert, um ein falsches Bild von ihm zu haben und weiter zu verbreiten, um irgend eine Sache zu finden an dem, der mit seinem ganzen Leben und Thun offen vor der Welt wandelt: da geschieht dasselbe, was ein Werk der Finsterniß war, gegen unsern Herrn in den Tagen seines Fleisches. Was heimlich geschieht ist ein Werk der Finsterniß und schändlich zu sagen, eben deswegen, weil es das Licht scheut. Was aber das Licht ist, m. g. F., welches nichts scheuen darf, was nicht selbst soll ein Werk der Finsterniß sein? O für uns alle kein anderes als das Licht des göttlichen Wortes, das Licht, welches uns der Erlöser gebracht hat, der uns selbst das Licht und das Leben, der Weg und die Wahrheit geworden ist. | Was den nicht anerkennt, und nicht in Übereinstimmung mit dessen Herrschaft über Alles was auf Erden ist, gebracht werden kann, was dessen großem Gebot in Liebe alle Menschen zu vereinigen sich entgegen stellt, das ist gewiß ein Werk der Finsterniß und ist nicht in Gott gethan. Aber, m. g. F., auch alles dasjenige, was zwar gern den Schein annehmen will mit der Herrschaft des Erlösers übereinzustimmen und sich zu rechtfertigen strebt aus seinem Worte und vor seinem Lichte, dabei aber doch ihn selbst noch meistern will durch irgend ein anderes eigenes Licht, sei es das natürliche der irrenden und durch ihn erst wieder zu erleuchtenden menschlichen Vernunft, oder sei es ein übernatürliches, dessen sich einer rühmen will gegen den Herrn und außer ihm: Das gewiß ist ein Werk der Finsterniß, weil es | dahin strebt, das göttliche Licht selbst zu verdunkeln. Darum sagt der Apostel in dem Verlauf seiner Rede: „Alles was offenbar ist und wird, das ist Licht.“ 1 Knechtschaft] Knechtschaft, 5–6 Eph 5,12
23–25 Vgl. Joh 8,12; 14,6
38 Vgl. Eph 5,14
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Alles was uns offenbar wird im Zusammenhange mit dem Einen, was Noth thut, mit dem Einen, was die allgemeine Regel unseres ganzen Lebens sein soll, das ist Licht, was aber damit nicht kann in Übereinstimmung gebracht werden, was daraus nicht kund und offenbar werden kann, was sich auf irgend eine Weise davon sondern und zurückziehen will, das gewiß ist ein Werk der Finsterniß. Und wenn wir nun hievon zurücksehen auf dasjenige, was wir vorher beklagten, nämlich daß es uns nicht immer gelinge bei aller Prüfung dessen, was wir zu thun haben, mit Sicherheit zu erkennen und zu bestimmen, was da sei wohlgefällig dem Herrn; wohl, m. g. F. so laßt uns zufrieden sein | in einem spätern und in dem zweiten Augenblick zu finden dasjenige, was uns in dem ersten fehlte. Denn es kann jedem begegnen bei dem besten Willen und bei der reinsten Meinung, daß er eben etwas hält für wohlgefällig dem Herrn, was es wirklich nicht ist, so bald es aber anfängt als That sich zu entwickeln, so ist es nicht möglich daß es nicht sollte in irgend einer Gemeinschaft stehen mit irgend einem Werke der Finsterniß. Denn ganz dem Lichte angehörend und vom Lichte durchdrungen kann nur das sein, was ganz Licht ist, ganz mit den göttlichen Wegen und den göttlichen Gesetzen übereinstimmend, wie sie uns in seinem Worte offenbart sind, kann nur das sein was ganz aus dem Lichte hervorgegangen ist. Sobald irgend etwas aus dem Innern der menschlichen Seele hervorgetreten ist als That, sei es in Worten oder in Werken, so sucht jedes das Seinige, | das aus dem Lichte Kommende und vom Lichte Geborene sucht dann das Licht und strebt sich mit demselben in Gemeinschaft zu setzen, was aber davon der Finsterniß angehört, das eilt auch den dunklen Werken der Finsterniß zu, und sucht darin seinen Schutz. Was nicht wohlgefällig ist dem Herrn, wenn es uns auch in dem ersten Augenblick der innern Erregung so erscheint, so wie es als That hervortritt, so muß sich darin zeigen die Gemeinschaft, welche es hat mit den Werken der Finsterniß, und dann ist es Zeit, daß wir uns losmachen von der Gemeinschaft mit demselben, daß wir uns davon zurückwenden, wie sehr wir auch glauben, daß es aus dem reinsten Wunsch und aus der reinsten Liebe des Herzens zum Guten hervorgegangen sei, dann ist es Zeit, daß wir daran erkennen unsere Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß und die Verkehrtheit unseres Herzens. Aber eben deswegen, m. g. F., weil nun alles Unvollkommene[,] auch das ursprünglich Wohlge|fällige[,] mit den Werken der Finsterniß zusammenhängt, jeder aber der irren kann in der ersten Erzeugung einer That, auch nicht in jedem Augenblick sich selbst genug sein kann, um den Irrthum in der Ausführung zu verbessern, deswegen sagt nun der Apostel das keine Gemeinschaft haben 1–2 was Noth thut, mit dem Einen, was] Ergänzung aus FHDS 34, 101/3, Bl. 5v
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mit den Werken der Finsterniß, das sei nur vollkommen, wenn wir auch die Werke der Finsterniß strafen, und er stellt uns eben dies als eine heilige Pflicht jedes Christen dar. O bedenken wir, m. g. F., wie schwer der Kampf ist in dieser Welt zwischen dem Lichte und der Finsterniß, wie leicht auch nachdem es erst schön und hell gestrahlt hatte unter den Menschen und ihr Leben erheitert und beseligt, doch bald die Finsterniß wieder um sich greift bald von diesem bald von jenem Orte aus: so müssen wir fühlen, wie nothwendig es ist, daß sich alle Kinder und Diener des Lichts verbinden zu jedem Widerstand | gegen die Werke der Finsterniß, wie nothwendig es ist, daß wir sie nicht bloß nicht gewähren lassen, sondern sie auch bestrafen. Sie werden aber gestraft, indem sie ans Licht gebracht werden, denn alsdann lösen sich davon alle Kinder des Lichts, dann tritt jeder davon zurück, der sie für das erkennt, was sie sind. Und wie könnte es eine größere Strafe für sie geben als die, ausgeschlossen zu sein von der Gemeinschaft mit den Kindern des Lichts. Und eine andere Strafe als diese, deren höchste Absicht dahin geht, diejenigen welche in die Werke der Finsterniß verstrickt sind, zu lösen aus der Gemeinschaft mit der Finsterniß, so bald wir im Stande sind ihnen Licht und Finsterniß neben einander zu stellen, damit sie das Eine suchen und anstreben, und aufgefordert werden die andern zu fliehen, eine andere Strafe als diese ist des Christen nicht würdig, und daher ist sie freilich auch das Einzige, was der Apostel meint, wenn er sagt, daß wir | die Werke der Finsterniß strafen sollen. Seinen Worten einen andern Sinn unterzulegen als ob jeder, der etwas als ein Werk der Finsterniß erkennt, befugt wäre es in irgend einem äußerlichen und bürgerlichen Sinne zu strafen, das wäre das größte Unrecht, welches wir dem zufügen könnten, der so oft die Christen ermahnt hat, daß sie unterthan sein sollen der Obrigkeit, die Gewalt über sie hat, und die das Schwert führt zum Schutz der Guten und zur Rache über die Bösen. Denn selbst strafen wollen, und ihr das Schwert, welches sie von Gott empfangen hat, aus den Händen nehmen, das hieße den Gehorsam aufheben, den wir ihr schuldig sind, und selbst das Amt führen, welches Gott ihr gegeben hat. Aber mit dem Schwerte des göttlichen Wortes die Werke der Finsterniß strafen, das kann jeder nicht nur, sondern soll auch jeder, dem es Ernst ist | die Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß zu fliehen. Dasjenige durch unser Schweigen in Ungewißheit lassen, ob es ein Werk der Finsterniß oder des Lichtes ist was wir, wenn wir reden wollten nach unserer Überzeugung, auch Andern deutlich darstellen könnten als ein Werk der Finsterniß, das heißt selbst noch in einer verborgenen Gemeinschaft bleiben mit den Werken der Finsterniß. Im Andenken an jene Zeit, m. g. F. 28–30 Vgl. Röm 13,1–4; Tit 3,1
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wo das große und heilige Streben uns loszumachen von der Gemeinschaft mit den Werken der Finsterniß und dieselben zu strafen, alle beseelte und wo allen aus diesem Bestreben eine so herrliche Rettung hervorging, wie die, deren wir uns erfreuen, und wofür wir aufs neue Gott danken, so oft einer jener Tage wiederkehrt, im Andenken hieran sage ich, laßt uns nicht vergessen, daß derselbe Kampf noch fortdauert, daß wie der Apostel sagt | wir immer noch zu kämpfen haben nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit der Gewalt und Macht der Finsterniß, mit Menschen, aus deren Inneren, welches doch ein reines und heiliges Haus des Herrn sein soll, der verkehrte Geist der Welt redet und handelt, und laßt uns immer mit demselben Eifer – denn sonst wäre jener falsch gewesen – fortfahren in dem Dienste des Herrn von allen Werken der Finsterniß uns selbst zu lösen, und dadurch, daß wir sie strafen wie wir können und sollen, allen denen Befreiung davon anzuthun, die noch in irgend einer Gemeinschaft mit denselben stehen, immer treu aber jeder nach seinem eigenen Vermögen an dem himmlischen und ewigen Lichte, welches Gott der Herr unter uns angezündet hat, prüfen was da sei wohlgefällig dem Herrn. Dann wird auch immer nur Schönes und Gutes aus | der großen Wohlthat hervorgehen, die uns der Herr erwiesen hat, dann werden wir immer eben so tapfere Vertheidiger seines Lichtes sein in den Tagen des Kampfes, und da eben so fest das Band der Liebe knüpfen, welche der Herr in uns ausgegossen hat, als in unserem friedlichen Leben uns erkennen als Diener und Streiter Gottes. Denn Diener und Streiter des Erlösers zu sein, das geziemt allen denen, die gewürdigt sind „Herr, Herr“ zu ihm zu sagen, indem sie zugleich den Willen thun seines Vaters im Himmel. Amen.
[Liederblatt vom 24. Oktober 1824:] Am 19ten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Nun danket alle etc. [1.] Zum Licht auf unserm Pfad / Hast du in unserm Leben / Uns, Vater in der Höh, / Dein heilig Wort gegeben / Regiere du uns nun / Durch deinen guten Geist, / Daß wir dem folgsam sein, / Was dieses Wort uns heißt. // [2.] Verleih, daß wir allein / Nach deinem Reiche trachten, / Und kein vergänglich Gut / Daneben noch beachten! / Daß wir den schönen Lohn, / Den Herzensreinheit bringt, / Mit jeglichem empfahn, / Der nach dem Ew’gen ringt. // [3.] Gieb daß wir von der Welt / Uns unbefleckt erhalten; / Und laß 7–8 Vgl. Eph 6,12
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in uns die Lust / Zum Guten nie erkalten; / Daß jeder immer wach / Zum Kampf des Glaubens treu / Und in der Hoffnung stark / Und fest gegründet sei. // [4.] Gieb daß als Christen wir / Uns Christo ähnlich zeigen, / Und achtsam unsern Sinn / Zu seinem Vorbild neigen! / Uns leite nur sein Geist / Und nicht der Geist der Welt! / So wandeln wir den Weg, / Der dir, o Herr gefällt. // [5.] Hilf daß wir dich, o Gott, / Von ganzer Seele lieben, / Und Lieb’ und Gütigkeit / Auch an dem Nächsten üben. / Lehr ohne Uebermuth / Uns bei des Glückes Schein, / Und ohne Ungeduld / In trüben Tagen sein. // (Brem. Ges. Buch.) Nach dem Gebet. – Mel. Christus der ist mein etc. [1.] Erhebt den Herrn mit Freuden, / O Christen, betet an! / Er will nicht, daß wir leiden, / Hat stets uns wohl gethan. // [2.] Uns drohten zwar Gefahren, / Der Kleinmuth riß uns fort; / Doch er wollt’ uns bewahren / Durch seiner Allmacht Wort. // [3.] Vor diesem Worte schwanden / Die Schrecken schnell dahin; / Und uns’re Herzen fanden / In ihm den Vatersinn. // [4.] Auf jedem dunklen Pfade / Steht er uns kräftig bei; / Und seine Huld und Gnade / Erscheint uns immer neu. // [5.] Er reizet uns’re Seelen / Auch durch Gefahren an, / Das beste Theil zu wählen, / Das nie vergehen kann. // [6.] So lenkt mit weiser Liebe / Er Alle durch die Welt, / Daß jeder gern sich übe / In dem was ihm gefällt. // [7.] Wer wollt’ ihm nicht vertrauen, / Nicht seine Wege gehn; / Und auch im Todesgrauen, / Durch Hofnung ihn erhöh’n. // [8.] Ja unser ganzes Leben, / Sei dir o Gott geweiht! / Denn du nur kannst uns geben, / Was unser Herz erfreut. // [9.] Nur du kannst uns beschirmen, / Wenn sich die Fluth erhebt; / Wenn Flammen uns bestürmen, / Und wenn die Erde bebt. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Lobt Gott, ihr etc. [1.] Gott segnet uns noch jedes Jahr, / Läßt Gutes gern gedeihn, / Und will, was er den Vätern war, / Auch unsern Kindern sein. // [2.] Sein Segen bleibe unser Lohn, / Sein Friede krön’ das Land, / Stüz’ aller frommen Fürsten Thron, / Und segne jeden Stand. // [3.] Erhör’ uns, Herr, dein Antliz seh, / Dein Volk, das Amen spricht! / O sei uns gnädig Herr und geh’, / Mit uns nicht ins Gericht. //
Am 31. Oktober 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
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20. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 6,27–35 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 416–429; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 180v–187v; Saunier, in: Schirmer Nachschrift; SAr 63, Bl. 47r–50v; Woltersdorff Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 20. Sonntage nach Trinitatis 1824. Tex t. Joh. 6, 27–35. Wirket Speise, nicht die vergänglich ist, sondern die da bleibet in das ewige Leben, welche euch des Menschen Sohn geben wird; denn denselben hat Gott der Vater versiegelt. Da sprachen sie zu ihm, Was sollen wir thun, daß wir Gottes Werke wirken? Jesus antwortete und sprach zu ihnen, Das ist Gottes Werk, daß ihr an den glaubet, den er gesandt hat. Da sprachen sie zu ihm, Was thust du für ein Zeichen, auf daß wir sehen und glauben dir? Was wirkest du? Unsere Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben stehet, Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen. Da sprach Jesus zu ihnen, Warlich, warlich ich sage euch, Moses hat euch nicht Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater giebt euch das rechte Brot vom Himmel. Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und giebt der Welt das Leben. Da sprachen sie zu ihm, Herr gieb uns | allewege solches Brot. Jesus aber sprach zu ihnen, Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. M. a. Fr. Der Erlöser sagt also zu denen, welche gekommen waren ihn auf der andern Seite des Sees zu suchen und ihn gefragt hatten, wann er dahin gekommen sei, sie sollten die Speise wirken, nicht die vergänglich ist, sondern die da bleibt in das ewige Leben, durch welche Worte er sie eben von allem irdischen und auch von demjenigen, was 20–22 Vgl. Joh 6,24–25
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er an dem vorigen Tage an ihnen gethan hatte, abziehen und auf das himmlische und ewige hinweisen will. Diese Worte knüpfen sich so genau an die Begebenheit des vorigen Tages an, daß wir kaum anders denken können, als wenn das Volk, welches der Herr da gespeist hatte, nicht wäre auf den Gedanken gekommen ihn zu greifen und zum Könige zu machen, weswegen er sich eben von ihnen abwenden und in das Gebirge entfernen mußte, so würde er ihnen schon an jenem Abend dasselbe gesagt, und sie von der leiblichen Wohlthat, die sie von ihm empfangen, auf das geistige hingewiesen haben, welches ihnen zu geben er gekommen war. Aber eins kann uns Wunder nehmen, wie nämlich der Herr seine Zuhörer so anreden kann, daß er sie ermahnt, sie sollten unvergängliche Speise wirken, als ob das etwas wäre, was sie selbst könnten. Das ganze Gespräch, so weit wir es jezt gelesen haben und noch weiter hin, dreht sich hierum, und die Worte des Herrn sind immer auf eine solche Weise gestellt, daß sie bald eine Zumuthung an den Menschen enthalten, als ob er etwas thun und leisten solle, wie hier an unsrer Stelle, bald wieder so, daß er auf Gott verweist, als auf den, der alles thue, und von dem alles ausgehe. | Wenn wir aber nun diese seine erste Anrede recht verstehen wollen, so müssen wir daran denken, daß sie auch am vorigen Tage die vergängliche Speise nicht selbst gewirkt hatten, sondern es war durch die Veranstaltung und unter dem Segen des Herrn geschehen, daß sie dieselbe empfangen hatten. Wenn er ihnen also sagt, Wirket doch nicht die vergängliche Speise, sondern die da bleibt in das ewige Leben, was kann das anders heißen, als ihr Tichten und Trachten am vorigen Tage war darauf gerichtet, sich den recht anzueignen, von welchem sie die vergängliche Speise empfangen hatten, und indem sie ihn an die Spize stellten sich aller Sorge für die Zukunft zu überheben, indem sie des festen Vertrauens lebten, er werde sie in jeder Zukunft so gut versorgen können, als er an jenem Tage gethan hatte. Indem nun der Herr sagt, Wirket Speise, nicht die vergänglich ist, sondern die da bleibt in das ewige Leben, was kann das anders heißen, als, Bleibt doch mit euerm Tichten und Trachten nicht bei demjenigen stehen, was zu dem irdischen Wohl gehört, sondern richtet euer ganzes Verlangen vielmehr auf die Speise, die unvergänglich ist und in das ewige Leben bleibt. Weit entfernt, sie an sich selbst in irgend einer andern Beziehung zu verweisen, fügt er hier schon das hinzu, was er in der Folge noch deutlicher auseinandersezt, des Menschen Sohn werde ihnen diese Speise geben, denn den habe der Vater versiegelt, das heißt, den habe er dazu bestimmt ihnen dieselbe zu geben, und ihn durch sein ganzes 4–7 Vgl. Joh 6,15
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Leben und Wirken als einen solchen gesezt, den er, der Vater ihnen gesandt habe, um die unvergängliche Speise zu wirken. Aber freilich darin hat der Herr ganz Recht, die Speise, die unvergänglich ist und in das ewige Leben bleibt, die kann sich der Mensch nicht selbst geben, des Menschen Sohn muß sie ihm geben, von dem geht das geistige Leben aus, welches er zuerst unter den Menschen geführt hat, kraft der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, und es | muß sich von ihm aus weiter verbreiten durch den Geist, den er den Menschen von Gott erbeten und mitgetheilt hat. Alle Nahrung also des geistigen Lebens, die kann aus keiner andern Quelle kommen, als aus der, in welcher das geistige Leben ist; nur er, des Menschen Sohn, kann die unvergängliche Speise geben, die in das ewige Leben bleibt. Aber eben diese Verweisung auf ihn als des Menschen Sohn, den Gott der Vater dazu versiegelt, die unvergängliche Speise zu geben, verbunden mit der Aufforderung an den Menschen dieselbe zu wirken, die ist es nun, was seine Zuhörer nicht sogleich verstehen, und wir müssen ihnen dies zu gute halten, eben deswegen, weil auch wir uns wundern, daß die Worte nämlich klingen, als ob der Herr ihnen zumuthe, sie sollten selbst die unvergängliche Speise wirken und hervorbringen, und das ist der Sinn ihrer Frage, Was sollen wir denn thun, daß wir Gottes Werke wirken? Sie geben also zu, denn anders kann ich diese Worte nicht verstehen, daß es ein Werk Gottes sei die unvergängliche Speise hervorzubringen, und fragen ihn nun, wie er ihnen denn zumuthen könne dasjenige zu thun, was nur Gott thun könne, und was sie denn thun könnten und sollten, um etwas zu wirken, was nur Gottes Werk sei. Und gewiß liegt das in dem natürlichen Sinn eines jeden Menschen, sobald er nur einigermaßen erwekkt ist. Schon in Beziehung auf das natürliche und vergängliche Leben wissen wir, daß der Mensch allerdings eine mitwirkende Ursache ist, daß er aber doch keinesweges etwas, was in das vergängliche Leben gehört, von seinem ersten Anfange hervorbringen kann; sondern aller Anfang und alles erste ist eine Gabe Gottes, die der Mensch nur weiter zu verbreiten im Stande ist. Wie viel mehr muß er fühlen, daß das unvergängliche Leben, nach welchem er sich freilich sehnt und ein Verlangen hat, wenn er nicht ganz befangen ist von den Bedürfnissen, Begierden und Sorgen des ver|gänglichen, daß das nicht von ihm ausgehe und in ihm seine erste Quelle haben kann, sondern daß die Hervorbringung desselben und alles dasjenige, wodurch es erhalten und erhöht werden kann, nichts anderes ist als ein Werk Gottes. Und darum fragen nun jene, Was kön7 Vgl. Kol 2,9
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nen denn wir thun, um etwas zu wirken und hervorzubringen, was nur ein Werk Gottes sein kann. Der Herr nun auf diese Frage giebt ihnen keine eigentliche Antwort, die sich auf das bezöge, was sie thun könnten, sondern er sagt nur, was das Werk Gottes sei, von welchem er rede, und giebt ihnen den eigentlichen Inhalt seiner vorigen Worte deutlich zu erkennen, indem er an das anknüpft, was sie selbst in ihren Worten nicht undeutlich zugegeben hatten. Wenn ihr denn meint, die unvergängliche Speise zu wirken, die in das ewige Leben bleibt, das sei ein Werk Gottes, so will ich euch zunächst nur sagen, was denn auch ein Werk Gottes sei. Und darum sagt er, Das ist Gottes Werk, daß ihr an den glaubet, den er gesandt hat. M. g. Fr., es ist gar oftmals und von vielen auch wohlmeinend gesagt worden, es scheine, als ob der Herr während seines Lebens auf Erden bei weitem nicht so sehr und so ausschließend auf den Glauben an ihn selbst gedrungen habe, als es seine Jünger und Apostel in ihren Reden und Schriften gethan haben. Ich weiß aber nicht, wie man irgend eine deutlichere Stelle finden kann auch in den Schriften der Apostel, welche so laut und so deutlich dafür spräche, daß das ganze unvergängliche Leben des Menschen von nichts anderem ausgehe, als von dem Glauben an Christum, und daß nichts anderes als dieser Glaube dazu gehöre, aus welchem dann alles andere hervorgehen muß, als eben diese Worte des Herrn. Das göttliche Werk, durch welches allein die unvergängliche Speise, die in das ewige Leben bleibt, gewirkt werden kann, und welches der Mensch nicht im Stande ist hervorzubringen, das Werk Gottes, wodurch diese Speise entsteht, ist nichts anderes als daß der Mensch glaube | an den, den Gott gesandt hat. Das sagt nun hier der Herr, aber ohne sich auch darüber deutlicher zu erklären, daß nun dieser Glaube an ihn von den Menschen selbst gewirkt werden könne, sondern nur auf den rechten ersten lebendigen Anfang und Mittelpunkt des ganzen Werkes Gottes an dem Menschen und in dem Menschen verweisend. Und wie steht es nun damit, wenn wir diesen Worten des Herrn mit der Frage begegnen, Ei, kann denn das ewige Leben des Menschen durch den Glauben an ihn allein gegeben und erhalten werden? Gehört gar nichts weiter dazu, und ist denn dieser Glaube schon das ganze ewige Leben selbst? Wenn der Mensch nichts thun wollte, als sich in diesen Glauben an den Erlöser versenken, würde dadurch wol das Reich Gottes bestehen, zu welchem so viele lebendige kräftige Thaten, so viel Anstrengung aller der herrlichen Vermögen, die Gott in den Menschen gelegt hat, so viel unermüdeter Fleiß und Eifer in allen Werken Gottes gehören, würde es haben entstehen und bestehen kön-
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nen, wenn die Menschen nichts gethan hätten, als sich in den Glauben an den Herrn zu versenken? Das ist eine Frage, die jene Zuhörer des Herrn nicht thun konnten, die uns aber sehr nahe liegt. Aber so oft sie auch wiederholt und so viel auch darüber geredet worden ist, können wir anders sagen, wenn wir bei den einfachen Worten des Herrn stehen bleiben, als daß ein Mißverständniß dabei zum Grunde liegt? Der Herr sagt, Das Werk Gottes, wodurch die unvergängliche Speise, die in das ewige Leben bleibt, gewirkt wird, sei der Glaube an den, den er gesandt hat. Sagt er denn damit, daß dies die ganze unvergängliche Speise selbst sei? Er sagt nur, daß sie aus diesem Glauben hervorgehe, und wenn er also den Glauben an ihn als das Werk Gottes verkündigt, so müssen wir nicht den Glauben verstehen, indem wir ihn absondern wollen von demjenigen, was natürlich daraus hervorgeht, denn alsdann ist es nicht mehr der Glaube | selbst, der das Werk Gottes ist. Nicht, wie der Herr an einer andern Stelle sagt, nicht alle die Herr Herr zu ihm sagen, werden in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen thun seines Vaters im Himmel. Die zu ihm Herr Herr sagen, die glauben doch in einem gewissen Sinne an ihn, denn das ist ja der Ausdrukk unseres Glaubens, daß wir ihn unseren Herrn nennen, dem wir die Führung unseres Lebens, die ganze Bestimmung dessen, was wir zu thun haben und sein sollen, überlassen und anheimstellen; ja es giebt keinen stärkern und lebendigern Ausdrukk des wahren Glaubens an ihn, als diesen. Wenn er aber sagt, Nicht alle die Herr Herr zu mir sagen, werden in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen thun meines Vaters im Himmel, so ist doch unter diesem in das Himmelreich kommen nichts anders zu verstehen, als das ewige Leben haben, denn wo das ewige Leben ist, da ist das Himmelreich, und das Himmelreich ist nichts anders als die Gesammtheit des ewigen Lebens, welches von ihm ausgeht. Wenn er also sagt, Nicht alle die Herr Herr zu mir sagen, werden in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen thun meines Vaters im Himmel, so bequemt er sich zu den Menschen herunter, und theilt gleichsam das ganze Werk Gottes, welches er hier in eins zusammenfaßt, in zwei Theile, die Herr Herr sagen, und die da thun den Willen Gottes. Aber woher wissen wir den Willen Gottes? Von niemand anders als von ihm. Und also wer zu ihm Herr Herr sagt, der erkennt ihn auch an als den, durch welchen wir den Willen Gottes nur erkennen und den Willen Gottes wissen. Aber dadurch, daß er ihn uns zu erkennen gegeben hat, ist er nicht ein Herr, sondern dadurch, daß er ihn befiehlt, und das ist ein schlechtes Herr Herr sagen, wenn man das nicht thut, was einer befiehlt, denn dadurch ist einer ein Herr, daß er seinen Willen kund 15–18.24–25.30–31 Vgl. Mt 7,21
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thut, und daß er die Macht hat ihm | Gehorsam zu verschaffen. Es ist also nur ein äußerer Schein, es ist nur ein leerer Schall des Glaubens, wenn das Herr Herr sagen für sich ist und getrennt von der Erfüllung des göttlichen Willens; und wenn der Herr hier sagt, Das ist das Werk Gottes, daß ihr an den glaubet, den er gesandt hat, so meint er damit die lebendige Einheit des Glaubens, in welchem das ihn als den Herrn erkennen und der lebendige Trieb, das was er als den Willen Gottes verkündigt hat zu thun, gar nicht getheilt ist, sondern eins und dasselbe. Wo eine solche Theilung gemacht wird, da ist schon das menschliche Verderben, welches das wahre göttliche Leben nicht ergreifen mag, da ist schon die verderbliche menschliche Trägheit, die lieber das halbe thun will als das ganze, und die eben herkommt von dem falschen Wahn, als ob man hier auf dem Gebiete des geistigen Lebens das halbe thun könne ohne das ganze. Sie fragen ihn aber, Was thust du für ein Zeichen, auf daß wir sehen und glauben dir, was wirkst du? Unsere Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben stehet, er gab ihnen Brot zu essen vom Himmel. Das hängt nämlich so zusammen. Wie sich der Herr hier bezeigte, so daß sie es nicht mißverstehen konnten, als den von Gott gesendeten, so war auch Moses zu ihren Vätern gesandt, und hatte sich ihnen so zu erkennen gegeben und sie aufgefordert seinen Einrichtungen zu folgen und seinen Worten zu glauben. Aber, sagen sie, der that solche Zeichen, daß sie glauben konnten, er gab ihnen das Manna vom Himmel; was thust du nun für ein Zeichen, welches uns nöthige auch zu glauben, daß du derjenige bist, den Gott gesandt hat? Nun hatten sie schon von so vielen Zeichen gehört oder sie sogar zum Theil gesehen, die der Herr während seines Lebens unter ihnen verrichtete, und wenn auch nicht alle, die hier jene Frage an den Herrn richteten, zu denen gehörten, die er am Abend vorher gespeist hatte, und die also | da ein großes Wunder von ihm gesehen hatten, so waren doch gewiß diese, indem sie sich mit denen vereinigten, die am vorigen Tage in der Nähe des Herrn waren und von ihm die irdische Speise empfangen hatten, davon unterrichtet. Das wußten sie also alle ohne Unterschied, und doch fragen sie, Was thust du für ein Zeichen, auf daß wir sehen und dir glauben? Also ein Zeichen war ihnen das gewesen, Zeichen und Wunder läugneten sie nicht, die Christus gethan hatte, aber ein solches, welches, wenn sie es sähen, sie nöthigen würde an ihn zu glauben, schien ihnen noch ein anderes zu sein. 39 anderes] anders
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Und das, m. g. Fr., darf uns nicht Wunder nehmen. Denn der Herr selbst in seinen lezten Reden macht seine Jünger im voraus auf dasjenige aufmerksam, was geschehen würde, und sagt ihnen, es würden viele falsche Propheten große Zeichen und Wunder thun, aber sie sollten ihnen nicht glauben. Zeichen und Wunder an sich selbst und ohne Unterschied können nicht ein Grund des Glaubens sein; hier aber fragen sie doch nach einem Zeichen, welches den Glauben hervorbringen könne; sie meinen, wenn einer behaupte von Gott gesandt zu sein, so müsse sich doch etwas zu erkennen geben, was sie nöthigen würde ihm in ihrer Meinung und in ihrem Glauben diese hohe Stelle einzuräumen, so müsse er ein solches Kennzeichen mit sich führen, wodurch sie ihn als einen göttlichen Gesandten von andern unterscheiden könnten, so müsse ihn eine solche Beglaubigung begleiten, die gleichsam das Siegel seiner göttlichen Sendung wäre, wie der Herr auch selbst vorher schon gesagt hatte, Gott der Vater habe ihn dazu versiegelt, ihnen die unvergängliche Speise zu geben. Aber ganz Unrecht hatten sie darin, daß sie das Wunder Moses, daß er ihnen Manna zu essen gegeben hatte, ansahen als ein solches, welches für ihre Väter der Grund gewesen sei | ihres Glaubens an die Sendung des Moses. Denn erstens hatten sie schon früher an ihn glauben müssen, ehe ihnen das Manna gegeben war, denn sonst wären sie ihm nicht aus Aegypten gefolgt, und zweitens war das ein Wunder, welches nur eine vergängliche Speise gewirkt hatte, um das Bedürfniß des Augenblikks zu befriedigen; was aber dem vergänglichen angehört, kann an und für sich nicht das unvergängliche Leben hervorbringen. Darum sagt nun auch der Herr, wiewol es eine unter dem Volke weit verbreitete und ziemlich alte Meinung war, daß unter allen Wundern, welche Moses als Gesezgeber und Retter des Volks aus dem Zustande der Knechtschaft während seines Wirkens und Lebens unter ihnen gethan hatte, kein größeres sei als daß er ihnen das Manna gegeben hatte, darum sagt auch der Herr, Warlich, warlich ich sage euch, Moses hat euch nicht Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater giebt euch das rechte Brot vom Himmel. Hier scheint der Herr zu unterscheiden dasjenige, was Gott thut, von dem, was Moses gethan hatte, indem er sagt, Mein Vater giebt euch das rechte Brot vom Himmel, Moses aber hat euch solches nicht gegeben. Wenn nun Moses das Manna hervorbrachte und hervorbringen mußte, so war es nicht eine Wirkung Gottes gewesen, sondern es war nur ein menschliches Werk wie andere, deren Zusammenhang wir nicht erkennen. Das war nun gewiß seine Meinung nicht, und darin 20 Denn] Dern 1–5 Vgl. Mt 24,24–26; Mk 13,22–23
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ist er gewiß mit allen seinen Zuhörern einig gewesen, daß dies eine ungewöhnliche besondere und von dem gewöhnlichen Lauf der Natur unabhängige Wirkung Gottes gewesen sei, eine Veranstaltung Gottes für ihre Väter, wodurch sie seine väterliche Leitung erkennen sollten. Was meint nun der Herr, wenn er dies unterscheidet, und seinen Vater auf eine besondere Weise, und anders als jenes Manna sein Brot als das rechte Brot vom Himmel bezeichnet? | Wol, m. g. Fr., will er uns darauf aufmerksam machen, daß das höchste Wesen, wiewol es derselbe Vater im Himmel ist, dem wir alle leibliche Gaben verdanken, und das uns die geistige Gabe in seinem Sohne giebt, doch besonders unser Vater, der Urheber unsers Heils ist, in so fern er uns das himmlische Brot giebt, welches das unvergängliche Leben hervorbringt und erhält. Und wol hat er Recht, das ist der Sinn, in welchem wir Gott unsern Vater nennen, und in welchen der Erlöser uns gelehrt hat ihn zu erkennen, Alles, was sich auf das irdische Leben des Menschen bezieht, gehört dem Schöpfer an, Kinder Gottes aber sind wir in so fern wir an dem Leben Gottes Theil haben. Und so sagt der Herr, Das wahre Brot vom Himmel hat euch Moses nicht gegeben, Gott hat euch auch die unvergängliche Speise durch Moses nicht gegeben, sondern was er euch gegeben war eine vergängliche Speise, das rechte Brot vom Himmel aber giebt euch Gott als der Vater, und das in so fern er den Sohn gesandt hat, durch welchen allein ihr Kinder Gottes werden könnt. Darum sagt er weiter, Das ist das Brot Gottes, welches vom Himmel kommt und der Welt das Leben giebt. Jenes Manna nämlich, das erhielt nur einem kleinen Theil der Menschen das vergängliche irdische Leben, das rechte Brot vom Himmel aber giebt der ganzen Welt das Leben, und indem uns Gott das gegeben hat, hat er sich als unsern Vater gezeigt, und zugleich den als denjenigen versiegelt, der allein die unvergängliche Speise, die in das ewige Leben bleibt, geben kann. Wenn nun das Volk sagt, Herr gieb uns allewege solches Brot, und er ihnen antwortet, Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten: so mögen wir immer glauben – und wie könnte denn auch die Rede des Herrn an sie ganz vergeblich gewesen sein – daß nun wirklich in ihnen nach dem wahren Himmelsbrot, nach | der unvergänglichen Speise ein Verlangen entstanden sei, daß sie nun wenigstens für den Augenblikk von jenem Tichten und Trachten nach dem vergänglichen, welches sie am vorigen Tage dahin gebracht hatte, den 28 als unsern] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 230 39–2 Vgl. Joh 6,15
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Herrn an ihre Spize stellen und zu einem irdischen König ausrufen zu wollen, abgelenkt worden seien zu dem ewigen, und daß es nicht ein flüchtiges Verlangen gewesen sei, sondern der Wunsch des Herzens, wenn sie sagten, Herr gieb uns allewege solches Brot. Da antwortete er ihnen: er selbst sei es; wer zu ihm komme, den werde nicht hungern, und wer an ihn glaube, den werde nimmermehr dürsten. Laßt uns, m. g. Fr., dies doch ja recht festhalten, daß er sagt, Ich bin das Brot des Lebens. Er selbst also, das heißt der ganze Christus, nicht aber etwa nur seine Lehre, die wir aus seinem Munde nehmen können und als menschliche Gedanken in unsern Verstand übertragen würden, die aber von ihm selbst getrennt keine Kraft haben würde, das ewige Leben hervorzubringen, nicht etwa nur sein Beispiel und alles einzelne dazu gehörige, was, wenn wir von ihm absehen könnten, wie es uns auch als ein schönes Vorbild menschlicher Tugend und Vortrefflichkeit erscheint, uns allerdings das schöne und vortreffliche zeigen würde, aber doch nicht die Kraft hatte, es hervorzubringen; weder jenes noch dieses ist das Brot des Lebens, sondern er selbst, der ganze ungetheilte Christus, sein Leben ist das Brot des Lebens, ihn selbst müssen wir uns ganz aneignen, sein Leben muß das unsrige werden, so daß wir in ihm sind, und er in uns. Und das ist es auch, was er auf diese zwiefache Weise ausdrükkt, Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. Und das, m. g. Fr., ist nicht ein Ueberfluß in Worten, wie wir ihn oft in menschlichen Reden finden, indem dasselbe ein|mal so und dann wieder anders ausgedrükkt wird. Denn er bezieht es auf das zwiefache, auf Hunger und Durst. Das ist es, daß wir fühlen, daß das vergängliche Leben der Nahrung und Speise bedarf. Eben so auch in dem geistigen Leben, dazu gehört zweierlei, das Wissen und das Thun. So wir nicht wissen, worauf es ankommt, können wir in dem geistigen Leben keine Fortschritte machen, aber so wir keine Kraft haben, was wir wissen zu thun, so können wir auch nicht weiter, und unser Wissen ist nur ein leerer Schein. Auf dieses zwiefache Bedürfniß verweist der Herr, indem er sagt, Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. Der Glaube an ihn wäre nur ein leerer Schein, wenn wir an ihn glauben, aber nicht zu ihm kämen, und das zu ihm kommen hätte keine Kraft und ermangelte des rechten Lebens, wenn es nicht ausginge von dem lebendigen Glauben an ihn. Wenn er also sagt, Wer zu mir kommt, so schließt er darin natürlicher Weise auch ein das bei ihm bleiben; nur von dieser beständigen Verbindung der Seele mit ihm, die einmal angeknüpft nicht aufhört, und in welcher auch der Glaube, wenn er einmal angefangen hat, et-
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was unvergängliches in der Seele ist, nur davon kann er sagen, wer so zu ihm komme, den werde nicht hungern, und wer so an ihn glaube, den werde nimmermehr dürsten. Denn so wie wir uns wieder von dem Erlöser entfernen, so fühlen wir auch wieder beide Bedürfnisse des Lebens. Denn wenn wir uns vertiefen in die Sorge der Welt, abgesondert von ihrer Beziehung auf das Reich Gottes und des Herrn, so entsteht so vieles andere in der Seele, was die Kraft den Willen Gottes zu thun und das Reich Gottes zu fördern schwächt, so daß sie einer neuen Stärkung bedarf. Und wenn wir uns vertiefen in das Verkehr mit der Welt, in so fern sie nicht zusammenhängt mit dem Reiche Gottes, so kommen so viele andere verkehrte Gedanken in unsere Seele, daß der | lebendige Glaube an den Herrn wieder immer neue Nahrung und Stärkung bedarf. Aber in so fern wir zu ihm kommen und bei ihm bleiben, so entsteht weder das eine noch das andere Bedürfniß, weil wir dann immer erfüllt sind von der lebendigen Speise, die er allein geben kann. Wenn wir immer bei dem Herrn bleiben könnten, so würde kein Hunger und kein Durst in unserer Seele sein, sondern nur das Bewußtsein, daß unser ganzes geistiges Leben von ihm abhängt. Und das ist dasselbe, was er ein andermal zu seinen Jüngern sagt, Bleibet in mir, denn ohne mich könnt ihr nichts thun, aber mit mir könnt ihr alles thun. Bei ihm bleiben, das stillt allen Hunger und allen Durst der menschlichen Seele und erwekkt in ihr eine beständige Kraft des geistigen und unvergänglichen Lebens und bewirkt, daß wenn wir in dieser Kraft das ewige Leben haben und an ihn glauben, wir zu allen Werken des Menschen Gottes immer geschikkter werden. Aber nun zu ihm kommen und an ihn glauben, das ist die erste und wahre Bedingung des geistigen Lebens; dadurch entsteht uns immer von neuem die unvergängliche Speise und jede Nahrung des Geistes, die das ewige Leben wirkt und kräftig darstellt. An ihn also laßt uns glauben und bei ihm bleiben, damit jeder erkenne, daß Jesus Christus allein der Herr sei, und in seinem Namen sich beugen alle Kniee, und alle gestehen, daß von ihm allein alles geistige Leben ausgeht, welches der Vater seinen Kindern nur durch den giebt und geben kann, in welchem sie erkennen die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater! Amen.
9 das Verkehr] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 1068 vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 783 19–20 Vgl. Joh 15,5 35 Vgl. Joh 1,14
24–25 Vgl. 2Tim 3,17
12–13 neue ... bedarf]
30–31 Vgl. Phil 2,10–11
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Am 7. November 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
21. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 21,15 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 6, 1829, S. 277–300 Wiederabdrucke: Bibliothek deutscher Canzelberedsamkeit,Bd. 20,1835–101838,S. 219–242 – SWII/4, 1835, S. 729–748; 21844, S. 781–801 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 596–612 b. Nachschrift; SAr 89, S. 15r–32v; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers 277
Die schützende Verheißung Christi an seine Kirche. Text.
Lukas 21. V. 15.
M. a. F. Vor wenigen Tagen war der Jahrestag derjenigen Begebenheit, die wir gewohnt sind als den ersten wirklichen und bestimmten Anfang jener Verbesserung der christlichen Lehre und des christlichen Lebens anzusehen, woraus unsere evangelische Kirche hervorgegangen ist; und nach wenigen Tagen wiederum kehrt der Tag wieder, an welchem jener ausgezeichnete Diener Gottes das Licht der Welt erblickt hat, der dieses große Werk auf solche Weise begann, ohne auch nur zu ahnen, wohin dieser erste Schritt führen würde. Wir sind zwar nicht gewohnt, m. g. F., und halten es auch nicht dem Geiste des Christenthums, wie wir ihn erkannt haben, gemäß, das Gedächtniß einzelner Menschen auf besondere Weise zu feiern; sondern, wie viel sie auch gewirkt haben durch die Gnade Gottes, so wollen wir doch die Dankbarkeit gegen Den, der allein Alles wirket in Allen, auch nicht dem Scheine nach irgend ableiten auf seine Werkzeuge. Ja, wir 3–10 Der Reformationstag war 1824 auf den 20. Sonntag nach Trinitatis gefallen; an diesem Tag hatte Schleiermacher keine Hauptpredigt gehalten. Der Geburtstag Martin Luthers ist der 10. November 1483. 15 Vgl. 1Kor 12,6
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in unserem Lande sind auch nicht gewohnt, den Gedächtnißtag des Anfanges der Kirchenverbesserung jährlich zu begehen, indem wir mit Recht voraussetzen können, daß dennoch die ganze Art unseres Gottesdienstes durch das Gepräge unserer Frömmigkeit, ja durch das Wort Gottes in unserer Muttersprache, diese große Erinnerung immer in uns lebendig erhalten wird. Dennoch muß es wohl uns Allen erwünscht | seyn, bisweilen hierauf besonders zurückgeführt zu werden, um in gemeinsamer Dankbarkeit zu erwägen nicht nur, was für großes Heil uns durch diese Begebenheit geworden ist, sondern auch, durch was für göttliche Gaben und was für christliche Tugenden es uns und unseren Nachkommen ist erworben worden. Darauf nun, m. g. F., weisen uns die Worte unseres Textes zurück. Sie enthalten eine Verheißung des Herrn, die er zunächst seinen Aposteln gegeben hat; allein wir dürfen nur jenes Zeitraums, in welchem unsere Kirchenverbesserung zu Stande kam, und der Art und Weise, wie dieß geschehen ist, gedenken, um uns gleich zu sagen: Ja, damals hat der Herr diese Verheißung auf’s Neue erfüllt! Und wir dürfen die ganze Geschichte des Christenthums von seinem ersten Anbeginn her nur in ihren größten Zügen uns einigermaßen vergegenwärtigen: so werden wir gewiß auch immer sagen können: es ist auch immer dieselbe Gabe gewesen, durch welche der Herr seine Kirche zu jeder Zeit aus allen noch so entschiedenen Gefahren errettet hat, so daß wir ihr auch für die Zukunft eben so sehr vertrauen dürfen, wie sie sich in der Vergangenheit bewährt hat; ja nicht nur das, sondern die christliche Kirche wird auch niemals, was ihr auch noch bevorstehe, eine andere Unterstützung von oben zu erwarten haben. So laßt uns denn, m. gel. F., zusehen, ob wir nicht die Verheißung, welche der Herr in unserem Texte seinen Jüngern giebt, als eine solche ansehen dürfen, welche ihnen nicht allein für ihr persönliches Geschäft gegeben war und auch nicht ihren Personen allein galt, sondern, wie schon damals auch sein Blick und seine Rede auf die ganze Zukunft seiner Gemeinde auf Erden gerichtet war, als eine immerwährende und sich immer erneuernde Verheißung. Es kommt aber hierbei, wenn wir sicher seyn wollen, die Worte des Herrn weder in zu enge Grenzen einzuschließen, noch auch mehr hineinzulegen, als er selbst gemeint hat, vorzüglich auf dreierlei an: einmal, was verheißt hier der Herr zunächst? zweitens: was für Umstände sind es, unter denen wir die Erfüllung dieser Verheißung zu erwarten haben? Endlich | aber auch drittens: wem eigentlich verheißt er zu geben, was er hier sagt? Diese Fragen also wollen wir uns nach einander beantworten. I. Also zuerst, indem der Herr seinen Jüngern hier alle Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten vorhält, die ihrer in seinem Dienste
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warten würden, was verheißt er ihnen zu geben? „Ich will euch geben Mund und Weisheit.“ Sehet da, m. gel. Fr., nichts Aeußerliches verheißt er ihnen, keine Hülfe der Gewaltigen auf Erden, keine äußere Macht, die sie für sich würden begründen können, kurz es ist hier gar keine Rede von irgend einer Art äußerlicher Hülfsmittel, durch welche sonst die Menschen sich unter allerlei Gefahren zu schützen oder ihnen zu begegnen pflegen. Doch verstehet mich ja nicht so, m. gel. Fr., als wollte ich dasjenige als etwas Geringes darstellen, was der Herr den Seinigen verheißt, und unserer Betrachtung die mehr als billig beliebte Wendung geben, als ob auch hier der Herr die verborgene Weisheit offenbarte, welche nur durch geringe Mittel Großes auch auf dem geistigen Gebiete auszurichten weiß. Nein wahrlich, sie ist nichts Geringes, diese Kraft der Rede, welche das Erste ist, dessen der Herr hier erwähnt, vielmehr die unmittelbarste und innigste Wirksamkeit des Geistes, der in einem andern nur etwas hervorbringt, indem er sich äußert, ihn nur erregt, indem er sich mittheilt, immer zuerst und zunächst durch die Rede. Daher auch die heilige Schrift selbst das ursprünglich schaffende Werk der göttlichen Allmacht nicht besser zu bezeichnen wußte, als, indem sie sagte: Gott sprach, so ward es; Gott gebot und es geschah also, und zu einer höheren Darstellung des höchsten Wesens haben es die Menschen nie bringen können, als daß Wort und Gedanke desselben zugleich Werk sey und That. Und eben so wirkte die Fülle der Gottheit in Christo in den Tagen seines Fleisches; nicht nur verrichtete er fast immer jene wunderbaren Hülfsleistungen, welche auszuüben ihm verliehen war, auch durch das bloße Wort seines Mundes, die wunderthätige Kraft erschien nicht nur in dem gebietenden Tone seiner Rede, sondern auch die beseligenden Wirkungen seines Daseyns | bedurften keiner anderen Zurüstungen, als der Unmittelbarkeit des Wortes. Durch die Worte, die er redete, theilte er Geist und Leben mit, Fleisch war ihm dazu kein Nutz. Die Worte des Lebens, die er hatte, waren die geheimen Bande, wodurch er diejenigen festhielt, die er schon gefunden hatte, und diejenigen erschütterte, welche gestehen mußten: so habe noch kein Mensch geredet, wie dieser. Und der Geist Gottes, als er sich auf die Jünger Christi herabließ, war es nicht sein Erstes, daß er ihnen den Mund öffnete und ihnen Kraft und Rede gab, um in allerlei Zungen zu verkündigen die großen Thaten des Herrn? So ist es demnach; uns Christen ist die Kraft der Rede schier Alles. Das Wort ist das Element, in welchem wir leben und durch welches wir wirken. Denn demjenigen, der selbst das Wort heißt und den wir auch Alle kennen als das leben19–20 Vgl. Gen 1,1–30 37 Vgl. Apg 2,1–11
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dige Wort seines und unseres himmlischen Vaters, dem gebührte es auch vor allen Anderen, die Seinigen auszurüsten mit der Kraft des Wortes und der Rede. Aber freilich, und das bezeugten auch schon die Apostel des Herrn, giebt es auch eine menschliche Kraft und Kunst der Rede, welche mit jener auf keine Weise verglichen werden kann, ja unwürdig ist, im Reiche Christi und zu seinem Dienste gebraucht zu werden, eine Kraft der Rede, welche nicht nur durch schöne und wohlgesetzte Töne das Ohr und mittelst des Ohres die Sinnlichkeit des Hörers anlockt und kirrt, sondern auch durch künstlich zusammengefügte und zum Behuf einer oberflächlichen Ueberredung abgeschliffene Gedanken das gesunde Urtheil für den Augenblick gefangen nimmt und im Rausche einer sich leicht mittheilenden falschen Begeisterung das trotzige oder verzagte Herz bethört und verführt. Diese für unkundige und unbewachte Seelen gefährliche Kunst kommt freilich nicht von oben. Was der Herr mittheilt, ist nur jene ungeschminkte Kraft der Rede, die auf nichts Anderes sich verläßt, als auf die Wahrheit, und keiner anderen Hülfsmittel bedarf, als nur der Schärfe und Genauigkeit eines die Wahrheit suchenden Geistes, und des lebendigen Eifers, der einem von der Wahrheit erfüllten Gemü|the natürlich ist, jene Kraft, mit der sich keine andere Schönheit verbinden will, als die schlichte und natürliche, die das selbst Gesehene und Empfundene in den einfachsten und angemessensten Worten wiedergiebt. Die Apostel aber, m. g. Fr., wenn sie sich diese Aufgabe stellten, mußten wohl ausrufen: woher Brodt nehmen in der Wüste? und bedurften, um sie zu lösen, eines mächtigen Beistandes. Denn, bedenket nur, was sie verkündigen sollten, war die Botschaft von einer durch Opfer und Gaben nicht zu vollbringenden Versöhnung; es war die Lehre von der Zurückführung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott durch den lebendigen Glauben an Denjenigen, in welchem göttliches Wesen und menschliche Natur mit einander verbunden war, es war die Lehre von einer höheren geistigen Gerechtigkeit, die aber in dem Menschen nur könne bewirkt werden, indem er, jenem göttlichen Erlöser ähnlich, aus dessen Geist geboren eine neue Kreatur würde; von dieser neuen Schöpfung zu einem höheren Leben, nachdem der Mensch dem alten abgestorben wäre, todt dem Gesetze sowohl, als der Sünde, und dazu hatten sie nur Sprachen, in denen bisher, mit Ausnahme dessen, was der Erlöser selbst darin geredet hatte, nichts Menschliches dargestellt worden war, als eben jenes dem Untergange geweihte Leben. Wenn die eine von ihnen so sehr für das Gesetz des Buchstaben und durch dasselbe gebildet war, daß Alles in ihr nur eine äußerliche Bedeutung 4–14 Bezug unklar, evtl. Röm 16,18; Kol. 2,4,8
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gewonnen hatte, so war die andere so sehr einem von der äußeren Natur begünstigten, sinnlich fröhlichen und leichten Leben gewidmet, und wenn sie nicht ohne große Mühe und Anstrengung allerdings auch dazu war ausgebildet worden, tiefsinnige Forschungen solcher Männer auszudrücken, deren Vernunft nach dem Höheren strebte, und vielleicht so viel davon erreicht hat, als ihr möglich ist: so lag dieses wiederum ganz außerhalb des Kreises der Unmündigen und Ungelehrten, an welche der Ruf des Evangeliums erging. Was für eine Kraft bedurften also die ersten Verkündiger des Christenthums? Sie mußten, unbekümmert um Schönheit und Anmuth, den Sprachen, welche sie fanden, einen neuen Geist einhauchen, das | Aeußerliche zu dem Innerlichen zurückwenden, das Sinnliche zu dem Geistigen erheben; solchen Mund mußte ihnen der Herr geben, wenn sie mit solchen Mitteln die größte aller Thaten Gottes, die Erlösung, verkündigen sollten! Aber dasselbige Bedürfniß, m. g. F., trat auch wieder ein in jenen Tagen unserer deutschen Kirchenverbesserung. Denn es hatte sich alles Verderbliche und Verkehrte der vorchristlichen Zeit allmählig wieder eingeschlichen in das Leben und so auch in die Sprache. Unter Buße verstand man willkürliche Uebungen und Peinigungen, unter Glauben ein todtes Wissen und Nachsprechen unverstandener Formeln, und unter Liebe eine Menge von großentheils unfruchtbaren äußerlichen Werken. Da war also wieder eine Gabe der Sprache nöthig, um diesen herabgewürdigten Tönen ihren eigenthümlichen Gehalt wieder zu geben, den inneren Menschen durch sie anzuregen, und den Trost des Evangeliums wieder in Umlauf zu bringen. Und weil die Boten selbst nicht mehr so beweglich waren, wie in den Zeiten der ersten Jüngerschaft: so mußte das Wort beflügelt werden, um sich schnell zu verbreiten von einem Ende des Landes zum anderen. Vor Allem aber that noth, daß die heilige Schrift selbst in den eigenen Zungen der Völker redete, um Allen zugänglich und immer gegenwärtig zu seyn. Und so haben die Männer Gottes der damaligen Zeit der christlichen Frömmigkeit unter unserem Volke eine Sprache gebildet, in der wir uns, was sich auch sonst ändere, immer verstehen über die großen Bedürfnisse des Geistes, und in der sich hell und klar die einfache Lehre von der Rechtfertigung des Menschen durch den Glauben und im lebendigen Zusammenhange mit dem Sohne Gottes, von allen Träumereien der Menschen und allem verkehrten Wahn der äußeren Werkheiligkeit sondert. – Aber damit dieses geschehen konnte, mußte es auch eine züchtigende Kraft der Rede geben, um das Ver8–9 eine Kraft bedurften] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 783
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kehrte kenntlich zu machen und zu scheiden, um die Hoffahrt zu demüthigen und den Wahn in seiner Blöße darzustellen. | Milder tönte sie aus dem Einen, schärfer schmetterte sie aus dem Anderen; aber Mund gab der Herr auf alle Weise, um, wie und wo es noth that, auf der einen Seite zu schützen und abzuwehren, auf der anderen zu läutern und zu lehren, damit das Wort des Lebens dem Herzen der Menschen näher gebracht und ihr Verstand mit demselben wieder befreundet würde. Das Zweite aber, was der Herr seinen Jüngern verhieß, war Weisheit. O welch’ großes und edles Wort! und gewissermaßen stimmen auch Alle darin überein, was es bedeutet; Alle verstehen darunter die Zweckmäßigkeit und Tüchtigkeit des menschlichen Thuns; aber freilich was nun richtig sey und welches die wahren Zwecke, darüber theilen sie sich. So kennen wir denn wohl Alle eine gar bunte und zusammengesetzte menschliche Weisheit. Eines genügt ihr nicht als Zweck, sondern von Allem Etwas, hie ein wenig und da ein wenig; und so hat sie auch hier eine Regel und dort eine Regel, nicht Eine Richtigkeit des Thuns, sondern für jeden Fall etwas Besonderes; und auf diese Weise, ohne je sich selbst gleich zu bleiben, denkt sie sich durch alle Schwierigkeiten und Hindernisse durchzuwinden. Aber das sehen wir wohl leicht, daß diese Weisheit, welche den Menschen seinen Weg nicht gerade verfolgen läßt, sondern ihn in den verworrensten Richtungen umhertreibt, nicht die Weisheit ist, die Gott den Unmündigen offenbart hat, nicht die Weisheit, die in einem Gott ergebenen Herzen wohnt. Wohl! wenn doch aber der Herr auch dieses gegeben hat, wie er es verhieß, was hatten denn seine Jünger für eine Weisheit? Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes, und das Uebrige laßt gehen, wie es kommt. Das ist die schlichte Weisheit, nach dem Einen allein streben, was noth thut, und ganz einfältig an dem Einen hängend, sonst weder Kleines noch Großes achten oder verachten, und sich immer da halten, wo dieses Eine zu finden ist. Wo sollten wir hingehen? Du allein hast Worte des Lebens. Und wie dieß ihr einfacher Zweck ist, so hat auch die göttliche Weisheit nur eine einfache Richtigkeit des Thuns, nämlich: Was ihr thut, was eben vor euch liegt, das thut, ohne rechts oder links zu se|hen, nur schlichtweg zur Ehre Gottes; verkündiget durch Alles Den, welcher uns gebracht hat zu seinem wunderbaren Lichte. Wir glauben, darum reden wir; die Liebe Christi dringet uns also, wir können nicht anders. Das ist die Weisheit, welche der Herr, seiner Verheißung gemäß, seinen Jüngern 27–28 Vgl. Mt 6,33 31–32 Vgl. Joh 6,68 37 Vgl. Ps 116,10. Hier übersetzte Luther „Ich glaube, darum rede ich“ (vgl. 2Kor 4,13, wo Paulus der Septuaginta folgt). 37–38 Vgl. 2Kor 5,14
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gegeben hat; mit dieser ausgerüstet haben sie, jeder nach seinem Maße, gearbeitet in seinem Werke, und durch diese hat sich das Reich Gottes gebauet von Anfang an. Und nur mittelst dieser Weisheit ist auch das gesegnete Werk unserer Kirchenverbesserung zu Stande gekommenen. Ja man hat damals recht sehen können, was der Apostel sagt, daß auf denselben Grund der Eine mit festen Steinen bauen könne, der Andere aber Lehm und Stroh, des Einen Werk aber bestehe dann, das aber des Anderen vergehe, wenn auch er selbst gerettet werde. Denn die sich an jener schlichten Weisheit begnügen ließen, die haben das Werk Gottes wahrhaft gefördert; die aber mit weltlicher Klugheit verkehren wollten, hie und da auch gegen ihre bessere Ueberzeugung etwas nachlassen, um eines falschen Friedens willen, oder die etwas Heilsames zu erreichen suchten auf krummen Wegen, deren Werk ist vergangen, so gut sie es auch mögen gemeint haben. Jene Anderen hingegen, die eben, weil sie nicht anders konnten, als so handeln, auch die Teufel auf den Dächern nicht zählen wollten, haben auch von solchen Widersachern nicht unterdrückt werden können, welche zu den würdigsten Schülern jener beweglichen menschlichen Weisheit gehörten, auch wenn diese noch die Macht in Händen hatten oder auf ihrer Seite. Und das ist auch der Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit gemäß. Denn bei den Einen ist Sicherheit und Muth, bei den Anderen aber Bedenklichkeit und Mangel an Vertrauen; und so wie jenes auch Andere begeistert, so im Gegentheil hält dieses zurück, und macht, daß sie hinter sich gehen. Daher wird auch nie etwas Großes im Reiche Gottes geschehen, wenn der Herr nicht diese Weisheit dazu verleiht. Jene Kraft der Rede aber, und diese Weisheit und Richtigkeit des Thuns, hat der Herr seinen Jüngern auf eine solche | Weise verheißen, daß ihnen nicht sollten widersprechen mögen, noch widerstehen, alle ihre Widersacher. Wie, m. g. F., ist denn dieses Wort jemals in Erfüllung gegangen? hat der Herr seinen Jüngern mehr verheißen und mehr durch sie geleistet und leisten wollen, als er selbst geleistet hat? Er war das Wort und die Weisheit; aber wie sehr erfuhr er nicht das Widersprechen der Sünder, und wenn sie ihm auch nicht mehr widersprechen konnten, wie widerstanden ihm nicht seine Widerwärtigen! so daß er selbst und seine Jünger es gleichsam als ein Kennzeichen seiner Weisheit und seiner Wahrheit aufstellten, daß sie den Weisen dieser Welt eine Thorheit sey, und daß nur diejenigen ihr nicht widersprächen, die, menschlich angesehen, auch die wenigste Kraft zum Widerstande hatten, nämlich die dafür für unweise und thöricht ge40 für unweise] weise 6–9 Vgl. 1Kor 3,12–15
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halten würden von der Welt. Hätte aber der Herr selbst nicht diesen Widerspruch erfahren, wie wäre die Schrift erfüllt worden? Hätte die Verkündigung der Apostel nicht bald Lästerung, bald Spott rege gemacht unter Heiden und Juden, wovon wir in ihrer Geschichte und ihren Briefen so viele Spuren finden, woher wären ihnen die Trübsale gekommen, die doch ihr Meister so bestimmt vorhersah, und auf die er sie so sorgfältig vorbereitete? Hätte nicht rohe Gewalt auch blutig gewüthet: wie hätte sich die Kraft des Glaubens im Bekenntnisse verherrlichen können? Hätten nicht von den ersten Zeiten des Christenthums an eine Fülle von Witz und Verstand, von Kenntnissen und Gelehrsamkeit gegen dasselbe aufgeboten, wie hätten dann Mund und Weisheit der Seinigen ihre ganze Kraft offenbaren können? Und sollte es etwa in jenen späteren Zeiten der Reinigung der Kirche anders gegangen seyn? Ich glaube nicht, daß wir das wünschen könnten. Denn auch damals haben Widerspruch und Widerstand aller Art den Sieg der Wahrheit nicht nur verherrlicht und in das rechte Licht gestellt, sondern wirklich auch vergrößert und vervollständigt. So demnach kann es auch der Erlöser nicht gemeint haben mit dieser Verheißung, daß alle Widerwärtigen nicht sollten im Stande seyn, seiner Jünger Mund und Weisheit zu widersprechen und | zu widerstehen. Redet er doch auch oft genug von Zeit und Stunde zur völligen Aufrichtung seines Reiches, welche der Vater seiner Macht vorbehalten habe; und wenn er gleich diese Zeit nicht bestimmt, so giebt er sie doch zu, so daß wir unmöglich glauben können, er habe jemals auch nur vorübergehend den Gedanken gehabt, die Pflanzung und Befestigung seines Reiches könne so gleichsam ein Werk des Augenblicks seyn, daß Kommen, Reden und Siegen seiner Boten Eins wäre, wie es ja hätte seyn müssen, wenn Widerstand und Widerspruch nicht gewesen wären. Vielmehr gehört es mit zum Fleischgewordenseyn des göttlichen Worts, daß es Zeit bedarf, um den Raum zu durchwandeln und wirklich einzunehmen, daß es in menschliche Mißverständnisse und menschlichen Streit muß verwickelt werden, um zu einer festen Herrschaft über die Gemüther zu gelangen. – Aber nicht nur hat es Christus selbst nicht so gemeint, sondern auch keiner unter seinen Jüngern hat seinen Worten die Deutung gegeben, als ob auch der größten Kraft und Fülle von Mund und Weisheit ein so leichtes Werk verheißen würde. Dachten sich auch viele von den Christen jener ersten Zeit den Tag der Herrlichkeit des Herrn und also auch der Vollendung seines Werks viel näher: so haben sie sich doch nie in kurzsichtiger Verblendung die Schwierigkeiten verbergen wollen, mit denen sie selbst zu kämpfen hatten. Zweierlei aber haben sie gewiß Tröstliches und Er21–23 Vgl. Apg 1,7
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munterndes in diesen Worten Christi gefunden. Das Eine ist dieses, daß alle Widerwärtigkeiten aller Zeiten und Orte zusammengenommen aller Kraft und Weisheit der Verkündiger des Evangeliums zusammengenommen nicht können Widerstand leisten, daß also, wie wechselnd auch die Begegnisse des Reiches Gottes auf Erden seyn mögen, ein endlicher und allgemeiner Sieg desselben zuversichtlich zu erwarten ist, und daß dieser durch nichts Anderes, nicht durch den Vorschub, den menschliche Gewalt geben kann, nicht durch irgend eine Aussicht oder Hoffnung, welche die Sinnlichkeit der Menschen reitzt und anlockt, gewonnen werden soll, sondern nur durch Mund und Weisheit, die der Herr verleiht. Das ist das Wort, | daß auch die Pforten der Hölle nicht vermögen sollen, die Gemeine Christi zu überwinden; und dieses ist immer der Trost aller derer gewesen, welche auf das Heil ihres Geschlechtes hofften. Um aber diesen Sieg herbeizuführen, das laßt uns nicht vergessen, sind, bei dem allgemeinen Gange aller menschlichen Dinge, Ereignisse von solcher Art, wie unsere Kirchenverbesserung, unentbehrlich. Denn immer schleicht sich wieder Unreines und Verkehrtes ein; die vereinzelten, ununterbrochen fortgehenden Bemühungen dagegen fruchten nicht genug, und dann kommen Zeiten, und noch oft wird sich das wiederholen, wo der Kampf heftiger wird und allgemeiner, und wo auch größere Gaben von Mund und Weisheit gebraucht werden. – Das Zweite aber, was wir in dieser Beziehung in unseren Worten Christi finden, ist dieses: daß kein Widerstreben der Widerwärtigen jemals hat hindern können, daß nicht auch jeder Einzelne, der sich wirklich seinem himmlischen Meister zum Werkzeuge hingab, auch etwas ausgerichtet und irgend eine Frucht gebracht hat. Und hat etwa jemals irgend ein Diener des Erlösers mehr gehofft, oder sich eingebildet, mehr leisten zu können? Ist nicht jeder immer zufrieden gewesen, wenn es ihm gelang, dem Herrn auch nur ein Kleines beizutragen, nur ein Scherflein zu geben, dessen Gehalt zwar im Ganzen verschwindet, welches aber doch ihm selbst zum Zeugnisse gereicht für seine Treue und seinen guten Willen. Und anders kann es ja auch nicht seyn, da jeder Einzelne so gut, wie Alle insgesammt, nichts Geringeres will und anstrebt, als das ganze Reich Gottes. Was waren wohl die ersten Gemeinen in Jerusalem und der Umgegend gegen die feurigen Wünsche der Eilf für ihr gesammtes Volk? Was waren alle die großen Dinge, die dem h. Paulus gelangen, im Vergleich mit den rastlos sich erweiternden Entwürfen seiner heldenmüthigen Seele? Und die Diener Gottes vor dreihundert Jahren, wünschten sie nicht auch unseren ganzen Welttheil befreien zu können von dem wieder aufgelegten und immer drückender gewordenen Jo11–13 Vgl. Mt 16,18
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che der äußeren Werke und Gebräuche? Wie nun aber allen diesen, denen das Herz groß | war und angeschwellt von Gedanken der Liebe, doch Einiges gelang, und sie, das Weitere Gott anheimstellend, sich auch damit begnügten und Gott von Herzen dankten für jede Thüre, die Gott ihnen öffnete: so wird es auch keinem Einzelnen unter uns, wie weit er auch davon entfernt sey, eine eben so ausgezeichnete Stelle wie Jene in der Kirche Christi einzunehmen, doch wird es Keinem, der das ganze Werk Gottes mit inbrünstigem Herzen beachtet, jemals fehlen, daß nicht auch durch ihn etwas geschehen sollte, das die Widerwärtigen nicht hemmen können und woran ihr Widerstreben zu nichte wird. Tragen wir doch Alle bei, das göttliche Wort und die darauf gebaute Gemeine den künftigen Geschlechtern zu überliefern, und das können die Widerwärtigen nicht wehren. Und wollen wir nur Alle beitragen, ächt evangelischen Sinn und Geist frei von Entstellungen und Verkehrtheiten darzustellen und aufrecht zu halten: so wird auch darin Jeder etwas ausrichten können, dem sie nicht vermögen, zu widersprechen. Doch immer wird dieß nur geschehen können durch Mund und Weisheit, welche der Herr giebt. Und damit wir uns in dieser Hoffnung noch zuversichtlicher befestigen und sie uns noch genauer bestimmen, so laßt uns nun II. sehen: ob wir dieß für eine beständige Verheißung einmal für immer anzusehen haben, daß der Herr seinen Jüngern diese Gabe des Mundes und der Weisheit verspricht, oder ob er sie nur in Beziehung auf gewisse Umstände gegeben hat? Sehen wir auf den unmittelbaren Zusammenhang in den Worten unseres Textes: so müssen wir uns wohl für das Letztere entscheiden. Christus sagt seinen Jüngern vorher, wie sie in der Erfüllung ihres Berufs würden zur Verantwortung gezogen werden und umhergeführt in den Schulen und Lehrhäusern, wie sie sich würden vertheidigen müssen vor Königen, Fürsten und Obrigkeiten auf der einen Seite, vor Priestern und Schriftgelehrten auf der anderen; in diesen Tagen der Verantwortung aber, so tröstet er sie dann, sollten sie nicht bange seyn, denn es werde ihnen gegeben werden Mund und Weisheit. Ja, auch | unsere bisherige Rede hat nächst dem die Worte des Herrn doch vorzüglich nur angewendet auf jene ausgezeichnete Tage der Erneuerung des Glaubens, die auch nicht ohne Schmach und Verfolgung waren, und wo es auch die Kraft der Verantwortung galt vor weltlichen und geistlichen Richtern. Und so scheint es, wir müssen uns begnügen, wenn die Verheißung des Herrn 37 galt] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, 1775, Sp. 536 26–31 Vgl. Lk 21,12–15
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sich uns erfüllt in besonderen Zeiten, sowohl der Gefahr und der Sichtung, als auch eines kräftigeren Antriebes zu einer schöneren Gestaltung der Lehre und des Lebens. Auf der anderen Seite aber, m. g. F., müssen wir doch ohne alle Rücksicht auf dieses Wort der Verheißung dieses eingestehen, daß Beides: Mund und Weisheit, beständige Gaben des Herrn in der christlichen Kirche seyn müssen. Oder ist es möglich, daß der göttliche Geist, der in alle Wahrheit leiten soll, in der Gemeinde lebte und sie beseelte, ohne daß er sich irgend zeige in richtiger Lehre und kräftiger Ermahnung? Ist es möglich bei diesem wohlgefügten Zusammenseyn der Starken und Schwachen, der Mündigen und Unmündigen, daß die Einen zwar Ohr und Herz geöffnet haben, der Mund der Anderen aber schweige? Kann der Geist des Herrn in der Gemeinde der Gläubigen walten, ohne daß sie weiser hervorginge aus allerlei Prüfungen und Erfahrungen, und ohne daß er sie befreite von aller Thorheit und also auch von der falschen Weisheit der Kinder dieser Welt? So müssen wir demnach Mund und Weisheit schon immer haben unter uns. Gewiß, m. g. F.; was aber der Herr mit den Worten unseres Textes in diesem besonderen Zusammenhange meint, ist dieses. Wenn nun seine ganze Gemeinde ausgerüstet war mit diesen Gaben des göttlichen Geistes, so daß sie sich, ihres ruhigen Weges fortgehend, zur Genüge bauen könnte und zur Vollkommenheit heranwachsen: so konnte nun um so leichter, wenn diese Stille plötzlich verschwand und solche Zeiten der Verfolgung[,] des Streites und der Verantwortung kamen, wie er hier beschreibet, bei den Gläubigen eine Besorgniß entstehen: ob auch das, was sie schon immer brauchen, um die täglichen immer wiederkehrenden Bedürfnisse zu befriedigen, auch für so | außerordentliche Fälle hinreichend seyn werde, und ob sie sich dann nicht vielmehr nach Hülfsmitteln von einer anderen Art umthun müßten, um dem mit Erfolge zu wehren, was sich von außen gegen sie und gegen die Sache des Erlösers erhebt? Da that es allerdings wohl noth, daß der Herr, um allem Unheil vorzubeugen, das aus so verkehrten Unternehmungen hätte entspringen müssen, ihnen sagte: auch dann möchte ihnen nicht bange seyn, es würde ihnen, was sie bedürften, gegeben werden, aber es sey nur auch wieder nichts Anderes, als Mund und Weisheit. Gestehen wollen wir aber gern, daß sie ein solches Wort der Verheißung bedurften. Denn es war nichts Geringes, wenn sie sich plötzlich herausreißen sollten aus dem auch mühseligen und arbeitvollen Kreise ihres Berufes zu ganz anderen Geschäften. Sie hatten das Amt, die Versöhnung zu predigen, und die 36 ein ... bedurften] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 783 7 Vgl. Joh 16,13
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Menschen an Christi Statt zu bitten, daß sie sich möchten versöhnen lassen mit Gott. Darin schafften sie nun bald viel, bald wenig, mit der Kraft der Rede und mit der schlichten Weisheit, worin ihr Meister sie unterwiesen und ihnen das Beispiel davon gegeben hatte. Aber hierbei hatten sie es doch immer auf die Länge nur mit Menschen zu thun, welche Lust und Geduld hatten, sie anzuhören, und von denen sie also, je länger sie aushielten, mit desto größerem Rechte hoffen durften, sie würden, von der Wahrheit ihrer Rede ergriffen, Buße thun und glauben. Sie hatten das Amt, über den Gemeinden zu wachen, sie zu ermahnen und zurechtzuweisen, ja, wo es noth that, auch sie zu züchtigen und eine heilsame Betrübniß in ihnen zu erwecken. Aber Alle, in Bezug auf welche ihnen dieses oblag, hatten doch Vertrauen zu ihnen und betrachteten sie als Gesandte und Dolmetscher eines höheren göttlichen Lehrers. Aber ganz etwas Anderes war es, wenn nun Gewalthabende gegen das Evangelium aufstanden, wenn sie nun aus dieser geschäftigen Stille hervorgehen sollten in ein feindseliges Getümmel, Rechenschaft ihres Glaubens ablegen vor Solchen, die schon im voraus abgeurtheilt hatten über diesen neuen Weg, sich gegen falsche Beschuldigungen verantworten vor Solchen, die schon | Rache und Zerstörung schnaubten, weil sie von der neuen Lehre solche Veränderungen in dem Leben der Menschen befürchteten, die sie nicht glaubten eintreten lassen zu dürfen. Wenn wir uns dieß recht vergegenwärtigen: wollen wir es den Gläubigen jener Tage verargen, daß sie eines solchen ausdrücklichen Wortes der Verheißung bedurften, das heißt, daß sie, wenn sie es nicht gehabt hätten, wohl würden in Versuchung gewesen seyn, sich eine andere Vertheidigungskunst zu wünschen, als die mit diesen einfachen Waffen des Geistes? Und hieran, m. a. F., laßt uns eine unpartheiische Erwähnung knüpfen, die uns in diesen Zeiten sehr nahe liegt, ich meine die Beschuldigung, welche so häufig unseren Mitchristen von der römischen Kirche gemacht wird, daß sie sich im Streite gegen uns, in dem Bestreben, uns wieder zu sich hinüber zu ziehen, unrechter Waffen und unwürdiger Mittel bedienen. Weder will ich die Thatsache untersuchen, denn das gehört nicht hierher, noch auch unter Voraussetzung derselben den Tadel abweisen, wohl aber unser Urtheil über die Sache etwas genauer bestimmen, damit wir auch hier nicht zu scharf und ungerecht richten. Wenn schon der Erlöser es als möglich voraussetzt, weil er ja sonst nicht nöthig gehabt hätte zu verheißen – daß jene ersten Zeugen, die in ihrem Geschäfte innerhalb der Kirche von nichts Anderem wissen wollten, als von Mund und Weisheit des Herrn, dennoch, sobald sie in einen äußerlichen Streit geriethen, auf den Gedanken hätten kommen können, noch andere Hülfsmittel anzuwenden: wie viel Milderndes kommt dann in diesem Falle zu statten. War es doch
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leider lange vorher schon nicht ungewöhnlich bei Verkündigung des Evangeliums unter heidnischen Völkern auch andere Mittel zu Hülfe zu nehmen neben der Kraft der Rede. Hatte man doch schon öfter aus guter Meinung und unterstützt von angesehenen Lehrern, denen auch wir billige Verehrung zollen, gegen Solche, die von dem hergebrachten Glauben mehr oder weniger abwichen, mit Leibesstrafen gewüthet. Also waren sie in alter, freilich nicht löblicher, noch dem Sinne Christi gemäßer Gewohnheit und Ue|bung, und behandelten auch diese Bewegungen in der Kirche nur so, wie sie immer gepflegt hatten, jedes Mittel für das beste haltend, welches ihnen das wirksamste schien. Und es wäre wohl wunderbar gewesen, wenn sie dadurch auf einen richtigeren Weg wären geleitet worden, daß aus den Bestrebungen jener Diener Gottes, ohne daß Einer von ihnen es eigentlich gewollt hätte, durch den Lauf der Begebenheiten unter göttlicher Zulassung dieses Unerwartete entstand, daß sich eine neue christliche Gemeinschaft bildete neben der alten. Und immer noch können sie sich bei dieser Trennung nicht beruhigen, sondern halten es für ihre Pflicht, uns zu sich hinüber zu ziehen. Brauchen sie nun aber andere Mittel, als wahrhaft christlichen Mund und Weisheit: nun so wollen wir brüderlich ihnen ihr Unrecht zeigen, aber sie nicht zu streng richten. Sie halten sich eben nicht so ausschließend an die Worte Christi, sondern zu sehr an die Weise der Vorfahren; sie denken, Gottes Gnade könne auch solchen Bemühungen Gedeihen geben, und wenn ihnen selbst wohl klar seyn muß, daß auf diese oder jene Weise keine eigentliche Ueberzeugung kann bewirkt werden, dazu sind auch die Eltern nur halb gewonnen, doch die Nachkommen ihnen wieder ganz angehören werden. Und hören wir nicht eben dieses oft genug auch von den Unsrigen, wenn sich uns in einzelnen Fällen die Bemerkung aufdringt, daß wohl Manche aus dem Volke des alten Bundes nicht aus rechter Ueberzeugung, sondern aus anderen Gründen, zur christlichen Kirche übergehen? Darum laßt uns auch hier den sicheren Weg der Liebe einschlagen, welche nicht richtet. Nur daß wir ja dabei bleiben, auch in diesem guten Streit und Kampf unsrerseits keine andere Waffen zu gebrauchen, als eben diese, mit welchen Christus in unserem Texte die Seinigen auszurüsten versprochen hat. Was nun aber aus jenem und aus diesem in Beziehung auf unsere Frage folgt, das scheint mir Folgendes zu seyn, und ich wünsche, daß ihr es mit mir finden möget: Mund und Weisheit, wie Christus es hier meint, können wir freilich in seiner Kirche niemals entbehren. Jeder bedarf dieser Gaben des Gei|stes in seinem häuslichen Kreise oder in seinem geselligen oder öffentlichen Leben, gestalte es sich auch, wie 18 sie] Sie
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es wolle, wenn er anders auch nur irgend etwas ausrichten will für den Weinberg des Herrn. Je außerordentlichere Umstände uns aber einzutreten scheinen, je schwieriger uns die Lage der Kirche bedünken will: um desto dringender wird die Versuchung, daß wir uns gleichsam Erlaubniß erbitten möchten, auch andere Kräfte in Bewegung zu setzen; wenn wir auch nicht gerade wollen Feuer vom Himmel regnen lassen, wie jene beiden Jünger über die Samariter. Der Herr nun strebt schon selbst dem entgegen und verweiset uns auch für alle außerordentlichen Fälle eben wie für den täglichen Gebrauch nur an Mund und Weisheit; und wie sein Reich immer und überall von jener Welt ist, so soll auch immer und überall dafür nur mit solchen Waffen gekämpft werden, welche von jener Welt sind, in welcher es weder sinnliche Lockungen giebt, noch sinnliche Furcht, sondern nur Geist und Leben, Wahrheit und Gerechtigkeit. Für uns aber wird es, um so wenig als möglich von dem rechten Wege zu weichen, weislich gehandelt seyn, wenn wir jene Versuchung nicht an uns kommen lassen. Laßt uns also ja nicht zu leicht und zu zeitig, was uns in unserer kirchlichen Gemeinschaft zur Verantwortung oder zum Streik auffordert, für außerordentlich und ungewöhnlich halten, und uns dann besorgt und ängstlich umsehen: ob nicht auch etwas Außergewöhnliches und Besonderes zur Hülfe erscheinen werde, was mehr sey, als Mund und Weisheit? Möchten wir es Alle so halten auch in Beziehung auf die jetzigen Erscheinungen in der christlichen Kirche überhaupt und in unserer evangelischen insonderheit, die uns oft so schmerzlich bewegen. Frage doch Jeder, so viel er thun kann, darnach, wie es von jeher in der Gemeinde Christi gewesen ist! Und wem die Quellen der älteren Geschichten nicht zugänglich sind, wiewohl hierüber unsere städtischen Gemeinden wohl wenig Entschuldigung haben möchten, wenn der doch nur forschte aus den Quellen der mündlichen Ueberlieferung, was auch nur seit Menschengedenken geschehen ist! Auf diese Weise würde sich Jeder leicht | überzeugen, daß nichts Neues geschieht unter der Sonne, und dann um desto leichter sich der frohen Zuversicht überlassen, daß auch in jetzigen und künftigen Fällen, um die Sache Christi wahrzunehmen, werde auszureichen seyn mit Mund und Weisheit; und daß, wenn jeder Einzelne und jedes Geschlecht nur treu haushält mit dem, was ihm verliehen ist von dieser Gabe, wir auch dann, wo es noth thut, so werden über Mehreres gesetzt werden, daß es niemals in seiner Gemeinde an wohlgeübten Streitern fehlen wird, welche diese allein von dem Herrn gesegneten und geweiheten 34 auszureichen seyn] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 624 6–7 Vgl. Lk 9,54
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Waffen so zu handhaben wissen, daß eben, wie vor dreihundert Jahren Lehre und Leben sind gereinigt worden und eine Gemeinde entstanden ist, welche das Joch der Menschensatzungen großentheils abgeworfen hat, so auch die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit immer unter uns wird erhalten werden, und aller Ansatz zu Spaltungen besiegt durch die Einigkeit im Geiste.
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III. Um nun aber nichts zu übergehen, so vergönnt mir noch ein paar Worte über unsere letzte Frage zu sagen, wiewohl es scheinen kann, als ob sie durch das Vorige auch schon beantwortet sey. Es war nämlich diese: wem denn eigentlich Christus diese Verheißung gab, und wer sie sich also auch für die Zukunft anzueignen habe und wer nicht? Nun aber haben wir uns schon darüber verständigt, daß Mund und Weisheit nothwendig seyn müssen, wo der Geist Gottes ist, und so gewinnt es demnach das Ansehn, als sey schon gesagt worden: Jeder dürfe und solle sich diese Verheißung aneignen. Allein ganz ist dem doch nicht also. Denn der Geist Gottes ist zwar überall in der Gemeinde, aber alle seine Gaben sind deßhalb nicht in jedem Einzelnen; Mund und Weisheit aber sind auch solche. Und braucht sie jeder Einzelne in seinem Kreise, ohne sie selbst zu haben: so sind wir ja eben dazu ein Leib aus vielen Gliedern, daß Jeder sich des Anderen bedienen kann, und dazu sind überall in den Gemeinden Einige Propheten und Lehrer, Andere sind Helfer und Regierer, wenn sie auch nicht den Namen davon führen. Außerdem aber haben wir doch unterschieden zwischen dem | gewöhnlichen Maß von Weisheit und Kraft der Rede, wie es immer und überall soll zu finden seyn, und zwischen jenem Höheren, welches uns zunächst der Gegenstand der Verheißung in unserem Texte zu seyn schien. Wie ist es nun mit diesem? ist es wie nur für gewisse Zeiten so auch immer nur für einige Wenige verheißen, und für welche? Um uns diese Frage zu beantworten, wäre wohl das Erste und Nächste, daß wir wissen müßten, wie es denn ursprünglich gewesen, ob Christus, indem er dieses sprach, nur zu den Zwölfen geredet hat oder auch zu Anderen? und wenn nur zu ihnen, ob auch nur von ihnen, oder ob er außer ihnen auch noch Andere gemeint hat. Aber leider vermag wohl Niemand, hierauf bestimmte Antwort zu geben. Nur das wissen wir, daß auch Paulus, der doch nicht unter den Zwölfen war, zu denen Christus redete, doch Mund und Weisheit gehabt hat in diesem höheren Maße, ja auch Stephanus, der nicht einmal, wie jener, späterhin den Aposteln ist zugezählt worden. Und das zeigt wohl die Folge deutlich genug, daß die Apostel je länger, je weniger darauf gehalten haben, daß ein irgend fester Unterschied bestände zwischen ihnen und anderen ausgezeichnet begabten Männern in der Gemeinde. Aber ist nicht das schon
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klar, daß wenn wir nicht wissen, auf wen Christus diese Verheißung erstreckt hat, wir noch weniger ein Recht haben können, zu behaupten, irgend einen bestimmten Theil der Seinigen von seiner Verheißung bestimmt habe ausschließen wollen. Doch genügt uns das nicht, nun so laßt uns etwas bestimmter in den ganzen Verlauf der Verkündigung des Evangeliums und der Verantwortung darüber zurückgehen, nur so weit die Sache uns Allen bekannt seyn muß. Der erste Verkündiger und auch der erste Zeuge, der sich verantworten mußte, war Christus der Herr; denn auf das, was ihm vorbereitend voranging, wollen wir uns nicht verbreiten. Der hatte Mund und Weisheit ohne Maß, und so daß alle Weisheit und alle Kraft der Rede, welche Gutes bewirken kann in seinem Reiche, nothwendig abgeleitet seyn muß von der seinigen. Eine größere Ungleichheit, das wissen wir auch Alle, | giebt es nicht, als die zwischen Ihm und allen Anderen. Aber sie ist auch die einzige in ihrer Art. Er ist es allein, welcher Einer ist unter Allen und für Alle; und wir wollen es dankbar erkennen, daß auch dieses unter uns für immer festgestellt worden ist bei der Verbesserung der Kirche und dem Wahne auf das Bestimmteste widersprochen, als ob Christus einen Einzelnen zu seinem Stellvertreter gesetzt habe, ja auch nicht einmal möglich war es, weil er Keinem die Fülle der Gottheit, wie sie in ihm wohnte, als ursprünglich und angeboren mittheilen oder sie an ihn übertragen konnte. Dieser Unterschied also zwischen Christo und allen Anderen ist, unerachtet seines kurzen Lebens und eines, menschlicher Weise angesehen, nur sehr geringen Erfolges seiner äußeren Thätigkeit, so groß, daß aller Unterschied, der unter diesen selbst statt findet zwischen Einigen und Anderen, sich gar nicht damit vergleichen läßt; denn Christus herrscht, aber kein Anderer darf herrschen in der Kirche Christi. Geringer also auf jeden Fall war der Unterschied zwischen den Aposteln und den übrigen Christen. Aber verringerten nicht die Apostel selbst diesen Unterschied noch mehr, als sie die versammelte Gemeinde aufforderten: ihnen an Judas Stelle einen anderen Zwölften zuzuordnen? Und hat sich nicht die Ungleichheit noch immer mehr vermindern müssen, je größer die Zahl derer wurde, welche durch ausgezeichnete Gaben auch ausgezeichnete Dienste leisten konnten? Hieraus nun sollten wir nicht schließen dürfen, daß der Geist Gottes sich auch mit seinen Gaben immer gleichmäßiger verbreiten werde in der Christenheit? O wer noch zaghaft ist, dieß zu glauben, der höre den Petrus, welcher nicht etwa die zu diesem oder jenem Amte in der Gemeinde des Herrn be2–3 behaupten,] zu ergänzen wohl daß er 21 Vgl. Kol 2,9
30–32 Vgl. Apg 1,15–21
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stellt sind, sondern die Christen insgemein so anredet: Ihr seid das königliche Priesterthum, daß ihr verkündigen sollet die Tugenden Des, der euch berufen hat. Und so ist auf dieses feste apostolische Wort auch dieses festgestellt worden bei unserer Kirchenverbesserung: daß es eine feste Abstufung christlicher Würde, wie in der römischen Kirche zwischen Priestern und Laien, unter uns nicht giebt; sondern alle Christen sind Priester in Bezie|hung auf die übrigen Menschen, in der Gemeinde aber sollen auch Alle Theil haben an der Herrschaft, durch welche die Aemter geordnet und bestellt werden. Ja, höret Christum selbst, welcher die Vollendung des neuen Bundes so beschreibt: Keiner solle nöthig haben, daß der Andere ihn lehre, sondern Alle sollten von Gott gelehret seyn. So zeigt er uns demnach als unser Ziel und Ende eine völlige Gleichheit Aller, welche also auch für alle außerordentlichen Fälle, wenn dergleichen dann noch eintreten müßte, zureichend seyn muß. Ist aber dieses das Ziel: können wir wohl anders glauben, als daß die Kirche Christi demselben auch von Zeit zu Zeit näher kommen muß, daß also, im Ganzen betrachtet, auch die Ungleichheiten immer mehr abnehmen müssen? Gewiß müssen wir das glauben. Wenn also in den ersten Zeiten des Christenthums immer nur auf einer kleinen Anzahl vorzüglich Mund und Weisheit ruhte: so war das natürlich theils als der nächste Uebergang von der Zeit, da Christus allein Mund und Weisheit, theils deßhalb, weil jene Zeit am weitesten von diesem Ziele entfernt war. Je späterhin aber, um desto mehr müssen wir urtheilen, daß ein solcher Zustand entweder auf einen Verfall deutet, oder auf außerordentliche Umstände, unter denen damals noch auch Außerordentliches hervortreten mußte, was immer nur unter Wenigen seyn kann. Beides nun vereinigte sich in den Zeiten unserer Kirchenverbesserung, das Verderben war tief eingesenkt und weit verbreitet, darum mußte der Herr wieder zunächst einige Wenige aussenden. Ihr Zeugniß mußte großen Widerspruch finden, darum wurden sie auch besonders ausgerüstet, Einige mehr mit Kraft der Rede, Andere mit wahrer Weisheit, Andere mit Beidem. Ein kleines Häuflein, das sich indeß bald mehrte; aber je größer es wurde, je mehr die Gaben sich verbreiteten, um desto mehr nahm die Auszeichnung einiger Wenigen wieder ab. Wohl! so weit ist das Werk gediehen, der Geist dieser Zeugen ist nun weit umher verbreitet in der von ihnen begründeten Gemeinschaft; die evangelische Kirche steht da, eine Stadt, | auf einen Berg 23 Weisheit] zu ergänzen wohl hatte 1–3 Vgl. 1Petr 2,9
10–12 Vgl. Joh 6,45 (nach Jer 31,34)
39–2 Vgl. Mt 5,14.16
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gebauet, welche nicht kann verborgen bleiben. Sie läßt auch ihr Licht leuchten weit umher, und hat durch fortgesetzte innere Reinigung, durch lehrreichen und belebenden Einfluß auch auf den Theil der Kirche, der in dem alten Zustande geblieben ist, durch Verbreitung des Evangeliums unter unchristlichen Völkern unter abwechselnden Erfolgen doch mancherlei geschafft, was der Herr an jenem Tage wird zu schätzen und zu belohnen wissen. Aber die abwechselnden Erfolge werden auch in Zukunft nicht ausbleiben. Wollen wir uns nun dem vorgesteckten Ziele nähern: so laßt uns bedenken, wo und wie wir stehen. Die Kirche neben uns wird ihren Weg auch künftig gehen, wie bisher. Sie sucht sich der Schwachen wieder zu bemächtigen und sieht dabei die Person nicht an. Wenn wir nur Jeder an sich selbst denken, wenn keine Fürsorge getroffen wird, so werden auch von den Schwachen unter uns immer mehrere fallen. Dadurch aber wird die Spannung zwischen beiden Partheien immer größer, die Erbitterung nimmt zu, und irgend ein gewaltsamer Ausbruch rückt immer näher. Und wie steht es bei uns selbst? Gewiß wird Niemand läugnen, daß auch bei uns Besseres mit Schlechterem gemischt ist? Reines und Unreines, Vollkommenes und Mangelhaftes unter einander, und Entgegengesetztes auf mancherlei Weise einander gegenüber. Streit giebt es immer, einiger wird beschwichtiget, anderer ist im Begriff, auszubrechen, und bald mehr, bald weniger sind wirkliche Spaltungen zu besorgen. Sollen wir nun immer das Alte erwarten, wenn es arg genug wird geworden seyn, wenn eine Verkehrtheit ihren höchsten Gipfel wird erreicht haben, dann werde der Herr auch wieder Einige ausrüsten mit einem höheren Grade an Mund und Weisheit, um wieder gut zu machen in einer reicheren und besseren Zeit, was in einer Zeit der Unvollkommenheit ist versäumt worden? Eine schöne und tröstliche Hoffnung und bevorwortet genug durch alles Große und Herrliche in der Vergangenheit. Wir wollen sie auch nicht aufgeben; vielmehr soll sie uns aufrichten, wenn wir, Jeder an seiner Stelle, gethan haben und Mund und Weisheit scheinen | vergeblich verbraucht zu seyn. Aber daß wir uns nur nicht auf sie allein verlassen und das Unsrige versäumen; denn dann wäre die Zukunft nicht unsere Schuldnerin, sondern wir die ihrige! Daß wir nur nicht zu zeitig glauben, die Stunde zu einer erfolgreichen Thätigkeit sey noch nicht gekommen, und es sey besser, die Kräfte zu sparen! Denn das wäre schon die berechnende Weisheit, welche der Herr uns nicht gelehrt hat; vielmehr würde er uns dann dem unnützen Knechte gleichschätzen, der, weil er seinen Herrn in 20 gegenüber] zu ergänzen wohl steht 39–2 Vgl. Mt 25,24–30; Lk 19,20–26
31 Stelle,] zu ergänzen wohl alles
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Verdacht hatte, daß er erndten wollte, wo er nicht gesäet habe, ihm das anvertrauete Pfund ungebraucht zurückgab. Darum laßt uns ja nicht, indem wir auf Tage besonderer Heimsuchung warten, indem wir einen neuen Paulus, einen neuen Luther vom Himmel herabwünschen, die alltäglichen Gaben des Geistes gering achten. Treten wir nur zusammen in dem Bewußtseyn, daß wir Alle schuldig sind, unsere Kräfte und Gaben wirklich zu gebrauchen, und wirklicher Gebrauch ist nur im brüderlichen Zusammenwirken: so wird auch genug unter uns zu finden seyn von der Weisheit, welche richtig erforscht, worauf es zu jeder Zeit ankommt in dem Dienste des Herrn. Halte nur Keiner in seinem Kreise zurück mit seinem Rathe in Bezug auf das, was er von den gemeinsamen Angelegenheiten der Kirche überschauen kann, so wird uns Allen zusammengenommen das Beste so klar werden, daß es nicht kann verfehlt werden. Brauche nur Jeder in dem Augenblick, wo etwas Gutes noth thut, oder Schlimmes abzuwehren ist, die kunstlose Kraft der Rede, die in Keinem fehlen kann, der von dem Gegenstande durchdrungen und dem das Herz voll ist von gottgefälligem Eifer. Denn erscheint auch Einer in anderen Dingen dürftig an Worten: steht nicht in den Angelegenheiten der christlichen Gemeinschaft Jedem die ganze Rüstung der Schrift zu Gebote mit sicher treffendem Geschoß? Sind nicht eine Menge von körnigen Sprüchen tapferer Streiter aus alter Zeit und vorzüglich auch aus denen der Kirchenverbesserung in Aller Munde? Kennen wir nicht Alle die starken und anmuthigen Töne unserer christlichen Lieder, deren reicher | Schatz für jeden Fall etwas darbietet, was die Herzen ergreifen und bewegen muß? Das lag denen, welche Gott für jene Zeit des Kampfes, in dem unsere evangelische Kirche sich gebildet hat, im Sinne, daß die Gemeinschaft, welche durch sie begründet ward, erstarken sollte zu dieser Vollkommenheit, daß Alle von Gott gelehrt wären; darum strebten sie so eifrig, danach das Wort Gottes in Aller Mund und Hände zu bringen. Das war ihr nächstes Ziel, daß schlichte Weisheit und Kraft der Rede nicht wieder verschwinden möchte aus der Gemeinde. Darum beseitigten sie den verführerischen äußerlichen Prunk und sammelten statt dessen einen Schatz für die wahre Erbauung zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit. Laßt uns ihren Fußtapfen folgen, laßt uns ihre reiche und herrliche Hinterlassenschaft in ihrem Sinne gebrauchen: so wird sich zeigen, wie weit ihr Werk gediehen ist, wie viel näher die Zeit gekommen ist, wo es keiner großen Umwälzungen und also auch keiner besonderen Ausrüstungen 30 eifrig, danach] Kj eifrig danach, 29–30 Vgl. Joh 6,45 (nach Jer 31,33–34)
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mehr bedarf, sondern wo die ruhige Wirksamkeit wohlverbundener Kräfte genügt. Ja, m. g. F., das ist die Mündigkeit, zu welcher zunächst die evangelische Kirche sich erheben soll, in welcher wir Alle der Schrift gemäß berufen sind zu der Gleichheit eines priesterlichen Volkes. Herrlicher, als die glänzendsten Zeiten des Heldenmuthes und des Märtyrerthums, wird die Zeit seyn, wo wir keiner Helden mehr bedürfen, weil Alle kräftig sind und besonnen, keiner Märtyrer, weil die Wahrheit aus Allen in ruhiger Würde redet und wirkt. Preiswürdiger als die Zeiten, wo Tausende voll Bewunderung hinaufsahen an Wenigen, welche der Herr hingestellt hat, werden die Zeiten seyn, wo die starken Vorzüge verschwinden, wo die Bewunderung keinen Gegenstand mehr hat und die Bescheidenheit keine Tugend ist, wo in brüderlicher Gegenseitigkeit des Gebens und Empfangens das Reich Gottes besteht und gedeiht. Diesem Ziele strecke sich die Gemeinde entgegen und vergesse, was dahinten ist; sie wird das Kleinod erringen, und alle Widerwärtigen werden sich vergeblich aufgelehnt haben gegen das, was Mund und Weisheit von oben gebieten und bewirken. Amen. Schl.
b. Nachschrift 20
Predigt am ein und zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis. 1824. | Tex t. Lukas XXI, 15. Ich will euch Mund und Weisheit geben, welcher nicht sollen widersprechen mögen noch widerstehen, alle eure Widerwärtige.
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M. a. F. Vor einigen Tagen war der Jahrestag derjenigen Begebenheit, die wir gewohnt sind, als den ersten wirklichen und bestimmten Anfang jener Verbesserung der christlichen Lehre und des christlichen Lebens anzusehen, aus welchem unsere evangelische Kirche hervorgegangen ist; und in wenigen Tagen ist derjenige, an welchem das Licht 15 dahinten] dahinter
26 christlichen] richstlichen
28 Tagen] Tagen,
14–16 Vgl. Phil 3,13–14 24–2 Der Reformationstag war 1824 auf den 20. Sonntag nach Trinitatis gefallen; an diesem Tag hatte Schleiermacher keine Hauptpredigt gehalten. Der Geburtstag Martin Luthers ist der 10. November 1483.
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der Welt erblickt hat der ausgezeichnete Diener Gottes, der jenes auf diese Weise begann. Wir sind zwar nicht gewohnt, m. g. F., und es ist auch nicht dem Geiste des Christenthums, wie wir ihn erkennen[,] gemäß, ein be|sonderes Gedächtniß zu begehen einzelner Menschen, wie viel sie auch gewirkt haben durch die Gnade Gottes, und wir in unserem Lande sind auch nicht gewohnt jenen Gedächtnißtag des Anfanges der Kirchenverbesserung jährlich zu begehen; aber doch muß es uns allen erwünscht sein bisweilen darauf zurückzukommen, und mit einander zu erwägen, was für großes Heil uns dadurch geworden ist, oder auch was für göttliche Gaben und was für christliche Tugenden es waren, woraus uns dieses hervorgegangen. Darauf nun, m. g. F, weisen uns die Worte unseres Textes zurück. Sie enthalten eine Verheißung des Herrn die er zunächst seinen Aposteln gegeben hat; allein wir dürfen nur jener Zeit unserer Kirchenverbesserung gedenken, um uns gleich zu sagen, ja, damals hat der Herr diese Verheißung aufs neue erfüllt, und wir dürfen nur einigermaßen im Sinne haben die ganze Geschichte des Christenthums von seinem ersten Anbeginn, um zu sagen, es ist immer dieselbe, durch welche der Herr seine Kirche | aus allen gefahren errettet und wir mögen ihr für die Zukunft eben so sehr vertrauen, wie sie sich in der Vergangenheit bewährt hat. So laßt uns denn m. g. F., die Verheißung ansehen, die in unserem Texte der Herr seinen Jüngern giebt, als eine solche, welche nicht ihnen allein gegeben war und nicht ihnen allein galt, sondern wie damals auch sein Blick und seine Rede auf die ganze Zukunft seiner Gemeine auf Erden gerichtet war, als eine immerwährende und sich immer erneuernde Verheißung. Es kommt dabei vorzüglich auf dreierlei an, einmal was verheißt hier der Herr zunächst? zweitens was für Umstände sind es, unter denen wir die Erfüllung dieser Verheißung zu erwarten haben? endlich aber auch drittens, wem eigentlich verheißt er zu geben, was er hier sagt? I. Wenn wir zuerst fragen, m. g. F., was verheißt der Herr seinen Jüngern, indem er ihnen | alle die Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten vorhält, die ihrer warten, was verheißt er ihnen zu geben? „Ich will euch geben Mund und Weisheit.“ Sehet da, m. g. F., nichts Äußerliches verspricht er ihnen, keine Hülfe der Gewaltigen auf Erden, keine eitle Macht, die sie sich würden verschaffen können, keinen Vorrath von äußerlichen Hülfsmitteln, durch welche sonst sich Menschen gegen allerlei Gefahren zu schützen pflegen. Doch erinnere ich daran nicht, 1 hat] hat, 14 dürfen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 1774, Sp. 1481 22–23 gegeben] gegeben,
14 um] nun
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m. g. F., als wollte ich dasjenige als etwas Geringes darstellen, was der Herr den Seinigen verheißt und unserer Betrachtung eine solche Wendung geben, als wenn nur durch geringe Mittel der Herr Großes und Geistiges auszurichten pflege. Nein, m. g. F., nichts Geringes ist die Kraft der Rede, die das Erste ist, was der Herr hier erwähnt, sie ist die unmittelbarste und innigste Wirksamkeit des Geistes, so sehr doch auch die heilige Schrift das schaffende Werk der göttlichen Allmacht nicht besser zu bezeichnen wußte, als indem sie sagte: „Gott spricht, so geschieht | es, Gott gebeut, so stehts da.“ Ja auch unser Herr in den Tagen seines Fleisches kleidete er größtentheils die wunderbaren Wirkungen, welche auszuüben ihm verliehen war, in das große Wort seines Mundes, in den gebietenden Ton seiner Rede ein. Und der Geist Gottes, als er sich herabließ auf seine Jünger, was war das Erste als daß er ihren Mund öffnete und ihnen Kraft der Rede gab, um zu verkündigen die großen Thaten des Herrn. Und also ist es [mit] demjenigen der selbst das Wort heißt und uns auch ist das Wort seines und unseres himmlischen Vaters dem gebührt es zunächst die Seinigen auszurüsten auch mit der Kraft des Wortes und der Rede, aber nicht[,] wie auch die Apostel es sagten, nicht mit der menschlichen Kunst der Rede, welche durch schöne und wohlgesetzte Töne das Ohr und mittelst des Ohres das Herz des Hörers eben so leicht bethört und täuscht, als kräftig ergreift und erleuchtet, eben so | leicht in dem Rausch einer mitgetheilten falschen Begeisterung zum Bösen leitet, als auf den Weg des Guten führt; sondern die Kraft der Rede die auf nichts anderem beruht als auf der Wahrheit und auf der Schärfe und Genauigkeit des die Wahrheit suchenden Geistes, der was er gesehen in dem einfachsten und angemessensten Wort wiedergiebt. Wie, m. g. F. hätten die Apostel wohl vermocht die Lehre von der Versöhnung, die Lehre von der Zurückführung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott durch den, in welchem göttliches Wesen und menschliche Natur mit einander verbunden war, wie hätten sie die Lehre von der neuen Kreatur, zu welcher wir sollten erhoben werden, indem wir abgestorben wären der Sünde, wie hätten sie diese Lehre darstellen können in Sprachen, die nur gebildet waren für die irdischen Bedürfnisse des Menschen, nur gewohnt | waren das Suchen und Sehnen eines auf die Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse gerichteten menschlichen Gemüths aus zu drücken, und endlich nur mit Mühe geschickt gemacht waren, das Bestreben der nach dem Höhern sich streckenden aber so wenig davon erreichenden Vernunft darzustellen. Da mußten sie haben eine Kraft der Rede, um 4 auszurichten] auzurichten 8–9 Vgl. Ps 33,9
8 sagte:] sagten.
12–15 Vgl. Apg 2,1–11
18–24 Bezug unklar
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umzubilden die Sprache, welche sie fanden, um Neues hervorzurufen, an der Stelle des Alten, eine Wirkung des Geistes, der aus ihnen die größte aller Thaten Gottes verkündigen sollte. Und eben so, m. g. F., war es in jenen Tagen der Kirchenverbesserung, wo eben auch alles Verderbliche und Verkehrte, was sich allmälig eingeschlichen hatte, durch eine Reihe von Jahrhunderten, tief eingedrungen war in alle Töne der Sprache in welcher geredet ward auch von geistigen und himmlischen Dingen, umgebildet und neugeschaffen mußte sie werden | um das einfache Licht des Evangeliums wieder scheinen zu lassen in die Dunkelheit. Und welche Kraft der Sprache hat auch eben das Werkzeug des Herrn, dessen ich vorher gedachte, sowohl darin gezeigt, daß er zuerst unserem ganzen Volke das Wort Gottes dollmetschte in der ihm faßlichen und gewohnten Sprache, als auch überall, wo er die reine und einfache Lehre von der Rechtfertigung des Menschen durch den Glauben in dem lebendigen Zusammenhang mit dem Sohne Gottes allen Träumereien der Menschen und allem verkehrten Wahn der äußern Werkheiligkeit entgegenstellte. Und so ist es eben diese Kraft der Rede durch welche das Wort des Herrn wie zuerst immer verkündigt werden mußte, so auch in jedem Falle wo es Noth thut wieder gereinigt, geläutert, dem Herzen der Menschen näher gebracht und ihr Verstand mit demselben befreundet werden muß. | Das zweite aber, was der Herr seinen Jüngern verheißt, das ist, daß ihnen Weisheit gegeben werden soll. Weisheit, m. g. F., darunter verstehen wir überall die Zweckmäßigkeit und die Richtigkeit unseres Thuns, und wir wissen es wohl, daß das nur eine Gabe ist von oben, wenn wir nämlich von der wahren Weisheit reden, daß sie nur wohnen kann in einem Gott ergebenen und ihm geweihten Herzen welches überall das Eine was Noth thut anstrebt, und sich durch nichts anderes irre machen läßt. Und eben diese einfältige immer Einem und demselben Ziele zugewendete Weisheit, welche gleich unsern Kindern sonst nirgends einen Unterschied zwischen Kleinen und Großen zu machen weiß, und eben so wenig sich vor etwas Großem fürchtet, als etwas Kleines verfälscht oder verachtet, diese einfache | Weisheit ist es, die der Herr den Seinigen verheißen hat, und gegeben. Ihr gegenüber, m. g. F., kennen wir sehr wohl eine menschliche Weisheit[,] die[,] ganz entgegengesetzt der Einfalt von jener[,] etwas gar wunderbar Buntes, Mannigfaltiges und Zusammengesetztes ist, hier ein Mittel und dort ein Mittel, hier eine Regel und dort eine Vorschrift, für diesen oder jenen bestimmten Fall[,] zusammensuchend sich durchzuwinden strebt, ohne je sich selbst gleich zu bleiben durch alle Schwierigkeiten, die ihr in den Weg treten. Jenes 7 welcher] welches 8 mußte] nußte Herzen, 33 Weisheit] Wesheit
13 ihm] ihn
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ist die Weisheit der Kinder des Lichts, welche immer geradeaus ihren Weg verfolgt, und einem unwandelbaren Ziele zuführt, diese ist die Weisheit der Kinder der Finsterniß, die dem Menschen nie erlaubt seinen Weg gradeaus zu verfolgen, sondern ihn in den verworrensten Richtungen umhertreibt. Jene Kraft der Rede und diese Weisheit und Richtigkeit des Thuns hat aber der Herr | seinen Jüngern verheißen auf eine solche Weise, daß ihnen nichts sollen widersprechen mögen noch widerstreben alle ihre Widersacher. Wie, m. g. F.? ist denn dieses Wort jemals in Erfüllung gegangen? hat der Herr seinen Jüngern mehr verheißen und mehr durch sie geleistet und leisten wollen als er selbst geleistet hat? Er war das Wort und die Weisheit aber wie widersprachen ihm nicht und wenn sie ihm auch nicht mehr widersprechen konnten, wie widerstanden ihm nicht seine Widerwärtigen, so daß er es gleichsam als ein Kennzeichen seiner Weisheit und seiner Wahrheit aufstellte, daß nur diejenigen ihm nicht widerständen und widersprachen, die überhaupt die wenigste Kraft hatten zum Widerstand, wie nämlich die Unweisen und Thörichten von der Welt, daß aber diejenigen ihm widerständen und widersprächen, welche für weise und groß geachtet würden. Und seine Apostel und ihre Nachfolger wie viel Widerstand | haben sie nicht gefunden in ihrem Beruf das Evangelium zu verkündigen, wie schüttelten nicht die Weisen dieser Welt das Haupt und sprachen geringschätzig, „wir wollen euch ein andermal darüber hören,“ wie haben nicht in den ersten Jahrhunderten des Christenthums die Heiden ausgerüstet mit allen Kenntnissen der Geschichte und mit blendendem Witz und Verstand geschrieben gegen den neuen Weg des Heils, der durch die treuen Diener des Herrn verkündigt ward, und sich selbst in ihrem Wahn gegen die einfache Wahrheit zu befestigen gesucht. So haben sie ja widersprochen und widerstanden. Und wie war es mit der Kraft der Rede und mit der treuen frommen und einfältigen Weisheit jener reinigenden Lehrer des Evangeliums in den Tagen der Kirchenverbesserung? O wenn da die Widerwärtigen nicht widersprochen hätten und nicht widerstanden, wie | würde nicht die ganze Christenheit durchdrungen worden sein von diesem Lichte, wie würde sie sich nicht ganz wieder der einfachen Wahrheit desselben zugewendet haben. Aber so hat der Herr es nicht gemeint, denn nicht das Werk eines Augenblicks sollte es sein oder eines Geschlechtes das Wort des Evangeliums zum Herrn zu machen über alle Gemüther der Menschen, son16 wenigste] wenigsten 21 schüttelten] schütteten 24 blendendem] blendenden 26 die] den
24 Kenntnissen] Kenntnissen,
13–19 Vgl. Mt 11,25; Lk 10,21 22–27 Bekannte Gegner des frühen Christentums waren Kelsos, Porphyrios, Hierokles und Kaiser Julian „Apostata“.
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dern langsam ist dieses große Werk, und wenn auch die ersten Jünger des Herrn und die Christen der ersten Jahrhunderte in freundlichem Wahne glaubten, der Tag des Herrn, der Tag der Vollendung würde bald kommen, so wissen wir es doch[:] viele Geschlechter noch werden zu arbeiten haben, ehe das Wort des Erlösers in Erfüllung geht daß das Evangelium verkündigt werden soll allen Völkern der Erde, und wo es geschieht, da wird auch immer der Widerspruch und der Widerstand | der Widersacher es aufhalten und verhöhnen. Aber was wollen denn die Diener des Herrn? ist denn je einer unter ihnen so eitel und verblendet gewesen, als wolle er das Werk des Herrn vollenden? Nein, zufrieden war jeder, wenn ihm nur gegeben war und verliehen von dem Herrn ein Kleines beizutragen, ein Scherflein zu geben, wodurch er dem Herrn seine Treue beweisen konnte und seinen guten Willen. Und anders haben auch die größten die ausgezeichnetesten Werkzeuge Gottes niemals das, was ihnen oblag und was ihnen gelang ansehen können und wollen. Das ist es aber eben, dem die Widersacher nicht haben widerstehen und widersprechen können – Dank der Kraft der Rede die der Herr gegeben hat, Dank der einfältigen Weisheit, mit der er die Seinigen beseelt, daß sie nie etwas Fremdartiges einmischen wollen in sein Werk, daß jeder nur das aber das auch ganz thun will was der Augenblick zu | fordern scheint, und sich selbst und alles andere vergessend nur auf seinen Wink und auf sein Gebot zu sehen trachtet. Dank jener Kraft und dieser Weisheit, der Ausbreitung des Evangeliums haben die Feinde der Wahrheit nicht widerstehen können, dem Fortgange des göttlichen Wortes von einem Geschlecht zum andern haben sie nicht widerstehen können und auch nicht dem widersprochen, daß von einer Zeit zu der andern immer herrlicher in Erfüllung gegangen ist, ob das Werk von Gott sei, oder von Menschen. II. Aber nun laßt uns zweitens sehen, ist es für beständig und für immer daß der Herr seinen Jüngern verheißt diese Gabe des Mundes und der Weisheit, oder sagt er es nur in Beziehung auf gewisse Umstände. Offenbar in den Worten unseres Textes ist das Letztere der Fall. Er sagt seinen Jüngern vor|her, in Erfüllung ihres Berufs würden sie zur Verantwortung gezogen werden, und herumgeschleppt in den Schulen und 2 freundlichem] freundlichen (vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, 21796, Sp. 284) 8 Widersacher] Widersaches 10 als] all 13 dem] den 19 einmischen] einmisehen 22 vergessend] vergessen 5–6 Vgl. Mt 28,19–20; Mk 16,15 15
27–28 Vgl. Apg 5,38–39
33–5 Vgl. Lk 21,12–
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Lehrhäusern, und sie würden sich vertheidigen müssen vor Königen Fürsten und Obrigkeiten, auf der einen Seite vor Priestern und Schriftgelehrten auf der andern Seite, und dann in diesen Tagen der Verantwortung sollten sie nicht bange sein, denn es werde ihnen gegeben werden Mund und Weisheit. Allein, m. g. F., ist nicht auf der andern Seite eben so wahr, daß Beides eine beständige Gabe des Herrn in der christlichen Kirche ist und sein muß? Kann der göttliche Geist in ihr leben und sie beseelen ohne daß der Mund derer, die sich zu ihr bekennen, sich aufthut zum Lobe des Herrn um die innerste und schönste Kraft der Seele zu zeigen? Kann der Geist des Herrn in der Gemeine der Gläubigen walten ohne daß er sie weise macht und sie immer | mehr befreit von aller Thorheit der Kinder dieser Welt? Ja wohl, m. g. F., was aber der Herr meint, das ist dies. Wenn auch seine ganze Gemeine ausgerüstet ist mit diesen Gaben des göttlichen Geistes, so könnte doch denen, die besonders das Wohl derselben zu befördern berufen sind, bange werden, wenn solche Zeiten der Verfolgung, des Streites und der Verantwortung kommen, so daß auch das, was sie schon immer gebrauchen und womit sie sich ausgerüstet wissen, durch die Gnade des Herrn, doch nicht genug sein kann, um demjenigen zu steuern zu weichen, was gegen sie und die Sache des Erlösers sich erhebt. Da sagt denn der Herr es sollte ihnen nicht bange sein denn dann würde ihnen also noch auf eine ausgezeichnete Weise gegeben werden, so daß sie es nämlich deutlicher und bestimmter fühlten und mit größerem Vertrauen darauf gerichtet wären, nichts anderes aber wieder als Mund und Weisheit. Zuerst, m. | g. F., brauchten die Jünger des Herrn diese Gaben um das Evangelium in solche Seelen zu bringen, die es noch nicht vernommen hatten, bald viel bald wenig schafften sie mit der Kraft der Rede und mit der kindlichen Weisheit ihres die Gemeine des Herrn anordnenden Lehrens. Aber wenn die Widersacher anfingen sich gegen das Evangelium zu empören, wenn es denn einen Streit gab nach außen in welchem die Jünger nicht weichen durften von ihrem Platze, wenn sie Rechenschaft geben sollten von ihrem Glauben, nicht nur denen etwa, die Geduld genug hatten, sie anzuhören, ob sie etwa auch möchten von der Wahrheit ihrer Rede ergriffen und überzeugt werden, sondern auch vor denen die von vorn herein mit nichts Anderem als mit feindseligen und zerstörenden Gedanken gegen diesen neuen Weg erfüllt waren, wenn sich zu denen welche die alte Lehre und die alten Anordnungen des Lebens zu bewahren | und zu vertheidigen hatten, dann auch die Mächtigen der Erde gesellten, die von der neuen Lehre eine Veränderung befürchteten in dem Leben 2 Seite] Seiter 2 Priestern] Priester 13 das] daß 19–20 steuern] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 4, 21801, Sp. 363 20 weichen] welchen 31 gab] galt
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der Menschen, welche sie nicht wollten eintreten lassen und welche sie scheuten: o wie mag dann das Herz der Jünger oft gewünscht haben, daß ihnen noch andere Kräfte möchten zu Gebote stehen. Aber nein der Herr verweist sie immer auf dieselben, aber Mund und Weisheit solle ihnen gegeben werden in einem genügenden und überwiegenden Maaße. So m. g. F. war der erste Gebrauch, den die Apostel von diesen ausgezeichneten Gaben machten, um Rede und Antwort zu geben vor denen, welche sie fordern konnten von demjenigen, was sie auf den Befehl des Höchsten für das Reich Christi unternahmen und thaten. Aber wie bald war es nöthig, daß sie eben solche ausgezeichnete Kräfte der Rede und solche hohe Gaben der Weisheit nach innen wandten, denn wie bald zeigte sich nicht unter den | Christen eine Neigung das reine Licht des Evangeliums wieder zu verdunkeln durch allerlei Überreste des alten Glaubens und des alten Lebens, welche sich noch nicht ganz verloren zu haben schienen aus ihren Gemüthern aber über welche sie lange hätten hinaus sein müssen durch die reinigende Kraft des Geistes; wie nahe waren die Christen daran sich zu entzweien in Beziehung auf den Einfluß und auf die Gültigkeit, welche demjenigen, was in den früheren Zeiten der Unwissenheit und der Verkehrtheit gegolten hatte, und was man aus denselben noch kannte, in dem Leben der Christen sollte gegeben werden. Da galt es Mund und Weisheit zu haben für diejenigen, welche auf keine andere Kräfte als auf diese verwiesen, [und welche] das Ganze ordnen und zusammenhalten sollten durch einen solchen Gebrauch derselben in dem | Innern der christlichen Kirche, welcher sehr nahe gränzte an den ersten, den die reinigenden Lehrer des Evangeliums zu machen hatten von der Gabe der Lehre und der Weisheit in ihrem Verhältniß zu der Welt, die in das Reich Gottes sollte aufgenommen werden, da galt es die Christen selbst sowohl den gemeinen Haufen derselben, als auch diejenigen, die auf einer höhern oder niedern Stufe der Erkenntniß der christlichen Wahrheit standen, und auf den Stühlen der Lehrer saßen, sie zu überzeugen von allem, was dem alten Lebensweg angehöre und was das Wesen und die Frucht sei der neuen Heilsordnung, die jetzt den Menschen bekannt gemacht wurde, da galt es Weisheit in der Erfüllung dieser heiligen Pflicht um das rechte Maaß zu halten, damit nicht der Eifer für die Sache des Herrn eine falsche Richtung nehmend, das gute Werk | in seinen Anfängen zerstören mochte, da galt es Kraft der Rede und Weisheit zu zeigen, damit nicht die noch immer rege Macht der Verkehrtheit neue Kräfte gewönne und damit überall dem neuen Lichte Bahn gemacht würde durch die dichte Finsterniß. Aber freilich bald 4 verweist] verweißt 28 sollte] sollten
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zeigte es sich, daß die Trennung der Christen nicht zu vermeiden war, und da wurde dann, was vorher eine Wirkung nach innen gewesen war, eine nach außen, um immer mehr die Gemeinschaft derer, die sich für das reine Wort Gottes verbunden hatten, sicher zu stellen, um das immer mehr unter ihnen zu befestigen, worauf es ankam, wenn die neu gestiftete Gemeinschaft wirklich bestehen sollte, und die Mitglieder derselben auf diese Weise zu scheiden von allen denen, die einen verkehrten Weg eingeschlagen hatten. Da galt es Kraft der Rede, und der Weisheit | um gegen die sich immer neu regenden Angriffe, Einwirkungen und Thätigkeiten, welche die Vertheidigung des Alten hervorbrachte, und in denen ein großer Theil derer, die sich für Bekenner des Herrn hielten, begriffen war, von den Mächten der Erde unterstützt und ihre eigene Sache mehr als die Sache der Wahrheit fördernd, um gegen diese den größeren oder geringeren Haufen der Gläubigen zusammenzuhalten, immer fester zu gründen, und wo möglich immer weiter zu verbreiten. Beides aber, m. g. F., wird immer nöthig sein. Noch besteht die Trennung, welche damals leider nicht ausbleiben konnte, noch wiederholen sich dieselben Bemühungen und wahrlich nicht wenig sowohl Kraft der Rede als Weisheit ist nöthig um besonders auch diese unsere evangelische Kirche durchzusteuern durch alle die Klippen, welche ihr drohen. Der Herr aber, der gewiß wird seine Verhei|ßung erfüllen, und wonach wieder ähnliche Umstände eintreten, sei es [ – ] wovor Gott uns bewahren möge – daß auch uns ein neues Verderben droht, welches in dem Schooße der evangelischen Kirche selbst entstehend, wieder ausgezeichnete Gaben des Mundes und [der] Weisheit erfordert, oder was wir uns lieber wollten gefallen lassen, daß wir noch länger sollten erzogen werden in der Schule des Streits und was sonst der evangelischen Sache in manchen Gegenden der Erde drohen mag, gewiß er wird unter keinen Umständen unterlassen seiner Verheißung Kraft zu geben. So wenig sein Leben[,] so wenig das Werk seiner Jünger vergeblich sein konnte, sondern wenn es schien gestört zu werden und in Gefahr zu sein, er immer wieder neue Werkzeuge ausrüstete, die in der Kraft seines Geistes unermüdet für dasselbe wirkten, so gewiß soll auch das Leben derer | nicht vergeblich sein, durch deren Dienst die Lehre des Evangeliums ist gereinigt worden von allen Menschensatzungen und eine Gemeine entstanden werth des Namens einer Gemeine Gottes durch die Anbetung des Höchsten im Geist und in der Wahrheit und die Kraft seines Segens. III. Aber damit uns eben diese Hoffnung eine eben so wahre als dem Willen des Herrn gemäße und tröstliche und lebendige sei, so laßt uns 2 nach] noch
8 galt] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, 1775, Sp. 536
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fragen, wem hat er eigentlich versprochen Kraft der Rede und Weisheit zu geben? Wer, m. g. F., vermag darauf die Antwort zu geben? Waren es die Apostel allein, zu denen er redete? Wir wissen es nicht, auch zeigt die ganze folgende Geschichte, daß sie keinen so großen und bestimmten Unterschied haben machen | wollen zwischen sich und allen andern Begabten unter den Gläubigen. Wissen wir also nicht, wem er jene Gaben eigentlich verheißen hat, so können wir noch viel weniger sagen, daß er irgend einen habe ausschließen wollen. Wollen wir aber den Gang der göttlichen Führungen verfolgen, und uns vor Augen stellen, laßt uns zurückgehen in die Geschichte der christlichen Kirche. Der Erlöser, m. g. F. war Einer und konnte nur Einer sein, Mehrere wie er konnte es nicht geben, und wie viele sich vereinigt hätten geringer als er, sie hätten uns das nicht bewirken können, er war nothwendiger und wesentlicher Weise Einer. Aber wie kurz auch die Dauer seines irdischen Lebens, und wie gering an Umfang das was er scheinbar menschlicher Weise Aufzuweisendes bewirkt hat, wenngleich der innere Gehalt seines Lebens ein ewiger und unvergänglicher war! Aber seine Jünger rüstete er aus[,] ein kleines | Häuflein, stark durch den Einen Geist, der in ihnen lebte, stark durch die Kraft der Wahrheit und der Liebe, und nicht wenig nun schafften sie für sein großes Werk. Aber wie lange währte es, so gab es eine neue große Menge von Zeugen der Wahrheit eben so wie sie ausgerüstet mit der Gabe des Mundes und der Weisheit, eben so wie sie gern alle Kräfte ihres Lebens dem Einen darbringend, dem Werke, welchem sie sich gewidmet hatten. Je tiefer aber in die christliche Kirche selbst oft wieder das Verderben sich herabsenkte, desto mehr mußte dann der Herr wieder Einzelne und Wenige ausrüsten, die jeder in seiner Art suchten dem Lichte den Sieg zu verschaffen über die Finsterniß. So war es auch nachdem sich oft dasselbe wiederholt hatte in den Tagen der Kirchenverbesserung. Es war nicht Einer, und keiner unter den Männern, die damals durch die Gnade Gottes wirkten, würde es ertragen wollen, daß man ihm allein etwas zuschriebe, in diesem Werk, es war nicht Einer, sondern Mehrere, aber freilich ein kleines Häuflein vom göttlichen Geist beseelter mit Mund und Weisheit begabter Männer. Wohl, sie haben ihr Werk vollbracht, ihr Geist hat sich verbreitet über die ganze Gemeinschaft, die sie gestiftet und diese hat das große Gebot des Herrn, daß eine Stadt auf einem Berg gebaut nicht kann verborgen bleiben, und daß wir alle unser Licht sollen leuchten lassen vor den Menschen; dem gemäß hat sie auch das ihrige immer deutlicher und einfältiger leuchten lassen 38 Menschen;] Menschen 36–38 Vgl. Mt 5,14.16
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und geschafft, was der Herr wissen wird an jenem Tage zu würdigen und zu schätzen. Aber freilich fühlen wir es auch, wir sind nicht frei von der Gefahr mancherlei Verblendungen, auch unter uns giebt es Mängel und Unvoll|kommenheiten, auch unter uns giebt es in einem gewissen Grade Spaltungen und Trennungen der Gemüther. Sollten wir nun hoffen, wenn es Noth thun wird, wenn es nur wird arg genug geworden sein und das Verkehrte seinen höchsten Punkt erreicht haben, dann wird der Herr auch wieder einige Wenige und Ausgezeichnete ausrüsten, mit Mund und Weisheit, er wird seine Stunde wahrnehmen, und dann wird er seine Werkzeuge begaben und was eine Zeit der Unvollkommenheit übel gemacht hat, das wird dann wieder gut werden in der andern. Schöne Hoffnung. Und wir wollen sie nicht aufgeben, sie mischt sich in alles Große und Herrliche in der vergangenen Geschichte des Christenthums. Aber, m. g. F., daß nur daraus nicht entsteht eine Nachlässigkeit für uns und in unserem Dienste, daß wir nur nicht meinen, weil wir eben jeder | für sich zu schwach wäre um das Unvollkommene aufzuheben, weil vielleicht die Stunde noch nicht gekommen sei, in welcher mit gemeinschaftlichen Kräften auf eine erfolgreiche Weise dagegen gewirkt werden kann, so könnten wir nichts Anderes thun als die Hände in den Schooß legen und warten bis die Stunde des Herrn geschlagen hat. Ei daß sie uns dann nur nicht sagt, wir wären wie jener faule und unnütze Knecht, der nichts Anderes wußte als das Pfund, welches ihm sein Herr gegeben hatte, in die Erde zu graben und es ihm wieder zurückzugeben, wenn er kommen würde, ohne Ertrag. Wird er nicht sagen, daß wir dasselbe Pfund empfangen haben? Haben wir nicht dieselbe Kraft der Rede, die er seinen Jüngern versprochen hat, und gegeben, und mit der die treuen Zeugen der evangelischen Wahrheit so vieles und so Segensreiches gewirkt haben? Wissen | wir nicht auch worauf es ankommt in dem Dienste des Herrn und bei der Förderung seines Reiches? Sind wir nicht von Kindheit an unterrichtet in jenen schönen, starken und anmuthigen Tönen, die das Wort Gottes verkündigen? Ist nicht das Reich Gottes auch unter uns gebaut, und haben wir nicht alle daran Theil, jeder in seinem Maaße? O, m. g. F. als der Herr in den Tagen seines Fleisches in die Zukunft hinaus sah und den neuen Bund beschloß den Gott durch ihn mit dem menschlichen Geschlecht machen wollte, da war es nicht das was er sagte, daß er als derjenige dem alle Gewalt gegeben sei im Himmel und auf Erden immer von Zeit zu Zeit Einige ausrüsten werde mit der 34 O,] O.
35 ihn mit] in nit
22–25 Vgl. Mt 25,24–30; Lk 19,20–26
37–38 Vgl. Mt 28,18
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Kraft der Rede und der Weisheit, nein das Wesen desselben sagt er besteht darin, daß sie alle werden von Gott gelehrt sein. Und einen andern Gang kennen wir nicht | den das Christenthum in seiner Entwickelung nehmen soll. Immer ist es ein Zeichen der Unvollkommenheit, wenn Einige besonders müssen von Gott ausgerüstet werden, auf welche dann die Schwächern sehen sollen. Sind wir reif geworden in der Reihe der Jahrhunderte an christlicher Erkenntniß und Gottseligkeit, sind wir würdig geworden zu denen zu gehören, die mit gemeinsamen Kräften nach demjenigen streben was der Apostel als das hohe Ziel der christlichen Thätigkeit darstellt, daß wir hinanreifen zu dem männlichen Alter Christi: so müssen wir nicht warten bis Erwachsenere kommen, sondern wir müssen uns fühlen in der Kraft des Herrn und es dann ihm überlassen, ob wiederum eine Zeit kommen wird, wo er durch die Kraft seines Geistes einzelne Wenige besonders wird begaben müssen, oder ob die Zeit kommen wird, wo | er keine ausgezeichneten Diener mehr berufen wird, sondern sie alle gleich sein werden und von Gott gelehrt. Nur wenn wir danach trachten und dieses Ziel im Auge haben, wenn jeder die Gaben, die er von Gott empfangen hat, zu Rathe hält und weiß, daß wir schuldig sind sie in seinem Dienste zu gebrauchen, wenn wir recht davon durchdrungen sind, daß es zum Wohl der Christen auf nichts ankommen kann, als auf Mund und Weisheit, und wenn dann jeder an seinem Ort die Kraft der Rede nicht schont und zurückhält, und jeder in seinem Kreise die einfältige Weisheit der Kinder Gottes offenbart: dann muß es sich zeigen, wie weit der Herr noch nöthig hat seine Diener besonders auszurüsten. Darauf wollen wir unsere Bemühungen richten, und so werden wir denen Ehre machen und der Gemeinschaft, die sie gestiftet[,] würdig sein, welche als | ausgezeichnete Diener Gottes in jenen Tagen der Kirchenverbesserung aufstanden mit Mund und Weisheit begabt, aber auch das zu ihrem nächsten Ziel machten, daß alle sollten von Gott gelehrt sein und eben deshalb eifrig strebten das Wort Gottes in aller Mund und Hand zu bringen, damit jeder im Stande wäre zu prüfen, was da sei der wohlgefällige Wille des Herrn. Das ist die Mündigkeit, zu der wir uns als evangelische Christen erheben sollen, das ist der Segen jenes großen Werkes, dessen wir uns erfreuen sollen, daß die Christen berufen sind zu sein ein priesterliches Volk, alle in gleicher Würde, eine gleiche Gemeinschaft vor Gott auch nicht einander untergeordnet, sondern gleich fortarbeitend an seinem Werke, welches er gewiß krönen 11 Christi] Christo
22 seinem] seinen
1–2.30 Vgl. Joh 6,45 (nach Jer 31,33–34) Röm 12,2; Eph 5,10
25 seine] seiner 10–11 Vgl. Eph 4,13
32–33 Vgl.
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wird mit dem Erfolg, den er verheißen hat, so daß alle Widerwärtigen nicht im Stande sein werden zu | widersprechen und zu widerstehen dem, was Mund und Weisheit von oben segnen. Amen.
[Liederblatt vom 7. November 1824:] Am 21ten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich thausend etc. [1.] Fest steht dein Bund wie Felsen stehen, / Du Gott der Gnade, Gott der Treu; / Wie schnell die Zeiten auch vergehen, / Bleibt deine Güte ewig neu. / Wir preisen Gott der Milde dich, / Geschäh es immer würdiglich! // [2.] Kein Feind stört unsere Altäre, / Und sicher steht das Heiligthum; / Noch singen wir von deiner Ehre, / Noch predigt man von deinem Ruhm; / Noch pflanzt sich uns’re Kirche fort / Durch Taufe, Abendmahl und Wort. // [3.] Doch fragst du nach des Wortes Früchten, / Bringst du was wir gethan ans Licht, / Willst du nach unsern Werken richten: / Gott, Richter, dann bestehn wir nicht. / Du zwar, du trugst uns mit Geduld; / Wir aber häuften Schuld auf Schuld. // [4.] Verwirf uns nicht, o Herr, verschone / Du, der sich Sündern gnädig neigt! / Um Gnad’ in Jesu deinem Sohne / Flehn wir vor deinem Thron gebeugt! / Gieb deinen Geist, der uns erneu, / Und mach uns deinem Worte treu. // [5.] Gieb daß wir dich stets kindlich ehren, / Als dein geweihtes Eigenthum! / Einst führst du uns zu jenen Chören, / Die würdig singen deinen Ruhm. / Dann sind wir ganz mit dir vereint, / Und was wir sollen sein, erscheint. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Ein feste Burg etc. [1.] Herr die Gemeine danket dir, / Noch wohnt dein Wort im Lande; / Von deiner Gnade haben wir / Doch deinen Geist zum Pfande. / Sie, die dir vertraut, / Hast du fest gebaut; / Deines Lichtes Macht / Besiegt des Irrthums Nacht. / O herrsch’ in jedem Lande. // [2.] Eins, Herr, ist, was die Frommen kränkt, / Daß unter deinen Christen / Noch Mancher deiner nicht gedenkt, / Beherrscht von seinen Lüsten. / Vieler Glaub’ ist schwach, / Halt die Lieb, und ach / Sie bedenken nicht, / Es harr’t ein schwer Gericht / Auf träge sichre Christen. // [3.] Und du o Jesu bist so treu! / Ach daß wir frömmer wären! / Mach alle Herzen rein und neu; / Laß Alle sich bekehren! / Gieb uns Wissenschaft, / Glaube, Lieb’ und Kraft, / Gieb Entschluß und Muth / Zu wagen Ehr’ und Blut, / Um Unheil zu zerstören. // [4.] Entferne Zwietracht, Krieg und Mord, / Erhalt uns Ruh’ und Frieden. / Laß uns, gestärket durch dein Wort, / Im Guten nie ermüden! / Mache leicht was drükt, / Gieb uns was beglükt, / Nach der Prüfungszeit, / Ruf uns zur Seligkeit / Zu deines Himmels Frieden. // [5.] Herr deine Kirche streitet noch, / Hilf deiner Kirche siegen, / So schwer ihr Kampf ist, müsse doch / Kein Streiter unterliegen! / Hör ihr
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kindlich Flehn, / Eil ihr beizustehn, / Daß sie standhaft sei / Stets deiner Wahrheit treu. / Hilf deiner Kirche siegen! // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] Vor dir Herr denken wir erfreut, / An unsrer Väter Glauben! / Der Feind erhob sich kühn zum Streit, / Dein Wort der Welt zu rauben; / Sie aber kämpften ritterlich, / Gestärkt Allmächtiger durch dich; / Sie kämpften und sie siegten. // [2.] Nun wird nicht mehr dein Wort verhüllt, / Der Christenheit entzogen, / Es bleibt uns immer Schwert und Schild, / Schutz, Heereskraft und Bogen. / Laßt Christen uns des Lichts uns freun, / Auf Christum sehn, und wachsam sein, / Wenn Finsternisse drohen. //
Am 14. November 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
22. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 6,36–44 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 430–442; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 187v–193r; Saunier, in: Schirmer Nachschrift; SAr 63, Bl. 51r–54v; Woltersdorff Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 22. Sonntage nach Trinitatis 1824.
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Tex t. Joh. 6, 36–44. Aber ich habe es euch gesagt, daß ihr mich gesehen habt, und glaubet doch nicht. Alles, was mir mein Vater giebt, das kommt zu mir, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen; denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht daß ich meinen Willen thue, sondern deß, der mich gesandt hat, daß ich nichts verliere von allem, das er mir gegeben hat, sondern daß ich es auferwekke am jüngsten Tage. Das ist aber der Wille deß, der mich gesandt hat, daß wer den Sohn siehet und glaubt an ihn, habe das ewige Leben, und ich werde ihn auferwekken am jüngsten Tage. Da murreten die Juden darüber, daß er sagte, Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist, und sprachen, Ist dieser nicht Jesus, Josephs Sohn, deß Vater und Mutter wir kennen, wie spricht er denn, Ich bin vom Himmel gekommen? Jesus antwortete und sprach zu ihnen, Murret nicht unter einander, es kann nie|mand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat, und ich werde ihn auferwekken am jüngsten Tage. M. a. Fr. Als der Herr, wie wir neulich unsere Betrachtung damit beschlossen haben, zu ihnen sagte, Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten, und sie dadurch also nochmals einlud zu ihm zu kommen, damit sie in den damit bezeichneten seligen Zustand gelangten: so wußte er wohl, daß wie sehr sie sich auch um ihn bemüht 19–22 Vgl. oben 31. Oktober früh über Joh 6,27–35
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hatten, doch das rechte Verlangen nach diesem geistigen Leben nicht in ihnen wäre, und darum sagt er ihnen gleich, Ich habe es euch schon gesagt, daß ihr mich gesehen habt, und doch nicht glaubt, daß die Ueberzeugung, ich sei der, für den ich mich ausgebe, und könne das leisten, was ich verheiße, daß diese noch nicht in euch ist, so lange ihr mich auch gesehen habt, so viel ich auch unter euch gewandelt und geredet habe. Und was er weiter sagt, das sagt er zunächst, um sich selbst darüber zu trösten, daß es so sei und nicht anders, indem er fortfährt, Alles, was mir mein Vater giebt, das kommt zu mir, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Was ist denn wol das erste, m. g. Fr., womit der Herr sich darüber tröstet, was ihm damals begegnete, und was der Verkündigung seines Wortes immer noch häufig begegnet unter den Menschen, daß sie zwar so wie sie ihn damals sahen, so auch jezt sein Wort hören, aber wie sehr sie sich auch äußerlich um ihn zu bemühen scheinen, doch nicht glauben, was ist das erste, womit er sich darüber tröstet? Es ist seine große durch nichts zu überwindende Langmuth. Denn wenn er sagt, Alles was mir mein Vater giebt, das kommt zu mir, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen: | so giebt er dadurch gleichsam sich selbst das Wort, daß wie lange ihn auch die Menschen überhören, wie lange es auch währt, daß sie ihn sehen und hören und doch nicht glauben, wenn sie endlich einmal kommen, so könne und werde er sie nicht hinausstoßen. Wie wahr das ist, m. g. Fr., das wissen und fühlen alle, die an ihn glauben und ihn erkannt haben für das, was er ist. Denn wenn er jemals sollte die Menschen von sich stoßen, so müßte er aufhören die Menschen zu suchen. Er beschreibt sich aber immer als den, dessen eigenes innerstes Wesen das ist. Kann er nun nie aufhören zu suchen und selig zu machen das verlorene, so kann er auch nicht hinausstoßen, wenn jemand zu ihm kommt, wie lange er auch in dieser Verblendung gewesen sei ihn zu sehen und zu hören und doch nicht zu ihm zu kommen. Das zweite aber, womit er sich selbst tröstet, ist dies, daß er sagt, Das ist aber der Wille des Vaters, der mich gesandt hat – und ich kann keinen andern Willen thun als deß, der mich gesandt hat – das ist sein Wille, daß ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern daß ich es auferwekke am jüngsten Tage. Denn, m. g. Fr., darin liegt nun, wenn wir es genau nehmen wollen, noch etwas viel größeres, und das hat auch der Herr gewiß damit sagen wollen. Denn wenn er sagt, von dem, was mir der Vater gegeben 29–30 Vgl. Lk 19,10
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hat, werde ich nichts verlieren, also es wird zu mir kommen und von mir angenommen werden, und ich werde es auferwekken am jüngsten Tage, können wir dann glauben, m. g. Fr., daß einige Menschen werden auferwekkt werden und andere nicht, da doch, ob dem Menschen dies widerfährt oder nicht, nicht von seiner besondern Beschaffenheit abhängen kann, sondern eben so sehr | von der menschlichen Natur, als das, ob der Mensch eine vernünftige Seele hat, oder nicht; alle sehen wir das an als etwas, worin nicht dem einen dies begegnen kann, und dem andern etwas anderes, und was nicht etwa dem einen begegnen kann und dem andern nicht. Wenn also der Herr sagt, Alles, was mir mein Vater giebt, das kommt zu mir, und es ist sein Wille, daß ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern daß ich es auferwekke am jüngsten Tage: was können wir anders daraus schließen, als daß er ihm alle Menschen gegeben hat – weil, wenn nur einige auferwekkt würden, der Vater ihm nicht alle gegeben hätte, und weil, wenn der Vater ihm nicht alle gegeben hätte, auch nicht alle auferwekkt würden am jüngsten Tage – und daß alle Menschen dazu bestimmt sind, daß sie ihm nicht verloren gehen, sondern von ihm auferwekkt und angenommen und von ihm in jenes selige Leben geführt werden, wo kein Hunger und kein Durst mehr ist, sondern in der Gemeinschaft mit ihm dasjenige ist, was allen Hunger und allen Durst der menschlichen Seele auf immer stillt. Das ist der Trost, womit der Erlöser sich selbst tröstet, indem er wußte, daß sein Einfluß auf die Menschen, die ihm der Vater gegeben hat, kein Ende nehmen soll, daß früher oder später alles, was ihm der Vater gegeben hat, zu ihm kommen soll, und daß er ihm das ganze menschliche Geschlecht gegeben hat, eben weil er sie ihm gegeben hat, sie aufzuerwekken am jüngsten Tage. Aber wenn wir hiebei verweilen, so werden wir uns selbst sagen: ei das ist ein schöner und wahrer und richtiger Trost, womit der Erlöser sich selbst beruhigt über alles, was ihm damals nachtheiliges begegnete in seiner Wirkung auf die Menschen, und was dergleichen ihm noch für die Zukunft seines irdischen Lebens begegnen konnte; aber war es ein Trost für die, denen er denselben mittheilte, und die ihn hörten, und von denen er sagte, daß sie lange schon in der Verfassung wären, ihn gesehen | zu haben und doch nicht an ihn zu glauben? Konnten die nicht zu ihm sagen, Nun wohl, wenn wir nicht zu dir kommen, so ist es daher, weil dein Vater uns dir noch nicht gegeben hat, und wenn uns jezt noch nicht zu Muthe ist zu dir zu kommen, so ist kein Nachtheil dabei, weil du selbst gesagt hast, daß, wenn wir auch später kommen, du uns doch nicht hinausstoßen wirst? Darum fügt er nun hinzu unmittelbar darauf, Das ist aber der Wille deß, der mich gesandt hat, daß wer den Sohn sieht und glaubt an ihn
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habe das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage auferwekken. Nachdem er also jenes gesagt, so schärft er ihnen das noch einmal ein, daß ohne den Glauben an ihn das ewige Leben für den Menschen nicht da ist. Und das, m. g. Fr., das ist gewiß der stärkste und kräftigste Sporn, den der Erlöser den Menschen geben konnte, um in Beziehung auf das Verhältniß zu ihm in einer beständigen Aufmerksamkeit und in einem beständigen Verlangen zu sein. Wenn sie das so einfältig nahmen, wie er es ihnen klar heraussagte, Nur wer an mich glaubt, hat das ewige Leben: so konnten sie sich auf eine solche Weise nicht trösten. Denn es giebt keinen größern Verlust, als daß der Mensch einen Schaden leidet an seiner Seele. Kann er nun das ewige Leben haben und hat es nicht, so leidet er Schaden an seiner Seele. Wollte er sich also damit trösten, so kann nichts weiter folgen, als daß er das Verlangen noch nicht hat nach dem ewigen Leben. Und das ist es, was nicht nur der Erlöser hier, sondern auch alle die Männer Gottes, die auf seinen Befehl und in seinem Namen das Reich Gottes verkündigt haben, allen denen eingeschärft haben und noch einschärfen, die sich auf eine frevelnde und leichtsinnige Weise darauf berufen wollen, daß, ob der Mensch zu Christo komme oder nicht, davon abhange, daß | ihn der Vater dem Sohne gebe und zu ihm ziehe. Denn der Mensch soll sich um sich selbst bekümmern, und der ganze Inbegriff dessen, was auf diese Weise gutes für ihn entstehen kann, ist das, daß er zur richtigen Kenntniß seiner selbst komme. Nun giebt es in der menschlichen Seele keinen größeren Mangel, als wenn der Mensch nicht weiß was ihm gebührt, was allein den Grund zu seinem wahren Wohlsein legen kann, und was allein im Stande ist ihm den Weg zum Frieden zu bahnen. Diesen Mangel dem Menschen fühlbar zu machen, und so das lebendige Verlangen nach der göttlichen Hülfe in ihm hervorzurufen, das ist der Stachel, der in ihn gelegt werden muß, das ist das Schwert des göttlichen Wortes, welches ihn durchdringen muß und Mark und Gebein scheiden. So lange dieser Mangel noch in den Menschen ist, so ist es für ihr Heil gleichgültig, ob sie sich auf jene verkehrte Weise trösten, oder ob sie in eitler Selbstgefälligkeit mit demjenigen zufrieden sind, was nur das Werk ihrer eigenen vorübergehenden Gedanken und ihrer leeren vergänglichen Bestrebungen ist, und auf keine Weise das Verlangen nach dem wahren geistigen Leben fühlen, welches allein in der Gemeinschaft mit dem Erlöser erlangt wird. Und in der That giebt es für den, der das rechte Verlangen 31 ihn] in ihm 31–32 Vgl. Hebr 4,12
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nach dem Genuß des ewigen Lebens noch nicht hat, keinen Unterschied zwischen jenen beiden Zuständen, ob der eine sich tröstet damit, daß es an Gott liege, der ihn noch nicht dem Sohne gegeben und zu ihm geführt habe, oder ob der andere sich eine schlecht angewendete Mühe giebt, durch sein eigenes Thun und Treiben und durch irgend eine Art von Werkheiligkeit, die in keinem Zusammenhang steht mit dem lebendigen Geiste Christi, und durch alles, was nicht von innen heraus aus der innersten Gesinnung des Menschen kommt, sich bei sich selbst zu trösten und zu beruhigen und in der leeren Einbildung zu leben, als ob er für sich | etwas habe, wodurch er der Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens werden kann. Wie der Erlöser es gethan hat, m. g. Fr., in den Tagen seines Fleisches, so und nicht anders sollen auch wir thun. Es kann nicht fehlen, wenn wir die Erfahrung machen, wie viele noch von den Wirkungen des göttlichen Geistes vergeblich sind an den Menschen, daß wir nicht des Trostes bedürfen sollten, womit der Herr sich hier tröstet; und haben wir, die wir an ihn glauben, die feste Ueberzeugung, daß ihm alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, daß er nichts verlieren kann von dem, was ihm gegeben ist im Himmel und auf Erden und unter der Erde: so mögen wir uns trösten darüber, daß der Herr mit dem einen diesen, mit dem andern jenen Weg geht, und daß was in dieser Zeit nicht erreicht werden kann in einer künftigen Zeit muß erreicht werden, daß aber das Wort wahr ist, daß der, der vom Himmel gekommen ist und keinen andern Willen hatte als den Willen dessen, der ihn gesandt hat, auch das erreichen muß, wozu ihn der Vater gesandt hat, daß aber dies der Wille des Vaters ist, daß der Sohn nichts verliere von allem, was ihm der Vater gegeben hat, sondern daß er es auferwekke am jüngsten Tage; das unsrige aber ist dies, daß wir den Menschen vorhalten den Unterschied zwischen dem ewigen Leben, welches wir haben in dem lebendigen Glauben und in der Gemeinschaft mit dem Sohne Gottes, und zwischen dem Mangel dieses ewigen Lebens, für welches dann auch zugleich das irdische Leben keinen Werth hat, sei es, daß mit scheinbarer Sorge, sei es, daß mit Leichtsinn die Menschen sich trösten darüber, daß sie noch nicht das Leben haben, welches im Glauben an den Sohn Gottes liegt. Diesen Stachel also sollen wir in die Seelen der Menschen legen, daß sie fühlen den Unterschied zwischen dem ewigen Leben, welches von Christo kommt, und jedem andern Zustand, in welchem sie sich befinden. | Wie nun der Herr sein Leidwesen darüber, daß das Verlangen nach dem Genuß des himmlischen Brotes bei so vielen Menschen noch nicht lebendig ist, so ausdrükkt, Ich habe es euch gesagt, daß ihr mich gese17–18 Vgl. Mt 28,18
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hen habt und glaubt doch nicht: so auch wir, in wiefern wir als seine Gemeine auf Erden seinen Leib bilden, nachdem er selbst nicht mehr leiblicher Weise unter uns ist, sollen wir nicht bloß darauf bedacht sein, daß die Menschen uns hören, sondern daß sie uns auch sehen. Es ist nicht bloß sein Wort, welches wir ihnen bringen und verkündigen sollen, sondern auch sein Bild, welches sie an uns wahrnehmen sollen; sie sollen an uns die Züge seines Bildes sehen und dadurch zu uns gelokkt werden und durch uns hingewiesen auf den einen, in dessen Namen allein Heil gegeben ist. Je mehr sie es sehen, daß sie auf diese Weise des Lebens theilhaftig werden, welches sie im Glauben an den Erlöser führen können, desto mehr müssen wir mit unserem ganzen Leben streben ihm ähnlich zu werden, indem wir nicht bloß sein Wort verkündigen, sondern es auch in unser innerstes aufnehmen und es in uns auf eine lebendige Weise walten lassen durch seinen Geist. Die Juden aber ließen sich diese lezten Worte des Herrn gar nicht zu Herzen gehen und hörten daher auch nicht darauf, sondern sie blieben bei dem lezten Worte, welches er früher gesagt hatte, daß er das Brot des Lebens sei, stehen, murreten darüber, daß er sich für das Brot vom Himmel gekommen ausgegeben hatte, und sagten, Ist dieser nicht Jesus, Josephs Sohn, deß Vater und Mutter wir kennen, wie spricht er denn, ich bin vom Himmel gekommen? M. g. Fr., was war denn hier eigentlich der Fehler und die Verblendung? Nicht etwa dies, daß sie meinten, Jesus sei Josephs Sohn, denn das konnten sie nicht wissen, ob es so sei oder anders, und das kann ihnen auch nicht zugerechnet werden, | denn Christus hat überall vom Anfang seines Lebens an unter den Menschen für einen Sohn Josephs gegolten, obgleich bei seinem ersten Eintritt in die Welt die Menschen sich wenig darum bekümmert zu haben scheinen, ob es so sei und nicht anders. Ihre Verblendung aber lag darin, daß sie meinten, weil er Josephs Sohn sei, weil sie seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister und alle seine Verwandte kannten: so könne er eben nicht das Brot sein, welches vom Himmel gekommen ist. Auf eine solche äußerliche Weise stellten sie sich das vor, daß eine Hülfe dem Menschen von oben her werden sollte – und eine solche hofften und erwarteten doch alle diejenigen, die noch die Sehnsucht nach einem Gesandten Gottes, welcher der Wiederhersteller des Volks sein sollte, aus den früheren Zeiten in sich aufgenommen hatten – daß sie meinten, es müsse auch auf eine solche äußerliche Weise diese göttliche Hülfe zu Stande kommen, außer dem Zusammenhange der menschlichen Dinge und abgesehen von dem gewöhnlichen Gange der göttlichen Führungen, und das war der Irrthum, der sie hinderte in Christo denjenigen, der vom Himmel 17–18 Vgl. Joh 6,35
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gekommen sei, zu erkennen. Aber daraus folgte nun zunächst dies, daß sie seine Wirkung als eine äußerliche dachten und wenig auf das innere derselben sahen und sich dieses angelegen sein ließen. M. g. Fr., noch immer sind sehr viele unter den Christen in diesem Irrthum und in dieser Verblendung, daß sie einen zu großen Werth auf dasjenige legen, was in dem Leben und in der Erscheinung Christi das äußerliche ist, wogegen doch eigentlich sein ganzer Werth darauf beruht, daß die Fülle der Gottheit in ihm wohnte, daß er in dem Sinne vom Himmel herabgekommen war, wie er es früher schon gesagt hat, daß er keinen andern Willen habe als den seines Vaters, und nichts thun wolle als den Willen seines Vaters, und wie er es in bald folgenden Worten dieser Rede, die wir nächstens zum Gegenstand unserer Betrachtung machen werden, sagt, daß er ge|kommen sei um den Vater zu zeigen, und möglich zu machen, daß die Menschen von Gott gelehrt seien. So lange aber noch in etwas äußerlichem, in der Art wie sein irdisches Leben begonnen hat, in den Wundern, die sein Wirken unter den Menschen begleiteten, oder in andern äußerlichen Dingen, wodurch er sich von andern Menschen unterschied, der Grund des Glaubens an ihn und der Grund der Hoffnung gesucht wird, so lange sind wir nicht in der rechten Art zu glauben und noch mancherlei Zweifeln unterworfen, über die wir längst hinaus sein sollten. Denn der rechte lebendige Glaube wird sich sagen, es ist damit grade so wie es in unseren heiligen Schriften erzählt wird, aber es hätte auch können anders sein, ja es kann dies alles keinen wesentlichen Unterschied zwischen Christo und andern Menschen begründen. Seine hülfreiche Errettung ruht allein darauf, daß in ihm die Fülle der Gottheit wohnte, daß er von oben herab gekommen war, um uns den göttlichen Willen zu offenbaren und uns in die Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater aufzunehmen, daß mit jener Fülle der Gottheit zugleich in ihm das wahre lebendige Bild des ewigen Wesens niedergelegt war, und daß er uns mit dem, was er war, und was in ihm niedergelegt war, das Abbild des ewigen Wesens und den Abglanz der göttlichen Herrlichkeit gezeigt hat. Allein auf dieses innere sehen, sich allein an diese Vereinigung des göttlichen und menschlichen in ihm halten, ihn als die rechte und unerschöpfliche Quelle aller göttlichen Mittheilungen an die Menschen aus Gnaden ansehen, das ist der wahre lebendige Glaube. Die aber den Herrn damals hörten, die waren noch in diesem äußerlichen Wesen befangen und glaubten, weil sie seine äußerlichen Verhältnisse kann8 daß die] das die 8.26 Vgl. Kol 2,9 über Joh 6,45–51
10–11 Vgl. Joh 5,30 31–32 Vgl. Hebr 1,3
11–15 Vgl. unten 28. November früh
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ten und ihn zurükkverfolgen konnten bis auf den ersten Anfang seines Lebens, so könne er nicht das Brot sein, welches vom Himmel gekommen ist, und die konnten also nicht zum rechten Glauben an ihn gelangen. | Daher sagt nun Christus, Murret nicht unter einander; es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat, und ich werde ihn auferwekken am jüngsten Tage. Diese Worte, m. g. Fr., enthalten offenbar wieder nichts, wodurch er ihnen einen Aufschluß giebt über dasjenige, was eigentlich in ihnen das mangelhafte war und die Verkehrtheit und Verblendung, sondern es sind wieder solche Worte, womit er sich selbst darüber tröstet, daß sie in dieser Verblendung waren, indem er sagt, Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat. Und also sagt er auch, das sei ein Zug Gottes und hange nicht von dem Menschen ab oder gehe nicht von ihm aus, ob er von diesem äußerlichen, von diesem Verlangen nach dem äußerlichen los kommt und rein auf das geistige sieht. Denn darum sagt er, Weil euch der Vater noch nicht zieht, so könnt ihr noch nicht zu mir kommen, und haltet noch an dieser Schaale, und sehet mich nicht an als das Brot, welches vom Himmel gekommen ist um eure Seele zu speisen und zu nähren. Wenn wir bedenken, m. g. Fr., wie der Mensch dazu geführt wird, so viel Werth auf das äußerliche zu legen: so müssen wir sagen, es geschieht vorzüglich durch die ganze Art und Weise der Einrichtung unserer irdischen Natur, und es giebt vieles, was den Menschen in dieser Art und Weise seiner Einrichtung, welche ihn hindert ein geistiges Ziel rein ins Auge zu fassen, stärkt und befestigt, und es gehört ein großes Maaß geistiger Kraft dazu, um darüber hinweg zu kommen, sowol um allem Tichten und Trachten nach dem irdischen und vergänglichen zu entsagen, als auch um allein und getrost auf die göttliche Hülfe hinzusehen, welche nur der bringen konnte, der vom Himmel gekommen ist, und so von allem äußern hinweg und allein auf das innere gerichtet zu der rechten Stärke und Freiheit des Geistes zu gelangen, und auf diese Weise von dem Va|ter gezogen zu werden zu dem Sohne. Nicht als ob dieser Zug auf eine wunderbare Weise erfolgen könnte und sollte, sondern er liegt in der Art, wie Gott den Menschen führt, und Dank sei es seiner väterlichen Güte, nach welcher er uns so geleitet hat, daß uns nicht unbekannt geblieben ist sein ewiger und heiliger Wille ihn zu erkennen durch den Sohn. Wir also, m. g. Fr., wir dürfen uns nicht beklagen, als ob es unter uns an diesem Zuge des Vaters fehlte. Denn die Gemeine Christi, die unter uns gebaut ist, und die sich unterscheidet von jeder andern
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menschlichen Gesellschaft in ihrem Zwekke, in ihren Einrichtungen, in der Art, wie alles in ihr geschieht und erfolgt, so daß allein das innere geistige Leben der Hauptzwekk ist, auf den es in ihr ankommt, alles äußerliche aber als etwas diesem untergeordnetes und als ein Mittel zu diesem Zwekke erscheint, wie sie sich so unterscheidet von jedem andern menschlichen Verhältniß, wir die wir in dieser Gemeine des Herrn leben und alle Ereignisse derselben seit Jahrhunderten vor uns haben, wir sind dadurch von dem Vater gezogen, wir sind schon in dem Verhältniß, in welchem wir allein auf ihn geführt werden und auf den einen hingewiesen, der die Fülle der Gottheit in sich trug, und auf alle Wirkungen seiner ewigen Kraft, die er seit vielen Jahrhunderten ausgeübt hat, wir sind in diesem Zuge des Vaters und können nicht anders als zu ihm kommen, wenn es wahr ist, daß wir alle zu ihm zurükkgeführt werden kraft der Gewalt, die ihm verliehen ist im Himmel und auf Erden, daß keiner die innerste Offenbarung Gottes in seinem Herzen verdrängen kann, daß wir alle zu denen gehören, die der Vater dem Sohne gegeben hat, daß, wie schwach und unvollkommen auch unser Glaube ist, wir doch glauben, daß eine Gemeinschaft des geistigen Lebens zwischen uns und ihm ist; und je mehr wir das Brot des Lebens genießen, je mehr alle, die es schon empfangen haben, sich der Schwachen unter uns annehmen und sie auf den Herrn hinweisen, der keinen hinausstößt, welcher | zu ihm kommt, desto mehr wird die ganze Gemeine des Herrn aus solchen bestehen, die alles gute genießen, was in der Gemeinschaft des Sohnes zu genießen ist, und immer kräftiger dem Zuge des Vaters folgen, der die Menschen zu ihm führt. So, m. g. Fr., führt uns der Herr hier, wo er über das größte und tiefste in dem Verhältniß zwischen Gott und den Menschen überhaupt und in demjenigen besonders, welches durch ihn gestiftet ist, redet, so führt er uns darauf zurükk, auf der einen Seite alles, dessen wir uns im Glauben an ihn erfreuen, auch nicht auf die entfernteste Weise als unser eigenes Werk anzusehen, sondern allein als die Folge davon, daß Gott ihm, seinem Sohne, das ganze menschliche Geschlecht gegeben hat, und uns gezogen hat durch die Kraft seines Wortes zu dem einen, von welchem unser Heil kommt; aber dann führt er uns auch darauf, daß, wie er gesinnt gewesen ist, also auch wir gesinnt sein sollen, daß, wie er gesagt hat, Ich stoße keinen hinaus, der zu mir kommt, so auch wir aus allen Kräften daran arbeiten sollen, daß die Gemeinschaft der Menschen mit dem, der ihr Heil ist, immer vollkommner werde, und je mehr wir wissen, daß keiner zu ihm kommen kann, es sei denn daß ihn ziehe der Vater, der ihn gesandt hat, wir selbst uns immer mehr 14–15 Vgl. Mt 28,18
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reinigen, damit wir gesegnete Werkzeuge des himmlischen Vaters sein mögen. Und dazu möge er denn uns alle immer mehr bereiten durch den, durch welchen er uns berufen hat zur Seligkeit. Amen.
Am 21. November 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Andere Zeugen: Besonderheiten:
23. Sonntag nach Trinitatis (Totensonntag), 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,20–21 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) a. Drucktext Schleiermachers; Predigt am 23sten Sonntage nach Trinitatis 1824, 1825 Wiederabdrucke: Predigten. Siebente Sammlung, 1833, S. 529–548 (vgl. KGA III/2; zu den Varianten vgl. Einleitung, Punkt II.3.A.a.aa.) – SW II/2, 1834, S. 586–597; 21843, S. 585–596 – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 390–404 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 459– 468 – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 241–253 b. Nachschrift; SAr 89, Bl. 33r–48r; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 63, Bl. 55r–59v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
a. Drucktext Schleiermachers
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Predigt am 23sten Sonntage nach Trinitatis 1824 (am Todtenfeste) in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen von Dr. F. Schleiermacher.
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Berlin 1825. Gedruckt bei G. Reimer. |
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Text. Philipper 3, 20 und 21. Unser Wandel aber ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilandes Jesu Christi, des Herrn, welcher unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge ihm unterthänig machen. M. a. Fr. Unsere Versammlungen haben an dem heutigen Tage in zwiefachem Sinn eine besondere Bedeutung. Zuerst beschließen wir wie-
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derum unser kirchliches Jahr, indem wir nächstens mit der Vorbereitung auf die würdige Feier der Erscheinung dessen auf der Erde, welcher der Mittelpunkt unseres Glaubens, unserer Freude und unserer Liebe ist, den Kreislauf unserer Betrachtungen von neuem beginnen werden. Dann ist aber auch für unsere Gemeinen dieser Tag eben als das Ende eines Jahres besonders bestimmt zum Andenken an diejenigen, die uns in dem Laufe desselben aus dieser Zeitlichkeit vorangegangen sind. Das erste ist etwas Allgemeines in der ganzen christlichen Kirche; das leztere ist eine unserm Lande eigenthümliche, aber gewiß uns allen theure Einrichtung. Nur | jenes als das Aeltere und Allgemeinere soll nicht leiden unter diesem. Beides aber, m. gel. Fr., lenkt einerseits unsere Gedanken auf die Zeit, die nicht mehr ist. Ist unser Kirchenjahr vergangen, so rufen wir uns ja billig zurück, wie wir unsere kirchlichen Tage und unsere schönen Feste heilsam begangen haben. Und dann, zusammenleben im Glauben an den Herrn, zusammenwirken für sein Reich, das thaten wir, die wir noch übrig sind mit denen, welche uns vorangingen; aber getrennt worden zu sein von ihnen, das ist es nun, was der Himmel Manchem unter uns aufgelegt hat. Auf der andern Seite aber, m. th. F., weiset uns auch beides auf die Zukunft hinaus. Denn wofür wir Gott zu danken haben mögen in der Vergangenheit, es hat seinen Werth nur dadurch, wenn es nicht mit vergeht, sondern bleibt; und indem wir derer gedenken, die nicht mehr unter uns sind, so richtet sich unser Blick auf die Gemeine der Vollendeten, der wir auch werden einverleibt werden jeder zu der Zeit, die ihm der Herr bestimmt hat. Beides aber zusammenzufassen, m. gel. F., dazu finden wir eine schöne und vortreffliche Anleitung in unserem Texte. So laßt uns denn mit einander über diesen jezt vergangenen Theil unsers gemeinsamen christlichen Lebens nachdenken in Beziehung auf unser Verhältniß zu denen, welche die irdische Gesellschaft der Gläubigen verlassen haben. Es sind aber zwei hieher gehörige Fragen, worauf wir ganz besonders die Antwort in unserem Texte finden. Zuerst: Was ist denn wol dasjenige gewesen in unserem Leben, wodurch uns die Vereinigung mit denen gesichert ist, die uns vorangegangen sind? Und dann: Was ist dasjenige, wodurch wir nun auch denen immer näher kommen, welche aus | dieser irdischen Beschränktheit schon hinweggenommen sind? Diese beiden Fragen, m. gel. F., laßt uns zu unserer 9–10 Vor dem Hintergrund des Gedenkens an die Gefallenen der Befreiungskriege, die sich von 1813 bis 1815 zwischen den Truppen des napoleonischen Frankreich und deren Gegnern in Mitteleuropa ereignet hatten, hatte König Friedrich Wilhelm III. für die preußische Landeskirche durch Kabinettsorder vom 24. April und Verordnung vom 25. November 1816 den Totensonntag als ein „allgemeines Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen“ eingeführt.
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Erbauung nach Anleitung unseres Textes mit einander betrachten in christlicher Andacht und in christlichem Glauben.
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I. Wenn wir zuerst fragen, m. gel. F., unter allem, was wir als den eigentlichen Gehalt dieses vergangenen Jahres ansehen können, was ist denn dasjenige, wodurch und worin wir immer vereint bleiben mit denen, die vorher dieses Leben mit uns theilten, jezt aber nicht mehr unter uns sind? so antwortet uns darauf der Apostel in unserem Texte, indem er sagt: „Unser Wandel ist im Himmel.“ Ja, m. gel. F., das sagt er uns allen auf gleiche Weise; selbst diejenigen, welche der Herr dieses Jahr über von uns genommen hat, wir können sie nur ansehen als uns vorangegangen und nicht vielmehr auf eine betrübende Art hinter uns zurükgeblieben, insofern ihr Wandel auch hier schon im Himmel gewesen ist. Was also auch uns mit ihnen vereint hat, so lange sie noch unter uns lebten, und wodurch wir mit ihnen vereint bleiben, auch nachdem sie nicht mehr unter uns sind, es ist nur dies, daß auch unser Wandel im Himmel ist. Was heißt aber das, m. gel. F.? Wir wissen es recht wohl, wenn wir Himmel sagen, daß wir darunter keinen irgendwo nachzuweisenden bestimmten Ort verstehen. Der Himmel ist uns nicht mehr das feste über unserm Weltkörper ausgespannte Gewölbe, an welchem die glänzenden Punkte, die die Nacht erleuchten, angeheftet sind; er ist uns auch nicht mehr der Ort, an welchem das ewige und höchste Wesen einen besondern Siz und Wohnplaz hätte. Die lichten Punkte haben sich der Einsicht des Menschen | erweitert und vergrößert zu einer unendlichen Menge von Körpern wie der hier, den wir bewohnen, größer, geringer – wir wissen es nicht – auch an Kraft und Herrlichkeit der Geschöpfe, die auf ihnen leben. Mit dieser erweiterten Vorstellung von den Gestirnen ist uns nun auch das Gewölbe selbst, an dem sie uns erscheinen, auseinander gegangen zu einem unermeßlichen unbekannten Raum. Nur das wissen wir, daß das ewige und höchste Wesen eben so wenig diesen, als irgend einen anderen besondern Ort haben kann, an welchem es wohne, weil es in demselben dann immer auf eine gewisse Weise müßte eingeschlossen sein, oder sich auf andere Weise zu demselben verhalten als zu andern Oertern. Das können wir aber nicht mehr denken, sondern allgegenwärtig ist uns Gott und seine Wohnung überall. Seitdem aber der Mensch zu dieser Einsicht sich erhoben hat, m. gel. F., mußte er nothwendig eine andere geistige Haltung bekommen, damit er sich selbst und sein besseres Leben nicht verlöre. Würden wir uns nicht erscheinen als unendlich klein und unbedeutend in der Schöpfung gegen die ganze unübersehbare Zahl der Welten, und noch viel mehr jeder Einzelne für sich? Wenn wir uns erheben zu dem Gedanken einer unge-
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zählten Menge von Weltkörpern, alle beseelt und belebt von Geschöpfen Gottes: möchten wir nicht daran verzagen, daß wir, die wir vielleicht noch auf einer gar niedrigen Stufe stehen, vielleicht gar nicht Gegenstände wären seiner väterlichen Sorge und Obhut? Und seitdem wir nicht mehr zu jenem blauen Himmel emporsehen wie zu einem besondern Wohnsiz Gottes, sondern ihn als allgegenwärtig erkennen: o wie viel leichter kann es da dem Menschen, der sich doch über das Sinnliche nicht ganz erheben kann, wie viel leichter kann es ihm begegnen, daß | er das überall verbreitete Wesen aus seinen Gedanken und seinen Empfindungen verliert, weil er überall von dem irdischen umgeben ist, und nun nicht mehr glaubt, daß er sich von diesem erst abwenden müsse, um sich Gott zu nahen. Denn so wirkt das Wissen, welches aufbläht; und mit der erweiterten Erkenntniß der Welt hat sich viel Gleichgültigkeit gegen ihren Urheber eingeschlichen. Darum, m. th. F., mußte in dem Fortschritte der Entwickelung des menschlichen Geistes nun erfüllt werden der ewige heilsame Rathschluß Gottes von unserer Erlösung, und diese mußte sicher gestellt werden unter den Menschen; derjenige mußte erscheinen, der uns einen neuen Himmel als Wohnsiz Gottes auf der Erde zeigen konnte, derjenige in welchem, weil die Fülle der Gottheit in ihm wohnte, auch die Herrlichkeit des Vaters und sein göttliches Wesen zu schauen war. Er mußte erscheinen, damit wir wieder wie die älteren kindlichen Geschlechter eine Hütte Gottes, ein besonderes Heiligthum unter uns hätten, in welchem das ewige Wesen thront. So hat es denn gewohnt in dem, der Unsterblichkeit und ewiges Leben an das Licht gebracht hat, nicht in ihm eingeschlossen, sondern sich von ihm aus verbreitend in der Menge seiner Gläubigen als der ihnen einwohnende Geist, damit wir das höchste Wesen weder an einem bestimmten weit von uns entfernten Orte zu suchen brauchten, noch auch es etwa überall zwar, aber doch immer nur außer uns hätten, sondern in uns selbst sollten wir es finden, haben und genießen können. Dies nun, m. gel. F., dies ist der Himmel, in welchem unser Wandel sein soll. Der von der Kraft Gottes erfüllte und bewohnte Erlöser, die geistige Nähe und Gegenwart des Erlösers in seiner Gemeine durch den Geist, | den er verheißen und von seinem Vater erbeten hat, m. gel. F., das ist der Himmel, in welchem unser Wandel sein soll. Was aber der Apostel, m. a. F., unter dem Wandel in diesem Himmel versteht, das ist nach dem Gebrauch jener Sprache ein Zwiefaches. Zuerst nämlich die öffentliche Verfassung, die gemeinsamen Gesetze, 21 Wesen] Welen 20 Vgl. Kol 2,9
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welche einer Gesellschaft von Menschen für ihr Leben und ihre Handlungen gestellt sind, heißen ihr Wandel, dann aber auch die ganze Summa dieser ihrer Lebensbewegungen, ihrer Gedanken, Empfindungen und Handlungen selbst, wie sie sich auch zu jenen Gesezen verhalten mögen, heißen ihr Wandel. Dies also ist das Zeugniß, welches der Apostel im Namen der ganzen Christenheit von ihr ablegt, wenn er sagt, „unser Wandel ist im Himmel.“ Die Geseze unseres Lebens, Seins und Wirkens, die Verfassung dieser Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, worin wir mit einander stehen, das alles ist nirgend anders her als aus dem Himmel, den Christus, der Sohn des Höchsten, uns hier dargestellt hat. Daß wir Alles, was eine Ordnung unseres Lebens sein soll, auf den Höchsten und Ewigen beziehen, wie er sich uns in seinem Sohne offenbart hat, daß der Himmel, zu welchem wir unser ganzes Dasein hinlenken wollen, nichts anderes ist als die ununterbrochene geistige Gemeinschaft mit Gott durch seinen Sohn und in ihm, und daß wir uns nach diesen heiligen Ordnungen und Gesetzen auch wirklich bewegen, und allem irdischen Tichten und Trachten, was sich nur auf das vergängliche Dasein in dieser Welt bezieht, entsagend, nichts anderes wirklich thun als an dem Reiche Gottes auf Erden, an dem heiligen Tempel baun, in welchem der Höchste wirklich wohnen will und leben, weil er kein irdisches mit Händen gemachtes Haus ist, sondern der gei|stige Wohnsiz des ewigen Geistes in seinen geistigen Geschöpfen, dieses Leben und Wirken, Tichten und Trachten, das ist unser Wandel im Himmel. Und, m. gel. F., wo in jenen unendlichen Räumen wir diejenigen suchen mögen, die uns vorangegangen sind aus diesem irdischen Leben, denken wir sie wieder in einer Welt, wie herrlich auch die ausgeschmückt sein möge, die ihnen zu bewohnen und zu beleben gegeben ist, und ihr Leben bezöge sich nur auf ihr äußeres Dasein in ihrer Welt: so wäre es immer wieder, wie viel edler und weniger vergänglich auch die dortige Lust sein möge im Vergleich mit der hiesigen, doch wäre ihr Leben nur ein Wandel nicht im Himmel, sondern auf Erden. Denn alles, was am Stoff hängt und am Raum, das ist vergänglich seiner Natur nach und irdisch, und alles von dieser Art, was die menschlichen Seelen an sich zieht, das hat auch Möglichkeit in sich, sie wieder abzuziehen von dem ewigen, dem allein wahren und würdigen Gegenstand ihrer Freude und ihrer Liebe. Auch für sie also giebt es einen Wandel im Himmel eben so wie der unsrige, der unterschieden ist von jedem zeitlichen und irdischen Leben; und diesen Wandel im Himmel können auch sie nicht anders führen, wie wir; auch ihr Höchstes kann nur sein den Herrn zu erkennen wie er ist, und ihm dadurch und in sofern gleich zu sein, daß sie ihn wieder darstellen in ihrem Sein und Thun. Und so sind und bleiben wir vereint mit ihnen,
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wenn wir zu demselben Ziele wallen und nach denselben Gesezen und Ordnungen leben. Denn, m. gel. F., eine andere oder eine höhere Erkenntniß Gottes kann es für den menschlichen Geist nicht geben, davon sind wir gewiß alle überzeugt, so gewiß als wir von Herzen den Glauben der Christen mit einander theilen, eine andere und hö|here nicht als diejenige, welche dem Sohne Gottes einwohnte, der sich ja das Zeugniß geben konnte, als er seine irdische Laufbahn beschloß, daß er den Seinigen Alles gesagt habe und mitgetheilt, was ihm der Vater gegeben und was er von dem Vater gehört hatte. Also auch ihre Erkenntniß und unsere kann nur Eine und dieselbige sein, und auch sie wie wir können nichts Höheres wissen von dem ewigen Schöpfer und Vater aller Wesen, als was der Jünger des Herrn uns gelehrt hat „Gott ist die Liebe.“ Und die Liebe Gottes, die überall und immer der Himmel in unserem Herzen sein soll, kann nicht dort eine andere sein als hier, sondern sie ist eine und dieselbige. Indem also sie die Vorangegangenen und wir die Zurükgebliebenen in dieser Liebe Gottes leben – und das ist der einzige wahre Wandel im Himmel – so sind sie mit uns und wir mit ihnen vereint; Ein und derselbe Geist ist es, der in ihnen und in uns waltet, Ein und dasselbe Reich der Liebe, dem sie angehören und wir, Ein und derselbe Himmel, in dem sie wandeln und wir. Aber, m. gel. F., wenn wir mit inniger Dankbarkeit einstimmen können in das Zeugniß des Apostels, und es uns für unser Theil aneignen, daß auch wir durch die Gnade des Herrn zu dem Wandel im Himmel gelangt sind, und unser Erbtheil dort gefunden haben mit den Heiligen: müssen wir nicht doch gestehen, daß wir hier in diesem irdischen Leben unter denen, die mit einander den Wandel im Himmel führen, ach nur einen zu großen Unterschied finden? Oder findet nicht jeder, wenn wir nun auf das vergangene Jahr zurüksehen, einen bedeutenden Unterschied zwischen verschiedenen Zeiten und Stunden, einmal sich selbst rasch und munter im himmlischen Wandel, und noch hülfreiche Hände habend für die welche straucheln, dann | wieder sich selbst träge und läßig und fremder Hülfe bedürftig? Und werden wir nicht eine eben so große Verschiedenheit wahrnehmen, wenn wir uns mit Andern und Andere unter einander vergleichen? Wie der heitere Himmel, der uns jezt wieder scheint, bei weitem erfreulicher ist, als wenn finstere unbewegliche Wolken uns das schöne Blau verdunkeln, oder wenn zerstörende Stürme nur auf Augenblicke Sonne und Himmel sehen lassen, und dann wieder auf lange Zeit ängstliches Dunkel um uns her verbreiten: so, m. g. F., so ist der Unterschied zwischen den herrlichsten und den getrübten Stunden auch eines 6–9 Vgl. Joh 17,1–26
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wahrhaft christlichen Lebens; und so verschieden von einander sind diejenigen, die den Wandel im Himmel als Anfänger führen, von denen, die zu einer gleichmäßigeren Vollkommenheit darin gelangt sind. Ach nur zu oft verdunkelt ist der Himmel, indem sich das Irdische lagert vor dasjenige, was der Wohnsiz Gottes in unserer Seele ist, so daß dieser Himmel unserem Bewußtsein für den Augenblik entzogen ist, und wir nicht in ihm wandeln können; nur zu oft unterbrochen ist dieser Wandel von leidenschaftlichen Stürmen, welche die nie ganz bezwungene Verwandtschaft unserer Sinnlichkeit mit dem vergänglichen Wesen dieser Welt erregt. Diesen Unterschied unter uns, die wir hier auf Erden sind, immer mehr zu verringern, wenn wir ihn doch nicht ganz aufheben können, damit, da wir ihn noch nicht sehen können wie er ist, wir doch, wie es der Herr als dem neuen Bunde geziemend darstellt, den Gott mit den Menschen geschlossen hat, als von Gott gelehrte, Alle von ihm und dem Bewußtsein seiner innern Nähe und Kraft durchdrungen seien, dies, m. g. F., muß das höchste und schönste Ziel unserer Bestrebungen sein. Wenn wir nun derer gedenken, die den Wandel im Himmel füh|rend von uns geschieden sind, müssen wir uns nicht diese Veränderung wenigstens als eine große und bedeutende Stufe der Entwickelung vorstellen, durch welche sie der Herrlichkeit, die an den Kindern Gottes offenbart werden soll, so nahe gebracht sind, daß sie wol über allen Stürmen und Wolken in einem reinen Himmel wandeln? Ja, die Gemeine der Christen hier auf dem Schauplaz des Kampfes zwischen Licht und Finsterniß, hier wo sie noch immerfort zu streiten hat mit den dunklen Mächten, nicht nur die sich von außen her gegen sie lagern, sondern die auch immer noch in den Herzen der Gläubigen selbst sich regen, und die Gemeine der Vollendeten auf der andern Seite: wir können nicht anders als einen großen Unterschied denken zwischen dieser und jener, und eine Kluft befestigt zwischen beiden. Aber daß wir diese wollen auszufüllen suchen und ihnen immer näher kommen durch eine höhere Vollendung und Thätigkeit unseres Wandels im Himmel, darauf müssen wir uns auch das Wort geben, so oft wir ihrer in Glaube und Liebe gedenken. Wie geschieht das? Diese Frage laßt uns nun noch mit einander beantworten in dem zweiten Theile unserer Betrachtung.
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II. Der Apostel sagt aber außer dem, was wir schon näher erwogen haben, nur noch dieses in den Worten unseres Textes: Von wannen wir auch warten des Erlösers Jesu Christi, des Herrn, welcher unsern nichtigen Leib gleichförmig machen wird seinem verklärten Leibe nach
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seiner Alles beherrschenden Kraft. Also, m. g. F., auf das Warten verweiset uns der Apostel, und zwar scheint es ein Warten auf etwas, wozu wir selbst nichts beitragen können, daß nämlich der nichtige irdische Leib gleichförmig | gemacht werde dem verklärten Leibe des Herrn. Das können wir doch wol ganz so nicht denken. Nämlich, m. g. F., wir hören gar oft von einem zwiefachen Warten; das eine wird uns beschrieben, daß es aus der Thorheit und dem Wahn der Menschen entsteht, und sie immer mehr zu Thoren macht, indem sie sich dadurch nur zu oft um die köstliche Zeit des Lebens betrügen; das andere aber rühmt man uns als ein Hoffen, welches nicht zu Schanden werden läßt. Vor jenem wollen wir uns allewege hüten, aber das lezte kann freilich oft sehr heilsam sein. Worin besteht aber dieses rühmliche Warten, dieses ausharrende Hoffen, welches nicht zu Schanden werden läßt? Wenn wir uns diese Frage auch jezt nicht im Allgemeinen zu beantworten im Stande sind: so wissen wir doch, daß hier nicht die Rede sein kann von einem Hoffen und Harren des Fleisches in uns, m. gel. Fr., sondern nur des Geistes; der Geist aber ist immer nichts anderes als Kraft und Leben, und also Thätigkeit. Nicht unthätig also, sondern thätig soll auch unser Warten und Harren sein auf den Erlöser, den Herrn, der den nichtigen Leib verklären soll zur Gleichförmigkeit mit ihm. Wenn ihr mich nun fragt, was wir denn hiebei können zu thun haben: so frage ich euch zuerst wieder, m. gel. Fr., was könnte es uns an und für sich wol helfen, wenn unser nichtiger Leib zu einem noch so schönen und herrlichen verklärt würde? O laßt uns doch die Sache nehmen, wie sie uns hier im irdischen Leben täglich vor Augen liegt. Auch hier schon giebt es ja eine verschiedene Schönheit und Herrlichkeit der Gestalt auch in jener edleren Beziehung, in welcher alles Leibliche nur der Ausdruk und Abdruk des Geistes ist. Was aber könnte es irgend einem unter uns helfen, wenn seine äußere Gestalt plötzlich verwandelt | würde in die eines Menschen, viel vollkommner und edler als er selbst, in dessen Gesicht wir überall den herrlichen Ausdruk der reinen Liebe erkennen, in dessen Bewegungen überall die Festigkeit des Herzens und der Muth des lebendigen Glaubens sich ausdrükt, was würde das dem helfen, in dessen Innern diese Reinheit der Liebe und diese Kraft des Glaubens doch nicht wäre? Alle Verklärung des Leiblichen wäre nur ein leerer Schein und könnte nur als ein Trug wirken, also der Wahrheit entgegen, wenn nicht der Geist zugleich veredelt wäre und würdig geworden der neuen Bekleidung. Das aber geschieht durch unthätiges Harren eben so wenig als durch zauberische Einwirkungen; sondern es ist für alle die eine neue Kreatur geworden sind nur das Werk der Treue in dem Werke des Herrn, und beständiger unausgesezter Uebun-
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gen in allen guten Werken, wozu der Mensch Gottes soll geschikt sein. Aber, m. gel. Fr., der Apostel redet auch wol nicht, wenn wir seine Worte recht vernehmen, von dem Leibe eines jeden Einzelnen unter uns, der ja jedem besonders angehört; er sagt nicht, Wir warten des Herrn, der unsere nichtigen Leiber gleichförmig machen wird, sondern unsern nichtigen Leib, sagt er, und redet also von nur Einem also gemeinschaftlichen Leibe. Das ist aber nicht ein Leib, den wir haben, denn wir haben nicht zusammen Einen; sondern es ist der Leib, der wir zusammen genommen sind; es ist, wie derselbe Apostel uns so oft und schön darüber belehrt, der Leib Christi des Herrn, sein geistiger Leib, die Kirche, an welcher wir Glieder sind. Dieses also, daß der Herr diesen unsern gemeinschaftlichen Leib, wie er noch nichtig ist hier auf der Erde, wo er mit allem übrigen das irdische Loos theilt, immer mehr reinigen und verklären werde zur Schönheit der Vollende|ten und so ihn gleichförmig machen werde jenem verklärten Leibe des Herrn, nämlich der Gemeine der Vollendeten, zu welcher wir in Glauben und Liebe emporblicken. Dies, m. gel. Fr., ist es, worauf der Apostel uns vertröstet, und dessen wir auf die beschriebene Weise warten sollen, nämlich mit jener ausharrenden thätigen Hofnung, welche, weil sie als ein lebendiges Trachten der Seele, auch ein eifriges und wahrhaftes Verlangen derselben nach der Vollendung voraussezt, die nur durch von dem göttlichen Geist geleitete Thätigkeit gefördert werden kann, eben deswegen auch nicht zu Schanden werden läßt. In jenen Tagen nun hatte der Apostel wohl Ursache, den Leib des Herrn, wie er damals sich auf der Erde gestaltete, noch einen dürftigen, niedrigen und unscheinbaren zu nennen, nicht nur weil es nur ein so kleines Häuflein war, welches sich zu dem Wege des Lebens bekannte, sondern weil auch unter diesen die meisten noch an dürftigen Anfängen hingen, und sich nicht losmachen konnten von dem Dienste des Buchstaben und der äußern Gebräuche, in welchen sie bisher gewandelt hatten, so daß die Freiheit der Kinder Gottes und die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit nur sehr unvollkommen hervortrat. So dürfen wir denn sagen, nicht vergebens hat der Apostel diese Worte ausgesprochen und sich und seine Zeitgenossen damit getröstet. Denn wie viel vollständiger hat sich schon seitdem der irdische Leib des Herrn ausgebildet, daß wir Glieder desselben bewillkommnen aus fernen Ländern und unter Völkern, von deren Dasein man damals noch nichts wußte! Wieviel schöner hat er sich nicht schon verklärt, indem durch die beständige Wirkung des göttlichen Geistes, durch das immer wieder erneute Tönen seiner er1 Vgl. 2Tim 3,17
9–11 Vgl. Röm 12,4–5; 1Kor 12,12–27; Eph 5,30
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sten Ausbrüche in dem geschriebenen Worte des | Herrn, das ganze Geheimniß des geistigen Lebens so viel heller ins Licht getreten ist. Ja wohl, nicht vergebens hat der treue Diener des Herrn gewartet auf den verklärenden Erlöser. Und wir besonders, m. gel. Fr., wenn wir ein Jahr unseres kirchlichen Lebens beschließen, müssen ja mit inniger Dankbarkeit daran denken, daß wir derjenigen Gemeine der Christen angehören, welche von dem Verdunkelnden und Verunstaltenden, was lange diesen irdischen Leib des Herrn verhüllt hatte, vieles schon von sich geworfen hat und sich eines reineren Lichtes des Evangeliums rühmt und erfreut. Aber ist auch unser kirchlicher Zustand noch unvollkommen, weil ja noch so große Ungleichheiten unter uns sind, und müssen also auch wir noch mit dem Apostel warten: so müssen wir auch mit ihm sagen, Nicht daß ich es schon ergriffen hätte, vielmehr jage ich ihm nach, ob ich es ergreifen möchte; ich vergesse was da hinten liegt, und strecke mich nach dem, was da vorne ist. Denn nur wer so nachjagt und sich streckt nach dem was vor ihm liegt, kann auch so warten wie der Apostel mit derselben Zuversicht und demselben Erfolg. So sei denn dies das herrliche Ziel, dem wir nachjagen, daß die Gemeine sich immer mehr möge tadellos darstellen können vor dem Herrn! Prüfe jeder immer gründlicher, welches da sei der wohlgefällige Wille Gottes, und spüre nach, wo sich noch etwas unter uns findet von dem alten äußern Dienst todter Werke oder von der menschlichen Fessel des Buchstaben, damit wir dahin gelangen, Gott anzubeten nur im Geist und in der Wahrheit, rein in dem Geist, welcher, indem er in uns lieber Vater ruft, uns auch treibt, unter einander unsere Schwachheiten zu tragen und uns aufzunehmen in Liebe, | wie der Vater uns Alle trägt und aufnimmt in seinem Sohne; ihn anzubeten rein in der Wahrheit, die der Sohn Gottes, indem er uns den von ihm allein recht gekannten Vater offenbarte, ans Licht gebracht, und ihr dadurch ein Reich gestiftet hat, daß wir verbunden sind unter einander, sie immer mehr zu suchen in Liebe. Trachten und ringen wir nun danach, zu wachsen in solcher Verehrung Gottes nicht nur mit Worten und unausgesprochenen Seufzern, mit denen der Geist uns vertritt, wenn wir selbst unsere gemeinsamen Bedürfnisse nicht deutlich zu fassen vermögen, sondern auch mit ununterbrochenen guten Werken eines wahrhaft christlichen Lebens; und beweiset jeder dabei dieselbe Hingebung seiner Kräfte, mit welcher uns der Erlöser der Welt vorangegangen ist, und, bei der gleichen Treue, die keinen Augenblick verloren gehen läßt, so lange es 13–15 Vgl. Phil 3,13 21–22 Vgl. Röm 12,2; Eph 5,10 Gal 4,6 34–35 Vgl. Röm 8,26
25–26 Vgl. Röm 8,15,
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noch Tag ist und noch gewirkt werden kann, dieselbe demüthige Anheimstellung, wann und wie es Gott wohlgefällig sein werde, den Rath seiner Weisheit und Liebe an unserer Gemeinschaft in immer höherem Grade zu erfüllen: dann dürfen wir auch erwarten, daß der Herr unserm Streben, seine Gemeine zu reinigen und zu verherrlichen, wird Gedeihen geben; und dies ist das Warten auf den Erlöser den Herrn, welcher den nichtigen Leib gleich machen wird dem verklärten Leibe. Und wer wollte zweifeln, daß wir auf diese Weise nicht immer näher kommen sollten dem herrlichen Glanze der Gemeine der Vollendeten, und daß nicht unser ganzes Leben und jede Darstellung unseres Glaubens in Wort und That immer freier werden sollte von dem, was dem Staube angehört und nach dem vergänglichen Wesen dieser Welt schmeckt, immer reiner aber das höhere Licht glänzen werde sowol erleuchtend als erwärmend. | Aber, m. gel. F., so möchte jemand sagen, haben wir hierüber nicht eine Verheißung des Erlösers selbst, die weit herrlicher ist als die Vertröstung des Apostels, wenn doch der Apostel nur sagt, daß wir zu diesem Ende des Herrn unseres Erlösers warten sollen; er selbst aber gesagt hat: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende?“ Ja, m. th. F., was ihn betrifft und so viel es an ihm liegt, brauchen wir auch nicht zu warten. Er ist da, und wie er das Ebenbild des göttlichen Wesens, der Abglanz seiner Herrlichkeit ist: so müßte auch seine Gegenwart immer und unausgesezt die Reinheit und Herrlichkeit seines Leibes fördern. Dieses wird aber auch keinem unter uns fehlen, der seine Gegenwart auch immer wirklich genießt; ja wir dürfen wol sagen, jeder Augenblick, wo irgend einer ihn recht mit Glauben und Liebe umfaßt, trägt auch bei zur Verklärung der ganzen Gemeine, und möchten wir Alle recht viel so schöner Erinnerungen aus dem vergangenen Jahre aufbewahren! Nur weil so Viele seine Gegenwart vernachläßigen, und ihm, wenn er gleichsam anklopft, keinen Einlaß geben in das Innerste ihres Herzens und Lebens: so geht es langsam mit dem Ganzen, und wir sollen auch fühlen, daß es unserer Sehnsucht zu langsam geht und daß wir warten. So stimmt demnach die Vertröstung des Jüngers zusammen mit der Verheißung des Meisters, und beide auf einander bezogen stellen uns am besten dar, was wir zu thun haben, um denen näher zu kommen, die uns dorthin vorangegangen sind. O daß wir immer mehr uns der lebendigen Gegenwart des Herrn erfreuten, o daß er immer mehr waltete und wirkte, das heißt, daß wir ihn nur ließen ungestört walten und wirken, daß wir nur immer lauschten auf sein Wort, und unser sehnsüchtiges Auge seinem Blik | entgegentrügen und seine erfreuende und erquikkende 19 Mt 28,20
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Liebe in uns aufnähmen! Daß wir nur immer bereit wären, mit allen Gliedmaßen unseres Geistes das leichte herrliche Joch zu tragen, welches er den Seinigen auflegt, und ohne außer ihm einen Andern zu suchen, ohne je der Menschen Knechte zu werden, mit vereinter Kraft hindurchdrängen zur Freiheit der Kinder Gottes: dann würde auch hier schon der Leib des Herrn gleich sein seinem verklärten Leibe. Amen.
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b. Nachschrift 33r
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Predigt am drei und zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1824. (am Todtenfeste.) | Tex t. Philipper III, 20 und 21. Unser Wandel aber ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilandes Jesu Christi, des Herrn, welcher unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe, nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge ihm unterthänig machen. M. a. F. Unsere Versammlungen an dem heutigen Tage haben eine zwiefache besondere Bedeutung, zuerst beschließen wir wiederum unser kirchliches Jahr, indem wir nächstens mit der Vorbereitung auf die würdige Feier der Erscheinung dessen auf der Erde, welcher der Mittelpunkt unseres Glaubens, unserer Freude und unserer Liebe ist, den Kreislauf unserer Betrachtungen von neuem beginnen werden; dann | aber ist auch eben als das Ende eines Jahres für die christliche Gemeine dieser Tag besonders bestimmt zum Andenken an diejenigen, die uns in dem Laufe dieses Jahres aus dieser Zeitlichkeit vorangegangen sind. Jenes ist etwas Allgemeines in der ganzen christlichen Kirche, dieses Letztere ist eine besondere aber gewiß uns allen theure Einrichtung in unserem Lande. Aber jenes als das Ältere und Allgemeine soll nicht leiden unter diesem. Beides, m. g. F., lenkt unsere Gedanken auf die Zeit, die nicht mehr ist. Zusammenleben im Glauben an den Herrn, 2–3 Vgl. Mt 11,30 25–27 Vor dem Hintergrund des Gedenkens an die Gefallenen der Befreiungskriege, die sich von 1813 bis 1815 zwischen den Truppen des napoleonischen Frankreich und deren Gegnern in Mitteleuropa ereignet hatten, hatte König Friedrich Wilhelm III. für die preußische Landeskirche durch Kabinettsorder vom 24. April und Verordnung vom 25. November 1816 den Totensonntag als ein „allgemeines Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen“ eingeführt.
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zusammenwirken für sein Reich, das thaten wir, die wir noch übrig sind mit denen, welche uns vorangingen; aber getrennt worden zu sein von ihnen, das ist es nun, was der Himmel Manchem unter uns aufgelegt hat. Beides aber, m. th. Fr., weiset auf die Zukunft hinaus. Denn | wofür wir Gott zu danken haben mögen in der Vergangenheit, es hat seinen Werth nur dadurch, wenn es nicht mit vergeht, sondern bleibt; und indem wir derer gedenken, die nicht mehr unter uns sind, so richtet sich unser Blik auf die Gemeine der Vollendeten, der wir auch werden einverleibt werden jeder zu der Zeit, die ihm der Herr bestimmt hat. Beides aber zusammenzufassen, m. g. F., dazu finden wir eine schöne und vortreffliche Anleitung in unserem Texte. So laßt uns denn mit einander über diesen jetzt vergangenen Theil unseres gemeinsamen christlichen Lebens nachdenken in Beziehung auf unser Verhältniß zu denen, welche die irdische Gesellschaft der Gläubigen verlassen haben. Es sind aber zwei hieher gehörige Fragen, worauf wir ganz besonders | die Antwort in unserem Texte finden. Die erste ist diese: Was ist denn nun dasjenige gewesen in unserem vergangenen gemeinsamen Leben, wodurch uns die Vereinigung mit denen gesichert ist, die uns vorangegangen sind? Die zweite ist die: Was ist es in unserem gemeinsamen Leben, wodurch wir nun auch denjenigen immer näher kommen, welche aus dieser irdischen Beschränktheit schon hinweggenommen sind? Diese beiden Fragen, m. g. F., laßt uns zu unserer Erbauung nach Anleitung unseres Textes mit einander betrachten in christlicher Andacht und in christlichem Glauben. I. Wenn wir zuerst fragen, m. g. F., unter allem, was dieses vergangene Jahr der Gehalt unseres Lebens gewesen ist, was ist denn dasjenige, wodurch und worin wir immer vereint bleiben mit denen, | die es vorher mit uns theilten, jetzt aber nicht mehr unter uns sind? so antwortet uns darauf der Apostel in unserem Texte, indem er sagt: „Unser Wandel ist im Himmel.“ Ja, m. g. F., das sagt er uns allen gleich; selbst diejenigen, welche der Herr dieses Jahr über von uns genommen hat, wir können sie nur ansehen als uns vorangegangen und nicht etwa auf eine betrübende Art hinter uns zurükgeblieben, insofern ihr Wandel auch hier schon im Himmel gewesen ist, und was also auch uns mit ihnen vereint hat, so lange sie noch unter uns lebten, und wodurch wir mit ihnen vereint bleiben auch nachdem sie nicht mehr unter uns sind, es ist nur dies, daß auch unser Wandel im Himmel ist. Was heißt aber das, m. g. F.? Wir wissen es recht wohl wenn wir „Himmel“ sagen, daß wir darunter keinen | besondern nachzuweisenden bestimmten Ort verstehen. Der Himmel ist uns nicht mehr das feste über unsern Weltkörper ausgespannte Gewölbe, an welchem die lichten Punkte, die die
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Nacht erleuchten, angeheftet sind, er ist uns auch nicht mehr der Ort, an welchem das ewige und höchste Wesen einen besondern Sitz und Wohnplatz hätte. Die lichten Punkte, die haben sich der Einsicht des Menschen erweitert und vergrößert zu einer unendlichen Menge von Körpern wie der hier ist, den wir bewohnen, größer, geringer – wir wissen es nicht – an Kraft und Herrlichkeit der Geschöpfe, die sie bewohnen, und damit ist uns das Gewölbe selbst auseinander gegangen in ein Unermeßliches. Und das wissen wir, daß das ewige und höchste Wesen nicht einen besondern Ort haben kann, an welchem | es wohnt, weil es in demselben dann immer auf eine besondre Weise müßte eingeschlossen sein, sondern allgegenwärtig ist uns Gott und seine Wohnung überall. Seitdem aber der Mensch zu dieser Einsicht sich wiedererhoben hat, m. g. F., mußte er nothwendig eine andere geistige Haltung bekommen, damit er sich selbst und sein besseres Leben nicht verlöre. Würden wir uns nicht erscheinen als ein unendlich Kleines und Unbedeutendes gegen die ganze unübersehbare Zahl der Welten, und noch viel mehr jeder Einzelne für sich, wenn wir uns erheben zu dem Gedanken einer ungezählten Menge von Weltkörpern, alle bewohnt von Geschöpfen Gottes? möchten wir nicht daran verzagen, daß auch wir vielleicht noch auf einer niedrigen Stufe stehende Gegenstände wären seiner väterlichen Sorge und Obhut? Und seitdem wir nicht mehr zu jenem blauen Himmel | emporschauen wie zu einem besondern Wohnsitz Gottes, sondern ihn als allgegenwärtig erkennen: o wie viel leichter kann es da dem Menschen, der sich doch über das Sinnliche nicht ganz erheben kann, wie viel leichter kann es ihm begegnen, daß er das überall verbreitete Wesen aus seinen Gedanken und seinen Empfindungen verliert, weil er überall von dem umgeben ist, worin es verbreitet sein soll. Darum, m. th. Fr., mußte eben zu dieser Zeit der menschlichen Entwickelung erfüllt werden der ewige heilsame Rathschluß Gottes von der Erlösung und von der Sicherstellung der Menschen, derjenige mußte erscheinen, der uns den Himmel als den Wohnsitz Gottes auf die Erde gebracht hat, derjenige in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, in welchem die Herrlichkeit des Vaters und seine göttliche Macht und [ewiges] Wesen | zu erkennen war, wir mußten es wieder haben, daß das ewige Wesen irgendwo besonders wohnte. So hat es denn gewohnt in dem, der Unsterblichkeit und ewiges Leben an das Licht gebracht hat, nicht in ihm eingeschlossen, sondern sich von ihm aus verbreitend in der Menge seiner Gläubigen als der ihnen einwohnende Geist, damit wir das höchste Wesen weder an einem be34 ewiges] Ergänzung mit SAr 63, Bl. 56r 32–33 Vgl. Kol 2,9
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stimmten weit von uns entfernten Orte, noch auch etwa nur überall aber doch immer nur außer uns, sondern in uns selbst suchen und finden, haben und genießen könnten. Das, m. g. F., das ist der Himmel, in welchem unser Wandel sein soll. Dieses Wohnen Gottes in dem Erlöser, diese geistige Nähe und Gegenwart des Erlösers in dem Geist, den er verheißen und von seinem Vater er|beten hat, der Wandel in dem, das, m. g. F., das ist der Wandel im Himmel. Was aber der Apostel, m. a. F., unter „Wandel“ versteht, das ist wiederum ein Zwiefaches, zuerst nämlich die innere Verfassung, die gemeinsamen Gesetze, nach denen die Menschen leben und sich bewegen, und dann die ganze Summa dieser ihrer Lebensbewegungen, ihrer Gedanken, Empfindungen und Handlungen selbst. So ist denn das das Zeugniß, welches der Apostel im Namen der ganzen Christenheit von ihr ablegt „Unser Wandel ist im Himmel“. Die Gesetze unseres Lebens, Seins und Wirkens, die Verfassung der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, worin wir mit einander stehen, sie gründen sich auf nichts anderes als auf den Himmel, den Christus, der Sohn des Höchsten, auf die Erde gebracht hat. | Daß wir Alles, was eine Ordnung unseres Lebens sein soll, auf den Höchsten und Ewigen beziehen, wie er sich uns in seinem Sohne offenbart hat, daß der Himmel, zu welchem wir unser ganzes Dasein hinlenken wollen, kein anderer ist als die lebendige, die ununterbrochene Gemeinschaft mit Gott durch seinen Sohn und in ihm, und daß wir uns nach diesen heiligen Ordnungen und Gesetzen auch wirklich bewegen, allem irdischen Tichten und Trachten, was sich nur auf das Vergängliche dieser Welt bezieht, entsagen, und nichts anderes wirklich thun als bauen an dem Reiche Gottes auf Erden, an dem heiligen Tempel, in welchem der Höchste wirklich wohnen will und leben, weil er kein irdisches mit Händen gemachtes Haus ist, sondern der geistige Wohnsitz des ewigen Geistes in seinen geistigen Geschöpfen, an diesem mit einander bauen: | das ist unser Wandel im Himmel. Und, m. g. F., wo in jenen unendlichen Räumen wir diejenigen suchen mögen, die uns vorangegangen sind aus diesem irdischen Leben, wenn dort ihr Leben sich nur bezöge auf die Welt, die ihnen zu bewohnen und zu beleben gegeben ist, so wäre es immer wieder, wie viel herrlicher ihr Wohnsitz auch sein möge als der uns’rige, es wäre doch nur ein Wandel auf Erden. Denn alles was am Stoff hängt und am Raum, das ist vergänglich seiner Natur nach, und alles was von dieser Art die menschlichen Seelen an sich zieht, das hat auch die Möglichkeit in sich, sie wieder abzuziehen von dem ewigen Gegenstand ihres Tichtens und Trachtens. Auch für sie giebt es einen Wandel im Himmel ebenso wie der uns’rige[,] unterschieden von dem zeitlichen und irdischen | Leben. 15 Gemeinschaft] Gemeinschaft,
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Indem sie jenen Wandel im Himmel führen, so führen sie denselben wie wir; wir sind und bleiben vereint mit ihnen zu demselben Ziele und indem wir nach denselben Gesetzen und Ordnungen leben. Denn, m. g. F., eine andere oder eine höhere Erkenntniß Gottes kann es für den menschlichen Geist nicht geben, davon sind wir gewiß alle überzeugt, so gewiß als wir von Herzen den Glauben der Christen mit einander theilen, eine andere und höhere kann es nicht geben als diejenige, welche dem Sohne Gottes einwohnte, der sich das Zeugniß geben konnte als er seine irdische Laufbahn beschloß, daß er den Seinigen Alles gesagt habe und mitgetheilt, was ihm der Vater gegeben und was er von dem Vater gehört habe. Also auch ihre Erkenntniß und unsere | kann nur Eine und dieselbige sein, und auch sie wie wir können nichts Höheres wissen von dem ewigen Schöpfer und Vater aller Wesen, als was der Jünger des Herrn uns gelehrt hat „Gott ist die Liebe.“ Und die Liebe Gottes, die als unser Himmel in unserem Herzen sein soll, sie kann nicht dort eine andere sein als hier, sondern sie ist Eine und dieselbige. Indem also sie, die Vorangegangenen und wir die Zurückgebliebenen in dieser Liebe Gottes leben – und das ist der einzige wahre Wandel im Himmel – so sind sie mit uns und wir mit ihnen vereint; Ein und derselbe Geist ist es, der in ihnen und in uns waltet, Ein und dasselbe Reich der Liebe, dem sie angehören und wir. – Aber, m. g. F., wenn wir mit inniger Dankbarkeit einstimmen können in das Zeugniß des Apostels und es | uns sagen: ja durch die Gnade des Herrn haben wir den Wandel im Himmel gefunden, und er ist unser Erbtheil, müssen wir nicht doch gestehen, daß hier in diesem irdischen Leben unter denen, die mit einander den Wandel im Himmel führen, noch nur ein zu großer Unterschied ist, ein Unterschied, den jeder fühlt zwischen den verschiedenen Stunden seines Lebens, den jeder inne wird, wenn er sich mit Andern und Andere unter einander vergleicht. Wie der heitere Himmel, der uns jetzt wieder scheint, so etwas Erfreulicheres ist, als wenn das schöne Blau verdunkelt wird durch finstere und trübe Wolken, und wenn sich zerstörende Stürme lagern zwischen der heitern Höhe, die wir immer gern sehen, und diesem unsern irdischen Wohnplatz: so, m. g. F., so ist | der Unterschied zwischen den verschiedenen Stunden des Lebens und die Art wie der Wandel im Himmel in dem Einen und dem Andern erscheint, ach nur zu oft verdunkelt, indem sich das Irdische lagert zwischen dem Wohnsitz Gottes in der Seele und zwischen unserem Bewußtsein des Augenblicks[,] nur zu oft unterbrochen von Stürmen, welche die nie ganz bezwungene Sinnlichkeit und die Verwandschaft unseres Wesens mit dem vergänglichen Wesen dieser Welt enthält. Diesen Unterschied zu verringern und auf8–11 Vgl. Joh 17,1–26
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zuheben unter uns, die wir hier auf Erden sind, auf daß, wie es der Herr sagt, daß es dem neuen Bunde gezieme, den Gott mit den Menschen geschlossen hat, daß alle von Gott gelehrt und von ihm und dem Bewußtsein seiner innern | Nähe und Kraft durchdrungen wären, das, m. g. F., das ist das höchste und schönste Ziel unserer Bestrebungen. Wenn wir nun derer gedenken, die den Wandel im Himmel führend von uns geschieden sind, können wir anders als uns diese Veränderung denken als eine große und bedeutende Stufe der Entwickelung? Die Gemeine der Christen hier auf dem Schauplatz des Kampfes zwischen Licht und Finsterniß, hier wo sie noch immerfort zu streiten hat mit den dunkeln Mächten, nicht nur die sich von außenher gegen sie lagern, sondern die auch immer noch in den Herzen der Gläubigen selbst bleiben, sich zeigen und regen, und die Gemeine der Vollendeten auf der andern Seite: wir können nicht anders als einen großen Unterschied denken zwischen dieser und jener und eine Kluft befestigt zwischen beiden. | Aber sie auszufüllen, ihnen immer näher zu kommen in einer höheren Vollendung und Thätigkeit unseres Wandels im Himmel, darauf müssen wir uns auch das Wort geben, so oft wir ihrer in Glaube und Liebe gedenken. Wie geschieht das? Diese Frage laßt uns nun auch mit einander beantworten in dem zweiten Theile unserer Betrachtung. II. Der Apostel sagt aber außer dem, was wir schon näher erwogen haben, nun noch dies in den Worten unseres Textes: „Von wannen wir auch warten des Erlösers Jesu Christi, des Herrn, welcher unsern nichtigen Leib gleichförmig machen wird seinem verklärten Leibe nach seiner Alles beherrschenden Kraft.“ Also, m. g. F., auf das „Warten“ verweiset uns der Apostel und zwar auf ein Warten darauf, wozu wir selbst nichts beitragen können, daß nämlich der nichtige irdische Leib | gleichförmig gemacht wird dem verklärten Leibe des Herrn. Das können wir doch so und ganz so nicht denken. M. g. F., wir wissen, es giebt ein zwiefaches Warten und Harren, das eine, welches aus der Thorheit und dem Wahn der Menschen entsteht, und womit sie sich nur zu oft um die köstliche Zeit des Lebens betrügen, das andere aber, welches nicht zu Schanden werden läßt. Vor jenem wollen wir uns hüten und nach diesem uns strecken. Was aber, m. g. F., ist denn das Warten, das Harren, das hoffende Harren, welches nicht zu Schanden werden läßt? Es ist das Hoffen und Harren nicht des Fleisches in uns, m. g. F., sondern des Geistes, der Geist aber ist immer nichts anderes als Kraft und Leben, und also auch kräftig und lebendig, das heißt nicht unthätig, sondern thätig soll unser | Warten und Harren sein, thätig unser Warten und 1–4 Vgl. Jer 31,33–34 (zitiert in Joh 6,45)
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Harren auf den Erlöser den Herrn, der den nichtigen Leib verklären soll zur Gleichförmigkeit mit ihm. M. a. F., was könnte es uns an und für sich helfen, wenn unser nichtiger Leib zu einem schönen und herrlichen verklärt würde. O laßt uns dies doch in der irdischen Ähnlichkeit ergreifen, die uns täglich vor Augen liegt. Auch hier schon giebt es eine verschiedene Schönheit und Herrlichkeit der Gestalt auch in jener edlern Beziehung, in welcher alles Leibliche nur der Ausdruck und Abdruck des Geistes ist. Was hülfe es irgend einem unter uns, wenn seine äußere Gestalt plötzlich verwandelt würde in das Bild eines Menschen, viel vollkommner und edler als er selbst, in dessen Gesicht wir überall den herrlichen Ausdruck der | göttlichen Liebe wiedererkennen, in dessen Bewegungen überall die Festigkeit des Herzens und der lebendige Glaube sich ausdrückt, was würde es helfen, wenn diese Reinheit der Liebe und diese Kraft des Glaubens doch nicht in unserem Innern wäre? Alle Verklärung des Leiblichen wäre nur ein leerer Schein und nur ein Schatten, wenn nicht der Geist erstarkte und würdig würde der neuen Bekleidung. Das aber geschieht nicht durch unthätiges Harren, sondern es ist das Wort der Treue in dem Werke des Herrn und beständiger unausgesetzter Übungen in allen guten Werken, wozu der Mensch Gottes soll geschickt sein. Aber, m. g. F., der Apostel redet ja auch nicht, wenn wir seine Worte recht vernehmen, von dem Leibe eines jeden Einzelnen unter uns, der jedem besonders angehört, er sagt | nicht „wir warten des Herrn, der unsre nichtigen Leiber gleichförmig machen wird“, sondern unsern richtigen Leib wird er gleich machen seinem verklärten Leibe. Unser gemeinsamer Leib aber, m. g. F., das ist, wie derselbe Apostel uns so oft und schön darüber belehrt, das ist der Leib Christi des Herrn, der geistige Leib des Herrn, an welchem wir Glieder sind. Und so sollen wir warten und harren, daß er diesen unsern Leib, wie er noch nichtig ist hier auf der Erde, das irdische Loos theilend, immer mehr gleichförmig mache jenem verklärten Leibe des Herrn, jener Gemeine der Vollendeten, zu welcher wir in Glauben und Liebe emporblicken. Das, m. g. F, das ist das Warten, worauf er uns vertröstet, daß der Herr seinen Leib wie er | jetzt hier noch ist, immer mehr verklären werde zur Schönheit der Vollendeten, das ist, m. g. F., das ist das Hoffen und Harren, welches weil es ein lebendiges Trachten der Seele, weil es ein thätiges Verlangen derselben voraussetzt nach der Vollendung, die nur durch ihre Thätigkeit entstehen kann, eben deswegen auch nicht zu Schanden werden läßt. In jenen Tagen hatte der Apostel wohl Ursache den Leib des Herrn, wie er damals sich auf der Erde gestaltete, noch einen dürftigen, niedrigen und unscheinbaren zu nennen, nicht nur weil es nur ein so kleines Häuflein der Men19–20 Vgl. 2Tim 3,17
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schen war, die sich bekannten zu dem Wege des Lebens, sondern weil auch unter diesen die meisten noch hingen an dürftigen Anfängen, und | sich noch nicht ganz losmachen konnten von dem Dienste des Buchstabens und der äußern Gebräuche, in welchen sie bisher gewandelt hatten, zur Freiheit der Kinder Gottes, zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit. So dürfen wir denn sagen, nicht vergebens hat er diese Worte auf den Erlöser, den Herrn, ausgesprochen. Wie viel schöner hat sich seitdem der irdische Leib des Herrn verklärt, wie bewillkommnen wir Glieder desselben in fernen Ländern unter Völkern, von deren Dasein man damals noch nichts wußte, und wie viel klarer ist nicht durch die beständige Wirkung des göttlichen Geistes, durch das immer wieder erneute Tönen seiner ersten Ausbrüche in dem geschriebenen Worte des Herrn, wie viel klarer ist uns nicht das ganze Geheimniß des geistigen Lebens geworden. Ja wohl, mögen wir sagen, nicht | vergebens hat der treue Diener des Herrn gewartet auf den verklärten Erlöser. Und wir besonders, m. g. F., wenn wir ein Jahr unseres kirchlichen Lebens beschließen, wir müssen ja daran denken mit inniger Dankbarkeit, daß wir derjenigen Gemeine der Christen angehören, welche von dem Verdunkelnden und Verunstaltenden, was lange diesen irdischen Leib des Herrn erfüllt hatte, vieles schon von sich geworfen hat und in einem schöneren und reineren Lichte der Verklärung strahlt. Aber wir wissen es auch, daß wir mit demselben Apostel sagen müssen „Nicht daß ich es schon ergriffen hätte, vielmehr jage ich ihm nach, ob ich es ergreifen möchte, ich vergesse was da hinten liegt, und strecke mich nach dem, was da vorne ist.“ | O, dieses herrliche Ziel der wahren Freiheit der Kinder Gottes, los von jedem äußern Dienst und von jeder menschlichen Fessel, Gott anzubeten nur im Geist und in der Wahrheit, rein in dem Geist, den uns der Herr verdient und erworben hat, und der in uns lieber Vater ruft, und der uns vertritt mit unausgesprochenen Seufzern, wenn wir selbst unsere Bedürfnisse und Empfindungen nicht in Worte zu kleiden vermögen, rein in der Wahrheit, die der Sohn Gottes an das Licht gebracht hat, indem er uns den Vater, wie ihn niemand kannte als er, offenbart hat, so den Herrn anzubeten nicht nur in Worten und unausgesprochenen Seufzern, sondern auch mit ununterbrochenen Thaten eines wahrhaft christlichen Lebens, | ihn anzubeten mit derselben Hingebung unserer Kräfte, mit welcher der Erlöser der Welt uns vorangegangen ist, mit derselben demüthigen Anheimstellung wann und wie er den Rath seiner Weisheit und Liebe in immer höherem Grade an uns erfüllen wolle, aber auch mit derselben Treue keinen Augenblick verloren gehen lassen, so lange es noch Tag ist und wir noch wirken können: das ist das Warten und Harren auf 23–25 Vgl. Phil 3,13
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29–30 Vgl. Röm 8,26
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den Erlöser den Herrn. Und so wir dabei verbleiben, ja, m. g. F., so wird sich immer mehr der Leib des Herrn verklären auch hier auf der Erde, so wird unsere Gemeine immer näher kommen dem herrlichen Glanze der Gemeine der Vollendeten, so wird man in unserem ganzen Leben und in der Darstellung | unseres Glaubens immer weniger wahrnehmen von dem, was dem Staube der vergänglichen Erde angehört, und immer mehr das höhere Licht glänzen, erleuchten und erwärmen. Aber, m. g. F., warum sagt denn der Apostel, daß wir zu diesem Ende des Herrn unseres Erlösers warten sollen? Hat er selbst uns nicht eine schönere Verheißung gegeben, indem er gesagt hat: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende?“ Ja, m. th. Fr., was ihn betrifft und so viel es an ihm liegt, brauchen wir nicht zu warten, er ist da, das Ebenbild des göttlichen Wesens, der Abglanz seiner Herrlichkeit, er ist uns niemals und nirgends fern, unser Glaube, unsere Liebe kann ihn in jedem Augenblick | dieses Lebens umfassen. Aber wie oft, m. g. F, wie oft muß er stehen und anklopfen, bis der Mensch ihn hineinläßt in das Innerste seines Herzens und Lebens, wie oft setzen wir uns selbst in den Fall, daß wir auf ihn warten müssen, weil wir uns in die Entfernung von ihm gestellt haben, die nicht Statt finden dürfte, so wir seine Kraft nur immer benutzten, so wir uns selbst nicht von ihm entfernten. Das, m. g. F., das ist es also, was wir zu thun haben um denen näher zu kommen, die uns dorthin vorangegangen sind. O daß wir immer mehr uns der lebendigen Gegenwart des Herrn erfreuten, o daß er immer mehr waltete und wirkte, das heißt, daß | wir ihn nur ließen ungestört walten und wirken, daß wir nur immer lauschten auf sein Wort, daß wir unser sehnsüchtiges Auge nur immer entgegentrügen seinem Blick, seiner Sehnsucht, seiner erfreuenden und erquickenden Liebe, daß wir nur immer bereit wären mit allen Gliedmaaßen unseres Geistes das leichte herrliche Joch zu tragen, welches er den Seinigen auflegt, und ohne außer ihm einen Andern zu suchen, ohne je der Menschen Knechte zu werden, mit gleicher Kraft hindurchdrängen zur Freiheit der Kinder Gottes, dann würde auch hier schon der Leib des Herrn gleich sein seinem verklärten Leibe. Amen.
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[Liederblatt vom 21. November 1824:] Am 23ten Sonntage nach Trinitatis 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Meinen Jesum laß etc. [1.] Himmelan geht unsre Bahn / Wir sind Gäste nur auf Erden, / Bis wir dort zum Kanaan / Durch die Wüste kommen werden. / Hier ist unser Pilgrimsstand, / Droben unser Vaterland. // [2.] Himmelan schwing dich, mein Geist; / Denn du bist ein himmlisch Wesen, / Und du kannst was irdisch heißt / Nicht zu deinem Ziel erlesen. / Wer es weiß, woher er stammt, / Ist für’s Ew’ge nur entflammt. // [3.] Himmelan! ruft Gott mir zu / In des heil’gen Wortes Lehren; / Das weist mir den Ort der Ruh, / Dem ich einst soll angehören. / Wähl’ ich dies zur Leuchte mir, / Wandl’ ich schon im Himmel hier. // [4.] Himmelan! mein Glaube zeigt / Mir das schöne Land von ferne, / Daß mein Herz schon aufwärts steigt / Ueber Sonnen über Sterne; / Denn ihr Licht ist viel zu klein, / Gegen jenen Glanz und Schein. // [5.] Himmelan wird mich der Tod / In die rechte Heimath führen, / Da ich über alle Noth / Ewig werde triumphiren. / Jesus geht mir selbst voran, / Daß ich freudig folgen kann. // Nach dem Gebet. – Mel. Eins ist Noth, ach etc. [1.] Herzog unsrer Seligkeiten / Führ uns in dein Heiligthum! / Hilf daß wir uns recht bereiten / Zu verkünden deinen Ruhm. / Laß unsre demüthige Bitte dich rühren, / Du hast uns erkaufet, du wirst uns auch führen; / Daß immer vollkommner den Seegen wir sehn, / Und mit dir durch Leiden zur Herrlichkeit gehn. // [2.] Zu dir hat uns Gott gezogen / Und du zogst zu ihm uns hin: / So hat Lieben überwogen / Unsers Herzens starren Sinn. / Drum wollen wir freudig in dir auch absterben / Der Welt und des eigenen Herzens Verderben. / In deinen Tod, Herr, laß gepflanzet uns sein, / Sonst dringen wir nimmer zum Leben hinein. // [3.] Denn noch immer sucht die Sünde / So viel Ausflucht überall, / Wie sie unsern Willen binde / Und bereite uns den Fall; / Es bleibet das Herz an dem Kleinsten noch kleben / Und will sich nicht völlig zum Sterben ergeben, / Entschuldigung wendet es überall vor, / Wir leihen der Täuschung ein williges Ohr. // [4.] Drum du Todesüberwinder / Nimm dich mächtig unsrer an, / Greife in das Herz der Sünder, / Reiß heraus den falschen Wahn. / O laß sich dein neues erstandnes Leben / In unsern erstorbenen Herzen erheben; / Laß deine vollkommene Klarheit uns sehn, / Auf daß wir als neue Geschöpfe erstehn. // [5.] Kehre die zerstreuten Sinnen / Aus der Vielheit in das Ein, / Daß sie wieder Raum gewinnen, / Nur von dir erfüllt zu sein. / Ach wirf du die Mächte der Finsterniß nieder, / Erneue die Kräfte des Geistes uns wieder, / Daß er aus der Fülle der Gnaden sich nähr’ / Und muthig sich gegen die Anfechtung wehr. // [6.] Lebensfürst! so lieb’ und labe / Die begnadigte Natur; / Wirke fort mit deiner Gabe / In der neuen Kreatur. / Dein Eden erblüh’ in der Seele der Deinen, / Und bald laß die selige Stunde erscheinen, / Wo du dich in allen Erlösten verklärst, / Und allen auch hier schon das Leben gewährst. // Nach der Predigt. – Mel. Kommt her zu mir etc. [1.] Wer jezt noch reu’ge Thränen weint, / Wird einst, wenn, Herr dein Glanz erscheint, / Selbst leuchten wie die Sonne. / Ich sündiger, von Sünden rein /
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Dir gleich in deinem Anschaun sein, / Voll Freude Dank und Wonne. // [2.] Der höhren Geister heilge Schaar / Und wer auf Erden gläubig war, / Sind alle meine Brüder; / Im Geist verwandt sind alle wir, / Wir singen stets Erlöser dir / Aus Einem Munde Lieder. //
Am 28. November 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:
1. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 6,45–51 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 443–454; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 193r–198v; Saunier, in: Schirmer Nachschrift; SAr 63, Bl. 61r–64r; Woltersdorff Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 1. Advents-Sonntage 1824.
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Tex t. Joh. 6, 45–51. Es stehet geschrieben in den Propheten, Sie werden alle von Gott gelehrt sein. Wer es nun höret vom Vater und lernet es, der kommt zu mir. Nicht daß jemand den Vater habe gesehen ohne der vom Vater ist, der hat den Vater gesehen. Warlich, warlich ich sage euch, wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben Manna gegessen in der Wüste und sind gestorben. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, auf daß wer davon ißt nicht sterbe. Ich bin das lebendige Brot vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit; und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt. Von dem, was wir jezt mit einander gelesen haben, m. a. Fr., bezieht sich das erste noch auf dasjenige, was der Herr sagte zur | Antwort an die, welche unter einander sprachen, Ist dieser nicht Jesus, Josephs Sohn, deß Vater und Mutter wir kennen, wie spricht er denn, Ich bin vom Himmel gekommen? Das lezte aber, das ist der Anfang und gleichsam die Einleitung zu dem, was den Schluß dieser ganzen Rede des Herrn ausmacht, und worin er handelt von dem Essen seines Fleisches und dem Trinken seines Blutes. Was nun das erste betrifft, so ist es die unmittelbare Fortsezung der Worte, die wir neulich schon in unsere Betrachtung gezogen haben, Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, 16–18 Joh 6,42
22–1 Vgl. oben 14. November früh über Joh 6,36–44
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der mich gesandt hat. Es steht geschrieben in den Propheten, sie werden alle von Gott gelehrt sein, wer es nun hört vom Vater und lernet es, der kommt zu mir; nicht daß jemand den Vater habe gesehen, ohne der vom Vater ist, der hat den Vater gesehen. Offenbar also, m. g. Fr., will hier der Herr eine nähere Beschreibung geben von der Art, wie das geschieht, daß er selbst, der Vater, diejenigen zieht, die zu ihm kommen. Dieser Zug des Vaters ist es, den er hier näher beschreibt. Es kann uns aber dies nicht recht verständlich sein, wenn wir nicht auf die Stelle des Propheten Acht geben, die der Herr im Sinne hat, indem er sagt, Es stehet geschrieben in den Propheten. Da ist nun dasjenige, was ihm vorzüglich vorschwebt, eine Stelle aus dem Propheten Jeremias im ein und dreißigsten Capitel, wo Gott durch den Mund des Propheten spricht, Der Bund, den ich in jenen Tagen machen werde mit jenem Volk, soll nicht sein der Bund, den ich mit ihnen machte an jenem Tage, als ich sie bei der Hand nahm, daß ich sie aus Egyptenland führte, welchen Bund sie nicht gehalten haben; sondern der Bund, den | ich mit ihnen machen werde, soll der sein, Ich will mein Gesez in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und es soll kein Bruder zu dem andern sagen, daß er ihn lehren wolle, sondern sie sollen alle Gott erkennen und von ihm gelehrt sein. Auf diesen neuen Bund, den der Herr mit seinem Volke, mit dem Israel aus dem Geist, wie der Apostel Paulus es nennt, machen wollte in spätern Tagen, bezieht sich also hier der Herr, und er konnte voraussezen, daß alle seine Zuhörer wol wissen würden, welche Stelle der Propheten er hier meine; denn sie freuten sich alle, die auf die Tage des Messias warteten, auf das schöne Jahr dieses Bundes. Wenn nun der Prophet dort sagt, Ich will mein Gesez in ihr Herz geben, so bedient er sich freilich des Ausdrukks: das Gesez, um diesen Bund desto deutlicher gegenüber zu stellen dem alten. Denn das Gesez ohne Ausnahme ist immer etwas dem Menschen gegebenes, was er von außen und durch andere vernimmt; was aber eigentlich in sein Herz gegeben und in seinen Sinn geschrieben ist, das ist auch dasjenige, was ihn selbst bewegt, das ist sein eigener Zug und sein eigener Wille. Wenn also der Prophet sagt, In jenen Tagen will ich mein Gesez in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, so heißt das nicht anders als: mein Wille soll ihr eigener Wille und Trieb werden, damit sie keines äußern Gesezes mehr bedürfen. Und damit hängt nun zusammen: es soll auch nicht einer von dem andern gelehrt sein, sondern es sollen alle Gott in sich selbst und aus sich selbst erkennen und von ihm gelehrt sein. Denn sich seinen Willen 11–20 Vgl. Jer 31,31–34 27.34–35 Jer 31,33
21–22 Vgl. Gal 6,16. Paulus spricht vom „Israel Gottes“.
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als Gesez von andern geben lassen, und sich seine Gedanken als Lehre von andern mittheilen lassen, das ist beides eins und dasselbige und gehört zusammen. Vermag der Mensch sich noch nicht seinen Willen selbst zu geben, so vermag er auch nicht seinen Gedanken die rechte Richtung zu geben. Auf diesen Bund nun weiset der Herr hier hin um zu er|klären, wie er es gemeint habe, wenn er gesagt: wer zu ihm kommen solle, der müsse gezogen werden von dem Vater, der ihn gesandt habe. Er sagt also, sie müßten dieses alte Wort des Propheten im Sinne haben. Wer das nun höret vom Vater und es lernet oder erfährt, das heißt, wer dies in der Schrift liest oder wem es aus innerer Erfahrung klar wird, – denn diejenigen, die zu ihm gezogen wurden von dem Vater, waren doch nicht lauter solche, denen schon früher die Schriften des alten Bundes bekannt waren, aber immer mußten es solche sein, die, weil in ihrem innern ein Streben nach der Erkenntniß Gottes übrig geblieben war, nun auch die Sehnsucht genährt hatten von ihrem eigenen Sinne getrieben zu werden und das innerste oder das Wesen und die Kraft des Gesezes Gottes in ihr Bewußtsein aufzunehmen: entweder mußten sie es also gehört haben und gelesen, und daraus mußte jene Sehnsucht in ihnen entstanden sein, oder aus dem Bewußtsein, wie sie selbst in der Verkehrtheit ihres Herzens die wie allen Menschen so auch ihnen angeborene natürliche Erkenntniß Gottes verunstaltet und die tiefste Wahrheit des Menschen verkehrt hatten in Irrthum und Wahn: dieses Verlangen also, sagt er, ist der Zug des Vaters, das können sie nur von dem Vater hören, der jene Worte seinen Dienern den Propheten gegeben, und der jenes Verlangen in der menschlichen Seele, wenn gleich verdunkelt, doch übrig gelassen hat und beschüzt durch alles, was seine Vorsehung an dem menschlichen Geschlecht gethan hat, – wer das nun von dem Vater vernimmt, der kommt zu mir. Wie dies aber zusammenhängt, m. g. Fr., das erklärt der Herr in den unmittelbar folgenden Worten, Nicht daß jemand den Vater habe gesehen, ohne der vom Vater ist oder der bei dem Vater ist, der hat den Vater gesehen. Das, m. g. Fr., bezieht sich nun auf die andern Worte des Propheten, sie sollen alle Gott erkennen. Denn Gott sehen oder | Gott erkennen und den Vater sehen oder erkennen, das ist in den Worten unseres Herrn immer eins und dasselbige. Er sagt also, Von sich selbst kann keiner den Vater sehen, sondern nur der eine kannte ihn, der bei ihm ist; alle Gotteserkenntniß kann ja nicht anders als von mir ausgehen, 34 andern] andere 7–8 Vgl. Joh 6,44
35 Vgl. Jer 31,34
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jenes Wort des alten Bundes kann auf keine andere Weise in Erfüllung gehen als durch den, der, wie er sagt, vom Vater oder bei dem Vater ist. Er sagt hier nicht: der bei dem Vater war oder von dem Vater gekommen ist, sondern als das gegenwärtige stellt er es auf, nicht als ob ihm eine besondere Erkenntniß Gottes als ein Bewußtsein der vergangenen Zeit eingewohnt hätte, sondern als etwas überall gegenwärtiges sezt er dieses, er stellt sich vor als den, der immer bei dem Vater ist, so daß alles, was er thut und redet, nur von dem Vater ist, wie er dies auch oft genug in andern Reden sagt. Er meint also, und das ist, was hier nicht undeutlich hervorleuchtet, daß alle göttlichen Verheißungen im alten Bunde und alle Sehnsucht nach dem bessern, die mitten in dem menschlichen Verderben übrig geblieben war, ihre Befriedigung auf keine andere Weise fänden als dadurch, daß er erschienen sei als derjenige, der die Fülle der Gottheit in sich trägt. Ja, der welcher sie auf eine wesentliche Weise immer in sich trug, der allein den Vater wahrhaft erkannte und also auch die Erkenntniß desselben mittheilen konnte, der von keinem andern Willen als dem Willen Gottes getrieben war, so daß kein Unterschied war zwischen dem Willen des Vaters und dem seinigen, der allein konnte auch durch seine lebendige Einwirkung auf die Menschen den Willen Gottes in ihren Sinn geben und in ihr Herz schreiben, und der, indem er ihnen den Geist giebt, welcher lieber Vater ruft, konnte auch nur den kindlichen Gehorsam gegen den göttlichen Willen in den Menschen hervorbringen. | Und so, m. g. Fr., so wollen wir auch in dieser schönen Adventszeit, die wir heute beginnen, den Herrn gleichsam aufs neue unter uns bewillkommnen als denjenigen, in welchem, wie der Apostel sagt, alle Gottesverheißungen Ja und Amen sind. Alle Verheißungen, die Gott gegeben hat durch seine auserwählten Rüstzeuge in den Zeiten, wo er zu den Menschen redete durch seine Propheten, alles was wir als den innersten und unvertilgbaren Grund des menschlichen Herzens auch immer als göttliche Wahrheit und göttliche Verheißung betrachtet haben und betrachten müssen, das alles findet seine Befriedigung nur in dem, der uns erschienen ist um uns zu werden nicht nur zur Erlösung, sondern auch zur Weisheit und zur Gerechtigkeit; zur Weisheit, indem der, welcher allein den Vater erkannte, nun auch uns den Vater zeigt und offenbart; zur Gerechtigkeit, indem der, dessen Wille allein vollkommen eins war mit dem Willen des Vaters, nun auch uns durch seinen lebendigen Einfluß auf unsere Seelen einen Willen mittheilt, der nach nichts anderem strebt als den Willen des Vaters, so weit es unserem Unvermögen möglich ist, durch seinen Geist zu erfüllen. 7–9 Vgl. Joh 5,19.36; 8,28–29.38; 12,49; 14,10; 15,15 14 Vgl. Kol 2,9 21– 23 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6 26–27 Vgl. 2Kor 1,20 32–34 Vgl. 1Kor 1,30
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Nachdem nun der Herr dies geredet hat, so kehrt er wieder zurükk zu dem Hauptinhalt seiner Rede, in welchem er war unterbrochen worden dadurch, daß die Juden darüber murreten, daß er gesagt hatte, Ich bin das Brot vom Himmel gekommen; und nun fängt er aufs neue mit demjenigen an, wobei er stehen geblieben war, indem er sagt, Ich bin das Brot des Lebens, und geht zurükk auf den ersten Anfang des ganzen Gesprächs, in welches er verwikkelt war, indem seine Zuhörer fragten, was er denn für ein Zeichen thue, auf daß sie sähen und glaubten, wie ja Moses ihren Vätern Manna gegeben hätte in der Wüste zu essen, und sie da wol hätten glauben müssen, daß er | als der ausgezeichnete Führer, der sie durch alle Noth und Mühe und Trübsal nicht verlassen, sondern mit fester Hand geleitet hätte, ihnen von Gott zu diesem großen Werke sei gesandt gewesen. Da hatte nun der Herr schon im zwei und dreißigsten Verse gesagt, Moses hat euch nicht Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater giebt euch das rechte Brot vom Himmel, denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und giebt der Welt das Leben; und hier nun fährt er fort in dieser Vergleichung zwischen sich selbst als dem Brot des Lebens und zwischen dem Manna, welches Gott durch Moses geschaffen oder welches Gott durch Moses dem Volke gegeben hat in der Wüste, indem er sagt, Ich bin das Brot des Lebens; eure Väter haben Manna gegessen in der Wüste und sind gestorben; dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, auf daß wer davon isset nicht sterbe; ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen; wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. Wenn wir nun, m. g. Fr., auch hier in die Geschichte zurükkgehen, an welche der Erlöser aufgefordert von seinen Zuhörern sie hier aufs neue erinnert, so war das Volk damals in einer großen Noth und mangelte der ersten Bedürfnisse, um sein Leben zu fristen. Da sandte der Herr nun diese Speise, deren Ursprung und eigentliches Wesen sie nicht verstanden. Aber, sagt der Herr, Eure Väter, die das Manna in der Wüste gegessen haben, sind doch gestorben, und zwar, m. g. Fr., woran er nur hier nicht erinnert wenigstens nichts ausdrükklich, was aber seinen Zuhörern aus der Geschichte bekannt war, denn der Herr sprach, Keiner von allen denen, die gegen mich gemurrt haben in der Wüste, soll das Land der Verheißung sehen. Also jenes Brot, welches sie für Brot vom Himmel | hielten, wovon aber der Herr sagt, Moses hat euch nicht Brot vom Himmel gegeben, das war gegeben um ihr irdisches Leben zu fristen, und es wurde dadurch gefristet, aber konnte doch nicht so lange verlängert werden, daß das Ziel ihrer irdischen Wünsche, nämlich das Land, welches der Herr ihnen verheißen hatte zu sehen 3–4 Vgl. Joh 6,41
7–10 Vgl. Joh 6,30–31
35–36 Vgl. Num 14,29–30
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und zu besizen, dadurch erreicht wurde, sondern jenes Brot, welches Gott ihnen gab, blieb doch in Uebereinstimmung mit den Worten des Gerichts, die er über das ganze Volk aussprach. Wenn nun der Herr sagt, Das ist das Brot, das vom Himmel kommt, auf daß wer davon isset nicht sterbe: so will er nun dadurch sich selbst als das Brot des Lebens in einen Gegensaz stellen gegen das Manna, welches das Volk Israel in der Wüste empfangen hatte. Nicht das leibliche Leben ist damit gemeint, sondern das geistige, das sehen wir unstreitig daraus, daß der Herr sagt, Wer davon isset, der werde nicht sterben; denn er hatte ja kurz vorher gesagt, wer zu ihm komme, weil der Vater ihn ziehe, den werde er auferwekken am jüngsten Tage; die aber sollen auferwekkt werden am jüngsten Tage, die müssen unstreitig vorher gestorben sein. Indem er also sagt, Wer von diesem Brot isset, der wird nicht sterben, sondern er wird leben in Ewigkeit, so braucht er nicht noch besonders zu sagen, daß hier nicht von dem leiblichen, sondern von dem geistigen Leben die Rede sei, aber daß das Brot, welches vom Himmel gekommen ist, nun auch für alle Ewigkeit ausreiche, und es keiner andern göttlichen Hülfe mehr bedürfe. Und das, m. g. Fr., das ist die schöne Zuversicht, die der Herr allen, welche an ihn glauben, in diesen Worten gegeben hat, und die nun die Offenbarung Gottes in ihm und durch ihn in ihr vollkommenes Licht sezt. Vorher hatte er gesagt, Niemand hat den Vater gesehen, keiner ist im Stande Gott zu erkennen oder Gottes Willen zu seinem eigenen zu ma|chen aus sich selbst. Freilich als Gott der Herr den Menschen schuf und ihm, wie wir es lesen in jener Geschichte, die lebendige Seele einhauchte, da war das auch eine Offenbarung Gottes an den Menschen und in dem Menschen; die erste und ursprüngliche, aber sie war nicht so angethan nach dem Willen Gottes, daß sie hätte verhindern können, daß der Mensch in die Finsterniß der Sünde und alles daraus entstehenden Wahnes und Irrthums hineinkäme. Der Herr aber hatte beschlossen durch seine zweite Offenbarung den Menschen zur Schönheit und Vollkommenheit des geistigen Lebens zu erheben, indem das Wort Fleisch wurde, indem das Wesen und der Wille Gottes, das lebendige gleichmäßige, das ganze Leben und Wesen beseelende Bewußtsein Gottes in menschlicher Gestalt in dem Herrn erschien. Und, sagt er, Das ist das Brot, welches vom Himmel gekommen ist, das ist das Brot, durch welches das geistige Leben, wozu der Mensch bestimmt ist, was er aber selbst nicht hat erhalten können, und was keiner im Stande ist sich zu geben und bereiten, auf immer und für beständig in dem Menschen gewekkt und genährt wird, auf daß wer davon isset 10–11 Vgl. Joh 6,44
24–26 Vgl. Gen 2,7
33 Vgl. Joh 1,14
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nicht sterbe, sondern das geistige Leben, welches auf diesem Wege hervorgebracht wird, bleibe in Ewigkeit. Diese Worte unseres Herrn m. g. Fr., sind nun als seine eigenen einer der festen Gründe unserer Zuversicht, daß nachdem er erschienen ist wir nun keines andern weiter bedürfen, daß die Erkenntniß Gottes oder die Weisheit, der Gehorsam gegen Gott oder die Gerechtigkeit, die uns in der lebendigen Verbindung mit ihm durch den Glauben an ihn wird, eine reiche und unerschöpfliche Quelle des geistigen Lebens ist, welches einmal gegründet in dem menschlichen Geschlecht, in dem die Gemeine seiner Gläubigen gestiftet ist, nicht wieder untergehen kann, son|dern durch die Fülle der Gottheit, die ihm und der Gemeinschaft, welche er gestiftet hat, einwohnt, für alle Zeiten feststeht, so daß keine Macht der Welt im Stande ist es zu zerstören. Das lezte aber, was nun der Herr sagt, ist die Einleitung zu dem folgenden. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt. Hier, m. g. Fr., müssen wir nicht vergessen, daß der Herr auf einmal seine Rede anders wendet. Vorher sagt er, Ich bin das lebendige Brot vom Himmel gekommen, und jezt sagt er wieder, Das Brot, welches ich geben werde. Er unterscheidet also das Brot, welches er giebt. Wie sollen wir dies verstehen? Das wissen wir, daß er das Brot des Lebens, welches vom Himmel gekommen ist, nur war und sein konnte vermöge der Fülle der Gottheit, die ihm einwohnte, denn ohne diese wäre er nicht wesentlich unterschieden gewesen von allen Menschen, und hätte sich nicht verhalten wie der, der allein geben kann, zu denen, die allein erhalten können. So war er das Brot des Lebens vermöge der ihm einwohnenden Fülle der Gottheit, vermöge dessen, was er sagt, daß er mit dem Vater eins war. Aber wenn wir nun fragen: wie empfangen wir von ihm dieses Brot? wie wird es das unsrige? wie geht es von ihm auf uns über? so sagt er, Das Brot, welches ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt. Was wir nun hier unter dem Fleisch des Herrn zu verstehen haben, das, m. g. Fr., erkennen wir am besten aus dem, was ich oben sagte. Das Brot des Lebens ist er, vermöge dessen daß die Fülle der Gottheit in ihm wohnte, aber empfangen können wir es von ihm nur dadurch, daß er gewor|den ist wie wir, daß er Fleisch und Blut angenommen hat, weil auf keine andere Weise eine Gemeinschaft zwischen der Fülle der Gottheit, die ihm einwohnte, und zwischen uns möglich war. Daß nun Fleisch und Blut – denn es kommt beides gewöhnlich mit einander verbunden vor – in der Schrift immer gebraucht wird von der 11–12.23.26–27.34–35.37–38 Vgl. Kol 2,9 Joh 10,30
18–19 Vgl. Joh 6,32–35.41
28 Vgl.
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menschlichen Natur und dem menschlichen Leben, das ist uns allen bekannt. Also sagt er, Das Brot des Lebens, welches ich bin, kann ich nur geben vermittelst des menschlichen Lebens, welches ich unter euch führe, welches ich aber wieder hingeben werde zum Heil der Welt und zum Leben der Welt. Und so ist das Leben der Welt nur möglich durch beides zusammen, dadurch, daß das Wort Fleisch ward, und dadurch, daß das Fleisch wieder hingegeben wurde zum Leben der Welt, damit, wie der Herr selbst sagt, daß sein Fleisch an sich kein nüze sei, sondern die Worte, welche er redete, die Worte, die er von seinem Vater gehört hatte, nur Geist und Leben seien, alle durch dieselben zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, zum geistigen Leben gebracht würden, wie er dies auch nachher in der Folge seiner Rede weiter auseinandersezt. Also wenn wir den Herrn bewillkommnen als denjenigen, in welchem alle Gottesverheißungen Ja und Amen geworden sind, dadurch daß das Wort Fleisch ward und die Fülle der Gottheit in ihm wohnte: o so müssen wir ihn auch bewillkommnen als den, der sein Fleisch wieder hingegeben hat zum Heil der Welt, nachdem das Wort Fleisch und Blut angenommen hat, und wir müssen es nicht vergessen, daß jedes neue Kirchenjahr uns dazu auffordert den Herrn mit der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, in seinem menschlichen Leben immer inniger zu begrüßen, weil wir nur durch diese Verbindung das ewige Leben empfangen und in uns selbst fühlen können, daß er das Brot | ist vom Himmel gekommen, welches wir nun genießen sollen, um nicht zu sterben, sondern für alle Ewigkeit in dem Besiz desselben zu sein. Und dazu, m. g. Fr., sollen und mögen alle unsere Einsichten von der tiefen Kraft des göttlichen Wortes und von der Erleuchtung und Erhebung unseres Geistes durch dasselbe gesegnet sein, damit wir alle durch das Brot des Lebens, welches allein von ihm gegeben werden kann, immer mehr erstarken zu seinem Preis und zu seiner Ehre! Amen.
19 müssen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 3, 21798, Sp. 332 6.16 Vgl. Joh 1,14 Kol 2,9
8–13 Vgl. Joh 6,63
14–15 Vgl. 2Kor 1,20
16.20–21 Vgl.
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Am 5. Dezember 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
2. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 15,8–9 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 89, Bl. 49r–67v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am zweiten Adventsonntage 1824. |
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Tex t. Römer XV, 8 und 9. Ich sage aber, daß Jesus Khristus sei ein Diener gewesen der Juden um der Wahrheit willen Gottes zu bestätigen die Verheißung den Vätern geschehen; daß die Heiden aber Gott loben um der Barmherzigkeit willen. M. a. F. Unmittelbar vor den verlesenen Worten sagt der Apostel: „der Gott aber des Trostes gebe euch, daß ihr einerlei gesinnet seid nach Jesu Khristo, und mit einem Munde lobet Gott und den Vater unseres Herrn Jesu Khristi, und daß ihr euch unter einander aufnehmet wie Khristus euch hat aufgenommen.“ | Indem er nun dazu auffordert, so sezt er offenbar die Khristen, welche Khristus aufgenommen hat, alle unter einander gleich; indem er Ein und dieselbe Forderung an sie macht, so muß er auch von derselben Voraussezung in Beziehung auf sie ausgehen. In den Worten unseres Textes aber scheint er in eben dieser Hinsicht eine Ungleichheit bemerklich zu machen, indem er von Einigen nur sagt und nicht von Allen, daß Khristus ihnen ein Diener gewesen sei, und indem er einige Khristen an die göttliche Wahrhaftigkeit und andere Khristen an die göttliche Barmherzigkeit hinweiset. Eins aber, m. g. F., kann dem Andern nicht widersprechen, und so laßt | uns denn in dieser Zeit, wo wir uns besonders dessen erinnern, daß Khristus uns hat aufgenommen, und uns seiner Sendung auf Erden erfreuen, laßt uns mit einander reden über die Gleichheit aller Men8 nach] noch
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7–11 Vgl. Röm 15,5–7
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schen in Beziehung auf Khristum, und zwar so, daß wir dabei Rüksicht nehmen auf die Ungleichheit, welche der Apostel in den Worten unsers Textes bemerklich macht.
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I. Es ist aber die erste Ungleichheit, deren ich vorher schon erwähnt habe, die, daß der Apostel sagt: „Ich sage aber, daß Khristus ist ein Diener gewesen der Juden,“ von den Heiden aber, von welchen er unmittelbar darauf redet, dasselbe nicht | sagt. Es ist, m. g. F., unsere gemeinsame Vorstellung von Khristo unserem Herrn, daß er sich erniedrigt hat und Knechtsgestalt angenommen, daß er aber eben deswegen von Gott ist erhöhet worden und ihm ein Name gegeben über alle Namen, daß er also angefangen hat damit, ein Diener zu sein, aber daß er aufgehört damit, ein Herr zu sein über Alles nach der Gewalt, die ihm gegeben ist im Himmel und auf Erden und nach der Kraft die er hat, sich Alles unterthänig zu machen. Wenn aber dies uns auf der einen Seite freilich so erscheint als ob nachdem nun das Erste vorangegangen ist, daß er in Knechtsgestalt auf Erden gewandelt hat, dies | nun vorüber sei, und die Zeit seiner Herrschaft begonnen habe, so laßt uns doch bedenken, ob nicht auch jezt noch sich immer wiederholt dieser Wechsel, daß der Herr damit anfängt, ein Diener zu sein, und daß er endet mit der Herrschaft, wie er selbst dem Täufer Johannes durch seine Jünger sein Leben auf Erden wie sie ihn eben fanden, beschreibt, indem er sagt: „Gehet und saget dem Johannes was ihr sehet und höret, die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Tauben hören, die Stummen reden und den Armen wird das Evangelium verkündigt.“ Das, m. g. F., waren die Dienstleistungen, die er in seinem Leben auf Erden verrichtete, | Leibliches und Geistliches mischt sich in unser Gefühl überall, wenn wir an das Alles denken und wir können nicht anders sagen als, diese seine Dienstleistungen wiederholen sich immer noch, sie sind überall der Anfang seines göttlichen Werkes die Menschen zu erlösen und zur Freiheit der Kinder Gottes zu erheben. Ueberall fängt er damit an, daß er den Blinden die Augen des Geistes öffnet, auf daß sie das Licht erkennen mögen, von welchem sie so lange entfernt gewesen sind, weil sie selbst sich desselben beraubt haben; überall fängt er damit an, das Ohr zu öffnen für die Worte des Lebens, welches so betäubt gewesen von dem Geräusch dieser Welt, daß es | die himmlischen Töne nicht hat vernehmen können; überall fängt er damit an die Trägen wieder zu erneuern, daß sie lernen die Gliedmaaßen des Geistes gebrauchen und 9 erniedrigt] erniedriegt 9–11 Vgl. Phil 2,6–9
20 endet] redet 23–25 Vgl. Mt 11,4–5; Lk 7,22
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vorwärts schreiten zu ihrem herrlichen und heiligen Ziele. Dazu, m. g. F., muß er immer anfangen den Menschen ein Diener zu sein, und auch jezt noch ist es immer sein Geschäft wie es damals war, zu suchen was verloren ist und heilig zu machen; und darum hat er, wie derselbe Apostel an einem andern Orte sagt in seiner Gemeine die jezt sein geistiger Leib auf Erden ist, gestiftet das Amt, das die Versöhnung predigt, dieses Amt, m. g. F., welches nicht etwa Einigen über|tragen ist auf eine ausschließende Weise, sondern an welchem wir alle, die wir an seinen Namen glauben, auch Theil zu nehmen berufen sind, und seine Werkzeuge in dem Dienst, den er nicht aufhört den Menschenkindern zu leisten. Wie sagt denn nun der Apostel, m. g. F., daß der Herr nur sei den Juden gewesen ein Diener? Gewiß kann er nichts anderes damit meinen, als daß der Herr in den Tagen seines Fleisches alle seine Wirksamkeit zusammen gehalten hat in den Grenzen des Volks, unter welchem ihn Gott hatte geboren werden lassen nach seinem ewigen Rathschluß. Da sollte sie zusammengehalten sein und bleiben, um sich | nicht vor der Zeit zu zerstreuen, und in diesem Sinne sagt der Herr selbst, daß er nur gesandt sei zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel. Aber von dort aus von dem kleinen Häuflein, welches er sich durch seinen unausgesezten Dienst dort gewählt und erzogen hatte, sollte sich nun der Segen seines Dienstes über das ganze menschliche Geschlecht verbreiten, und so ist er denn in dem einen Sinne freilich nur ein Diener gewesen seinem Volke, aber zugleich durch diesen Anfang seines Dienstes, durch diese Tage seines irdischen Lebens ist doch er selbst ein Diener geworden aller derjenigen, mit denen er gleicher Natur ist | theilhaftig geworden. Und doch, m. g. F., auch ihn selbst sehen wir während der Tage seines irdischen Lebens zweimal wenigstens in Verhältnissen mit solchen, die nicht zu seinem Volke gehörten, und denen er sich auch als einen Diener bewies. Da war jene heidnische Frau, welche ihm klagte das Leiden einer geliebten Tochter, und zu welcher er abweisend eben jene Worte sprach, er sei nur gesandt zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel; als sie ihm aber eine Antwort gab, von welcher er bezeugen mußte, solchen Glauben habe er auch in Israel selbst, wohin er gesandt sei und wo er schon so lange gewirkt habe, nicht gefunden, da leistete | er auch ihr, wie wohl sie bescheiden nur auf die Brosaamen, die von der Kinder Tische fielen, Anspruch gemacht hatte, denselben Dienst, den er so Vielen unter seinem Volke schon geleistet hatte. Und als er 4 heilig] Kj seelig ; vgl. Lk 19,10
10–11 Menschenkindern] Menschenkinder
4–7 Vgl. 2Kor 5,18 18–19 Vgl. Mt 15,24 38–7 Vgl. Joh 12,20–23
30–38 Vgl. Mt 15,21–28; Mk 7,24–30
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in Jerusalem war in den Tagen des großen Festes, da waren auch Griechen hinauf gekommen, Heiden also, um anzubeten, und deren Einige wandten sich an einen seiner Jünger mit dem Wunsche, sie möchten gern den Herrn sehen, und da weigerte er sich ihnen nicht, sondern indem er das Verlangen der Heiden bemerkte, ihn von Angesicht zu schauen, so pries er den Vater, daß nun die Stunde gekommen sei, in welcher er | verklärt werden sollte, und ließ auch die Heiden in der sanftmüthigen und demüthigen äußern Gestalt die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater schauen. Und dadurch, m. g. F., hat er sich denn auch den Heiden geheiligt zum Dienste schon in den Tagen seines Lebens, und wir, die wir auch von solchen abstammen, wir mögen ihn darum besonders preisen, und uns glüklich schäzen, daß auch wir seines Dienstes theilhaftig geworden sind. So hat er auch an ihnen verherrlicht seine wunderbare Kraft, so hat er auch ihnen gezeigt die Herrlichkeit die ihm einwohnte, indem die Fülle der Gottheit in ihm war, und | in seinem Angesicht sie sehen lassen den Abglanz des göttlichen Wesens. Ist er aber, m. g. F., allen ein Diener geworden und wird es noch immer, so geschieht es freilich auch jezt nur noch, damit er über alle ein Herr werde. Und das, m. g. F., das ist eben seine Herrschaft, was der Apostel in den Worten sagt, die vor unserem Texte hergehen, daß wir einerlei gesinnet sind nach Jesu Khristo, das ist seine Herrschaft. Er begründet sie durch den Glauben, den seine Erscheinung auf Erden, den sein unter uns fortwirkendes und fortlebendes Bild, den das uns nun nicht mehr zu entreißende Wort seines | Mundes in den Herzen der Menschen bewirkt, daß sie nun fragen, was sie thun sollen um selig zu werden. Durch diesen Glauben, den er so bewirkt, gründet er in der Seele seine Herrschaft, der Glaube wird thätig durch die Liebe; indem durch den Glauben und mit dem Glauben wir des Geistes theilhaftig werden, welchen er den Seinigen erworben hat, so blühen nun auch die Blüthen des Geistes und reifen die Früchte desselben in der Seele, die er zu sich gezogen hat, und so sind wir einerlei gesinnet nach Jesu Khristo, indem Alles, was auf diese Weise in der gläubigen Seele entsteht, nichts anderes ist, als das Werk seiner Herrschaft, | seiner Herrschaft welche besteht in der Liebe, mit der er uns geliebt hat, welche darin besteht, daß er uns theilhaftig macht der Herrlichkeit, die er gehabt hat von Anbeginn. Das ist seine Herrschaft, daß er uns den Mund öffnet zum wahren und lebendigen Lobe Gottes durch die Anbetung des Vaters unsers Herrn Jesu Khristi im Geist und in der Wahrheit. Was aus jener Gesinnung, die das Wesen seiner Herr2 Einige] Einigen 15–16 Vgl. Kol 2,9
21 Vgl. Röm 15,5
25–26 Vgl. Apg 2,37; 16,30
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schaft in der Seele ist, äußerlich hervortritt, das, m. g. F., das Alles ist nichts anderes als das Lob Gottes, darin verherrlicht sich der Vater, so wie er ihn uns offenbart, darin zeigt sich, was durch das Licht, wel|ches er uns gebracht hat, in der sonst dunkeln Seele für eine herrliche Gestalt des Lebens, des Denkens und Empfindens sich ausbildet; und alles was so in uns den Herrn lobt und preist, das ist das Werk der Herrschaft dessen, der um deß willen ein Herr sein soll über alle, weil er allen ein Diener geworden ist. II. Zweitens aber sagt der Apostel nun, Khristus sei ein Diener geworden der Juden um der Wahrheit willen Gottes in den Verheißungen, die den Vätern gegeben waren, die Heiden aber die lobten für jenen Dienst und für diese Herrschaft des Herrn die Barmherzigkeit | Gottes. Also daß Khristus die Einen aufgenommen hat, davon findet er den Grund in der Wahrhaftigkeit Gottes, daß er die Andern aufgenommen hat, dies schreibt er zu der Barmherzigkeit Gottes. Aber, m. g. F., kann wohl eine solche Ungleichheit unter den Menschen sein, daß nur Einige Gegenstände sein müßten der göttlichen Barmherzigkeit, die Andern aber gleichsam sie nicht bedürften, oder eine solche Ungleichheit, daß gegen Einige der Herr sich gebunden hätte durch ein theures und festes Wort, welches aber die Andern nicht auf sich beziehen könnten? Nein, m. g. F., so kann der Apostel es nicht gemeint haben. | Denn auch wir, wiewohl diejenigen nicht unsere Väter waren, denen jene Verheißungen des alten Bundes geschahen, auch wir sind nicht ohne Verheißungen; und auch diejenigen, welche das Wort der Verheißungen hatten, sind doch nur das geworden, was wir sind durch nichts anderes als durch die Barmherzigkeit Gottes. Denn gewiß so ist es und nicht anders. Auch wir sind nicht ohne Verheißungen. Welche Wohlthaten Gottes es auch seien, deren wir gedenken und für die wir ihn preisen, indem wir sie als uns erwiesen anerkennen, empfangen wir jemals etwas von dem Herrn als für uns allein? Nein, m. g. F., was er Einem giebt, das giebt er durch den | Einen Allen; dazu sind wir ein Volk von Brüdern, darum sind wir zusammen gewachsen in Einen Leib des Herrn, dessen Glieder wir alle sind, daß keiner etwas besonders für sich habe, sondern Alles was aus der Einen Quelle entspringt, von welcher unser Heil herkommt, auch allen gemeinsam sei, weil sie alle vor ihm und in ihm nur Eins sind. Und das, m. g. F., gilt nun von jenen Verheißungen, dem Volke des alten Bundes gegeben, eben deswegen so gewiß, wie von allem Uebrigen, was wir auf den neuen Bund der Gnade beziehen, weil jener alte Bund auch nur um des neuen willen da war, und den 40–1 Vgl. Hebr 10,1
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Schatten hatte von den zukünftigen Gütern, | aber durch diesen Schatten doch hinweisend auf dasjenige, was da kommen sollte. Denn so schon empfing die göttliche Verheißung der Stammvater jenes Volkes, daß der Herr sagte: in Abraham sollen mir gesegnet werden alle Geschlechter der Erde. Also nicht nur Einige haben von dem Herrn eine Verheißung, und können also sich darauf verlassen und gleichsam darauf trauen, daß der Ewige sein Wort nicht brechen könne, sondern müsse es halten; dasselbe Recht an die Wahrhaftigkeit Gottes haben alle, denn diese Verheißung ist Allen gegeben, sie spricht aus für Alle den Segen, der da kommen sollte durch den Einen Nachkommen Abrahams, | in welchem alle Geschlechter der Erde sollten gesegnet sein. Aber, m. g. F., noch mehr als dies. Die göttliche Wahrhaftigkeit, sie ist nicht etwa nur in den Verheißungen, die Gott zu besondern Zeiten und durch den Mund seiner Diener hat aussprechen lassen, sondern an der göttlichen Wahrhaftigkeit haben wir alle noch einen viel unmittelbareren Antheil; denn unausgesprochen haben wir Verheißungen Gottes in dem Innersten unserer Seele, die wir nicht ableugnen können, und denen sich auch der ewige Vater im Himmel nicht entziehen kann, daß er sie nicht lösen sollte und erfüllen. Erinnert euch, was der Apostel Johannes sagt in seinem ersten | Briefe: „So wir sagen wir sündigen nicht, so lügen wir, und sind nicht von der Wahrheit, so wir ihm aber unsere Sünde bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünde vergiebt.“ Hier redet der Apostel nicht von einer Barmherzigkeit, nicht von einer Gnade des Höchsten, sondern nur treu und gerecht nennt er ihn deswegen, weil er die Sünde vergiebt, wenn wir sie ihm bekennen. Also, m. g. F., selbst in demjenigen, was wir ansehen als unser tiefstes Elend, selbst in der Sünde, aber nicht in ihr, sondern in unserem Bewußtsein von ihr, welches freilich die erste Wahrheit ist, zu welcher der Mensch genesen muß | von der Knechtschaft der Lüge, aber in dieser ersten Wahrheit, sobald sie in unserem Herzen aufgeht, ist uns auch die Treue und Wahrhaftigkeit Gottes aufgegangen. So wie wir in uns die Sünde erkennen, so wie wir uns vor ihm als Sünder bekennen vermöge seiner Wahrhaftigkeit und Treue, vermöge seiner Wahrheit und Gerechtigkeit, kann er dann nicht anders als die Sünde vergeben; aber um es zu können hat er von Ewigkeit an den Rathschluß gefaßt den in die Welt zu senden, durch welchen allein sie konnte vergeben werden. Ja, m. g. F., das ist eben die Kraft, das ist die Festigkeit und die unumstößliche Zuversicht unseres | Glaubens, daß 7 trauen] tragen 2 1798, Sp. 1002 4–5 Vgl. Gen 12,3
8 Recht an die] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd.1, 21793, Sp. 263; Bd. 3,
10–11 Vgl. Gen 22,17–18
20–23 Vgl. 1Joh 1,8–9
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uns mit der Treue und Gerechtigkeit Gottes, so wie, wenn die Wahrheit daß wir Sünder sind, und das Verlangen von ihr frei zu werden, in dem Innersten unseres Herzens lebendig wird, wir uns streken nach der Versöhnung, die Khristus gestiftet hat, daß also mit jener Treue und Gerechtigkeit auch nichts Anderes in unserer Seele sei, als was nothwendig folgt, wenn wir zusammen denken und in einem Gefühl verbinden das Bekenntniß der Sünde und die Gerechtigkeit dessen, von dem nichts anderes kommt als lauter gute Gaben, daß mit diesem Gedanken auch zugleich der Gedanke der Vergebung in uns leben|dig wird. So wie jene erste Wahrheit in unserer Seele aufgegangen ist, so muß sich auch der Herr zu dieser zweiten bekennen. Treu und wahrhaftig ist er, wahr und gerecht, daß er die Sünde vergiebt, weil er keinen Wohlgefallen hat an dem Tode des Sünders. Aber noch mehr, m. g. F., und noch höher hinauf. Als der Herr sprach: Laßt uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei, welche Verheißung, welches Versprechen des Ewigen liegt in diesem Worte, in diesem unausgesprochenen Worte – denn zu wem hätte er es gesagt? – dessen Ausdruk aber eben die Schöpfung des Menschen war. Und, m. g. F., so hat er | nun den Menschen geschaffen, und wir finden uns so als das Ebenbild Gottes. Denn ganz kann das Werk des Herrn niemals untergehen, und ganz ist auch das Ebenbild Gottes niemals ausgelöscht und verwischt in der menschlichen Seele; aber freilich konnte es verunstaltet werden und geschwächt, daß kaum die ersten Züge desselben kenntlich blieben, durch die Sünde, ja so weit konnte es kommen mit dem Menschen, daß nicht als ein lebendiges Gefühl er dieses in sich trug wirklich nach dem Bilde Gottes geschaffen zu sein, sondern nur noch als ein unbestimmtes Verlangen, als einen ihm selbst kaum kenntlichen und deutlich bewußten Wunsch, als ein Stre|ben von dem, was er ist, und wie er ist, aber ohne daß er selbst recht wüßte wohin. Aber indem der Herr sprach: „Laßt uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei,“ so gab er auch das Versprechen, daß derjenige kommen sollte in die menschliche Natur gekleidet, der wahrhaft das Ebenbild wäre des göttlichen Wesens und der Abglanz seiner Herrlichkeit, ja in der Schöpfung des Menschen lag schon das Versprechen, daß der Erlöser kommen sollte als die Krone des menschlichen Geschlechts, und nachdem der Herr das Eine gethan hatte, konnte er nicht anders als das Andere auch thun, er mußte das Wort seiner Verheißung lösen, und der eingeborne Sohn | vom Vater mußte erschei5.15 sei] sein 11–12 Vgl. 1Joh 1,9 Joh 1,14
15.30–31 Gen 1,26
32–34 Vgl. Hebr 1,3
38–1 Vgl.
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nen, daß wir seine Herrlichkeit schauen, daß wir in ihm das göttliche Ebenbild sehen und es von ihm wiederempfangen könnten. So, m. g. F., ist Khristus gekommen ein Diener und ein Herr allen ohne Unterschied um der Wahrhaftigkeit Gottes willen in den Verheißungen, die er gegeben von der Schöpfung des Menschen bis zu dem Augenblik, wo die ganze selige Erfüllung begann. Aber auch so ist es, m. g. F., daß nicht etwa nur Einige der göttlichen Barmherzigkeit bedürfen und Andere nicht; nein sondern alle, die Khristus aufgenommen hat, alle in denen seine Herrschaft gegründet worden | ist, die loben Gott um der Barmherzigkeit willen. Der Herr, m. g. F., dessen Güte so weit reicht als die Wolken gehen, wie weit reicht seine Barmherzigkeit? Seine Barmherzigkeit, m. g. F., die reicht so weit als die Sünde geht; denn wo die ist da kann die ewige Liebe des höchsten Wesens keine andere Gestalt annehmen als die, wenn wir es menschlich ausdrüken, des Mitleidens und des Erbarmens. So nun die Sünde über das ganze menschliche Geschlecht verbreitet ist, so bedürfen also auch alle der göttlichen Barmherzigkeit, und nur so kann der Herr sie seiner Segnungen wieder fähig machen, nur so kann er sich ihrer annehmen mit | der Liebe des Erbarmens. Und wir, m. g. F., wir können also nicht anders den Herrn loben als um der Barmherzigkeit willen, aber deswegen weil wir niemals ganz los kommen können von der Sünde und von dem Gefühl derselben, so bleibt die Liebe Gottes in Khristo nichts anderes für uns als immer die Liebe des Erbarmens, so hat er wie der Apostel sagt, es Alles beschlossen unter die Sünde, auf daß er sich Aller erbarmen konnte. Und wenn wir freilich, wie der Herr ihn uns offenbart hat als seinen und unsern Vater, von dem er gekommen ist und zu dem er wieder hinaufgestiegen, wenn wir freilich Gott loben sollen aus Einem Munde eben als den Vater unseres Herrn | Jesu Khristi, und also auch nicht anders können als mit kindlicher Liebe ihn preisen: o, m. g. F., so würden wir uns doch selbst schaden, wenn wir jemals das Gefühl verlieren könnten, daß wenn wir auch Kinder sind in Khristo, wenn wir auch zur Freiheit und Freudigkeit der Kinder Gottes gelangt sind durch ihn, wir doch immer Kinder sind und bleiben, welche gesündigt haben, und welche noch sündigen. So gewiß wir sind, daß wenn wir die Sünde bekennen seine Treue und Gerechtigkeit nicht anders kann als die Sünde vergeben, so gewiß können wir auch niemals ein volles und reines Bewußtsein haben von unserem Verhältniß zu Gott als eben nur dies, | daß uns die Sünde verge16 Sünde] Sünd
18 wieder] wider
10–11 Vgl. Ps 36,6; 57,11 2 Vgl. 2Kor 5,21
19 Erbarmens] Ermarmens
24–25 Vgl. Röm 11,32
35–36 Vgl. 1Joh 1,9
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ben ist und immer wieder vergeben wird um deß willen, der von keiner Sünde wußte. In ihm, m. g. F., in ihm sind wir Kinder Gottes, und so fern wir in ihm sind, in seiner Gemeinschaft, so ist auch alle die Freudigkeit, die er als der eingeborene Sohn hatte, unser Theil; aber so wie wir für uns selbst sind, und so wie wir in unser eigenes Inneres einkehren, so sind wir immer diejenigen, welche nur um der Barmherzigkeit willen Gott loben können. Aber nicht nur dies, sondern auch jede besondere Wahl, jeder Vorzug, den Gott nach seinem unerforschlichen Rathschluß in Beziehung auf die Fülle seiner Gnade, | in Beziehung auf die frühere Erlangung derselben dem Einen vor dem Andern ertheilt[,] ist nichts anderes als eine Barmherzigkeit, aber eine Barmherzigkeit nicht nur für den, der empfängt, sondern ebenfalls für alle durch ihn. So m. g. F., war eben das Volk, unter welchem der Herr geboren wurde, das Volk der göttlichen Wahl, ausersehen dazu und ausgesondert von allen Völkern, daß sich in ihm erhalten sollte die Erkenntniß Gottes; denn nur in Einem Volke wie dieses war konnte der geboren werden, der Eins war mit dem Vater. Zusammengehalten wurde es durch das Gesez und durch die in dem Gesez enthaltenen Verheißungen bis | auf den Tag, wo die Erfüllung kam von jenen. Das war eine Barmherzigkeit Gottes, ein heiliger in seiner besondern Bestimmung uns unbegreiflicher und unerforschlicher Rathschluß; aber nicht nur eine Barmherzigkeit für das Volk, sondern nur eine Art und Weise wie die göttliche Barmherzigkeit sich erwies gegen das ganze menschliche Geschlecht. Daß unsere Väter zu der Zeit, die Gott bestimmt hatte, auch herangekommen sind zu der Erkenntniß der Wahrheit, die da ist in Khristo Jesu, das, m. g. F., ist auch eine solche göttliche Wahl, daß wir früher zum Lichte berufen sind als andere, es ist eine Barmherzigkeit gegen uns, aber nicht nur gegen uns, sondern | gegen alle, indem auch von uns aus sich das Licht des Evangeliums weiter verbreiten soll, und wir nicht für uns selbst haben und besizen sollen die Güter seines Reiches, sondern sie suchen sollen zu verbreiten, so weit wir vermögen, und sie zu überbringen von einem Geschlecht auf das andere und von einem Volk auf das andere. So, m. g. F., wollen wir also Gott loben für den, den er uns und allen gesandt hat zum Heil, daß wir festhalten die theure Wahrheit der göttlichen Verheißungen, und immer mehr einwurzeln in das tiefe selige Bewußtsein von der Treue und Gerechtigkeit des vergebenden und erlösenden Gottes, daß wir Werkzeu|ge sind seiner Barmherzigkeit auch für die, welche noch nicht von ihm aufgenommen sind, sondern wandeln in dem Schatten des Todes, jeder nach seiner Ordnung und jeder wie er es vermag, daß wir mit Einem Munde loben Gott und den Vater unseres Herrn Jesu Khristi dafür, daß er ihn gesandt hat einen 4 eingeborene] eingeborener
10 Erlangung] Erbangung
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Diener aller und einen Herrn über alle. Und möge er, und er wird es gewiß als ein Diener aller niemals aufhören, zu suchen was verloren ist, und alles herbeizuziehen in sein seliges Reich, was noch fern von ihm wandelt; und möge er, und er wird es gewiß, sich immer mehr sezen auf den Stuhl seiner | Herrschaft, daß sie gegründet werde in allen, und daß sie sich in allen, die ihn erkennen, immer mehr befestige, alles heraustreibend aus der Seele, was seiner nicht würdig ist, sondern ihn verleugnet, und sie immer mehr anfüllend mit allen Gütern, welche uns gekommen sind durch die Gemeinschaft mit dem, der mit dem Vater Eins ist, und der dazu auf Erden erschienen ist, daß er mit ihm Wohnung mache in der menschlichen Seele. Amen.
[Liederblatt vom 5. Dezember 1824:] Am 2ten Advent-Sonntage 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Allein Gott in der etc. [1.] Auf freuet euch von Herzensgrund, / Ihr die ihr war’t verloren! / Nun wird das große Wunder kund, / Der Herr ist Mensch geboren. / Das Wunder, was uns kommt zu gut, / Weil er nun unser Fleisch und Blut / Erneuet und versöhnet. // [2.] Er selbst, das Wort, das alles schafft, / Das alles hebt und träget, / Der reine Glanz die ew’ge Kraft, / Durch die sich alles reget, / Er ist’s, der sich in Schwachheit hüllt, / Auf daß nun Gottes Ebenbild / Könn’ in uns sichtbar werden. // [3.] Tief lag die Welt in finstrer Nacht, / In Furcht und Todesschreken; / Sie konnte nicht aus eigner Macht / Sich Heil und Licht erwekken: / Nun kommt das unumschränkte Licht / Und will mit hellem Angesicht / In alle Herzen leuchten. // [4.] Drum irr’, o Mensch, nicht länger blind / Auf des Verderbens Wegen; / Umfasse den, der treu gesinnt / Dir gnädig kommt entgegen! / Komm, folge deiner Trägheit nicht, / Christ will dir Leben Kraft und Licht / Aus seiner Fülle schenken. // [5.] So nimm mein Herz, Herr Jesu Christ / Mein Heiland, Licht und Leben! / Gestalt es so wie deines ist, / Dazu sei’s dir gegeben, / Vertreib die alte Finsterniß / Und heil der Sünde Schlangenbiß, / Dann bist du mir geboren. // Nach dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s etc. [1.] Erhebt den Herrn, ihr Frommen! / Er hält was er verspricht, / Der Heiland ist gekommen / Der Völker Trost und Licht. / Gott will nicht unsern Tod, / Er hat den Sohn gegeben, / Damit wir durch ihn leben, / Von Sünd’ erlöst und Noth. // [2.] O sehet, welche Liebe, / Die uns der Herr erzeigt! / Wie hat mit Vatertriebe / Er sich zu uns geneigt. / Sein eingebohrner Sohn, / Um Sündern zu erwerben / Errettung vom Verderben, / Verläßt des Himmels 10–11 Vgl. Joh 14,23
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Thron. // [3.] Er kam herab auf Erden / Zu der bestimmten Zeit, / Trug Mühen und Beschwerden / In tiefer Niedrigkeit. / Als er sein Werk vollbracht / Durch bittre Todesleiden, / Dann schmekt’ er erst die Freuden / Der ihm gegebnen Macht. // [4.] Er hats vollbracht! O bringet / Gott euren Lobgesang! / Erlöste Menschen, singet / Dem Mittler ewig Dank! / Wo niemand helfen kann, / Da hilft er gern aus Gnaden, / Und heilt der Seele Schaden, / O nehmt ihn gläubig an. // [5.] Du Freund der Menschenkinder / Verwirf uns Jesu nicht. / Dein Nam’ o Heil der Sünder / Ist unsre Zuversicht. / Wir sind auf ewig dein, / Hilf du die Macht der Sünden / Uns kräftig überwinden, / Und dir gehorsam sein. // [6.] Ja Heiland, wir ergeben / Uns dir zum Eigenthum! / Schon hier soll unser Leben / Verkünden deinen Ruhm, / Und wenn wir dort dich sehn, / Soll in der Engel Chören / Dich unser Loblied ehren / Und ewig dich erhöhn. // Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’t etc. Wir bringen dir ein dankbar Herz / Und wollen fromm in Freud und Schmerz / Nach deinem Vorbild wandeln. / Verwirf dies unser Opfer nicht / Und gieb uns deines Geistes Licht, / Wie dirs gefällt zu handeln. / Sei uns freundlich, hilf uns Schwachen, / Daß wir wachen, / Beten, ringen / Und zu deinem Reiche dringen. //
Am 5. Dezember 1824, Trauung Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
2. Sonntag im Advent, Trauung Haus Ohne Drucktext Schleiermachers, in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 370–374 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 811–815; 21844, S. 848–852 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 665–667 – Über Freundschaft, Liebe und Ehe, 1909, S. 172–173 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Traupredigt für Hecker / Sommerfeld Tageskalender: „[VM] Heckersche Trauung bei Mauderode“
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In manchen Gegenden, verehrtes Brautpaar, ist es auch in unserer Kirche nicht üblich, ein eheliches Bündniß einzusegnen in dieser festlichen Zeit, gleichsam als ob Beides, die Freude an Dem, welcher uns Allen ein neues Leben gebracht hat, und die Freude an dem neuen gemeinsamen Leben, das zwei christlich-liebende Gemüther beginnen, nicht zugleich Raum hätte in der Seele. Wir aber binden darin nicht die Gewissen, und wollen heute unter den besten Vorbedeutungen Ihr Bündniß segnen, an welchem wir Alle und noch viele Entfernte den herzlichsten Theil nehmen, und welches einen noch nicht verharschten Schmerz uns nun völlig reiniget und beruhiget, und ein uns Allen theures Andenken durch einen heiteren Strahl der Freude verklärt.1 Diese Adventszeit ist unter uns, vorbereitend die Feier der Geburt des Erlösers, der allgemeinen Freude darüber geweihet, daß dem Bedürfnisse durch eine göttliche Hülfe ist abgeholfen worden, welches 1
Die Braut hatte vor wenigen Jahren kurz hinter einander Vater und Mutter verloren.
0 Traubuch der Dreifaltigkeitskirche, Jg. 1824: „Martin Friedrich Sommerfeld, Registratur Beamter der hiesigen Armen Direktion, 25 Jahre alt, Sohn des Eigenthums Bürger und Schuhmachermeister Martin Friedrich Sommerfeld in Zehdenick und Johanne Sophie Henriette Hecker aus Berlin, 40 Jahre alt, Tochter des verstorbenen Königl. Ober-Consistorial-Rath Andreas Jacob Hecker.“ Schleiermacher traute somit die Tochter seines 1819 verstorbenen lutherischen Kollegen an der Dreifaltigkeitskirche.
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wir Alle fühlen, wenn wir uns in den früheren Zustand unseres Geschlechts zurückdenken, der Freude darüber, daß dem Erlöser eine Stätte bereitet war, wo er erwartet wurde, wo sein menschliches Leben, von Treue und andächtiger Liebe gepflegt, wachsen konnte und gedeihen bis die Stunde kam, wo er in seinem öffentlichen Leben das göttliche entfalten konnte, und die Erfüllung seines großen Berufes beginnen. Wohlan, so erinnere denn diese Zeit Sie Beide auch ganz vorzüglich daran: daß jedes christliche Hauswesen, welches begründet wird, auch eine | neue Stätte ist, welche der Erlöser findet auf Erden. Nicht als ob nicht auch ein einzelnes Leben ihm könnte geweihet seyn; waren doch die Meisten, in welche er zuerst den Samen des göttlichen Wortes niederlegte, nur solche vereinzelte Seelen. Allein das einzelne Leben, wenn nicht durch einen besonderen Beruf gehoben, besteht selten als ein Ganzes für sich, es schließt sich anderen häuslichen Kreisen an, dem Einen in dieser, dem Anderen in jener Beziehung, und in dieser Zerstreuung verbirgt es sich, und ist, wie gesegnet es auch sey, doch immer keine eigene Stätte. Gerade dazu aber, zu einer eigenen Stätte für die Wirksamkeit des Erlösers, segnet die christliche Kirche jedes Ehebündniß ein. Hier soll an unserem heiligsten Berufe, nämlich die Segnungen des Evangeliums auf das künftige Geschlecht fortzupflanzen, und es empfänglich zu machen für des göttlichen Geistes Wirksamkeit durch das Wort Gottes, daran soll in treuverbundener Liebe gearbeitet werden; hier soll in einem wohlgeordneten und als ein Ganzes für sich hingestellten Leben gezeigt werden, wie sich christlicher Sinn in den mancherlei menschlichen Verhältnissen bewährt. Ja, wie dem Erlöser seine Stellung unter uns bestimmt war durch seine Liebe zu den Brüdern, aber auch nur in die Erscheinung treten und wahrgenommen werden konnte, indem sich in Anderen Liebe zu ihm entwickelte: so soll auch die Liebe der Gatten unter einander seyn eine erleuchtende, erwärmende und bewahrende Liebe auf der einen Seite, und eine aufmerkende, gelehrige, fügsame auf der anderen. Und wie der Erlöser von der unscheinbaren Stelle aus, auf welcher sein Leben begann, doch ein Licht geworden ist, zu erleuchten alle Völker: so ist auch der segensreiche Einfluß eines christlichen Hausstandes auf das Reich Gottes auf Erden keinesweges davon abhängig, wie glänzend seine Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft sey, sondern nur davon, wie rein und frei der Geist Christi darin waltet. Sehen Sie da, m. Gel., dies ist das Eine, was gerade diese Zeit Ihnen beim Anfange Ihres ehelichen Lebens Erfreuliches, und Ihr Bündniß Heiligendes zuruft. Das Andere aber ist Folgendes. Wir beginnen in dieser Zeit | unser kirchliches Jahr auf’s Neue, und die 4 Treue] Trauer
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ganze Reihe unserer den gottesdienstlichen Erbauungen gewidmeten Tage liegt wieder vor uns. Unter diesen unterscheiden sich nun einige festliche, als besonders reichbegabte. Deren sind nur wenige; aber wie wir diese gewöhnlich am Meisten segnen, wegen des darin empfangenen Guten, wenn wir auf die Vergangenheit zurücksehen, so erwarten wir auch wieder am Meisten von ihnen in der Zukunft. Aber keinesweges sehen wir unsere gewöhnlichen sonntägigen Versammlungen als etwas von jenen kirchlichen Festen wesentlich Verschiedenes an; sie sind vielmehr auch Tage des Herrn, wie jene, und je vollständiger die Beziehung beider auf einander seyn wird, desto segensreicher wird uns in seinem ganzen Zusammenhange auch das neue kirchliche Jahr seyn. Das aber bleibt uns immer besonders erfreulich, daß sich das Jahr jedesmal anfängt mit einer längeren festlichen Zeit, in der wir uns vorzüglich mit dem ersten Anfange unseres Heils beschäftigen, aus welchem sich hernach alles andere, jedes in seiner Ordnung, entwickelt. Sie Beide nun, theure Verlobte, beginnen jetzt einen neuen Lebensabschnitt, viel bedeutender als das einzelne Jahr, in welches wir getreten sind, und möge ihn Gott aus einer langen Reihe von Jahren bestehen lassen! Aber derselbe Wechsel, den ich eben beschrieben habe, liegt auch in Ihrem künftigen Leben. Es wird Ihnen darin nicht fehlen an schönen festlichen Tagen. Wenn Gott das Gute in Ihrem Leben mehrt, wenn er die Gegenstände Ihrer Liebe vervielfältigt, wenn er Ihren Wirkungskreis erweitert, wenn seine Hand bei besonderen Veranlassungen segnend, schützend, bewahrend über Ihnen waltet, ja auch wenn Trübsale, die nicht fehlen in einem christlichen Hausstande, glücklich überstanden sind, werden Sie Feste der Freude feiern. Genießen Sie sie dankbar in einem kleineren oder größeren Kreise, je nachdem der Herr Ihr Haus bauen wird und segnen; und nichts Bedeutendes müsse Ihnen begegnen, das Ihnen nicht im Laufe des Jahres als eine schöne Erinnerung wiederkehrte! Denn festliche Tage nähren die Dankbarkeit gegen Gott, fachen die Glut einer reinen Liebe lebhafter | an, und überstreuen das so leicht verbleichende Leben wieder mit einem frischen Glanze. Allein, wie sorgfältig auch gepflegt, werden dieser festlichen Tage doch nur wenige seyn, und den größten Raum wird die Alltäglichkeit des Lebens einnehmen mit ihren uns so oft klein und geringfügig scheinenden Sorgen und Geschäften. Aber wie uns doch derjenige gar nicht wohlgefallen würde in seiner Kirchlichkeit, dem unsere gewöhnlichen Sonntage nicht gefielen, sondern Weihnachten sollte immer seyn oder Pfingsten: so hüten auch Sie Sich, das Alltägliche in Ihrem gemeinsamen Leben zu verschmähen oder gering zu achten; sondern jeder Tag sey Ihnen ein Tag des Herrn, 12–13 sich...anfängt] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 290
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und als solcher heilig. Nie soll dem Christen sein Beruf klein erscheinen, weder dem Manne das, was er in der bürgerlichen Gesellschaft vollbringt, noch der Frau die Handhabung der häuslichen Ordnung und Anmuth. Gott hat uns Allen anvertraut ein Pfund nach Gutdünken: Ihm gehört es, und wenn wir in Demuth und Rechtschaffenheit das Unsrige in diesem Sinne thun, daß es weniger Menschen gethan ist, als Gott, dann werden wir auch immer erfahren, daß treu seyn im Kleinen einer der schönsten Triumphe des Christen ist. Aber auch freudiger, und in sich selbst seliger, wird Ihr tägliches Leben in dem Maße seyn, als es von der höheren Würde der Religion, diesem, daß ich so sage, wahrhaft festlichen Elemente des Lebens, durchdrungen ist. Stellt sie uns als die Folge der Sünde dar, daß wir im Schweiße unseres Angesichtes unser Brodt essen sollen auf Erden: so nimmt sie uns auch mit der Sünde selbst zugleich diese Folgen derselben wieder ab, und weihet Alle, die in dem Gebiete der christlichen Kirche, dieses geistigen Tempels des Herrn, Hütten bauen, dazu ein, daß sie auch nichts Anderes zu thun haben, als mit freudigem Herzen schöne, den ganzen Bau erhaltende Gottesdienste des Herrn zu errichten. – Möchten auch Sie, Geliebteste, das gemeinsame Leben, welches Sie jetzt beginnen, immer aus diesem Gesichtspunkte betrachten und fortführen. Dazu seyen Ihnen diese Tage der Weihe desselben das vorbereitende Fest, worin Sie, der Reinheit Ihrer gegenseitigen Zuneigung sich | bewußt, ganz dem Danke gegen Den leben, der Sie zusammengeführt hat, und fest in dem Entschlusse gegründet, den Sie jetzt bekennen und besiegeln wollen: daß Ihre Ehe ein christlicher Hausstand seyn und immer bleiben soll, und im kindlichen Vertrauen erwarten, wie unser Vater im Himmel Sie in Ihrem gemeinsamen Leben leiten wird nach seiner Gnade und Barmherzigkeit. (Es folgen Copulation und Gebete nach dem Formular). Schl.
12–13 Vgl. Gen 3,19 29 Das Formular ist der von Schleiermacher verfassten Agende für die unierte Dreifaltigkeitsgemeinde zu entnehmen (GStA, HA X, Brandenburg, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876; Bl. 108v– 112v; abgedruckt in: KGA III/3, Anhang).
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3. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 6,52–60 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, S. 455–467; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 198v–200v; Saunier, in: Schirmer (Fragment) Nachschrift; SAr 63, Bl. 65r–68v; Woltersdorff Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium
Am 3. Advents-Sonntage 1824. Tex t. Joh. 6, 52–60. Da zankten die Juden unter einander und sprachen, Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben? Jesus sprach zu ihnen, Warlich, warlich ich sage euch, werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschen Sohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. Wer mein Fleisch ißt, und trinkt mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage auferwekken. Denn mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist der rechte Trank. Wer mein Fleisch ißt und trinkt mein Blut, der bleibt in mir, und ich in ihm. Wie mich gesandt hat der lebendige Vater, und ich lebe um des Vaters willen: also wer mich ißt, derselbige wird auch leben um meinetwillen. Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist, nicht wie eure Väter haben Manna gegessen und sind gestorben. Wer dies Brot ißt, der wird leben in Ewigkeit. Solches sagte er in der Schule, da er lehrte zu | Kapernaum. Viele von seinen Jüngern, die das hörten, sprachen, Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören? Der Evangelist erzählt uns, m. a. Fr., als der Erlöser zuerst das gesagt hatte, das Brot, welches er geben werde, das sei sein Fleisch, welches er geben werde für das Leben der Welt, welche Worte wir neulich schon mit einander betrachtet haben: so hätten die Juden unter einander gezankt und gefragt, Wie will uns dieser sein Fleisch zu essen ge19–22 Vgl. oben 28. November früh über Joh 6,45–51
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ben? Das kann nun nichts anderes heißen, als daß sie mit einander darüber stritten, welches denn wol der eigentliche Sinn dieser ihnen so dunkeln Rede sei, und daß der eine dies, der andere jenes meinte. Was thut nun aber der Herr? Nichts anderes als daß er ihnen dasselbe wiederholt und sagt, Werdet ihr nicht essen das Fleisch des MenschenSohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch, und also ihnen das nicht weiter auseinandersezt, sondern sie nur immer darauf zurükkführt, was davon abhänge, und welches die unmittelbaren Folgen davon sein würden, so sie es thäten, oder nicht. Das ist die Art, m. g. Fr., wie der Herr in solchen Fällen immer zu Werke gegangen ist. Nämlich es ist recht und in der Ordnung, daß unter Christen, unter denen, die an den Herrn glauben, mancherlei Streit ist über dieses und jenes einzelne in seinen und seiner Jünger Worten, und daß sie sich darüber unter einander belehren, ihre gemeinschaftlichen Einsichten und Ansichten zusammenthun, und dadurch zu einem immer genaueren Verständniß der Worte der Schrift gelangen. Hier aber kam es auf den ersten Grund des Glaubens und des christlichen Lebens selbst an, und da hilft kein Streiten, sondern das muß erfahren sein. Darum sagt der Herr von Anfang an, Wer diese | Lehre thut, der wird inne werden, daß sie von Gott sei. So konnte auch mancherlei Streit sein und war von Anfang an darüber, ob er von Gott gesandt sei, oder nicht; die einen bejahten es, die andern nicht, und von den bejahenden erklärten ihn wiederum die einen für einen Propheten, die andern für Christum, die andern für einen großen Lehrer. Aber da sagt er auch, Das muß erfahren sein, und wer es erfährt, der werde bei sich selbst die unumstößliche Gewißheit haben, daß diese Lehre von Gott sei. So auch hier, als sie darüber stritten, was es heiße und was er meine mit dem, das Brot, welches er geben werde, sei sein Fleisch, so that er nichts anderes, als daß er sie wiederholend dazu einlud und ihnen sagte, das sei der Unterschied: wer sein Fleisch nicht esse und sein Blut nicht trinke, der habe kein Leben in sich; wer aber sein Fleisch esse und sein Blut trinke, der habe das ewige Leben. Freilich nun konnte diese Einladung ihnen nichts helfen, wenn sie nicht wußten, wie sie die Worte Christi zu verstehen hatten, und was das heiße, denn buchstäblich konnte es nicht gemeint sein. Aber darüber konnte der Herr schon aus seiner früheren Rede vollkommen ruhig sein, daß sie im allgemeinen, was er darunter verstehe, wol wissen konnten, so sie nur auf das vorige gemerkt. Denn, m. g. Fr., schon vorher hatte er ihnen gesagt, Das ist der Wille deß, der mich gesandt hat, daß wer den Sohn siehet und glaubt an ihn habe das ewige Leben, und ich werde ihn auferwekken am jüngsten Tage. Konnte er also et19–20 Vgl. Joh 7,17
20–24 Vgl. Joh 7,40–43
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was deutlicheres und zwekkmäßigeres thun, als daß er sie auf diese Rede zurükkverwies, indem er sagte, Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage auferwekken? Daraus war ja ganz unmittelbar deut|lich, daß dies beides müsse nothwendig eins und dasselbige sein. Den Sohn sehen und an ihn glauben, sein Fleisch essen und sein Blut trinken, das ist eins und dasselbige; denn wenn es nicht eins und dasselbige wäre, so hätte der Herr nicht an jedes für sich allein und ausschließend das anknüpfen können, daß wer es thue werde das ewige Leben haben und von ihm am jüngsten Tage auferwekkt werden. Wenn sie nun das nicht verstanden, was er darunter gemeint habe als er sagte, Wer den Sohn sieht und an ihn glaubt: so hätten sie damals nicht unter einander streiten müssen, denn sie konnten es doch nicht unter einander ausmachen, sondern ihn fragen, was er meine unter dem ihn sehen und an ihn glauben. Da sie es aber nicht gethan hatten, so konnte er voraussezen, daß sie es verstanden hätten, und so verwies er sie hier auf seine vorige Rede und sagt, daß sein Fleisch essen und sein Blut trinken ganz dasselbige sei, als den Sohn sehen und an ihn glauben. Wie steht es nun aber, m. g. Fr. – und das ist allerdings ein Hauptpunkt in dieser Rede des Erlösers – um diese Einerleiheit zwischen jenem den Sohn sehen und an ihn glauben, und zwischen diesem sein Fleisch essen und sein Blut trinken? So könnte man denn sagen, Ei ihn sehen und an ihn glauben, das verstehen wir alle, das heißt eben indem man ihn sieht ihn für den erkennen der er ist, und so ist es nun mit dem sein Fleisch essen und sein Blut trinken eben keine große Sache. Aber, m. g. Fr., umsonst hat der Herr gewiß nicht jener ursprünglichen und so einfach erscheinenden [Beziehung] noch diese zweite und lezte, die an sich betrachtet so schwierig ist, hinzugefügt, und also mögen wir nicht so sagen: da sein Fleisch essen und sein Blut trinken einerlei ist mit dem ihn sehen und an ihn glauben, und dies eben eine ganz einfache und klare Sache ist, so hat es auch mit dem sein Fleisch essen und sein Blut trinken eben keine große Bedeutung; sondern so viel mehr | sollen wir sagen, weil der Herr eben jene Worte, Wer den Sohn siehet und an ihn glaubt, durch diese erklären will, Wer sein Fleisch isset und sein Blut trinkt, so muß er es eben nöthig finden uns noch ausdrükklich und besonders in den tieferen Sinn jener Worte hineinzugeleiten. Und das ist freilich das wahre an der Sache, m. g. Fr., daß der Ausdrukk an den Herrn glauben von jeher auf verschiedene Weise ist 27 gewiß nicht] gewiß Beziehung nicht 34 Vgl. Joh 6,40
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verstanden worden, und daß eben einige sich weniger dabei gedacht haben, und andere mehr. Denn glauben, daß Jesus von Gott in die Welt gesandt worden sei, glauben, daß sein Wort eine göttliche Wahrheit enthalte, das ist allerdings schon eine gute Einleitung für den Menschen; aber den Sohn sehen und an ihn glauben, so daß dies dasselbe ist, wie sein Fleisch essen und sein Blut trinken, das ist doch noch etwas größeres und viel mehr, als was jeder dem gewöhnlichen Sprachgebrauch des Lebens nach unter jenem Worte zu verstehen pflegt; und so will der Herr sagen, daß er etwas eigenthümliches und größeres unter dem will verstanden wissen, ihn sehen und an ihn glauben. Wenn wir nun andere seiner Worte zu Rathe ziehen, so können wir eben den Sinn von diesen auch immer deutlicher verstehen. Denn er sagt in der Folge, Wer mein Fleisch ißt und trinkt mein Blut, der bleibt in mir, und ich in ihm. Dabei erinnern wir uns schon von selbst eines bildlichen Ausdrukks des Herrn, der aus einem andern Gebiet hergenommen ist, wenn er zum Beispiel sagt, Ich bin der Weinstokk, und ihr seid die Reben, bleibet in mir, so werdet ihr viele Frucht bringen, wenn aber der Rebe nicht am Weinstokk bleibt, so verwelkt und verdorret er und muß hinweg genommen werden. Das ist das Bild einer wahren Vereinigung des Lebens. Der Rebe ist am Weinstokk und im Weinstokk, weil er seine Säfte und sein Leben in sich aufnimmt, weil die Kraft desselben | in ihn einströmt, und weil er Frucht bringt, die der Natur des Weinstokks gemäß ist; und der Weinstokk ist in dem Reben mit seiner belebenden und erfüllenden Kraft, und so ist jener in diesem und dieser in jenem. Und auf dieselbe Weise sagt der Herr hier durch ein anderes Bild, Wer mein Fleisch ißt und trinkt mein Blut, der bleibt in mir, und ich in ihm, als Erklärung der Worte, Mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist der rechte Trank, und als Erklärung der Worte, Werdet ihr nicht mein Fleisch essen und mein Blut trinken, so habt ihr kein Leben in euch. Dadurch giebt er also zu verstehen, daß sie ihn erkennen sollen als die Quelle des eigenthümlichen und wahren Lebens, welches er hier das ewige Leben nennt, und daß sie es so nehmen sollen, daß wer sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt das ewige Leben habe, wer aber nicht, gar kein Leben in sich trage, wodurch er deutlich zu verstehen giebt, daß jedes andere in ihm seinen Grund nicht habende Leben für gar kein Leben zu nehmen sei, daß aber das in ihm ruhende und von ihm mitgetheilte Leben uns jedes andere Leben, welches nicht von ihm kommt, so zuwider mache, wie dem natürlichen Menschen in Ermangelung desselben der Tod zuwider ist. 18 der Rebe] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 3, 21798, Sp. 988 16–19 Vgl. Joh 15,2.4–6
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Und so mögen wir sagen, Das allein ist der rechte Glaube an des Menschen Sohn. Wenn der Evangelist im Anfange seines Evangeliums sagt, Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit: so hat er damit eben diesen Glauben ausgesprochen und gesagt, was es ihm und den Genossen seines Glaubens geheißen habe, den Sohn sehen und an ihn glauben. Die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, das ist das Leben, neben welchem kein anderes mehr für ein Leben zu rechnen ist, | Die Fülle der Gnade und Wahrheit in ihm, das ist der Schaz und das Kleinod des Lebens. Dieses sehen und erkennen und selbst von diesem Leben so viel als möglich in sich aufnehmen und sich von demselben nähren wollen, das, m. g. Fr., ist eins und dasselbige. Und das ist es auch, was der Erlöser hier sagt, sein Leben sollen wir in uns ziehen und aufnehmen, dann würden wir selbst auch Leben haben, nämlich das ewige Leben. Und wenn er vorher gesagt hat, Das Brot, welches ich geben werde, ist mein Fleisch, was wir uns in dem Zusammenhang der Worte so erklärt haben, daß uns das göttliche und himmlische in dem Erlöser nicht anders zu Theil werden kann, als dadurch, daß er Fleisch und Blut angenommen hat und Mensch geworden ist wie wir im Zusammenhange seiner menschlichen Natur: so heißt es auch hier, in seinem menschlichen Leben und Wirken und Reden sollen wir das göttliche erkennen und in uns aufnehmen. Das heißt sein Fleisch essen und sein Blut trinken, und das ist die Bedingung, an welche er den Besiz des ewigen Lebens knüpft, und das heißt den Sohn sehen, ihn sehen und erkennen als den eingebornen Sohn vom Vater und an ihn glauben. Dasselbe erklärt er nun auch unmittelbar darauf auf eine andere Weise, indem er sagt, Wie mich gesandt hat der lebendige Vater, und ich lebe um des Vaters willen, also wer mich isset, derselbige wird auch leben um meinetwillen. Wenn wir diese Worte recht überlegen, m. th. Fr., so wird einem jeden, der sie aufmerksam liest, etwas daran zu fehlen scheinen. Denn wenn der Herr zuerst sagt, Wie mich gesandt hat der lebendige Vater, und ich deswegen, weil er mich gesandt hat, lebe um des Vaters willen, so sollte man denken, werde er nachher indem er sagt, Wer mich isset, derselbige wird leben um meinetwillen, er werde sagen, also auch wen ich sende, der wird leben um | meinetwillen; statt dessen aber sagt er, Wer mich isset, der wird leben um meinetwillen. Nun hatte er aber vorher gesagt, Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir, und ich in ihm; seine Meinung ist also diese, wer in ihm bleibt, 3–5 Vgl. Joh 1,14
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und er in ihm, der werde leben um seinetwillen. Aber eben so ist auch das gemeint, wenn er sagt, Wie mich gesandt hat der lebendige Vater. Denn so drükkt er ja anderwärts sein Verhältniß zu dem Vater aus, daß er und der Vater eins sei, und bittet, indem er seine Jünger und die durch ihr Wort an ihn gläubig werden seinem Vater empfiehlt, daß er eben so möge in ihnen bleiben, und sie in ihm, wie er selbst der Sohn in dem Vater, und der Vater in ihm. Nicht also will er so angesehen werden als ein von Gott gesendeter, wie jedes andere Werkzeug Gottes als von Gott in die Welt gesandt angesehen werden kann; sondern auf eine eigenthümliche Weise als der, in welchem der Vater selbst war, als der, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, und der in nichts anderem lebte als in dem Vater, dessen Wort in sich tragend, aber eben deswegen auch erfüllend, dessen Willen ausübend, aber eben deswegen auch den Menschen offenbarend. Und eben dieses sein Leben unter den Menschen mit der Fülle der Gottheit in ihm, das war sein gesendet sein vom Vater. Eben so sagt er, Wer in mir bleibet, und ich in ihm, wer eben so mein Leben in sich trägt und neben dem menschlichen, was er von mir aufgenommen hat, auch das göttliche in sich trägt, weil beides in den menschlichen Worten und Werken nicht zu trennen ist: der ist auch so von mir gesendet und muß meinen Willen erkennen und in Wort und That aussprechen, eben so wie ich als der vom Vater gesendete seinen Willen erkenne und in meinem menschlichen Leben darstelle; er ist von mir gesendet wie ich von dem Vater, und so wie ich eben deshalb um seinetwillen lebe, so muß | auch er leben um meinetwillen, weil ich die Kraft seines Lebens ausmache, weil er mich erkennt, und weil durch ihn der göttliche Wille an dem menschlichen Geschlecht, wie ich ihn offenbart habe, eben so soll erfüllt werden, wie durch mein Dasein auf Erden der ewige Wille Gottes an dem menschlichen Geschlecht, den ich selbst schaue und in mir trage, ist erfüllt worden. Und so sehen wir, m. g. Fr., den Sohn sehen und an ihn glauben, sein Fleisch essen und sein Blut trinken, in ihm bleiben wie er in uns, von ihm gesendet sein und in seinem Namen, um seinetwillen oder für ihn leben, das alles ist eins und dasselbige, eins ist von dem andern nicht zu trennen, das eine kann ohne das andere nicht bestehen. Und das, m. g. Fr., ist gewiß auch für uns alle der rechte erfreuliche und erhebende Adventsgedanke, die innerste Freude an dem gesendeten Erlöser, das ist es, worein wir uns aufs neue mit dieser Dankbarkeit gegen Gott und gegen unsern Herrn und Meister versenken, daß wir sein geistiges ewiges Leben in uns haben, daß wir ihn sehen und an 3–7 Vgl. Joh 10,30; 17,20–23
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ihn glauben, daß wir uns von ihm und aus ihm nähren, und daß wir in ihm bleiben, und er in uns. Aber nicht so lautete es hier. Denn nachdem der Herr jene Worte gesprochen hatte und nun wieder zu dem Anfang seiner Rede zurükkkehrte, welche sich daran geknüpft hatte, daß die Juden zu ihm sprachen: Was thust du für ein Zeichen, auf daß wir sehen und glauben, wie Moses ein Zeichen gethan unsern Vätern und ihnen das Manna gegeben in der Wüste, wie geschrieben stehet, Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen, als er nun zu dem Anfange seiner Rede zurükkkehrte und ihnen noch einmal den großen Unterschied zwischen dem einen und dem andern ans Herz legte und ihnen sagte, das um meinetwillen leben und in mir bleiben, das ist das Brot, welches vom Himmel gekommen ist, nicht wie eure Väter haben | Manna gegessen und sind gestorben, wer dies Brot isset, der wird leben in Ewigkeit: da sagten viele seiner Jünger, die das hörten, das ist eine harte Rede, wer kann sie hören. Und dies, m. g. Fr., kann nun nicht anders als uns betrüben, daß dasjenige, was uns und allen, die es erfahren haben, das erfreulichste und herrlichste ist, daß dasjenige, worein man sich, wenn man es einmal erfahren hat, so vertieft und versenkt, daß man nicht so bald aufhört sich darüber zu wundern, wie es möglich ist, wie doch so vielen Menschen der Sinn dafür nicht kann aufgehen, daß dies schon so vielen seiner Jünger damals eine harte Rede war, daß sie sagten, Wer kann sie hören, wer kann das verstehen, wer kann sich daran halten? Woher kam das? Eben weil der Erlöser seine Rede beschloß mit jener Vergleichung zwischen sich und dem, was er zu geben gekommen sei, und dann auf der andern Seite zwischen dem, was Moses seinem Volke gegeben hatte, so wurde es ihnen dadurch zu einer harten Rede. Nämlich durch Moses seinen Knecht hatte der Herr das Volk aus Aegypten geführt, wo es sich in einem Zustande äußerer Dienstbarkeit und Unterdrükkung befand, und ihnen gegeben ein eignes Land, welches sie als freie Bürger bewohnen und bearbeiten sollten, und worin sie sich der großen Barmherzigkeit und Güte Gottes erfreuten. Dieser Zustand hatte sich hernach noch weiter entwikkelt und war kräftig hervorgetreten, und es hatte eine herrliche Blüthe des Volkes gegeben in jeder menschlichen Beziehung. Nachher aber waren sie wieder 6–9 Vgl. Joh 6,30–31 11–14 Vgl. Joh 6,48–51 36–4 Die mit dem Ende der Babylonischen Fremdherrschaft 539 v. Chr. ermöglichte neue Freiheit endete mit der Eroberung des Perserreiches durch Alexander den Großen 330 v. Chr. – das Zeitalter der Hellenisierung begann und der Stand der Juden wurde zunehmend schwieriger. Den Makkabäern gelang es schließlich 165 v. Chr., in Judäa eine Erbherrschaft zu errichten. Diese wurde 63 v. Chr. mit der Eroberung des Gebietes durch Pompeius beendet. Fortan setzte Rom die Herrscher ein; ab 37 v. Chr. regierte Herodes der Große als König über Judäa. Ihm folgten seine Nachkommen auf den Thron.
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von diesem Gipfel des Lebens herabgesunken und unter eine fremde Gewalt gekommen, und nach einer kurzen abermaligen Freiheit befanden sie sich nun aufs neue in einem ähnlichen Zustande der Dienstbarkeit und der Unterdrükkung, wie der in Aegypten gewesen war. Wenn sie nun die schönen Verheißungen der Schrift lasen und ihre Aufmerksamkeit richteten auf den, der da kommen sollte und jezt schon mitten unter ih|nen war, wenn sie lasen, er werde sizen auf dem Stuhle seiner Herrschaft: so fanden sie in dieser Verheißung nur auf eine ähnliche Weise die Hindeutung auf eine Befreiung von dem Joche der äußern Knechtschaft, unter welchem sie seufzten. Nicht als ob die edlen und bessern unter ihnen nichts anderes gesucht und erwartet hätten von dieser in den heiligen Schriften vorgebildeten Zeit des Messias, als Reichthum und die äußern Güter des Lebens; sondern das glaubten sie, daß mit dem Zurükkkehren des innersten Wohlseins auch die äußere Kraft reicher und schöner sich entfalten werde, daß sie dann in dem Besiz des innern Friedens auch mit immer mehr äußerer Ruhe würden forschen können in den Tiefen der Schrift, daß ihnen dann alle Worte der Männer Gottes, die zu den Zeiten ihrer Väter geredet hatten, wieder würden lebendig werden, und daß sie durch die Worte des Herrn, der sich ihrer so liebreich angenommen, aufs neue würden belebt und gestärkt werden. Aber abgesondert das eine von dem andern konnten sie nicht denken, und die Treue Gottes gegen sie war ihnen vorzüglich darauf gerichtet, daß er die Verheißung, welche er dem Abraham gegeben, so erfüllen würde, wie sie es dachten. Nun aber stellt der Herr beides einander gegenüber und sagt ihnen, alle jene Einrichtungen, die schon aus den frühesten Zeiten des Volks herkämen, wären nur getroffen worden für das vergängliche und äußere Leben der Menschen: das Zeichen, welches ihnen der Herr durch Moses gegeben, indem er sie in den Zeiten des Mangels auf ihrem Zuge durch die Wüste auf eine außerordentliche Weise speiste, das könne ihnen deutlich zeigen, daß auch das Gesez, welches ihnen in jenem Zustande gegeben wurde, eben nur gegeben sei für einen äußern hülfsbedürftigen Zustand und um sie in der freilich unter ihnen allein herrschenden und sie von allen andern Völkern unterscheidenden Erkenntniß Gottes zu erhalten, und sie dadurch | auf etwas Höheres vorzubereiten. Aber etwas anderes sei es mit dem Brot vom Himmel gekommen und mit dem ewigen Leben, welches er allein ihnen geben könne. Dadurch wurde ihnen nun einigermaßen wenigstens in ihrer Seele klar, daß das ganz unabhängig sein sollte von der Verschönerung des äußern Zustandes, und daß der Mensch in allem Ueberfluß und in aller Herrlichkeit des irdischen Lebens eben so wie in dem Zustande des Mangels und der äußern Niedrigkeit das ewige Leben haben und sich desselben erfreuen könne. Aber daß sie durch den, der sich ihnen als das leben-
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dige Brot vom Himmel darstellte, nicht wieder aus dem Zustande der äußern Dienstbarkeit, in welchen sie von neuem gerathen, befreit und in jenen glükkseligen, auf welchen ihre Wünsche gerichtet waren, versezt werden sollten neben dem Besiz des ewigen geistigen Lebens, welches er ihnen anbot, eben das war ihnen eine harte Rede, und sie sprachen, Wer kann sie hören! Aber freilich, die das thaten, die waren auch nicht in demselben Sinne und Grade seine Jünger wie die zwölf, an welche er hernach die Frage richtete und von ihnen die Antwort erhielt, die wir nächstens zum Gegenstand unserer Betrachtung machen werden. Denn diese waren dahin gekommen, daß sie nichts anderes von ihm begehrten, als die Worte des Lebens, und von nichts anderem sich nähren wollten und nichts anderes suchen, als diese. Jene aber die suchten zwar das geistige – denn das merkten sie wohl, daß das bei Christo das Erste und Wesentliche sei – aber doch nur um des leiblichen willen und in Beziehung auf dasselbe. Aber jedem, der das thut, wird es eine harte Rede sein, wenn ihm gesagt wird, er solle um des Herrn willen leben und sich seiner freuen, eben so in dem Zustande des Glükkes und der Herrlichkeit, als in dem Zustande der Widerwärtigkeiten, der Leiden und Trübsale, wie der Apostel freilich es hernach sagen konnte, daß das Alles uns nicht scheiden könne von | der Liebe Gottes in Christo; aber der, welcher davon noch nicht losgekommen ist, daß er das ewige und geistige haben will um des leiblichen willen, dem bleibt es eine harte Rede, daß er das ewige haben soll allein im Gemüthe ohne alle Beziehung auf das vergängliche und irdische, und daß aller Unterschied zwischen beiden für ihn nicht mehr da sein soll, sondern völlig verschwinden. Und doch ist das die rechte Freude an dem ewigen Leben, welches der Herr uns erworben hat, auch damals, als er litt und sein Leben für das Heil der Welt dahin gab, und welches wir bei aller Verachtung der Welt wie bei aller Bewunderung der Menschen auf die gleiche Weise genießen können. So hat denn nur der das Leben in sich, und lebt um des Herrn willen, der von aller Sorge für das irdische und von allem Streben nach dem irdischen frei geworden ist, der in der That und Wahrheit sagen kann, daß er allein dem Herrn anhängt und für ihn allein lebt, daß es für ihn weiter keinen andern Gegenstand des Bestrebens giebt, als das ewige Leben rein zu genießen, welches der Herr giebt, daß er dagegen alles andere für Schaden achtet, so er nur 10 unserer] uuserer 8–10 Vgl. 9. Januar 1825 früh über Joh 6,61–71, in: KGA III/9 Röm 8,35.39
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Christum gewinnen kann, und daß ihm darüber alles andere gleichgültig ist, das eine wie das andere. Daß jenes nun keinem unter uns eine harte Rede sein möge, sondern die schöne Festfreude, zu welcher wir uns in dieser Zeit vorbereiten, und daß wir es immer mehr fühlen und inne werden mögen, wie darin allein das ewige Leben besteht, welches wir haben im Glauben an den Sohn Gottes, das gebe er und verherrliche sich dadurch immer mehr an uns allen als der eingeborne Sohn vom Vater voller Gnade und Wahrheit! Amen.
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4. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 11,4–6 Nachschrift; SAr 89, Bl. 68r–91r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Am vierten Adventsonntag 1824 Tex t. Matthäi XI, 4–6. Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Gehet hin und saget Johanni wieder, was ihr sehet und höret; die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussäzigen werden rein und die Tauben hören, die Todten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt, und selig ist, der sich nicht an mir ärgert.
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M. a. F. Diese Worte sprach der Erlöser zu denen, welche Johannes der Täufer zu ihm gesandt hatte aus dem Gefängniß, gewiß weniger um seinen als um ihren Glauben an den Erlöser der Welt zu befestigen. Er hatte sie gesandt mit der Frage: „bist du der da kom|men soll, oder sollen wir eines Andern warten?“ Es ist nun, m. g. F., diese Zeit, in welcher wir uns ganz besonders in den Stunden unserer gemeinsamen Andacht des Herrn erfreuen sollen eben als dessen, der da kommen sollte und gekommen ist, und so geziemt es uns wohl ganz besonders recht in uns aufzunehmen, wie der Erlöser diese Frage beantwortet. Diese Antwort nun haben wir eben gehört. Der Erlöser stellt sich in derselben dar in seinem ganzen Wirken auf Erden, wie es damals schon allen mit einander und auch denen, durch welche jene Frage an ihn gerichtet wurde, offenbar geworden war, in den wohlthätigen Wirkungen, wo|durch er so viele Leiden und Trübsale der ihn umgebenden Menschen linderte, in den noch wohlthätigeren gewiß, durch welche 1 Am vierten Adventssonntag 1824] Ergänzung von Schleiermachers Hand 1 Die Überschrift ersetzt das ursprüngliche Titelblatt, welches wohl durch die Lieferung der ehemals vorangehenden Predigt (vgl. oben 5. Dezember, Trauung) an die Setzerei verlorenging. 11–12 Mt 11,3; Lk 7,19–20
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er den Armen, den Bekümmerten und Verirrten die fröhliche Bothschaft von dem Reiche Gottes brachte. Beides, m. g. F., ist dasjenige, worauf so oft unser Glaube an den Erlöser ruht, in dieser seiner zwiefachen Wirksamkeit vergegenwärtigen wir ihn uns bei tausend Gelegenheiten, und erkennen eben darin wie er derjenige gewesen ist, der da kommen sollte. Um desto fremder muß es uns nun vorkommen, daß er dieser Darstellung seines erfreulichen und herrlichen Wirkens die lezten Worte hinzu|fügt, die wir gehört haben, die auf der einen Seite so bedenklich klingen wie eine Warnung, auf der andern Seite uns eben so sehr überraschen als begeistern, wenn er nämlich sagt: „Und selig ist, der sich nicht an mir ärgert.“ Diese lezten Worte aber, m. g. F., sind der rechte Kern von dieser Antwort des Erlösers, und sie sind es, die wir jezt näher mit einander betrachten wollen, eben inwiefern sie enthalten die Aufforderung des Herrn sich nicht an ihm zu ärgern. Für uns entstehen bei dieser Betrachtung zwei Fragen, die erste ist die: Wie meint denn das der Erlöser, daß man sich überhaupt an ihm ärgern könne und wie geschieht | dies? Die andere ist die: Wie kommt er aber auf der andern Seite dazu schon die, welche sich nur nicht an ihm ärgern würden selig zu preisen? Dies beides werden wir uns zu beantworten haben um den Sinn der Worte des Herrn zu verstehen und uns an denselben zu erbauen und zu stärken. I. Also zuerst wenn wir fragen: wie konnten sich denn die Menschen an dem Erlöser ärgern, indem er nichts anderes that als durch den Gebrauch der Kräfte, mit denen Gott ihn ausgerüstet hatte, die Leiden der Menschen lindern und das Evangelium von dem Reiche Gottes den Armen predigen? Es | kann aber solches Ärgerniß auf eine zweifache Weise geschehen, einmal nämlich, indem man sich ärgert daran, daß er nichts Anderes that, als was er that, und eben dies nicht auf eine andere Weise that, als wie er that; dann aber auch zweitens daran, daß er grade das einmal that, was er gethan hat und in welcher Wirksamkeit er sich auch hier den Fragenden darstellt. Das Erste, m. g. F., das trifft wohl freilich zunächst diejenigen, mit denen es der Erlöser damals zu thun hatte. Er sagt ihnen: „Saget dem Johannes, was ihr sehet und höret, wie ihr auch hier gefunden habt umgeben von Mühseligen und Bela|denen, denen ich die Last des Lebens erleichtern und den Jammer desselben von ihnen nehme, und wie ihr mich gefunden habt dem armen verirrten, zerstreuten und verlassenen Volk das Evangelium predigen.“ Freilich das wußten sie schon lange, daß viel Volks dem Herrn zuströmte, um die Wirkungen seiner wunderthätigen Kräfte theils selbst zu erfahren, theils anzuschauen und anzustaunen. Aber was war doch dies für eine Bewunderung, für eine Anhänglichkeit, für eine
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Dankbarkeit der großen Menge? wie wogte sie auf und ab und hin und her, bald an ihn glaubend, bald wieder nicht, beweglich wie er es in der Folge seiner | Rede von ihnen sagt, im Gegensaz gegen den Johannes, beweglich von jedem Winde, wie er bald von dieser, bald von jener Seite weht. Wie unsicher waren sie in ihrem Glauben an ihn, Einige ihn für Khristum haltend, Andere für einen Propheten, Andere wenn auch für etwas Ausgezeichnetes, doch vielleicht für etwas noch Geringeres. Und diese Menge, wie gefließentlich sie sich auch um den Herrn versammelte, wie oft sie sich auch zu ihm hinzudrängte, auch da wo er begehrte allein zu sein, war sie denn durch alle sine Wohlthaten zu irgend etwas unter sich verbunden, auf irgend etwas für ihn verpflichtet? Nein. Was | konnte also daraus werden und wie wenig konnten die, welche gehofft hatten Jesus von Nazareth sei der, der da kommen sollte, menschlicher Weise von einem solchen Anfang erwarten. Auf keine Weise hatte der Herr jemals sich zu mischen gesucht in die Höheren über die große Masse Erhabenen und Reichen, nicht gesucht seine Wirksamkeit denjenigen vor Augen zu stellen, deren Urtheil über ihn und deren Glaube an ihn von einer größern Wirkung hätte sein können, als wenn er darauf bedacht gewesen, daß aus den Wohlthaten, die er den Menschen erwies, noch irgend etwas Anderes hervorgehen sollte als eben, daß | sie dieselben empfangen hatten. Und was nun die Predigt des Evangeliums betrifft, ja so hatte Johannes auch gepredigt: „Thut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, derjenige ist schon unter euch der größer ist als ich, nur daß ihr ihn nicht kennet.“ Aber das Alles war ja nichts anderes gewesen, als ein Hinweisen auf etwas Künftiges. Wenn nun Khristus der Herr auch nichts anders that als predigen, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, konnte nicht das auch nur eine zweite Annäherung sein an etwas Künftiges, was da kommen sollte, wie die Predigt des Johannes es gewesen war? | War es nicht möglich, daß wenngleich er bisweilen auf sich selbst die Menschen hinwies als auf den der kommen sollte, aber wenn er bisweilen ihnen wieder verbot, sie sollten niemand sagen, daß er der Messias sei, war es nicht möglich, daß sie zweifelhaft wurden an seiner Sendung vom Vater? Wie ungewiß mußte man unter solchen Umständen bleiben, ob er der schon lange erwartete Retter sei, oder ob nicht, und wie mußte man sich ärgern daran, daß er dies zu keiner größern Gewißheit zu bringen suchte. Ja auf keine Weise schien die Predigt des Evangeliums, wie der Herr es an die Armen richtete, auf keine Weise schien [sie] | demjenigen zu entsprechen, was man erwartete von dem, der da kommen sollte. Denn was die Gegner des Herrn so oft dem 2–5 Vgl. Mt 11,7; Lk 7,24 5–7 Vgl. Mt 16,14–16; Mk 6,15–16; 8,28–29; Lk 9,19– 20 23 Mt 3,2 23–24 Vgl. Joh 1,26 26–27 Vgl. Mt 4,17
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Volke sagten, „glaubt wohl irgend einer der Obersten an ihn, sondern nur die große Menge des Volks, die nichts versteht“, das war allerdings nur allzu wahr. Denn wenn auch hier oder da einer von denen, die in den höheren Kreisen der Gesellschaft standen, einen Eindruk bekommen hatte von seiner höhern Würde, so hielten sie das geheim und mußten es vielleicht aus mancherlei Rüksichten nicht so wohl um ihret willen sondern um seinet willen geheim halten, und durften es nicht an den | Tag bringen. Aber es sollte doch aufgerichtet werden ein Reich Gottes, wie es verkündigt wurde, und dazu schien eben alles, was bisher geschehen war und was der Herr selbst gethan hatte gar keine sichere und feste Anstalt zu sein. Ja gesezt auch Beides zusammengenommen, die Wohlthaten des Herrn und seine Predigt[,] hätte einen wahren Glauben an ihn hervorgebracht in einem großen Theile des Volks, wie gefährlich ist es nicht immer wenn unter den Menschen ein solcher Zweispalt entsteht über dasjenige, was das Wichtigste ist in ihrem gemeinsamen Leben, wenn die große Menge des Volks das Eine glaubt, und da|gegen die Höheren, die Ausgezeichneten, die Mächtigen und Weisen das Andere, wenn jeder Theil Mißtrauen gegen den andern hat, und eben deswegen die Einen für wahr halten, was die Andern nicht glauben, die Einen aus Geringschäzung der großen Menge, wie wir das finden bei den Weisen und Angesehenen unter jenem Volke, die Andern aus Mißtrauen gegen jene weil sie glauben, sie beneideten ihnen das Heil, zu dessen Genuß sie kommen sollten. Und grade dieses Mißtrauen, diesen Zwiespalt, diese Trennung der Gemüther schien der Herr auszusäen durch die Art wie er handelte. | Da, m. g. F., war das Ärgerniß. Aber der Herr, wie finden wir wohl anderwärts, daß er hierüber denkt? Dankt er nicht seinem Vater im Himmel mehr als einmal, daß er es den Weisen dieser Welt verborgen habe und habe es den Unmündigen offenbart? Ja so that er es, so that er es in der festen Ueberzeugung, daß nichts einen wahren Fortschritt der Menschen zum Bessern begründen könne, bis es eingedrungen wäre in das Gemüth derer, die am meisten der Hülfe bedurften, und die für sich selbst betrachtet von allen Quellen menschlicher Verbesserung am weitesten entfernt waren, und daß nur von einer | bestimmten Bewegung, von einem reinen Streben aus, welches sich in der großen Menge der Menschen entwikelte, ein wahres und dauerndes Heil entstehen könne. Darum hielt er sich demüthig zu den Niedrigen, und suchte in der großen Menge durch Lehre und Wohlthat mit einander verbunden etwas Besseres zu bilden, und durch alles, was er an ihnen 30 Fortschritt] Forttschritt 1–2 Vgl. Joh 7,48–49
27–29 Vgl. Mt 11,25; Lk 10,21
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that, sie aus dem geistigen Tode zu rufen zu den ersten Anfängen eines höhern geistigen Lebens. Und noch in den lezten Augenbliken seiner öffentlichen Wirksamkeit, als er seinem Vater Rechenschaft ablegte von der Art, wie er seinen Beruf in der Welt | erfüllt habe, wußte er von keinem andern Reiche und wollte kein anderes wissen als das, welches sich in dem Innersten der menschlichen Gemüther ihm und seinem Vater aufschließen würde. Das ist die Rechenschaft, die er ablegt, daß er dieses geistige Leben in denen begründet hätte, die der Herr ihnen gegeben hatte, daß diese ermahnt wären zur lebendigen Gemeinschaft mit dem Vater durch den Sohn, der ihnen den Vater offenbart habe, und in dieser Stille, in dieser innerlichen Tiefe der Gemüther, in dem dort entzündeten und von da nach außen sich kundthuenden Leben, da suchte er die ersten Gründe seines Rei|ches, und freute sich dankbar gegen seinen Vater, daß sie gelegt seien. Und wir, m. g. F., die wir die Erfahrung davon haben, wir die wir es durch den Beistand und die Wirksamkeit des göttlichen Geistes in unserem Herzen und in unserem Leben erfahren, daß aus dem Glauben an ihn als den Sohn Gottes allein alle Früchte des Geistes hervorgehen, daß aus der Liebe zu ihm allein die einzig wahre und das wahre Wohlsein der Menschen im Auge habende Liebe zu unsern Brüdern entspringt, und also aus dem Glauben an ihn und aus der Annahme des Evangeliums, welches er gebracht und gepredigt hat, | eben das Reich erwachsen wird, welches ihm und seinem himmlischen Vater erbaut werden soll unter den Menschen, wir sind denn allerdings, insofern wir diesen Glauben lebendig in uns tragen, darüber hinaus, uns zu ärgern daran, daß er nichts anderes gethan als das Evangelium gepredigt, und daß er auf keine andere Weise ein Reich hat errichten wollen unter den Menschen und eben in dem Bewußtsein, daß das die treueste und innigste Anhänglichkeit ist, welche Menschen gegen einander tragen können, wenn sie wissen, daß sie Brüder geworden sind in Khristo, und daß diese nur sich weiter verbreiten konnte, wenn sie zuerst | unter denen begonnen, welche auch in anderer Hinsicht nur in einem geringen Grade und in einem kleinen Umfange die Kraft des geistigen Lebens besaßen, und nicht weit um sich her zu schauen brauchten, sondern in der Nähe solche finden konnte, die von derselben höhern Kraft ergriffen waren und sich desselben Heils mit ihnen erfreuten, wir können uns daran nicht ärgern daß sich seine Wohlthaten und seine Lehre zuerst gerichtet haben und zunächst an die Geringsten unter seinen Brüdern. Aber doch, m. g. F., 1 eines] deines 4 Welt] Wellt 33 Umfange] Umgange 2–14 Vgl. Joh 17,1–26
9 ermahnt] ermaht
18 hervorgehen] hervorgen
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finden wir nicht dasselbe Ärgerniß auch noch lange nach [den] Zeiten des Johannes und der Jünger, die er an den Erlöser | schikte? Ja wir dürfen es uns nicht verbergen, es hat sich in der Gemeine der Khristen selbst deutlich genug offenbart. Denn wenn man lange Zeit hindurch gestrebt hat zwischen das Volk der Gläubigen und zwischen den Erlöser Andere zu stellen, welche gleichsam die Mittler sein sollten zwischen ihm und ihnen, wenn man geglaubt hat, es müsse Andere geben, in welchen eben der Glaube an den Erlöser einen andern Grund habe und einen tiefern, als zu welchem die Unmündigen unter den Menschen hindurchdringen könnten: was ist das anders gewesen als ein Ärgerniß daran genommen, daß der Herr sich un|mittelbar zu den Unmündigen unter den Menschen und zu den Einfältigen und nicht zu den Weisen und Ersten gewendet hat. Wenn man gesucht hat auf die verkehrteste Weise auf die Gemeine des Herrn über zu tragen irgend einen Theil von der weltlichen Macht, die nothwendig ist um in den irdischen Angelenheiten der Menschen Ordnung, Uebereinstimmung und fortschreitende Entwikelung zu erhalten, und wenn man auf diese Weise die Gemeine des Herrn hat gestalten wollen nach dem Vorbilde der bürgerlichen Gesellschaft: was ist das anders gewesen als ein Ärger|niß daran, daß der Herr nichts anderes gethan als das Evangelium gepredigt, und dadurch seinen Zwek erreicht nur ein geistiges Reich, ein Reich von Anbetern im Geist und in der Wahrheit sich und seinem Vater zu gründen. Darum, m. g. F., wollen wir uns ganz freuen in dem Herrn als über den, der gekommen ist als ein solcher, der da kommen sollte, und der nicht nur kommen sollte, sondern auch nicht anders kommen konnte als er gekommen ist, so müssen wir uns auch von allem solchen Wahn losreißen. Jedem unmittelbar ist er gegeben zum Heil, jeder unmittelbar hat den vollesten Zutritt zu ihm, und in nichts anderem als in der Gleichheit des | Glaubens und der Liebe zu ihm und in der daraus hervorgehenden Verbindung und Unterstüzung der geistigen Kräfte, darin allein besteht die Aufrichtung des Reiches, welches er verkündigt und gegründet hat, und welches in allen seinen Theilen keine andere Gestalt haben soll, als die des Geistes und der Wahrheit, weit entfernt von jeder auf dem Irdischen und Vergänglichen ruhenden Beschaffenheit, wie sie eigenthümlich ist den bürgerlichen Reichen. Allein, m. g. F., es giebt noch eine andere Art, wie sich die Menschen ärgern können an ihm, nämlich wenn sie daran ein Ärgerniß nehmen, daß er auch grade das gethan hat, was er | hier von sich rühmt. Er sagt zu den Jüngern des Johannes: Saget ihm was ihr höret und sehet, die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Tauben hören und die Aussäzigen werden rein. Wie geschah das? Auf eine Weise ganz anders als menschliche Erfahrung, menschliche Kunst und Geschiklich-
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keit es bisweilen hervorgebracht, es geschah auf eine unbegreifliche und wunderbare Weise. Daran nun haben sich von jeher viele Menschen geärgert, daß der welcher doch sagt, daß er gekommen sei um seinem Vater Anbeter zu verschaffen im Geist und in der Wahrheit, daß derjenige, welcher sich selbst nannte den Weg und die Wahrheit und das Leben und das Licht der Welt, | daß der anstatt sich rein und unmittelbar an das Innerste der Menschen an ihr Herz und an ihren Verstand zu wenden, und rein auf dem Wege der Belehrung und der Ueberzeugung sie für das Gute zu gewinnen, welches er ihnen bringen wollte, sich in Verbindung gesezt hat mit einer so bedenklichen und gefährlichen Meinung des menschlichen Herzens, wie die zu dem Wunderbaren und Unbegreiflichen. Grade davon hinweg hätte er sie führen sollen, meinen sie, weil nur in der schlichten und einfältigen Wahrheit, die der Verstand und die Vernunft der Menschen begreifen kann, nur in dem lebendigen Auffassen und Annehmen der Geseze, | von denen ihr eigenes Gefühl Zeugniß giebt, daß sie aus dem Bessern der menschlichen Seele und nicht aus den dunklen Tiefen derselben entstanden sind, weil nur darin die Bedingung alles menschlichen Fortschreitens auf dem Wege der Erkenntniß liegt, darauf eben hätte er die führen sollen, und sich von allem entfernt halten, wodurch der Glaube den man ihm schenken sollte, eine Spur hätte bekommen können vom Aberglauben, und die Anhänglichkeit, die man ihm weihen sollte, eine Spur nicht von einer natürlichen Zuneigung, sondern von einer auf einem falschen verkehrten und gleichsam zauberischen Wege entstandenen Hingebung an | ihn. Ja, m. g. F., daran haben sich von jeher viele geärgert, und es ist eben dies, wir dürfen es nicht leugnen, eine reiche Quelle des Unglaubens gewesen der in den Tagen unserer Väter und in unseren eigenen so weit verbreitet gewesen ist in der äußern Gemeinschaft der Gläubigen. Aber eben so haben sie sich geärgert an dem Evangelio, welches er verkündigte, insofern er nämlich von sich selbst redete und die Menschen auf sich selbst hinwies, sie sollten ihm glauben, weil er auf eine ganz besondere Weise gekommen sei von dem Vater mit dem Auftrag, sie zur Gemeinschaft mit Gott zurükzuführen, sie sollten an | ihn glauben, weil er gesehen habe, was kein menschliches Auge gesehen, und gehört was kein menschliches Ohr gehört hat, weil er nicht aus den innersten Tiefen der menschlichen Seele und also auch mit menschlicher Gewißheit und Wahrheit, sondern gleichsam von oben herab Licht und Erkenntniß, Hoffnung und Gewißheit den Menschen bringen wolle. O meinen sie, auf einem solchen Wege da könne wohl eine lebendige und feurige Ueberzeugung entstehen, aber eine sichere, eine dauerhafte, eine solche welche ge3–4 Vgl. Joh 4,23–24
5–6 Vgl. Joh 8,12; 14,6
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wiß sei, daß sie nichts ergriffen habe als Wahres und Gutes, die könne auf diesem Wege nicht zu Stande kommen. Und | darum hat es denn unter denen, die sich auf diese Weise an dem Herrn ärgerten, auch niemals gefehlt an solchen, welche ihn gutmüthiger und wohlmeinender Weise zu vertheidigen und zu rechtfertigen suchten, indem sie meinten auf der einen Seite es sei ja nicht das Wunderbare und Unbegreifliche in jenen Thaten des Herrn, in jenen äußerlichen Hülfsleistungen gewesen, worauf er das Heil der Menschen habe gründen wollen, und welches man, wenn man auf den äußern Buchstaben sähe, glauben müsse, sondern das alles habe sich natürlich und mehr auf die gewöhnliche Weise zugetragen; und ebenso suchen | sie auf der andern Seite wohlmeinend gewiß die Aufmerksamkeit der Menschen abzuwenden von jenen Reden des Herrn, in welchen er handelt von sich selbst, von seinem Verhältniß zu seinem und unserem himmlischen Vater, als ob dieselben mehr das Werk seiner Jünger wären, die in eine verzeihliche aber doch der Wahrheit nicht gemäße Verehrung seiner Person versunken gewesen, als daß er selbst dergleichen von sich behauptet hätte, und sie suchen mehr das Menschliche in seinen Reden hervorzuheben, wo er den einzigen Weg der Tugend und Glükseligkeit empfiehlt, und das große Gesez der Menschenliebe aufstellt, das sei die Quelle des Heils | nicht jenes. Aber, m. g. F., mit dem Erlöser ist es nicht so, sondern weder will er jene Werke verleugnen, sondern weiset die Menschen eben darauf hin, so wohl hier als in andern seiner Worte, noch können wir glauben, daß in der That dasjenige, was er von sich selbst gesagt, nicht das gewesen sei, worauf er den Glauben der Menschen habe gründen wollen, und ihr wahres Heil schaffen. Denn eben das ist es, was er in seinem lezten Gebet gegen seinen himmlischen Vater dankbar rühmt, daß seine Jünger an den Sohn geglaubt, daß sie in dem Glauben an ihn das ewige Leben gefunden, und daß auf diese Weise der Vater ihnen offenbar | geworden sei und befreundet, und er empfiehlt sie betend seinem Vater, daß dieser Keim des Lebens nicht untergehen, sondern immer fester und tiefer wurzeln und auch über Andere sich verbreiten möge. Und können wir anders, m. g. F., als auch Zeugniß geben aus der Fülle unsers Glaubens, wie wahr das sei, und eben dies übereinstimmend finden mit dem tiefsten Gefühl unseres Herzens, daß wir nicht vermögen uns daran zu ärgern. Seine Wunder hat er gethan, weil er die Kraft dazu hatte aus keinem andern Grunde, als aus reiner Liebe gegen die, unter denen er lebte, und er hat die Kraft dazu gehabt und ist dazu | unterstüzt worden, weil die Fülle der 1 könne] können 26–33 Vgl. Joh 17,1–26
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Gottheit in ihm wohnte, nicht als ob diese Kraft die Kraft der Erlösung selbst gewesen wäre, sondern sie muß wohl im Zusammenhang gestanden haben mit jener Fülle der Gottheit und ein natürlicher Ausfluß derselben gewesen sein. Und das, m. g. F., das am wenigsten wollen wir uns nehmen lassen, daß uns der Herr an sich selbst und an seine Person gekettet hat, daß dasjenige, was er in die Menschen gelegt hat und gesäet, nicht auf eine andere Weise ihnen Heil geben konnte als dadurch, daß das Wort Fleisch ward und unter uns wohnte, daß nicht indem wir in den Tiefen unseres | eigenen Gemüths suchen, indem wir unsere eigene Vernunft zu Rathe ziehen, sondern nur indem wir in die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater hineinschauen wir den Weg zum Leben finden. Aber, m. g. F., je mehr wir nun davon durchdrungen sind und überzeugt, um desto mehr scheint es müssen wir uns wundern, daß der Herr sagt: „Selig ist, wer sich nicht ärgert an mir,“ und das ist es worüber wir noch einige Worte mit einander reden wollen. II. Nämlich es scheint uns noch eine große Kluft zu sein dazwischen, wenn der Mensch sich nicht an dem Herrn ärgert, | und wenn er an den Herrn glaubt; und er selbst anderwärts sagt ja, im Glauben an ihn sollten wir haben das ewige Leben, und im Glauben an ihn selig sein. Wie kann er hier sagen, „selig ist schon derjenige, der sich nicht an mir ärgert.“ Nun freilich das wohl versteht sich zunächst von selbst, es giebt ein sich nicht Ärgern an dem Herrn, welches nicht den geringsten Zusammenhang hat mit der Seligkeit in ihm und durch ihn. Denn wer nicht nach ihm fragt, wer ihn nicht zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit macht, wenn er unter den gewöhnlichen Erscheinungen der Geschichte verschwindet, der allerdings ärgert sich nicht an ihm, aber | dessen sich nicht ärgern kann die Seligkeit nicht in sich schließen. Aber darüber konnte auch von Johannes und seinen Schülern nicht die Rede sein; denn Johannes hatte von Anfang an zu seinen Schülern von ihm geredet, sie auf ihn hingewiesen, ihn als den Stärkeren bezeichnet, der schon unter dem Volke erschienen sei, der nach ihm kommen werde und mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen. Also soll es sein, der Mensch, dem der Erlöser nicht gleichgültig ist, der nach ihm fragt, der sobald er sich nicht an ihm ärgert, ist schon selig. So sagt der Herr, und wir können ja nicht anders als das eine und das andere seiner Worte | in Uebereinstimmung bringen, wenn doch Alles was er gesagt, wahr sein soll. Und so m. g. F., ist es auch, wenn wir es genau nehmen. Ja 8.10–11 Vgl. Joh 1,14 Lk 3,16; Joh 1,26–27
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freilich, wenn der Glaube an den Herrn das Werk des Menschen selbst wäre, dann wäre noch ein Unterschied zwischen dem der sich nicht an ihm ärgert, und dem der an ihn glaubt, und dann würden wir sagen müssen: die Seligkeit, welche er uns geben kann, wird uns nicht dann zu Theil, wenn wir uns nicht an ihm ärgern, sondern nur dann wenn wir an ihn glauben; und wenn uns einer gesagt hätte, daß er sich nicht an ihm ärgere weder daran, daß er jene außerordentlichen Thaten vollbracht, | noch daran, daß er auf sich selbst als auf den Sohn des lebendigen Gottes hingewiesen, sondern er sei sich seiner bewußt und erfreue sich seiner als des Erlösers der Menschen, dann würden wir ihn weiter bereden müssen und auf alle Weise zu wirken suchen auf seine Seele, daß er nun auch zu dem Zweiten überginge und an den glaubte, an welchem er sich nicht ärgert. Aber, m. g. F., so ist es nicht, und daß es nicht so ist will uns der Erlöser lehren, wenn wir das eine und das andere seiner Worte mit einander vergleichen. Wessen Werk ist der Glaube? Er ist dasjenige, m. g. F., wozu nicht hilft laufen und schnell sein, er ist dasjenige, was eben | deswegen nicht jedermanns Ding ist, weil keiner es sich selbst geben kann, er ist das innerste Werk des göttlichen Geistes in dem Menschen, aus welchem erst hernach alle andere Früchte des Geistes hervorgehen. Könnten wir in Wahrheit sagen, daß wir vermöchten uns den Glauben allein zu geben, so könnten wir uns auch alle andere Früchte des Geistes selbst verschaffen; denn der Glaube ist wie die Schrift sagt, die Quelle der Liebe, und die Liebe ist des Gesezes Erfüllung. Könnten wir nun den Glauben uns geben, so brächten wir damit zugleich alles andere selbst hervor, und bedürften des Erlösers zu nichts An|derem, als daß er der Gegenstand wäre des Glaubens, den wir aber selbst hervorbrächten. So ist es nicht, sondern wie der Apostel sagt, der Glaube kommt aus der Predigt, die Predigt ist das Werk, seitdem der Herr nicht mehr leiblicher Weise auf Erden lebt, das Werk des Geistes, und also [ist] auch der Glaube, der aus der Predigt kommt, das Werk des göttlichen Geistes. Als aber der Herr selbst lebte und das Evangelium den Armen verkündigte, da war die Predigt das Werk und der Ausfluß des Fleisch gewordenen Wortes, welches unter uns erschienen ist, und also auch der Glaube, der aus der Predigt kommt, | war sein Werk und keines andern. Nur so viel ist gewiß, so lange der Mensch sich noch an dem Erlöser ärgert, kann die Predigt des göttlichen Wortes noch keine Wurzel fassen in seinem Herzen, sondern er wird das Wort zurükstoßen, eben so wie der Saame nicht keimen kann auf einem harten und undurchdringlichen Boden. Wenn aber der Mensch sich nicht ärgert an dem Herrn, wenn ihm 17 Vgl. 2Thess 3,2 Joh 1,14
23–24 Vgl. Röm 13,10
28 Vgl. Röm 10,17
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davon die Möglichkeit erscheint, daß durch eine solche Predigt des Evangeliums ausgehend von einem solchen wie der Erlöser ist und von keinem andern, daß durch das Anschließen an einen solchen der göttliche Kräfte von oben emp|fangen hat, nur um sie mitzutheilen, das erstorbene Leben wieder entstehen kann, dann wirkt der Herr unmittelbar durch seine Person oder durch den Geist, der sich in seiner Predigt verkündigt, dann wirkt der Geist den Glauben. Und darum konnte er sagen: „selig ist der sich nicht an mir ärgert.“ Denn es kann nicht fehlen so wie nur alle Hindernisse, die dem Glauben an ihn widerstehen und die eben das Ärgerniß an ihm bewirken, aus dem Wege geräumt sind, so wie nur die Empfänglichkeit für die Wahrheit, welche er gebracht hat, in dem Menschen erwekt ist, so muß auch der Glaube an ihn entstehen. | Und wie könnten wir anders als nun auch auf den ersten Theil der Worte des Herrn zurükgehen. Denn wenn er gleich in demjenigen, was er den Jüngern des Johannes sagt, gehet und saget Johanni, was ihr sehet und höret, allerdings wohl zunächst die leiblichen Gebrechen meint, die er den Menschenkindern aufhob, so müssen wir doch gestehen, eben das ist die Taubheit des Herzens, eben das ist die Blindheit des Geistes, eben das ist die Unbeweglichkeit des Gemüths, wenn der Mensch in einem solchen Zustande ist, daß er nicht glauben kann an den, der da kommen sollte und gekommen ist. So lange wir | nicht in der innigsten geistigen Gemeinschaft, sondern nur in einer äußern mit ihm stehen, so sind wir eben so ungeschikt zum geistigen Leben wie der, welcher alle jene traurigen Gebrechen der leiblichen Natur in sich vereinigt, ungeschikt ist zur lebendigen Äußerung der leiblichen Kräfte, so sind wir eben deswegen noch im Tode und des Lebens aus Gott unfähig. Er aber, der durch die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnt, den Glauben entzündet an seine Herrlichkeit, als die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater und an die Fülle der Gnade und Wahrheit, die aus seinem Munde und durch alle Kräfte des Geistes her|vorgeht, er ist es dann, der den Tauben das Ohr öffnet und den Blinden das Auge des Geistes, damit sie das himmlische Licht des geistigen Lebens schauen können und die Worte des Heils vernehmen, er ist es dann, der die unbrauchbaren Glieder des Geistes, die im Dienste der Sünde gelähmt sind und erstorben wieder frisch macht und kräftig zu guten Werken, wozu der Mensch Gottes geschikt sein soll, kurz der uns erlöst von dem Leibe dieses Todes und uns aufnimmt in die Gemeinschaft seines göttlichen und wahren Lebens. Und als solcher werde er denn von uns allen freudig und dankbar 19 das ist die Blindheit] daß ist die Blindheit 27–28 Vgl. Kol 2,9
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aufgenommen, als solchem sei ihm unser | Glaube und unsere Liebe geweiht in einer durch nichts aufzulösenden Gemeinschaft darin, daß wir durch ihn Kinder Gottes sind und Miterben seiner Herrlichkeit. Amen.
[Liederblatt vom 19. Dezember 1824:] Am 4ten Advent-Sonntage 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Wie sollen wir dir Vater danken? / Nein deine Lieb’ ist viel zu groß, / Ist unaussprechlich, ohne Schranken, / Du giebst den Sohn aus deinem Schooß. / Du sendest uns den Eingebohrnen / Von deinem Thron zum Staub herab, / Zu uns Gefallnen, uns Verlornen / Und weihest ihn für uns dem Grab. // [2.] Frohlokket ihm! er steigt hernieder, / Ein Mensch, gleich uns ein Mensch zu sein, / Er nennet Sünder seine Brüder / Und macht sie von der Sünde rein. / Damit wir wieder Gott gefallen, / Vergießet er sein heilig Blut; / Er bringt Unsterblichkeit uns Allen, / Und Lieb’ ist alles was er thut. // [3.] O Liebe, Liebe, deines Gleichen / Ist in der ganzen Schöpfung nicht. / Kein Lobgesang kann sie erreichen, / Nicht, was der Engel Zunge spricht. / Des Himmels Herrlichkeit verlassen, / Um hier verfolgt, erwürgt zu sein; / Wer kann die Huld, die Demuth fassen? / So lieben kann der Sohn allein. // [4.] Nun wissen wir, Gott voll Erbarmen, / Daß ewig du die Liebe bist; / Zu deinen offnen Vaterarmen / Führt uns Erlöste Jesus Christ. / Nun fließt von dir nur Heil und Leben, / Nur Seligkeit kommt her von dir; / Der Gott, der seinen Sohn gegeben, / Giebt mit dem Sohn auch alles mir. // Nach dem Gebet. – Mel. Nun danket etc. [1.] Komm Tochter Zion! komm / Den König zu empfangen, / Der unser Heiland ist / Und aller Welt Verlangen. / Erhebe seinen Ruhm, / Stimm Hosiannah an, / Bring, was zu seinem Dienst / Die Liebe bringen kann. // [2.] Statt ihm den Weg zu streun / Mit grünem Laub der Palmen, / Beut unsre Andacht ihm / Des Dankes fromme Psalmen; / Sie spricht, gepriesen sei / Der Heiland Jesus Christ, / Der aus des Vaters Schooß / Auf Erden kommen ist. // [3.] Wir danken dir, o Herr, / Daß du zu uns gekommen, / Daß du hast Fleisch und Blut / Wie Kinder angenommen. / Sanftmüthig kommst du, arm, / Ein König ohne Pracht, / Und doch der ew’ge Sohn / Voll Herrlichkeit und Macht. // [4.] Erscheint des Himmels Herr / Als Mensch auf dieser Erden, / Muß dann nicht unser Herz / Voll Trost und Frieden werden? / Drum hast du deinen Glanz / In Niedrigkeit gehüllt, / Daß unsre Angst und Furcht / Auf ewig sei gestillt. // [5.] Erscheinen wirst du einst / Zum großen Weltgerichte; / O laß uns wandeln stets / In deiner Wahrheit Lichte, / Daß wir dann auch 2–3 Vgl. Röm 8,17
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getrost / Dir unserm Richter nahn, / Und unsern Gnadenlohn / Aus deiner Hand empfahn. // [6.] Das Hosianna wird / Alsdann von neuem klingen, / Dann werden wir vereint / Mit Engelschaaren singen: / Gelobt sei Gottes Sohn, / Der ewig war und ist, / Gelobet sei der Herr, / Der Heiland Jesus Christ. // Nach der Predigt. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Ach daß wir ganz in Liebe brennten / Zu dir dem Herrn in Knechtsgestalt! / Ach daß wir besser danken könnten; / Die wärmsten Herzen sind zu kalt. / O möcht uns doch dein Geist entzünden, / Gäbst du uns göttliches Gefühl! / Kein Mensch kann würdig sie empfinden, / Die Liebe ohne Maaß und Ziel. // [2.] O habe Dank für deine Liebe! / Ich lebe dir allein mein Heil. / Wer jetzt, auch jetzt noch Sünder bliebe, / Gericht und Elend wär sein Theil. / Denn auf den Wolken wirst du kommen, / Sohn Gottes und des Menschen Sohn, / Die Sünder richten, und die Frommen / Zu dir erhöhn, auf deinen Thron. //
Am 25. Dezember 1824 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:
1. Weihnachtstag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 1,78–79 Nachschrift; SAr 89, Bl. 91v–107r; Slg. Wwe. SM, Andrae Ungedruckte Predigten, ed. Bauer, 1909, S. 74–81 (Textzeugenparallele; Druckvorlage in: FHDS 34, 102/4, Bl. 1r– 5r) Nachschrift; FHDS 34, 101/4, Bl. 1r–5r; Andrae Nachschrift; SAr 54, Bl. 75r–84r; Andrae, in: Schirmer Nachschrift; SN 620/2, Bl. 7r–10v; Crayen Keine
Frühpredigt am ersten Weihnachtstage 1824.
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Lieder 30,1–5; 49,4–5 | Am ersten Weihnachtstage 1824
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Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
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Tex t. Lukas I, 78 und 79. Und es hat uns besucht der Aufgang aus der Höhe durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, auf daß er erscheine denen, die da sizen in Finsterniß und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.
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M. a. F. Das ist eine Stimme über unsern Erlöser, die noch von vor seiner Geburt her aus den Zeiten des alten Bundes zu uns herübertönt, von dem Vater dessen, der der Vorläufer unseres Herrn war[,] gesprochen, | aber ihn bezeichnend als den Herrn, vor welchem das Kindlein hergehen sollte um ihm den Weg zu bereiten, und wohl geeignet heute 3 Am ersten Weihnachtstage 1824] Ergänzung von Schleiermachers Hand Ergänzung aus SAr 54, Bl. 75r
14 als]
2 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, „Ewig sey Dir Lob gesungen“ (Melodie von „Sollt ich meinem Gott nicht singen“; „Seyd zufrieden, lieben Brüder“ (Melodie von „Ach! Was soll ich Sünder machen“)
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unsere festliche Betrachtung zu leiten. Denn so viel Säze wir mit einander gehört haben, so viel besondere Ursachen zu unserer heutigen festlichen Freude werden wir uns daraus entwikeln, und das wollen wir denn jezt näher mit einander erwägen. Der Herr, dessen Geburt wir feiern, hat uns besucht als der Aufgang aus der Höhe durch die Barmherzigkeit Gottes; der Herr, dessen Geburt wir feiern, ist erschienen allen denen, die da sizen in Finsterniß und Schatten des Todes; | endlich der Herr, dessen Geburt wir feiern, richtet unsere Füße auf den Weg des Friedens. I. Zuerst also, es hat uns besucht durch die Barmherzigkeit Gottes der Aufgang aus der Höhe. Der Aufgang aus der Höhe, m. a. F., das ist ein schöner Ausdruk um das Verhältniß unseres Herrn zu allen denen, die an ihn glauben und die vorbereitet dazu sind an ihn zu glauben, aus einander zu sezen. Er bezeichnet zunächst seinen himmlischen Ursprung, aber dann zugleich auch, daß er der Gegenstand der Sehnsucht und der Hoffnung gewesen ist. Denn von jeher, m. g. F., haben die Menschen in dem | Gefühl ihres unvollkommnen und hülflosen Zustandes gen Himmel gesehen nach der Höhe und gen Morgen geschaut. Zwar zum Theil schauten sie auch gen Abend hin, das heißt, sie richteten ihre Blike auf die Vergangenheit in einem mehr oder weniger bestimmten Gefühl davon, daß ihr dermaliger Zustand kein ursprünglicher sei, sondern weil er als ein Verderben zu betrachten ist, ihm ein besserer müsse vorangegangen sein. Nach dem richteten sie also die Augen ihres Geistes als nach einer niedergegangenen Sonne, und suchten sich Bilder zu machen so lieb sie konnten von der Vergangenheit, die sie nicht mehr besaßen. Aber | das, m. g. F., war es nicht, von woher das Heil kommen konnte, sondern dadurch mußten die Menschen nur immer mehr in die Finsterniß und in die Schatten des Todes versezt werden, wenn sie das Leben und das Licht in der Vergangenheit suchten, von woher nichts zu finden war. Es war also die Hoffnung, es war die freudige wenn gleich dunkle Zuversicht zu Gott, daß noch eine Hülfe wäre und eine Ruhe, was die Menschen trieb gen Morgen zu schauen nach der Zukunft hin. Aber nicht auf die Erde, denn so allgemein war das Verderben und das Gefühl des Verderbens, daß sie dessen wohl alle inne wurden, Irdisches könne ihnen | nicht helfen. Denn wenn sie auch das Beste, das Edelste und Vortrefflichste mit ihren Gedanken umfaßten, so war es immer nur dieselbe Gebrechlichkeit, immer nur dasselbe Unvermögen, immer nur dasselbe von der Sünde 19–20 gen Morgen geschaut. Zwar] Ergänzung aus FHDS 34, 101/4, Bl. 1v; SAr 54, Bl. 76r 39 Unvermögen, immer nur dasselbe] Ergänzung aus FHDS 34, 101/4, Bl. 2r; SAr 54, Bl. 76v
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Beflekte. Nur der Aufgang aus der Höhe war es, worauf sie ihre Hoffnungen und Wünsche richten konnten, von oben herab mußte kommen, aber dann hernach auch auf Erden scheinend und leuchtend einhergehen, was ihnen wahre Hülfe bereiten sollte. Und so sagt nun eben Zacharias im Vorgefühl dessen, dem sein Sohn sollte den Weg bereiten, daß durch die Barmherzigkeit Gottes uns besucht hat – so nahe, so gegenwärtig war ihm die | Zukunft – der Aufgang aus der Höhe. Besuchen aber und heimsuchen, das m. g. F., das kennen wir aus der Schrift als eine Bezeichnung eines nähern Verhältnisses, in welches sich Gott unter gewissen Umständen mit den Menschen sezt. Von Heimsuchungen der göttlichen Gnade und so auch von Heimsuchungen des göttlichen Zorns sind die Schriften des alten Bundes voll. Freudiger ist keine Stimme, die uns von dort ertönt, als wenn es einmal heißt, „der Herr hat sein Volk heimgesucht.“ Denn wenn nicht ausdrüklich göttlicher Zorn und göttliche Strafen hinzugefügt werden, so konnte man nach dem Sinne der damaligen Zeit es nicht anders | nehmen als auf die göttliche Gnade und Barmherzigkeit die Heimsuchung des Herrn zurükzuführen. Aber so, m. g. F., hat er niemals vorher das Geschlecht der Menschen heimgesucht, als da er uns sandte den Aufgang aus der Höhe. Denn dadurch ist nun alles, was jemals die menschliche Seele in Hoffnung sich angeeignet hat, ihr Eigenthum und gegenwärtig geworden für alle Zeiten. So sind wir nun | heimgesucht von Gott durch den Aufgang aus der Höhe, daß wir mit ihm Eins sein sollen wie der mit ihm Eins war, den er gesandt hat, daß mit dem eingebornen Sohn und durch ihn wir alle Kinder Gottes sein sollen, solche von denen sich seine Gnade und Treue, seine Wahrheit und Liebe nie wieder entfernen könnte. Und wenn wir denken, nachdem der Herr diesen irdischen Schauplaz wieder verlassen hat, so habe es doch noch eine andere Heimsuchung Gottes gegeben, nicht auch wieder eine sichtbare Erscheinung auf Erden, sondern eine unsichtbare Kraft, die der Herr eingesenkt habe in die menschlichen Seelen, nämlich die Heim|suchung durch seinen Geist, als er ihn ausgoß am Anbeginn der lezten Tage über allerlei Fleisch: aber das, m. g. F., das ist keine andere als dieselbe Heimsuchung, es ist die Vereinigung Gottes mit der menschlichen Seele, um derentwillen eben der Herr gekommen ist; und auf diese Weise hätte uns Gott nicht heimsuchen können, wenn nicht zuvor erschienen wäre der eingeborene Sohn des Vaters als der rechte und 15 Strafen] so FHDS 34, 101/4, Bl. 2r; SAr 54, Bl. 77r; Textzeuge: Ursache 18 zurükzuführen. Aber] so FHDS 34,101/4, Bl. 2r; SAr 54, Bl. 77r; Textzeuge: zurükzuführen. Denn wenn gleich nicht buchstäblich göttlicher Zorn und göttliche Strafe zu nehmen nach dem Sinne der damaligen Zeit, so konnte ja keiner anders, als auf die göttliche Gnade und Barmherzigkeit die Heimsuchungen des Herrn zurükführen. Aber
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einige Aufgang aus der Höhe. Denn was der Geist Gottes in seinen Gläubigen ist und wirkt, das ist alles das Seinige. Von dem Seinigen, so sagt der Herr selbst, werde er es nehmen, um es zu geben und zu verklären. Und | wie könnten wir anders, wenn wir gedenken und Gott dafür die Ehre geben, daß uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, als es auch zuschreiben, wie auch Zacharias es that, der herzlichen Barmherzigkeit Gottes. Zwar, m. g. F., in Gott sind nicht Eigenschaften, Tugenden, Trefflichkeiten etwas Einzelnes, Getheiltes und Geschiedenes, sondern sie sind alle Eins und dasselbige. In dem menschlichen Gebiet ist nichts Gutes und Herrliches mehr von einander zu unterscheiden als Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, in Gott aber, m. g. F., ist auch dies Beides Eins und dasselbige. Wir könnten es eben so gut sagen, es sei durch die Ge|rechtigkeit unseres Gottes geschehen, daß uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe. Denn, m. g. F., als der Herr sprach am Anbeginn der Dinge, indem er ansah Alles, was er gemacht hatte, daß Alles gut sei, wie können wir wohl sagen, er habe damals nicht gesehen die Finsterniß und die Schatten des Todes, in welche die Menschen versinken würden; und wenn er demohnerachtet gesagt hat, es sei Alles gut, wie sollte er nicht dabei auch gedacht haben der Erlösung, die er ihnen bereiten wollte eben durch die Heimsuchung des Aufgangs aus der Höhe? Und indem Beides die Sünde und die Erlösung in seinem ewigen Rathschluß ein|geschlossen gewesen ist, so konnte er ja nicht anders, als nach dem Ersten auch das Zweite geben, und es ist nichts Anderes, als daß er sein Wort gelöst hat, daß er seine Wahrheit und Gerechtigkeit bewiesen hat, als er das sündige Geschlecht der Menschen, welches doch geschaffen war nach seinem Ebenbilde, ein Bild das ihm gleich sein sollte, besucht hat durch den Aufgang aus der Höhe, und es hergestellt zu einer Seligkeit, die er vorher nicht geben konnte. Wir aber, m. g. F., die wir uns selbst kennen, und uns unserer bewußt sind als selbst thätige Wesen, zugleich aber es auch wohl wissen und fühlen, daß wir nicht vermögen das Ziel, welches den Menschen | von jeher vorgeschwebt hat, wenn sie nach dem Morgen und der Höhe hinsahen, durch unsere eigene Kraft zu erreichen, aber dennoch das Bewußtsein nicht loswerden können, daß das unser Ziel sei, und daß wir es erreichen sollen, wir können nicht anders als von dem Bewußtsein durchdrungen werden, daß wenn wir auch nicht vermögen zu erreichen, was das Unsrige ist, wir doch von Gott nichts mehr zu fordern hätten, nachdem er die menschliche Seele so ausgestattet als 12 Wir könnten] vgl. auch SAr 54, Bl. 78r; Textzeuge und FHDS 34, 101/4, Bl. 2v: Wir können, ja wir könnten 19 haben] haben, 2–4 Vgl. Joh 16,14–15
14–16 Vgl. Gen 1,31
25–27 Vgl. Gen 1,26
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ein Bild, welches ihm gleich sei, und weil wir wissen, daß wir kein Recht an ihm haben, sondern daß wir es auch gekonnt hätten durch den ursprünglichen Ge|brauch der Kräfte, die in uns gelegt sind, so können wir es nicht anders als der Barmherzigkeit Gottes zuschreiben, daß uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe. Und so ist es also menschlich und nach menschlicher Weise geredet, wenn auch hier nach dem in die Schrift aufgenommenen Worte jenes Mannes aus dem alten Bunde es der Barmherzigkeit Gottes vorzüglich zugeschrieben wird. Uns aber, m. g. F., verklärt sich das noch auf eine höhere Weise, wenn wir daran denken, wie das einer ist von den Schäzen der Weisheit, die wir ebenfalls nur dem Aufgang aus der Höhe verdanken, daß wir wissen Gott ist die Liebe. In der Barmherzigkeit, vermöge | welcher uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, spiegelt sich ja in unserer Stimmung und in unserem Gefühl die göttliche Liebe als das Wesen des Allmächtigen und Ewigen, und in ihr hat es seinen Grund, daß uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, das Werk seiner Liebe ist es, daß das Wort Fleisch ward und unter uns wohnte, das Werk seiner Liebe ist es, daß wir, die wir nicht ertragen konnten das Angesicht des Herrn zu schauen, die Herrlichkeit Gottes nun sehen in der Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater; und so hat uns besucht der Aufgang aus der Höhe, daß nun unsere Augen geöffnet | sind und gereinigt in dem Sohn den Vater zu sehen, und so in die lebendige Gemeinschaft des Geistes mit ihm zurükzukehren. II. Und was brauchen wir nun noch, m. g. F., erst die folgenden Worte unseres Textes uns ausführlich zu erklären, daß uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erschiene denen, die da sizen in Finsterniß und Schatten des Todes. Nur Eins, m. g. F., muß uns hier vorzüglich auffallen, wovon wir nicht wissen können mit wie klarem oder dunklem Bewußtsein der Vater des Johannes es dachte, als er diese Worte sprach. Denn gewiß zunächst dachte | er an sein Volk, als das von alten Zeiten von Gott erwählte, als dasjenige, dem göttliche Verheißungen gegeben waren, durch deren Besiz schon, wenn gleich die Erfüllung bald in die Nähe zu rüken, bald sich wieder weiter zu entfernen schien, aber durch deren Besiz es schon von allen andern Geschlechtern der Menschen unterschieden und über sie erhoben war, an sein Volk dachte er vorzüglich als an diejenigen, welche beraubt ihrer alten Herrlichkeit, herunter gekommen von einem Zustand der 7 jenes Mannes] jener Männer 11–12 1Joh 4,8.16
7 alten] Ergänzung aus FHDS 34, 101/4, Bl. 3r
16–20 Vgl. Joh 1,14
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Blüthe und Macht, nun mehr anzusehen waren als solche, die da säßen in Finsterniß und Schatten des | Todes. Für uns aber, m. g. F., ist dieser Unterschied verschwunden[;] in dem Heil, welches den Menschen geworden ist durch den Besuch des Aufgangs aus der Höhe, ist eine solche Seligkeit und Fülle, daß der Unterschied zwischen denen, welche sie genießen, und denen, welche noch fern von ihr sind, nun der größte ist, nein wir müssen wohl sagen der Einzige, den es unter den Menschen noch giebt, und gegen welche alle andere verschwinden und für nichts zu rechnen sind. Aber wahr ist es, wir alle das ganze Geschlecht der Menschen war es, welches saß in Finsterniß und Schatten des Todes. Was das | sagen will, m. g. F., das fühlen wir wohl. Das Licht ist das Klare, das Licht ist das Erfreuliche und Selige, in welchem wir Alles erkennen, und nur im Lichte vermögen wir zu leben und zu wirken, so lange es Tag ist. Finsterniß aber und Schatten des Todes, das ist das Unerfreuliche, das ist dasjenige, worin wir des Gebrauchs unserer Kräfte beraubt sind, wenn sie uns befällt, das ist der Gegensaz alles Lebens, aller Freude und aller Wirksamkeit. Und wohl mit Recht wird so und nicht anders der Zustand der Menschen beschrieben, wenn wir sie uns denken sollen un|abhängig von der Erscheinung des Aufgangs aus der Höhe gleich viel ob vorher oder nachher. Und wie sagt das der Herr selbst und bekräftigt es, wenn er spricht: „Ich bin ein Licht, in die Welt gekommen, auf daß wer an mich glaubt nicht in Finsterniß bleibe.“ Sagt er nicht da ganz deutlich, daß alle, die nicht an ihn glauben, in der Finsterniß sind. Die an ihn glauben aber, m. g. F., das sind die, welche ihn kennen und sich seiner erfreuen als des Aufgangs aus der Höhe, das sind diejenigen, welche die Worte vernehmen, die er von dem Vater empfangen und geredet hat, die Worte, welche Geist und Leben | sind, das sind diejenigen, denen der Wille Gottes, den er uns offenbart hat, in das Herz gedrungen ist, aber die es auch wissen, daß nur wenn sie zu dem kommen, der die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft, daß nur, wenn sie als die Reben an dem Weinstok bleiben, in welchem göttliche Kräfte die Fülle sind, sie vermögen den Willen des Vaters zu thun und die Worte des Lebens, die er geredet hat, festzuhalten in der Seele. Diese sind das Licht und das Leben. Das Licht, sagt Johannes am Anfang seines Evangeliums, schien immer in die Finsterniß, in die Finsterniß scheinend war | es dasjenige, was von innen her die Dunkelheit zu durchdringen suchte und die Augen der Menschen hinwandte nach dem Aufgang und nach der Höhe. Aber es vermochte nicht die Finsterniß zu durchdringen, und die Finsterniß vermochte nicht es aufzunehmen. Darum eben giebt es keine andere Beschrei21–22 Joh 12,46 27–28 Vgl. Joh 6,63 29–31 Vgl. Mt 11,28 Joh 15,4–5 34–36 Vgl. Joh 1,5 38–40 Vgl. Joh 1,10–11
31–34 Vgl.
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bung für den Zustand der Menschen als Finsterniß und Schatten des Todes. Der Herr aber ist gekommen und erschienen ein Licht allen denen, die in Finsterniß und Schatten des Todes sizen. Wie erhellt er, wie macht er wieder klar und freundlich das irdische Leben, wie erlöst er uns aus der Finsterniß, in welcher wir unser Auge verdunkelt finden und | unsere Kraft gelähmt. Aber das laßt uns nun nie vergessen, daß ohne ihn wir noch in Finsterniß und Schatten des Todes sizen würden, daß die Kräfte, welche Gott in die menschliche Seele gelegt hat, nicht entbunden werden konnten und frei gemacht als durch die Hülfe des Aufgangs aus der Höhe, das laßt uns nicht vergessen, damit wir Gott und der herzlichen Barmherzigkeit Gottes ganz die Ehre geben, die ihm gebührt dafür, daß er uns gesandt hat den, der uns besucht als der Aufgang aus der Höhe. Aber nun, m. g. F., nun [er] erschienen ist, o nun sollen auch überall die Finsterniß und die Schatten des | Todes verschwinden, und immer freundlicher, heller und seliger das Leben der Menschen werden, und der Aufgang aus der Höhe immer weiter scheinen und sein Licht über die ganze Erde und über alle Gegenden des menschlichen Geschlechts verbreiten. III. Endlich er ist uns erschienen, auf daß er richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Diese Gabe des Friedens, m. g. F. die rühmt der Herr selbst uns ganz besonders, und stellt sie dar als den ganzen Inhalt dessen, was er den Menschen geben kann. Nicht gebe ich euch wie die Welt giebt, meinen Frieden, so sagt er, mei|nen Frieden gebe ich euch, meinen Frieden hinterlasse ich euch. So bestätigt er selbst diese Worte, daß er gekommen sei unsere Füße zu richten auf den Weg des Friedens. Aber, m. g. F., wie wird uns hier dieser Friede dargestellt? Als ein Weg, den wir zu wandeln haben, das heißt als ein Gut, welches nur in der Thätigkeit und in dem richtigen Gebrauch unserer Kräfte erreicht werden kann, als ein Gut, welches nicht eben beseßen wird wie etwas, was von außen kommt, sondern nach welchem der Mensch immer ringen und trachten und durch Ringen und Trachten es sich gewinnen muß; denn das | heißt er richtet unsere Füße auf den Weg des Friedens. Wenn der Herr nun selbst sagt: selig sind die Friedfertigen, die gern ihre Füße auf den Weg des Friedens begeben und nirgend anders gern wandeln als auf diesem, selig sind sie, denn sie werden Gottes Kinder heißen: so wissen wir, m. g. F., die Kindschaft Gottes ist freilich von der 13 er] vgl. auch SAr 54, Bl. 82r Bl. 82v 23–25 Vgl. Joh 14,27
30 wird] Ergänzung aus FHDS 34, 101/4, Bl. 4v; SAr 54,
34–37 Vgl. Mt 5,9
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einen Seite angesehen nicht etwas, was wir uns selbst erwerben und verschaffen können, indem wir diesen oder jenen Weg wandeln, nein nur durch ihn den eingebornen Sohn heißen und sind wir Kinder Gottes, das ist die Macht, welche er allen denen gegeben hat, die an ihn glauben, und | im Glauben an ihn ist diese Kindschaft Gottes, und sie ist eine Gabe dessen, der im Glauben an ihn und durch ihn uns zum Leben gerufen hat, und den Glauben abhängig gemacht von der Predigt des Evangeliums. Aber der Geist Gottes ist es, der in uns ruft lieber Vater, der Geist Gottes ist es, in welchem wir die Kindschaft haben, und den wir empfangen haben als den Geist der Kindschaft. Der aber ist ja eben die göttliche Kraft, welche alle durchdringt und belebt, die an den Herrn glauben, und alle Wirksamkeit des göttlichen Geistes in unserer Seele ist ja nichts anders als unser Wandel und das Richten unserer Füße | auf den Weg des Friedens. So wir wandeln in der Welt durch die Kraft des Geistes als Kinder Gottes, so ist auch gewiß der Friede des Herrn in uns, denn wir sind solche in ihm und durch ihn und insofern wir einig sind im Geiste – wo aber die Einigkeit des Geistes ist, da ist Friede – wir sind solche, weil Gott in ihm wohnte und durch ihn versöhnt hat die Welt mit sich selbst, und weil wie wir Eins sind mit ihm, wir auch Eins sind mit dem Vater, und der Vater kommt um Wohnung zu machen in unserem Herzen. Wo aber das Wohnen Gottes mit dem Sohn in unserem Herzen, wo das Eins sein mit dem Va|ter durch den Sohn ist, da ist der Friede Gottes. Der Friede Gottes aber ist es, der höher ist als alle Vernunft, was auch nicht begriffen werden kann und nicht hervorgebracht, sondern allein die Gabe ist des Geistes, den der Sohn gesandt hat, des Geistes der Wahrheit und des Geistes der Kindschaft. Wohlan, m. g. F., so laßt uns der himmlischen Güter uns freuen, die uns geworden sind dadurch, daß uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe. Dem sei die Ehre, der so das Geschlecht der Menschen heimsucht. Aber wenn er es ist, der unsere Füße richtet auf den Weg des Friedens, o so sei denn auch unter allen denen, | die seinen Weg wandeln, und denen er eben deswegen Wahrheit und Leben geworden ist, weil er ihnen den Weg gezeigt hat und ihnen auch die Kraft giebt auf demselben zu wandeln, so sei nun auch, m. g. F., Friede auf Erden, und es walte überall der göttliche Friede, den der Herr gebracht hat, auf daß an die Stelle der Finsterniß und der Schatten des Todes trete ein ewiges und freudiges Wohlgefallen unter denen, die da 36 der Schatten] vgl. auch SAr 54, Bl. 84v; Textzeuge und FHDS 34, 101/4, Bl. 5r: des Schatten 2–5 Vgl. Joh 1,12 23–24 Vgl. Phil 4,7
8–10 Vgl. Röm 8,14–16; Gal 4,6–7
20–21 Vgl. Joh 14,23
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kennen den Aufgang aus der Höhe, die das Licht aufgenommen haben, welches in die Finsterniß schien, und sein Eigenthum geworden sind, und als solche, die Kraft bekommen haben im Glauben an ihn Kinder Gottes zu sein. Amen.
2 sein] vgl. auch SAr 54, Bl. 84r und FHDS 34, 101/4, Bl. 5r (sekundäre Korrektur); Textzeuge: ein 1–4 Vgl. Joh 1,5.12
Am 26. Dezember 1824 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:
Besonderheiten:
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2. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 10,34 Nachschrift; SAr 109, Bl. 25r–27v; Sobbe (vermutl. Andrae in Sobbe) Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Fünfte Sammlung, 1826, S. 111–137 (vgl. KGA III/2); die Edition geht auf eine von Schleiermacher sehr stark bearbeitete Textzeugenparallele zurück. Wiederabdrucke: SW II/2, 1834; 21843, S. 69–84 – Predigten. Fünfte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 89–108 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 52–65 – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 49–65 Nachschrift; SAr 89, Bl. 107v; Slg. Wwe. SM, Andrae (nur Titelblatt vorhanden) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)
Predigt am zweiten Weihnachtstage 1824 Tex t. Matthäi X, 34 Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei Frieden zu senden auf Erden. Ich bin nicht gekommen Frieden zu senden, sondern das Schwert. M. a. F. Wie tönen diese Worte des Herrn in den englischen Gruß hinein, mit dem wir vorher begonnen haben, und die uns die schöne Freude dieses Festes aufheben. Dort wird vom Himmel herabgesagt, Friede sei nun auf Erden; der Herr selbst aber sagt „Wähnet nicht daß ich gekommen sei Frieden zu senden, sondern das Schwert.“ O wenn es wahr ist was er sagt, sollten wir uns die traurige Wahrheit nicht am meisten zu verbergen suchen in diesen Tagen der Freude über seine Erscheinung? Aber nein, es ist schon von langer Zeit her die Gewohnheit in der alten khristlichen Kirche gewesen, an diesem zweiten Tage des Weihnachtsfestes zu feiern das Gedächtniß jenes ersten Martyrers, der für den Namen des Herrn starb. Das war es ja, wo dieses Wort des Herrn anfing 6–9 Vgl. Lk 2,14
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in Erfüllung zu gehen. Und warum denn m. g. F. hat man dies beides so zusammengerückt? O wir sollten es wissen, nicht nur was es ihn sondern auch was es uns, was es das ganze Geschlecht der Menschen vom Anfang seiner Erscheinung an gekostet hat, daß wir erlößt sind. Alles Leiden was die Menschen erlitten haben um seines Namens willen, alles Elend was über seine Gläubigen gekommen ist, aller Unfriede der auf Erden ist ausgesäet worden im Streit über seinen Namen, das alles sollte uns daran erinnern, daß er erschienen ist, daran sollten wir ihn erkennen den Fürsten des Friedens, der auch unsre Füße auf den Weg des Friedens leitet. Wohlan so wollen wir uns denn nicht scheuen das ernste Wort des Herrn und unsre weihnachtliche Freude zu verknüpfen, wir wollen vielmehr sehen, wie neben dies, daß der Herr gekommen ist das Schwert zu bringen, die Freude an seiner Erscheinung erhöhend und reinigend tritt. Worauf es aber dabei ankommt, das ist dies. Einmal daß der Herr gekommen ist das Schwert zu bringen auf Erden, das leistet uns die sicherste Gewähr dafür, daß er wahrhaft unser Bruder geworden und sein ganzes Leben und Wirken ein wahrhaft menschliches gewesen ist. Aber eben so zweitens, daß er gekommen ist das Schwert zu bringen auf Erden: das leistet uns die sicherste Gewähr dafür, daß in der That die Fülle der Gottheit in ihm gewohnt hat. Und endlich, daß er gekommen ist das Schwert zu bringen, das giebt uns die tröstliche Versicherung über die unerschütterliche Festigkeit des Bandes zwischen ihm und uns. Das laßt uns nun auch [mit] einander näher erwägen. I. Ich sage zuerst m. g. F., das leistet uns die sicherste Gewähr dafür, daß das Leben und Wirken des Herrn von Anbeginn ein wahrhaft menschliches gewesen ist, daß er aber nicht umhin konnte das Schwert zu bringen auf Erden. Wie ist der Mensch m. g. F.? Was ihm mitgegeben ist als das unauslöschliche Zeichen seiner Gebrechlichkeit, das ist der Irrthum, dem er, wenn er es auch noch so wohl meint, doch leider immer unterworfen bleibt. Daher kann der Mensch sich gegen alles und über alles verblenden, das Wohlthätige kann ihm gefährlich, das Heilbringende verderblich, das Göttliche selbst verkehrt und dunkel erscheinen. Sollte nun das Wirken des Herrn selbst ein wahrhaft menschliches | sein, o so mußte es auch diesem Gesetz alles menschlichen Wirkens unterworfen sein. Als die bösen Geister vor ihm wichen; es konnte 10 uns] us
11 und] in
9–10 Vgl. Lk 1,79 Lk 11,14–15
20 Vgl. Kol 2,9
37–3 Vgl. Mt 9,33–34; 12,24; Mk 3,22;
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nicht anders sein, es mußte welche geben, die so PverblendetS waren über ihn, daß sie wähnten, er treibe sie nur aus durch den Obersten der bösen Geister. Als das Gerücht anfing sich zu verbreiten und die Menschen es leise und dumpf einander in das Ohr raunten, ob nicht der Jesus von Nazareth derjenige sei, der da kommen sollte, der Helfer, der Messias; es konnte nicht anders sein, selbst unter dem Volke, dem die göttlichen Verheißungen mitgegeben waren, seit einer großen Reihe von Geschlechtern, mußte es welche geben, die so verblendet waren über ihn, daß selbst die Zeichen und Andeutungen der Schrift sie nur in ihrer Verblendung bestätigten. So kam es denn, daß die Einen sagten, wenn Christus kommen wird, so wird niemand wissen, von wannen er ist, von diesem aber wissen wir von wannen er ist; so mußte es welche geben, die da sagten, ist er nicht aus Nazareth, und habt ihr je gehört, daß ein Prophet aufgestanden ist aus Galiläa? das m. g. F. das mußte sein Loos sein, sobald sein Wirken ein ächt und rein menschliches sein sollte; und aber aus dieser Verblendung der Menschen, die das Heil auf einem andern Wege finden wollten als da wo es allein sicher und bleibend zu finden ist, aus der ist es zunächst entstanden, daß er das Schwert brachte auf Erden, daß er eben so Eltern gegen Kinder, wie Kinder gegen Eltern, und Geschwister und Freunde gegen einander bewaffnete um seinetwillen. Wie ist der Mensch m. g. F.? Gleich sind wir einander, das wissen wir, sobald von dem innersten Wesen der menschlichen Natur die Rede ist. Aber alles was uns begegnet, das wirkt auf eine ungleiche Weise, je nachdem der eine so und der andere etwas anders im Allgemeinen gestellt oder in einzelnen Augenblicken gestimmt ist. So konnte es denn auch nicht anders sein, als daß der Herr, so lange er auf Erden lebte und seitdem er nicht mehr da ist, das Wort der Predigt, welches er in seiner Kirche gestiftet hat, ungleich auf die Menschen wirkt. Einigen wenn ihnen verkündigt ward, daß der Jesus, den sie überantwortet hätten und getödtet, von Gott sei zu einem Herrn und Christ gemacht worden, und daß nur in seinem Namen Heil zu finden sei, so ging es ihnen durchs Herz und sie fragten, was sollen wir thun daß wir selig werden? Aber wie viele andere blieben gleichgültig dabei und gingen von dannen wie sie gekommen waren! Und wenn die Menschen so ungleich angeregt sind, ach, ist es nicht auch etwas ganz Menschliches, daß derjenige welcher gleichgültig geblieben ist, den andern, der bewegt ist in seinem Gemüth und alles mit derselben Bewegung fortrei1 verblendet] Manuskript beschädigt 10–12 Vgl. Joh 7,27 Apg 2,23.36–37
13 Vgl. Joh 1,46
13–14 Vgl. Joh 7,52
29–34 Vgl.
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ßen will, für den Feind seiner Ruhe hält? Und so ist es eben deswegen gegangen von Anbeginn her, seitdem das Wort der Versöhnung ist verkündigt worden hat es Menschen gegeben, die sich nicht wollten aufstören lassen aus der Ruhe, in welcher sie freilich nur in Finsterniß und Schatten des Todes saßen, in der sie aber doch mußten sich wohl befinden. Daher konnte es nicht anders kommen, als daß wer eine solche Bewegung veranlaßte wie der Erlöser, auch mußte das Schwerdt bringen auf Erden. Denn m. g. F. entzweien sich die Menschen einmal, aber sie mäßigen sich denn in der Entzweiung, so daß es zu solchen heftigen Auftritten und Befehdungen, die durch das Wort „Schwert“ bezeichnet werden, nicht kommt: was ist der Grund davon anders, als nur daß sie den Gegenstand nicht für wichtig halten? Aber so gewiß das Leben des Herrn ein wahrhaft menschliches war, so gehörte doch auch das hinein, daß die Bewegung, die er begann auf Erden, | je länger je mehr allen mußte größer erscheinen als irgend eine, zu der sie waren veranlaßt worden. Daher auch die Entzweiung, welche seine Erscheinung hervorbrachte, eben so weit gereicht hat als das Schwert, welches er gekommen war zu bringen auf Erden. Also m. g. F. wenn es anders gewesen wäre als so, wie hätte es dann sein müssen? Denn wäre das Wort nicht wahr gewesen was der Apostel sagt „Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn vom Weibe geboren und unter das Gesetz gethan“. O wohl uns, daß die Zeit erfüllet war zu der Zeit, als der Herr noch nicht anders konnte denn das verzehrende Schwert mit sich bringen. Denn hätten die Menschen soweit kommen sollen, daß ohne Schwert der Friede gekommen wäre, so wie er erschienen ist mit dem Schwert: so wäre auch seine Erscheinung nicht mehr nöthig gewesen, und dann eben würden wir immer noch sizzen in Finsterniß und Schatten des Todes. Sollte er aber vom Weibe geboren werden und unter das Gesetz gethan, so heißt das nichts anderes als daß er auch allen Gesetzen menschlicher Wirksamkeit mit der seinigen mußte unterworfen sein. Hätte aber das nicht sein sollen, ach dann hätte er nicht sein müssen unser Bruder, nicht Fleisch und Blut haben wie andre Menschenkinder, und dann hätte auch der Aufgang aus der Höhe uns nicht besucht und heimgesucht. Denn dieses schöne und zarte Wort, was bedeutet es geringeres denn dies, daß der Aufgang aus der Höhe ganz in die Ordnung unsres Lebens hineingetreten ist, wo alles das, was wir aus einander gesetzt haben, das Natürliche ist, und erst aufhören kann etwas Natürliches zu sein, wenn sein Werk vollendet ist am Ende der Tage. Darum m. g. F. wollen wir uns dessen freuen, daß er 32 müssen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 3, 21798, Sp. 332 20–22.28–29 Gal 4,4
33–34 Vgl. Lk 1,78
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gekommen ist vom Weibe geboren und unter das Gesez gethan, daß sein erlösendes Wirken nicht anders konnte als das Schwert bringen auf Erden.
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II. Aber zweitens eben so ist uns auch dies eine sichere Gewährleistung dafür, daß in ihm die Fülle der Gottheit gewohnt hat. Denn m. g. F. wie wir es aus den Worten unsers Textes und aus so vielen andern Äußerungen des Herrn wissen, ihm ist das nicht verborgen gewesen, daß er das Schwert brächte auf Erden; und doch ist er gekommen, und doch hat er nicht unterlassen können auf diesem Wege zu kommen, weil nicht anders das menschliche Geschlecht zu erlösen war. M. g. F. wenn wir denken an jene Erzählung, die der Herr seinen Jüngern gemacht hat davon, daß er ist versucht worden in der Wüste: was sind doch jene Versuchungen, die uns dort erzählt werden gegen die, wenn der Versucher zu ihm getreten wäre, und statt ihm auf der Höhe des Berges zu zeigen die Reiche der Welt, hätte er ihm gezeigt die Ströme von Blut, welche fließen würden auf Erden um seines Namens willen; hätte ihm gezeigt nicht sein eigenes Kreuz etwa, aber wie sich dies ins Unendliche vervielfältigen würde für seine Gläubigen, hätte ihm gezeigt das verzehrende Schwert Tausende nach Tausenden hinwegraffen, hätte ihm gezeigt die Bande der Knechtschaft, in welchen seine Zeugen würden leiden müssen unter Schmach und Hohn, unter Schmerzen und Entbehrungen, hätte ihm gezeigt diese ganze Knechtschaft und Verfolgung viel ärger als die, aus welcher Moses mit starker Hand das Volk des alten Bundes befreit hat; und hätte ihm dann gesagt, in diese kommst du um Menschen hineinzuführen, diese unübersehbare Masse kommst du nun noch hinzuzubringen zu den Leiden, welche ohnedies die Menschen zu erdulden haben, willst du nicht wieder zurückkehren zu der Höhe, von wo du gekommen bist? willst du nicht lieber das menschliche Geschlecht sich selbst überlassen, ob es nicht vielleicht selbst den Ausgang finden möchte aus der Finsterniß, in welcher es sitzt? Aber | wie hätte der Herr diese Versuchung bestanden? Wir vernehmen es aus seinen eigenen Worten, mit welcher unerschütterlichen Gelassenheit, mit welcher heldenmüthigen Ruhe er das sagt, daß er gekommen sei das Schwert zu bringen, wie er die heiligsten menschlichen Verhältnisse in den folgenden Worten uns darstellt, daß sie würden zerstört werden um seines Namens willen. O m. g. F. das kann nicht sein ohne eine göttliche Kraft. Wenn ein Mensch auch nur den kleinsten Theil solcher Verwirrungen und Zerstörungen mit dem Auge seines Geistes voraussehen könnte als den Erfolg seines Werks, und 6 Vgl. Kol 2,9
11–13 Vgl. Mt 4,1–11; Lk 4,1–13
23–25 Vgl. Ex 1,8–22
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dieses Werk wäre ein eigennütziges, ein selbstsüchtiges, seine persönliche Ruhe, seine persönliche Herrschaft, seinen eigenen Ruhm bezwekkend: würden wir nicht sagen, das sei übermenschlich, der müsse von einer dunkeln Gewalt der Hölle getrieben sein, der das vermöchte mit kaltem Blut, mit ungestörtem Bewußtsein. Aber eben so wenn es nichts anderes ist als das Werk fremden Heils; wenn der, welcher das Schwert bringt, sich selbst hingiebt in die Gewalt des Schwertes und nichts anderes will als das höhere Leben, welches er in sich selbst trägt, unter den Menschen hervorbringen: doch würde er das Bild nicht ertragen können von dem Elend, welches ihn begleitete, wenn nicht eine göttliche Kraft in ihm wohnte. Ja das mußte der Herr gewiß wissen, daß er würde im Stande sein nach allen Verwirrungen des Schwertes und unter denselben doch die Füße der Menschenkinder zu leiten auf den Weg des Friedens, daß nach allen diesen Zerstörungen und unter denselben er sie doch würde herausreißen können aus der Finsterniß und versetzen in das schöne Reich des Lichtes, daß alle diese feindseligen Bewegungen nichts anderes wären als die lezten Krämpfe des alten Todes, von welchem er die Menschen erlösen würde, die lezten Geburtsschmerzen des neuen Lebens, zu welchem er sie erheben würde. Und eben dieses Bewußtsein und das Bewußtsein daß die Fülle der Gottheit in ihm wohnte, das ist ganz Eins und dasselbige; und wir können keinen Erlöser haben, der nicht das Schwert gebracht hätte, er müßte sein der eingeborne Sohn vom Vater, in dem allen voller Gnade und Wahrheit. Aber m. g. F. noch sind wir nicht am Ende und haben das Wort nicht ganz durchschaut „ich bin gekommen das Schwert zu bringen“[.] Denn es ist nicht nur die Rede von dem was die Zeugen des Herrn gelitten haben von den Feinden seines Wortes; o in diesen Tagen, wo wir uns seiner Erscheinung auf Erden erfreuen, und also auch seines ganzen Werkes uns erfreuen wollen, dürfen wir auch das Auge nicht verschließen gegen die innere Geschichte der christlichen Kirche. Ach da wüthete auch das Schwert, da sehen wir auch Väter und Kinder, Brüder und Schwestern gegen einander erzürnt im Streite darüber, was denn nun der wahre Sinn des Heils in Christo wäre, welches die nothwendigen Mittel, welches die wesentlichen Bedingungen davon wären. Hat er auch das gewußt und vorausgesehen? Wir dürfen es wohl nicht bezweifeln, wenn gleich seine Milde es nicht so deutlich ausgesprochen hat als jenes; aber doch wissen wir es gewiß, daß er es gewußt hat. Denn m. g. F. wie inbrünstig erfleht er es nicht in seinem lezten Gebet von seinem Vater, daß die welche er ihm während seines Lebens gegeben hatte, und die welche durch ihr Wort an ihn glauben würden, 20–21 Vgl. Kol 2,9
22–24 Vgl. Joh 1,14
39–2 Vgl. Joh 17,20–21
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ach daß sie möchten Eins sein unter einander, wie er und der Vater Eins sind. Dieses inbrünstige Flehen, das war zugleich die sichere Ahndung seines göttlichen Gemüths, daß es nicht immer so sein würde. Und m. g. F. so wie sie nicht ganz Eins sind, so kehrt auch jenes alles zurück, was wir von der Ungleichheit, von der Verblendung gesehen haben. Auch das also hat er gewußt. Und was wohl mehr ist dazu geeignet den reinen Eindruck den sein Werk auf die Menschen machen mußte, zu schwächen und ein Hinderniß des Glaubens zu werden bei denen die noch nicht glaubten, als daß eben da wo die Liebe das Gesetz sein sollte welches alle regiert, daß auch da die Zwietracht und die Feindschaft wohnt und das Schwert wüthet. Und doch ist es so. Ja | m. g. F. als der Herr am Kreuze betete für seine Verfolger, und sie ihm darstellte als solche, die nicht wüßten was sie thun, ach da hatte er auch im Sinne die große Schaar die seit seiner Erscheinung und Vollendung über sein Wort in tödtlicher Feindschaft zerfallenen Seelen, und er kannte die Verirrungen der Liebe und das Gleiten der Füße, die doch auf dem Wege des Friedens sind. Aber das hinderte ihn nicht und hielt seine Schritte nicht auf. Und dies gewiß ist uns die sicherste Gewährleistung für die göttliche Reinheit des Bildes von der Seligkeit der Menschen durch ihn, welches seine Seele erfüllte, daß er auch darüber hinweg sehen konnte und wissen, auch so indem sie unter einander zerfallen wären, wären sie doch schon gerettet aus der Finsterniß, weil doch alle Wolken dem Lichte nachziehen, wären doch schon ihre Füße auf dem Wege des Friedens, weil sie suchten Eins zu werden unter Einem und demselben Hirten. Ja gewiß mit einer solchen Voraussetzung auf diesem Wege das Werk der Erlösung zu beginnen und auszuführen, dazu gehörte ein göttliches Bewußtsein; nur der, der von oben kam, der sich einer Herrschaft bewußt war, durch welche das alles wieder würde geebnet und in Friede und Heil verwandelt werden, nur der konnte so erscheinen und handeln. III. Endlich aber m. g. F. ist uns auch eben dies der erfreuliche Maaßstab für die unerschütterliche Festigkeit des Vereins zwischen dem Erlöser und den Seinen. Wir wissen es, wie wenig sein Werk gediehen war, als er schon den Schauplatz der Erde verlassen mußte; und dennoch hat er das Werk, welches ihm sein Vater aufgetragen hatte, begonnen, ohnerachtet er es wußte, mit was für schwachen Werkzeugen er es ausführen sollte. Ja schwach waren diejenigen noch immer, die er um sich versammelt hatte als seine Vertrautesten, nicht daran zu denken, daß auch sie schon unter einander haderten, wer der Erste sein sollte im 11–13 Vgl. Lk 23,34
39–1 Vgl. Mt 18,1; Mk 9,34; Lk 9,46
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Himmelreich; in der ganzen Erkenntniß seines göttlichen Lichtes, in der ganzen Auffassung seines Wortes und seines Werkes waren sie noch Kinder. Ach und wenn wir alles was die folgenden Zeiten an Kraft des Glaubens, an Reinheit der Einsicht, an Festigeit der Liebe in der khristlichen Kirche dargestellt haben, wenn wir das alles zusammenfassen, wie könnten wir es wohl vergleichen mit dem was er selbst war und selbst that! Und doch m. g. F. muß ihm das beständig gegenwärtig gewesen sein. Denn freilich das Werk der Wiederherstellung des menschlichen Geschlechts vor Gott, das hat er allein vollbracht, und dazu bedurfte er keinen, der ihm hülfe. Aber sollte das den Menschen auch wirklich zu Gute kommen, so mußte doch der Bund der Khristen gestiftet werden, aus welchem das Amt, das die Versöhnung predigt, hervorgehen sollte. Und der Apostel Paulus stellt beides unmittelbar neben einander, wenn er Gott preißt dafür, daß er in Khristo war um die Welt mit ihm selbst zu versöhnen, und daß er das Amt gestiftet hat das die Versöhnung predigt, und die Botschaft der Versöhnung verkündigt. Und welche Botschaft und welche Apostel! Denn nur Werkzeuge waren sie für dieses große Amt, wenn man sie betrachtet an und für sich selbst. O wahrlich der Herr mußte gewußt haben, daß er im Stande sein würde eine Liebe und eine Treue in den menschlichen Seelen zu erwecken, wie die welche aus dem Munde der Apostel tritt. Wir werden täglich verfolgt, aber wir fallen nicht; wir leiden täglich, aber wir jammern nicht; wir tragen das Sterben Christi an unserm Leibe, auf daß unser Leben durch ihn offenbar werde; und darum was kann uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal und Verfolgung, Schwert und Tod, in dem allen überwinden wir weit; denn das wissen wir, daß keine Gewalt weder irdische noch überirdische, kein Unterschied zwischen Leben und Tod uns jemals scheiden kann von der | Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu. Das mußte er wissen, daß er eine Liebe und Treue in den Herzen der Menschen entzünden könne, wie die jenes erstes Märtyrers, der als er ein Zeugniß davon ablegte, daß in Jesu von Nazareth alle den Vätern gegebenen Verheißungen erfüllt wären, statt der Wuth der aufgeregten Menge, statt der Steine, die aufgehoben wurden um sein Haupt zu zerschellen, den Himmel geöffnet sah und den Herrn zur Rechten der Kraft, so daß er dadurch in den Stand gesetzt wurde auf eine würdige Weise den Tod zu erleiden. Ja m. g. F. diese Zuversicht mußte in dem Herrn sein, und wir sollen sie theilen; auch wir sollen es wissen, daß diese Kraft der Liebe 10 bedurfte er keinen] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 783 13–17 Vgl. 2Kor 5,18–19 31–37 Vgl. Apg 7,1–60
22–24 Vgl. 2Kor 4,8–10
24–29 Vgl. Röm 8,35–39
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und der Treue auch in uns ausgegossen ist durch seinen Geist; auch wir sollen uns fest an ihn halten und indem er uns befreit von allen andern Banden, so sind es allein die unauflöslichen Bande der Liebe, mit welchen uns der himmlische Vater an den knüpft, der zu unserm Heil vom Himmel gekommen ist auf die Erde; und auch wir sollen eben so wie der Herr es tief und innig fühlen, daß alle diejenigen, welche seiner Wahrheit entgegentreten, immer nur solche sind, die nicht wissen was sie thun, und eben deswegen auch alle unsre Kräfte vereinigen und unsern gemeinsamen Dienst denen weihen, die noch auf irgend eine Weise wider den Herrn sind, daß doch immer mehr das geistige Auge der Menschen möchte erleuchtet werden und ihnen das Bewußtsein des Zieles, welches ihnen vorgesteckt ist, aufgehen, auf daß sie wissen was sie thun, und nicht mehr in Verblendung und Eitelkeit die Hülfe dessen von sich weisen, der gekommen ist, sie herauszureißen aus der Finsterniß und den Schatten des Todes, und ihre Füße zu leiten auf den Weg des Friedens; und wir sollen es in Verbindung mit dem Erlöser fühlen, daß auch jetzt noch, wenn wir der Zwietracht nicht entgehen können mit denen, die das Reich Gottes bekämpfen, wenn wir wie er hineingezogen werden in den Streit mit der Welt, unsre Füße immer wandeln können auf dem Wege des Friedens, und daß das Schwert niemals von uns ausgehen soll, insofern wir Werkzeuge sind des Herrn; wir sollen es wissen, daß wie oft es auch wieder dunkel zu werden scheint um uns her, doch das Reich des Lichtes gegründet ist, und daß diejenigen, welche gläubig den Namen des Herrn anrufen, nicht mehr befangen sind in Finsterniß und Schatten des Todes. Ja so sollen wir Gott dem Vater danken, daß uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe. Amen.
[Liederblatt vom 26. Dezember 1824:] Am zweiten Weihnachtstage 1824. Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein etc. [1.] Von dieser Erden Staube / Steigt auf zu dir mein Lobgesang; / Dir Herr, an den ich glaube, / Bringt meine Seele Preis und Dank! / Daß du bist Mensch geboren, / Deß soll die Welt sich freun, / Und keiner mehr verloren, / Erlöst nun Alle sein. / Uns Sündern ward gegeben / Zum Retter Gottes Sohn; / Mit ihm erschien das Leben, / Mit ihm des Himmels Lohn. // [2.] Kommt laßt uns niederfallen / Vor unserm Mittler Jesus Christ, / Ihn preisen daß er Allen / 14–16 Vgl. Lk 1,79
26–27 Vgl. Lk 1,78
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Erretter, Freund und Bruder ist. / Er gleicht der Morgensonne; / Schön ist ihr erster Strahl / Und Leben, Licht und Wonne / Erweckt sie überall: / So strömet Heil und Gnade / Von ihm auf uns herab; / Licht werden unsre Pfade / Auch über Tod und Grab. // [3.] Frohlokt ihm Mitgenossen / Des Falles und der Sterblichkeit; / Nicht mehr ist uns verschlossen / Der Eingang zu der Herrlichkeit. / Zu unsrer Erde nieder / Kommt Gottes ewger Sohn / Und hebet seine Brüder / Empor zu Gottes Thron. / Er ward das Heil der Sünder / Und der Verlornen Hort; / Hier sind wir Gottes Kinder, / Miterben Christi dort. // [4.] Du dem die frohe Menge / Der Engel und Verklärten singt, / Vernimm die Lobgesänge / Die, die dein Volk im Staube bringt. / Wie du hier auf der Erde / Einst warest, was wir sind / Und duldetest Beschwerde / Wie jedes Menschenkind, / So ist uns auch beschieden / Dereinst dir gleich zu sein, / Wenn wir in ewgem Frieden / Uns deines Anschauns freun. // Nach dem Gebet. – Mel. Preis, Lob, Ehr etc. [1.] Sei hochgelobt barmherziger Gott / Daß du dich unser angenommen, / Und daß in unsrer Seelennoth / Du uns zu Hülfe bist gekommen. / Du schenktest uns von deinem Himmelsthron / Das ewge Wort, den eingebohrnen Sohn. // [2.] Was dringet dich? wir sind ja nur / Ein arm Geschlecht, verlorne Kinder, / Sind allesamt ja von Natur / Verderbte Menschen, alle Sünder, / Und ganz entfremdet sind als solche wir / Vom wahren Leben, welches quillt aus dir. // [3.] Allein du Vater reich an Huld / Hast uns’res Elends dich erbarmet, / Und uns, troz aller unsrer Schuld, / In Christo deinem Sohn umarmet. / In ihm sind wir, wie du zuvor bedacht, / Mit dir versöhnt, dir angenehm gemacht. // [4.] Du hast uns deinen Gnadenrath / Durch Jesum Christum wissen lassen, / Erbaut durch ihn die Gottesstadt, / Die alle Völker soll umfassen. / Er ist der Grund, auf welchem alles steht, / Der Fels des Heils, der ewig nicht vergeht. // [5.] Er hat den Frieden uns geschafft / Mit Dir, da wir noch Feinde waren, / Und Friede wird uns seine Kraft / Auch mitten in der Welt bewahren. / O Herrlichkeit, daß wir im Frieden stehn, / Und nun getrost zu dir, dem Vater gehn. // [6.] Lebt in uns Christi Sinn und Geist / So sind wir auch mit dir verbunden, / Was ist noch, was uns dir entreißt? / Wir haben volle Gnüge funden. / In ihm sind wir voll Ruh und Sicherheit, / Und schmekken schon des Himmels Seligkeit. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Schmükt uns die Siegerkrone, / Wenn wir zum Himmel sind erhöht, / Dann stehn wir nah am Throne / Und schauen deine Majestät. / Nicht mehr aus dunkler Ferne / Steigt dann das Lob zu dir; / Weit über Sonn’ und Sterne / Erhaben, jauchzen wir; / Und mit des Himmels Heere / Schallt unser Lobgesang / Dem ewgen Vater Ehre, / Dem Weltversöhner Dank. //
Vor 1825, Taufe Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:
Undatiert, Taufe Unbekannt Ohne Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 369–371 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 785–786; 21844, S. 821–822 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 643–645 – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 315–316 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Keine
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Taufrede. Niemand, a. V., kann in eine Gemeinschaft aufgenommen werden, ohne daß man ihm Rechte ertheilt auf der einen Seite, und Pflichten überträgt auf der andern. Wenn wir nun schon in den ersten Lebenstagen unsere Kinder in die Gemeinschaft der Christen aufnehmen: so ist diese Eilfertigkeit leicht zu erklären in Bezug auf das Erste. Denn wer eilt nicht gern, seinen Kindern Rechte, von welcher Art sie auch seyen, zuzusichern, deren Gebrauch in der Folge ihnen heilsam und ersprießlich seyn kann, deren Nichtgebrauch aber immer in ihrer Gewalt bleibt! Wieviel mehr noch ist es natürlich, daß wir ihnen, bei der Unsicherheit aller menschlichen Dinge, so zeitig als möglich ihr Anrecht sichern an die christliche Kirche, welche so große geistliche Güter verwahrt und ausspendet. Aber wie kommen wir dazu, ihnen auch Verpflichtungen aufzulegen, ja in ihrem Namen die Erfüllung derselben zu versprechen? woher wissen wir, daß sie in Zukunft gesonnen seyn werden, unser Wort zu lösen? Hierauf wissen wir gewiß nicht anders zu antworten, als daß diese Zuversicht ein Theil ist und ein Zeichen unseres eigenen Glaubens. Wenn wir unsere Kinder eben so bei ihrem Eintritte in’s Leben zugleich auch aufnehmen in die bürgerliche Gemeinschaft, der wir selbst angehören – denn wiewohl dies bei uns ohne alle äußerlichen Feierlichkeiten geschieht, so geschieht es doch dem Wesen nach – so sichern wir ihnen dadurch auch Rechte 11–12 Anrecht ... an die] vgl. Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, 21793, Sp. 263; Bd. 3, 2 1798, Sp. 1002
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zum Vaterlande, und legen ihnen Verbindlichkeiten auf; aber bei den letzten liegt die Voraussetzung zum Grunde: daß des Volkes Sinn und Geist, woraus doch alle Ordnungen, denen sie dereinst gehor|chen sollen, hervorgegangen sind, ihnen schon angeboren und von Voreltern her angeerbt sey, – eine Voraussetzung, welche auch nach dem Gesetze der Natur nur in seltenen Ausnahmen trügt. So steht es nicht in Bezug auf die christliche Kirche. Was vom Fleische geboren ist, das ist Fleisch; und wir wissen, daß der göttliche Geist, der in der christlichen Kirche waltet, nicht angeboren wird und angeerbt. Wenn wir also auch hier eine ähnliche Voraussetzung wagen, wie dort, daß die Sitten und Ordnungen der kirchlichen Gemeinschaft ihnen lieb und theuer seyn werden, je mehr sie sie kennen lernen, daß der Glaube, den wir jetzt schon in ihrem Namen bekennen, in ihrem Herzen werde Wurzel fassen, und jener, in der Kirche waltende, göttliche Geist auch sie dereinst beseelen werde: so bezeugen wir dadurch zunächst unser Vertrauen auf die göttliche Gnade, die dies allein bewirken kann, und auf die Verheißungen über die Gemeine Christi, welche nicht könnten in Erfüllung gehen, wenn nicht jedes künftige Geschlecht wieder in sie hineinwüchse. Aber auch die göttliche Gnade kann nicht wirksam seyn, wenn nicht in dem Menschen eine Sehnsucht nach ihr entsteht, und eine lebendige Empfänglichkeit sich entwickelt, um das Dargebotene aufzunehmen. Darum bezeugen wir durch diese Handlung zugleich unseren Glauben an die allgemeine Empfänglichkeit der menschlichen Natur für die Offenbarung Gottes in seinem Sohne; und nicht minder bezeugen wir ihn hierdurch, als durch die sich immer wieder erneuernden Versuche, unter allen, auch den entferntesten und ungebildetsten, Völkern das Evangelium zu verkündigen. Daß wir unseren Kindern schon im Voraus diese Empfänglichkeit zutrauen, das macht sie unserm Herzen theurer, veredelt unsere natürliche Liebe zu ihnen, und schärft unsere Aufmerksamkeit auf Alles, wodurch wir irgend zu diesem Zwecke auf sie wirken können. Denn dies ist nun das Dritte und für uns Bedeutsamste in dieser heiligen Handlung, daß wir dadurch ein Zeugniß ablegen davon, daß wir selbst glauben, Werkzeuge der göttlichen Gnade an unseren Kindern zu werden. Denn der Geist, sagt der Apostel, kommt aus dem Glauben, und der Glaube kommt aus der Predigt, das heißt aus Al|lem was als eine Verkündigung und Darstellung des göttlichen Wortes kann angesehen werden. Hoffen wir also, daß auch unsere Kinder dereinst der Geist beseelen wird, der in uns Allen „lieber Vater“ ruft, der edle und herrliche Geist der Kindschaft und der Freiheit, ohne den Niemand Jesum 7–8 Joh 3,6 35 Vgl. Gal 3,2 Gal 4,6 40–1 Vgl. 1Kor 12,3
35–36 Vgl. Röm 10,17
38–39 Vgl. Röm 8,15;
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einen Herrn nennt: so bekennen wir uns auch entschlossen, durch unser Leben, durch unsere Liebe und durch jedes Wort der Belehrung und der Ermahnung ihnen die Gnade und Liebe Gottes in Christo anzupreisen. Wie aber Alles, was in Gott soll gethan seyn, auch mit herzlicher Anrufung Gottes beginnen muß: so lassen Sie uns auch jetzt das Werk der göttlichen Gnade an diesem Kinde beginnen mit einem andächtigen Gebete. (Es folgte Gebet, Glaubensbekenntniß, Taufhandlung, und Schlußgebet, nach Anleitung des Formulars.) Schl.
9–10 Das Formular ist der von Schleiermacher verfassten Agende für die unierte Dreifaltigkeitsgemeinde zu entnehmen (GStA, HA X, Brandenburg, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876; Bl. 94r–98r; abgedruckt in: KGA III/3, Anhang).
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Nachschrift der Predigt vom 25. Januar 1824 vormittags, SAr 105, Bl. 81r; Andrae
Nachschrift der Predigt vom 15. August 1824 vormittags, SAr 109, Bl. 22v; Sobbe
Verzeichnisse
Editionszeichen und Abkürzungen Das Verzeichnis bietet die Auflösung der Editionszeichen und der Abkürzungen, die von den Autoren oder von der Bandherausgeberin benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Kopftext zu den einzelnen Predigten erfolgt. Nicht verzeichnet werden Abkürzungen, die für Vornamen stehen oder die sich von den aufgeführten nur durch das Fehlen eines Abkürzungspunktes, durch Klein- bzw. Großschreibung oder die Flexionsform unterscheiden. Schließlich sind nicht aufgenommen die in den Quellenangaben der Liederblätter vorkommenden Abkürzungen. | /
// [] ] )* PS [!] a. a. V. ABBAW
Seitenwechsel Zeilenwechsel in Liedern, Markierung zwischen Band und Teilband, zwischen mehreren Editoren, zwischen Erscheinungsorten, zwischen Reihengliedern Absatzwechsel in Liedern Ergänzung der Bandherausgeberin Lemmazeichen Streichung unsichere Lesart Hinweis auf Anormalie / Aufmerksamkeitszeichen
Abs. Abt. ADB Anm. Ant. Jud. Apg Art. Aufl.
am / an andächtige Versammlung Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin Absatz Abteilung Allgemeine Deutsche Biographie Anmerkung Josephus, Antiquitates Judaicae Die Apostelgeschichte Artikel Auflage
Bd. bearb.
Band bearbeitet
760
Verzeichnisse
betr. Bl. Brandenburg. bzw.
betreffend Blatt Brandenburgisch beziehungsweise
Chr. Churfl.
Christus Churfürstlich
d. h. D. / Doct. / Dr. Dtn
das heißt Doktor Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium)
ebd. ed. / edd. ELAB Eph EPMB
ebenda edidit / ediderunt Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin Der Brief des Paulus an die Epheser Fischer, Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg et alii et cetera Evangelisch-Lutherisch eventuell Das zweite Buch Mose (Exodus)
et al. etc. Ev.-Luth. evtl. Ex f. ff. FHDS 34
folgend fortfolgende Fürstliches Hausarchiv Dohna-Schlobitten, Karton 34 (mit Angabe der Archivalien- und Predigtnummer), Depositum im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, VI. Hauptabteilung
g. Gal geb. Gen ggf. ggü. GStA
geliebte Der Brief des Paulus an die Galater geboren Das erste Buch Mose (Genesis) gegebenenfalls gegenüber Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin
H. h. HA
Heft heilig Hauptabteilung
Editionszeichen und Abkürzungen
Hauptpred. Hebr Hiob Hr.
Hauptpredigt Der Brief an die Hebräer Das Buch Hiob (Ijob) Herr
Jak Jer Jes Jg. Jh. Joel Joh 1Joh jr.
Der Brief des Jakobus Der Prophet Jeremia Der Prophet Jesaja Jahrgang Jahrhundert Der Prophet Joel Das Evangelium nach Johannes Der erste Brief des Johannes junior
Kap. KGA Kj Kol Königl. 1Kor 2Kor korr.
Kapitel Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe Konjektur Der Brief des Paulus an die Kolosser Königlich Der erste Brief des Paulus an die Korinther Der zweite Brief des Paulus an die Korinther korrigiert
Lk / Luc.
Das Evangelium nach Lukas
m. a. F. / m. a. Fr. m. Br. m. g. F. / m. g. Fr. / m. gel. Fr. m. Gel. m. th. F. / m. th. Fr. Matth. Mk Mp. Mt
meine andächtigen Freunde meine Brüder meine geliebten Freunde meine Geliebten meine theuren Freunde Das Evangelium nach Matthäus Das Evangelium nach Markus Mappe Das Evangelium nach Matthäus
Nachdr. nachm. NDB Neuaufl. nmpred. Nr. Num
Nachdruck nachmittags Neue Deutsche Biographie Neuauflage Nachmittagspredigt Nummer Das vierte Buch Mose (Numeri)
761
762
Verzeichnisse
Offb o.g. o. J.
Die Offenbarung des Johannes oben genannt ohne Jahr
1Petr 2Petr Phil pp. / ppp. Preuß. Prof. Ps
Der erste Brief des Petrus Der zweite Brief des Petrus Der Brief des Paulus an die Philipper perge perge (perge) Preußisch Professor Der Psalter (Psalmen)
r Rep. Röm
recto (Vorderseite) Repositorium Der Brief des Paulus an die Römer
S. s. Sach SAr
Seite siehe Der Prophet Sacharja Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Schleiermacher Archiv, Depositum 42a (mit Mappennummer) Meckenstock, Schleiermachers Bibliothek Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz scilicet Schleiermacher Schleiermacher-Archiv, edd. H. Fischer et al. senior Sektion Sonntag im Advent Signatur Sammlung Witwe Schleiermacher Schleiermacher – Deutsches Literaturarchiv Marbach (mit Signatur) Schleiermacher-Nachlass; Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Nachlass F. D. E. Schleiermacher (mit Angabe der Archivaliennummer) Sonntag nach Epiphanias Sonntag nach Neujahr Sonntag nach Trinitatis siehe oben
SB SBB sc. Schl. SchlAr sen. Sekt. SiA Sign. Slg. Wwe. SM SM-DLA SN
SnE SnN SnT s.o.
Editionszeichen und Abkürzungen
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sog. Sp. Sr. SS s.u. SW
sogenannt Spalte Seiner Sommersemester siehe unten Schleiermacher, Sämmtliche Werke
1Thess 2Thess 2Tim Tit
Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher Der zweite Brief des Paulus an die Thessalonicher Der zweite Brief an Timotheus Der Brief an Titus
u. u.a. usw.
und unter anderem und so weiter
V. v. vermutl. Vf. vgl. VM / vorm.
Vers verso (Rückseite) / Versus / von / vor vermutl. Verfasser vergleiche vormittags
WA WS
Martin Luther, Werke, Weimarer Ausgabe Wintersemester
z.B. Z.
zum Beispiel Zeile
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Verzeichnisse
Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Schriften auf, die in Schleiermachers Texten sowie in den editorischen Beigaben zu den Predigten (Apparaten und Kopftext) sowie in der Einleitung der Bandherausgeberin genannt sind. Die jeweiligen Titelblätter werden nicht diplomatisch getreu reproduziert. Folgende Grundsätze sind besonders zu beachten: 1. Die Verfassernamen werden in der heute gebräuchlichen Schreibweise angegeben. In gleicher Weise wird bei den Ortsnamen verfahren. 2. Ausführliche Titel werden in einer sinnvollen Kurzfassung wiedergegeben, die nicht als solche gekennzeichnet wird. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so werden die Gesamtausgaben vorangestellt. Die Titel werden chronologisch angeordnet. 4. Bei denjenigen Werken, die für Schleiermachers Bibliothek nachgewiesen sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern die Angabe „SB“ (vgl. Meckenstock, Bibliothek) mit der Listennummer hinzugefügt. 5. Anhangsweise werden die im Band angeführten Archivalien zusammengestellt, geordnet nach Archiven und deren innerer Systematik
* * * Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5,1, Leipzig 1774–1786; 2. Aufl.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 1–4, Leipzig 1793–1801 [SB 8: Bd. 1–4 (A-V), 1774–1780] Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen. Mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Brandenburg, Berlin 1829 [SB 11] Annalen der Preußischen innern Staats-Verwaltung, ed. Karl Albert von Kamptz, Bd. 1–23, Berlin 1817–1839 Allgemeine Deutsche Biographie, 56 Bde., Leipzig 1875–1912; Nachdr. 1967–1971
Literatur
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Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1785–1849 Allgemeiner Wohnungsanzeiger für Berlin auf das Jahr 1835 enthaltend die Wohnungsnachweisungen aller öffentlichen Institute und Privat-Unternehmungen, aller Hausbesitzer, Beamteten, Kaufleute, Künstler, Gewerbetreibenden und einen eigenen Hausstand Führenden, in Alphabetischer Ordnung, ed. J. W. Boicke, Berlin 1835 Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland. Amtsblatt des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes. Im Auftrag des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses herausgegeben, Stuttgart 1852–1936 An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörigen Gemeinden, [ed. F. D. E. Schleiermacher et al.] Berlin 1820 Anhang von Gebeten, Sprüchen: s. Kirchen-Agende Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Art. Dohna-Schlobitten, Friedrich Ferdinand Alexander Burggraf und Graf zu, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 4, Berlin 1958, Nachdr. 1971, S. 53 Arndt, Andreas: s. Schleiermachers Briefwechsel Berliner Intelligenz-Blatt zum Nutzen und Besten des Publici, Berlin 1800– 1922 Biblia, das ist die gantze Heilige Schrifft Alten und Neuen Testaments, nach der Uebersetzung und mit den Vorreden und Randglossen D. Martin Luthers, mit neuen Vorreden, Summarien, weitläuffigen Anmerckungen und geistlichen Abhandlungen, auch Gebeten auf jedes Capitel, wobey zugleich noethige Register und eine Harmonie des Neuen Testaments beygefueget sind, edd. C. M. Pfaff / J. C. Klemm (Neues Testament), Tübingen 1729 [SB 206] Bibliothek deutscher Canzelberedsamkeit, Bd 1–20, Hildburghausen / New York 1827–1835 Bulling, Karl: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens 1804–1813, Claves Jenenses 11, Weimar 1962 : Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung im dritten Jahrzehnt ihres Bestehens 1824–1833, Claves Jenenses 13, Weimar 1965 Donner, Herbert: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, in: Grundrisse zum Alten Testament. Das Alte Testament Deutsch. Ergänzungsreihe, ed. Walter Beyerlin; 2 Bde., 4. Aufl., Göttingen 2008 Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, bearb. v. Otto Fischer, ed. Brandenburgischer Provinzalsynodalverband, Bd. 1–3, Berlin 1941 Festmagazin: s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden
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Verzeichnisse
Flavius Josephus: Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz. Mit Paragraphenzählung nach Flavii Josephi Opera recognovit Benedictus Niese (Editio minor), Berlin 1888–1895, Wiesbaden 2004 nach der Ausgabe Halle an der Saale 1899 Foerster, Erich: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten nach den Quellen erzählt. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenbildung im deutschen Protestantismus, Bd. 1–2, Tübingen 1905–1907 Gemberg, August Friedrich Leopold: Die schottische Nationalkirche nach ihrer innern und äußern Verfassung. Mit einem Vorwort des Königlichen Konsistorial-Raths, Professors Herrn Dr. A. Neander. Ein Beitrag zur Charakteristik der evangelischen Kirchen, Hamburg 1828 Geistliche und Liebliche Lieder, Welche der Geist des Glaubens durch Doct. Martin Luthern, Johann Hermann, Paul Gerhard, und andere seine Werkzeuge, in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen Der Königl. Preuß. und Churfl. Brandenburg. Lande bekannt, und mit Königl. Allergnädigster Approbation und Privilegio gedrucket und eingeführet worden, Nebst Einigen Gebeten und einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 1812 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen, Berlin o. J. [1829] [SB 2349] Gottschalk, Wolfgang: Altberliner Kirchen in historischen Ansichten, Würzburg 1985 Hünerbein, Kurt: Art. Marheineke, Philipp Conrad, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin 1990, S. 172–174 Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, edd. J. W. v. Goethe, Chr. G. Voigt, Jena 1804–1841 Josephus: s. Flavius Josephus Journal für Prediger, edd. K. G. Bretschneider, D. A. Neander, J. S. Vater, Halle 1770–1842 Kamptz, Karl Albert von: s. Annalen Kirchen-Agenda, Das ist: Gebeth, und andere Formulen, Welche bey denen Evangelisch-Reformirten Gemeinden, in Sr. Königl. Majestät in Preussen Königreich, und andern Landen gebrauchet werden, Samt beygefügten Symbolis, oder Glaubens-Bekänntnissen der alten Christlichen Kirchen, Berlin o. J. Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, Berlin 1821 [Domstiftsarchiv Brandenburg, Sign. Ki 3120] Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, 2. Aufl., Berlin 1822; separat dazu: Anhang von Gebeten, Sprüchen u. s. w. aus mehreren ältern Agenden zusammengetragen, und zum Gebrauche für die Liturgie an Sonn- und Festtagen eingerichtet; nebst einem Auszuge aus der Litur-
Literatur
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gie für Kirchen, denen es am Nothwendigen mangelt, um sie vollständig abzuhalten, Berlin 1823 Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, 2. Aufl., Berlin 1822 [erschienen 1824]; zusammengebunden mit: Anhang von Gebeten, Sprüchen u. s. w. aus mehreren ältern Agenden zusammengetragen, und zum Gebrauche für die Liturgie an Sonn- und Festtagen eingerichtet; nebst einem Auszuge aus der Liturgie für Kirchen, denen es am Nothwendigen mangelt, um sie vollständig abzuhalten, Berlin 1823 Kirchen-Agende für die Königlich Preußische Armee, [2. Aufl.], Berlin 1821 Kirchen-Gebethe, Welche Von Seiner Königlichen Majestät in Preussen, in allen Evangelisch-Reformirten und Evangelisch-Lutherischen Gemeinen Dero Königreichs und anderen Landen; Und zwar An denen Sonn- und hohen Fest-Tagen vor und nach der Predigt, So dann Bey denen WochenPredigten, Und In denen Bethstunden und Bußtagen, vorzubethen verordnet seynd, Neuaufl. [= 2. Aufl.], Berlin 1717 Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, edd. Hermann Leberecht Strack / Paul Billerbeck, Bd. 1–6, München 1922–1961 Kritische Prediger-Bibliothek, ed. J. F. Röhr, Neustadt a. d. Orla 1820–1851 Leipziger Literatur-Zeitung, ed. H. Blümner et al., Leipzig 1802–1834 Leipziger Repertorium der Deutschen und Ausländischen Literatur, ed. E. G. Gersdorf, Leipzig 1843–1860 Lisco, Friedrich Gustav: Zur Kirchen-Geschichte Berlins. Ein geschichtlichstatistischer Beitrag, Berlin 1857 Liturgie für die Hof- und Garnison-Gemeinde zu Potsdam und für die Garnison-Kirche in Berlin, Berlin 1816 Liturgie für den sonntäglichen Gottesdienst in der Hof- und Dom-Kirche zu Berlin, [Berlin] 1817 Liturgie zum Hauptgottesdienst an Sonn- und Festtagen und zur Abendmahlsfeier für die Königlich Preußische Armee, Berlin Weihnachten 1821 Liturgie zum Hauptgottesdienste an Sonn- und Festtagen und zur Abendmahlsfeier für die Hof- und Domkirche zu Berlin, [Berlin] Weihnachten 1821 Liturgie zum Hauptgottesdienste an Sonn- und Festtagen und zur Abendmahlsfeier für die evangelische Kirche des Preußischen Staats (darin S. 21–64 „Anhang von Gebeten, Sprüchen u. s. w. aus mehreren ältern Agenden zusammengetragen, und zum Gebrauche für die Liturgie an Sonn- und Festtagen eingerichtet; nebst einem Auszuge aus der Liturgie für Kirchen, denen es am Nothwendigen mangelt, um sie vollständig abzuhalten“), Berlin 1823 Lommatzsch, Siegfried Otto Nathanael: Geschichte der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin. Festschrift zum Hundertfünfzigjährigen Jubiläum der Kirche, Berlin 1889 Luther, Martin: Sämtliche Schriften, ed. Johann Georg Walch, Bd. 1–24, Halle 1740-1753 [SB 1190] : Werke, Kritische Gesamtausgabe, [Schriften], Bd. 1–68, Weimar 1883–1999
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Verzeichnisse
Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden. Neue Folge, edd. J. F. Röhr, F. D. E. Schleiermacher, J. G. J. Schuderoff, Bd. 1–6, Magdeburg 1823–1829 Marheineke, Philipp Konrad: Ueber die wahre Stelle des liturgischen Rechts im evangelischen Kirchenregiment. Prüfung der Schrift über das liturgische Recht der evangelischen Landesfürsten von Pacificus Sincerus, Berlin 1825 Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin: 1810–1850, ed. P. Bahl, Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 86, Bd. 1–3, Berlin u. a. 2010 Meckenstock, Günter: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, 2. Aufl., in: Schleiermacher, KGA I/15, S. 637–912 Meding, Wichmann von: Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, SchlAr 9, Berlin / New York 1992 Mende, Hans-Jürgen: Lexikon Berliner Grabstätten, Berlin 2006 Nachtrag zu der erneuerten Kirchen-Agende [1829]: s. Agende für die evangelische Kirche Neue Deutsche Biographie, bisher 25 Bde., Berlin 1953ff. Neue Theologische Annalen, ed. J. F. L. Wachler, Frankfurt a. Main 1798– 1823 [SB 1359: Jg. 1803–1823] Pacificus Sincerus: s. Schleiermacher: Ueber das liturgische Recht Reetz, Dankfried: Schleiermacher im Horizont Preussischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002 Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, SchlAr 12, Berlin / New York 1992 Rezension von: Schleiermacher, Ueber die Worte des Erlösers: Hast du mich lieb? Joh. 21, 16. Predigt am Sonntage Cantate 1823 in der Dreifaltigkeitskirche gehalten, in: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, Jg. 1825, Ergänzungsblätter Nr. 227, Sp. 311–312 : Theologisches Literaturblatt, Jg. 1826, Nr. 8, Sp. 64 Rezension von: Schleiermacher, Predigt am 23sten Sonntage nach Trinitatis 1824 (am Todtenfeste) in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 1826, Ergänzungsblätter Nr. 24 (Februar 1826), Sp. 188–189 : Kritische Prediger-Bibliothek, Jg. 1826, Bd. 7, H. 1, S. 819–821 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 1–2, in: Journal für Prediger, Jg. 1825, Bd. 46, S. 89–99 : Theologisches Literaturblatt, Jg. 1824, Nr. 21, Sp. 169–172
Literatur
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Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 1–4, in: Theologisches Literaturblatt, Jg. 1826, Nr. 75, Sp. 609–616 : Leipziger Literatur-Zeitung, Jg. 1828, Nr. 50, Sp. 399 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 2, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 1825, Bd. 4 mit Ergänzungsblättern, Sp. 37–40 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 2–4, in: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung Jg. 23 (1827), Bd. 4, Nr. 216, Sp. 285–288 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 3, in: Journal für Prediger, Jg. 1825, Nr. 67, 2. Stück, S. 270–272 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 5, in: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, Jg. 24 (1828), Bd. 3, Nr. 147, Sp. 215–216 Rezension von: Zimmermann, Predigten über sämmtliche Sonn- und Festtagsevangelien des Jahres. Eine Gabe christlicher Liebe der neuen evangelischen Gemeinde in Mühlhausen dargebracht von jetzt lebenden deutschen Predigern, Bd. 1, in: Leipziger Literatur-Zeitung, Jg. 1826, Nr. 145, Sp. 1154 Röhr, Johann Friedrich: s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten Sehlke, Stephan: Pädagogen – Pastoren – Patrioten. Biographisches Handbuch zum Druckgut für Kinder und Jugendliche von Autoren und Illustratoren aus Mecklenburg-Vorpommern bis 1945, Norderstedt 2009 Seibt, Ilsabe: Friedrich Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, Göttingen 1998 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: [SW] Sämmtliche Werke, 3 Abteilungen, 30 Bde. in 31, Berlin 1834–1864; Abt. 2: Predigten, Bd. 1–4, 2. Aufl., Berlin 1843–1844 : [Predigten ed. Grosser] Sämmtliche Werke, Reihe I. Predigten [einzige], Bd. 1–5, ed. E. Grosser, Berlin 1873–1877; 2. Aufl., Bd. 1, 1876 : [KGA] Kritische Gesamtausgabe, edd. H.-J. Birkner, H. Fischer et al., bisher 4 Abteilungen: Abt. 1: 15 Bde. in 18, 1980–2005; Abt. 2: bisher 5 Bde. in 6, 1998ff.; Abt. 3: bisher 6 Bde., 2011ff.; Abt. 5: bisher 9 Bde., 1985ff., Berlin / New York : Der Christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1–2, Berlin 1821–1822 : Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus, Göttingen 1824 : Ueber die Worte des Erlösers: Hast Du mich lieb? Joh. 21,16. Predigt am Sonntage Cantate 1823 in der Dreifaltigkeitskirche gehalten, Berlin 1824 : Predigt am 23sten Sonntage nach Trinitatis 1824 (am Todtenfeste) in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen, Berlin 1825. : Predigt am ersten Sonntage nach der Erscheinung [11. Januar 1824],
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Verzeichnisse
in: Predigten über sämmtliche Sonn- und Festtags-Evangelien des Jahres. Eine Gabe christlicher Liebe der neuen evangelischen Gemeinde in Mühlhausen dargebracht von jetzt lebenden deutschen Predigern, ed. E. Zimmermann, Bd. 1, Darmstadt 1825, 2. Aufl., 1826, S. 154–170 : Predigten. Fünfte Sammlung. Christliche Festpredigten, Bd. 1, Berlin 1826 : Predigten. Siebente Sammlung. Christliche Festpredigten, Bd. 2, Berlin 1833 : Predigten. Sammlung 1–7, Reutlingen 1835 [nach der Ausgabe „Sämmtliche Werke“] : [Briefe] Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1–2, edd. E. v. Willich / H. v. Schwerin Berlin 1858; 2. Aufl. 1860; Bd. 3–4, edd. W. Dilthey / L. Jonas, 1861–1863; Nachdr. Berlin / New York 1974 : Über Freundschaft, Liebe und Ehe. Eine Auswahl aus Schleiermachers Briefen, Schriften und Reden, Halle a. d. Saale, 1909 : Ungedruckte Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820–1828, ed. J. Bauer, Leipzig 1909 : Briefe an einen Freund, Weimar [1939] : Predigten. Ausgewählt von Hans Urner, Berlin 1969 : Kleine Schriften und Predigten, edd. H. Gerdes / E. Hirsch, Bd. 1–3, Berlin 1970. : Liederblätter. In chronologischer Folge nach den Sammelbänden in London (L) und Hannover (H) sowie nach den Einzelblättern in Berlin (B) zusammengestellt von Wolfgang Virmond, Berlin 1989 (Privatedition) : [Liederblätter] (Einzelblätter in der Staatsbibliothek zu Berlin, SAr 1) : [Liederblätter] (Sammelband in London, British Library, Signatur: 3436. h. 29) : [Liederblätter] (Sammelband im Michaeliskloster Hildesheim, Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik. Bibliothek des Landeskirchenamtes der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers, Signatur: GBA 1816–1827) : s. An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörigen Gemeinden : s. Bibliothek deutscher Canzelberedsamkeit : s. Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen : s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, bearb. v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, SchlAr 11, Berlin / New York 1992 Schmidt, Bernhard: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, SchlAr 20, Berlin / New York 2002 Schuderoff, Johann Georg Jonathan: s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten
Literatur
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Theologische Nachrichten: s. Neue Theologische Annalen Theologisches Literaturblatt, ed. E. Zimmermann, Darmstadt 1824–1872 Treitschke, Heinrich von: Historische und Politische Aufsätze, Bd. 1–4, Leipzig 1871–1897 Virmond, Wolfgang: s. Schleiermachers Briefwechsel Wagenmann, Julius August: Art. Marheineke, Philipp Conrad, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 20, Leipzig 1884, S. 338–340 Wegweiser älterer und neuerer gemeinnütziger Schriften aus verschiedenen Wissenschaften nebst Versuch den Geist und Inhalt derselben darzustellen, ed. Carl Gabriel August Freude, 5 Bde., Ebersbach 1858–1863
* * * Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin (ABBAW): Nachlass F. D. E. Schleiermacher Nr. 57 Nr. 443 Nr. 620 Nr. 621/4
Predigtnachschrift Andrae mit Korrekturen Schleiermachers Tageskalender 1822/24 Predigtnachschrift Crayen Predigtnachschriften Crayen
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Schiller-Nationalmuseum) Sign. 58.368
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst
Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin: Brief Kobers vom 27. April 1824 an Ein Hochwürdiges Consistorium: Bestand 14 (Konsistorium), Nr. 4014 Kirchenbücher der Französisch-Reformierten Friedrichstadt-Gemeinde: Totenbücher Jgg. 1823–1832; Sign. 12/54 Kirchenbücher der Unierten Dreifaltigkeitsgemeinde: Traubuch Jg. 1824; Sign. 11/69 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin: HA I, Rep. 77, Ministerium des Innern, Sekt. 11, Nr. 6: Acta betr. den Professor und Prediger Schleiermacher in Berlin wegen Theilnahme an demagogischen Umtrieben und sträflichen Verbindungen, vom 22. Mai 1820 HA X, Brandenburg, Rep. 40, Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876: Die Vereinigung der lutherischen und reformierten Gemeinde der Dreifaltigkeits Kirche
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Verzeichnisse HA VI, Fürstliches Hausarchiv Dohna-Schlobitten, Kasten 34, Nr. 101–102
Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz: Schleiermacher-Archiv Depositum 42a (Angaben nach Archivverzeichnis): Mp. 1 Mp. 52 Mp. 54 Mp. 55 Mp. 63 Mp. 77 Mp. 78 Mp. 79 Mp. 80 Mp. 81 Mp. 83 Mp. 84 Mp. 85 Mp. 86 Mp. 87 Mp. 88 Mp. 89 Mp. 90 Mp. 91 Mp. 92
Predigten – Liederblätter – Einsegnung zur Goldenen Hochzeit Gemberg A – 185 Predigt-Dispositionen (1818– 1824) Schirmer A – 18 Predigten (1818–1831) und Anhang Schirmer B: Saunier (Johannes-Homilien, Teil 1) – Predigten 1–34 (1823–1824) sowie Beilage Woltersdorff F – 17 Predigten (1824) Slg. Witwe Schleiermacher D: Andrae 1821 Teil 1 – 7 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher E: Andrae 1821 Teil 2 – 6 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher F: Andrae 1821 Teil 3 – 9 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher G: Andrae 1821 Teil 4 – 8 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher H: Andrae 1821 Teil 5 – 7 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher J: Andrae 1822 Teil 1 – 7 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher K: Andrae 1822 Teil 2 – 11 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher L: Andrae 1823 – 7 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher M: Andrae 1824 Teil 1 – 12 Predigten mit Anhang Slg. Witwe Schleiermacher N: Andrae 1824 Teil 2 – 8 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher O: Andrae 1824 Teil 3 – 6 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher P: Andrae 1824 Teil 4 – 7 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher Q: (vermutet) Andrae 1825 – 5 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher R: (vermutet) Andrae 1826 Teil 1 – 6 Predigten mit Anhang Slg. Witwe Schleiermacher S: (vermutet) Andrae 1826 Teil 2 – 4 Predigten
Literatur Mp. 93 Mp. 100 Mp. Mp. Mp. Mp.
101 102 103 104
Mp. 105 Mp. 106 Mp. 107 Mp. Mp. Mp. Mp. Mp. Mp. Mp.
109 110 111 112 120 121 139
773
Slg. Witwe Schleiermacher T: (vermutet) Andrae 1826 Teil 3 – 3 Predigten Andrae-Bände A – Trinitatis bis Totensonntag 1820 sowie Beilage Andrae-Bände B – Trinitatis bis Totensonntag 1821 Andrae-Bände C – Trinitatis bis Totensonntag 1822 Andrae-Bände D – Advent 1822 bis Pfingsten 1823 Andrae-Bände E – Trinitatis bis Totensonntag 1823 und Einsegnungsrede Andrae-Bände F – Advent 1823 bis Pfingsten 1824 Crayen A – 21 Predigten (1821–1831) sowie Beilage Crayen B (Johannes-Homilien) – 21 Predigten (1825–1827) Sobbe A – 7 Predigten (1824) Sobbe B – 21 Predigten (1825) Sobbe C – Predigten (1826) 1825 Gruner – 6 Predigten 1834–1835 Zwei durch Andrae erstellte Verzeichnisse 1834–1835 Sechs durch Sydow erstellte Verzeichnisse Diverse Editionsmaterialien zur Abt. Predigten in der Ausgabe „Sämmtliche Werke“
Namen Das Namensregister verzeichnet die in diesem Band genannten historischen Personen in der heute gebräuchlichen Schreibweise. Nicht aufgeführt werden die Namen biblischer, literarischer und mythischer Personen, die Namen von Herausgebern, Übersetzern und Predigttradenten, soweit sie nur in bibliographischen oder archivalischen Angaben vorkommen, die Namen, die nur in Quellenangaben von Liedertexten genannt sind, sowie die Namen der an der vorliegenden Ausgabe beteiligten Personen und der Name Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. Bei Namen, die im Schleiermacherschen Text oder die sowohl im Text als auch im zugehörigen Apparat vorkommen, sind die Seitenzahlen recte gesetzt. Bei Namen, die in der Bandeinleitung oder den Apparatmitteilungen der Bandherausgeberin genannt werden, sind die Seitenzahlen kursiv gesetzt. Adelung 6.22.24.36.56.67.319.341. 382.412.414.424.452.458.462.465. 502.509.541.548.584.619.621.626. 631–632.635.642.646–647.649. 694.700.708.713.745.749.752 Agricola XII.148 Alexander der Große 716 Altenstein XVII–XX Andrae IX.XIII–XIV.XXXIX. XLII–LI.489 Arndt X Augusti XVIII Bauer XIV.XLVI Bernuth s. von Bernuth Blanc XVIII Boeckh XIV Bulling XXVII.XXIX Couard XIX Crayen L–LII Darius III. 128 de Wette XVIII Deibel XIII.XIX Dietz XXIX
Dohna-Schlobitten XLVI–XLVII.2 Donner 128 Flavius Josephus s. Josephus Foerster XVI–XVIII.XX.586 Friedrich Wilhelm I. XV Friedrich Wilhelm III. XIV.XVI.XIX.666.676 Gaß XI.XVI.XVIII.XXIII Gemberg LI Gemmingen s. von Gemmingen Gottschalk 471 Große XXVII–XXVIII Gruner XLIV Hecker, Andreas Jacob 706 Hecker, Johanne Sophie Henriette XXVII.706 Henhöfer XXIV Herodes der Große 716 Herz XIV.XLVI Herzberg XII Hetzel XIX Hierokles 645 Hoßbach XIX
Namen Ideler XIX.148 Jablonski XIX Jaddus 128 Jerobeam I. 128 Jonas XLV Josephus 128 Julian Apostata 645 Kamptz XIX Kathen s. von Kathen Kelsos 645 Kober XII König LII Küster 470.XII.XV.470 Kyros II. 169 Lipcke XXVII.275 Lisco XIX.148 Lommatzsch XII Luther 17.32.640.622.627.641 Manasse 128 Marheineke XI.XI–XII.XIV.XVII– XVIII.112 Marot XV–XVI Mauderode 706 Mende XIV.275 Napoleon 442.455 Nebukadnezzar II. 169 Nikaso 128 Noodt XIX Pacificus Sincerus X.XVIII Palmier 470 Pischon XIII.XIX Pompeius 716 Porphyrios 645 Reetz XI Reich XII.XVI Reimer IX.XIV.XLIV
775
Ritschl XII Röhr XXIII.XXVI.XXVIII Sack XVII.XXIII Sanballat (Sanaballetes) 128 Saunier LI–LII Schinkel 471 Schirmer XLV–XLVI.LI–LII Schleemüller XIX Schmidt XIV–XV Schuckmann XI Schuderoff XXIII.XXVI.XXVIII Schultz XIX Sehlke XXIX Seibt X Sobbe X.XXXIX.XLII– XLIII.XLV.XLIX Sommerfeld, Martin Friedrich (jr.) XXVII.706 Sommerfeld, Martin Friedrich (sen.) 706 Stein s. vom und zum Stein Sydow XIV.XLIV–XLV.XLVIII– XLIX.LI–LII Tholuck XI Treitschke XX Virmond X vom und zum Stein XLVI von Bernuth XIV von Gemmingen XXIV von Kathen XI von Witzleben XIX Wette s. de Wette Wilmsen XIX Witzleben s. von Witzleben Woltersdorff L.LII Woltersdorff, Ernst Gabriel LII Ziehe XIII Zimmermann XXII.XXIV
Bibelstellen Halbfett gesetzte arabische Seitenzahlen weisen Bibelstellen nach, über die Schleiermacher gepredigt hat. Die in Schleiermachers Texten vorkommenden Bibelstellenangaben werden durch recte gesetzte arabische Seitenzahlen verzeichnet. Kursiv gesetzte arabische und römische Seitenzahlen geben solche Bibelstellen an, die im Sachapparat und in der Bandeinleitung genannt sind. Die Abfolge der biblischen Bücher ist an der Lutherbibel orientiert. Das 1. Buch Mose (Genesis)
Das 1. Buch der Könige
Gen 1,1–30 1,1–31 1,4–7 1,26 1,28 1,31 2,2–3 2,7 2,24 3,10 3,15 3,19 12,3 22,17–18
1Kön 19,11
624 359 5 701.736 9 736 359 5.692 23 379.388 294–296 709 700 700
323.335
Das Buch Hiob (Ijob) Hiob 3,1–28,28 32,1–37,24 38,11
6 6 3–14
Der Psalter
Das 4. Buch Mose (Numeri)
Ps 22,19 22,21–22 24,1 33,9 36,6 51,12 57,11 110,1 116,10 119,105
Num 14,29–30 22,18–27
Der Prediger Salomos (Kohelet)
Das 2. Buch Mose (Exodus) Ex 1,8–22
746
691 325.336
Das 5. Buch Mose (Deuteronomium) Dtn 6,5 11,26–28 30,11–14 30,12–13 30,14
465 94 592 48 319.333
PredSal 1,9
293 293 69 51.643 702 467 702 146 627 332
635
Der Prophet Jesaja Jes 42,2–3 42,6 49,6 53
62 21 21 293
53,1 53,3–4 53,9 54,13 63,19 (alte Zählung: Jes 64,1)
Bibelstellen
777
5,34 6,12 6,24 6,33 7,16 7,20 7,21
200 413 267 627 220 220 546.551.563.610. 616 104 79 153 578 16.56 20 743–744 430 69 114.444 448 410.422 297 448 114.135.444.448 314 448 742–751.109.480 169.195 720 696 720–732 722 55.58 162 260 260 174.208.628–629. 645.723 130.393.448.465 82–83.106.150. 214.296.342.429– 430 83.110.434.738 267.676.684 62 743–744 531.540 84
294.551–552 293 293 229 319.332
Der Prophet Jeremia Jer 5,21 17,9 31,31–34 31,33–34 31,33 31,34
49 374.384 688 640.652.671.681 212.688 145.638.689
Der Prophet Joel Joel 3,1 (LXX 145.324.336.339– und Folgeüber- 340.547.551.564. setzungen: 2,28) 566 Der Prophet Sacharja Sach 13,7
113.306
Das Evangelium nach Matthäus Mt 3,2 3,3 3,7–10 3,7–12 3,8–9 3,11 3,13–15 4,1–11 4,4 4,16 4,17 5,9 5,12 5,14 5,16 5,17 5,20–26 5,20 5,23–24
56.105.722 16–17.21–22.46 312–313.328 46 59–60 16.22.55.728 54–65.78 746 51 166 78.102.430.722 739 294 638–639.650 87.638–639.650 16.125.131–132. 360 XX 471.482.490 470–497
7,28–29 8,19 8,20 8,23–27 9,14 9,15 9,33–34 10,7 10,14 10,17 10,18 10,19–20 10,22–25 10,22 10,24–25 10,32–33 10,32 10,34 10,38 11,3 11,4–5 11,4–6 11,7 11,11 11,19 11,21 11,23 11,25 11,27 11,28–29 11,28 11,30 12,19–20 12,24 12,30 12,34
778 12,47–49 12,48–49 13,7 13,22 14,13–21 14,22–27 14,22 14,24 14,28–31 15,14 15,21–28 15,24 16,3 16,4 16,14–16 16,15–16 16,16–17 16,16 16,18 16,20 16,21–22 16,21–23 16,22 16,23 16,24–25 16,24 16,26 18,1 18,3–4 18,15–17 18,16 18,17 18,20 18,21–22 19,14 19,27 19,29 20,1–16 20,9–15 20,17–19 20,20–28 20,28 22,37
Verzeichnisse 531 528 139 139 502.513.520.578 500.511 502.513.576 502.513 498–518.LIV.404. 416 170 697 31.40.63.69.341– 342.697 113 103 722 175 320.333.342 157 50.144.200.355. 448.458.560.630 157.175 502 441.454.512.534 447–448 455 438–460.LIV.404. 416 169.195 202.433.440 748–749 196 424 411 415.426 134.230.487.525 268 196 529.538 529.538 88 326 68 306 82.296 465
23,8 23,10 23,13 23,34 23,37 24,9 24,13 24,24–26 25,1–13 25,18 25,21 25,23 25,24–25 25,24–27 25,24–30 26,31 26,33–34 26,38 26,39 26,42 26,51–52 26,53 26,55–56 26,63–66 27,22–23 27,46 28,10 28,18 28,19–20 28,19 28,20
17 17 129.144.170.248. 465 114 144 448 448 618 20 315.330.337 326.337 326.337 20 315.330.337 639–640.651 113.306 512 116 116.443 116 501–502.512 107 135–147 165–178 138 293 306 304.309.344.567. 651.659.663 646 31.40.68 85.134.230.238. 251.305.346.505– 506.516.675.684
Das Evangelium nach Markus Mk 1,7 1,15 2,16 2,18 2,19–20 3,22 3,32–35 3,33–35 4,35–41
16.22.55 105 162 16.56 20 743–744 531 528 578
Bibelstellen 5,42–43 6,15–16 6,30–44 6,31–44 6,45–50 6,45 6,48 7,24–30 7,35–36 8,4 8,12 8,28–29 8,29–30 8,31–33 8,34 8,36 9,24 9,34 9,38 10,7–8 10,14 10,28–30 10,32–34 10,35–45 10,45 12,30 13,9 13,11 13,13 13,22–23 14,27 14,29–30 14,34 14,36 14,47 15,13–14 15,55–56 16,15 16,16
157 722 520.578 502.513 500.511 502.513.576 502.513 697 157 625 103 722 157.175 534 169.195 202.433.440 241.521 748–749 108 23 196 529.538 68 306 82.296 465 114.444.448 410.422 448 618 113.306 512 116 116.443 501–502 138 167 31.40.533.540– 541.646 352
Das Evangelium nach Lukas Lk 1,78–79 1,78 1,79 2,14
733–741 745.750 166.743.750 742
2,41–52 2,46–47 2,51 2,52 3,4 3,7–9 3,7–20 3,8 3,16 4,1–13 5,30 5,31 5,33 5,34–35 6,45 7,16 7,19–20 7,22 7,24 7,28 7,34 8,20–21 8,21 8,22–25 9,5 9,10–17 9,13 9,19–20 9,20–21 9,23 9,46 9,49 9,54 9,57 9,58 9,62 10,9 10,13 10,15 10,17–18 10,17 10,20 10,21 10,22 10,27–28 10,27
779 24–35 36 35–44.54.78 365 16–17.21–22.46 312–313.328 46 59–60 16.22.55.728 746 162 342 16.56 20 84 104 720 696 722 55.58 162 531 528 578 69 502.513.520.578 195 722 157.175 169 748–749 108 635 79 153 163.362 430 260 260 323.335 433 433 174.208.628–629. 645.723 393.448.465 271 465
780 11,4 11,14–15 11,14–28 11,23 11,27–28 11,52 12,8–9 12,8 12,11 12,32 13,31–32 13,34 14,26 14,27 16,13 17,3–4 17,3 17,20 18,16 18,28–30 18,31–33 18,31–34 18,31–43 19,10 19,20–23 19,20–26 19,42 21,12–15 21,12 21,15 22,31–32 22,33–34 22,42 22,50–51 22,67–68 23,21 23,34 23,46 24 24,1–3 24,13–21 24,13–27
Verzeichnisse 413 743–744 148 531.540 160 129.144.170.248. 465 314 448 114.444 355.448.458–459 68 144 526–543.XX.LIV. 195–196.404.416 195 267 268 404–427.LIV.404. 416 46.551.584 196 529.538 68 580 112–122.166 82.131–133.142. 429.433.656.697 315.330.337 639–640.651 144 631.646–647 114.444.448 622–654 113–115 512 38.116.443 501–502 175 138 258.466.528. 537.748 134 XXXIX 217–226.LIV 113 248
24,25–27 24,26 24,30–32 24,30–48 24,33–43 24,33 24,37 24,44–48 24,47–49 24,49 24,51–53
114.227 183 227–239.LIV.240 LIII 240–253.LIV 237–238 219 291–301.LIV 175 31.307.319.321. 332–334.344.346 302–309.LIV
Das Evangelium nach Johannes Joh 1,5 1,7 1,10–11 1,12 1,14
1,16 1,19–20 1,20 1,21–23 1,23 1,24–26 1,26–27 1,26 1,27 1,29–36 1,29 1,30 1,35–39 1,40–45 1,45–49 1,46 1,47–51
49.165.183.210. 738.741 49 738 83.108.110.132– 133.163.212.434. 740–741 7.49.83.108.110. 133.155.163.183. 210.213.245.262. 315.319.333.399. 592.604.621.692. 694.701–702.714. 719.728–730.737. 747 522 430 430 63 16–17.21–22.46 430 728 722 16.22.55 46 16.46.212 20 79 103–104 99 208.744 80
Bibelstellen 2,1–11 2,24–25 2,25 3,1–6 3,1–9 3,2 3,3 3,6 3,8 3,16 3,17–18 3,17 3,18 3,20 3,21 3,22–30 3,24 3,25–26 3,26 3,29–30 3,30 3,31–32 3,31–36 3,35 3,36 4,1–3 4,1–10 4,1 4,3 4,10 4,11–19 4,14 4,19 4,20–24 4,20 4,21 4,22 4,23–24 4,23 4,24 4,25–34 4,28–29
69.261 76 76.92.93.158.287. 362.399 92 168 432 168 219.753 219 98.394 393 367.398 52.373.379–380. 384.400 141.387 184 15–23.XIII.LI. LIII 45 67 45–46.256 49–50 55 17 45–53.LIII.67 343 98.728 255–256 66–77.LIII.91–92 281 281 93.98 91–100.LIII 117.142.352 123.157 123–134.LIII 93 157.488 75 191.520.726 34.157.164.524– 525 34.49.157 156–164.LIII.180. 184 99
4,31–38 4,32 4,34 4,35–36 4,35–42 4,39 4,42 4,43–54 4,44–45 5,1–15 5,15–23 5,15 5,16–23 5,16 5,17 5,18 5,19–20 5,19 5,20 5,22 5,24–30 5,24 5,26 5,30 5,31–40 5,36 5,38–40 5,39 5,41–47 6,1–13 6,1–15 6,14–15 6,15 6,16–20 6,16–26 6,21 6,24–25 6,26 6,27–35 6,30–31
781 258 28.38.72 28.38.170 72 179–187.LIII.125 255 161.257.259–260 254–262.LIII.281 281 280–290.LIII 358–359 392 389 358–369.LIII. 428–429 286 310.327.463 461 305.393.397 27.38.82.462– 463.522.690 38.106.343.403 398–399 392–403.LIII. 428–429 52.186.246.271. 299.373.379–380. 384.434–435.485 51 150.170.661 428–437.LIII 690 461–462 292.295 461–469.LIII 502.513 519–525.LIII.578 581 158.576.613.619– 620 500.511 575–585.LIII 500.511.515 612 520.524 612–621.LIII.655 691.716
782 6,30 6,32–35 6,32 6,33 6,35 6,36–44 6,38 6,39–40 6,40 6,41 6,42 6,44 6,45–51 6,45 6,47 6,48–51 6,51 6,52–60 6,55 6,60 6,61–71 6,63 6,66–68 6,66 6,67–68 6,68 6,70 7,6 7,8 7,15 7,17 7,27 7,32–48 7,37–38 7,40–43 7,44–46 7,46 7,48–49 7,50 7,52
Verzeichnisse 103 693 691 523 189.521.523.660 655–664.LIII.576. 687–688 150.170.522 711 98.102.712.728 525.691.693 687 433.689.692 687–694.LIII.576. 661.710.714 229.638.640. 652.671.681 98.246.728 716 352.525 710–719.XIII.LI. LIII.576 189 104.583–584 718 51.80.525.624. 694.738 80 104.576.583–584 582 116.143.303.403. 437.576.585.627 81 528.538 528.538 208 159.434.711 744 137 80 711 172 104.624 723 168 744
8,12 8,13–14 8,14 8,27–65 8,28–29 8,32 8,36 8,38 8,46 8,48 8,56 9,4 10,16 10,18 10,24–39 10,30 10,37–38 11,47–50 11,48–50 11,50 11,56 12,6 12,20–23 12,24 12,32 12,46 12,47 12,49–50 12,49 12,50 13,13 13,17–18 13,29 13,34 13,35 13,37–38 14,6 14,9 14,10–11 14,10 14,11 14,13–14
596.607.726 429 143.434 576 690 467 269 690 57 162 21 310.327 23.567 183 140 106.142.266.380. 389.693.715 103 167 168 140.208 138 82 697–698 143.163.183.187 276–277.532.540 738 367.380.389.398 27 690 28.83 303 81–82 82 34.233.308.344. 353.376.380.386. 389 201 512 368.393.596.607. 726 368 103 690 364 303.506.517
Bibelstellen 14,16 14,23
14,27 15,2 15,4–5 15,4–6 15,4 15,5 15,12 15,14–15 15,14 15,15 15,16 15,20–21 15,20 16,1–33 16,5–15 16,12–15 16,13 16,14–15 16,23 16,25–26 16,32 16,33 17,1–26 17,4 17,6–12 17,8 17,12 17,20–21 17,20–23 17,20 17,21–23 17,21 17,26 18,3–6 18,10–11
340–341.345.551. 566 9.97.198.272.356. 369.380.389.473. 485.492.525.704. 740 83.105.110.120. 232.355.739 713 344.738 713 403 83.143.366.380. 521.621.715 34.233.308.344. 353.376.386 42 33 4.33.42.116–117. 690 78–90.101.303 297 114.135.444.448 443 117 339–346 632 150.174.211.592. 736 303 303 306 355 155.345.670.680. 724.727 28.38 150 83–84 82.268 747–748 715 79 251.345–346 133.298.300.366 345–346 137–138 501–502
18,36–37 18,36 18,37 19,6 19,24 19,39 20,1 20,19 20,20 20,21 20,22–23 20,23 20,25–28 20,26 20,29 21,2 21,4 21,7 21,15–17 21,16 21,25
783 431 524 524 138 293 168 218 232 224 82.232.360 320.333 58.415.425 221 232 220 306 505 500.503.511.513 515 XXVIII 92
Die Apostelgeschichte Apg 1,3 1,4 1,7 1,8 1,12–14 1,14 1,15–21 1,15–22 2,1–11 2,1–13 2,1–17 2,2–3 2,3–4 2,13–17 2,14–21 2,23 2,36–37 2,37 2,38 2,46 3,1 3,6–8
222 310–338.LIV 321–322.334.629 315.323.330 306 313.329 637 32.313.329 349.624.643 348 339–340 323.335 547.564 324.336 347–357.LIV.371. 382 744 744 698 354 306.313.329 349 349
784 4,10 4,12 5,15 5,29 5,38–39 7,1–60 8,5–6 8,14 9,3–6 10,36–38 11,22 11,27–30 12,25–13,2 16,6–7 16,9 16,30 17,26–27 17,26 17,27–28 17,28 18,9 20,17 20,20–21 20,22–23 20,26–27 20,27 21,8–14 21,10–13 21,10–15 22,6–10 22,21 26,13–18
Verzeichnisse 314.330 110.163.172.300. 309.340–341.396– 397 349 19.83.449.534.541 646 749 161 31.161 223 101–111.78 31 349 31 31.41 41 698 589 603 9 464 41 84 84 41 222 84 349 41 32 223 31 223
Der Brief des Paulus an die Römer Röm 1,17 1,18 1,20 2,15 2,29 3,20 3,21–22 3,25–26 4,25
116 185 363.436–437.464. 473.485.491 190 467 207 116 116 202
6,3–5 6,4 6,12–18 6,16–18 6,22 7,18–23 7,18 7,24–8,1 7,24 8,7 8,14–16 8,15–16 8,15
8,16 8,17 8,18 8,19 8,26 8,28 8,32 8,35–39 8,35 8,37 8,38–39 8,39 9,15–16 10,8 10,17 11,32 11,33 12,1 12,2 12,4–5 12,21 13,1–4 13,10 13,12 14,4 15,5–7 15,5 15,8–9 15,9
217.219–220 209.241.266.270 263–274 32–33.41 32–33.41 271.374.384–385 269.521 214 267 166.212.376.386 740 10.225 35.132.352.369. 376.386.414.509. 517.674.683.690. 753 11–12 731 196.509 272 224–225.674.683 13.184.273.326. 353 378.388 749 718 373.383 437.450.459 718 284 319.333 345.352.378.387. 498.729.753 215.702 554.568 201.214 201.652.674 673.682 406.414.417 600.609 729 201 468 695 698 695–705.228 229
Bibelstellen 15,13 16,18
201 625
Der erste Brief des Paulus an die Korinther 1Kor 1,14 1,17 1,20–28 1,30 3,7 3,12–15 4,3 7,29–31 10,13 10,26 10,31 11,29 12,1–31 12,3 12,4–5 12,4 12,5 12,6 12,12–27 12,13–14 12,13 12,18 12,20 12,28–31 12,28 12,31–13,1 12,31–13,13 12,31 13,1–13 13,8 13,9–10 13,12 13,13 14,33 14,34 15,24 15,25–26 15,25
70 70 628–629 116.215.263.271. 468.596.690 182 628 468 154 373.383 69 360 198 7.548.565 320.352.369.546. 551.753–754 548.565 190 86 561.622 673.682 188–203 33.250.550.565 236 236 350 86 353 370.381 11 370–371 350.353.481–482. 497 481.497 481 353 106.235 160 300 355 109
15,28 15,56 15,57
785 300.305–306 372.383 214
Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 2Kor 1,20 3,6 4,7 4,8–10 4,13 5,14 5,17 5,18–19 5,18 5,20 5,21 12,9
50.145.690.694 126.488.546.563 272 749 627 627 51 749 697 632–633 702–703 273.336
Der Brief des Paulus an die Galater Gal 2,20 3,2 3,23–24 3,28 4,4 4,6–7 4,6
5,6 5,18 5,22–23 5,22 6,8 6,9 6,16
121.210–211.266. 270 753 127 33 27.38.281.745 740 35.132.211.369. 376.386.414.509. 517.674.683.690. 753 378.387.498.510. 532 322.335 271 82.370.381 88.201 499.511 688
Der Brief des Paulus an die Epheser Eph 2,19 4,1–3 4,4–6 4,4
198 544–574 356 550.565
786 4,11 4,13 4,15 4,23–24 4,24 4,26 5,1–9 5,8 5,10–11 5,10 5,12 5,14 5,27 5,30 6,12
Verzeichnisse 86 192.550.566–567. 652 124 201 85 478 148–155 141 586–611 652.674 595.607 597.607 153.193.272 673.682 601.610
Der Brief des Paulus an die Philipper Phil 2,5 2,6–9 2,6 2,8 2,9–10 2,10–11 3,8 3,12 3,13–14 3,13 3,18 3,20–21 4,4 4,7 4,13
663 696 27.38.296.397 28.38.213 215 621 412.423 272 641 211.674.683 117 665–686 133 120.740 198
Der Brief des Paulus an die Kolosser Kol 1,22 1,24–25 2,4 2,8 2,9
153.272 297–298 625 625 26.37.61.104– 105.175.210.212– 213.262.296.341– 342.346.376.380. 386.389.397.402.
3,9 3,14–15 3,14 3,16–17
551.566.614.637. 661.668.678.690. 693–694.698.715. 727–728.730.743. 746–747 85 201 11.481–482.497 201
Der zweite Brief des Paulus an die Thessalonicher 2Thess 3,2
72.120.729
Der zweite Brief des Paulus an Timotheus 2Tim 2,8 3,16 3,17 4,7–8
202 554 426.510.517.525. 621.673.682.730 201
Der Brief des Paulus an Titus Tit 3,1
600.609
Der erste Brief des Petrus 1Petr 1,13–15 1,18–19 2,9 3,13 3,15 4,10
201 116.152 638 202 532.540 17.120
Der zweite Brief des Petrus 2Petr 3,13
7
Der erste Brief des Johannes 1Joh 1,8–9 1,9 2,1 2,16 3,2 3,20
700 701–702 267–268 208 300.509 268.377
Bibelstellen 3,23 4,1 4,8 4,9 4,16–18 4,16 4,17 4,19 4,20 5,4 5,18
34.344.353.376. 386 351 670.680.737 50.464 370–391.LIV.404. 416 201.670.680.737 396 182 375.385 353 201
Der Brief an die Hebräer Hebr 1,1 1,3 2,10 2,11 2,14 2,15 4,12
51 149.363.661.675. 684.701 509 61.133 61 372.383 399.525.658
4,15 5,7 8,10 9,11–12 9,12 9,27 10,1 10,2–3 10,7 10,8–12 10,12–13 10,22 12,2 13,8 13,9
787 74.258.509 151–152 212–213 153 116 372.383 106.298.465.471. 482.490.699–700 206 212 204–216 355 209 166.182 251 578
Der Brief des Jakobus Jak 2,19 5,16
393 354
Die Offenbarung des Johannes Offb 21,4
272