Christentum und Judentum: Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 9783110220537, 9783110220520

Today, the subject of Christianity and Judaism can only be explored interdisciplinarily, with the participation of resea

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German Pages 650 [652] Year 2012

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Table of contents :
Ansprache zur Eröffnung des Schleiermacher-Kongresses
Christentum und Judentum
I. Aufklärung des Judentums, Aufklärung des Christentums
Jüdische Identität zwischen Vernunft und Verbürgerlichung
Spinozismus zwischen Judentum und Christentum. Die jüdische Spinoza-Interpretation in ihrer Differenz zur christlichen Spinozarezeption
Gesetz – Schrift – Ritual. Moses Mendelssohns politisch-religiöses Konzept
Jüdische Christologie im 18. Jahrhundert
Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Bild der mosaischen Religion
Johann Salomo Semler und das Alte Testament
Johann Gottfried Herder: Nationalkultur und archaische Poesie
Gotthold Ephraim Lessings Verständnis des Judentums
Immanuel Kant: Judentum und Vernunftreligion
II. Schleiermachers Sicht des Verhältnisses von Christentum und Judentum
Friedrich Schleiermachers Stellungnahme zur Judenemanzipation im »Sendschreiben« David Friedländers. Die »Briefe bei Gelegenheit [...]« von 1799
Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede »Über die Religion« und ihre Rezeption bei Abraham Geiger
Wesensbestimmung und Wesensunterscheidung. Monotheismus und Erlösung als Religionskategorien bei Schleiermacher
»Die toten Schlacken des inneren Feuers«. Schleiermachers Religionsformel, ihre Rezeption und die Idee einer vergleichenden Religionsforschung
Das Alte Testament als Problem des Kanonbegriffs
Schöpfungsglaube und Monotheismus in Schleiermachers Glaubenslehre
Jesus und das Judentum nach Schleiermachers ›Leben-Jesu‹-Vorlesung
Schleiermachers christologische Fassung der ›Absolutheit‹ des Christentums
Schleiermachers Passionspredigten
»Erwachsen« oder »kindlich«? Religionspädagogische Aspekte des Verhältnisses Christentum /Judentum bei Schleiermacher
Christentum und Judentum in Schleiermachers Vorlesungen über die Kirchengeschichte
III. Profile zwischen Romantik und Klassischer Moderne
Warum konvertieren? Anmerkungen zur Taufe der Dorothea Veit und Schleiermachers Haltung dazu
Wandlungen in Hegels Bild des Judentums
Das Bild des Judentums bei David Friedrich Strauß
Oratorium und Theologie. Mendelssohn, Schubring und Schleiermacher
Jesus und das Alte Testament in sprachphilosophischer Perspektive
Soren Kierkegaard liest Hiob. Eine Studie zu Kierkegaards Umgang mit dem Alten Testament
Die religionskonstruktive Funktion der Bezugnahme auf das Judentum bei Ferdinand Christian Baur und Albrecht Ritschl
Mittler zwischen Gott und Mensch. Hermann Cohens Auseinandersetzung mit Schleiermacher
Judentum und Christentum bei Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche
Altisrael, Judentum und Pharisäismus bei Julius Wellhausen
Adolf von Harnack – Marcion und die Frage nach dem Stellenwert des Alten Testaments
Max Weber – Jahweglauben und Sozialgestalt des Judentums
Liberaler Protestantismus und liberales Judentum. Das Beispiel Ernst Troeltsch
Leo Baecks Deutung der alttestamentlichen Prophetie
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Christentum und Judentum: Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009
 9783110220537, 9783110220520

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SchlA 24

Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock

Band 24

De Gruyter

Christentum und Judentum Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 Herausgegeben von

Roderich Barth, Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022052-0 e-ISBN 978-3-11-022053-7 ISSN 1861-6038 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

” 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Zum Geleit Seit 1985 erscheint das Schleiermacher-Archiv (SchlAr) als begleitendes Publikationsorgan zur Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers (KGA). Das Herausgebergremium des Schleiermacher-Archivs war und ist identisch mit dem Herausgeberkreis der Schleiermacher-Gesamtausgabe. Nur die Geschäftsführung lag zunächst in unterschiedlichen Händen. Hans-Joachim Birkner wirkte seit 1972 vorbereitend und seit 1977 offiziell als geschäftsführender Herausgeber der Schleiermacher-Gesamtausgabe bis zu seinem Tod 1991, Hermann Fischer seit 1985 als geschäftsführender Herausgeber des Schleiermacher-Archivs. Bei allem Wechsel im Herausgeberkreis blieb die geschäftsführende Herausgeberschaft des Archivs bis 2011 unverändert. Seit 2009 ist es zu einer Zäsur im Herausgeberkreis gekommen. Zunächst schied 2009 Kurt-Victor Selge aus. H. Fischer, letztes Mitglied der ursprünglichen Initiatoren der Schleiermacher-Gesamtausgabe und des Schleiermacher-Archivs und seit 1991 zusätzlich geschäftsführender Herausgeber der Schleiermacher-Gesamtausgabe, hat im Mai 2011 seine Mitarbeit in beiden Gremien beendet. Auch Konrad Cramer, seit 1997 Mitglied der Herausgeber, ist zum Mai 2011 von beiden Ämtern zurückgetreten. Zum gleichen Zeitpunkt hat sich der Herausgeberkreis der Schleiermacher-Gesamtausgabe und des Schleiermacher-Archivs partiell neu konstituiert. Neben den bisherigen Mitgliedern Ulrich Barth (Halle) und Günter Meckenstock (Kiel) fungieren jetzt Andreas Arndt (Berlin), Lutz Käppel (Kiel) und Notger Slenczka (Berlin) als neue Herausgeber. Seit Oktober 2011 hat G. Meckenstock die geschäftsführende Herausgeberschaft der Schleiermacher-Gesamtausgabe übernommen. Der jetzt vorliegende 24. Band des Schleiermacher-Archivs nennt auf dem Titelblatt – abgesehen von K.-V. Selge – noch einmal den alten Herausgeberkreis. Begründet ist das darin, dass dieses Gremium das Erscheinen des Bandes begleitet und verantwortet hat. Der jetzt publizierte Band dokumentiert den 2009 von der SchleiermacherGesellschaft veranstalteten Internationalen Kongreß über »Christentum und Judentum«. In den letzten Jahren sind bereits gewichtige Bände dieser Gesellschaft erschienen, 2000 der Band »200 Jahre Reden über die Religion« (SchlAr 19), 2006 »Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit« (SchlAr 21), 2008 »Christentum – Staat – Kultur« (SchlAr 22). Das Schleiermacher-Archiv hat bisher vielen Forschern ein Forum für ihre Arbeit geboten und sich bewährt. Möge es auch in Zukunft seinen Dienst an der Schleiermacher-Forschung leisten. Im Namen der Herausgeber Hermann Fischer

Vorwort Der hier vorgelegte Band präsentiert die Akten des IV. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft. Der Kongreß fand vom 15. bis 18. März 2009 in Halle an der Saale statt und war dem Thema ›Christentum und Judentum‹ gewidmet. Die Anordnung der hier dargebotenen Abhandlungen entspricht der thematischen Gliederung der drei Sektionen. Allen Beiträgern sei an dieser Stelle noch einmal aufrichtig gedankt, daß sie ihre Vorträge für die Veröffentlichung überarbeitet und zur Verfügung gestellt haben. Die Durchführung des Kongresses wurde durch vielfältige Unterstützung ermöglicht. Zu danken ist zuvörderst der Fritz-Thyssen-Stiftung (Köln), die den maßgeblichen Beitrag zur Finanzierung der Tagung bewilligt hat. Zu danken ist sodann den Franckeschen Stiftungen (Halle), in deren historischen Räumen die Tagung stattfinden konnte. Zu danken ist ferner der Martin-Luther-Universität Halle–Wittenberg, die organisatorischen Beistand geleistet hat. Zu danken ist schließlich der Schleiermacherschen Stiftung (Berlin) für einen nicht unerheblichen Zuschuß. Wir danken außerdem den Herausgebern des Schleiermacher-Archivs für die Aufnahme des Kongreß-Bandes sowie dem Verlag De Gruyter für die sorgfältige Betreuung der Publikation. Es ist wohl im Sinne aller Mitwirkenden, an das Erscheinen dieses Bandes die Hoffnung zu knüpfen, daß sich die perspektivenreiche Diskussion des Kongresses für die weitere Erforschung des Themas fruchtbar erweist. Halle, 11. Januar 2012

Roderich Barth / Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener

Inhaltsverzeichnis Ulrich Barth Ansprache zur Eröffnung des Schleiermacher-Kongresses . . . .

1

Michael Wolffsohn Christentum und Judentum . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I. Aufklärung des Judentums, Aufklärung des Christentums Ingrid Lohmann Jüdische Identität zwischen Vernunft und Verbürgerlichung . . .

29

Ursula Goldenbaum Spinozismus zwischen Judentum und Christentum. Die jüdische Spinoza-Interpretation in ihrer Differenz zur christlichen Spinozarezeption . . . . . . . . . . . . . .

42

Cord-Friedrich Berghahn Gesetz – Schrift – Ritual. Moses Mendelssohns politisch-religiöses Konzept . . . . . . .

64

Björn Pecina Jüdische Christologie im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . .

85

Claus-Dieter Osthövener Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Bild der mosaischen Religion 109 Marianne Schröter Johann Salomo Semler und das Alte Testament . . . . . . . .

125

X

Inhaltsverzeichnis

Markus Buntfuss Johann Gottfried Herder: Nationalkultur und archaische Poesie . 141 Gesa Dane Gotthold Ephraim Lessings Verständnis des Judentums . . . . . 157 Peter Grove Immanuel Kant: Judentum und Vernunftreligion . . . . . . . 177 II. Schleiermachers Sicht des Verhältnisses von Christentum und Judentum Hans-Martin Kirn Friedrich Schleiermachers Stellungnahme zur Judenemanzipation im »Sendschreiben« David Friedländers. Die »Briefe bei Gelegenheit [...]« von 1799 . . . . . . . . . . 193 Arnulf von Scheliha Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede »Über die Religion« und ihre Rezeption bei Abraham Geiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Jörg Dierken Wesensbestimmung und Wesensunterscheidung. Monotheismus und Erlösung als Religionskategorien bei Schleiermacher . . . . 228 Jürgen Mohn »Die toten Schlacken des inneren Feuers«. Schleiermachers Religionsformel, ihre Rezeption und die Idee einer vergleichenden Religionsforschung . . . . . 243 Notger Slenczka Das Alte Testament als Problem des Kanonbegriffs . . . . . . . 267 Christine Axt-Piscalar Schöpfungsglaube und Monotheismus in Schleiermachers Glaubenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Inhaltsverzeichnis

XI

Hermann Fischer Jesus und das Judentum nach Schleiermachers ›Leben-Jesu‹-Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

Reinhold Bernhardt Schleiermachers christologische Fassung der ›Absolutheit‹ des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

325

Martin Ohst Schleiermachers Passionspredigten . . . . . . . . . . . . .

344

Christiane Ehrhardt »Erwachsen« oder »kindlich«? Religionspädagogische Aspekte des Verhältnisses Christentum /Judentum bei Schleiermacher . . . .

368

Simon Gerber Christentum und Judentum in Schleiermachers Vorlesungen über die Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

385

III. Profile zwischen Romantik und Klassischer Moderne Andreas Kubik Warum konvertieren? Anmerkungen zur Taufe der Dorothea Veit und Schleiermachers Haltung dazu . . . . . . . . . . . . .

405

Andreas Arndt Wandlungen in Hegels Bild des Judentums . . . . . . . . . .

417

Martin Laube Das Bild des Judentums bei David Friedrich Strauß . . . . . .

430

Jan Rohls Oratorium und Theologie. Mendelssohn, Schubring und Schleiermacher . . . . . . . . .

448

Joachim Ringleben Jesus und das Alte Testament in sprachphilosophischer Perspektive

478

XII

Inhaltsverzeichnis

Matthias Wilke Søren Kierkegaard liest Hiob. Eine Studie zu Kierkegaards Umgang mit dem Alten Testament

. 487

Folkart Wittekind Die religionskonstruktive Funktion der Bezugnahme auf das Judentum bei Ferdinand Christian Baur und Albrecht Ritschl . . 506 Helmut Holzhey Mittler zwischen Gott und Mensch. Hermann Cohens Auseinandersetzung mit Schleiermacher . . . 536 Andreas Urs Sommer Judentum und Christentum bei Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Uwe Becker Altisrael, Judentum und Pharisäismus bei Julius Wellhausen . . . 561 Ekkehard Mühlenberg Adolf von Harnack – Marcion und die Frage nach dem Stellenwert des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Eckart Otto Max Weber – Jahweglauben und Sozialgestalt des Judentums

. . 592

Hartmut Ruddies Liberaler Protestantismus und liberales Judentum. Das Beispiel Ernst Troeltsch . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Martin Arneth Leo Baecks Deutung der alttestamentlichen Prophetie . . . . . 622

Ansprache zur Eröffnung des Schleiermacher-Kongresses Ulrich Barth Lieber Herr Obst, sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrter Herr Landesbischof, Magnifizenz, werte Kollegen, liebe Mitglieder der Schleiermacher-Gesellschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich heiße Sie herzlich willkommen zum IV. internationalen Kongreß der Schleiermacher-Gesellschaft hier in Halle. Ich freue mich, daß Sie in so großer Zahl erschienen sind und damit Ihr Interesse bekunden für Schleiermacher, für die Arbeit unserer Gesellschaft und für das in den kommenden Tagen zu verhandelnde Thema. Meinen Vorrednern, die Sie soeben als Gastgeber oder als Repräsentanten von Staat, Kirche und Universität zu uns gesprochen haben, danke ich vielmals für die ebenso freundlichen wie nachdenklichen Worte. Mein besonderer Dank aber gilt Ihnen, Herr Kollege Wolffsohn, daß Sie sich auf meine Anfrage spontan bereit erklärten und großes Interesse bekundeten, uns am heutigen Abend den Eröffnungsvortrag zu halten. Ich denke, Sie werden auf Ihre Weise dafür sorgen, daß wir Schleiermacherianer nicht nur im eigenen Saft schmoren. Damit ein solcher Kongreß zustande kommen kann, bedarf es vielfältiger Unterstützung: der wie immer verläßlichen Gastfreundschaft der Franckeschen Stiftungen, der organisatorischen Hilfe der Universität, insbesondere der Theologischen Fakultät, des finanziellen Beistands der Schleiermacherschen Stiftung Berlin, dem Verlag Walter de Gruyter, der – dessen bin ich gewiß – sicherlich auch dieses Mal in bewährter Weise den Kongreßband betreuen wird, und schließlich und vor allem der Fritz-ThyssenStiftung in Köln, die durch ihre außerordentlich großzügige Förderung unsere Zusammenkunft ermöglich hat. Allen genannten Institutionen gilt mein persönlicher Dank und der Dank unserer Gesellschaft. Das Thema unseres diesjährigen Kongresses wurde auf der letzten Mitgliederversammlung in Berlin beschlossen. Man wird es mancherorts vielleicht nicht ohne Weiteres mit dem Namen Schleiermacher in Verbindung bringen. Doch wer seine Biographie oder sein Werk auch nur in Umrissen kennt, weiß, daß das Gegenteil der Fall ist. Die berühmten Salons der Henriette Herz, Dorothea Veit und Rahel von Varnhagen gehörten zu den prägenden Eindrücken seiner frühen oder – genauer gesagt – zweiten Berliner Zeit. Unter den allerersten Publikationen findet sich eine Flugschrift zum Thema Judenemanzipation, zu Beginn des Jahres 1799 in Potsdam verfaßt. Sie reagierte auf zwei anonyme Veröffentlichungen aus dem Schülerkreis Moses Mendelssohns. Schleiermacher stellt sich vorbehaltlos hinter die dort formulierten Ziele. Er widerspricht der

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damals verbreiteten Auffassung, Juden müßten erst zum Christentum übertreten, um gute Preußen zu werden, und plädiert dafür, die Frage des religiösen Verhältnisses und die Frage der staatsbürgerlichen Anerkennung strikt zu trennen. Die religiöse Frage hat er dann in fast allen seinen theologischen Publikationen behandelt: in den ›Reden über die Religion‹ (1799), in der ›Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‹ (1810), in der ›Glaubenslehre‹ (1821/22), in der ›Leben-Jesu‹-Vorlesung, in den Vorlesungen über Kirchengeschichte und natürlich in zahlreichen Predigten. Seine kontinuierliche Beschäftigung mit dem Thema entsprang der tiefen Überzeugung, daß die wissenschaftliche Darstellung des Christentums ohne eine profilierte Verhältnisbestimmung zum Judentum nicht möglich ist. Daß diese jedoch nicht mehr in den gewohnten Bahnen und mit Hilfe herkömmlicher Begriffe erfolgen kann, ergab sich aus der Einsicht, daß die soziokulturellen Umformungsprozesse der Neuzeit nicht nur beide Religionen für sich, sondern auch ihre Beziehung zueinander nachhaltig verändert haben. Bereits für die Aufklärung wurde die Frage nach dem Wesen des Judentums und nach dem Wesen des Christentums zur maßgeblichen Form einer den veränderten Bedingungen Rechnung tragenden Identitätsvergewisserung. Diesem methodischen Paradigma ist auch Schleiermachers Problemzugang verpflichtet. Nimmt man jene Unterscheidung von politischer und religiöser Frage hinzu, dann bestätigt sich das umsichtige Urteil Kurt Nowaks: »Schleiermachers Verhältnis zum Judentum ist ein vielschichtiger, partiell auch widersprüchlicher Komplex, vor dem moderne Urteilsmaßstäbe zu versagen oder doch in die Irre zu führen drohen«. Die Beziehung von Christentum und Judentum gehört zu den ebenso schwierigen wie sensiblen Themen der Gegenwart. Es ist durch die jüngere deutsche Geschichte in unvergleichlicher Weise belastet. Dennoch wäre es wenig hilfreich, wenn man die Analyse jenes Verhältnisses ausschließlich im Blick auf die Katastrophe des 20. Jahrhunderts vornähme. Denn hinter den Auseinandersetzungen und Konflikten, welche die gemeinsame Geschichte beider Religionen von Anfang an begleiteten und die im Zuge der Herrschaftsstellung des Christentums häufig in Unterdrückung und Verfolgung umschlugen, steht auch ein religionsgeschichtliches Sachproblem: Dem Christentum ist es eingestiftet, aus dem Judentum entstanden zu sein und sich gleichwohl zu einer eigenständigen Religion entwickelt zu haben. An dieser spannungsreichen Konstellation kommt keine theologische oder kulturgeschichtliche Betrachtung vorbei. Sie durchzieht die zweitausendjährige Beziehung beider Religionen wie ein roter Faden und begründet ein eigentümliches Ineinander von Nähe und Distanz. Im Zentrum unseres Kongresses soll Schleiermachers Sicht der Dinge stehen, in dessen Theologie der moderne Protestantismus seine wohl perspektivenreichste Fassung erhielt. Deren Herkunft und Wirkungsgeschichte machen es erforderlich, sie in die Vielfalt der religiösen und kulturellen Dimensionen einzuordnen, die das Verhältnis Christentum/Judentum in Deutschland zwischen Aufklärung und klassischer Moderne aufweist. Die Besonderheit von Schleiermachers Sicht scheint mir in einem Dreifachen zu liegen. Seine Zugangsweise zeichnet sich zunächst dadurch aus, daß er das infrage stehende Problem aus der Dogmatik herausnimmt und es auf die Ebene der vergleichenden Religionsgeschichte stellt – eine Disziplin, die es damals noch nicht gab und die auch

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ihm selbst nur in Umrissen vorschwebte. Der ältere, voraufklärerische Protestantismus argumentierte durchweg in dogmatischen Figuren. Mehrere Leitdifferenzen standen zur Verfügung: Auf der Ebene der Schriftlehre die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, auf der Ebene des Offenbarungsbegriffs die Unterscheidung von altem und neuem Bund, und auf der Ebene der Heilsgeschichte die Unterscheidung von Verheißung und Erfüllung. Diese Gesichtspunkte sind – wie wir wissen – auch heute noch mancherorts im Schwange. Schleiermacher hielt sie samt und sonders für untauglich. Er ist der Auffassung, daß Wesensbestimmungen und Wesensunterscheidungen auf dem Feld der Religion nur dann Plausibilität beanspruchen können, wenn die religiösen Überzeugungen des jeweiligen Forschers eingeklammert werden und ein methodischer Standpunkt oberhalb der eignen Glaubensweise bezogen wird. Darum wird das infrage stehende Problem in die historisch arbeitende Religionswissenschaft verwiesen. Deren Ergebnisse hat auch die Dogmatik als Grundlage zu akzeptieren. So ist die Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Judentum für Schleiermacher zunächst eine streng religionswissenschaftliche Aufgabe. Ihre konstruktiv-deskriptive Inangriffnahme setzt voraus, daß beide Religionen als selbständige Größen behandelt werden. Die genaue wissenschaftliche Beschreibung kann sich freilich nicht darin erschöpfen, allgemeine Klassifikationsmerkmale beizubringen, sondern darf erst dann als vollendet gelten, wenn es gelingt, die jeweiligen Individuationsbedingungen anzugeben. In deren inhaltlicher Bestimmung folgt Schleiermacher dann weithin dem Forschungsstand der Aufklärung. Nähen zu Semler, Reimarus, Jerusalem oder Michaelis sind unschwer zu erkennen. Häufig sind es merkwürdiger Weise gerade sie, die in Teilen der Sekundärliteratur als typisch schleiermacherisch eingestuft und inhaltlich beanstandet werden. In der Erforschung dieser Zusammenhänge wie seiner Verwurzelung in der Aufklärung überhaupt stehen wir noch in den Anfängen. Die Konzentration auf Gemeinsamkeiten mit Frühromantik, Herrnhuter Pietismus und Deutschem Idealismus hat den Blick für die Kontinuität zum Aufklärungsjahrhundert unzulässigerweise in den Hintergrund treten lassen. Schleiermachers zweite methodische Besonderheit scheint mir darin zu liegen, daß er das infrage stehende Problem in eine kulturhistorische Großperspektive einrückt. Wenn heutzutage von den geistigen Wurzeln Europas die Rede ist, dann wird in der Regel an erster Stelle die jüdisch-christliche Tradition genannt. Daneben begegnet zuweilen auch der Hinweis auf arabische oder islamische Elemente. Schleiermacher setzte die Gewichte ganz anders. Ihm war neben der biblischen Tradition vor allem der Einfluß Griechenlands wichtig. Das Christentum erschien ihm als die klassische Gestalt einer Kultursynthese: Aus der alttestamentlich-jüdischen Welt floß das Potential des ethischen Monotheismus, aus der griechisch-hellenistischen der Geist der Bildung und Wissenschaft. Das Christentum ist die Verschmelzung beider. In diesem Ineinander sind für Schleiermacher aber zugleich auch Momente wechselseitiger Relativierung enthalten. Der griechische Geist wurde durch den Glauben an den Einen Gott seiner Affinität zum Polytheismus entkleidet, umgekehrt wurde der monotheistische Kult von ersterem in die Sphäre humaner Bildung gelenkt. Das Christentum wäre nicht zu der Kraft geworden, als die es sich in der Geschichte Europas erwies, wenn es nicht spätestens mit

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Paulus seine alttestamentlich-jüdische Herkunft überschritten und sich der griechischhellenistischen Welt geöffnet hätte. Insofern wurde die Kontinuität zur Frömmigkeit des Alten Testaments nicht nur in religiöser Hinsicht durchbrochen, sondern auch auf kultureller Ebene. Schleiermachers Reserve gegenüber der hebräischen Bibel ist nicht allein durch sein pointiertes Jesus-Bild bestimmt, sondern mindestens ebenso sehr durch das Bewusstsein einer kulturellen Distanz. Als einem Kenner der frühen Philosophiegeschichte war ihm sicherlich nicht verborgen geblieben, daß auch das antike Judentum ohne den tiefgreifenden Einfluß der hellenistischen Kultur nicht zu jener Formation gefunden hätte, die es ins frühe Christentum ausstrahlen ließ. Jüdisch-hellenistische Synthesen von alttestamentlicher Frömmigkeit und griechischem Geist, wie sie etwa im antiken Seelenbegriff begegnen, spielen für ihn jedoch kaum eine Rolle – von einer Würdigung der sprachbildenden Kraft der Septuaginta, gerade auch bezüglich der Alten Kirche, ganz zu schweigen. Mit dem eben Dargelegten hängt der dritte Punkt eng zusammen. Gemeint ist der neuzeittheoretische Aspekt. Jede historische Wesensbestimmung einer Religion ist immer auch auf die eigene Gegenwart bezogen. Als begriffliche Vermittlung und reflektierte Aneignung wird sie insbesondere diejenigen Momente hervorheben, die sie für gegenwartsrelevant hält, und diese von solchen abgrenzen, die ihr nur noch als historisch bedeutsam erscheinen. Das besagt: Schleiermachers Beschreibung des Verhältnisses von Christentum und Judentum ist auch von neuzeittheoretischen Gesichtspunkten bestimmt. Die gerade erwähnte Relativierung des Alten Testaments für das Christentum ist vielleicht sogar in erster Linie modernisierungstheoretisch begründet. Altorientalische Schöpfungsmythen, Trübungen des monotheistischen Gedankens im Sinne bloßer Monolatrie oder mangelhafte bis fehlende Ausdifferenzierungen von Politik, Recht, Ethik und Frömmigkeit erschienen ihm nurmehr als Ballast im Prozeß soziokultureller Modernisierung von Religion. Daß er mit dieser Einschätzung nicht alleine steht und daß damit keineswegs nur Probleme des Christentums berührt sind, zeigt der Vergleich mit der Aufklärung und der Blick auf Judentumskonzeptionen von Moses Mendelssohn bis Leo Baeck. Insofern befinden sich liberales Judentum und liberales Christentum in einer durchaus vergleichbaren Lage. Der eigentliche Stein des Anstoßes, den Schleiermachers Theologie verkörpert, besteht darin, daß er der Meinung war, einzig und allein das Christentum – genauer gesagt: das protestantische Christentum – sei wahrhaft und in nachhaltiger Weise modernitätstauglich. Als wie illusionär sich diese Hoffnung erwies, zeigt die Fülle der Refundamentalisierungsbestrebungen, die innerhalb des neuzeitlichen Christentums kaum minder zu Buche schlugen als im Judentum. Wie es dem Islam diesbezüglich ergehen wird, steht noch aus. Die zuletzt berührten Fragen geben zugleich Gelegenheit, Schleiermachers Ansatz auch in theologiegeschichtlicher Form kritisch zu beleuchten. Das bisher Dargelegte wäre gründlich mißverstanden, wenn der Eindruck aufkäme, seine Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Judentum sei auch heute noch in allen Einzelheiten nachvollziehbar. Diesbezüglich hat bereits die religionsgeschichtliche Arbeit des 19. Jahrhunderts wichtige Revisionen vorgenommen. Ich will mich auf drei kurze Beispiele beschränken. Erstens, Schleiermacher sprach noch pauschal von ›alttestamentisch-

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jüdischer Religion‹, als handle es sich dabei um einen homogenen Komplex. Julius Wellhausen hat uns belehrt, daß es eine derartige Größe nie gab. Von Judentum in präzisem Sinne kann erst in nachexilischer Zeit gesprochen werden, als der Verlust der eigenen Staatlichkeit zur Neukonstitution als Religionsgemeinde zwang. Die vorausliegende Epoche zerfiel ihrerseits in zwei Phasen unterschiedlichen Religionstyps, altisraelitische Volksreligion und eher individuell verfasste prophetische Religion. Wegen dieser tiefgreifenden Differenzen hielt Wellhausen eine einheitliche Theologie des Alten Testaments für wissenschaftlich unmöglich und ersetzte diese Disziplin darum durch eine Geschichte der israelitisch-jüdischen Religion. Zweitens, Schleiermacher veranschlagte die Prägung Jesu durch die Frömmigkeit seines Volkes als vergleichsweise gering. Jesus war für ihn so etwas wie ein Neuanfang der Religionsgeschichte. Auch diese These ließ sich nicht halten, zumal sie von vornherein historisch wenig plausibel ist. Gestützt auf Wellhausen und Forschungen Emil Schürers hat Adolf von Harnack namhaft gemacht, daß Jesus nur aus der Beziehung zum zeitgenössischen Pharisäismus zu begreifen ist, und zwar im Positiven wie im Negativen. Beides zusammen besagt: Die geschichtliche Größe und Tragik Jesu resultiert daraus, daß er mit der Tiefe jener Frömmigkeit zugleich deren Widersprüchlichkeit entdeckte und klar benannte. Hier fokussiert sich jenes Dilemma, von dem eingangs die Rede war. Drittens, für Schleiermacher besteht die individuelle Besonderheit des Christentums – im Unterschied zu den beiden anderen Großgestalten von Monotheismus – im Glauben an Jesus als den Erlöser. Seine Befähigung dazu gründe in der ihm eigenen urbildlichen Würde, deren Kraft sich auf die gesamte Menschheit und über sämtliche Religionen und Kulturen erstrecke. Mit anderen Worten: Die Christologie wird zur dogmatischen Formel für die Absolutheit des Christentums. Ernst Troeltsch hat darauf hingewiesen, daß dogmatische Absolutheitsansprüche vielleicht dem Selbstverständnis vormoderner Einheitskulturen angemessen waren, daß sie aber spätestens seit der Aufklärung anachronistisch sind, weil sie konterkariert werden durch das Faktum gewordene Zusammenleben mit anderen Religionen und die faktische Notwendigkeit ihrer wechselseitigen Anerkennung. Troeltsch bezeichnete es als ein Schlüsselproblem der Moderne, ob und in welcher Weise es gelingt, Überzeugungstreue und Toleranz, Konfessionszugehörigkeit und Pluralismusbejahung mit einander zu vereinbaren. Signifikanteste Bewährungsprobe dafür ist die Verabschiedung jedweder Missionierung Andersgläubiger – womit ich nicht sagen will, daß etwa Schleiermacher ein Befürworter des Missionsgedankens gewesen wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe die drei genannten Positionen, Wellhausen, Harnack und Troeltsch, herausgegriffen, um anhand ihrer Korrekturen deutlich zu machen, in welcher Weise mir Schleiermachers Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Judentum revisions- bzw. ergänzungsbedürftig erscheint. Darüberhinaus krankt fast die gesamte Debatte von der Aufklärung bis zur Gegenwart daran, daß zumeist vier Ebenen durcheinander gehen, die genau zu unterscheiden wären, nämlich die Fragen: Jesus und das Alte Testament, Jesus und das Judentum, Christentum und Altes Testament sowie Christentum und Judentum – wobei die letztgenannte Relation, im weiten und abkürzenden Sinne, als die drei ersten implizierend verstanden werden kann. Alle vier Beziehungen

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hängen irgendwie miteinander zusammen. Doch überall ergeben sich unterschiedliche Überschneidungen und unterschiedliche Divergenzen, die nicht zur Deckung gebracht werden können. Mir scheint die eigentliche Schwierigkeit unseres Kongreßthemas darin zu liegen, daß wir es im Fall des Verhältnisses Christentum/Judentum mit einem vielschichtigen und mehrdimensionalen Zugleich von Identität und Differenz zu tun haben. Hier ist kritische Abwägung gefragt, das Gegenteil von pauschaler Etikettierung. Darum läßt sich der Gesamtkomplex auch nur in Form eines interdisziplinären Diskurses sinnvoll behandeln. Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte sind nicht minder gefragt als Theologie, Judaistik, Frömmigkeitsgeschichte und Religionswissenschaft. Ich hoffe und gehe fest davon aus, daß unser Kongreß eine Vielzahl neuer und wichtiger Erkenntnisse zutage fördern wird. Lösen lassen wird sich das gestellte Problem nicht. Aber der Zuwachs an Wissen und an hermeneutischer Sensibilität ist auch schon ein Gewinn. In diesem Sinne wünsche ich uns Allen, den Vortragenden wie den Zuhörenden, fruchtbare Tage der wissenschaftlichen Begegnung und eröffne hiermit den IV. Internationalen Schleiermacherkongreß.

Christentum und Judentum Michael Wolffsohn Kein Wort über Schleiermacher. Jedenfalls nicht von mir. Was könnte ich als Schleiermacher-Laie Ihnen, den Schleiermacher-Experten, anbieten? Unsinn, nichts als Unsinn. Wenn ich als Historiker dreist genug bin, bei Ihnen – allerdings als Reaktion auf eine sehr freundliche Einladung – einen Vortrag über »Christentum und Judentum« zu halten, so kann ich dies nur auf eine Weise wagen: Dass ich Ihnen einen, meinen historischtheologischen Versuch biete, wie ich ihn in meinem Buch »Juden und Christen – ungleiche Geschwister. Die Geschichte zweier Rivalen« dargestellt habe. Es ist im Jahre 2008 im Patmos-Verlag erschienen, und wahrscheinlich verdanke ich dieser Studie die außerordentlich ehrenvolle Aufgabe (und Freude!) meines heutigen Festvortrages. Allerdings kann ich Ihnen in diesem Rahmen nur zwei »Blöcke« als Gedanken-Pflöcke vorstellen. Erstens: Das Judentum im Spiegel deutscher Dichter, Denker und Macher. Zweitens: Wie das Christentum »jüdisch« und das Judentum »christlich« wurde beziehungsweise die Entjesuanisierung als Etatisierung.

1. Das Judentum im Spiegel deutscher Dichter, Denker und Macher Deutschlands Dichter und Denker, unsere Geistes-Riesen, selbst die hiesigen Geisteszwerge wissen es seit jeher: Der »Jüdische Gott« sei »zornig«, brutal und rachsüchtig, »alttestamentarisch« eben; »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« – das sei das Neue Testament. Oskar Lafontaine brachte es auf den Punkt: »Wird es im Heiligen Land Ruhe geben?« fragte er bang in der Bild-Zeitung im August 2001 unter der Überschrift »Auge um Auge, Zahn um Zahn«1 und beantwortete selbst die gestellte Frage: »Noch regiert das Alte Testament: Wer einen Menschen erschlägt, wird mit Tod bestraft. [...] Leben für Leben. [...] Auge um Auge [...] Zahn um Zahn. Den Weg zum Frieden weist das Neue Testament. Dort steht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«2 Der bedeutende deutsche Theologe hatte offensichtlich im Dritten Buch Mose, Leviticus, 19,18 überlesen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Johann Wolfgang von Goethe konnte nachtragend sein und dabei richtete er sich nicht zuletzt »nach dem erhabenen Beispiel des Judengottes«, der sich seinen »Zorn bis 1 2

Oskar Lafontaine, Bild, 27.8.2001. Ebd.

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in die 4te Generation behalte«.3 »Jehovas Donner« schreckte auch Hölderlin in seinem Gedicht »Die Unsterblichkeit der Seele«: »Und drohte nicht Jehovas Donner, Niederzuschmettern die stolze Eiche?«

Dass Christen das Alte Testament »abstoßen« sollten, hatte als erster vehement Marcion im 2. Jahrhundert verlangt. Mit diesem Mann der Antike und auch mit modernen Liberalen, die letztlich Ähnliches empfahlen, rechnet Joseph Ratzinger als publizierender Papst Benedikt XVI. mit sanften Worten unzweideutig ab: »Es ist nicht zufällig, dass Harnack als führender Vertreter der liberalen Theologie verlangte, nun endlich das Erbe Marcions zu vollstrecken und die Christenheit von der Last des Alten Testaments zu befreien.«4 Die »liberale Theologie« Adolf von Harnacks (1851–1930), der sich durchaus auch politisch betätigte, war nicht »liberaler« als der liberale Historiker und Politiker Theodor Mommsen (1817–1903). Dieser hatte zwar im »Berliner Antisemitismusstreit« 1879/80 die Antisemitismen seines Kollegen Heinrich von Treitschke (1834–1896) vehement und mutig bekämpft, letztlich von den Juden aber doch erwartet, sie mögen sich vom Judentum lösen. Diese Liberalität kann man überspitzt auf eine Formel bringen: »Antisemitismus nein, Judentum nein.«5 So ernsthaft, sachlich – und kenntnisreich –, wie Papst Benedikt XVI., hat sich kaum ein Christ mit der Heiligen Schrift der Juden auseinandergesetzt. Mit Nietzsche-Zitaten über den jüdischen Rachegott könnte man die Leser bombardieren,6 und kaum sanfter bezeichnete Max Weber das antike Judentum als »Vergeltungsreligiosität«.7 »Alttestamentarisch« ist auch für den Nobelpreisliteraten Günter Grass ein Negativ-Adjektiv: »Darauf trank der junge Gryphius seinen Becher Würzwein leer, starrte auf Nelke und Muskatblüte, die im Bodensatz blieben, verfinsterte sich alttestamentarisch«.8 In seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001 schlug Jürgen Habermas die Brücke von US-Präsident George W. Bush zum Gott des Alten Testaments: »Und die Sprache der Vergeltung, in der nicht nur der amerikanische Präsident auf das Unfassbare [den Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001] reagierte, erhielt einen alttestamentarischen Klang.«9 Der 3 4

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Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, Weimar 17. (18.) Oktober 1796, Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hrsg. von Emil Staiger, Frankfurt am Main 1966, 291–92. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Erster Teil, Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg u. a. 2007. Ratzinger/Papst Benedikt XVI. bezieht sich (ohne Seitenangabe vgl. aaO. 410) auf Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Erstauflage Leipzig 1900. Höchst lesenswert, wie der vermeintlich urkonservative Papst Benedikt XVI. das Alte Testament gegen den liberalen Harnack verteidigt (vgl. Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, (siehe Anm. 4), 154. Intensiv ist die Auseinandersetzung von Eckart Otto, Max Webers Studien des Antiken Judentums, Tübingen 2002, besonders 125ff. Zitiert nach E. Otto (s. o. Anm. 6), 126. Von der Last böser Zeit, aus »Der Butt«, http://www.radiobremen.de/online/grass/werke/last. shtml. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt am Main 2001, 10.

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»liberale« Bogen lässt sich mühelos von Habermas zu Theodor Mommsen und Adolf von Harnack (zurück)schlagen. Die unduldsame, geradezu totalitäre Weltsicht des Judentums schilderte schließlich Matthias Schulz in der Weihnachts-Titelgeschichte des »Spiegel« 2006.10 Kein Zweifel, trotz aller christlich-jüdischen Sonntagsreden und »Woche der Brüderlichkeit« – das Heiligste Buch der Juden und damit »das Judentum« – genießt in der deutschen Hochund Volkskultur keinen guten, menschenfreundlichen Ruf. Dies ist keine sonderlich gute Grundlage für den »Dialog der Religionen«. Wohlgemerkt, nicht von »Antisemitismus« beziehungsweise »Judenfeindschaft«, also Feindschaft gegen Juden, ist die Rede, sondern von mangelnder Wertschätzung des Judentums, der Jüdischen Religion. Jenseits der christlich-jüdischen Reizthemen, wie zum Beispiel das der vermeintlichen »Christusmörder«, stoßen wir auf fehlende Akzeptanz der jüdischen Substanz; nicht irgendeiner Substanz, sondern der jüdischen Substanz schlechthin: der Hebräischen Bibel. Lichtjahre trennen jene Einstellungen zu Goethes »Maximen und Reflexionen«. Toleranz reiche nicht, Akzeptanz sei anzustreben, meinte dort der Meister. Bis in die späten 1970er Jahre fand man in bundesdeutschen Schulbüchern meistens drei »Schablonen«. Die erste: »Das Judentum ist schlecht..., das Christentum ist gut.« Oder die zweite, freundlichere: »Das Judentum ist gut, das Christentum ist besser.« Und die dritte, sanft-gutmeinende: »Was am Judentum gut ist, ist ins Christentum übergegangen.«11 Diese intellektuelle (Schul-)Kindernahrung wirkte nachhaltig bei den künftigen Erwachsenen: Ende 2002 meinten 35 Prozent der Deutschen, »dass Rache und Vergeltung im Handeln von Juden eine größere Rolle spielen, als bei anderen Menschen«.12 »Es gibt bei uns ja auch kritische Meinungen über Juden. Woran nehmen Sie wohl Anstoß?«, fragte im Jahre 2003 TNS-Emnid »diejenigen« Deutschen, die Juden und Israel reflexartig, unreflektiert miteinander gleichsetzten. Am meisten, 65 Prozent, stießen sich an der »Politik Israels in den besetzten Gebieten«: am wenigsten, immerhin 19 Prozent, »am jüdischen Glauben«.13 Das bedeutet(e): Die Deutschen Michels (männlich wie weiblich) verinnerlichten, was sie von den deutschen Geistes-Goliaths immer wieder direkt oder indirekt, wissentlich oder unwissentlich, vernommen hatten. Nicht nur die Deutschen Michels. Das uralte Judenklischee wurde global auf Israel übertragen. Weltweit verabscheuen Herr und Frau Jedermann das heutige Israel, das von ihnen offensichtlich mit alten Bildern vom Judentum gleichgesetzt wird. Der Jüdische Staat verkörpert in ihren Augen das verabscheute (und so oft angewandte) Prinzip »Gewaltanwendung«. Eine in 27 Staaten im November und Dezember 2006 erhobene BBC-Umfrage ergab, dass es auf der Erde kein Gemeinwesen gibt, dessen »Einfluss« häufiger als »vor allem negativ« bewertet wurde: Israel 56%, Iran 54%, USA 51%, Nord10 »Gott kam aus Ägypten«, Der Spiegel, 22.12.2006. Vgl. den Verriss von Alan Posener, Die Welt, 2.1.2007. 11 Chaim Schatzker, Die Juden in den deutschen Geschichtsbüchern. Schulbuchanalyse zur Darstellung der Juden, des Judentums und des Staates Israel, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1981, 80ff, mehrere Autoren zitierend, besonders Michael Brocke und Herbert Jochum. 12 Infratest-Umfrage Oktober 2002 für das American Jewish Committee, Berlin, 16.12.2002, 2. 13 TNS-Emnid-Umfrage, Die Welt, 10.11.2003.

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Korea 48%.14 Bei neueren, ebenfalls globalen und nationalen Umfragen ergab sich das gleiche Bild. Beim Stichwort »Christentum« denken 71 Prozent der Deutschen dagegen an »die Achtung der Menschenrechte, ebenso viele an Wohltätigkeit. 65 Prozent bescheinigen Friedfertigkeit, immerhin 42 Prozent Toleranz und 36 Prozent Selbstbewusstsein. Alle diese Eigenschaften werden dem Christentum heute deutlich häufiger zugeordnet als noch im Jahr 2004, und zwar ohne dass der Anteil der gläubigen Christen an der deutschen Bevölkerung zugenommen hätte«, resümierten Elisabeth Noelle und Thomas Petersen im Mai 2006.15 Fast 2000 Jahre lang verstieß »die« Christenheit (nicht selten im Namen von Jesus als Christus beziehungsweise Erlöser) gegen die jesuanischen Normen von Liebe, Toleranz, Achtung der Menschenrechte oder Friedfertigkeit, und trotzdem wird »das Christentum« mit genau diesen hehren Werten assoziiert, während das beinahe ständig verfolgte Judentum eher mit brutalen Verfolgern gedanklich verbunden wird. Keine gute Grundlage für einen freundschaftlichen Dialog zwischen Christen und Juden. Pointiert ausgedrückt: Sowohl Jesus als auch das Judentum wurden in der »Christlichen Welt« von den Füßen auf den Kopf gestellt. Meine These lautet: »Der« Deutschen (gar »der« Christen«?) Bild vom Judentum und Christentum ist falsch. Eher gilt, wenngleich mit Ausnahmen, und verkürzt: Was sie für »typisch jüdisch« beziehungsweise »alttestamentarisch« halten (sie meinen dabei »alttestamentlich« und wählen das objektiv – nicht unbedingt und immer subjektiv gewollt – diskriminierende Adjektiv »alttestamentarisch«), findet man eher in der nach-jesuanischen Kirche, die sozusagen »jüdisch« wurde, weil und indem sie sich – als Antithese, versteht sich – am Alten, tempelbezogenen Judentum orientierte. Umgekehrt gilt: Was als »typisch christlich«, im Sinne von »jesuanisch«, wahrgenommen wird, findet man eher im Neuen beziehungsweise rabbinischen Judentum, das nach der Zerstörung des Zweiten Tempels (70 nach Christus) – aus denselben altjüdischen Quellen wie Jesus schöpfend, sie weiterentwickelte sowie als Reaktion auf Jesus – entstand. Das geschah ungefähr gleichzeitig: Die Ent-Jesuanisierung beziehungsweise Verkirchlichung des Christentums begann allmählich nach der Kreuzigung Jesu (29 oder 30 nach Christus), das Neue, sozusagen »jesuanische« Judentum, begann sich rund vierzig Jahre später zu formieren. Die kirchenchristliche Theologie wandte sich immer mehr von Jesus Lehre ab. Überspitzt formuliert, doch alles andere als falsch: Das kirchlich geprägte Christentum entsprach nach und trotz Jesus eher dem Klischee vom »Typisch-Jüdischen«: Hart und furchteinflößend. Das Neue Judentum, nach der Zerstörung des Zweiten Tempels ent14 BBC (Program on International Policy Attitudes – »Pipa«-) Umfrage Nov./Dez. 2006 bei 28.000 Befragten in 27 Staaten, BBC World Service Poll (London Januar 2007); Kurzfassung der Ergebnisse: IHT, 7.3.2007 und http://news.bbc.co.uk/2/shared/bsp/hi/pdfs/06_03_07_perceptions.pdf (06.07.2009). 15 Elisabeth Noelle/Thomas Petersen, Eine fremde, bedrohliche Welt. Die Einstellungen der Deutschen zum Islam, in: FAZ, 17.5.2006.

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standen, entsprach bis zur Gründung des Staates Israel eher dem christlichen Klischee vom unschuldig leidenden »Agnus Dei«, dem Opferlamm. Theologie, auch Ideologie, Ethik und Zeremonie, Soziologie und (damit zusammenhängend) Ökonomie des neuen, talmudischen, »bürgerlich«-rabbinischen NachTempel-Judentums, des »Neuen Judentums«, unterschied sich grundlegend vom Alten Judentum der Zweiten-Tempel-Epoche, in der die Priester-»Aristokratie« dominiert hatte und ab 70 nach Christus von der pharisäisch-rabbinischen Bourgeoisie abgelöst wurde. An ausgewählten Beispielen habe ich diesen Wandel in meinem Buch »Juden und Christen« beschrieben – ebenso wie den Wandel des Christentums, sein Abwenden von und nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg (wo und falls nicht völlig verweltlicht) und die Rückwendung zu Jesus. »Wie die Juden Christen und die Christen Juden wurden« – das ist seit einigen Jahren eines meiner Themen. Heinrich Heine hat diesen historischen Paradigmenwechsel, fast »Kopernikanische Wende«, von Judentum und Christentum sowie den beginnenden »Rückfall« des Neuen zum Alten Judentum (fast prophetisch?) unübertroffen ironisiert, wenngleich theologisch verkannt, denn Durst auf Judenblut widersprach auch der ent-jesuanisierten christlichen Theologie fundamental. An Edom Ein Jahrtausend schon und länger, Dulden wir uns brüderlich, Du, du duldest, dass ich atme, Dass du rasest, dulde ich. Manchmal nur, in dunklen Zeiten, Ward dir wunderlich zu Mut, Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut! Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie Du.16

»Seit Auschwitz ist der Auftrag des Versöhnens und des Annehmens in seiner ganzen Unabweisbarkeit vor uns hingetreten«,17 stellte Kardinal Joseph Ratzinger fest und benannte die Kopernikanische Wende des Christentums gegenüber dem Judentum. Nach dem ersten sei der zweite, ebenfalls weitgehend gleichzeitige Paradigmenwechsel beschrieben: Wie sich das Christentum – nach Weltkriegen und Holocaust (die es nicht verursachte,18 aber, weil in der zunehmend säkularisierten, Kirche und Staat tren16 Heinrich Heine, An Edom, in: Marcel Reich-Ranicki, Meine Gedichte. Von Walther von der Vogelweide bis heute, Frankfurt am Main 2003, 121. 17 Joseph Kardinal Ratzinger, Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, 4. Auflage, Urfeld 2005, 18. 18 Zurecht erklärt Kardinal Ratzinger, Salz der Erde, Christentum und Katholische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Gespräch mit Peter Seewald, 11. Auflage, München 2006, 267, dass »der Holocaust

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nenden Welt viel zu schwach, leider nicht verhinderte) – wieder stärker auf Jesus besann und wie »das« Judentum seit Zionismus (1897) und Israels Staatlichkeit ab 1948 »altjüdisch«, also »militanter« wurde, scheinbar den alttestamentlich-jüdischen Staaten ähnlich. Aufrichtig, reumütig hat »das« Christentum seine Lehren aus der Geschichte gezogen – auch die Jüdische Welt, als Folge der ihr von der Christlichen erteilten »Lektionen«. Der vermeintliche »Rückfall« ins Alte Judentum ist eher die Folge »christlicher« »Lehren« als jüdischer Lehre. Diese Einschätzung ist keineswegs »kirchenfeindlich«. Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., schreibt in anderem Zusammenhang letztlich Ähnliches: Das heutige »Lebensmodell« des Christentums »überzeugt nicht. Es scheint den Menschen rundum einzuengen, ihm die Freude am Leben zu versauern; ihm seine köstliche Freiheit zu beschneiden, ihn nicht – wie die Psalmen sagen – ins Weite, sondern ins Enge und Kleinliche zu führen.«19 War Jesus nicht auch erschienen, um die Menschen aus der vermeintlich jüdisch-»alttestamentarischen« Enge und Härte herauszuführen? Mit anderen Worten umschreibt das heutige Kirchenoberhaupt die »Judaisierung« des Christentums durch die Kirche. Von zwei »Paradigmenwechseln«, »Umkehrungen« der »Entwicklungsströme« oder gar zwei »Kopernikanischen Wenden« könnte man sprechen. Sie kehren das herkömmliche Bild vom Juden- und Christentum um. Der eine Entwicklungsstrom reichte von Kreuzigung und Tempelzerstörung (1. Jahrhundert) bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung Israels (1945/48). Befinden wir uns seit rund einem halben Jahrhundert im zweiten Entwicklungsstrom? Werden die Christen jesuanisch, die Juden, zumindest in Israel, »typisch jüdisch«? Skepsis ist geboten, denn ein Blick auf die Galerie der Großen Meister, auch der gerühmt weltoffenen wie Habermas, lässt wenig innere Wertschätzung des ElementarJüdischen, also des Alten Testamentes, erkennen. Wenn, wie erwähnt, eine Geistesleuchte wie Jürgen Habermas vor der Geisteselite Deutschlands bei der Vergabe des Friedens(!)preises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche den Geist des Alten Testamentes mit der Politik des US-Präsidenten George W. Bush fast primitiv polemisch gleichsetzt, ohne einen Proteststurm auszulösen, kann man beim besten Willen nicht davon sprechen, dass hierzulande innere Wertschätzung gegenüber »dem Judentum« vorherrsche. Der »Antisemitismus«-Vorwurf ist unangebracht, von Verständnis oder gar Freundschaft kann man aber wohl nicht reden. Auch wenn es »Fortschrittliche« nicht gerne lesen: Indem Papst Benedikt XVI. in seiner Theologie, nicht zuletzt in seinem Jesus-Buch (2007), immer wieder Brücken der wertschätzenden Kontinuität zum Alten Testament schlägt, ist er der bessere Judenfreund gewesen – zumindest bis nicht von Christen und nicht im Namen Christi begangen worden ist, sondern von Anti-Christen und auch als Vorstufe der Austilgung des Christentums« seien die Morde der Nationalsozialisten gedacht gewesen. Das mag zu weit gegriffen sein, ist aber nicht unser Thema. 19 Joseph Ratzinger, Eine nichtkonfessionelle christliche Religion? Reflexionen im Anschluss an den Vorschlag von Senatspräsident, in: Joseph Ratzinger/Marcello Pera, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der Europäischen Kultur, Augsburg 2005, 134.

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zur Neuauflage der Karfreitagsbitte im Frühjahr 2008 und der Wiederaufnahme der Pius-Bruderschaft im Januar 2009. »Mit der Zentralität der Liebe hat der christliche Glaube aufgenommen, was innere Mitte von Israels Glauben war«, schrieb der Papst in der Einführung (!) seiner ersten (!) Enzyklika mit dem bedeutungsvollen Titel »Gott ist Liebe«, »Deus caritas est«.20 Klarer konnte die Rückkehr des katholischen Christentums zu Jesus nicht formuliert werden. Wie wir inzwischen lernen mussten, sind aber selbst Gottes Wege zur Liebe manchmal unerforschlich. Theologisches Neuland beschreite ich nicht, ich wildere auch nicht im religionswissenschaftlichen Revier, sondern nähere mich als Historiker der jüdisch-christlichen Theologie mit Methoden der Geschichtswissenschaft. Das eine oder andere Ergebnis mag überraschen – es hat auch mich überrascht. »Unsere älteren Brüder«. So nannte Papst Benedict XVI. in seiner Amtseinführung am 24. April 2005 die Juden. Politisch korrekter ließ er Kardinal Meisner am 5. Juli 2005 von den »älteren Brüdern und Schwestern« sprechen, und beim Besuch der Kölner Synagoge wünschte sich das Oberhaupt der Katholiken »geschwisterliche Beziehungen« von Christen und Juden.21 Ähnlich das an Juden gerichtete »Genesis«-Zitat von Papst Johannes XXIII.: »Ich bin euer Bruder Josef.« Vergaß dieser gütige, wunderbare Reformpapst, dass außer Benjamin Josefs Brüder, vorsichtig ausgedrückt, moralisch nicht unbedingt vorzeigbar oder vorbildlich waren? Wer weiß es? Jedenfalls ist das Wortbild des gegenwärtigen Papstes den Juden gegenüber noch wohlwollender. Es gibt also Fortschritte in der katholisch-jüdischen und, Legion sind die Beispiele, auch in der protestantisch-jüdischen Verständigung. Inflationär sind andere Familien-Sprachbilder, mit denen Wissenschaftler ebenso wie die christlich-jüdische vox populi die Beziehung beider Religionen beschreiben: Oft, besonders im alljährlichen Deutschland-Ritual der »Woche der Brüderlichkeit«, wird das Judentum als Mutterreligion des Christentums bezeichnet, als demnach generationell und nicht geschwisterlich ältere Religion. Das ist politisch besonders korrekt. Inhaltlich falsch, meint zum Beispiel der Pädagoge Micha Brumlik, der, wie ich als Historiker, ebenfalls in theologischen Gefilden wildert. Laut ihm habe das Christentum das rabbinische Judentum in seiner heutigen Form provoziert und sei deshalb ein älteres Geschwister des Judentums.22 Noch weiter geht der US-amerikanische Judaist Jacob Neusner, den Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. gerne liest und häufig zitiert:23 Das Judentum sei, so Neusner, eine »Tochterreligion« des Christentums.24 Als »jüdische Religion« betrachtete der Jerusalemer Neutestamentler David Flusser das Christentum25 und der große Leo Baeck nannte das Evangelium (offenbar alle Evan20 21 22 23 24

Papst Benedikt XVI., Enzyklika. Gott ist Liebe, Deus caritas est, Vatikanstadt 2006, 6. hjf (Hans-Joachim Fischer), FAZ, 20.8.2005. Das Manuskript wurde mir freundlicherweise von Micha Brumlik zugesandt. Jacob Neusner, In the Matrix of Christianity, Atlanta 1991. Die Thesen und Positionen fasst zusammen und interpretiert Matthias Morgenstern, Mutter, Schwester? Tochter?, in: FAZ, 22.9.2004, 8. 25 David Flusser, Das Christentum, eine jüdische Religion, München 1990; ders., Jewish Sources in

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gelien) eine »Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte«, so der Titel von Band 4 seiner Werke: »[J]enes alte Evangelium, das noch nicht zum Kirchlichen und zum Gegensatz gegen das Judentum überarbeitet war, gehört noch ganz in das Judentum hinein und zum Alten Testamente hin, so wie es in der Sprache des jüdischen Landes geschrieben war und in das jüdische Schrifttum hinein gehört. Jesus und sein Evangelium können nur aus dem jüdischen Denken und Fühlen heraus, vielleicht ganz darum nur von einem Juden verstanden werden, ähnlich wie seine Worte in ihrem ganzen Inhalt und Klang gehört werden, nur wenn man sie in die Sprache, in der er sprach, zurückführt. Die Grenze, die das Judentum scheidet, beginnt bei der paulinischen Predigt, dort, wo das Geheimnis nur ohne das Gebot, der Glaube nur ohne das Gesetz sein will.«

Das Fazit der Gelehrsamkeit? ... und sind so klug als wie zuvor. Versuchen wir es historisch und inhaltlich, indem wir den Mut aufbringen, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen (Kant), ohne mit Sprachbildern welcher Art auch immer zu jonglieren. Tatsachen lassen wir sprechen, vor allem die Quellen. Wir ordnen sie als theologisch interessierte Historiker ein, ohne bei den Theologen zu wildern.

2. Wie das Christentum »jüdisch« und das Judentum »christlich« wurde beziehungsweise Entjesuanisierung als Etatisierung Weder an Ernest Renan noch gar an Paul de Lagarde sei angeknüpft. In Anlehnung an Lagarde hatte Renan, mit Antisemitismen noch deutlicher gespickt, behauptet, das Christentum beinhalte mehr Paulus als Jesus.26 Paulus mit seiner »durch und durch jüdischen Seele«27 »sei durch seine rabbinische Theologie Verderber der christlichen Religion geworden«,28 habe »dem Evangelium vollständig fremd gegenübergestanden und es »systematisch umgedeutet«.29 Übertroffen wird diese antisemitische Polemik von nationalsozialistisch geschwängerten Vorstellungen, die den Juden »Jesus als Rache der Juden an den Germanen« bezeichnen und deshalb alte Germanenkulte wieder beleben möchten30 und »die Verjudung der Germanen durch das Christentum«31 anprangern. Early Christianity, New York 1987; ders., Judaism and the Origins of Christianity, Jerusalem 1988. 26 Vgl. Ernest Renan, Paulus, autorisierte deutsche Ausgabe Leipzig/Paris 1869. Besonders Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, 162–63. 27 In: »Konservativ«, 1853, zitiert bei Sieg (s. o. Anm. 26), 58. 28 Zitiert nach: Sieg, (s. o. Anm. 26), 318. 29 Sieg (s. o. Anm. 26), 170. 30 Vgl. zahlreiche, natürlich anonyme, Zuschriften an Michael Wolffsohn seit 1988. Einsehbar im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Bestand Michael Wolffsohn, Zuschriften. 31 Aus Kardinal Ratzingers Erinnerungen an seine Kindheit während der NS-Zeit, in: Ratzinger, Salz der Erde (s. o. Anm. 18), 267.

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»Das« Christentum und »das« Judentum jeweils als Einheit zu betrachten, ist natürlich gewagt und im Detail verfälschend. Dennoch gibt es bei allen notwendigen Differenzierungen innerhalb des Juden- und Christentums durchaus grundsätzliche Gemeinsamkeiten im Innern sowie gegenüber der anderen Religion. Unsere Sichtweise ist »dichotomisch«, also zweigeteilt. Kirche(n), Christentum und Christen entfernten sich nach Jesus trotz ihrer fast monumentalen Vielfalt zunehmend von ihren jesuanischen Wurzeln und wurden – ohne jüdischen Einfluss – in dem Sinne immer »jüdischer«, dass auf ihr Christentum zutraf, was die eingangs geschilderte Wahrnehmung als »typisch jüdisch« bezeichnet. Nehmen wir Otto von Bismarcks markigen Spruch »Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt!« Natürlich repräsentierte dieser weltlich-preußische Junker nie »das« Christentum, geschweige denn irgendeine Richtung christlicher Theologie, aber er verstand sich als guter Christenmensch. In diesem, am 6. Februar 1888 dem Deutschen Reichstag hingeschleuderten Satz fanden sich seinerzeit und auch lange danach Millionen christlicher Deutscher wieder: Sie fürchteten Gott, wie unzählige andere Christenmenschen. Liebten sie ihn? Die Gläubigen gewiss, aber sie fürchteten ihn ganz offenbar mindestens ebenso. »Gott ist die Liebe«? Nein, Furcht, Angst, Zorn, Rache, Blut, Eisen – »typisch jüdisch«. Der »Eiserne Kanzler«, der den Deutschen »Blut und Eisen« zumutete, war – Ironie der Geschichte – als typischer Preuße, so gesehen, »typisch jüdisch«. Ist das konstruiert? Nein, wir haben die jeweiligen Wahrnehmungsprämissen ernst genommen und ad absurdum geführt. Lang ist die vermeintliche typisch jüdische Blut-und-Eisen-Spur im Christentum. Diese Entjesuanisierung des Christentums – und es war eine totale Entjesuanisierung – begann mit der Paganisierung beziehungsweise Romanisierung, nicht mit der Heidenmission, sondern mit der Übernahme des Christentums durch Staaten, allen voran dem Imperium Romanum. Die Religion der Märtyrer wurde seit Konstantin dem Großen, also seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert, »auf einen Schlag«, 312 beziehungsweise 387, die Religion der Mächtigen, nicht unbedingt des Moralischen, denn der »erste christliche Kaiser« ließ sich auch als heidnischer Sonnengott anbeten und führte als Mörder von Sohn und Gattin nicht unbedingt ein gottgefälliges Leben. »Ein Reich, ein Kaiser, ein Gott.« Damit wurde, so der Mediävist Franz Georg Maier, theologisch durch Eusebius von Caesarea, einem Berater Konstantins, »ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Christentum und römischem Imperium propagiert«.32 »Für das Christentum konnte der Kaiser zwar niemals als Gott erscheinen, aber seine Legitimierung und moralische Autorität empfing er notwendig von Gott.«33 Im »Dritten Rom« der altrussischen Orthodoxie hatte der Zar seit der Verdrängung der Mongolen im 15. und 16. Jahrhundert eine Konstantin vergleichbar herausgehobene, gleichsam »orientalische« Machtfülle.34 32 Franz Georg Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, Frankfurt 1968, 45. 33 AaO. 35. 34 Vgl. Werner Philipp, Altrussland bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, in: Propyläen Weltgeschichte, Band 5, erster Halbband, hrsg. von Golo Mann und Alfred Heuss, Frankfurt am Main u. a. 1963, 270–71.

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Die Paganisierung war daher zugleich eine Etatisierung. Anders formuliert: Die Entjesuanisierung der Kirche(n) hängt mit ihrer Staatsnähe beziehungsweise ihrer Nähe und Verflechtung mit den politisch Mächtigen der jeweiligen Staaten (L’. . . tat) zusammen. »So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört«. Das war Jesus (Mk12,17), die Trennung von Religion und politischer Macht. Auch das war Jesus: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh18,33). Sehr wohl »von dieser Welt« war das Imperium Romanum. Kaiser Konstantin der Große hatte »was des Kaisers« und nahm sich »was Gottes«, indem er sich aktiv und massiv in Kirchliches einmischte und der Kirche – siehe das Konzil von Nicäa 325 nach Christus – sogar Dogmatisches geradezu diktierte. Gewiss, es »ging um« Jesus als Gott oder Mensch oder als Gott und Mensch und Gottes Sohn. Es wurde formuliert »gezeugt aus dem Wesen des Vaters, gezeugt und ungeschaffen, und wesenseins mit dem Vater«, aber das Primat der Reichspolitik wog schwer, Konstantin wog politisch schwerer als Jesus. Die Trennung des Religiösen vom Politischen war fortan auch im Christentum, bis zur »Aufklärung« und den Bürgerlichen Revolutionen, für Jahrhunderte aufgehoben. Beide Sphären waren, wie so oft seit der »Orientalischen Despotie«, dem antiken Gottkönigtum und Gottkaisertum und natürlich auch der von Esra und Nehemija begründeten, bornierten jüdischen Theokratie des Zweiten Tempels, mehr oder weniger eng miteinander verwoben. Natürlich hatte es diese Verflechtung schon während des Ersten Tempels – und davor – gegeben. Der Prophet Samuel hatte »die Juden« noch davor gewarnt, »wie alle Völker« einen König über sich zu setzen. Seit es jüdische Könige gab, rangen, »wie bei allen Völkern«, die beiden Sphären miteinander. So gesehen, setzte das Christentum seit Konstantin nicht nur, aber doch auch altjüdische Muster fort. Die Krönung mittelalterlich-christlicher Könige und Kaiser glich – logisch und historisch – der Salbung biblischer Könige, zum Beispiel Sauls und Davids durch Samuel. Wie diese jüdischen Ur-Könige waren sie und die frühneuzeitlichen Monarchen Herrscher »von Gottes Gnaden«, die (katholische) Kirche Kirche von Staates Gnaden. Deshalb ist hier Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. zu widersprechen. Er schreibt: »Das katholische Prinzip steht an sich dem Staatskirchentum entgegen.«35 Zuzustimmen ist dieser Aussage freilich in einem anderen Zusammenhang: Die katholische Kirche ist keine nationale Staatskirche, sie ist staatenübergreifend. Das böse deutsche Wort aus dem späteren 19. Jahrhundert von den Katholiken (also nicht nur von den »Sozialisten«, danach Kommunisten) als »vaterlandslosen Gesellen« findet hier seinen historischsachlichen und positiven Ursprung. Aber auch Joseph Ratzinger schränkt seine Aussage ein: »Tatsächlich hat sich aber auch im katholischen Bereich in Europa – jedenfalls seit dem Beginn der Neuzeit – überall das Staatskirchentum durchgesetzt und so praktisch den Glauben auch zu einer Sache des Staates werden lassen«.36 Die Reformation änderte am Staat-Kirche-Muster wenig. Das Bündnis von Thron und Altar, im Preußentum auf die Spitze getrieben, bestand im Kern bereits seit der 35 Joseph Ratzinger, Eine nichtkonfessionelle christliche Religion? (s. o. Anm. 19), 123. 36 AaO. 124.

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Reformation. Die Anglikanische Kirche? Sie war, im wörtlichen Sinne, ein Liebesergebnis der Politik Heinrichs VIII. Auch in Skandinavien wurde die Reformation durch königliche Machtworte eingeführt und den Menschen aufgesetzt. Byzanz, das Zweite Rom, und Moskau, das Dritte Rom, passen ebenfalls in dieses Muster: Christentum und Staat waren ineinander verzahnt – und verbissen sich dabei nicht selten ineinander. Der mittelalterliche Investiturstreit ist nur eines von vielen Beispielen der christlichen Geschichte, in der sich nahe und ferne Christen nicht so liebten wie sich selbst. Höchst unterschiedlich waren dabei die christlichen Staatsmodelle. Sie schwankten zwischen einem christlichen Universalreich und christlichen Partikularreichen beziehungsweise -staaten. So oder so, das jeweilige Christentum sollte sich im Staat, eben in einem christlichen Staat entfalten. Als gedanklicher und zeitweise historischer Kern des »Gottesstaates« war der Kirchenstaat konzipiert und organisiert worden. Abgesehen von den gänzlich unterschiedlichen Machtvorgaben und -entwicklungen: Unterschied sich das Modell des Kirchenstaates als »Gottesstaat« konzeptionell, im Ansatz, grundsätzlich von der jüdischen Theokratie des Zweiten Tempels? Mehr als hier vereinte der Papst im Modell des Kirchenstaates die religiöse mit der weltlichen Macht in (s)einer Person. Zum rabbinischen, ganz und gar unmonarchischen Judentum wurde auf diese Weise die Distanz des staatlich gestützten Christentums strukturell noch größer. Und noch größer wurde sie dadurch, dass dieser Staat nicht irgendeiner, sondern eben Rom war. Jenes Rom, das im Jahre 70 den Zweiten Tempel zerstört, 115 bis 117 die diasporajüdischen Aufstände in Ägypten, Cyrenaika, Libyen, Zypern, Mesopotamien und den Guerillakrieg Bar-Kochbas in »Palästina« zwischen 132 und 135 blutig niedergeschlagen hatte. Zusätzlich entfremdet (und nicht zuletzt durch das Wirken der Kirchenväter teils verfeindet) waren Christentum und Judentum auch durch die demografische (und damit zusammenhängende geografische) Paganisierung der Christenheit, deren große Mehrheit nunmehr nicht im »Heiligen Land« lebte. Kirchenväter, Paganisierung und die römische Etatisierung waren ein stabiler Grundstein christlich-jüdischer Entfernung. Seitdem Rom christlich war, nannten es die Rabbinen »Esau«, den feindlichen Bruder Jakobs. Schon bevor Rom christlich wurde, sagte Rabbi Jose Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, nach der blutigen Niederschlagung des Bar-KochbaAufstands, dass selbst der Messias die Huldigung Roms nicht annehmen würde.37 Das Judentum hatte sich zu jener Zeit von Staat und Staatlichkeit längst gelöst. Es war, so gesehen, »moderner« geworden, entbehrte der Staatlichkeit, bedurfte ihrer nicht (mehr) und lebte geradezu von der Trennung zwischen Religion und Politik – sofern die Politik beziehungsweise der Staat das (Über-)Leben der Juden gewährleistete. Ganz und gar unfreiwillig, der Not gehorchend, war dieser jüdische Verzicht erfolgt, denn im Jahre 70 nach Christus hatten die Römer, hatte der spätere Kaiser Titus, den Zweiten Tempel und damit die jüdische Staatlichkeit (damals in Form einer Quasi- oder besser: Nicht-ganz-Autonomie) zerstört. 37 Peter Schäfer, Zur Geschichtsauffassung des Rabbinischen Judentums, in: Ders., Studien zur Geschichte und Theologie des Rabbinischen Judentums, Leiden 1978, 40.

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Bis 1948 bestand das »Jüdische Volk« ohne jüdischen Staat. Durch die prinzipielle Verflechtung von Religion und Staat konnte Kirchenvater Augustinus an die »Civitas Dei«, den »Gottesstaat«, denken, ihn in seiner berühmten Schrift beschreiben und entwerfen. Für die Juden war dies bis zum Zeitalter der modernen Nationalstaaten, bis zur Entstehung des politischen Zionismus (1897) undenkbar, weil unmöglich und als möglich nur weltlich, nichtreligiös denkbar. Das wiederum rief die jüdische Orthodoxie auf den Plan, die sich nach langem, heftigem Ringen mehrheitlich (nicht insgesamt) entschloss, den Zionismus »von innen« zu »judaisieren«, sozusagen den »Marsch durch die Institutionen« von Zionismus und Staat Israel anzutreten. Dieses weite Feld betreten wir hier nicht.38 Die jüdische Gemeinschaft war seit der Zerstörung des Zweiten Tempels staats- und staatenlos. Auch ohne Staat blieb sie eine Gemeinschaft, ja, ein »Volk«. Zwei Faktoren trugen dazu bei. Durch das Alte Testament (die »Hebräische Bibel«) und besonders den Talmud, der alle Gebote und Vorschriften fixierte und kommentierte, war das Judentum eine tragbare, transportierbare Religion geworden. Das Gemeinschaftsgebet bedurfte zudem keiner besonderen Bauten, nicht einmal eigentlich einer Synagoge (hebräisch »Beit Knesset« = Versammlungshaus beziehungsweise Forum wie das »Forum Romanum«, durchaus, als allgemeiner Treffpunkt, mit Marktcharakter, also ganz und gar »unkirchlich«). Zehn Personen, Männer (!), genügten und genügen für das jüdische Gemeinschaftsgebet. Es kann in jedem beliebigen Raum stattfinden. Einen hohen Preis hat »das Judentum« dafür bezahlt: seine ästhetische Tradition, die Bildende Kunst blieb unterentwickelt. Genauer: sie wurde gar nicht entwickelt. Der zweite Faktor: Nicht mehr der gemeinsame Staat auf dem gemeinsamen Territorium (modern formuliert, aber nur sehr bedingt terminologisch und konzeptionell übertragbar), der »Nationalstaat«, verband die Juden untereinander, sondern ihre Zugehörigkeit durch Geburt, genauer: durch die eindeutig zuzuordnende Geburt. Das musste bedeuten: Jude ist, wer als Kind einer jüdischen Mutter geboren wird. Musste? Natürlich, denn der Vater war (vor DNA-Analysen) nicht eindeutig zuzuordnen. Rein pragmatisch entschieden sich die talmudischen Weisen für diese Regelung.39 Im Talmud-Traktat »Kidduschin« (beziehungsweise Qiddusin), 3,12 lesen wir den Gebots- beziehungsweise Mischnah-Text, der so beginnt: »In jedem Falle, wo die Antrauung gültig ist und dabei keine Sünde begangen wird, folgt das Kind dem Manne. [...] In jedem Falle, wo die Antrauung gültig ist und dabei eine Sünde begangen wird, folgt das Kind dem Bemakelten. [...] In jedem Falle, wo ihre Antrauung mit diesem nichtig ist, mit einem anderen aber gültig sein würde, ist das Kind ein Hurenkind. [...] In jedem Falle, wo ihre Antrauung mit diesem nichtig ist und auch mit einem anderen

38 Vgl. dazu ausführlich Michael Wolffsohn, Politik in Israel, Opladen 1983, Kap. 1, 4, 21, 49. 39 Freilich schien schon zu Esras Zeit (5. Jahrhundert vor Christus) die Religion der Mütter entscheidend gewesen zu sein: Nichtjüdische Frauen und deren Kinder wurden vertrieben (Ezra10,2–3). Das bedeutet: die Kinder jüdischer Frauen galten als Juden. Vgl. auch Deuteronomium7,1–5.

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nichtig sein würde, gleicht das Kind ihr; dies ist der Fall beim Kinde einer Sklavin oder einer Nichtjüdin.«40

Diesen alles andere als leicht verständlichen Gebotstext der Mischnah interpretierten in der Gemara, dem zweiten und kommentierenden Teil des Talmud, die rabbinischen Weisen intensiv und extensiv, jedes Detail hin- und her- und zurückwendend – wie es sich für anspruchsvolle Gesetzeskommentatoren gehört.41 Ethisches, kaum Ethnisches beschäftigte hier die talmudischen Gelehrten. Das ist auch Talmud-Unverständigen verständlich; ebenso die höchst pragmatische, fallbezogene, unideologische Denkweise. Übertritte, »Konversionen«, waren und sind möglich, doch seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert war die Neugewinnung von Juden den Juden faktisch verboten, und auch seit der rechtlichen Gleichstellung der Juden blieb der Weg zum Judentum eher ein kleiner – und innerjüdisch nicht sonderlich populärer – Pfad. Im Begriff »Volk« schwingt, wie beim Wort »Nation«, Biologisches, denn in ein »Volk«, in eine »Nation«, wird man hineingeboren: Ich wurde geboren, Lateinisch: »Natus sum«, in eine, in meine Gemeinschaft, meine »Nation« geboren, im biologischen Sinne: in mein »Volk«. Die (auch von den talmudischen Weisen) so verstandene Volks-Zugehörigkeit zum Judentum, zum »Volk« der Juden, war, – anders als man »nach Auschwitz« reflexartig fürchtet – obwohl biologisch, ganz und gar unideologisch, geschweige denn »völkisch« und »rassistisch«. Völlig unbefangen hat diese »Stimme des Blutes« der große jüdische Humanist Franz Rosenzweig (1886–1929) Anfang der 1920er Jahre verwendet.42 Als »Blutsgemeinschaft«43 brauchte das Judentum kein Territorium mehr, und durch die Geschichte wurde die Blutsgemeinschaft auch zur Schicksalsgemeinschaft. »Wir allein vertrauten dem Blut und ließen das Land.«44 Aus seinem Territorium kann ein Volk – siehe das Erste (586 vor Christus) und Zweite Jüdische Exil (70 nach Christus) – vertrieben werden, nicht aus seiner »Blutsgemeinschaft«. Diesen Umstand hat Rosenzweig mit folgenden Worten formuliert: »So verrät die Erde das Volk, das ihrer Dauer die seine anvertraut; sie selbst dauert wohl, aber das Volk auf ihr vergeht.«45 Das hatte der jüdische Religionsphilosoph vor Gründung des neuen Jüdischen Staates geschrieben. Seit »Israel«, seit 1948, wurde das Jüdische Volk durch seine erneute Territorialbezogenheit, auch so gesehen, wieder »wie alle Völker« und zugleich wie es (trotz aller fundamentalen Unterschiede) einst, zur Zeit der beiden Tempel, gewesen war. 40 Der Babylonische Talmud, neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt, Band VI, Frankfurt am Main 1996, 737. 41 AaO. 737ff. Vgl. auch Maimonides, Ha-Yad Ha-Chazaka, Buch V, »Issurei Biah«, Kapitel 3–4. 42 Vgl. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, zweite Auflage, Frankfurt am Main (1921/1939) 1988, 331ff. 43 AaO. 332. 44 Ebd. 45 AaO. 333.

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Obwohl, in Eigensicht, »Volk Gottes«, als neues Gottesvolk, klammerte das Christentum seit der Heidenmission den biologischen Faktor seiner Selbstbestimmung programmatisch aus, es wurde eine »übervölkische Macht«,46 vor allem aber eine ebenso gewaltige wie gewalttätige Macht – während Jesus, zumindest »in dieser Welt«, gerade die Personifizierung der Ohnmacht, Gewalt- und Machtlosigkeit gewesen war. Die Paganisierung war zuerst Romanisierung und als solche Brutalisierung. Nichts anderes lässt sich über die späteren Paganisierungen sagen, die in herkömmlichen Geschichten des Christentums gerade umgekehrt als »Christianisierung« der Heiden bezeichnet wird. Formal ist dies sicher richtig, inhaltlich ganz falsch. Das erkennt man unschwer auch an den nächsten Etappen der Paganisierung oder, wieder herkömmlich, »Christianisierung«, die zugleich eine Europäisierung und schließlich Globalisierung beziehungsweise Universalisierung des ursprünglich vorderorientalischen Christentums waren. Der Romanisierung des Christentums folgten dessen Keltisierung (die Kelten Irlands und Schottlands wurden Christen), Germanisierung47 und Slawisierung. Wie unjesuanisch jene Christianisierungen waren, zeigt, stellvertretend für andere, die »Sachsenmission« Karls des Großen: Mit mehr Blut als Taufwasser, mehr Macht als Moral, »alttestamentarisch brutal« gewann der Kaiser die Sachsen für das Christentum, und wer wollte wagen, die Urwald-Ethik der Germanen mit den jesuanischen Normen auch nur andeutungsweise zu vergleichen? Die Germanisierung des Christentums war ebenso wie dessen Keltisierung, Slawisierung und Globalisierung fast immer Brutalisierung. Dem Geiste des »Christus«, des Heilands, widersprach das alles. Es ähnelte der vermeintlich (also nicht wirklich) »alttestamentarisch« (also klischeebezogen und nicht »alttestamentlich) »jüdischen« Ethik. Die geistig-geistliche Welt Vorderasiens wurde nach ihrer Europäisierung universalisiert. Das »Heilige Land«, in dem sich das Heilsgeschehen entfaltet hatte, wurde zur »Folie«, zum geografischen Gleichnis, die Botschaft Jesu losgelöst von ihrem geschichtlichen Raum übertragen auf der Welten Raum. Eine andere Folge: Blick, Lektüre und Bezüge des Neuen Testamentes prägten in der gesamten christlichen und vom Christentum geprägten Welt ein Bild von Juden und Judentum, das es so längst nicht mehr gab. Die den Christen (und anderen Lesern) im Neuen Testament beschriebene Jüdische Welt ist längst untergegangen. Die Apostel (und wohl auch Evangelisten?) hatten sie noch erlebt, doch weder Pharisäer noch Saduzäer oder die »Schriftgelehrten« gab es seit 70 nach Christus. Ein Häuflein der moderatesten der gemäßigten Weisen der HillelTradition, angeführt von Jochanan Ben-Sakkai, errichtete im Kleinststädtchen Jawneh ein Lehrhaus. Es wurde zur Keimzelle des Talmud und damit des Neuen Judentums und der neuen jüdischen Eliten: der gelehrten Rabbiner der Mischnah (»Tanaiten«) und der Gemarah (»Amoraiten«). Wie sehr »jesuanisch« die Ethik des Rabbi Hillel (70 vor bis 10 nach Christus) war, 46 AaO. 355. 47 Von der »Germanisierung« des Christentums sprach, soweit mir bekannt, als erster der Mittelalterhistoriker Johannes Haller (1865–1947), vgl. August Nitschke, Frühe christliche Reiche, Propyläen Weltgeschichte, Band 5, erster Halbband, 276.

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sei an anderer Stelle beschrieben. Wir müssen, schon der Chronologie wegen, richtiger sagen: Nicht Hillels Ethik war jesuanisch, sondern Jesus Ethik war hillelistisch. Noch weniger als die im Neuen Testament dargestellten alten Eliten gab es nach dem Jahre 70 jüdische Staatlichkeit und jüdische Macht. In christlichen Augen waren »die Juden« jedoch dauerhaft so mächtig, dass sie, trotz realer Ohnmacht, »Weltmacht« blieben, obwohl zu Jesus’ Zeiten die wahre Weltmacht Rom hieß und sich auch nicht andeutungsweise von »den« Juden das Heft des Handelns vorlegen ließ. Mehr zum »Judenbild« findet die geschätzte Leserschaft im Kapitel »Du sollst dir kein Bildnis machen« meines Buches Juden und Christen – ungleiche Geschwister. Die geografisch globale Ausbreitung des Christentums war nur scheinbar eine Universalisierung der jesuanischen Lehre. Faktisch war sie, abgesehen von Ausnahmen, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eher eine Entleerung und Entledigung des jesuanischen Geistes – nicht zuletzt und vor allem durch die Etatisierung und damit meistens Brutalisierung des Christentums, genauer: der Kirche. Mehr Christen und Christentum, weniger Jesus Papst Benedikt XVI. interpretierte im Jahre 2007 die Globalisierung des Christentums, hier bezogen auf Lateinamerika, verständlicherweise anders: »Letzten Endes eint allein die Wahrheit, und der Beweis für sie ist die Liebe. Aus diesem Grund ist Christus, da er wirklich der fleischgewordene ›Logos‹, ›die Liebe bis zur Vollendung‹ ist, weder irgendeiner Kultur noch irgendeinem Menschen fremd; im Gegenteil, die im Herzen der Kulturen ersehnte Antwort ist jene, die ihnen ihre letzte Identität dadurch gibt, dass sie die Menschheit eint und gleichzeitig den Reichtum der Vielfalt respektiert und alle dem Wachstum in der wahren Humanisierung im echten Fortschritt öffnet. Das Wort Gottes ist, als es in Jesus Christus Fleisch wurde, auch Geschichte und Kultur geworden.«48 Venezuelas skandalverliebter Präsident, Hugo Chavez, protestierte heftig gegen diese Sichtweise der Christianisierung Südamerikas. Er sprach, völlig überzogen, vom »›Holocaust‹ nach der Entdeckung der Neuen Welt«.49 Dennoch, man muss kein ChavezSympathisant sein, um ihm (ausnahmsweise) darin zuzustimmen, dass es auch andere, weniger freundliche Sichtweisen geben könne, denn es floss viel Blut, bis dieser Teilkontinent alles andere als jesuanisch geprägt christlich wurde. Papst Benedikts folgende Ansicht ist sicherlich zu einfach gestrickt: »Tatsächlich hat die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung der präkolumbianischen Kulturen mit sich gebracht, auch nicht die Auferlegung einer fremden Kultur.«50 Papst Johannes Paul II. hingegen hatte 1992 »Fehler bei der Evangelisierung einheimischer Stämme eingeräumt«.51 Nicht nur Chavez protestierte und forderte eine Entschuldigung. Sie folgte wenige Tage später: 48 Papst Benedikt XVI., Christus ist keiner Kultur fremd, Rede, 13.5.2007 in Brasilien, in: Die Welt, 23.5.2007, 15. 49 Kommentar, ohne Namen, in: Die Welt, 23.5.2007, 15. 50 Papst Benedikt XVI. in Brasilien, in: Die Welt, 23.5.2007, 15. 51 Kommentar, ohne Namen, in: Die Welt, 23.5.2007, 15.

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Michael Wolffsohn »Papst Benedikt XVI. hat an Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen während der Christianisierung Lateinamerikas erinnert. Über die Erinnerung an den ›glorreichen Weg des christlichen Glaubens‹ auf dem Kontinent dürfe man nicht Leid und Unrecht vergessen, die christliche Eroberer einheimischen Völkern zugefügt hätten, sagte der Papst bei einem Rückblick auf seinen Brasilien-Besuch [...]. Häufig hätten diese fundamentale Menschenrechte der Indigenen mit Füßen getreten.«52

Es bleibt also dabei, obwohl der Papst es so pointiert natürlich nicht formulieren würde und dürfte: Mehr Christen und Christentum, weniger Jesus. Als Weltreligion wurde das Christentum zugleich Weltmacht. Verschwunden waren dadurch die Merkmale des jesuanischen Opferlammes. Mit dem machtpolitischen Niedergang der alten abendländischen Welt Europas (bald auch der USA?) sowie der globalen Entkolonialisierung geriet das Christentum weltweit in die Defensive. Sowohl machtpolitisch als auch moralisch befand sich das Christentum seit circa 1945 in dieser Situation. Moralisch hatte es sich für Kolonialismus, Kriege und Holocaust zu rechtfertigen. Gewiss, das Christentum hatte sie trotz der Entfernung von Jesus nicht verursacht, aber auch nicht verhindert. In dieser welthistorisch neuen Verteidigungsstellung ist das Christentum dabei, Jesus wiederzuentdecken. Ein Beispiel: »Deus caritas est«, »Gott ist die Liebe«, das war Titel und Inhalt der ersten Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Diese Botschaft war seit knapp zweitausend Jahren im Neuen Testament zu lesen. »Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm« (1.Joh4,16). War es nicht sowohl für die historische Entjesuanisierung und die neuerliche Rejesuanisierung bezeichnend, dass der Papst das Thema »Liebe«, das Thema des jesuanischen Christentums, aufgriff, weil offenbar aufgreifen musste? Knapp zweitausend Jahre hatte das kirchliche Christentum mehr Angst und Furcht vor als Liebe zu und durch Gott gepredigt und gepflegt. Das war die eine Botschaft, die andere lautete so: Die Kirche hat Jesus wieder entdeckt, sie ist zu ihren Wurzeln, zu ihrem »Heiland«, Jesus, zurückgekehrt. Indirekt räumt dies auch Papst Benedikt XVI. (damals als Joseph Ratzinger) ein: »Das negative Zeugnis von Christen, die von Gott redeten und gegen ihn lebten, hat das Bild Gottes verdunkelt und dem Unglauben die Tür geöffnet.«53 Wir ergänzen: Jene Christen fand man vornehmlich in der traditionellen Kirche. So viel zur Geschichte. Zur Tagespolitik: Nur durch die »Neu«entdeckung der Liebesbotschaft kann das Abendland dem Vormarsch des militanten Islam Inhaltliches entgegensetzen.

52 Kirchensite, online mit dem Bistum Münster, http://kirchensite.de/index.php?myELEMENT=133135 (06.07.2009). 53 Joseph Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen, in: Joseph Ratzinger/Marcello Pera, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der Europäischen Kultur, Augsburg 2005, 82.

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Staatlichkeit und Obrigkeit Gerade im vermeintlich so unaufgeklärten Alten Testament fällt eine auch im »modernen« Sinne höchst aufgeklärte Obrigkeitsskepsis auf. Hatte Samuel nicht eindringlich davor gewarnt, einen König über das Volk zu setzen (1.Samuel8)? Für die heutige Zeit formuliert: Er fürchtete um die »Partizipations«möglichkeiten des Volkes. Israel, so Jan Assmann, »steht für die Trennung von Herrschaft und Heil. [...] Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit fundieren die königskritischen Texte der Bibel einen Widerstand gegen das Königtum, der nicht nur einzelnen, vom Gesetz abweichenden Herrschern gilt, sondern der Institution überhaupt.«54 Staatsferne und Staatslosigkeit kennzeichneten das Judentum vom Jahre 70 bis 1948 unserer Zeitrechnung. Während sich das Christentum als Kirche etatisierte und damit entjesuanisierte, verhärtete und (dem gängigen Abendland-Klischee gemäß) »typisch jüdisch« wurde, verlief die jüdische Geschichte in derselben fast zweitausendjährigen Geschichte genau umgekehrt. Das Judentum wurde mangels Staat immer weicher und (wieder das gängige Klischee) »christlich« und in seiner Wehrlosigkeit und »Weichheit« sozusagen jesuanisch. Gewiss, völlig staatsfern und staatslos war auch das Judentum nicht. Im vorislamischen Süd-Arabien/Jemen gab es den jüdischen König Dhu Nuwas (gestorben 525 nach Christus), in Äthiopien herrschte um 935 die sagenhafte, doch reale jüdische Königin Judith, und die westtürkischen Chasaren im Kaukasus waren fast zweihundert Jahre (9. bis Ende des 10. Jahrhunderts) durch Glaubenswechsel der Oberschicht ebenfalls jüdisch. Anders als die Sachsen-»Mission« des christlichen Kaisers Karl war jene Konversion unblutig. »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers...« hat ein jüdisches Pendant, und dem Wort folgte (mangels Alternative) die Tat: »Dina demalchuta dina« heißt es im Talmud. Auf Deutsch: »Das (jeweilige) Staatsrecht gilt«.55 Das ist die eine, jüdische Seite. Die andere bestreitet keineswegs die Gültigkeit des jeweiligen Staatsrechtes oder die Rechtmäßigkeit staatlicher Existenz(en), sie bezweifelt jedoch die Moralität des Staates und seiner Amtsträger. Schmaja und Awtaljon, dieser in der Endphase des Zweiten Tempels Vorsitzender des Obersten jüdischen Gerichts, jener Vorsitzender (»Fürst«) des Sanhedrion, bekundeten, so die »Sprüche der Väter«, scharfe »Politikerverdrossenheit«: »Schmaja sagt: Liebe die Arbeit und hasse die Ämterdienerei und mache dich nicht bekannt bei der Obrigkeit! Awtaljon sagt: Ihr Weisen seid vorsichtig mit euren Worten, sonst könntet ihr euch der Schuld der Verbannung schuldig machen und verbannt werden an einen Ort schlechten Wassers (=falschen Glaubens).«56 Der Staat ist für den Bürger da, nicht umgekehrt. 54 Jan Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, Dritte Auflage, München 2006, 111. 55 Talmud, Traktat Nedarim 28a; Talmud, Traktat Baba Basra 54b; Talmud, Traktat Gittin 106; Talmud, Traktat Baba Kamma 113a. 56 Mischnah-Traktat »Sprüche der Väter«, zitiert aus: Der Babylonische Talmud. Ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, München 1963, 366.

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Sogar vom »Joch der Regierung« spricht im 2. Jahrhundert Rabbi Nechunja, Hakanas Sohn, Schüler des Hillel-Enkels Rabban Gamliel I.57 Rabbiner, Rabban Gamliel II., Sohn Rabbi Jehudas, des »Fürsten« (136–217 nach Christus), einer der wichtigen, weil wirkungsmächtigsten Gelehrten des »modernen«, nachbiblischen beziehungsweise talmudischen Judentums: »Seid vorsichtig mit der Obrigkeit, denn sie kommt Menschen nur aus Eigennutz nahe: sie erscheint freundlich zur Stunde des Vorteils, aber sie steht nicht zu Menschen in der Stunde ihrer Bedrängnis.«58 »Und lass dich nicht gelüsten nach dem Tische der Mächtigen, denn dein Tisch ist größer als ihr Tisch, und deine Krone (= die Thora beziehungsweise Pentateuch, Fünf Bücher Mose) ist größer als ihre Krone, da dein Arbeitgeber treu ist, der dir den Lohn für dein Werk auszahlen wird«, ermahnt Rabbi Jehoschua, Levis Sohn, aus der sechsten Generation der Tanaiten im dritten Jahrhundert.59 Von der ersten tanaitischen Generation (Rabbi Jochanan ben Sakkai) bis zur letzten, sechsten, ist der rote Faden erkennbar: Relativ kurz nach der Vernichtung jüdischer Staatlichkeit zeigt sich konsequent jüdische »Bürgerlichkeit«, verstanden als Primat des Bürgers vor dem Staat. Man könnte sie »modern« als »liberal« bezeichnen, denn gerade dies kennzeichnet den »Liberalismus«. Der Obrigkeit aber, wie Paulus, Göttlichkeit zuzusprechen, widerspricht dem Geist Gamliels, dem Geist des »modernen« Judentums vollkommen. Das Christentum als »Verspätete Religion« Im Hinblick auf Staatlichkeit und Obrigkeit ist daher das paulinisch-christliche Verständnis älter, antiquierter oder besser: »antiker« als das gamlielisch-jüdische, welches mehr oder weniger ungebrochen bis zur Gründung des zionistischen »Israels« galt und, bezüglich der Obrigkeit, gilt. Trotz (oder wegen?) ihrer, modern formuliert, »Politikerverdrossenheit« waren die Rabbinen Pragmatiker, nach dem Motto: Die Obrigkeit ist schlecht, doch sie könnte noch schlechter werden, und alternativlos ist sie zudem. Rabbi Chanina, der Stellvertreter des Hohenpriesters sagte: »Bete für das Wohl der Regierung, denn ohne die Furcht vor ihr würde einer den anderen verschlingen.«60 Hebt Chanina Gamliel auf? Mitnichten, denn Chanina lebte und lehrte lange vor jenem Gamliel (es gab mehrere), zur Endzeit des Tempels und der Frühzeit der zweiten tempellosen Epoche. Als der Tempel stand, fungierte er als »Stellvertreter des Hohenpriesters«. Er erlebte noch die Zerstörung des Tempels und zählt zu den ersten »Tanaiten«, denen also, die das Judentum durch Mischnah plus Gemarah ist gleich Talmud in eine transportable Religion verwandelten.61 Rabbi Chanina ist zeitlich und inhaltlich Paulus näher als Gamliel, wenngleich der Abstand zwischen beiden inhaltlich groß ist. Anders als Paulus spricht der Rabbi der Obrigkeit keine Göttlichkeit zu. 57 58 59 60 61

AaO. 373. AaO. 368. AaO. 391. AaO. 372. Vgl. Encyclopedia Hebraica (Hebr.), Band 17, Jerusalem 5729 = 1969, Spalte 708.

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Es bleibt dabei: Das Neue Judentum ist beim Thema »Obrigkeit« moderner, »neuer«, der »Neue Bund« eher »alt«, der »Alte Bund« eher »neu«. Wieder mussten wir die Dinge vom Kopf auf die Füße stellen. Spätestens seit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts besteht – als Ergebnis der Demokratisierung und Liberalisierung des christlichen Abendlands nach 1945 – diesbezüglich nunmehr jüdisch-christliche Gemeinsamkeit. Hier ist das Christentum »die verspätete Religion«. Seit 1948 gibt es wieder einen Jüdischen Staat. Zweitausend Jahre jüdischer Geschichte wurden wieder vom Kopf auf die Füße (oder umgekehrt?) gestellt. Jedenfalls begann, wie unter anderen Vorzeichen nach denselben zweitausend Jahren im Christentum, eine (alt)neue Ära: Judentum plus Staatlichkeit. Vorher gab es Judentum minus Staatlichkeit und wiederum vorher Judentum plus Staatlichkeit. Die überstaatlich christliche Welt säkularisierte sich, und die Entflechtung von Religion und Staat(en) verlief seit 1945/48 schneller und heftiger als zuvor, die neustaatlich jüdisch-israelische Welt wurde religiöser, die Verflechtung von Religion und Staat dramatisch verstärkt. Einmal mehr und immer wieder der »Entwicklungsstrom«, die »Umkehrung« in Epoche Eins: Juden- und Christentum waren von 70 bis 1945/48 »so weit« entfernt. Seit 1945/48 wechselten sie die Seiten. Wie weit entfernt sind sie nun? Wieder »so weit«. Sie haben jedoch die Seiten gewechselt. Entwicklungsstrom Zwei, Umkehrung Zwei, Epoche Zwei. Ich wünsche Ihrem Kongress fachliche und menschliche Bereicherungen und danke nochmals für die Ehre des Festvortrages.

I. Aufklärung des Judentums, Aufklärung des Christentums

Jüdische Identität zwischen Vernunft und Verbürgerlichung Ingrid Lohmann Die mir vorgeschlagene Themenstellung bedarf einer Erläuterung. Der Begriff der Identität kommt nicht nur alltagstheoretisch oft als Substanzbegriff daher, als einer, mit dem man das Wesen von etwas erfassen will. Obwohl unter Identität also oft eine Entität im ontologischen Sinne verstanden wird, erscheint der Begriff imgrunde allenfalls dann brauchbar, wenn er als Verweis auf das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem verstanden wird. Denn die Frage der Identität taucht erst unter der Bedingung auf, dass etwas durch die Anwesenheit eines Anderen aufhört, sich selbstverständlich zu sein, dass es sich selbst fraglich wird.1 Mit anderen Worten, Identität ist kein Substanz-, sondern ein Relationsbegriff im Sinne der erkenntniskritischen Unterscheidung Ernst Cassirers2 – eine Position, die von fundamentalistischen Positionen aller Couleur natürlich bestritten würde. Für sozialwissenschaftliche Analysen hat Cassirers Unterscheidung Eingang gefunden etwa in Bourdieus Theorie des sozialen Feldes und darüber vermittelt in die Untersuchungen Simone Lässigs zur Verbürgerlichung der Juden am Beispiel Sachsens.3 Auch in der Theorie des sozialen Feldes geht es nicht um Substanzen, die ihre je besonderen Seinsweisen entfalten, sondern darum, empirische Gegebenheiten durch die Relationen der Akteure, der verschiedenen beteiligten Faktoren und des Kontextes zu erklären. Eine zweite Vorbemerkung: Die Wendung ›zwischen Vernunft und Verbürgerlichung‹ verstehe ich nicht als zeitliche oder sachliche Verschiebung. Vielmehr ist der Vernunftbegriff ein strategisches Element, das bereits mitten ins Zentrum von Verbürgerlichungsprozessen weist. Bei meiner folgenden, notgedrungen ausschnitthaften Beschreibung und Analyse des Geschehens, in das jüdische Identität zwischen Vernunft und Verbürgerlichung historisch eingebettet war, wird sich unter anderem zeigen, dass es auch im 18. und frühen 1

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Vgl. Stuart Hall, Die Frage der kulturellen Identität, in: Ulrich Mehlem/Dorothee Bohle/Joachim Gutsche/Matthias Oberg/Dominik Schrage (Hg.), Stuart Hall. Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften Bd. 2, Hamburg 1994, 180–223. Vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, (1910), in: Gesammelte Werke Bd. 6, hg. von Birgit Recki. Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinold Schmücker, Hamburg 2000. Vgl. Simone Lässig, Bildung als kulturelles Kapital? Jüdische Schulprojekte in der Frühphase der Emanzipation, in: Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933, Tübingen 2001, 263–298; dies., Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004.

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19. Jahrhundert so etwas wie eine homogene jüdische Identität nicht gab – im Gegenteil: Verschiedenste Akteure mit unterschiedlichsten Interessen suchten sich Geltung zu verschaffen und produzierten so das historische Geschehen. Ich konzentriere meine Darstellung auf Preußen und konkretisiere sie punktuell anhand der Berliner jüdischen Freischule.4 1671 wurde 50 aus Wien vertriebenen jüdischen Familien die Ansiedelung im Raum Berlin-Brandenburg gestattet. Sie unterlagen einer äußerst restriktiven preußischen Gesetzgebung, deren Zielsetzung es war, die Zuwanderung zu begrenzen und auf wohlhabende Familien zu beschränken. Die Wirtschaftstätigkeit dieser Familien sollte der Entwicklung einer Region zugute kommen, die noch unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges, unter Entvölkerung und brachliegender Ökonomie litt. Infolge dieser gesetzgeberischen Maximen war die Berliner jüdische Gemeinde zwar wohlhabend, aber anfangs auch sehr viel kleiner als die Gemeinden etwa in Hamburg oder Frankfurt. Die Berliner Gemeinde war traditionstreu und, von gelegentlichen Streitigkeiten zwischen einigen führenden Familien abgesehen, eher unauffällig. Verschiedene Faktoren begünstigten jedoch, dass gerade von Berliner Juden der Anstoß zu einem tiefgreifenden ökonomischen und kulturellen Wandel der deutschen Judenschaft insgesamt ausging. Obwohl die Gilden der christlichen Kaufleute wiederholt Restriktionen der ökonomischen Aktivitäten der Juden forderten, wurde die Zahl zugelassener Familien erhöht. Die Berliner Judenschaft bestand aus Familien mit einem Kapitaleigentum zwischen eintausend und zwanzigtausend Talern, darunter die führenden Familien der Hofjuden. Von den 120 Familienhäuptern des Jahres 1737 waren fast die Hälfte im Kleider- und Tuchhandel, weitere als Pfandleiher, Geldwechsler und Silberlieferanten oder als publique Bediente (Rabbiner, Kantor, Schächter usw.) tätig. Die reichsten Familien betrieben Seidenhandel und Geldgeschäfte; eine war im Manufakturwesen. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wandten sich jüdische Familien auf Druck des Königs vermehrt dem Manufaktur- und Verlagswesen, der Samt-, Baumwoll- und Seidenfabrikation zu. Seit 1728 unterlag die preußische Judenschaft der Solidarhaftung, d. h. statt des ursprünglich von jeder Familie zu zahlenden Schutzgeldes war die geforderte Summe fortan von allen gemeinsam zu erbringen. Davon wurde 1773 etwa ein Drittel allein von den jüdischen Familien Berlins aufgebracht. Seit dem Generaljudenreglement von 1750 bestand außerdem Solidarhaftung für Diebstähle, Bankrotte und Steuerschulden. Sich dieser Gesetzesregelungen zu entledigen, war ein vorrangiges Anliegen der neuen ökonomischen Elite der Judenschaft, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand. Die spätere Verwirklichung dieses Anliegens bedeutete zugleich die Auflösung der traditionellen Gemeindestrukturen. Anfänge ökonomischen und kulturellen Wandels in der preußischen Judenschaft lassen sich bis in die 1730er Jahre zurückverfolgen, aber der eigentliche Modernisie4

Die Darstellung rekurriert auf Dokumente und die Einleitung in Ingrid Lohmann (Hg.), Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778–1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Eine Quellensammlung (Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland, hg. von Ingrid Lohmann/Britta L. Behm/Uta Lohmann, Bd. 1.1 und 1.2), Münster/New York/München/Berlin 2001.

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rungsschub setzte nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) ein. Die Entstehung der neuen ökonomischen Elite der Judenschaft war sein direktes Resultat, und das wichtigste Element dabei war »die nicht sehr erbauliche Geschichte der Münzjuden«.5 Insbesondere drei Familien, die Itzig, Ephraim und Fließ, wurden von Friedrich II. mit Münzverschlechterung zwecks Finanzierung des Krieges gegen Österreich, Frankreich und Russland beauftragt; dabei wurden durch Beimischung minderwertiger Metalle höhere Gewinne erzielt, zum Beispiel 1761 beim Verkauf eines Silbertalers nicht mehr 14, sondern 40 Taler. Inflation und ökonomische Destabilisierung waren die Folge. Der Aufruhr in der Bevölkerung richtete sich vor allem gegen die jüdischen Auftragnehmer des Monarchen; Ephraimiten wurden die minderwertigen Taler genannt. Daran konnte wenig später ein antijüdisches Pamphlet wie Grattenauers Wider die Juden (1803) bruchlos anknüpfen.6 Nur die Familie Veitel Heine Ephraims hatte zuvor schon der jüdischen Oberschicht und damit der höchsten Steuerklasse angehört. Im Gefolge des Siebenjährigen Krieges rückten nun auch die Familien Itzig und Fließ dahin auf. Die Kluft zwischen Arm und Reich in der Gemeinde wurde so groß wie nie zuvor, und die Dominanz der Oberschicht wuchs. Das drückte sich auch in Zahlen aus: Wurden 1754 noch 21 Prozent der Gemeindesteuern durch die fünf Prozent umfassende Oberschicht erbracht, so zahlte diese zehn Jahre später 43 Prozent des Steueraufkommens der Gemeinde. Mehr als ein Viertel der Steuern brachten 1761 allein die drei Münzunternehmerfamilien auf. Daniel Itzig war der reichste unter ihnen. »Zum ersten Mal hatte die Berliner Judenschaft Männer in ihrer Mitte, die buchstäblich Millionäre waren«.7 Friedrich II. forderte von dieser Gruppe, dass sie die erzielten Gewinne in Manufakturen anlegte, und so prosperierte in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Krieges die Produktion von Seide und anderen Luxusgütern, und zahlreiche neue Gewerbe entstanden. Zwar geriet die Seidenfabrikation in den 1780er Jahren in eine Krise. Aber alles in allem ersetzte die neue Elite der Münzmillionäre und Manufaktureigentümer allmählich die traditionelle jüdische Oberschicht. Die merkantilistische Wirtschaftspolitik des preußischen Reformabsolutismus begünstigte statt der Gilden und Zünfte der christlichen Kaufleute und Handwerker die neue Wirtschaftsweise der Banken und Manufakturen. Die Geldgeschäfte wurden komplexer und weitreichender, auf Kosten der Pfandleiher ging die Kreditvergabe mehr und mehr in die Hände von Bankiers über. Privatbanken entstanden, und Berlin wurde zum Finanzzentrum. 1765 wurden acht Juden als staatlich anerkannte Mäkler (Geldhändler) vereidigt. »Die finanzielle Bedeutung der Juden an der Wende zum 19. Jahrhundert wird aus der Tatsache ersichtlich, dass das

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Stephen M. Lowenstein, The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family, and Crisis, 1770– 1830, New York/Oxford 1994, 25. Vgl. Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i.Pr., Tübingen 2003, 155f; Renate Best, Juden und Judenbilder in der gesellschaftlichen Konstruktion einer deutschen Nation (1781–1804), in: HeinzGerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 2001, 170–213, 203ff. Lowenstein (s. o. Anm. 5), 27.

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Komitee, welches 1803 die Berliner Börse gründete, zu gleicher Zahl aus jüdischen und christlichen Repräsentanten bestand«.8 Noch während des Siebenjährigen Krieges verlieh Friedrich II. seinen Münzjuden einen rechtlichen Sonderstatus, ein Generalprivileg neuer Art. Hatte das frühere Generalprivileg im Wesentlichen das Niederlassungsrecht aller Kinder einer Familie zum Inhalt, so erbrachte das neue, erstmals 1761 verliehene, außerdem die Rechte christlicher Kaufleute und Bankiers und damit eine fast vollständige Rechtsgleichheit samt Aufhebung praktisch aller ökonomischen Restriktionen. Daniel Itzig und Veitel Heine Ephraim gehörten zu den ersten Generalprivilegierten dieser Art. Zwischen 1761 und 1786 erhielten insgesamt fünfzehn jüdische Familien Berlins dieses neue Generalprivileg, darunter 1773 die Witwe des Seidenmanufakturisten Isaac Bernhard, deren Geschäfte Moses Mendelssohn führte. Nach dem Tode Friedrichs II. erhielten es weitere zehn Bankiers- und Manufakturbesitzerfamilien von Friedrich Wilhelm II., und 1791 erhielt Daniel Itzig das Naturalisationspatent, d. h. uneingeschränkte Gleichstellung mit den Christen für sich und seine Familienangehörigen sowie ihre Nachkommen. Damit waren erhebliche Differenzen im Rechtsstatus der Juden entstanden. Sie schlugen sich auch darin nieder, dass die neue Elite, die ökonomisch sehr viel bedeutender und mächtiger war als die alte Oberschicht, bald die Gemeinde dominierte. 1762 fand dies in einer Änderung des Wahlmodus für die führenden Gemeindeämter seinen Ausdruck; unter anderem wurde das passive Wahlrecht für das Amt eines Ältesten an die Verfügung über ein Mindestkapital geknüpft. Diese und andere Änderungen in den Wahlmodalitäten für den Gemeindevorstand kodifizierten die bereits faktisch bestehende Vorherrschaft der Reichen und führten dazu, dass die alte Führungsschicht in nahezu jeder Hinsicht durch die neue der Bankiers und Manufakturbesitzer abgelöst wurde. Trotzdem wurde der Gemeindevorstand im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts noch nicht von Reformbefürwortern majorisiert; erst im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts setzte sich der neugewählte Gemeindevorstand mehrheitlich aus reichen Modernisierern zusammen.9 Sie ließen sich bis zu Beginn der 1820er Jahre allerdings in erster Linie die Reform des Kultus in der Synagoge und nicht die von Schule und Unterricht angelegen sein.10 Von der alten Oberschicht der Berlinischen Judenschaft unterschied sich die neue ökonomische Elite in mehrfacher Hinsicht: Sie war integrationsfreudig und näherte sich im Lebensstil dem Adel sowie der auch auf christlicher Seite entstehenden Wirtschaftsbourgeoisie an;11 sie befürwortete religiöse Reformen, unterstützte die Aktivitäten der Maskilim, d. h. der jüdischen Aufklärer, und schützte sie vor dem Bannspruch orthodoxer (vor allem osteuropäischer) Rabbiner. Zeitgleich mit der neuen ökonomischen Elite entfaltete sich nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges auch die jüdische Aufklärung 8 Lowenstein (s. o. Anm. 5), 29. 9 Vgl. Lowenstein (s. o. Anm. 5), 67. 10 Vgl. Lohmann (s. o. Anm. 4), 65f, 71ff; dies., Die jüdische Freischule in Berlin – Ihre Rolle im Spannungsfeld von Tradition und Verbürgerlichung, in: Menora 16, Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 2005/2006, Hamburg 2006, 241–264. 11 Zur entstehenden Wirtschaftsbourgeoisie vgl. Jürgen Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte, in: ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, 21–63.

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(Haskala). Noch um 1760 konnte nur eine Handvoll jüdischer Intellektueller Berlins als Maskilim bezeichnet werden: Moses Mendelssohn, Philosoph, Kaufmann und ein führender Kopf der Haskala, Hartwig Wessely, der seit 1774 in Berlin lebte und mit Mendelssohn an der Übersetzung der Tora ins Deutsche arbeitete, Isaak Euchel, der Herausgeber der aufklärerischen hebräischen Zeitschrift HaMeassef (Der Sammler), um nur einige zu nennen. Sie waren bestrebt, die Aufklärung unter den Juden auf moderate Weise voranzubringen.12 Erst nach Mendelssohns Tod ging mit der Umstrukturierung der Oberschicht eine nach innen wie nach außen aktivere Politik einher – weiterhin mit der zentralen Zielsetzung rechtlicher Gleichstellung der Juden mit den Christen, die in Preußen cum grano salis mit dem Edikt von 1812 erreicht wurde. Der führende politische Repräsentant dieser Bestrebungen war David Friedländer.13 Berlin, das Zentrum der preußischen Aufklärung, wurde auch das Zentrum der jüdischen Aufklärung. Viele jüdische Intellektuelle waren bereits dort, weitere lockte der wachsende Ruf der Stadt als Ort geistiger Auseinandersetzung. Das Haus Moses Mendelssohns und Fromet Gugenheims wurde zu ihrem geistigen Mittelpunkt. Insbesondere in den 1770er Jahren kamen Maskilim aus verschiedensten Regionen Europas nach Berlin. Die jüdische Aufklärung hatte somit nicht nur einen Ort, sondern bald auch einen Namen: Berliner Haskala. Ob die Entstehung der neuen ökonomischen Elite der jüdischen Aufklärungsbewegung vorausging oder umgekehrt, diese Frage ist in der Literatur kontrovers behandelt worden. Euchel beantwortete sie so: Großmütige Fürsten hatten es für gut befunden, den Juden neue ökonomische Freiheiten einzuräumen – für ihre moralische Verbesserung zu sorgen, war nunmehr Aufgabe der Maskilim.14 Die neue jüdische Oberschicht in Berlin war durch die geschilderten Privilegien, über die sie längst vor dem Emanzipationsedikt von 1812 verfügte, mit den rechtlichen Erfordernissen zur Ausdehnung ihrer ökonomischen Aktivitäten ausgestattet. Ausdruck des gestiegenen Selbstbewusstseins dieser Schicht war nicht zuletzt die Orientierung an den sephardischen Juden, die 1492 und 1497 aus Spanien und Portugal vertrieben worden waren und in Amsterdam, Hamburg und London und anderen Orts prosperierende neue Gemeinden gegründet hatten. Wie Diderots und D’Alemberts Encyclopédie konstatiert, hatten die vertriebenen Sephardim seitens der von ›edlen Grundsätzen beseelten‹ Regierungen der Toskana, Hollands und Englands ›alle möglichen Erleichterungen‹ erhalten und waren dadurch zu Vermittlern der Kommunikation zwischen den ›fort12 Vgl. Moshe Pelli, Naphtali Herz Wessely’s Attitude toward the Jewish Religion as a Mirror of the Generation in Transition (During the Early Period of Hebrew Haskalah in Germany), in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXVI (1974) 3, 222–238; ders., The Age of Haskalah. Studies in Hebrew Literature of the Enlightenment in Germany, Leiden 1979. 13 Vgl. Uta Lohmann, »Kenntnisse, welche der künftige Staatsbürger bedarf«. David Friedländers Gutachten zur Etablierung moderner jüdischer Schulen in Südpreußen, in: Michael Brocke/Aubrey Pomerance/Andrea Schatz (Hg.), Neuer Anbruch. Zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur, Berlin 2001, 97–112. 14 Vgl. Ingrid Lohmann, Euchels Bildungskonzeption. Interkulturelle Koexistenz, Reichtumskritik und Einbruch der Wirklichkeit in eine Erzählung, in: Christoph Schulte/Marion Aptroot/Andreas Kennecke (Hg.), Isaac Euchel. Der Kulturrevolutionär der jüdischen Aufklärung, Hannover 2010, 167–195.

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geschrittensten Nationen‹ geworden – unverzichtbar in allen Ländern Europas, wo der Handel herrschte. Dass man dies für die aschkenasische Judenschaft, zu welcher die preußischen Juden überwiegend zählten, keineswegs behaupten konnte, war der dortigen neuen Oberschicht zunehmend ein Dorn im Auge. Die Mehrheit der preußischen Juden nämlich hielt unterdessen unverrückt an der Tradition fest, befolgte die Halacha (das ›Zeremonialgesetz‹), hielt also Sabbatgebot, Speise- und andere Vorschriften getreulich ein, scherte sich nicht um Auffälligkeiten der äußeren Erscheinung in Barttracht, Kleidung und Sprache und blieb auf den Kleinund Trödelhandel fixiert, in den sie seit Jahrhunderten abgedrängt war. Diese Haltung, zusammen mit dem spezifischen Rechtsstatus, der die kulturelle und soziale Isolierung der Mehrheit der jüdischen Einwohner Preußens befestigte, hinderte ihren Einbezug ins moderne Wirtschaften – in die neuen Produktionsformen, die neuen Verfahren des Kreditierens und Kontrakteschließens, kurz: in die entstehende kapitalistische Eigentumsgesellschaft.15 Damit setzte das beharrliche ›Kleben am Alten‹ seitens der traditionstreuen Mehrheit der Judenschaft der unternehmerischen Tätigkeit ihrer neuen ökonomischen Elite ausgerechnet vor der eigenen Haustür Grenzen. Wenn der hinzugewonnene Radius ökonomischer Aktivitäten, der ihr mit den erweiterten Privilegien eröffnet war, nicht rasch wieder an sein Ende stoßen sollte, dann galt es, große Teile der jüdischen Bevölkerung darin einzubeziehen. Dann mussten junge Juden in die Lage versetzt werden, das, wie es hieß, »eingeschränkte Gewerbe ihrer Väter gegen eine freiere bürgerliche Beschäftigung«16 zu tauschen. In dieser Lage erschienen eine bürgerlich-nützliche Qualifizierung und erneuerte moralisch-religiöse Unterweisung der Glaubensgenossen, erschien, mit einem Wort, die Erziehung junger Juden als das Mittel der Wahl. Eine der zentralen Forderungen der Aufklärung – Freiheit der Verfügung des Einzelnen über seine Person und sein Vermögen, das Fundament des neuen Bildungsdenkens – entsprach insofern auch und gerade den wirtschaftlichen Bestrebungen der neuen jüdischen Wirtschaftsbourgeoisie. Für die traditionell-religiöse Mehrheit der Juden galt dies keineswegs. Die klassische liberale Bildungskonzeption selbst, der gesamte Ansatz einer Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Vorgänge, wie wir sie im deutschen Sprachgebrauch seither als Bildung bezeichnen, war den Lebenswelten der alten Gesellschaft fremd. Das moderne Bildungsdenken stellte, wie auf christlicher Seite, auch für die meisten Angehörigen der jüdischen Bevölkerung zunächst einmal einen tiefen Bruch dar. Es kann keine Rede davon sein, dass es sich umstandslos an das im Judentum traditionell hochgeschätzte religiöse Lernen anknüpfen ließ. Fast alle Initiativen zur Verbesserung des Unterrichts und der Erziehung jüdischer Kinder, die die preußische Geschichte im späten 18. Jahrhundert aufweist, gehen auf 15 Vgl. Gunnar Heinsohn/Otto Steiger, Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1996; Hans-Georg Herrlitz/Wulf Hopf/Hartmut Titze/Ernst Cloer, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung, 4., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Weinheim/München 2005, 15–28. 16 Johann Erich Biester, Vorerinnerung des Herausgebers. Antwort der Juden in der Provinz Lothringen, auf die der Nationalversammlung von der sämmtlichen Stadtgemeinde zu Strasburg überreichte Bittschrift. Uebersetzt von David Friedländer, in: Berlinische Monatsschrift 18 (1791), 352–365, hier zitiert nach Lohmann (s. o. Anm. 4), 314.

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die Familien der Münzunternehmer und Bankiers zurück: Zu nennen ist die Gründung einer Industrieschule durch Benjamin Veitel Ephraim in Verbindung mit seiner Manufaktur für Brabanter Spitzen in Potsdam. Diese Schule zielte auf Industriosität, Gewerbefleiß; ihr lag nicht das aufklärerische Programm einer Vernunfterziehung und erneuerten sprachlich-religiösen Unterweisung zugrunde, wie später bei der Berliner jüdischen Freischule. Ein weiterer Schulplan aus dem Kreis der Münzunternehmer galt der Errichtung einer Armenkinderschule. Dieses von Veitel Heine Ephraim und Daniel Itzig in den Jahren 1761 und 1762 verfolgte Vorhaben wurde zwar nicht realisiert. Es ist aber bildungsgeschichtlich interessant, weil es bereits die Vorboten des Neuen mit sich brachte: Nach dem geltenden Judenreglement von 1750 waren Erziehungs- und Schulangelegenheiten als Teil des religiösen Lebens ausschließlich Sache der Gemeinde. Deren Selbstbestimmungsrecht erstreckte sich auf alle inneren Angelegenheiten (wobei die Gemeindeautonomie ihrerseits die finanzielle Vorteilsnahme des preußischen Staates aus der Wirtschaftstätigkeit der Juden sicherte). Itzig und Ephraim ersuchten jedoch nicht den Gemeindevorstand um Genehmigung für ihre geplante Schulgründung – wie erinnerlich dominierte zu dieser Zeit die neue Elite den Gemeindevorstand noch nicht –, sondern sie wurden beim königlich preußischen Generaldirektorium vorstellig. Diesen frühen Vorstoß zur Reform der jüdischen Erziehung unternahmen Itzig und Ephraim mithin unter Umgehung der rechtlich verbrieften Zuständigkeiten der Berliner Gemeinde. Bildungshistorisch bedeutsam ist dieser nicht realisierte Schulplan aus zwei Gründen. Zum einen unternahmen hier erstmals Angehörige der jüdischen Oberschicht den Versuch, mithilfe eines in jüdischen Gemeinden bis dahin nicht vorhandenen, neuen Schultyps einen modernen jüdischen Erwerbsstand zu schaffen. Das galt zwar in Grenzen auch schon für die erwähnte Industrieschule in Potsdam. Aber zum anderen, und das ist entscheidend, war dies der erste Versuch, schulische Erziehung und Unterweisung aus der traditionell-religiösen Lebenswelt herauszulösen und die rechtliche Zuständigkeit der Gemeinde für Religionsangelegenheiten, einschließlich der religiösen Unterweisung, dabei kurzerhand zu ignorieren. Den Zuschnitt der Schule sollten nicht länger Tradition und Herkommen, Älteste und Gemeindevorstand bestimmen. Das war ein Novum. Es kann daher nicht überraschen, dass sich in der preußischen Verwaltung zunächst niemand für zuständig hielt; eine Argumentation, auf deren Basis über das Gesuch zu entscheiden war, musste behördlicherseits erst entwickelt werden. Das Generaldirektorium interessierte sich zu diesem Zweck vor allem für die migrationspolitischen Aspekte: Worin die angedeuteten Religionsmotive bestünden; wieviele Kinder aufgenommen werden sollten, ob auch auswärtige und für welche Dauer; ob auswärtige Juden als Lehrer zuziehen müssten (sprich: ob durch Einwanderung von Lehrern und Schülern etwa die zugelassene Zahl der Juden in der Stadt unter der Hand vergrößert werden sollte); und ob die gedachten Unterkünfte zu Lasten bestehender Abgabepflichten gegenüber dem Staat gingen. Genau genommen verstießen solche behördlichen Rückfragen, ebenso wie das Gesuch selbst, gegen geltendes Recht; der Antrag hätte ohne weiteres abgewiesen werden müssen. Ausschlaggebend für die Behörde wurde aber ein ande-

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rer Gesichtspunkt, nämlich der im Sinne aufklärerischen Toleranzdenkens legitimierte Grundsatz, dass alles, was der Jugenderziehung diene, »ohne Rücksicht auf die ReligionsVerschiedenheit zu befördern sey«.17 Damit wurden – vermutlich erstmalig nicht nur in der preußisch-jüdischen, sondern in der gesamten deutschen Bildungsgeschichte – Erziehung und Bildung als Universalien gesetzt, als moralisch höheres Gut im Sinne des ›Gemeinwohls‹. Die jüdischen Religionsangelegenheiten wurden im selben Atemzug implizit – mit dem Allgemeinen Landrecht von 1794 auch explizit – als Partikularinteresse definiert. Das Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Gemeinde wurde hintangestellt. Die zunächst unproblematisch erscheinende behördliche Maxime, ›alles, was der Jugenderziehung dienen kann, ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit zu fördern‹, war in Wirklichkeit ambivalent. Denn auf der einen Seite wurden die Juden damit zwar in den aufklärerischen Begründungszusammenhang eines allgemeinen Menschen- und Bürgerrechts einbezogen, d. h. es wurde anerkannt, dass auch Juden gute Menschen und nützliche Bürger sein und zum Gemeinwohl beitragen konnten. Auf der anderen Seite brach das Modernisierungsprojekt der Aufklärung in die Lebenswelten der alten Gesellschaft ein – in diesem Fall: in die religiöse Unterweisung als integralen Bestandteil der jüdischen Tradition, die aus dem Gemeindeleben als Ganzem nicht herausgelöst werden konnte, ohne dieses selbst tendenziell aufzulösen. Vor allem jedoch war in diesem Widerstreit bereits angelegt, dass die neugeschöpfte vermeintliche Universalie, das moralisch höhere Gut des ›allgemeinen Besten‹, als Argument gegen die Juden gewendet werden konnte, wenn sie nicht von ihrem Partikularismus, sprich: der Anhänglichkeit an die jüdische Religion, abließen.18 Dieser Widerstreit bestimmte von Anfang bis Ende (und darüber hinaus) auch jene Schulreforminitiative der Münzunternehmerfamilien, die schließlich verwirklicht wurde, nämlich die 1778 gegründete Berliner jüdische Freischule. Bis zu seinem Tod im Jahre 1799 war Daniel Itzig ihr wichtigster Financier. Die Freischule war ein Hauptprojekt aufklärerischer Reform und Modernisierung. Insbesondere diente sie der Schaffung einer neuen Mittelschicht preußisch-jüdischer Staats- und Erwerbsbürger, und dazu trug sie tatsächlich in Preußen in dem halben Jahrhundert ihres Bestehens, und durch ihre Vorbildfunktion für ähnliche Schulgründungen auch in anderen deutschen Ländern, maßgeblich bei. Konkretisiert wurde diese Funktion auf eine ganz bestimmte Weise, nämlich indem der Bibelübersetzung Mendelssohns zu jenem größeren Wirkungsgrad verholfen wurde, den sich auch und gerade Mendelssohn selbst wünschte. Zur Chronologie: Im Stiftungsjahr 1778 der Schule erschien die Ankündigung der Mendelssohn’schen Bibelübersetzung in hebräischer, 1780 auch in deutscher Sprache. Ebenfalls 1780 lag das biblische Buch Genesis in deutscher Übersetzung vor. 1781 war das Buch Exodus übersetzt, und 1783 schließlich – dem Jahr, in welchem zugleich die erste Nachricht über die Freischule 19 an das Publikum erschien – 17 Bericht der Kurmärkischen Kammer vom 19. August 1761 an das Generaldirektorium, in: Lohmann (s. o. Anm. 4), 118. 18 Vgl. dazu Ingrid Lohmann/Christine Mayer, Educating the Citizen – Two Case Studies on Inclusion and Exclusion in Prussia in the Early 19th Century, in: Paedagogica Historica 43 (2007) 1, Special Issue: Borders and Boundaries in the History of Education, 7–27. 19 Isaac Daniel Itzig/David Friedländer, Nachricht von dem gegenwärtigen Zustand, bisherigen

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lagen alle fünf Bücher Mosis in der übersetzten Ausgabe vor. Damit waren erstmals die Voraussetzungen für die Einbettung der jüdischen Religion in Bildungsprozesse im modernen Sinne geschaffen. Es war nun nämlich prinzipiell die Möglichkeit eröffnet, deutsche und hebräische Sprache sowie die in der Tora fixierten Glaubens- und Wissensbestände in ein komplementäres Verhältnis zu bringen, so dass sie sich im Vermittlungsund Aneignungsprozess wechselseitig transformieren, sprich: als Bildungsmittel entfalten konnten. Diese Konzeption weist weitreichende Parallelen zur neuhumanistischen Bildungskonzeption etwa Wilhelm von Humboldts oder Friedrich Schleiermachers auf. Für die Neugestaltung des jüdischen Schulwesens programmatisch fundiert wurde sie durch Hartwig Wessely (1725–1805). Wessely hatte bei Aufenthalten in Amsterdam die Schulen der dortigen sephardischen Gemeinde kennen und schätzen gelernt. Nicht zuletzt auf Grundlage dieser Erfahrung entwarf er eine allgemeine Begründung für die Notwendigkeit, für eine moderne schulische Lernkultur weltliches Wissen und Torastudium miteinander zu verknüpfen. Dabei zog er explizit die Parallele zwischen dem Reformprojekt der Mendelssohn’schen Bibelübersetzung und dem Reformprojekt Freischule: »Auch über dieses Institut riß man anfangs den Mund auf, es war in den Augen einiger, als führte seine Gründung zum Bruch mit der Tora und zur Aufgabe des Glaubens«.20 Das erneuerte Bibelstudium bezeichnete Wessely als Voraussetzung für die Verbreitung der Kenntnis bürgerlicher Handwerke und jener »tausende von guten und anständigen Handlungsarten«,21 die den jüdischen Händlern zum Schaden der Söhne Israels völlig unbekannt seien. Inzwischen hätten bereits etliche Schüler den neuen Unterricht absolviert, und viele Familien wünschten nun, ihre Söhne in diese Schule zu schicken. Wie bei aufklärerischen Schulgründungen auf christlich-bürgerlicher Seite auch, war mit der Freischule die Erwartung eines Multiplikationseffekts verbunden: Erwerbsformen und Lebensweise, Werte und Gesittung des Staats- und Erwerbsbürgers neuen Typs sollten in der Judenschaft eine breite soziale Basis erhalten und sie dadurch von Grund auf wandeln – eben verbürgerlichen. Abschließend sei kurz auf den Stellenwert des Vernunftbegriffs in dem beschriebenen Geschehen eingegangen.22 1782 erschien Hartwig Wesselys Schrift Divrej Shalom we-Emet (Worte des Friedens und der Wahrheit, Erstes Sendschreiben),23 und noch

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Fortgang, und eigentlichen Endzweck der Freyschule (Hevrat Hinuch Ne’arim) zu Berlin, [Berlin] 1783, in: Lohmann (s. o. Anm. 4), 206–208. Hartwig Wessely, Zweites Sendschreiben, o. O. 1782, Auszug. Übersetzt von Uta Lohmann, in: Lohmann (s. o. Anm. 4), 189–191, 191. AaO. 190. Vgl. dazu auch Uta Lohmann/Ingrid Lohmann (Hg.), »Lerne Vernunft!« Jüdische Erziehungsprogramme zwischen Tradition und Modernisierung. Quellentexte aus der Zeit der Haskala, 1760–1811 (Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland, hg. von Ingrid Lohmann/Britta L. Behm/Uta Lohmann, Bd. 6), Münster/New York/München/Berlin 2005. Hartwig Wessely, Erstes Sendschreiben. Worte der Wahrheit und des Friedens an die gesammte jüdische Nation. Vorzüglich an diejenigen, so unter dem Schutze des glorreichen und großmächtigsten Kaysers Josephs II. wohnen. Aus dem Hebräischen [von David Friedländer], Berlin 1782, in: Lohmann (s. o., Anm. 4), 174–186.

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im selben Jahr übersetzte David Friedländer sie für ein größeres Publikum auch ins Deutsche. Ernst Simon bezeichnet die Schrift als »das erste systematische Buch über die moderne jüdische Erziehungslehre« überhaupt.24 Ähnlich wie Mendelssohns Bibelübersetzung rief auch diese Schrift heftigen Widerspruch von Seiten rabbinischer Autoritäten hervor. Unterstützung erfuhr die darin enthaltene Reformprogrammatik allerdings durch die Toleranzpatente (1781, 1782) des habsburgischen Kaisers Josephs II. für Österreich, aus deren Anlass sie, vermittelt über eine Anfrage der jüdischen Gemeinde zu Triest, verfasst worden war. Zudem passte Wesselys Schrift in den Kontext der breiten öffentlichen Diskussion, die die 1781 erschienene Schrift des preußischen Kriegsrats Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden weit über die deutschen Länder hinaus ausgelöst hatte. Beide Ereignisse, die Toleranzpatente und Dohms Schrift, gaben wenig später, »vermittelt über Mirabeau, den Anstoß zur Emanzipationsdebatte in der französischen Nationalversammlung«.25 Wesselys Schrift enthält eine Begründung für die pädagogische Notwendigkeit und religiöse Legitimierbarkeit einer Komplementarität von jüdischem Religionsunterricht und Unterricht in säkularen Wissenschaften, und zwar in einer erneuerten, dem Aufklärungsdenken entsprechenden Form. Er rekurriert darin auch auf christliche Aufklärer, zum Beispiel auf John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, und vertritt eine geschichtsphilosophische Auffassung, die Parallelen zu Lessings Erziehung des Menschengeschlechts aufweist.26 Der Stellenwert des Vernunftbegriffs in der Schrift ist interessant, und er wird durch Friedländers Übersetzung zusätzlich pointiert. Den Satz »Mensch seyn ist eine Stufe höher, als Israelite seyn«27 fügt Friedländer, zur Erläuterung und Pointierung für sein deutschsprachiges, großenteils christliches Publikum, schlicht hinzu (einer der Umstände, die die Schrift und ihre Übersetzung bis heute umstritten sein lassen28). Die Schrift kann sich allerdings auf die Geschichte Israels selbst berufen, wobei ›Vernunft‹ als einstiger Besitz figuriert, den es wiederzuerlangen gilt: 24 Ernst A. Simon, Der pädagogische Philanthropinismus und die jüdische Erziehung (1953). Aus dem Hebräischen von Uta Lohmann, in: Britta L. Behm/Uta Lohmann/Ingrid Lohmann (Hg.), Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform. Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert (Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland, hg. von Ingrid Lohmann/Britta L. Behm/Uta Lohmann, Bd. 5), Münster/New York/München/Berlin 2002, 13–65, 42. 25 Friedrich Battenberg, Art. Judengesetzgebung, in: Neues Lexikon des Judentums, hg. von Julius H. Schoeps, Gütersloh 1992, 240–242, 241; vgl. Rudolf Vierhaus, Christian Wilhelm Dohm. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Aufklärung, in: ders. (Hg.), Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegung, Göttingen 1987, 143–156. 26 Vgl. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand (1690), Hamburg 1981; Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777–1780), in: Werke Bd. 8, hg. von Herbert G. Göpfert, München 1979, 489–510; zum bildungstheoretischen Gehalt von Wesselys Schrift vgl. Ingrid Lohmann, Interkulturalität als Strategie religiöser Reform und sozialen Aufstiegs. Jüdische Knaben- und Mädchenerziehung um 1800, in: Margret Kraul/Christoph Lüth (Hg.), Erziehung und Bildung der Menschen-Geschlechter. Studien zur Religion, Sozialisation und Bildung in Europa seit der Aufklärung, Weinheim 1996, 185–213, 190ff. 27 Wessely (s. o. Anm. 23), 175. 28 Vgl. Michael Nagel, Deutsch-jüdische Bildung vom Ausgang des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2, hg. von Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann, München, 169–187, 182, Anm. 54, sowie Christoph Schulte, Die jüdi-

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»Von Adam bis Moses nemlich, vergingen sechs und zwanzig Geschlechtsfolgen, wo, nach Uebereinstimmung aller Weisen, die Menschen nur nach den Gesetzen der Natur und Vernunft lebten, das heißt, [erstens] nach den sieben Naturgesetzen der Noachiden, und den davon abgeleiteten Folgen [. . . ] und [zweitens] nach den Regeln und Gesetzen, die aus den Wissenschaften der Menschen fließen, deren letzter Endzweck dahin geht, die Menschen gesittet und glückseligkeitsfähiger zu machen; denn sie befördern ihre Sicherheit und Ruhe, verschaffen ihnen die Bequemlichkeiten des Lebens, vermehren ihre Bedürfnisse und befriedigen sie, lehren den richtigen Gebrauch und Genuß der Geschenke dieser Welt; und geben jedem die würksamsten Mittel an die Hand, die Glückseligkeit des Ganzen zu befördern«.29

Mit den Noachidischen Gesetzen sind die (der Legende nach seit Noah überlieferten) sieben elementaren Vorschriften gemeint, die unabhängig von nationalen und religiösen Unterschieden für alle Menschen Geltung besitzen, eine Art allgemeines Menschenrecht. Sie beinhalten das Verbot von Mord, Diebstahl, Götzenanbetung, Unzucht, Brutalität gegen Tiere und Gotteslästerung sowie die Forderung nach Einführung von Gerichten als Ausdruck der Wahrung des Rechtsprinzips. Wessely fordert somit Legitimität und Achtung für göttliche Gesetze ein, die älter als die jüdische Religion seien; darüber hinaus aber stünden jene »göttlichen Gesetze, so erhaben sie über alle menschliche seyn mögen, [. . . ] dem ungeachtet mit diesen in Verbindung« – woraus für ihn folgt, dass man »sogar ohne die ersten ein nützlicher Weltbürger seyn, und durch Wissenschaft und Einsichten Licht und Ordnung allgemein verbreiten [kann]«. Umgekehrt gelte dies jedoch nicht: »Derjenige, dem es an geselligen Tugenden fehlt, der sich in allem seinem Thun und Lassen von den übrigen Menschen unterscheidet, den nichts intereßiert, was diesen angeht, der nur immer bloß über spitzfündige Auslegungen der Gesetze brütet; der muß nothwendig selbst lästig und unnütz, und sein Wissen verächtlich werden«.30

Diese Auffassung begründete in den Augen seiner Gegner eine skandalöse Infragestellung des herkömmlichen Religionsverständnisses.31 Wesselys Konstruktion ist, so meine Interpretation, ohne den zeitgenössischen Diskurs über allgemeine Vernunftreligion nicht zu denken. Es ist dieser Diskurs, der nahelegt, die höchste normative Stellung für die Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens von allgemeingültigen, weil konfessionsübergreifenden göttlichen Geboten einnehmen zu lassen. Sie sind es, die – in Kombination mit den weltlichen Wissenschaften – die weitere Entwicklung der Kultur formen sollen. Spezifik und Verschiedenheit der gegebenen Religionen sind unter dieser Voraussetzung ein nachrangiger Faktor. Das sche Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002, 87. Wesselys Schrift, von der bisher nur der erste Teil in Friedländers zeitgenössischer deutscher Übersetzung vorliegt, wird derzeit in allen vier Teilen im Rahmen eines von der Autorin geleiteten DFG-Projekts neu übersetzt und ediert. 29 Wessely (s. o. Anm. 23), 176. 30 Ebd. 31 Zum »Kulturkampf«, der sich um Wesselys Schrift entspann, vgl. Shmuel Feiner, Haskala – Jüdische Aufklärung: Geschichte einer kulturellen Revolution. Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer, Hildesheim/Zürich/New York 2007, 117–136, 132.

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war das Reformprogramm, für das die Freischule stehen sollte. Über weite Strecken ihres Bestehens maßen die wohlhabenden liberalen Gemeindemitglieder dem Modernisierungsunterfangen Freischule, wie erwähnt, mehrheitlich allerdings keine sonderliche Bedeutung bei, mit Ausnahme einiger Frauen aus reichen jüdischen Familien, die durch Spenden die Freischule über viele Jahre hinweg finanziell unterstützten. Währenddessen waren in den Augen der Traditionalisten die Schulgründer Isaak Daniel Itzig und David Friedländer (Sohn und Schwiegersohn Daniel Itzigs) für die Veranstaltung religiöser Unterweisung ohnehin nicht zuständig. Damit war bis auf weiteres der Versuch gescheitert, der neuen Bildungskonzeption innerhalb der gesamten jüdischen Gemeinde, bei Reformbefürwortern und Traditionalisten, hegemoniale Geltung zu verschaffen. Es gelang mithin zu diesem Zeitpunkt nicht, die Grenze zwischen der (legitimen) alten Religiosität und der (noch illegitimen) neuen – in der der Vernunftbegriff das Verhältnis von Religion und Wissenschaft reguliert – im Sinne der Reform zu verschieben.32 Zugleich spielte sich dieser frühe Abschnitt der Freischulgeschichte vor einem historischen Hintergrund ab, der durch die zunehmende Orientierung der neuen jüdischen Oberschicht am Lebensstil der christlichen höheren Stände gekennzeichnet war. Um diese Zeit begann die Öffnung der Gymnasien für jüdische Knaben, die im preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) kodifiziert wurde. Dass von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, trug mindestens ebenso wie der Widerstand der Traditionalisten zum Scheitern des Hegemonieanspruchs bei, den Itzig und Friedländer ursprünglich mit der Freischule verbanden. In der Folge schickten wohlhabende Familien ihre Söhne auf Gymnasien und ließen den Religionsunterricht (weiterhin) durch Privatlehrer erteilen. Dabei gab es durchaus Positionen, vor allem die David Friedländers und Wilhelm von Humboldts, mit denen die Einrichtung jüdischen Religionsunterrichts auch an Gymnasien hätte begründet und legitimiert werden können. Im Rahmen der preußischen Bildungsreform 1809–1810 artikulierte sich gerade gegen solche Überlegungen allerdings Widerstand, und wortführend dabei war Friedrich Schleiermacher. Schleiermacher war als Leiter der wissenschaftlichen Deputation bei der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht des preußischen Innenministeriums mit der Gestaltung eines Normallehrplans für die zu reformierenden Gymnasien betraut.33 In dieser Funktion verfasste er 1810 unter anderem eine Stellungnahme zur künftigen Ausrichtung des Religionsunterrichts. Darin umreißt er als Aufgabe des Gymnasiums »die Entwicklung der geistigen Kräfte, und zwar nicht nur der einzelnen Fertigkeiten, sondern auch [. . . ] der Gesinnung.« Um auf diese lehrend einzuwirken, gebe es »keinen anderen Gegenstand als das Christentum«, denn der Mittelpunkt aller Gesinnung sei Religiosität, und der Staat erkenne »das Christentum für die unter seinen Bürgern allgemein verbreitete und gültige Form der Religion«. Es sei »daher eine falsche und allem übrigen Verfahren des Staates nicht analoge Tendenz«, so Schleiermacher weiter, »wenn man um der etwaigen jüdischen Zöglinge willen dem Religionsunterricht das Christliche be32 Vgl. Ingrid Lohmann, Tora und Vernunft. Erneuerung der Religion als Medium der Verbürgerlichung in der jüdischen Aufklärung, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006) 2, 203–218. 33 Vgl. Ingrid Lohmann, Lehrplan und Allgemeinbildung in Preußen. Eine Fallstudie zur Lehrplantheorie Friedrich Schleiermachers. Frankfurt am Main/Bern/New York 1984.

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nehmen und ihn in das Gebiet einer sogenannten allgemeinen Religion hinüberspielen würde«.34 Durch die preußische Unterrichtsverwaltung geisterte seit dem Emanzipationsedikt von 1812 der Topos von der unerwünschten Einwirkung auf Charakter und Geist, welche christliche Knaben und Jünglinge an jüdischen Schulen erführen. Dieser Topos führte 1819 zum endgültigen Verbot der Beschulung christlicher Kinder an jüdischen Schulen. Damit war es auch an der Freischule mit der allgemeinen Vernunftreligion zuende. Denn – wie protestantische Konsistorialräte mit leitender Funktion in der staatlichen Schulverwaltung gegenüber einer Protestnote des Berlinischen Magistrats gegen das Verbot verlauten ließen – selbst wenn man voraussetze, »daß die allgemeine Religion, welche nach der Ansicht des Magistrats vorläufig den Unterricht in der christlichen ersetzen könne, aus dem Munde eines jüdischen Lehrers ganz ungetrübt fließe«, so seien die Christenknaben an der Freischule dennoch mit Religionsunterricht unversorgt, wenn sie »offenbar auch nicht einmal in dieser Unterricht erhalten. Überhaupt sei das, »was man allgemeine Religion nennt [. . . ] durchaus nichts anders als Popularphilosophie«, die die Zerstörung des religiösen Sinnes begründe, »indem sie den Glauben an etwas Höheres, als die menschliche Vernunft ist, im Keime vernichtet«.35 Mitten aus der Politik staatsbürgerlicher Integration und Inklusion, auf die das Emanzipationsedikt von 1812 zielte, erwuchsen auf diese Weise neue Exklusionsmechanismen, die für praktisch alle Betroffenen und Beteiligten zunächst unbemerkt blieben. Sie bestimmten jedoch den weiteren Fortgang wie auch die Ambivalenzen des Prozesses der Verbürgerlichung der Juden in Deutschland im 19. Jahrhundert.

34 Friedrich Schleiermacher, Allgemeiner Entwurf zum Religionsunterricht auf gelehrten Schulen (1810), in: ders., Texte zur Pädagogik, hg. von Michael Winkler/Jens Brachmann Bd. 1, Frankfurt am Main 2000, 168–170, 168f; vgl. auch Matthias Blum, »Ich wäre ein Judenfeind?« Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik. Weimar/Wien 2010. 35 Die preußische Regierung an den Berlinischen Magistrat am 6. März 1819, in Lohmann (s. o. Anm. 4), 935–937, 936.

Spinozismus zwischen Judentum und Christentum Die jüdische Spinoza-Interpretation in ihrer Differenz zur christlichen Spinozarezeption Ursula Goldenbaum Das mir vorgegebene Thema ist in der Tat in jeder Hinsicht ein weites Feld und es ist von vornherein klar, dass es in einem Aufsatz keinesfalls erschöpfend zu behandeln ist. Sind schon Judentum und Christentum kaum einfach zu bestimmende Positionen, so ist Spinozismus von Beginn an ein unscharfer, schillernder Begriff. Friedrich Jacobi warnte zu Recht, dass man mit ein paar Ideen Spinozas die »schönsten Blasen werfen« kann, ohne sich Schwierigkeiten mit seiner Religion auszusetzen.1 Er selbst war bekanntlich der Auffassung, dass Spinozas Philosophie, wenn sie recht verstanden sei, gar keine positive Religion erlaube. Diese Auffassung sieht sich dadurch bestätigt, dass keine christliche Kirche und keine jüdische Gemeinde Spinoza für kompatibel mit ihrer Religion hält. Das gilt sicherlich am entschiedensten für die katholische Kirche, aber doch auch für die protestantischen Kirchen und die verschiedenen jüdischen Glaubensrichtungen. Selbst der erste Präsident Israels Ben Gurion, ein Bewunderer Spinozas, konnte die Rabbiner zwar zu erneuter Beratung des Falles, jedoch zu keinem anderen Urteil bewegen.2 In dieser Frage hat sich seit Spinozas Tagen bis heute nichts geändert, wenngleich dieser Befund für seine Anhänger keine der rechtlich-politischen Konsequenzen bedeutet, die sie noch für Spinoza selbst und verschiedene seiner Schüler hatte. Bekanntlich wurde der Philosoph 1656 mit dem Bann aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen und vier Jahre später auch aus seiner Heimatstadt Amsterdam verbannt, vom christlichen Magistrat. Beide Maßnahmen hätten damals, in einer korporativ organisierten Gesellschaft, lebensbedrohliche Konsequenzen haben können. Amsterdam war jedoch schon eine weltläufige Großstadt und bot dem gebannten und konfessionslosen Spinoza ein 1

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»Ich bin weit davon entfernt«, erläuterte Jacobi in einer Fußnote, »alle Spinozisten für Gottesläugner zu erklären. Gerade deswegen scheint mir der Erweis nicht überflüßig, daß die rechtverstandene Lehre des Spinoza keine Art von Religion zulasse. Ein gewisser Schaum von Spinozismus ist hingegen sehr verträglich mit allen Gattungen des Aberglaubens und der Schwärmerey, und man kann die schönsten Blasen damit werfen. Der entschiedene Gottesläugner soll sich unter diesem Schutz nicht verbergen; die andern müssen sich nicht selbst damit betrügen.« [Friedrich H. Jacobi], Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785 (Spinozabüchlein). Zitiert nach F. H. Jacobi, Werke, hg. von K. Hammacher u. W. Jäschke, Bd. 1,1: Schriften zum Spinozastreit. Hamburg/Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 1–268, hier 120. Siehe Yirmiyahu Yovel, Spinoza and other Heretics, Princeton 1989, 202–204.

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Leben ohne den Schutz der Gemeinde. Er fand sein Brot an der von einem ehemaligen Jesuiten gegründeten Lateinschule. Daß er aber 1660 diese Stadt verlassen mußte, die ihm Brot und Toleranz geboten hatte, ohne eine eigene Einkommensquelle, war existenzgefährdend. Wie wir wissen, ist dem angehenden Philosophen durch seine freigesinnten außerhalb der Kirche christlichen Kollegiantenfreunde geholfen worden, bis er schließlich das Linsenschleifen zu seiner Existenzgrundlage machen konnte. Die theoretische Einschätzung der christlichen Kirchen ebenso wie der Rabbiner über die theoretische Unverträglichkeit von Spinozas Ideen mit ihren Lehren ist durchaus berechtigt. Auch wenn Spinoza in der deutschen Romantik, von Goethe und Herder als der allerchristlichste Philosoph gefeiert wurde,3 – er kennt keinen Personengott, zu dem man beten oder klagen kann. Ihm ist die ganze Natur Gott, nicht als bloße Ansammlung von Körpern, aber doch als ganze Natur in ihrer kraftvollen Dynamik und logischen Struktur. Den Christen muss Spinozas Leugnung der Menschwerdung Gottes unannehmbar sein ebenso wie seine Ablehnung der christlichen Mysterien. Spinoza ist jedoch bereit, Christus in allegorischer Form als Weg des Heils oder der Erlösung zu verstehen, als den Geist der Liebe verbreitend, der ihm von Gott unmittelbar offenbart worden sei.4 Der Briefwechsel von Spinoza mit Oldenburg, dem Sekretär der Royal Society, offenbart anschaulich den tiefen Graben zwischen dem aufgeklärten Christen und dem unchristlichen Philosophen, der schlicht bekennt nicht zu wissen, – was denn einen menschgewordenen Gott von einem runden Quadrat unterscheide.5 Leibniz, der diese Briefe vor seiner Abreise aus London nach Holland abschrieb, wo er Spinoza besuchen wollte und ihn tatsächlich sprach, sah darin Ironie. Ich denke aber, Spinoza hätte höchstens über diese Unfähigkeit, seinem trockenen Argument qua Argument zu folgen, ironisch gelächelt. Auch anerkennt Spinoza die Göttlichkeit der Hl. Schrift, glaubt jedoch nicht, dass sie von Gott als Person geschrieben bzw. inspiriert wurde. Göttlich kann sie allein genannt werden wegen der Übereinstimmung ihrer wichtigsten Botschaft – Liebe und Gerechtigkeit – mit der rational argumentierenden Ethik Spinozas, die ebenso Liebe und Gerechtigkeit empfiehlt. Nichts ist heilig in und an der Hl. Schrift außer dieser Botschaft, insbesondere nicht ihre dunklen und unverständlichen Stellen.6 Es ist aber dieses Gebot der Liebe in Spinozas Denken, das vielen Christen schon als christlich erschien, ohne zu bedenken, dass dies auch das Gebot der jüdischen und anderer Religionen ist, ja sogar auch durch natürliche Vernunft erkannt werden kann. Und es ist diese Botschaft der Liebe, die Lessing in seinem Text zum Johannesevangelium – ganz spinozistisch oder 3

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Vgl. Rüdiger Otto, Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M., Berlin, Bern 1994 (=Europ. Hochschulschriften, 451), 281–298; Arthur von UngernSternberg, Freiheit und Wirklichkeit. Schleiermachers philosophischer Reifeweg durch den deutschen Idealismus, Gotha 1931, 97–103. Heutzutage hat das einen Philosophen veranlaßt, ein Buch über Spinozas radikalen Protestantismus zu schreiben, nicht ganz ohne gezwungene Interpretationen, wie ich meine. Graeme Hunter, Radical Protestantism in Spinoza’s Thought, Aldershot/Burlington 2005. Siehe Spinoza, Briefwechsel, hg. v. Manfred Walther, Hamburg 1986, 277 (Nr. 73). Siehe Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, hg. v. Günter Gawlick, Hamburg 1976, 205–206 (13. Kap.).

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ganz christlich – für die Substanz christlicher Religion hält. Dass dies allein aber dem Christentum gerade nicht ausreichend sein kann, zeigte sich im Fall von Leibniz. Auch dieser Zeitgenosse Spinozas hielt die Liebe zu den Mitmenschen, zu allen Mitmenschen, für die Substanz der christlichen Religion, ohne die diese nicht bestehen könnte. Es ist bezeichnend, dass ihm dies von katholischer Seite sogleich als Spinozismus vorgeworfen wurde. Auf der anderen Seite können die Juden aber nicht akzeptieren, dass Spinoza die Gültigkeit des Gesetzes nach der Zerstörung des jüdischen Staates bestreitet. In dieser Frage kann auch Moses Mendelssohn Spinoza nicht beistimmen und daran scheiterte die von Ben Gurion gewünschte Rücknahme des Banns. Es ist klar, dass Spinozas Positionen zu seinen Lebzeiten von christlicher wie jüdischer Seite bestritten werden mussten. Der Umfang der Widerlegungen Spinozas ist enorm. Wenn man bedenkt, dass Spinoza eher zurückgezogen lebte, in einer Stube zur Untermiete, nach der Verbannung zunächst in kleinen Städten, bis er für seine letzten Lebensjahre nach Den Haag zog, wieder zur Untermiete, so ist es erstaunlich, dass er so viele Federn wichtiger und bedeutender und auch weniger bedeutender Autoren mit seinem Tractatus theologio-politicus in Bewegung zu setzen vermochte. Eine europaweite Mobilmachung setzte ein, überall wurde feuerwehrartig nach Maßnahmen zur Eindämmung dieser Gefahr gerufen. Auch Leibniz versuchte gemeinsam mit seinem Mentor Boineburg, in einer Briefkampagne gelehrte Hebraisten zu gewinnen, um statt der gewöhnlichen Widerlegungen, die eher Schmähungen waren, eine seriöse und gelehrte Widerlegung des von Leibniz hoch respektierten Werkes bereitzustellen.7 Die katholische Kirche mobilisierte sogar zwei frühere Bekannte Spinozas, um ihn in langen persönlichen Schreiben zum Widerruf seines Tractatus zu bewegen.8 Fénelon und Huet in Frankreich, Henry Moore in England, Jacob Thomasius und Musäus in Deutschland, Mansvelt und andere in den Niederlanden, sie alle suchten das schreckliche Werk zu widerlegen. Trotzdem gab es seit dem Erscheinen des Tractatus immer wieder Christen und wenige Jahrzehnte später auch Juden, die Spinoza mit wohlwollendem Interesse studierten. Das beginnt bekanntlich mit dem sogenannten Spinozazirkel, der aus freisinnigen christlichen Kollegianten und Mennoniten bestand. In der Vorrede zu Spinozas Opera posthuma (die 1677 anonym in der Verlagsbuchhandlung von Jan Rieuwertsz in Amsterdam erschienen, aber den Drucker Heinrich Kühnrath in Hamburg auf dem Titelblatt hatten) stellt Jarig Jelles, einer dieser Freunde, Spinoza als einen ganz und gar selbstlosen, einzig der Wahrheit verpflichteten Philosophen dar und hat dadurch vermutlich 7

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Siehe Goldenbaum, Spinozas Papageienargument und Leibniz’ Antwort. Die Bedeutung von Spinozas hebraistischen Argumenten für die Anfänge christlicher Bibelwissenschaft, in: Gottes Sprache in der philologischen Werkstatt: Hebraistik vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, hg. v. Giuseppe Veltri und Gerold Necker, Leiden 2004, 189–224. Vgl. den Brief des katholischen Konvertiten Albert Burgh am 11.9.1675 an Spinoza, in: Spinoza, Briefwechsel (s. o. Anm. 5), sowie den Brief von Nils Stensen, einem cartesianischen Wissenschaftler, der zum Katholizismus konvertierte und als Bischof zu Schwerin sein Leben beschloß, an Spinoza, zuerst publiziert in Latein in Florenz 1675, in: Spinoza, Briefwechsel, 396–405. Zu Stensens Brief vgl. auch den Kommentar des Herausgebers Manfred Walther 409–412.

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selber einigen Einfluß auf die Entstehung einer pro-christlichen Interpretation Spinozas ausgeübt. Besonders das Wahrheitsstreben Spinozas und sein untadelhaftes Leben standen einer schlechthinnigen Verurteilung Spinozas durch christliche Leser entgegen. Niemand musste erst Pierre Bayles Artikel über Spinoza lesen, um eine so tugendhafte Vita eines Atheisten für ein ernsthaftes Problema zu halten. Atheisten galten per se als a-moralisch, da sie wegen des Mangels an Gottesfurcht keine Strafe fürchteten und so furchtlos sündigen konnten. Aber konnte der bekanntermaßen tugendhafte Spinoza ein Atheist sein? In einem Zeitalter, da Religion nicht mehr von allen Menschen einfach auf Treu und Glauben von den Eltern und dem Pfarrer angenommen wurde, musste Spinozas Tractatus theologico-politicus, mindestens den Latein lesenden Christen und Juden von größtem Interesse sein, handelte er doch von den wohl vertrauten Schriften in einer Weise, die jedem interessierten Laien nachvollziehbar war. Der Bericht des frühen Spinozisten Edelmann ist in dieser Hinsicht von größtem Interesse, beschreibt er doch die ungeheure Furcht, die ihm der Name Spinozas noch als Student eingeflößt hatte, sodann, wie er durch Zweifel an bestimmten Lehren des Christentums und durch das Studium der Bibel auf seinem Weg der Erkenntnis sich immer weiter von der kirchlichen Lehre entfernt habe, um zuletzt bei dem »lieben, verkannten Spinoza« zu landen. Seine Darstellung ist darum so interessant, weil er ausführlich seine Gespräche und Diskussionen über seine Auffassungen beschreibt mit Zeitgenossen, die er auf seinen jahrelangen Wanderungen durch Deutschland traf und die alle auf der Suche nach der Wahrheit der Religion waren. Gewöhnliche Leute, die ihren Berufen nachgingen und doch sich nicht mit dem sonntäglichen Gottesdienst zufrieden geben konnten, Bauern, Handwerker, Verleger, Bürgermeister, Händler. Dieser religiöse Aufbruch hat auch unter den Böhmisten und anderen christlichen mystischen Sekten das Interesse an Spinoza genährt. Das jüdische Interesse an Spinoza wird erst aktenkundig mit dem jungen Moses Mendelssohn, der im Alter von 25 Jahren in seinem ersten Buch 1755 sogleich Spinoza diskutiert und als großen Philosophen, Leibniz ebenbürtig, darstellt. Allerdings wissen wir, dass Spinoza während seiner Zeit in Amsterdam vor und während des Banns mit anderen freigeistigen Juden verkehrte. Mendelssohns Schüler in Berlin, darunter David Friedländer und Isaac Euchel, sowie Salomon Maimon haben Spinoza mit größter Faszination gelesen, insbesondere den Tractatus, und haben mit Mendelssohn das Problem der Gültigkeit des Ceremonialgesetzes über Jahrzehnte diskutiert und darüber veröffentlicht.9 Das Interesse der deutschen Juden an Spinoza und, oft in einem Atemzug, an Mendelssohn und Lessing, hielt an bis zur Nazizeit. Während das philosophische Interesse der Deutschen, auch der deutschen Juden, sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt Kant zuwandte, dank der Neubelebung seiner Philosophie im Neukantianismus durch Hermann Cohen, Paul Natorp und Ernst Cassirer, blieb Spinoza im Bewußtsein der jüdischen Intellektuellen doch jederzeit präsent und abrufbar. Selbst Hermann Cohen, der Spinoza wegen seiner von ihm so gesehenen judenfeindlichen Haltung haßte und zu widerlegen suchte, hatte ihn doch gründlich studiert. Sein Schüler Ernst Cassi9

Siehe Christoph Schulte, Haskalah. Die jüdische Aufklärung in Deutschland 1769–1812, Göttingen 1999.

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rer schrieb für sein Werk Das Erkenntnisproblem eine ausgezeichnete und viel zu wenig beachtete Studie zu Spinozas Erkenntnistheorie, die selbst von der Spinozaliteratur zu wenig wahrgenommen wird.10 Dessen Schüler Leo Strauss dagegen, aus einer konservativen jüdischen Familie in Hessen stammend, neigte sich eher zu Cohens Ablehnung, bevor er dann sogar in das Lager Heideggers wechselte. Obwohl aber Strauss aus seiner Ablehnung Spinozas kein Hehl machte, zeugt auch seine Kritik Spinozas von gründlicher Kenntnis.11 Fritz Mauthner, Albert Einstein, Erich Müsam und Gustav Landauer, um nur einige bekannte Namen zu nennen, verehrten Spinoza und setzten sich mit ihm auseinander.12 Mit der Vernichtung und Vertreibung der Juden aus Deutschland haben wir auch ihre Kultur, ihr Wissen, ihre intellektuelle Sichtweise und nicht zuletzt ihre Bibliotheken verloren, die heute in Los Angeles, Chicago, New York, Cincinnatti oder Jerusalem stehen. Seit dem 2. Weltkrieg ist Spinoza in Deutschland wenig präsent, wenn man die Publikationen und Lehrpläne der Philosophischen Institute ansieht. Entsprechend blieb ein Echo auf die große Spinozarenaissance der 1970er und 1980er Jahre in Frankreich und Italien im deutschsprachigen Raum aus.13 Dort wurde Spinoza immerhin so populär, dass Mercedes-Benz mit dem Bild des Philosophen und einem Zitat aus der Ethik Werbung im Intelleltuellenjournal Liberation machen konnte. Angesichts der bis heute nicht abreißenden Spinozarezeption unter Christen ebenso wie unter Juden wäre es aussichtslos, eine Gesamtdartellung auch nur zu versuchen. Ich werde mich daher nur einem Teilaspekt des Themas zuwenden, der unterschiedlichen Ausrichtung der deutsch-jüdischen und deutsch-christlichen Forschung zur deutschen Spinozarezeption. Ich erhoffe mir von diesem Kontrastprogramm eine Erschütterung des vorherrschenden und für ausgemacht geltenden Narrativs über den Pantheismusstreit, wie er in der deutschen Philosophie-, Literatur- und auch Theologiegeschichte bis heute erzählt wird. 10 Siehe Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 4 Bde (Berlin 1922–1937), Nachdruck: Darmstadt 1994, Bd. 2, 74–125. 11 Siehe Leo Strauss, Spinoza’s Critique of Religion, New York 1965; Strauss schrieb bereits seine Dissertation über Jacobi und damit über den Spinozastreit 1785, vgl. ders., Das Erkenntnisproblem in der philosophischen Lehre Fr. H. Jacobis. Diss. Universität Hamburg, Hamburg 1921. 12 Fritz Mauthner, Spinoza. Ein Umriß seines Lebens und Wirkens, Dresden 1921; Lawrence Baron, Erich Mühsam’s Jewish Identity, in: Leo Baeck Institute Yearbook 25 (1980), 269–284; vgl. auch den Briefwechsel Mauthners mit Landauer, in dem Spinoza durchgängig Thema ist: Gustav Landauer und Fritz Mauthner. Briefwechsel von 1890–1919, hg. v. Hanna Delf, München 1994; Hermann de Dijn, Einstein en Spinoza (= Mededelingen vanwege het Spinozhuis, 64), Delft 1991; Regine Kather, Das Verständnis von Realität und die Überwindung der Anthropozentrik. Spinozistische Elemente im Wissenschaftsbegriff Albert Einsteins, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte, hg. v. Hanna Delf, Julius Schoeps und Manfred Walther, Berlin 1994, 394–421. – Aber selbst die Kritik Spinozas von jüdischer Seite war von genauer Kennnis getragen, wie das Beispiel des Kantianers Hermanns Cohen zeigt. Vgl. Eveline Goodman-Thau, Spinozas Offenbarungslehre und der nachkantianische Idealismus in der jüdischen Religionsphilosophie Hermann Cohens, in: AaO. (Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte), 332–364. 13 Vgl. Cahiers Spinoza, Paris 1977ff. Die französische Spinozarezeption reicht von der marxistischen Spinozadiskussion über Deleuzes’ durch Nietzsche vermittelte Rezeption Spinozas bis in die gegenwärtige amerikanische Neuauflage der politischen Spinozarezeption Antonio Negris.

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1. Überblick zur Spinozarezeption Der Beginn einer ernsthaften Spinozarezeption im deutschsprachigen Raum wird gewöhnlich am Pantheismusstreit festgemacht, der bekanntlich 1785 durch Jacobis Bekanntmachung von Lessings Spinozismus14 und die gleichzeitig erscheinende Verteidigung von Lessings »geläutertem Pantheismus« verbunden mit einer Kritik Spinozas durch Moses Mendelssohn ausgelöst wurde.15 Obwohl es die erklärte Absicht Jacobis war, die Gefahr einer Akzeptanz Spinozas aufzuzeigen,16 führte diese Offenbarung von Lessings Spinozismus nicht zu einer entschiedenen Abkehr von Spinoza, sondern machte ihn mit einem Schlag zu einer verehrten Person und seine Philosophie zum Gegenstand des Studiums vor allem durch die junge Generation. Spinoza wurde bekanntlich zum Losungswort17 all der berühmten Persönlichkeiten des Deutschen Idealismus, der literarischen Klassik und Romantik, die Deutschland einst zum »Land der Dichter und Denker« machten.18 Erst durch sie sei Spinoza die verdiente Anerkennung zuteil geworden, nachdem er zuvor nach dem Wort Lessings als ein »toter Hund« betrachtet worden sei. Merkwürdigerweise wird vor allem Mendelssohn in die Verantwortung genommen, Spinoza als solchen toten Hund traktiert zu haben, da er ihn zu widerlegen gesucht hätte, ohne ihn zu verstehen. Erst die großen deutschen – und christlichen – Den14 Spinozabüchlein (s. o. Anm. 1). 15 Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, Berlin 1785, in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 3.2, hg. v. Leo Strauss, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973. 16 Jacobi warnt ausdrücklich vor einer allmählichen Verbreitung des Spinozismus: »Ein Gespenst davon geht unter allerhand Gestalten seit geraumer Zeit in Deutschland um, und wird von Abergläubigen und Ungläubigen mit gleicher Reverenz betrachtet. Ich rede nicht allein von kleinen Geistern, sondern von Männern aus der ersten Klaße« (Jacobi an Mendelssohn am 26.4.1785, aaO. Bd. 13, 279). 17 Vgl. Jürgen Teller, Das Losungswort Spinoza. Zur Pantheismusdebatte zwischen 1780 und 1787, in: Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner (Hg.), Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, 2 Bd., Berlin/Weimar 1989, 135– 192. 18 Genannt seien hier mindestens: Max Grunwald, Spinoza in Deutschland, Berlin 1897, 21–84; Heinrich Scholz (Hg.), Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1916; Hermann Timm, Gott und die Freiheit: Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. 1: Die Spinozarenaissance, Frankfurt/M. 1974; David Bell, Spinoza in Germany from 1670 to the Age of Goethe, London 1984; Detlev Pätzold, Lessing und Spinoza: zum Beginn des Pantheismus-Streits in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: M. Buhr/W. Förster (Hg.), Aufklärung-Gesellschaft-Kritik: Studien zur Philosophie der Aufklärung (I), Berlin 1985; Frederick Beiser, The Fate of Reason: German Philosophy from Kant to Fichte, Harvard U 1987; Kurt Christ, Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1988; Joachim Schmidt-Neubauer, Der Pantheismusstreit: Thesen zu Lessings vermeintlichen Spinozismus, in: Ders., Tyrannei und der Mythos vom Glück: 3 Essays zu Lessing, Schiller und Goethe, Frankfurt/M. 1988; Han-Ding Hong, Spinoza und die deutsche Philosophie. Eine Untersuchung zur metaphysischen Wirkungsgeschichte des Spinozismus in Deutschland, Aalen 1989; Sylvain Zac, Spinoza in Allemagne: Mendelssohn, Lessing et Jacobi, Paris 1989; Otto (s. o. Anm. 3); Eva Schürmann, Norbert Waszek and Frank Weinreich (Hg.), Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002.

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ker und Dichter, hätten die Größe Spinoza zu erkennen vermocht – Goethe, Herder, Schelling, Hegel, Hölderlin, Schleiermacher und Novalis. Diese Sichtweise der deutschen Philosophie- und Literaturgeschichte, auch wohl der Theologiegeschichte, hat diese Auffassung des Deutschen Idealismus und der Klassik und Romantik kanonisiert und sie ist bis heute vorherrschend. Entsprechend nimmt sich die Erforschung der frühen Spinozarezeption bis 1785 verschwindend klein und überschaubar aus.19 Diese beschränkte sich vornehmlich auf die sogenannten »frühen Spinozisten«. Das sind vor allem Stosch, Lau und Wachter, mitunter auch Edelmann, Knoblauch, Dippel und Martin Knutzen, also alles Personen, die nur eingeweihten Spezialisten bekannt sind und die wegen ihrer philosophischen Mediokrität in kaum einer regulären Philosophiegeschichte vorkommen.20 Allesamt aber eint das Interesse christlicher Wahrheitssucher an Spinozas Erklärungen Gottes und der Hl. Schrift sowie der politischen Behandlung der Hl. Schrift. Mitunter werden auch genannt Moses Mendelssohn als derjenige, der Spinoza dem deutschen Publikum schon 1755 erstmals nicht nur als einen großen Philosophen vorstellte,21 sondern auch dessen direkten Einfluss auf Leibniz behauptete,22 Christian Wolff als Autor der ersten 19 Moses Krakauer, Zur Geschichte des Spinozismus in Deutschland während der ersten Hälfte des achzehnten Jahrhunderts. Inauguraldiss. Univ. Breslau. Phil. Fak. 13.1.1881, Breslau 1881; Leo Bäck, Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland, Inauguraldiss. Univ. Berlin 1895; Grunwald (s. o. Anm. 18); Jakob Freudenthal, On the History of Spinozism, in: The Jewish Quaterly Review VIII (1896), 7–76; Wilhelm G. Jacobs u. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Spinozas Ethik und ihre frühe Wirkung, Wolfenbüttel 1981; Karlfried Gründer u. Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, Heidelberg 1984; Winfried Schröder, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung, Würzburg 1987; Otto (s. o. Anm. 3). 20 Die üblichen Kandidaten sind Lau, Stosch, Wachter, Edelmann, vgl. die am meisten vollständige Übersicht in Otto (s. o. Anm. 3), 58–119. 21 Krakauer (s. o. Anm. 19), 6; Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A Biographical Study, Philadelphia 5733/1973, 33–36; Zac (s. o. Anm. 18), besonders 121–154; Otto (s. o. Anm. 3), 183– 193; Willy Goetschel, Spinoza’s Modernity. Mendelssohn, Lessing, and Heine, The University of Wisconsin Press 2004, 85–180. 22 Das enorme Anwachsen der Literatur zu Leibniz und Spinoza in den letzten beiden Jahrzehnten lässt die ungeheure Ignoranz gegenüber dieser Rezeption zuvor deutlich werden. Eine vorläufige Bibliographie der Literatur bis 1986 findet sich in Manfred Walther, Bibliographie zu Leibniz und Spinoza, in: B. Spinoza, Briefwechsel, Hamburg 1986, 426–434. Nach 1986 erschienen: Spinoza and Leibniz, hg. v. Ed. Curley, A. Heinekamp and M. Walther (=Studia Spinozana, 6) Hannover 1990; Renée Boveresse, Spinoza et Leibniz: l’idée d’animisme universel: Etude suivie de la traduction inédite d’un texte de Leibniz sur l’Ethique de Spinoza et d’un texte de Louis Meyer, Paris 1992; Goldenbaum, Eine gemeinsame Descartes-Kritik von Spinoza und Leibniz, in: Descartes und das Problem der wissenschaftlichen Methode. Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1989/7= A 112, 46–51; Vittorio Morfino, Spinoza contra Leibniz: documenti di uno scontro intelettuale, Milano 1994; Goldenbaum, »qui ex conceptu Extensionis secundum tuas meditationes varietas rerum a priori possit ostendi?« Noch einmal zu Leibniz, Spinoza und Tschirnhaus, in: Akten des Leibniz-Kongresses Hannover 1994, Wiesbaden 1994, 266–275; Goldenbaum, Leibniz et Spinoza. Le Traité Théologico-politique, in: Documents, Archives de Travail & Arguments, C.E.R.P.H.I. Ecole Normale Superieure Fontenay aux Roses-Saint Cloud, n. 4. Février 1997, 13–21; Goldenbaum, Die Commentatiuncula de judice als Leibnizens erste philosophische Auseinandersetzung mit Spinoza nebst der Mitteilung über ein neuaufgefundenes Leibnizstück, in: Labora di-

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sachlichen Kritik der philosophischen Grundlagen Spinozas,23 und selten Johann Lorenz Schmidt, der 1744 – im Exil und unter fremdem Namen – die erste und bis zum Pantheismusstreit einzige deutsche Übersetzung von Spinozas Ethica more geometrico demonstrata vorlegte, die sogar innerhalb Deutschlands erschien24 und in deutschen Journalen sogleich rezensiert wurde.25 Es war diese Ausgabe der Ethik, die dann neben den ligenter (= Studia leibnitiana Sonderhefte, 29), Wiesbaden 1999, 61–127; Goldenbaum, Zwischen Bewunderung und Entsetzen. Leibniz’ frühe Faszination durch Spinozas Tractatus theologico-politicus (= Mededelingen vanwege het Spinozahuis), Delft 2001; Goldenbaum, Spinoza’s Parrot, Socinian Syllogisms, and Leibniz’s Metaphysics. Leibniz’s Three Strategies of Defending Christian Mysteries, in: American Catholic Philosophical Quarterly. Special Issue: Leibniz, hg. v. Donald Rutherford, 76 (2002), 551–574; Goldenbaum, Spinozas Papageienargument und Leibniz’ Antwort. Die Bedeutung von Spinozas hebraistischen Argumenten für die Anfänge christlicher Bibelwissenschaft, in: Gottes Sprache (s. o. Anm. 7), 189–22; Mogens Lærke, Leibniz, Spinoza et la preuve ontologique de Dieu, in: Einheit in der Vielheit. VIII. Internationaler Leibniz-Kongress, Hannover 2006, 420– 425; Mark Kulstad, Did Leibniz incline towards monistic pantheism in 1676? In: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongress, Hannover 1994, 424–28; Robert M. Adams, Leibniz. Determinist – Theist – Idealist, Oxford University Press 1994, esp. 123–34; Kulstad, Roads Not Taken. Radical Suggestions of Leibniz’s De Summa Rerum, in: G.W. Leibniz. Perspektive und Actualität, hg. v. Concha Roldán (= Synthesis Philosophica, Special issue, 12, fasc. 2) 1997, 403–413; Kulstad, Leibniz’s De Summa Rerum. The origin of the variety of things, in connection with the Spinoza-Tschirnhaus correspondence, in: Studia Leibnitiana Supplementa 34: L’actualité de Leibniz. les deux labyinthes, hg. v. Dominique Berlioz and Frederic Nef, 1999, 69–85; Kulstad, Leibniz, Spinoza, and Tschirnhaus. Multiple Worlds, Possible Worlds, in: The Young Leibniz and his Philosophy (1646–76), hg.v. Stuart C. Brown, Dordrecht (1999), 245–62; Christia Mercer, Leibniz and Spinoza on Substance and Mode, in: Rationalists, hg. v. D. Pereboom, Lanham 1999, 273– 300; Kulstad, Pantheism, Harmony, Unity and Multiplicity. A Radical Suggestion of Leibniz’s De Summa Rerum, in: Unità e molteplicità nel pensiero filosofico e scientifico di Leibniz, hg. v. A. Lamarra and R. Palaia, Lessico Intellettuale Europeo, vol. 84, Florence 2000, 97–105; Mercer, God as Both the Unity and Multiplicity in the World, aaO. pp. 71–95; Kulstad, Leibniz’s Early Argument that All Things are One in Relation to Descartes’ Notions of Real and Modal Distinction, in: Nihil sine ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongress, Berlin 2001, 663–68; Mercer, Leibniz’ Metaphysics, its Origins and Development, Cambridge 2001, 19, 384, 387, 408, 453–54, 458, 459; Kulstad, Exploring Middle Ground on the Question, Was Leibniz’s Conception of God ever Spinozistic? In: American Catholic Philosophical Quarterly. Special issue on Leibniz’s philosophy of religion, hg. v. Donald Rutherford, vol. 76, no. 4, Fall 2002, 671–690; Kulstad, Leibniz, Spinoza and Tschirnhaus. Metaphysics à trios, 1675–1676, in: New Essays on Spinoza, hg. v. John Biro and Olli Koistinen, Oxford 2002, 221–40; Kulstad, The One and the Many and Kinds of Distinctness. The Possibility of Monism or Pantheism in the Young Leibniz, in: Leibniz, Nature and Freedom, hg. v. John Cover and Donald Rutherford, Oxford 2005, 20–43; Mogens Lærke, Leibniz Lecteur de Spinoza. La genèse d’une opposition complexe, Paris 2008 (1095 S.). 23 Grunwald (s. o. Anm. 18), 53 and 57; Krakauer (s. o. Anm. 19), 6; Bäck (s. o. Anm. 19), 28– 29; Scholz (s. o. Anm. 18); Cornelia Buschmann, Wolffs ›Widerlegung‹ der ›Ethik‹ Spinozas, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte (s. o. Anm. 12), 126–141; Otto (s. o. Anm. 3), 136– 160. 24 Schröder (s. o. Anm. 19), 13. Außer der holländischen Übersetzung der Ethica blieb die deutsche bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die einzige. Vgl. Goldenbaum, Die erste deutsche Übersetzung von Spinoza durch Johann Lorenz Schmidt, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte (s. o. Anm. 12), 107–125. 25 Überhaupt wurde Spinoza in deutschen Zeitschriften seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts

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kaum noch aufzutreibenden und für die meisten unerschwinglichen Opera Posthuma beim Pantheismusstreit 1785 die einzige Textquelle war.26 Das Phänomen einer erneuten begeisterten, politischen und religionskritischen Hinwendung zu Spinoza in der Zeit des Vormärzes, d. h. in den 1830er Jahren, – genannt seien Strauss, die Brüder Bauer, Feuerbach, Moses Hess und Marx, Heinrich Heine und Georg Büchner, also eine bunte Mischung aus Christen, Juden und getauften Juden – ist fast ausschließlich in Arbeiten zu diesen einzelnen Autoren diskutiert worden, spielt aber kaum eine Rolle in Gesamtdarstellungen zur Spinozarezeption.27 Mit der Professionalisierung der Geschichte der Philosophie und Literatur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die vor allem von Hegelianern geleistet wurde, erhielt Spinoza schließlich seinen Platz als einer der großen Philosophen des Rationalismus der frühen Neuzeit.28 Wenig beachtet wird die theoretische Bedeutung, die Spinoza noch einmal während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Sozialdemokratie gewann.29

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erstaunlich sachlich, wenngleich kritisch rezensiert. Vgl. Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und Historie überhaupt (1744), 418–422; Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen (1746), 731–41; Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek I (1748), 58–63 (TTP), 69–74 (frz. Übers. d. TTP), 103–115 (Op. Posth.), 115–116 (Schmidts Übers. d. Ethica). »Kaufen Sie den Kant nicht . . . kaufen Sie sich lieber: ›B.enedictus v. S.pinozas Sittenlehre widerlegt von dem berümten Weltweisen unserer Zeit H. Chr.istian Wolff‹. Sie erhalten unter dieser Maske eine sehr gute Übersetzung der Ethik des Spinoza, welche sein vorzüglichstes Werk ist, u nur hinten dran den kleinen unbedeutenden Tractat v Wolf. Ich glaube das Buch kostet nur einen Gulden.« (Jacobi an Wizenmann am 6.11.1783, in: Friedrich Heinrich Jacobi, Briefwechsel. Gesamtausgabe, hg. v. Michael Brüggen, Heinz Gockel u. Peter-Paul Schneider, Reihe I, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, Nr. 966, 247. Siehe Ludwig Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. Werner Schufenhauer, Berlin 1969, Bd. 3, 362–456. Vgl. die umfangreichen Exzerpte aus dem Tractatus theologico-politicus von Marx, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Abt. 4, vol. 1: Notizen, Marginalien, Exzerpte, Berlin 1976 sowie in Cahiers Spinoza 1 (s. o. Anm. 13) 1977; vgl. auch Rainer Bieling, Spinoza im Urteil von Marx und Engels. Die Bedeutung der Spinoza-Rezeption Hegels und Feuerbachs für die Marx-Engelssche Interpretation, Phil. Diss. Berlin 1979; Goldenbaum, Die Spinoza-Rezeption im Marxismus und bei Marx, in: Berliner Debatte Initial (1993) H. 3, 39–53; Moses Hess, Die heilige Geschichte der Menschheit von einem Jünger Spinoza, Stuttgart 1837; Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Heinrich Heine, Säkularausgabe. Werke – Briefe – Lebenszeugnisse, hg. v. d. Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris 1979, Bd. 8. Ulrich J. Schneider, Spinoza in der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung 1800–1850, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte (s. o. Anm. 12), 305–331. Siehe Ernst Erdös, Die Tradition Spinozas in der sozialistischen Bewegung bis 1927, in: Helmut Holzhey (Hg.), Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Frankfurt/M. 1994, 318–339. Der Beitrag berichtet von den frühen Rezipienten im Vormärz (Heine, Feuerbach und Hess) über Marx bis zur Rezeption Spinozas in der sowjetischen Philosophie bis 1932. Darüberhinaus gibt er einen Ausblick auf die Bedeutung Spinozas für Louis Althusser wie auch für Antonio Negri. Der Ausnahmecharakter dieses Aufsatzes im deutschsprachigen Raum zeigt sich übrigens auch darin, daß Erdös Spinoza auch heute noch für eine interessante Denkfigur der Linken hält. Vgl. auch Goldenbaum, »Der alte Spinoza hatte ganz recht«? Zur Aneignung Spinozas in der deut-

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Dagegen ist Nietzsches kurze euphorische Bemerkung zu Spinoza heute in der Postmoderne vielfach diskutiert.30 Während in Frankreich und Italien die Spinozaforschung einen großen Anstoß durch die Zeit der Stundentenunruhen von 1968 erhielt, der bis heute anhält, spielt er in der deutschen Diskussion weiterhin eine untergeordnete Rolle. Entsprechend hat sich auch die Forschung zur Spinozarezeption in ihren Positionen kaum gewandelt. Nach wie vor gilt der Pantheismusstreit als der Ausgangspunkt einer ernsthaften Wirkung Spinozas im deutschsprachigen Raum.

2. Jüdische Forschungen zur Spinozarezeption Angesichts der ausufernden Literatur zum deutschen Pantheismusstreit ist das geringe Interesse an anderen Perioden der Spinozarezeption in der deutschen Forschung durchaus auffallend. Kaum je aber wurde der Tatsache Beachtung geschenkt, dass sich die jüdisch-deutsche und die christlich-deutsche Spinozarezeption von Anfang an unterschieden.31 Eine solche besondere Sichtweise existiert dabei keineswegs nur hinsichtlich der unterschiedlichen Beurteilung der zentralen Position Mendelssohns im Pantheismusstreit,32 obwohl auch der selten genug nachgegangen wurde, sondern schon zuvor in den von der Philosophiegeschichte weitgehend ignorierten intensiven frühen Spinoza-Studien Mendelssohns.33 Das wird z. B. deutlich in Heinrich Heines Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland,34 die in der deutschen Philosophiegeschichte leider wenig Beachtung fand und findet. Ein klarer Unterschied jüdisch-deutscher und christlich-deutscher Forschung auf dem Gebiet der Spinozarezeption besteht aber schon in der Orientierung der letzteren auf den Pantheismusstreit als dem Beginn und dem Höhepunkt der Spinozarezeption, während erstere eine weit frühere deutsche Spinozarezeption behauptet. Es ist auffallend, dass die ersten vier Untersuchungen zur frühen Spinozarezeption allesamt von jüdisch-deutschen Intellektuellen stammen, von Moses Krakauer, Ludwig Stein, Leo

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schen Sozialdemokratie, in: Transformation der Metaphysik in die Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen und praktischen Philosophie Spinozas, hg. v. Michael Czelinski, Thomas Kisser, Robert Schnepf, Marcel Senn, Jürgen Stenzel, Würzburg 2003, 239–266. Nietzsche brachte seine Begeisterung über seine Übereinstimmung mit Spinoza in fünf Punkten auf einer Postkarte vom 30.7.1881 an Franz Overbeck zum Ausdruck, in: Friedrich Nietzsche, Briefwechsel, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 3. Abt., 1. Bd., Berlin, New York 1981, 111; Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993. Ze’ev Levy, Baruch Spinoza – Seine Aufnahme durch die jüdischen Denker in Deutschland, Stuttgart/Berlin, Köln 2001. Goldenbaum, Mendelssohns schwierige Beziehung zu Spinoza, in: Spinoza im Deutschland des achzehnten Jahrhunderts (s. o. Anm. 18), 265–317. Goldenbaum, Mendelssohns philosophischer Einstieg in die schönen Wissenschaften. Zu einer ästhetischen Rezeption Spinozas, in: Die Philosophie und die Belles-Lettres, hg. v. M. Fontius und W. Schneiders, Berlin 1996, 53–79; Goetschel (s. o. Anm. 21), 85–118. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (s. o. Anm. 27), 18.

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Bäck, und Max Grunwald.35 Sie alle bestritten geradezu, dass Spinoza erst im Pantheismusstreit in deutschen Landen studiert wurde. Ludwig Stein konnte sogar nachweisen, dass Spinoza von großem Einfluß auf Leibniz gewesen ist. Das ist ihm von der konservativen deutschen und französischen Leibnizforschung sehr verübelt worden, aber in den letzten 20 Jahren durch harte Fakten bestätigt worden.36 Obwohl es das große Verdienst sowohl Moses Krakauers (1881) als auch Leo Bäcks (1895) war, in ihren Dissertationen erstmals eine Untersuchung der frühen Spinozisten Edelmann, Dippel, Lau, Stosch, und Wachter sowie ihres intellektuellen Umfeldes unternommen zu haben, ging es ihnen aber gerade nicht nur um diese frühen, aber philosophisch weniger bedeutenden Anhänger Spinozas, sondern um den Nachweis, »dass schon in seinem ersten Jahrhundert der Einfluss des Spinozismus auf Deutschland ein continuirlicher gewesen sei«.37 Krakauers Kritik richtete sich dabei besonders gegen die kühne Behauptung des bekannten Philosophiehistorikers Kuno Fischer, der »Fluch der Juden« habe Spinoza bis zu Lessings Gespräch mit Jacobi auch unter Christen zu einem toten Hund gemacht.38 In Wahrheit aber, so Bäck und Krakauer, gebühre Spinoza neben Kant der »rühmlichste Anteil an den geistigen Entwicklungskämpfen in Deutschland«, die zur »Erschütterung des Autoritätsprincips« und zu »einer Neugestaltung der theologischen Wissenschaft« geführt hätten.39 Die Tatsache, dass nur wenige Outlaws, die ohnehin nichts mehr zu verlieren hatten, gewagt hätten, Spinoza öffentlich zu diskutieren und zu verbreiten, sei schlicht der drohenden kirchlichen und staatlichen Verfolgung geschuldet gewesen; diese frühen Spinozisten hätten aber nur die Spitze des Eisbergs dargestellt. Leo Bäck sah das z. B. bestätigt durch das Zeugnis von Laukhard, dessen Vater Spinozas Denken zwar hoch geschätzt, sich aber niemals offen zu Spinoza bekannt habe.40 Die Einleitungen Krakauers als auch Bäcks führen die Quellen an, die eine solche zunehmend breitere Bekanntheit Spinozas und seiner Hauptthesen, sei es auch durch die Widerlegungsliteratur selbst, belegen, darunter Brucker, den deutschen Übersetzer der Lebensbeschreibung Spinoza von Colerus, Löschers Unschuldige Nachrichten, Spener, 35 Die vollständige Reclam-Ausgabe von Spinozas Schriften in einer neuen Übersetzung wurde von dem Sozialdemokraten und ehemaligen Rabbiner Jacob Stern veranstaltet. Vgl. Manfred Lauermann, Jakob Stern – Sozialist und Spinozist. Eine kleine Skizze zum Geburtstag, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte (s. o. Anm. 12), 365–392; vgl. auch Goldenbaum, »Der alte Spinoza hatte ganz recht«? Zur Aneignung Spinozas in der deutschen Sozialdemokratie (s. o. Anm. 29), 239–266. Die Sammlung der Quellenschriften und die erste umfassende Biographie stammen von Jakob Freudenthal: Spinoza. Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1904; Die Lebensgeschichte Spinozas in Quellenschriften, Urkunden und nichtamtlichen Nachrichten, hg. v. Jakob Freudenthal, Leipzig 1899. 36 Goldenbaum, Die Commentatiuncula de judice als Leibnizens erste philosophische Auseinandersetzung mit Spinoza nebst der Mitteilung über ein neuaufgefundenes Leibnizstück. Beilage: Leibniz’ Marginalien zu Spinozas Tractatus theologico-politicus im Exemplar der Bibliotheca Boineburgica in Erfurt, also zu datieren auf 1670–71, in: Labora diligenter (= studia leibnitiana Sonderhefte, 29), Wiesbaden 1999, 61–127. 37 Krakauer (s. o. Anm. 19), 20. 38 Krakauer, aaO. 2; vgl. Kuno Fischer, Geschichte der Philosophie, Bd. II. Heidelberg 1865, 95. 39 Krakauer, aaO. 1–3. 40 Bäck (s. o. Anm. 19), 30–35.

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Moorhof, Budde, Mosheim, Thomasius,41 Kortholt, Burnet, Leibniz (!) und Wolff.42 Bäck beruft sich dabei auch schon positiv auf die Arbeiten Ludwig Steins über Leibniz’ Interesse an Spinoza. Der ungedruckte Teil von Krakauers Dissertation enthält der gedruckten Einleitung zufolge auch eine Darstellung der Spinozarezeption bei Wolff und Leibniz.43 Auf der Grundlage dieser Belege sind Krakauer wie Bäck überzeugt: »In Deutschland war man in allen Kreisen, die an den geistigen Bewegungen der Zeit Anteil nahmen, schon zu Lebzeiten Spinoza’s – und in noch viel höherem Grade bald nach seinem Tode – mit seiner Lehre, seinem Namen und seinen Geschicken bekannt.«44 Dass aber heißt auch, es ist nicht wahr, dass wir erst Jacobi und dem von ihm ausgelösten Pantheismusstreit eine ernsthafte deutsche Spinozarezeption verdanken. Die Tatsache, dass Trinius in seinem Freidenkerlexikon 121 Widerlegungsschriften anführt, kommentiert Krakauer zu Recht mit dem folgenden hermeneutischen Prinzip: »Man greift doch eine ins Leben tretende geistige Erscheinung nicht eher auf den Kanzeln an, als bis sichere Anzeichen dafür vorhanden sind, dass sie sich im Volke bereits festgesetzt, durch ihre Ausschreitungen und verwirrenden Nachwirkungen das religiöse Leben zu untergraben droht«.45 Die große »Menge der Widerlegungsschriften« eines philosophischen Systems lasse »auf dessen große Bedeutung oder wenigstens tiefgreifenden Einfluss schliessen«, weshalb »man auch vom Spinozismus sagen müsse[], dass er einen gewaltigen Factor des geistigen Lebens in den Wogenschlägen der damaligen Zeit bildet.«46 Interessant sind aber darüber hinaus zwei andere hermeneutische Gesichtspunkte, denen Krakauer und Bäck besondere Aufmerksamkeit schenken, – dass es zum einen extrem schwierig war, sich die Schriften Spinozas zu beschaffen, zum anderen, dass es der Überwindung jenes Grauens bedurfte,47 das allein durch den Namen des überall 41 »[...] das darin enthaltene Gift aber desto gefährlicher ist, weil es im ersten Ansehen recht raisonnable zu sein scheint«; zitiert nach Bäck (s. o. Anm. 19), 25. 42 Vgl. Krakauer (s. o. Anm. 19), 40–41. 43 Krakauer kündigt in seiner Einleitung an, »das unseres Erachtens sehr schwankende Verhältnis Leibnizens zu Spinoza in Betracht [zu] ziehen« und »die Widerlegung des Spinozistischen Systems durch Wolff in breiterer Ausführung [zu] beleuchten«. Er führt dazu bereits Dippel an, »weil derselbe in einem sehr ergötzlichen Zwiegespräch zwischen Spinoza und Wolff sowohl die formelle, wie die innere Verwandtschaft der Systeme Beider darzuthun sucht und Spinoza zu Wolff sagen lässt: ›Du bist nun schon in starkem Verdacht, mit meinem Kalbe gepflügt zu haben‹« (Krakauer, aaO. 26). – Er weiß übrigens schon 1881 aus dem Brief von Leibniz an Graevius, dass Leibniz Spinozas Tractatus theologico-politicus frühzeitig gelesen hat, was leider ohne Eindruck auf die Leibnizforschung geblieben ist. 44 Bäck führt außer Leibniz auch Thomasius an, die beide von dem allbekannten Spinoza sprechen; Bäck (s. o. Anm. 19), 7–8. Vgl. auch 3–30. 45 Krakauer (s. o. Anm. 19), 23. 46 AaO. Fn. 23. 47 Edelmann beschreibt diese Furcht vor Spinoza in seiner Autobiographie: »das scheussliche Porträt, das mir meine Lehrer von diesem Buche und seinem Verfasser gemacht hatten, wäre vielleicht vermögend gewesen, mich zu bewegen es ungelesen wieder von mir zu legen, wenn ich nicht bereits aus der Erfahrung gewusst hätte, dass in allen den Schriften, wovor diese Herren am meisten zu warnen pflegen, das meiste Gute stecke«; Johann Christian Edelmann, Selbstbiographie, ed. C.R.W. Klose, (Berlin 1849) Nachdruck: Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 (=Deutsche Autobiographien, 1), 350 – Vgl. auch Bäck (s. o. Anm. 19), 22–23.

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von den Kanzeln verschrienen Atheisten ausgelöst wurde.48 Beide Faktoren hätten den Zugang zu Spinoza erheblich erschwert; umso mehr Gehör sei daher den Zeugnissen von der Verbreitung des Wissens über Spinoza Rechnung zu tragen.49 Das wird durch die oben genannten Berichte Edelmanns bestätigt. Beide Autoren sehen also die frühen Spinozisten gerade nicht als singuläre Gestalten der deutschen Ideengeschichte, sondern eher als die Spitze des Eisberges. Die zunehmende Rezeption Spinozas im deutschsprachigen Raum sei dem Drang der Zeit »nach Freiheit und selbständigem geistigen Fortschritt« geschuldet und wird klar als Teil der Bewegung der Aufklärung verstanden: »Der Spinozismus ist ein Glied in der Revolution auf religiösem, politischem und philosophischem Gebiete [. . . ]. Im Kampf gegen Scholastik und Orthodoxie bildeten die Spinozisten, als Anhänger der radikalsten philosophischen Doktrin, die ›äusserste Linke‹ [nach F.A. Lange: Geschichte des Materialismus, I, p. 317], die als extremste Partei auch die schärfsten Angriffe und Verfolgungen zu erdulden hatte.«50 Dem kann hinzugefügt werden, dass die erste deutsche Übersetzung von Spinozas Ethica in Deutschland 1744 gedruckt, verkauft und in deutschen Journalen rezensiert wurde, u. a. in den Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek in den 1740er Jahren.51 Eine ganz besondere Bedeutung in der Erforschung der deutschen Spinozarezeption hatten natürlich die Arbeiten Ludwig Steins, die mit Leibniz statt philosophischer Randfiguren der deutschen Philosophiegeschichte den größten deutschen Philosophen und Zeitgenossen Spinozas ins Spiel brachten. Auf der Grundlage neuaufgefundener Dokumente veröffentlichte Stein 1888 zwei Aufsätze zu Leibniz’ Beziehung zu Spinoza und dann 1890 eine umfassende entwicklungsgeschichtliche Darstellung von Leibniz’ Philosophie. Darin behauptete und belegte Ludwig Stein, dass Leibniz etwa zwischen 1676 und 1682, also in der den ersten Entwürfen seiner reifen Philosophie unmittelbar vorausliegenden Periode, Spinoza freundlich gesinnt war und ein intensives Interesse an seinen Werken entwickelte. Diese Publikationen werden von der deutschen und christlichen Leibnizforschung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts scharf zurückgewiesen und heruntergespielt, insbesondere durch Carl Gerhardt, den Herausgeber von Leibniz’ Philosophischen und Mathematischen Schriften.52 Auch der einflußreiche preußische Universitätsprofessor Trendelenburg beteiligte sich mit heftigen und unsachlichen An48 Dass die bloße Nennung von Spinozas Namen bereits Schrecken auszulösen vermochte, kann ja auch leicht aus der Vorrede der ersten deutschen Übersetzung ersehen werden, wo der anonyme Übersetzer, Johann Lorenz Schmidt, sein Projekt damit begründet, dass er dem Werk das Kettengerassel und den Angstschauer nehmen und es zur sachlichen, wenn auch klarerweise kritischen Diskussion übergeben wolle. Siehe B.v.S. Sittenlehre widerleget von dem berühmten Weltweisen unserer Zeit Christian Wolff, (Frankfurt/Leipzig 1744) Nachdruck: Hildesheim/New York 1981, Abt. 3, vol. 15, Vorrede ohne Pag. 49 Bäck (s. o. Anm. 19), 29–30. 50 AaO. 26. 51 Siehe Anm. 25. 52 Vgl. Goldenbaum, Why shouldn’t Leibniz have studied Spinoza? The Rise of the Claim of Continuity in Leibniz’ Philosophy out of the Ideological Rejection of Spinoza’s Impact on Leibniz, in: The Leibniz Review, December 2007, 107–138.

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griffen auf Stein. Obwohl Stein ausdrücklich erklärt hatte, er sehe Leibniz zu keiner Zeit seines Lebens als einen Spinozisten, genügte es zu seiner Widerlegung, eben diese nicht behauptete These zu widerlegen. In der gegenwärtigen Leibnizforschung findet Steins These einer Spinoza freundlichen Periode 1676–82, auch aufgrund der im Druck zugänglichen Schriften jener Jahre, zunehmend Bestätigung, – ohne dass Ludwig Stein bisher als Gelehrter rehabilitiert worden wäre. Stein behauptete eben gerade nicht, dass Leibniz Ideen Spinozas schlicht über- oder angenommen hätte. Er entwickelte ein viel differenzierteres Verständnis, wonach Leibniz wegen der bestehenden Ähnlichkeit seiner eigenen Ideen mit denen Spinozas einerseits und der radikalen Differenz hinsichtlich der Konsequenzen Spinozas für die christliche Religion andererseits an einer alternativen Lösung für sein philosophisches System habe arbeiten müssen.53 Mit diesem Werk Steins war der Nachweis gelungen, dass der größte zeitgenössische deutsche Philosoph sich vor allem in einer frühen Periode seines Lebens intensiv mit Spinoza beschäftigt hatte, dass er begierig war, seine Werke kennenzulernen, dass er Wert darauf legte, seine persönliche Bekanntschaft zu machen und dass er seine eigene Philosophie zu einem gewissen Grade ausdrücklich gegen Spinoza entwickelt hat. Damit bestätigte Stein auch die schon von Moses Mendelssohn behauptete Abhängigkeit von Leibniz’ prästabilierter Harmonie von Spinozas Attributenlehre.54 Ähnlichen Behauptungen über Kants kritische Auseinandersetzung als einer Humerezeption wird nicht widersprochen, auch wenn Kant niemals ein Anhänger von Hume geworden ist. Anders im Fall Spinozas! Ein Aufschrei der Empörung war die Folge von Steins Buch, denn – Leibniz sei zu keiner Zeit seines Lebens ein Spinozist gewesen. Aber die Leibnizforschung ging sogar weiter. Um jede Spinozarezeption bei Leibniz ein für alle mal auszuschließen, wurde die These vom frühreifen Leibniz und einer ununterbrochenen Kontinuität seiner philosophischen Entwicklung erdacht, von den frühen Samen seiner Jugendschriften in Leipzig bis zur Monadologie und Theodizee.55 Diese verkehrte These sollte schlicht verhindern, dass Leibniz Spinoza bereits kennen konnte, bevor er seine eigene Philosophie in ihrem Kern entwickelt hatte. Diese Auffassung ist bis heute verbreitet, obwohl sie in jüngerer Zeit widerlegt wurde. Eine weitere und wohl bislang die umfassendste Darstellung der deutschen Spinozarezeption wurde von Max Grunwald 1897 als gekrönte Preisschrift veröffentlicht. Der spätere Rabbiner in Hamburg und Wien unternahm einen auf Vollständigkeit angelegten Versuch einer umfassenden Bestandsaufnahme der Erwähnung und Diskussion Spinozas vom Erscheinen seiner Schriften bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Damit bediente er genau die Preisfrage, die nicht nur nach dem Einfluß auf deutsche Dichter und 53 »Er braucht darum so wenig Spinozist in der Schulbedeutung des Wortes gewesen zu sein, so wenig er in diesem engeren Sinne Cartesianer, Platoniker, Aristoteliker oder Scholastiker war [. . . ]. Und so ist er denn auch niemals Spinozist in der engen Schulbedeutung des Wortes trotz der vielen Anklänge an pantheistische Lehren gewesen«; Ludwig Stein, Leibniz und Spinoza: ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Leibnizschen Philosophie, Berlin 1890, 26. 54 Vgl. Moses Mendelssohn, Philosophische Gespräche, Berlin 1755, 1. Gespräch, in: Ders., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (s. o. Anm. 15), Bd. 1, hg. v. Fritz Bamberger, 1971. 55 Vgl. Willy Kabitz, Die Entwicklungsgeschichte des jungen Leibniz. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte seines Systems, Heidelberg 1909.

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Denker nach dem Pantheismusstreit gefragt hatte, sondern auch nach den Auffassungen der Schriftsteller darüber in den letzten zwei Jahrhunderten. Grunwald beginnt mit den Zeitgenossen Spinozas und endet mit Nietzsche. Auffallend ist, dass er auch Autoren jenseits der akademischen Philosophiegeschichte wie Ernst Haeckel sowie eine breite Palette jüdischer Autoren in seine Darstellung aufgenommen hat, die man gewöhnlich in Darstellungen der Spinozarezeption vermisst, darunter auch Salomon Maimon, Rahel von Varnhagen, Heine, Auerbach, und Geiger. Ein Paragraph des Buches ist sogar dem Materialismus und Sozialismus gewidmet. Das Ziel seiner Gesamtdarstellung ist für Grunwald wie schon für Krakauer und Bäck der Nachweis einer ununterbrochenen und anwachsenden Wirkung Spinozas im deutschen Denken, wobei er neben der Philosophie eben auch die Politische Theorie Spinozas im Blick hat. Obwohl die Schrift in bestimmten Paragraphen interessante Diskussionen bietet, wie über den Pantheismusstreit, Schleiermacher, Schelling, die Hegelsche Schule und »Materialismus und Sozialismus«, kann sie angesichts des Umfangs der darzustellenden Periode über weite Strecken nur eine Bestandsaufnahme sein (mitunter in nur einem Absatz). Was aber der Autor wie schon seine Vorgänger vor allem unterstreicht, ist die Tatsache, dass es Mendelssohn war, der zuerst in Deutschland Spinozas philosophische Bedeutung öffentlich ausgesprochen hat, indem er insbesondere auf seinen Einfluß auf Leibniz verwiesen habe.56 Schließlich wird auch Lessings Spinozarezeption ausdrücklich behandelt. Nachdem diese Darstellungen lange Zeit schlicht wenig beachtet wurden, so dass die Auffassung von der überragenden Bedeutung des Pantheismusstreits für die deutsche Spinozarezeption sich bis heute behauptet, ist ihnen nun in jüngerer Zeit erstmals massiv widersprochen worden mit dem Ziel, die traditionelle Zentralstellung des Pantheismusstreits für die deutsche Spinozarezeption durch eine erneute Abwertung der frühen Spinozarezeption wiederherzustellen. Ich spreche von Winfried Schröder und seiner Dissertation Spinoza in der deutschen Frühaufklärung.57 Er liefert zwar eine systematische und historisch sachkundige Darstellung in den Werdegang und das Denken der sogenannten frühen Spinozisten, wobei wieder Stosch, Lau und Wachter im Zentrum der Darstellung stehen; allerdings behauptet er weit mehr, als seine sonst sehr gründliche und Neues bringende Untersuchung leistet. Seiner Auffassung nach erfüllte nämlich keiner der sogenannten frühen Spinozisten die Kriterien einer korrekten Spinozainterpretation; vor allem ihr Festhalten an einer normativen Moral zeige, dass sie nicht als Spinozisten gelten könnten. Wohl aber sieht Schröder Stosch, Lau und Wachter als Frühaufklärer. Aus dieser Konstellation konstruiert er sodann einen Beleg für seine geradezu abenteuerliche These, dass Spinoza der Aufklärung überhaupt unzugänglich gewesen sei.58 Schröder geht es also gerade um eine Ablehnung der Hauptthesen von Krakauer, Bäck, Stein, und Grunwald, die ja alle die Spinozarezeption als Teil der Aufklärungsbewegung gesehen haben, ebenso wie das gegenwärtig von Jonathan Israel 56 Vgl. Krakauer (s. o. Anm. 19), 6, sowie die differenzierte Darstellung bei Grunwald (s. o. Anm. 18), 92–97. 57 Schröder (s. o. Anm. 19), 164. 58 AaO. 175–6.

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vertreten wird.59 Spinoza wird als Aufklärer im Kampf gegen Vorurteile, religiöse Intoleranz, und Gewissenszwang dargestellt. Schröder behauptet dagegen eine grundsätzliche Unverträglichkeit von Spinozismus und Frühaufklärung60 und sieht in den Schriften der frühen Spinozisten »exemplarisch das unvermeidliche Scheitern des Versuchs, Spinoza mit den Zielen der Frühaufklärung zu vermitteln«.61 Leo Bäck habe die Abhängigkeit der von ihm angeführten Autoren von Spinoza schlicht überschätzt.62 Allerdings lehnt Schröder es ausdrücklich ab zu erklären, was seiner Auffassung nach ein korrektes Spinozaverständnis sei, und rechtfertigt seine These allein mit der Mediokrität der frühen Spinozisten: »Es ist der intellektuellen Mediokrität ihrer Repräsentanten zu verdanken, daß ihr Verhältnis zu Spinoza beurteilt werden kann, ohne willkürlich eine bestimmte Interpretation seiner Philosophie als verbindlich vorauszusetzen: Ein oft unbekümmerter Eklektizismus, gepaart mit einem Mangel an synthetisierender Verarbeitung der heterogenen Quellen ließ Brüche und Inkonsistenzen in ihren Texten sichtbar bestehen.«63 Aber hat dieses Urteil seine Berechtigung nicht auch für alle künftigen sogenannten »Spinozisten« des Pantheismusstreits? Weder Herder noch Goethe, weder Jacobi noch Novalis, weder Schleiermacher noch Hegel haben doch je ein korrektes Spinozaverständnis im Sinne Schröders entwickelt. Sicherlich hat keiner von ihnen die Willensfreiheit aufgegeben und damit auch nicht die normative Moral. Auch musste sich Spinoza von ihnen eine Christianisierung gefallen lassen, die mindestens eklektisch zu nennen erlaubt sein wird. Gegen diesen naheliegenden grundsätzlichen Einwand verteidigt aber Schröder seinen Forschungsansatz in einer sehr langen Fussnote (!): während in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts allein die korrekte Übereinstimmung mit Spinoza als Rezeption gelten könne, müssten ab dem Pantheismusstreit auch eigenwillige Spinozainterpretationen als gerechtfertigt angesehen werden, da der »historische Abstand Herders und seiner Zeitgenossen von Spinoza und die völlige Verschiedenheit ihrer Problemhorizonte [. . . ] Akzentverschiebungen und Missverständnisse von vornherein erwarten« ließe.64 Nun ist der ca. 100-jährige Abstand Herders von Spinoza offensichtlich größer als der 35-jährige Wachters, aber Mendelssohn war ein Zeitgenosse Herders. Auch scheint mir die politisch-geographische Verschiedenheit der Wirkungsorte der frühen Spinozisten wie auch ihre 35–70-jährige zeitliche Distanz von Spinoza ausreichend, um auch ihnen ihre eigene »Verschiedenheit ihrer Problemhorizonte [. . . ] Akzentverschiebungen und Missverständnisse« zuzugestehen. Überdies gelangt Schröder zu seinen entschiedenen und ultimativen Thesen allein aufgrund der Rezeption von Spinozas Ethik, ohne überhaupt die Wirkung des Theologisch-politischen Traktats in seine Untersuchung einzuschließen, der gerade in der deutschen Frühaufklärung einen weitaus größeren Einfluß hatte, verständlicherweise 59 Vgl. Jonathan Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650– 1750, Oxford/New York 2001. 60 Schröder (s. o. Anm. 19), 152. 61 AaO. 153. 62 AaO. 147; diese Überschätzung sei von Grunwald, Freudenthal, und anderen übernommen worden. 63 AaO. 149. 64 AaO. 18, Fn.

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insbesondere unter Theologen.65 Angeblich sei der Tractatus von anderen religionskritischen Schriften kaum unterscheidbar,66 was erneut eine kühne und nicht aufrechtzuhaltende Behauptung ist. Ungeachtet dessen gibt der Autor am Ende folgendes rigoroses Gesamturteil ab: »Die Summe der in dieser [seiner] Arbeit gezeichneten Einzelporträts ergibt ein ernüchterndes Gesamtbild, das den frühen Spinozismus als noch unbedeutender erscheinen lässt, als es die Gruppe der in der Literatur genannten Anhänger des niederländischen Philosophen ohnehin schon war«.67 Ignorantia non est argumentum, möchte man mit Spinoza ausrufen.68 Aber vor allem fällt die argumentative Figur auf, wonach eine frühe Spinozarezeption geleugnet wird, indem der frühe Spinozismus als unbedeutend nachgewiesen wird, um dagegen die deutschen Denker und Dichter nach dem Pantheismusstreit als die wahren Verehrer Spinozas zu feiern. Da Schröder alle diejenigen Diskussionen und kritischen Auseinandersetzungen mit Spinoza des frühen 18. Jahrhunderts, die nicht zu einer für ihn »korrekten« Identifizierung mit dessen Auffassungen führten, von vornherein aus der Spinozarezeption ausschließt, verliert er natürlich auch alle die großen Figuren der deutschen Frühaufklärung aus dem Blickfeld, die doch noch für Krakauer, Bäck, Stein und Grunwald klar zur Geschichte der Spinozarezeption (nicht der Spinozisten) gehörten – vor allem Leibniz, aber auch Thomasius, Tschirnhaus, Pufendorf, Mosheim, Wolff, Schmidt, Baumgarten, Reimarus, und – unverzeihlich – Moses Mendelssohn. Die Fruchtlosigkeit und sogar Absurdität dieses Ansatzes tritt vor allem durch die neuen Forschungsergebnisse und klaren Belege zur intensiven Spinozarezeption bei Leibniz zutage.69 Aber wir wissen, dass alle die eben genannten und keineswegs marginalen deutschen Philosophen des frühen 18. Jahrhundersts Spinozas Schriften gut gekannt und diskutiert haben, teilweise mit ihren Studenten, was für Krakauer, Bäck und Grunwald außer Frage stand.70 65 Die führenden Gelehrten Mosheim, Reimarus und J.S. Baumgarten der Frühaufklärung hatten Spinoza jedenfalls in ihren Bibliotheken. Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Handschriftenverzeichnis und Bibliographie, hg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1979 (=Veröffentlichungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft für Wissenschaften, 37); hinsichtlich der Bibliothek von Siegmund Jakob Baumgarten verweise ich auf die Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek, siehe Anm. 25; hinsichtlich Mosheims Spinozakenntnis auf Ralph Häfner, Johann Lorenz Mosheim und die OriginesRezeption in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Johann Lorenz Mosheim (1693–1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte, hg. Martin Mulsow, Ralph Häfner, Florian Neumann und Helmut Zechmaier, Wiesbaden 1997, 241–244, sowie auf den Hinweis auf einen Spinozatitel in seiner Bibliothek in: Ralph Häfner/Martin Mulsow, Mosheims Bibliothek, in: AaO. 373–399, hier 392. 66 Schröder (s. o. Anm. 19), 10–11. 67 AaO. 148. 68 Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata, in: Benedicti de Spinoza Opera quotquot reperta sunt, hg. v. J. van Vloten und J.P.N. Land, Bd. I, Den Haag 1895, 69 (App. zu Teil I). 69 Siehe Goldenbaum (s. o. Anm. 52). 70 Die Rezensionen zu Spinoza in öffentlichen deutschen Zeitschriften sprechen für eine verbreitete Kenntnis der Hauptthesen Spinozas. Siehe Anm. 25. Bäck und Krakauer haben bereits gezeigt, dass auch andere Gelehrte wie z. B. Thomasius Spinoza gut kannten und sogar mit Studenten über ihn gesprochen haben. Siehe Grunwald (s. o. Anm. 18), 27–28. Otto weist darauf hin, dass Pufendorf Spinoza in der 1. Auflage seines De jure naturae et gentium von 1672 noch nicht, dann aber in der 2. Auflage (Frankfurt/M. 1684, 159–163) »mit Grundbestimmungen des spinozanischen Naturrechts

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Vor allem aber fällt auf, wie schnell Schröder über Moses Mendelssohns Spinozastudien hinweggeht, der in sein Schema von frühen falschen Spinozisten einerseits71 und den großen Dichtern und Denkern nach dem Pantheismusstreit andererseits gar nicht hineinpasst. Mendelssohns Spinozadiskussion von 1755, die noch für Krakauer, Bäck und Grunwald von größtem Gewicht war, weil hier Spinoza das erste mal eine freie und positive Darstellung erfuhr, ist nach Schröder angeblich schon bloße philosophiegeschichtliche Darstellung.72 Und das, obwohl er selbst an anderer Stelle sagt, dass in Deutschland erst ein Vierteljahrhundert nach 1757 »Ansätze einer freien Diskussion über Spinoza sichtbar wurden«,73 womit natürlich wieder nur der Pantheismusstreit gemeint ist. Aber wenn Schröder in Mendelssohns Argument, dass sogar Leibniz von Spinoza lernen und durch ihn dessen Fehler vermeiden konnte, auch noch ableiten will, dass Mendelssohns vorsichtiges Bekenntnis zu Spinoza einen Rückschritt hinter Leibniz und Wolff bedeutete,74 so hat er vor allem seinen Rückschritt hinter die hermeneutischen Prinzipien von Krakauer, Bäck und Grunwald bewiesen. Auch wenn Mendelssohn Leibnizianer war, so diente dieses Argument in diesem Kontext gerade der Rechtfertigung Spinozas als einem großen Philosophen.75 Dass aber dieses Argument 1755 durchaus noch nötig war, um eine solche Rechtfertigung öffentlich vorzustellen, zeigt zugleich, dass Mendelssohns Schrift ebenso wenig wie Lessings begeisterte Rezension schon philosophiehistorische Darstellung war, sondern eben Teil der Auseinandersetzung um Spinoza.76 Erst vor wenigen Jahren ist von Rüdiger Otto eine neue, umfassende und auf neuer Quellenarbeit beruhende hochsolide Untersuchung zur deutschen Spinozarezeption im 18. Jahrhundert vorgelegt worden; sie übertrifft alle bisherigen Gesamtdarstellungen zu diesem entscheidenden Zeitraum im methodischen Zugriff wie im Umfang der Quellensichtung und vermag zweifellos vorausgegangene Darstellungen ersetzen. Was aber auch selbst diese Darstellung ausspart, ist die jüdisch-deutsche Perspektive auf Spinoza. Der Autor konzentriert sich sogar besonders auf die Entwicklung innerhalb der christlichen Theologie im 18. Jahrhundert und vermag zu zeigen, wie und warum die Spinozabegeisterung ab 1785 mit einer überraschenden »Christianisierung« Spinozas einherging.77

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ins Gericht« geht. Vgl. Otto (s. o. Anm. 3), 34, Fn. 93. Vgl. auch aaO. 42, Fn. 32, sowie 62, Fn. 16. In jedem Fall zeigt Otto, dass Thomasius und Pufendorf über Spinoza privat korrespondiert haben. Schröder (s. o. Anm. 19), 152. »Der als eine frühe positive Würdigung Spinozas oft zitierte Passus aus den ›Philosophischen Gesprächen‹ von 1755 dokumentiert zugleich das Bewusstsein des historischen Abstandes: Gewissermaßen als Philosophiehistoriker trifft Mendelssohn die Feststellung, ›daß Spinosa an der Verbesserung der Weltweisheit einen großen Antheil hat. Ehe der Uebergang von der Cartesianischen bis zur Leibnitzianischen Weltweisheit geschehen konnte, mußte jemand in den dazwischen liegenden Abgrund stürzen. Dieses unglückliche Loos traf Spinosen. [. . . ] Ohne ihn hätte die Weltweisheit ihre Grenzen nimmermehr so weit ausdehnen können.‹«; (aaO. 13). AaO. 70. AaO. 13. Otto (s. o. Anm. 3), 184–185. Siehe Lessings Rezension in der Vossischen Zeitung am 1.3.1755, in: Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann und Karl Muncker, Bd. 7, Berlin 1968, 13. Otto (s. o. Anm. 3), 232–298.

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Obwohl dies durchaus erhellend ist, um die plötzliche Wende in der Bewertung Spinozas unter christlichen Autoren ab 1785 nachzuvollziehen, wird in dieser Darstellung des Pantheismusstreits weder Moses Mendelssohns Sicht auf Spinoza noch der durchaus antijudaische Charakter der neuen christlichen Begeisterung über Spinoza nach dem Spinozastreit erkennbar, wie übrigens auch Lessings wenig christliche Spinozastudien ausgespart bleiben. Solche Kritik gilt aber erst recht für fast alle vorherigen Darstellungen nichtjüdischer Provenienz. Ausnahmen finden sich in dem Sammelband Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte.78 Natürlich schenkt der jüdische Autor Sylvain Zac in seiner Untersuchung Spinoza en Allemagne der Perspektive Mendelssohns besondere Aufmerksamkeit.79 Es ist auch nicht überraschend, dass die Arbeiten zum jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn dessen Sichtweise Spinozas und des Pantheismusstreits in den Blick nehmen, ohne dass diese jedoch größere Beachtung durch die allgemeine Philosophiegeschichte fänden.80

3. Ein neuer Blick auf die Ergebnisse des Pantheismusstreits In meinen Augen aber war der Pantheismusstreit keineswegs ein so großartiges Ereignis für die deutsche Spinozarezeption, denn Spinoza war kein so ganz Unbekannter mehr im deutschsprachigen Raum. Abgesehen von Mendelssohns Rettung Spinozas in seinen Philosophischen Gesprächen (1755), die in den 1760er und 1770er Jahren mehrfach wiederaufgelegt wurden, erschien 1783 in Berlin eine Darstellung und Rechtfertigung Spinozas von dem Freund Christian Wilhelm Dohms, dem Arabisten und preußischen Reformbeamten Heinrich Friedrich Diez. Auch im Fragmentenstreit 1778 waren Positionen Spinozas (durch Lessing) und des Deismus (durch Reimarus) zur öffentlichen Diskussion gebracht worden. Goethe berichtet ebenfalls, er habe Spinoza schon in seiner Strassburger Zeit gelesen, übrigens angeregt durch den frühen Spinozisten Dippel. Der Name Spinoza wurde zwar immer noch mit Scheu aus- und angesprochen, aber die interessierten unter den Gebildeten wussten um seine intellektuelle Faszination. In den gedruckten Verzeichnissen der führenden protestantischen Theologen in Deutschland finden sich regelmäßig auch Spinozas Schriften ebenso wie die Schriften der frühen Spinozisten, so bei Mosheim, Siegmund Jacob Baumgarten sowie bei Reimarus.81 Vor allem aber ist von dem großen Spinozaenthusiasmus schon wenige Jahre nach 78 Vgl. Achim Engstler, Zwischen Kabbala und Kant. Salomon Maimons »streifende« SpinozaRezeption, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte (s. o. Anm. 12), 162–192; Andreas Kilcher, Kabbala in der Maske der Philosophie. Zu einer Interpretationsfigur in der Spinoza-Literatur, in: AaO. 193–242; Gabriele von Glasenapp, Spielarten jüdischer Identitätsbestimmung im frühen 19. Jahrhundert. Bertold Auerbachs Spinoza-Roman, in: AaO. 289–304. 79 »Mendelssohn s’oppose à l’irrationalisme de Jacobi; non seulement comme Aufklärer mais encore comme Juif «; Zac (s. o. Anm. 18), 153 (meine Hervorhebung, UG). Vgl. auch 121–154. 80 Eine Ausnahme ist Heinrich Heines Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland (siehe Anm. 27). 81 Siehe Anm. 65.

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dem Pantheismusstreit nicht viel übrig geblieben, schaut man näher auf die Ergebnisse. Es sind immer die gleichen Zitate der Verehrung für den verkannten einsamen Philosophen, die Bewunderung für seinen Amor Dei intellectualis und sein Einswerden mit Gott, sowie das Hinabsenken in die eine unendliche Substanz. Aber sogar der enthusiastische Spinozist Schelling hat spätestens mit seiner Freiheitsschrift den Versuch aufgegeben, Spinoza und den freien Willen zu versöhnen und hat sich für den letzteren entschieden. Nach den strengen Maßstäben Winfried Schröders kann keiner der Heroen in Jena oder Weimar ein Spinozist heissen, vielleicht mit der Ausnahme Goethes, dem es wie Mendelssohn und Lessing weniger um den Substanzbegriff als um Spinozas Affektenlehre ging. Für mein heutiges Thema scheint aber ein ganz anderes Resultat des Pantheismusstreits von größerem Interesse. Am Ende des Pantheismusstreits geht, mindestens für die christliche Welt, der Stern des bis dahin bewunderten Moses Mendelssohn unter – man ist wieder unter sich. Dagegen wird der jüdische Philosoph gemeinsam mit seinem Freund Lessing in der deutsch-jüdischen Tradition weiterhin verehrt, gelesen und diskutiert, bis zur Zeit der Naziherrschaft. Den christlichen Dichtern und Denkern hat sich der damals größte lebende deutsche Philosoph im Pantheismusstreit als Flachkopf ohne philosophischen Tiefgang entpuppt, der weder Spinoza noch seinen Freund Lessing verstanden hätte. Ja, Hegel macht ihm sogar zum Vorwurf, Mendelssohn behaupte ungerechtfertigt ein Monopol auf diese Freundschaft mit Lessing.82 Erschreckenderweise hält sich dieses Urteil bis in die Gegenwart. Ausgerechnet Mendelssohn wurde so zum Repräsentanten derjenigen, die nach dem Wort von Mendelssohns bestem Freund Lessing den Spinoza für einen »toten Hund« hielten.83 Lessing hätte es besser gewußt.84 Die Erkenntnis und Anerkenntnis setzt sich nur langsam in unseren Tagen durch, dass Mendelssohns Spinozaverständnis das seiner Zeitgenossen weit überragte,85 auch 82 So versucht Hegel, Mendelssohn in seinem Stolz auf seine lebenslange Freundshcaft mit Lessing zu kränken: »es zeigte sich im Verfolg des [Pantheismus]Streites, daß diejenigen, welche sich für Männer vom Fach der Philosophie und vom Monopol der Freundschaft Lessings, wie Nicolai, Mendelssohn usf., nichts vom Spinozismus wußten; es zeigte sich bei ihnen nicht nur Flachheit der philosophischen Einsicht, sondern sogar Unwissenheit«; G.W.F. Hegel, Werke, 20 Bde, Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III, Frankfurt/M. 2003, 316 (Hervorhebung – UG). 83 Hegel schreibt sogar: »Mendelssohn zeigte Ignoranz selbst über das äußerlich Historische der spinozistischen Philosophie, viel mehr noch über das Innere« (AaO. 317). Tatsächlich spricht sich hier die von antijudaischem Ressentiment beflügelte Ignoranz Hegels aus. Diese Sichtweise wurde lange Zeit in Literatur- und Philosophiegeschichte kanonisiert. 84 Lessing verweist in seiner Hamburgischen Dramaturgie und im Laokoon auf die Theorie der vermischten Affekte oder Emotionen, die er von Moses Mendelssohn gelernt und für seine poetische Produktion genutzt habe. Siehe Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, in: Lessings Sämtliche Schriften (s. o. Anm. 76), Bd.9, 139–140, und ders., Hamburgische Dramaturgie, in: AaO. Bd.10, 101 (2.Bd., 75.St.). Siehe auch die Verteidigung Mendelssohns gegen Klotz in Lessings Antiquarischen Briefen, in: AaO. Bd.10 , 433. Diese Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig. 85 Eine neue Wertung Mendelssohn findet sich aber endlich in der Einleitung zu Jacobis Briefwechsel: »Mendelssohn erweist sich, auch noch in der Anfrage der Elise Reimarus, als kompetenter Kenner Spinozas. Jedenfalls ist die Meinung zu korrigieren, dass auch er Spinoza nur aus zweiter Hand gekannt habe«; Friedrich Heinrich Jacobi, Briefwechsel, hg. von Peter Bachmaier u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt, Bd. I, 3 (1987), XI.

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selbst das Jacobis. Mendelssohn hatte Spinoza schon seit seiner Jugend studiert, sich allerdings früh für die Ablehnung der nicht-jüdischen Positionen Spinozas entschieden. Das hinderte ihn aber gar nicht, von ihm zu lernen, wie an seinem Buch Jerusalem ebenso deutlich wird wie an seiner Ästhetik, die nicht nur Kant schätzte und rezipierte, sondern die auch sein Freund Lessing für die allein richtige hielt und die er in seiner Arbeit anwandte. Lessing hatte zuerst 1753 durch Mendelssohn Spinozas Ideen kennengelernt und beide Freunde haben diese lebenslang zusammen diskutiert. In der jüdischen Forschung ist das weitgehend bekannt und anerkannt. Mendelssohns Werk Jerusalem, das 1783 den Höhepunkt der deutschen öffentlichen Debatte der Judenemanzipation bildet,86 argumentiert auf der Basis von Spinozas politischen Auffassungen. Die darin entwickelte Forderung nach Trennung von Staat und Kirche, auf der Grundlage der Toleranz aller der Religionen, die kein Aberglaube sind, weil sie das Gebot der Liebe enthalten, ist von Grund auf spinozistisch. Auch Mendelssohns Argument, wonach niemand zum Glauben, zu Überzeugungen oder Gefühlen gezwungen werden kann, weshalb Auffassungen und Gefühle nicht bestraft werden dürften, findet sich so zuerst bei Spinoza theoretisch ausgearbeitet. Lessings Credo wird fast immer in seiner Erziehungsschrift gesehen, die das Judentum als eine kindliche Vorstufe zum Jugendalter des Christentums betrachtet. Dabei war diese Schrift doch eine durchweg im Konjunktiv geschriebene Einladung an die Hallenser Theologen, die Möglichkeit einer weiteren entscheidenden Religionsveränderung im Erwachsenenalter der Menschheit (über das Christentum hinaus, so wie dieses sich verstand als über das Judentum hinaus) in den Blick zu nehmen. Als Mendelssohn über die Behandlung des Judentums in Lessings Erziehungsschrift als Kindheit der Menschheit verstimmt war, beruhigte Lessing ihn denn auch sogleich mit dem Hinweis, diese sei nicht für ihn geschrieben.87 Es ist in der Tat offensichtlich, dass sein definitiv letztes Wort in der Sache klarerweise Nathan der Weise war, ein der Philosophie und der politischen Theorie Spinozas verpflichtetes Werk, mit dem er zugleich seinem jüdischen Freund ein Denkmal setzte. Nicht nur ist es ein wunderbares Lehrstück der allein den Haß besiegenden Liebe, voller Poesie und Ironie, es ist auch eine klare Absage an den christlichen Gedanken einer Universalreligion, also ganz in Übereinstimmung mit Mendelssohns Auffassungen in Jerusalem. Die Moral dieses Stücks ist der Wetteifer der verschiedenen Religionsmitglieder, die Liebe der Mitmenschen zu gewinnen. In diesem 86 Vgl. dazu Gerda Heinrich, »›man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten‹. Die Debatte um ›bürgerliche Verbesserung der Juden‹ 1781–1786«, in: Ursula Goldenbaum, Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796, Berlin 2004, 813–895. 87 Lessing schrieb am 19.12.1780 an Mendelssohn: »Daß Ihnen nicht alles gefallen, was ich seit einiger Zeit geschrieben, das wundert mich gar nicht. Ihnen hätte gar nichts gefallen müssen, denn für Sie war nichts geschrieben«; Lessings Sämtliche Schriften (s. o. Anm.), Bd.18, 362. Lessing gebraucht hier, auf seine theologischen Händel mit christlichen Theologen Bezug nehmend, fast wörtlich die Formulierung eines früheren Briefes Mendelssohns an ihn, in dem dieser sich für eine zu unkritische Annäherung an die aufgeklärten Theologen in Preußen rechtfertigte – dies wäre nicht für ihn, i. e. Lessing, geschrieben, vgl. Mendelssohn an Lessing am 23.11.1756, in: Mendelssohn, Gesammelte Werke. Jubiläumsausgabe (s. o. Anm. 15), Bd.11, 73.

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spinozistischen Credo waren sich die beiden Freunde Lessing und Mendelssohn ganz und gar einig. Und in der Tat sind Judentum und Christentum und Spinozismus einander niemals so nahe gekommen wie in dieser einzigartigen gleichberechtigten Freundschaft eines Christen und eines Juden, die zu zerreden auch einem Hegel nicht erlaubt werden darf. Die theoretische Herausforderung, die Mendelssohn und Lessing einzeln und als weithin bekanntes Freundespaar für die deutsche Philosophie-, Literatur- und Theologiegeschichte bedeuteten, hat den Pantheismusstreit allererst hervorgebracht. Ihre theoretischen Positionen aber sind zutiefst beeinflusst von Spinoza und sie sind zugleich Teil, der beste Teil, der deutschen Aufklärung, die sich eben seit dem Erscheinen von Spinozas Werken mit ihm kritisch und produktiv auseinandergesetzt hatte. Es ist das Verdienst der jüdischen Forschung zur Spinozarezeption, dies von Anfang an klar gesehen zu haben, was natürlich ihrem besonderen Forschungsinteresse geschuldet war. Es ist daher an der Zeit, die traditionelle Sicht auf den Pantheismusstreit als dem Beginn der deutschen Spinozarezeption ad acta zu legen.

Gesetz – Schrift – Ritual Moses Mendelssohns politisch-religiöses Konzept Cord-Friedrich Berghahn Für Conrad Wiedemann, zum 75. Geburtstag

1. Über Moses Mendelssohns politisch-religiöses Konzept zu sprechen heißt: über seinen Lebensentwurf, seine Existenz zu reden und zugleich über die Möglichkeiten und Grenzen seiner Epoche. Mendelssohn, der im selben Jahr wie Lessing geboren wurde und der, 57 Jahre später, im selben Jahr wie sein Herrscher, Friedrich II. von Preußen, starb, Mendelssohn, der loyale Jude und der wortgewaltige Philosoph der europäischen Aufklärung, Mendelssohn hätte sein politisch-religiöses Konzept wahrscheinlich nicht thematisiert, wenn die Umstände – nämlich die Grenzen der Toleranz und die Dialektik der Säkularisierung – ihn nicht dazu gezwungen hätten.1 Allerdings gilt auch: Moses Mendelssohn hat in seinem Leben keine Kehre vollzogen. Er ist seinem jugendlichen Lebensentwurf treu geblieben, der eben zwei Seiten – die des Socrate und die des Juif de Berlin – begreift.2 Im Hinblick auf die deutschsprachigen Schriften seit seinem Erstling, den Philosophischen Dialogen von 1754, ist dies leicht zu verfolgen: Hier vertritt Mendelssohn konsequent eine Vision des Wolffianismus, die religiös kompatibel ist. Sein metaphysisches, epistemisches und ethisches System gründet in der Vorstellung einer natürlichen, vernunftkonformen Religion.3 Ein Blick in die Jubiläumsausgabe,4 die nach 80 Jahren nunmehr fast abgeschlossen vorliegt, zeigt darüber hinaus, dass Moses Mendelssohn, der sich in deutscher Sprache 1 2

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Klaus L. Berghahn, Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. Köln/Wien 2000, vgl. insbes. das Kapitel zu Mendelssohns Jerusalem-Schrift. David Sorkin, Moses Mendelssohn and the Religious Enlightenment. Berkeley/Los Angeles 1996, XX. – Mirabeau hat als erster die beiden Seiten dieser Existenz in ihrer Exemplarizität erkannt und als Testfall der Toleranz beschrieben (Ueber Moses Mendelssohn. Ueber die buergerliche Verbesserung der Juden [. . . ]. Vom Grafen von Mirabeau. Aus dem Französischen mit Anmerkungen, Berlin 1787, vgl. 83ff ). Sorkin (s. o. Anm. 2), 9. Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (bislang 36 Bde.). Begonnen von

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und Schrift erst spät zum politisch-religiösen Komplex geäußert hat,5 seit den frühen 1750er Jahren in seinen hebräischen und jüdischdeutschen Schriften6 systematisch und konsequent einen deutsch-jüdischen Weg entworfen hat, von dem ihm auch die Zumutungen seiner Epoche nicht abbringen konnten. Im Folgenden soll es nicht um Moses Mendelssohns hebräische und jüdischdeutsche Schriften gehen, mittlerweile sieben umfangreiche Bände der Jubiläumsausgabe, sondern um jene Schriften, in denen er in der letzten Dekade seiner Autorschaft und unter dem Druck öffentlicher Provokationen sein Rechts- und Staatsverständnis mit seinem Entwurf des Judentums zusammengeführt hat;7 um Schriften, in denen der Naturrechtstheoretiker,8 der politische Diskutant der Mittwochsgesellschaft9 und der Pädagoge einer ganzen Generation politischer und gesellschaftlicher Reformer zusammenfällt mit dem Vordenker und der Symbolfigur der jüdischen Aufklärung, der Haskala,10 und mit dem politischen Sprecher der Berliner, der preußischen und der westeuropäischen Juden. Es ist diese Stimme, die die europäische Aufklärung vernommen und in den Jahren zwischen 1783 und 1809 intensiv diskutiert hat. Auch Schleiermacher, der Vertraute der Henriette Herz und der Theoretiker des »geselligen Betragens«,11 hat sie vernommen und implizit auf sie in seinen Reden über die Religion reagiert. Freilich unterkomplex, aus einer Perspektive, die genau das, worauf es Mendelssohn ankam, übersah und überhörte: den Nexus von Säkularisierung und Messianismus, die Erfahrung von Ge-

I[smar] Elbogen, J[acob] Guttmann, E[ugen] Mittwoch. Fortgesetzt von A[lexander] Altmann, E[va] J. Engel, M[ichael] Brocke und D[aniel] Krochmalnik. In Gemeinschaft mit F[ritz] Bamberger, H[aim] Borodianski (Bar Dayan), S[imon] Rawidowicz, B[runo] Strauss, L[eo] Strauss, W[erner] Weinberg, M[ichael] Albrecht, R[euven] Michael und H[ans] Lausch. Berlin 1929–32; Breslau 1938 [Bd. XIV]; Stuttgart/Bad Cannstatt: 1972ff. (künftig: JubA). 5 Vgl. Cord-Friedrich Berghahn, Moses Mendelssohns »Jerusalem«. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte und der pluralistischen Gesellschaft in der deutschen Aufklärung (Studien zur deutschen Literatur 161), Tübingen 2001, 24ff. und 169ff. 6 Vgl. zum Jüdischdeutsch in der Geschichte jüdischer Emanzipation Werner Weinberg, Die Bezeichnung jüdischdeutsch. Eine Neubewertung, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981), 253–290. 7 Dieser Teilaspekt hat im Verlauf des 19. Jahrhunderts und bis weit in das 20. hinein die Wirkungsgeschichte des hebräischen und jüdischdeutschen Autors Mendelssohn marginalisiert, vgl. David Sorkin, The Mendelssohn Myth and its Method, in: New German Critique 77 (1999), 7–28. 8 Alexander Altmann, Prinzipien politischer Theorie bei Mendelssohn und Kant, in: Ders., Die trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. II, 3), Stuttgart/Bad Cannstatt 1982, 192–216, vgl. hier 193ff. 9 James Schmidt, The Question of the Enlightenment: Kant, Mendelssohn, and the Mittwochsgesellschaft, in: Journal of the History of Ideas 50 (1989), 269–91. 10 Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002, vgl. insbes. 56ff. 11 Vgl. dazu jetzt Conrad Wiedemann, Grenzgänge. Studien zur europäischen Literatur und Kultur, Heidelberg 2005, 327–355 (»Ideale Geselligkeit und ideale Akademie. Schleiermachers GeselligkeitsUtopie 1799 und heute«).

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schichte als Entfernung zur und als Entstellung der Offenbarung und die Dialektik von Partikularem und Universellem.12 Diese Stimme, mit der sich Mendelssohn nach 1780 zu Wort meldete, hatte der europäischen république des lettres aber nicht nur ein Votum zum status quo von Kirche und Staat, Juden und Christen, historischer und vernünftiger Wahrheit zu überbringen, sondern sie wollte zugleich Elementares, aber Verdrängtes in Erinnerung rufen. Namentlich das, was Walter Benjamin als die »theologische Erbmasse von Spekulationen« bezeichnet, »die zum letzten Mal im 17. Jahrhundert aktuelle, gesamteuropäische Bedeutung besessen haben«.13 Mendelssohn entwirft sein politisch-religiöses Konzept als dichte Montage aus jüdischer Tradition, der Staatstheorie Hobbes und der theologisch-politischen Denkbewegung Spinozas. Hier, in der klandestinen – und man erinnere sich an den Skandalwert des Namens Spinoza im 17. und 18. Jahrhundert – Anverwandlung und Diskussion der Positionen Spinozas zu Offenbarung, Staat und Pactum, zu Moses, den Ritualgesetzen und ihrer Gültigkeit, zeigt sich ein weiterer, dieses Mal höchst aktueller Aspekt seines theologisch-politischen Denkens. Denn wenn man mit Willi Goetschel die Aneignung und Diskussion der Philosophie Spinozas als Schwellenmoment der Moderne begreift,14 dann überschreitet in den Jahren nach 1780 auch die deutsche Aufklärung diese Schwelle, maßgeblich in den Schriften Mendelssohns. Höchst differenziert und modern ist schließlich auch das, was sich in Mendelssohns Schriften zum theologisch-politischen Komplex in der Sprache vollzieht. Dass Moses Mendelssohn mit einer großen Sensibilität der Sprache gegenüber ausgestattet war, ist bekannt. Schon weniger sein wissenschaftliches Interesse an Fragen des Sprachursprungs und der Übersetzung.15Aber auch in seinen Schriften zum theologisch-politischen Komplex und zum Verhältnis von Sprache und Religion zeigt sich ein Mendelssohn, der die Rolle der Sprache und der Schrift, ihre religiöse und ihre säkulare Dimension auf das Genaueste reflektiert. Auch darum, um »rituelle Schrift« und »religiöse Verfassung«,16 12 Das Bild der jüdischen Religion, das Schleiermacher in der fünften und letzten Rede Ueber die Religion entwirft, scheint mir auf polemische Weise auf Mendelssohns im Folgenden dargelegte Idee des Judentums zu antworten. Wo Mendelssohn das Judentum durch die Zeremonialgesetze wesentlich bestimmt (und spirituell erfüllt) sah, sieht Schleiermacher 1799 im Judentum nur eine durch Adiaphora bestimmte »todte Religion«, ein »merkwürdiges Beispiel von der Corruption und vom gänzlichen Verschwinden der Religion« (Friedrich Schleiermacher, Ueber die Religion, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe [Sigle KGA], hg. von Hans-Joachim Birkner [u. a.], Bd. I/2, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185–326, hier 314f.). 13 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften (7 Bde.). Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1972–1989, Bd. II.1, 339. 14 Willi Goetschel, Spinoza’s Modernity: Mendelssohn, Lessing, and Heine, Madison, Wisc. 2004, 3ff. 15 Mendelssohns umfassendes Interesse und seine Kenntnis der Sprachtheorien der Aufklärung zeigt Ulrich Ricken, Mendelssohn und die Sprachtheorien der Aufklärung, in: Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung, hg. von Michael Albrecht und Eva J. Engel, Stuttgart/Bad Cannstatt 2000, 195–241. 16 Carola Hilfrich, »Lebendige Schrift«. Repräsentation und Idolatrie in Moses Mendelssohns Philo-

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soll es im Folgenden gehen. – Vor allem aber um den Versuch einer deutsch-jüdischen Existenz, die, mehrfach aus der Bahn geworfen, stets auf existenzielle Weise im politischreligiösen Feld justiert wurde. Es geht, spricht man über Moses Mendelssohns politischreligiöses Konzept, um trigonometrische Punkte eines Lebens.

2. Der erste dieser trigonometrischen Punkte ist der sogenannte Lavater-Konflikt. Er ist sozusagen das Initial der deutschsprachigen politisch-religiösen Autorschaft Moses Mendelssohns, und er steht am Anfang einer Denkbewegung, die Mendelssohn in den kommenden 14 Jahren zur Ausformulierung seines Begriffs des Politischen, des Rechts und seiner Confessio Judaica führen sollte.17 Der Schweizer Theologe Johann Caspar Lavater hatte Mendelssohn in der Widmung eines von ihm übersetzten apologetischen Werks, der Palingénésie philosophique des Naturforschers Charles Bonnet, 1769 aufgefordert: »Nicht, diese Schrift mit philosophischer Unpartheylichkeit zu lesen; denn das werden Sie gewiß, ohne mein Bitten, thun: Sondern, dieselbe öffentlich zu widerlegen, wofern Sie die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finden. Dafern Sie aber dieselben richtig finden, zu thun was Klugheit, Wahrheitsliebe, Redlichkeit Sie thun heissen; – was Socrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte« (JubA VII, 3).18

Für Lavater war Mendelssohns jüdische Differenz das Skandalon in dieser Kontroverse; für die beobachtende europäische Aufklärung resultiert aus ihr das Unbehagen an einer Kultur, in der der unbewältigte theologisch-politische Rest jederzeit außer Kontrolle geraten konnte. Zugleich empfanden die Beobachter jenen frisson, den die Frage auslöste, wie man es denn nun mit der Religion halte als Aufklärer und observantes Mitglied der ältesten, an historische Wahrheiten gebundenen Gesetzesreligion, der jüdischen. Damit war die von Mendelssohn lange Zeit gehegte Hoffnung, als Bürger zweier Welten unbehelligt leben und schreiben, forschen und hoffen zu können, ad acta gelegt. Für ihn und für die gesamte jüdische Aufklärung. Und es war zugleich klar, dass dieser Herausforderung nicht ausgewichen werden konnte. Gezwungen, Gründe für die Legitimierung seiner Position und seiner Religion zu benennen, fand sich Mendelssohn inmitten jenes politisch-theologischen Minenfeldes, das er so lange zu umgehen gehofft hatte.19 Mendelssohn hat sich in dieser für ihn und für seine Glaubensgenossen schwierigen Situation lange beraten, hat taktierend geantwortet und seine Argumente für eine deutsch-jüdische, aufklärerisch-jüdische, philosophisch-jüdische Existenz, seine Argusophie und Exegese des Judentums, München 2000, 10. 17 Vgl. Berghahn, Mendelssohns »Jerusalem« (s. o. Anm. 5), 40–67. 18 Kursivierung im Original; der siebte Band der JubA (Berlin 1930) bringt die Lavater-Kontroverse mit sämtlichen zugehörigen Schriften und exzellentem Kommentar von Simon Rawidowicz, vgl. JubA VII, XI–CV, 1–108 und 295–374. 19 Goetschel (s. o. Anm. 14), 123.

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mente für seine Religion niedergeschrieben. Im Schreiben an den Diaconus Lavater aus dem Folgejahr 1770 äußert er sich als Betroffener einer Minderheit, die über Religion nicht ohne Gefahr sprechen darf. Man spürt förmlich das Zittern seiner Feder unter der ruhigen Oberfläche des Textes. Hier heißt es: »Allein die Bedenklichkeit, mich in Religionsstreitigkeiten einzulassen, ist von meiner Seite nie Furcht oder Blödigkeit gewesen. Ich darf sagen, daß ich meine Religion nicht erst seit gestern zu untersuchen angefangen. [. . . ] Der Stand, welcher meinen Glaubensbrüdern im bürgerlichen Leben angewiesen worden, ist so weit von aller freyen Übung der Geisteskräfte entfernt, das man seine Zufriedenheit gewis nicht vermehret, wenn man die Rechte der Menschheit von ihrer wahren Seite kennen lernt« (JubA VII, 8).

Mendelssohn kommt in diesem Schreiben auch auf den philosophischen Gehalt des Judentums zu sprechen – und auf die Frage der Proselytenmacherei. Wenn, so seine Argumentation, im Rahmen der natürlichen Religion alle Menschen fähig und berechtigt zu Glückseligkeit sind, wenn Gott auf einem allen zugänglichen Weg erschließbar ist, sind Konversionsbemühungen müßig, ist das Judentum ein partikularer Weg im Kontext einer universalen monotheistischen Religion. Mendelssohn: »Alle unsere Rabbinen lehren einmüthig, daß die schriftlichen und mündlichen Gesetze, in welchen unsere geoffenbarte Religion bestehet, nur für unsere Nation verbindlich seyen. Mose hat uns das Gesetz geboten, es ist ein Erbtheil der Gemeinde Jacob. Alle übrigen Völker, glauben wir, seyen von Gott angewiesen worden, sich an das Gesetz der Natur und an die Religion der Patriarchen zu halten« (JubA VII, 10).

Schon in diesem Stadium seiner theologischen Positionsbestimmung definiert Mendelssohn den jüdischen Glauben als einen besonderen Auftrag. Er wurde vor dem Hintergrund einer universalen, für alle Menschen erkennbaren Vernunft- oder Naturreligion dem jüdischen Volk erteilt – und bis in die Gegenwart nicht wieder aufgehoben. Diesen einmaligen und historischen Weg zu gehen ist Mendelssohn entschlossen. Die asymmetrische Natur der Lavater-Kontroverse hat Mendelssohn Grenzen gezogen; in einem privaten Brief an den Erbprinzen von Braunschweig Carl Wilhelm Ferdinand wird Mendelssohn hingegen deutlicher: »Ich kann keinem Zeugnisse trauen, das, meiner Überzeugung nach, einer ausgemachten, unumstößlichen Wahrheit widerspricht. Nach der Lektüre des N. T. [. . . ] muß ich 1) eine Dreieinigkeit in dem göttlichen Wesen, 2) die Menschwerdung einer Gottheit, 3) das Leiden einer Person der Gottheit, die sich ihrer Majestät entäußert hat, 4) die Genugthuung und Befriedigung der ersten Person in der Gottheit durch das Leiden und den Tod der erniedrigten zweiten Person und noch viele andere diesen ähnliche oder aus diesen fließende Sätze bei Verlust meiner ewigen Seligkeit glauben« (JubA VII, 300f.).

Nicht die jüdische Apologetik also, sondern die Vernunft verwirft in Mendelssohns Augen die Lehren des Christentums. Es widerstrebt Mendelssohn anzunehmen, dass durch die Offenbarung nur ein kleiner Teil der Menschheit zur ewigen Glückseligkeit berufen sei. Eine solche, nur einem kleinen und nicht dem kulturell wichtigsten Volk zuteilgewordene Offenbarung, so Mendelssohn weiter, »die allein die seligmachende sein will,

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kann nicht die wahre sein, denn sie harmonirt nicht mit den Absichten des alleinseligmachenden Schöpfers« (JubA VII, 300f ). An Stellen wie dieser wird das metaphysische Projekt Mendelssohns, das sich im Spannungsfeld zwischen der Radikalskepsis Humes und dem Kritizismus Kants positioniert, deutlich. Mendelssohns Aufklärungskonzept und damit auch sein metaphysisches Programm besteht gerade darin, auch jene Erkenntnis, die »nicht dem Ideal der Wissenschaften genügt und einen geringeren Grad von Wahrscheinlichkeit hat« als hinreichend sicher für die Orientierung des Menschen in der Welt auszuweisen.20 Es ist dies ein anderer Weg im Rahmen der europäischen Aufklärung, einer der Kompromisse (die von keiner Theorie geliebt werden). In seinem Rahmen wird die Offenbarung – die eben keine logisch prüfbaren Wahrheiten vermitteln kann – zum Prüfstein der wahren Toleranz. Sie kann die Erkenntnis der vernunftgemäßen Wahrheiten befördern. Zugleich erschließt sich aus dieser Position Mendelssohns Interesse an der neuzeitlichen europäischen Philosophie: »Da die Aufgabe der Offenbarung nicht die Vermittlung von Wissen ist, muß dieses in der Philosophie gesucht werden – jenseits des Streits um die wahre Religion.«21 Offenbarung ist nach Mendelssohn individuell und national, also historisch, und daher muß das Judentum, die Nationalreligion par excellence, auch von christlichen Denkern, insofern sie die Wahrheit der Philosophie akzeptieren, anerkannt werden. Der komplexe Verlauf der Lavater-Kontroverse soll hier nicht nachgezeichnet werden; aus einer religiösen Debatte wurde im Verlauf des Jahres 1770 ganz schnell eine politische, eine, die Mendelssohn zu politisch wurde, zunächst jedenfalls.22 Auch auf Druck seiner Glaubensgenossen hin ließ er den Streit ruhen, was dazu führte, dass die umfassendste Gegenschrift – die Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie – Skizze blieb. Sie ist eine Rekapitulation der gegenseitigen Positionen und ein Entwurf seiner Darlegung des Judentums. Sie schließt den ersten Abschnitt seiner politisch-religiösen Standortbestimmung. Neu im Denken Mendelssohns ist die Anverwandlung religionsgeschichtlicher Positionen, die in den Gegenbetrachtungen zum ersten Mal Kontur gewinnt. Auch Mendelssohn hält an Leibniz’ Gegensatz von ewigen Vernunftwahrheiten (vérités de raison) zu zeitlichen und kontingenten Geschichtswahrheiten (vérités de fait) fest. Aber zugleich ordnet er den unterschiedlichen Erkenntnisfähigkeiten der Menschheit unterschiedliche Religionen zu, die er als unterschiedliche Ausformungen der einen vernünftigen Religion deutet. Implizit distanziert sich Mendelssohn hier von der Idee einer abstrakten Vernunftreligion in der Geschichte der Menschheit. Solange die Geschichte der menschlichen Kulturen ihren Gang geht, kann es nur eine unüberschaubare Vielzahl positiver und in ihren Zielen auch gleichwertiger Kulte geben, die ihre Basis in der Verschiedenheit und Gewordenheit der Nationen finden. Dieses Argument wendet Mendelssohn nun auch auf die Legitimierung des Sonderstatus der jüdischen Religion an. Wert und Gültigkeit 20 Wolfgang Vogt, Moses Mendelssohns Beschreibung der Wirklichkeit menschlichen Erkennens (Epistemata. Reihe Philosophie 394), Würzburg 2005, 68. 21 AaO. 171. 22 Vgl. Berghahn, Mendelssohns »Jerusalem« (s. o. Anm. 5), 51ff.

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der Offenbarung am Sinai betreffen einzig diese Religion, die so zur National-Religion wurde – und dies auch blieb: »[Gott] hat den Israelitten eine Offenb. gegeben, nicht weil die Menschen, als Menschen, ohne Offenb. nicht glückseelig seyn könnten; sondern weil es seine weisen Absichten erforderten, dieses besondere Volk einer besonderen Gnade zu würdigen. [. . . ] nunmehr ist es diesem Volke freilich nicht mehr erlaubt, seine Seeligkeit auf einem andern, als dem von Gott ihm vorgeschriebenen Wege zu suchen. Nunmehr muß dieses Volk alle Schmach, Unterdrückung, Verspottung, Verfolgung, die es auf diesem Weg antrifft, mit Geduld und Ergebenheit in den göttlichen Willen ertragen. [. . . ] Aber dieser Last darf sich niemand unterziehen, der nicht nach den mosaischen Gesetzen gebohren ist. [. . . ] der lebe nach dem Gesetz der Natur, und sey versichert, daß der Mensch, als Mensch, gebohren ist durch die Tugend glückselig zu werden« (JubA VII, 75f ).

Mendelssohn setzt in den Gegenbetrachtungen dieses national-partikulare und vernunftkonforme Judentum klar ab von einem Christentum der Dogmatik, des Wunderglaubens und der Orthodoxie. Ihm stellt er sein Bild des idealen Judentums entgegen, dass sich konzis zusammenfassen lässt. Mendelssohn: »Eigentlich hat die R.[eligion] der Israeliten nur drey Hauptgrundsätze 1) Gott, 2) Vorsehung, 3) Gesetzgebung« (JubA VII, 95). Dies ist nun der erste positive Entwurf des Judentums, den Mendelssohn in deutscher Sprache niedergeschrieben hat. Er bildet den Kern seiner Philosophie des Judentums, die er als politisch-religiöses Bekenntnis in den folgenden 12 Jahren entwickelt und schließlich in der Jerusalem-Schrift vorgelegt hat.

3. Der Weg zur Jerusalem-Schrift des Jahres 1783 führte Mendelssohn durch die praktische Politik. In der Tat sinkt die Frequenz seiner literaturkritischen Arbeiten und Rezensionen nicht nur in absoluten Zahlen; die vom ihm im Verlauf der 1770er Jahre besprochenen Werke lassen sich darüber hinaus fast sämtlich dem religiös-politischen Projekt Mendelssohns zuordnen.23 Auch in seinem philosophischen Werk zeichnet sich diese Hinwendung zur praktischen Politik im Interesse der jüdischen Gemeinden in Deutschland und Frankreich ab. So markiert das Erscheinen der Philosophischen Schriften im Jahr 1771 einen Abschluss der ästhetischen, moralphilosophischen, psychologischen und in gewisser Hinsicht auch ein vorläufiges Fazit der metaphysischen Autorschaft Moses Mendelssohns. An ihre Stelle treten Arbeiten zur Vermittlung der jüdischen Traditionen für die preußische Gesetzgebung; treten Voten hinsichtlich der Vereinbarkeit der rituellen Bestattung mit den Beerdigungsgesetzen in Hamburg, Dresden und anderswo. Zugleich arbeitete Mendelssohn seit 1773 an der großen, als nationalpädagogische Arbeit konzipierten Übersetzung des Pentateuch in das Deutsche; eine Arbeit, die seine 23 Cord-Friedrich Berghahn, Moses Mendelssohn als Kritiker, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift. NF 55 (2005), 451–460, vgl. 456ff.

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Glaubensgenossen an die deutsche Kultur führen und die biblische Überlieferung zugleich von den Korruptionen der Zeitläufte reinigen sollte. Diese Übersetzung erschien, supplementiert durch einen monumentalen Kommentar, im Jahr 1779 gegen viele Widerstände aus den Reihen der orthodoxen jüdischen Gemeinden. Dem Erscheinen sekundierte die Gründung des Reformprojekts einer Jüdischen Freischule in Berlin durch den Freund David Friedländer.24 Zu diesem Wirken trat im Verlauf der 1770er Jahre auch eine intensive Diskussion der Rechte und Pflichten des Staates im Rahmen der Berliner Mittwochsgesellschaft hinzu. Hier debattierte Mendelssohn mit Suarez und Klein, den Vätern des Preußischen Landrechts, über Freiheit und Pflicht;25 mit Nicolai und Kant über die Frage nach der Natur der ›wahren‹ Aufklärung26 und v. a. mit dem jungen Diplomaten Christian Wilhelm Dohm27 über die »bürgerliche Verbesserung der Juden« im Rahmen der europäischen Aufklärung. Auf Mendelssohns Drängen und aus aktuellem politischen Anlass hat Dohm seine Denkschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden verfasst und 1781 – im selben Jahr wie Kant seine Kritik der reinen Vernunft – in Druck gegeben.28 Dieser Meilenstein in der Geschichte der Emanzipation ist zugleich der zweite trigonometrische Punkt, von dem aus Mendelssohn seine Ideen von Religion und Staat, Recht und Pflicht, Offenbarung und Gesetz, Judentum und Christentum vermisst.29 Welche Standpunkte vertritt Christian Wilhelm Dohm in seiner Emanzipationsschrift? Ausgehend von Streitigkeiten in den Preußischen Landen, aber auch im Elsass entwickelt er ein physiokratisches Konzept, das zum ersten Mal in der Geschichte der ökonomischen Theorie auch die Juden einschließt. Er zeigt die durch die Diskriminierung der Juden bislang ungenutzten Wachstumspotentiale im gegenwärtigen Europa und fordert eine sukzessive wirtschaftliche und politische Gleichstellung, Berufs- und Erwerbsfreiheit, Zugang zu politischen Ämtern und zu Bildung, schließlich volle und vorbehaltlose Religionsfreiheit. Dieses Programm ist mit Mendelssohn intensiv diskutiert worden, ja Teile der Dohmschen Anmerkungen stammen aus der Feder Mendelssohns. Nicht übereinge24 Vgl. Britta L. Behm, Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin, Münster 2002; vgl. auch die Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945. Im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts hg. von Marion Kaplan, München 2003, insbes. 158ff. 25 Vgl. James Schmidt, The Question of Enlightenment: Kant, Mendelssohn, and the Mittwochsgesellschaft, in: Journal of the History of Ideas 50 (1989), 269–292, insbes. 280ff. 26 Vgl. Willi Goetschel, Einstimmigkeit in Differenz: Der Begriff der Aufklärung bei Kant und Mendelssohn, in: Moses Mendelssohn. Sonderband Edition Text + Kritik. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Cord-Friedrich Berghahn. München 2011, 79–98. 27 Zu Dohm vgl. das Kapitel »Christian Wilhelm Dohm. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Aufklärung«, in: Rudolf Vierhaus, Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, 143–156. 28 Christian Wilhelm Dohm, Ueber die buergerliche Verbesserung der Juden (2 Bde.), Berlin/Stettin 1781/1783 [Reprint Hildesheim 1973]. Teilabdruck in: Christian Wilhelm Dohm, Ausgewählte Schriften (Lemgoer Ausgabe), bearbeitet von Heinrich Detering (Lippische Geschichtsquellen 16), Lemgo 1988, 67–88. 29 Berghahn, Mendelssohns »Jerusalem« (s. o. Anm. 5), vgl. 169–186.

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kommen sind Dohm und Mendelssohn aber in einem wichtigen Punkt. Dohm fordert in seiner Schrift die »erstinstanzlich innerjüdische Klärung innerjüdischer Angelegenheiten«,30 spricht den jüdischen Gemeinden volle Autonomie in Glaubensfragen zu, also auch das Recht des Banns gegen einzelne unbotmäßige Mitglieder. Er argumentiert aus der Perspektive eines christlichen Aufklärers, der die im Verlauf des 18. Jahrhunderts allmählich zahnlos gewordene protestantische Orthodoxie bedenkt. Hier war ein Bann um 1780 in der Tat verschmerzbar. Nicht verschmerzbar, sondern einer Existenzvernichtung gleichkommend, war der Bann einer jüdischen Gemeinde gegen eines ihrer Mitglieder. In derartigen Fällen überschnitten sich, wie Mendelssohn erkannte, weltliche und religiöse Sphäre in einer unheilvollen Konstellation, die das spirituelle und das bürgerliche Wohl einzelner Juden gefährdete. Hier erscheinen die Margen eines Konflikts, den Niccolo Machiavelli im 16. und Thomas Harrington im 17. Jahrhundert in ihren politischen Schriften diskutiert hatten, den Spinoza in der eigenen Existenz verkörperte und der in der Epoche medial inszenierter Öffentlichkeit wieder ziemlich aktuell ist. Es ist der paradigmatische Konflikt der modernen Zivilgesellschaft zwischen Moral und Politik, zwischen religiöser und bürgerlicher Gesellschaft. Hier findet er sich angereichert um Elemente der pluralistischen Gesellschaft, als die wir die Berliner Immigrantenkultur des 18. Jahrhunderts bezeichnen dürfen. Es geht in diesem Konflikt darum, dass in einer nach bürgerlichen Prinzipien funktionierenden Welt »auch die Religionsausübung Teil des bürgerlichen Lebens [sein] müßte«, ein unabhängiger Klerus in ihr also nicht vorgesehen ist.31 Mendelssohn reagierte auf diesen strittigen Punkt mit einer komplexen publizistischen Strategie. Den Freund Marcus Herz ließ er einen ›Klassiker‹ der Emanzipationsliteratur aus dem 17. Jahrhundert übersetzen: des Rabbi Manasseh Ben Israels Vindiciae Iudaeorum aus dem Jahr 1656. Diese jüdische Apologie hat Oliver Cromwell zum Adressaten und verfolgt das Ziel, die Wiederzulassung der Juden in das englische Commonwealth der Puritanischen Revolutionäre zu erreichen. Mendelssohn hat die Übersetzung der Vindiciae Iudaeorum mit einem langen Vorwort versehen, in dem er die Wiederkehr der alten Vorurteile in neuem, diesmal aufgeklärtem Gewand geißelt, in dem er aber vor allem seine ablehnende Position zum Bannrecht artikuliert: »Kirchliche Rechte, Kirchliche Gewalt und Macht«, schreibt Mendelssohn, »ich muß gestehen, daß ich mir von diesen Redensarten keinen deutlichen Begriff machen kann und mein Adelung will mich keines Bessern belehren. Ich weiß von keinem Rechte auf Personen und Dinge, das mit Lehrmeinungen zusammen hänge, und auf denselben beruhe; das die Menschen erlangen, wenn sie in Absicht auf ewige Wahrheiten gewissen Sätzen beystimmen, und verlieren, wenn sie nicht einstimmen können, oder wollen. [. . . ] Die wahre göttliche Religion maßt sich keine Gewalt über Meinungen und Urtheile an; giebt und nimmt keinen Anspruch auf irrdische Güter, kein Recht auf Genuß, Besitz und Eigenthum; kennet keine andre Macht, als die Macht durch Gründe zu gewinnen, zu überzeugen, 30 Stephen Tree, Moses Mendelssohn, Reinbek 2007, 103. 31 John G.A. Pocock, Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption (Edition Pandora 12). Frankfurt/New York 1993, 160.

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und durch Ueberzeugung glückseelig zu machen. Die wahre göttliche Religion bedarf weder Arme noch Finger zu ihrem Gebrauche; sie ist lauter Geist und Herz (J 23).«32

Die Vorrede erfüllte ihren Zweck, die Diskussion über die ›bürgerliche Verbesserung‹ der Juden, aber auch über die Toleranz an sich anzuregen. Allerdings geriet das Judentum auch in das Sperrfeuer jener Aufklärer, für die eine historische Gesetzesreligion ein Skandalon im Tableau vernunftkonformen Glaubens war. Fünf Monate nach dem Erscheinen der Vindiciae Iudaeorum nahm diese Reaktion die Form einer Herausforderung an. Unter dem Titel Das Forschen nach Licht und Recht in einem Schreiben an Herrn Moses Mendelssohn erschien unter einer fingierten Autorschaft ein schmales Bändchen, das Mendelssohns spirituelles Bild des Judentums in Frage stellte. Hier heißt es unter anderem: »Das ganze Kirchensystem Mose war nicht blos Unterricht und Anweisung zu Pflichten, sondern es war zugleich mit dem strengsten Kirchenrecht verbunden. – Der Arm der Kirche war mit dem Schwert des Fluchs bewafnet. [. . . ] Das bewaffnete Kirchenrecht ist immer einer der vorzüglichsten Grundsteine der jüdischen Religion selbst und ein Hauptartikel in dem Glaubenssystem ihrer Väter. In wiefern können Sie, mein teurer Herr Mendelssohn, bei dem Glauben Ihrer Väter beharren, und durch Wegräumung seiner Grundsteine das ganze Gebäude erschüttern, wenn Sie das durch Mosen gegebene, auf göttliche Offenbarung sich berufende Kirchenrecht bestreiten?« (JubA VIII, 79f ).

Mendelssohns Bild des Judentums, so der Verfasser der Schrift, entspricht vielmehr dem des aufgeklärten, neologischen Christentums der Berliner Aufklärung. Und so schließt er provokant mit der zweiten Konversionsaufforderung unserer Geschichte: »nur noch ein Schrit, so sind Sie einer der unsrigen geworden!« (JubA VIII, 85).

4. Damit sind wir in meiner historischen Erzählung bei der Jerusalem-Schrift des Jahres 1783 angekommen, bei Moses Mendelssohns politisch-religiösem Testament, seinem ›Tractatus theologico-politicus‹, seinem ›Leviathan‹, seiner ›Summa Theologica‹, seinem ›Treatise on Human Nature‹ und seinem ›Code civil‹. Ich habe versucht, die Genealogie dieser Schrift in einer historischen Erzählung auszuweisen und mit den entscheidenden Positionen Mendelssohns zur Religion überhaupt und zum Judentum im Besonderen in Beziehung zu setzen. Die argumentative Absicht der Jerusalem-Schrift ist nun eine doppelte, ja eine dreifache. Und daher sind ihre Strategien auch komplex – so wie das 32 Die Übersetzung der Rettung der Juden und die Jerusalem-Schrift Moses Mendelssohns werden im folgenden nicht nach dem bisweilen fehlerhaften Text der JubA zitiert, sondern nach der exzellenten Ausgabe von David Martyn (Sigle: J): Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum/Vorrede zu Mannasseh Ben Israels »Rettung der Juden« (Aisthesis Archiv I). Nach den Erstausgaben neu ediert von David Martyn, Bielefeld 2001.

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Verhältnis von exoterischer zu esoterischer Schreibweise in diesem faszinierenden Text auch besonders komplex ist.33 Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum ist in zwei Abschnitte unterteilt. Im ersten spricht Mendelssohn als politischer Philosoph, und zwar aus dem Geist von Hobbes, John Locke und v. a. Montesquieu.34 Im folgenden Abschnitt spricht er als gläubiger Jude, als religiöser Aufklärer und als Semiotiker, der sozusagen zwei Entwürfe präsentiert: die aufklärerische Universalreligion und die jüdische Partikularreligion, und der – hier liegt die Herausforderung für die Zeitgenossen – beide in ihrer Parallelexistenz legitimiert. Dabei entsteht nicht nur für Hamann und Herder, Lavater und Michaelis, Mirabeau und Kant, ja bis in die gegenwärtige Judaistik35 hinein ein provokantes Argumentationsgebäude, sondern auch eine Sprachphilosophie, die erst seit wenigen Jahren die ihr gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. Deren Spuren sich aber in den Schriften von Karl Philipp Moritz und Wilhelm von Humboldt nachweisen lassen, und deren Wirkung für die Debatten um 1800 bislang kaum taxiert wurde.36 Zugleich, und das hat die Wirkungsgeschichte der Schrift nicht eben überschaubarer gemacht, zugleich spricht gerade aus dem spröden ersten Teil auch der politische preußische Aufklärer und Mitdiskutant der Mittwochsgesellschaft. Mendelssohns Jerusalem ist, das hat Marcus Twellmann zeigen können, sowohl eine Fortsetzung seiner Mitarbeit an der Reform der Eide und an deren Taxierung durch das preußische Recht als auch ein direktes Votum zu den Debatten um die Reform des Landrechts. Von daher steht die Jerusalem-Schrift in einem ganz konkreten politischen Kontext, sie ist Teil eines Diskurses, dessen rhetorischer Strategien und Begriffe sie sich bedient. Als eine solche diskursive Intervention muss sie auch gelesen werden.37 Ich möchte die beiden Abschnitte zunächst einzeln skizzieren. Der erste beginnt mit einer Wiederaufnahme des theologisch-politischen Komplexes, der seit der frühen Neuzeit, seit Machiavelli, Bodin, Hobbes, Harrington, Pufendorf, Spinoza, Locke und Montesquieu, um nur die entscheidenden Namen zu nennen, die europäische politische Philosophie beunruhigt hat.38 »Staat und Religion – bürgerliche und geistliche Verfassung«, so der Anfang der Schrift, »diese Stützen des gesellschaftlichen Lebens so gegeneinander zu stellen, daß sie sich die 33 Vgl. Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, in: Social Research 8 (1941), 488–504, und jetzt Till Kinzel, Jüdischer Platonismus, Unsterblichkeit und Moderne. Variationen über Moses Mendelssohn und Leo Strauss, in: Moses Mendelssohn. Text + Kritik (s. o. Anm. 26), 180–193. 34 Michael A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München 1994, vgl. 57. 35 Vgl. Allan Arkush, The Questionable Judaism of Moses Mendelssohn, in: New German Critique 77 (1999), 29–45. 36 Cord-Friedrich Berghahn, Das Wagnis der Autonomie. Studien zur Literatur, Kunst, Kultur und Architektur der Berliner Moderne um 1800 (Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly, Ludwig Tieck). Heidelberg 2012, vgl. insbes. Kap. II (zu Moritz) und IV (zu Humboldt). 37 Marcus Twellmann, »Überall kein Kirchenrecht«. Moses Mendelssohns Kritik der Glaubenseide, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 80 (2006), 595–623, hier 598. 38 Vgl. zum Folgenden detailliert Berghahn, Mendelssohns »Jerusalem« (s. o. Anm. 5), 217ff.

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Wage halten, daß sie nicht vielmehr Lasten des gesellschaftlichen Lebens werden, und den Grund desselben stärker drücken, als was sie tragen helfen – dieses ist in der Politik eine der schwersten Aufgaben, die man seit Jahrhunderten schon aufzulösen bemühet ist, und [. . . ] vielleicht glücklicher praktisch beygelegt, als theoretisch aufgelöset hat« (J 32).

Mendelssohn will genau dies: eine theoretische Auflösung dieses Spannungsverhältnisses. Dabei hält er am aufklärerischen Ideal des Glückseligkeitsstaates fest, bekennt sich zum aufgeklärten, starken Staat des Absolutismus und operiert auf der Basis naturrechtlichen Denkens. Mendelssohn stellt sich in der Jerusalem-Schrift in eine eminent europäisch-neuzeitliche Genealogie des Denkens über Kirche und Staat. Die absolutistische Staatslehre, »Ergebnis einer tiefen Verunsicherung« unter dem Eindruck »des Verlustes gerade auch der theologischen Ursprungs/Zielversichertheit«39 ist der Ausgangspunkt seines politischen Denkens. Neu ist, dass Mendelssohn den Instanzen von Kirche und Staat im ersten Teil seiner Schrift eine dritte entgegensetzt: die der Gewissensfreiheit. »Liegen sie [Kirche und Staat] gegeneinander zu Felde«, so Mendelssohn, »so ist das menschliche Geschlecht Opfer ihrer Zwietracht; und vertragen sie sich, so ist es gethan um das edelste Kleinod der menschlichen Glückseligkeit, denn sie vertragen sich selten anders als um ein drittes moralisches Wesen, die Freyheit des Gewissens [. . . ] aus ihrem Reiche zu verbannen« (J 32).

Dieser Instanz gilt es, eine philosophische Würde zu verleihen, die sie jenseits der tagespolitischen Erwägungen zu den gleichsam apriorischen, natürlichen Rechten macht, auf die die neuzeitlichen Doktrinen gründen. Denn erst wenn Toleranz nicht mehr lediglich gewährt wird, sondern einen Rechtsstatus erhält, wird sie zum Menschenrecht. »Mithin steht und fällt die Möglichkeit einer sachgemäßen, d. h. vernünftigen und stichhaltigen Argumentation für die Forderung nach Toleranz mit der Möglichkeit zur Appellation an das Naturrecht.«40 Um das Balanceverhältnis, von dem alles abhängt, näher ausführen zu können skizziert Mendelssohn zunächst die Sphäre des Politischen, die Hobbes in De Cive und im Leviathan entwickelt hat. Diese absolutistische Souveränitätslehre, der Mendelssohn große Sympathien gegenüber hegt, stellt der unbotmäßigen Konfrontation der Gewissen einen fortifizierten Staat gegenüber. Ihm wird im Aktus des Gesellschaftsvertrags der Zugriff auf die anarchischen Individualrechte übertragen, um den allgemeinen Ausnahmezustand zu beenden. »Für bürgerliche Freyheit«, resümiert Mendelssohn, hatte Hobbes »entweder keinen Sinn, oder wollte er sie lieber vernichtet, als so gemißbraucht sehen« (J 34). Deshalb auch lässt der Engländer Freiheit nur als »inner[e] Religion« zu, während er dem Staat die Verfügung über den Kultus, den »äussern Gottesdienst« überträgt (J 34). Ihm supplementiert Mendelssohn das Modell seines aufgeklärten Gegenspielers: 39 Günter Abel, Stoizismus und frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin 1979, 45. 40 Wilhelm Baumgartner, Naturrecht und Toleranz. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und politischen Philosophie bei John Locke, Würzburg 1979, 7.

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Cord-Friedrich Berghahn »Locke, der in denselben verwirrungsvollen Zeitläuften lebte, suchte die Gewissensfreyheit auf eine andre Weise zu schirmen. In seinen Briefen über die Toleranz legt er die Definition zum Grunde: Ein Staat sey eine Gesellschaft von Menschen die sich vereinigen, um ihre zeitliche Wohlfahrt gemeinschaftlich zu befördern. Hieraus folgt alsdann ganz natürlich, daß sich der Staat um die Gesinnungen der Bürger, ihre ewige Glückseligkeit betreffend, gar nicht zu bekümmern, sondern jeden zu dulden habe, der sich bürgerlich gut aufführt, das heißt seinen Mitbürgern, in Absicht ihrer zeitlichen Glückseligkeit, nicht hinderlich ist« (J 36).

»Allein«, so Mendelssohns Einwand, »was hindert uns, das wir nicht auch unsere ewige Wohlfarth gemeinschaftlich zu befördern suchen sollten? [. . . ] was für Grund haben wir, die Absicht der Gesellschaft blos auf das Zeitliche einzuschränken?« (ebd.). Aus diesen Überlegungen entwickelt der Berliner eine politische Theorie, die darauf hinausläuft, dass der Staat durch Regierung und Erziehung in den Bürgern Gesinnungen weckt, die von sich aus zu toleranten Handlungen führen. »Der Staat soll dies durch Erkenntnis, Vernunftgründe und Überzeugung erreichen«, wobei er eben auf die Hilfe der Religion, der Kirchen und der Synagoge angewiesen ist.41 Wesentlich unterschieden sind die Sphären und Techniken von Kirche und Staat. Der Staat kann zwingen, und ihm genügt im Zweifel auch der äußere Gehorsam. Mendelssohn: »Auch wer nicht an Gesetze glaubt, muß nach dem Gesetze thun, sobald es Sanktion erhalten hat.« Dies aber gilt nicht für die Religion: »Diese kennet keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Uebereinstimmung im Thun ohne Uebereinstimmung im Sinne. Religiöse Handlungen, ohne religiöse Gedanken, ist leeres Puppenspiel« (J 42). Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Staat und Religion. »Der Staat gebietet und zwinget; die Religion belehret und überredet; der Staat ertheilt Gesetze, die Religion Gebote« (J 43). Damit ist die Trennung von Kirche und Staat in einem prinzipiellen und ideellen Sinn vollzogen. Zugleich ist das metaphysische Ziel der Gesellschaft, Erziehung und Glückseligkeit zu befördern, festgehalten. Denn, so Mendelssohn, »Handlungen und Gesinnungen gehören zur Vollkommenheit des Menschen, und die Gesellschaft hat [. . . ] durch gemeinschaftliche Bemühungen für beides zu sorgen; d. i. die Handlungen der Mitglieder zum gemeinschaftlichen Besten zu lenken, und Gesinnungen zu veranlassen, die zu diesen Handlungen führen. Jenes ist die Regierung, dieses die Erziehung des geselligen Menschen« (J 39).

Aufregend und neu ist die Deduktion der Zwangsrechte, die Mendelssohn in diesem ersten Abschnitt seiner Schrift vornimmt. Mendelssohn schließt sich an die Vertragstheorie, wie sie Hobbes entwirft, an. Ihm aber ist der Hobbes’sche Naturzustand bloß eine Fiktion, die dazu dient, die Gültigkeit von Verträgen zu begründen. Mendelssohn supplementiert nun diese Vertragslehre um seine aufklärerische, eudämonistische Anthropologie, derzufolge der Mensch ohne »Wohlthun« nicht glücklich werden kann. Diese im Naturzustand unvollkommene Gewissenspflicht der Benevolenz kann durch Vertrag eine vollkommene Zwangs-Pflicht werden. Dabei gilt für Mendelssohn, anders 41 Michael Albrecht in seiner Einleitung zur Meiner-Editon der Jerusalem-Schrift (PhB 565), Hamburg 2005, XVI.

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als für Hobbes, dass auch im Naturzustand schon gültige Unterlassenspflichten bestehen, ja dass – wie etwa durch die Ehe – schon hier Verträge geschlossen werden können. Die zentrale These lautet daher: »Ohne vorangehende unvollkommene Rechte (und Pflichten) kann es keine vollkommenen, keine Zwangsrechte und Pflichten geben.«42 Der entscheidende Punkt ist die Übertragung dieser These auf das Verhältnis zwischen der Religion und den Menschen. Anders als im Fall der äußeren Pflichten gilt das Vertragsmodell nicht im Fall des Gewissens. Der Staat, so Mendelssohn, kann Strafe und Lohn verteilen, nicht eine religiöse Gemeinschaft. »Sie beruhet auf dem Verhältnisse zwischen Gott und Menschen. Gott ist kein Wesen, das unsers Wohlwollens bedarf, unsern Beystand fordert, auf irgend eines von unseren Rechten zu seinem Gebrauch Anspruch macht, oder dessen Rechte mit den Unserigen je in Streit und Verwirrung gerathen können« (J 56).

Damit, mit der Abwesenheit selbst »unvollkommener Rechte«, hat die Religion keinen Anspruch auf Zwangsrechte. Ein »Vertrag über Gesinnungen« ist ausgeschlossen und naturrechtlich ohne Halt. Mendelssohn hält fest: »Das Recht auf unsere eigene Gesinnung ist unveräusserlich [. . . ]« (J 60). Das bedeutet keine religiöse Nachtwächtermentalität. Im Gegenteil, weil der Staat in der Theorie Mendelssohns am Projekt der Glückseligkeit beteiligt ist, muss er zwar ein toleranter Staat, aber kein gleichgültiger sein, muss kulturelle und religiöse Differenz und Pluralität vor universalen Menschenrechten fördern, nicht nivellieren und aus genau diesem Grund auch jene ›Hauptgrundsätze‹ der natürlichen Religion berücksichtigen, »in welchen alle Religionen übereinkommen, und ohne welche die Glückseligkeit ein Traum, und die Tugend selbst keine Tugend mehr ist« (J 62). Kirche und Staat repräsentieren für Mendelssohn unterschiedliche institutionelle Sphären eines gemeinsamen Projektes,43 das die Gesamtheit der menschlichen Existenz begreift. Entscheidend ist hier, dass selbst auf religiöse »Hauptgrundsätze« kein Eid geleistet werden darf, da ja die Grundlagen eines Vertrags fehlen. Mendelssohn resümiert am Ende des ersten Teils der Jerusalem-Schrift seine Theorie von Staat und Kirche und unterstreicht nochmals die Forderung nach Toleranz: »Weder Kirche noch Staat haben also ein Recht die Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgend einem Zwange zu unterwerfen. Weder Kirche noch Staat sind berechtigt, mit Grundsätzen und Gesinnungen Vorzüge, Rechte und Ansprüche auf Personen und Dinge zu verbinden« (J 69). Bereits in diesem ersten Abschnitt der Jerusalem-Schrift haben sich neben naturrechtlichen und minderheitenpolitischen auch sprachskeptische Überlegungen artikuliert. Überlegungen, die im Denken Mendelssohns neu sind. So etwa, wenn es im Hinblick auf Dispute über metaphysische Wahrheiten heißt: »Ich und mein Nächster, wir können unmöglich mit eben denselben Worten eben dieselben innern Empfindungen verbinden; denn wir können diese nicht anders gegen einanderhalten, mit einander vergleichen und berichtigen, als wiederum durch Worte. Wir können die 42 AaO. XVII. 43 Vgl. Willi Goetschel, Mendelssohn and the State, in: Modern Language Notes 122 (2007), 472– 492, hier 476.

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Cord-Friedrich Berghahn Worte nicht durch Sachen erläutern; sondern müssen wiederum zu Zeichen und Worten unsere Zuflucht nehmen, und am Ende zu Metaphern [. . . ]. Was für Verwirrung und Undeutlichkeit muß aber nicht auf solche Weise in der Bedeutung der Worte zurückbleiben, und wie sehr müssen die Ideen verschieden seyn, die verschiedene Menschen, in verschiedenen Zeiten und Jahrhunderten, mit denselben äusserlichen Zeichen und Worten verbinden« (J 64f ).

Die an Novalis oder – ironischerweise – an den späteren Gegner Hamann44 erinnernde Vorstellung der Nicht-Kommunizierbarkeit von Gedanken und Empfindungen, des Risses zwischen Sprache und Welt, unterstreicht hier die unbedingte Forderung nach Toleranz. Im Verfolg des zweiten Abschnitts der Schrift wird auf der Basis dieser Sprachskepsis eine höchst innovative Theorie der Schrift mit einer ungewöhnlichen und die Zeitgenossen provozierenden Theorie des Judentums entwickelt.

5. Der zweite Abschnitt der Jerusalem-Schrift setzt zunächst die zuvor entwickelte Lehre der unvollkommenen Rechte und Pflichten in Beziehung zur Diskussion um die Art des religiösen Zwangsrechts in den jüdischen Gemeinden. Die an Mendelssohns Vorrede zur Vindiciae Iudaeorum geübte Kritik und Dohms ausdrückliche Befürwortung innerjüdischer Bannrechtsverfügungen zwingen Mendelssohn hier, seine Begriffe von Judentum und seine Lesart der Zeremonialgesetze detailliert darzulegen. Mendelssohn geht es an diesem Punkt seines Argumentationsgangs darum, die jüdische Partikularexistenz aus ihrer Geschichte zu entwickeln – und zwar als eine Religion der Handlungen, deren Kern Rituale, also im aufklärerisch-kritischen Sinn die adiaphora sind – und deren Versöhnung mit der universalen Religion aus »Geistund Herz« (J 23) zu begründen. Aus diesen – auch sehr persönlichen – Motivationen erklärt sich der Duktus des zweiten Abschnitts, der sich markant von dem des ersten unterscheidet. Hier, im zweiten, wird der Leser mit einer dichten Montage aus Zitaten, aus Polemiken gegen seine Schriften, aus Mendelssohns eigenen, durchaus zornigen Erwiderungen, und aus sehr gestischen Momenten in der Schrift selbst konfrontiert. So etwa, wenn Mendelssohn auf die anonymen Unterstellungen reagiert, denen zufolge er selber längst ein Christ geworden sei: »In wiefern können Sie« – zitiert Mendelssohn den anonymen Verfasser der gegen ihn gerichteten Schrift Das Forschen nach Licht und Recht, in einem Schreiben an Herrn M. Mendelssohn45 – »mein theurer Herr Mendelssohn, bey dem Glauben ihrer Väter beharren, und durch Wegräumung seiner Grundsteine das ganze Gebäude erschüttern, wenn sie durch das Mosen gegebene, auf göttliche Offenbarung sich berufene Kirchenrecht bestreiten?« (J 82). 44 Ein Jahr nach Veröffentlichung der Jerusalem-Schrift brachte Hamann mit Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten 1784 die wohl anspruchsvollste und kryptischste Entgegnung auf Mendelssohns Bild des Judentums heraus; vgl. detailliert Berghahn, Mendelssohns »Jerusalem« (s. o. Anm. 5), 256–272. 45 Berlin 1782, wiedergegeben in JubA VIII, 73–87.

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Im Erstdruck der Jerusalem-Schrift folgt auf diesen Vorwurf eine Leerzeile, eine Stockung im Lesen und Schreiben.46 Dann repliziert Mendelssohn in einer histrionischen, exoterischen Schreibweise und entwickelt ein argumentum ad hominem, das Kant nachhaltig beeindruckt hat und gegen das Schleiermacher in den »Reden« polemisiert:47 »Dieser Einwurf dringet an das Herz. Ich muß gestehen, daß die Begriffe, die hier vom Judentume gegeben werden, bis auf einige Unbehutsamkeit im Ausdrucke, selbst von vielen meiner Religionsbrüder dafür angenommen werden. Wäre nun dem in Wahrheit also, und ich davon überführet, so würde ich allerdings meine Sätze mit Beschämung zurücknehmen, und die Vernunft unter dem Joche des Glaubens – doch nein! was sollte ich heucheln? [. . . ] Allein, Lieber! Soll ich diesen Schritt [der Konversion] thun, ohne vorher zu überlegen, ob er mich wirklich aus der Verwirrung ziehen wird, in welcher ich mich Ihrer Meinung nach befinde? Wenn es wahr ist, daß die Ecksteine meines Hauses austreten, und das Gebäude einzustürzen drohet, ist es wohlgethan, wenn ich meine Habseligkeiten aus dem untersten Stokwerke in das oberste rette? Bin ich da sicherer? Nun ist das Christentum, wie Sie wissen, auf dem Judenthume gebauet, und muß nothwendig, wenn dieses fällt, mit ihm über einen Hauffen stürzen « (J 82f ).

Für Mendelssohn bezieht sich das Partikulare, das Nationale der jüdischen Religion eben nicht auf deren religiösen Kern, sondern auf deren historische Zusätze. So schreibt er in Erwiderung des ›Forschers‹ weiter: Um es mit einem Worte zu sagen: ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen; dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und übernatürliche Weise geoffenbaret worden; aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsätze. Diese offenbaret der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen« (J 86).

Mendelssohn präzisiert diese Begriffe der Leibnizianischen philosophischen Nomenklatur. »Ewige« Wahrheiten, also vérités de raison im Sinne Leibniz’, sind »diejenigen Sätze, welche der Zeit nicht unterworfen sind«, ihnen stehen die »zeitlichen« Wahrheiten, die »Geschichtswahrheiten« – Leibniz’ vérités de faits – gegenüber,48 »Dinge, die sich zu einer Zeit zugetragen, und vielleicht niemals wiederkommen« (J 87). Indem Mendelssohn an den philosophischen Klassen der Wahrheit festhält, macht er unmissverständlich klar, dass für ihn die Offenbarung, anders als für den Lessing der Erziehung des 46 Die bis auf die hier zitierte Edition von David Martyn von allen Ausgaben der Jerusalem-Schrift, auch der JubA, unterschlagen wird. 47 Vgl. KGA I/2, 314: »ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen [. . . ]«. 48 Im § 33 der Monadologie (1714) entwirft Leibniz prägnant das Verhältnis dieser Klassen von Wahrheit: »Les verités de Raisonnement sont necessaires et leur opposé est impossible, et celles de fait sont contingentes et leur opposé est possible« (Vernunftprinzipen/Monadologie [PhB 253]. Hg. von Herbert Herring. Hamburg 1982, 40).

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Menschengeschlechts,49 kein Mittel eines göttlichen Erziehungsplanes zum avancement der Menschheit ist,50 sondern stets ein partikulares Moment in der Geschichte empirischer Nationen und Kulturen. Vor dem Hintergrund des anthropologischen und ethnologischen Wissens der Spätaufklärung diskutiert Mendelssohn die Valenz einer partikularen Offenbarung im Gefüge menschlicher Zivilisationen. Hier ist er ein gelehriger Schüler der schottischen Geschichts- und Kulturphilosophie, namentlich der Adam Fergusons, dessen Essay on the History of Civil Society (1767) ihm wesentliche Impulse vermittelt hat.51 Vor allem sein Credo einer Weltgeschichte als Tableau individualischer Vervollkommnung im Rahmen distinkter Kulturen und Nationen verdankt der Berliner dem Schotten; Mendelssohn hat diese Auffassung auf die Religion übertragen, und er hat sich vehement gegen Lessings Erziehungsschrift und ihre teleologische Struktur gewandt. Ihm war jede vernünftige Religion, und explizit das Judentum, angetan, die individuellen Lebensentwürfe »innerlich zu durchdringen und zu gestalten«.52 Dass Lessing im Kosmos seiner späten Schriften auch die Erziehungshypothese als eine mögliche Option neben der des Nathan der Dialoge Ernst und Falk durchgespielt hat, war dem jüdischen Freund ebenso klar wie die Gefahr des Spiels mit exoterischer und esoterischer Textebene.53 Zum Prüfstein seines Offenbarungs- und Religionsbegriffs wird für Mendelssohn vor diesem epistemischen Hintergrund einer grundsätzlichen Kritik an der Offenbarung die Offenbarung Gottes vor den Israeliten am Sinai. Denn wenn, Mendelssohn zufolge, »nach den Begriffen des wahren Judentums [. . . ] alle Bewohner der Erde zur Glückseligkeit berufen sind« (J 90), stellt sich die Frage nach der Funktion dieser scheidenden, partikularisierenden Offenbarung. Hier entwickelt Mendelssohn seinen heuristischen Coup, der das Allgemeine mit dem Besonderen, die universale Vernunftreligion mit dem Judentum zu versöhnen sucht. Zur universalen Religion gesellt sich in der Of49 Konsequent schreibt Mendelssohn: »Ich für meinen Theil habe keinen Begriff von der Erziehung des Menschengeschlechts, die sich mein verewigter Freund Lessing von, ich weis nicht, welchem Geschichtsforscher der Menschheit hat einbilden lassen. Man stellet das collektive Ding, das menschliche Geschlecht, wie eine einzige Person vor, und glaubt, die Vorsehung habe sie hieher gleichsam in die Schule geschickt, um aus einem Kinde zum Manne erzogen zu werden. Im Grunde ist das menschliche Geschlecht [. . . ] Kind und Mann und Greis zugleich, nur an verschiedenen Orten [. . . ]« (J 92). 50 Zu den Torsionen in der Spätzeit der Freundschaft zwischen Lessing und Mendelssohn vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, Lessing und Mendelssohn in ihrer Spätzeit, in: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 19). Hg. von Eva J. Engel und Norbert Hinske, Tübingen 1994, 269–290; dies., Historische Wahrheit der Religion. Hinweise zu Lessings Erziehungsschrift (Kleine Schriften zur Aufklärung, hg. von der Lessing-Akademie 16), Göttingen 2009, insbes. 45ff. 51 Cord-Friedrich Berghahn, Mendelssohn als Leser Montesquieus. Zur Rekonstruktion einer Denkfigur der europäischen Aufklärung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift. NF 52 (2002), 153– 174, vgl. insbes. 164ff. 52 Ernst Cassirer, Die Idee der Religion bei Lessing und Mendelssohn, in: Festgabe zum zehnjährigen Bestehen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums [1929], neu abgedruckt in: Lessings Nathan der Weise (Wege der Forschung 587). Hg. von Klaus Bohnen, Darmstadt 1984, 94–112, hier 102. 53 Vgl. Berghahn, Mendelssohns »Jerusalem« (s. o. Anm. 5), 148–168.

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fenbarung am Sinai eine nationale Aufgabe als besondere Form der Offenbarung. »Das Judentum«, resümiert Mendelssohn, »rühmet sich keiner ausschließenden Offenbarung ewiger Wahrheiten«, und differenziert: »Ein anderes ist geoffenbarte Religion; ein anderes geoffenbarte Gesetzgebung. Die Stimme, die sich an jenem großen Tage, auf Sinai hören ließ, rief nicht: »ich bin der Ewige, dein Gott! das nothwendige, selbstständige Wesen, das allmächtig ist und allwissend, das den Menschen in einem zukünftigen Leben vergilt, nach ihrem Thun.« Dieses ist allgemeine Menschenreligion, nicht Judentum; und allgemeine Menschenreligion, ohne welche die Menschen weder tugendhaft noch glückselig werden können, sollte hier nicht geoffenbart werden. Konnte im Grunde nicht; denn wen sollte die Donnerstimme und der Posaunenklang von jenen ewigen Heilslehren überführen? (J 93) [. . . ] Daher hat auch das alte Judentum keine symbolischen Bücher, keine Glaubensartikel. Niemand durfte Symbola beschwöhren, niemand ward auf Glaubensartikel beeidiget; ja, wir haben von dem, was man Glaubenseide nennet, gar keinen Begriff, und müssen sie, nach dem Geiste des ächten Judentums, für unstatthaft halten« (J 96).

Neben dieser Interpretation der Sinai-Offenbarung ist auch die in der Jerusalem-Schrift vertretene Lesart der jüdischen Zeremonialgesetze originell und vor dem Hintergrund der Philosophie der Aufklärung besonders spannend. Mendelssohn entwickelt seine Thesen zu den Zeremonialgesetzen nämlich auf der Basis einer im Denken des 18. Jahrhunderts ganz und gar singulären Sprachskepsis, und er entwickelt aus dieser Skepsis und am Beispiel religiöser Schriften, heiliger Bücher, eine Theorie der Gleichursprünglichkeit von Rede und Schrift und eine Theorie der Schrift als Träger von Spuren, die auf bemerkenswerte Weise an disseminative Lektüren Derridas erinnert. Der in der Jerusalem-Schrift skizzierte historische Verlauf der Schrift im Falle ›heiliger Schriften‹ ist dabei folgender: Unter dem Eindruck wechselnder Konjunkturen in den Zeitläuften entschloss man sich zur Verschriftlichung und Redaktion des zuvor mündlich tradierten Zeremonialgesetzes ohne es doch als ›heilige‹ Schrift zu begreifen.54 Dieser Entschluss spiegelt für Mendelssohn die epochale Tendenz des Menschen zur Reflexion und zu ihrem Medium, der Schrift, wider, eine Tendenz, deren Dialektik für die Autoren des Zeitalters der Aufklärung auf der Hand lag: Alles, so Mendelssohn, droht unter dem Sigel der Schrift sein Leben zu verlieren, zu »todte[n] Buchstabe[n]« zu werden, die den »Geist der lebendigen Unterhaltung« (J 99) nicht einmal mehr als Spur ahnen lassen. Das aber, tote Buchstaben, Schrift als Mortifikation des Geistes, sollte gerade nicht das Ziel der Verschriftlichung der Zeremonialgesetze sein, und darum tradieren im Fall der Zeremonialgesetze auch nicht schriftlich niedergelegte Glaubenssätze, sondern die in die Schrift gebannten rituellen Handlungen den eigentlichen Gehalt des Judentums. Hier entwickelt Mendelssohn seine Vorstellung einer lebendigen Schrift: »Das Zeremonialgesetz ist eine lebendige, Geist und Herz erweckende Art von Schrift, die bedeu54 Die neuere religionswissenschaftliche Forschung bestätigt dabei im Wesentlichen die Auffassungen Mendelssohns, vgl. Jürgen van Oorschot, Altes Testament, in: Heilige Schriften. Eine Einführung. Hg. von Udo Tworuschka. Frankfurt/M. 2008, 50–87, hier 51ff.

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tungsvoll ist, und ohne Unterlaß zu Betrachtungen erweckt, und zum mündlichen Unterrichte Anlaß und Gelegenheit giebt« (J 98). Mendelssohn entwickelt diese Theorie der Schrift auf der Grundlage einer ambivalenten Autopsie: Zwar hat die Schrift im Verlauf der Geschichte des Wissens zur Vermehrung und Tradierung der menschlichen Kenntnisse wesentlich beigetragen. Andererseits hat sie die Gefahr befördert, die Schrift »für die Dinge selbst« zu halten (J 106). Hier aber sieht Mendelssohn – und er führt dies am Beispiel der antiken Mythologie aus – die entscheidende Bedrohung für den reinen Monotheismus, den das Judentum darstellt. Gegen den Bilderkult der antiken Mythologie und gegen die – positiv gesagt – Autonomietendenz dieser Bilder55 präzisiert Mendelssohn seine Lesart des Zeremonialgesetzes. Ihr zufolge waren die Israeliten »von der Vorsehung ausersehen, eine priesterliche Nation zu seyn; das ist, eine Nation, die durch ihre Einrichtung und Verfassung, durch die Gesetze, Handlungen, Schicksale und Veränderungen immer auf gesunde unverfälschte Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften hinweise, solche unter Nationen gleichsam durch ihr blosses Daseyn, unaufhörlich lehre, rufe predige und zu erhalten suche« (J 113).

Nicht die in Schrift gebannten Glaubenssätze, sondern die rituellen Handlungen tradieren den spirituellen Gehalt des Judentums: Orthopraxie, nicht Orthodoxie,56 ist sein Kern. Mendelssohn: »Die große Maxime dieser Verfassung scheinet gewesen zu seyn: Die Menschen müssen zu Handlungen getrieben und zum Nachdenken nur veranlasset werden. Daher jede dieser vorgeschriebenen Handlungen, jeder Gebrauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren gediegenen Sinn hatte, mit der spekulativen Erkenntniß der Religion und der Sittenlehre in genauer Verbindung stand, und dem Wahrheitsforscher eine Veranlassung war, über jene geheiligten Dinge selbst nachzudenken, oder von weisen Männern Unterricht einzuholen. [. . . ] Die 55 Diese Autonomietendenz findet sich – positiv umgedeutet – bei Karl Philipp Moritz (1756-1793) wieder, den man als Schüler Mendelssohns im emphatischen Sinn bezeichnen kann. Moritz hat nicht nur Mendelssohns ästhetische Ideen weiter entwickelt und 1788, noch vor Kant und Schiller, in seiner Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen zur Autonomieästhetik radikalisiert, er hat die antike Mythologie explizit durch Mendelssohns Kritik an ihrer Bildhaftigkeit gedeutet. So heißt es an programmatischer Stelle der Götterlehre von 1790: »Die mythologischen Dichtungen müssen als eine Sprache der Phantasie gelesen werden: Als eine solche genommen, machen sie gleichsam eine Welt für sich aus und sind aus dem Zusammenhang der Dinge herausgehoben« (Karl Philipp Moritz, Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten, hg. von Horst Günther, Frankfurt/Leipzig 1999, 9). 56 Auch diese Denkfigur findet sich – mit weitreichenden kulturtheoretischen Implikationen – bei Karl Philipp Moritz wieder, und zwar in seiner antikekundlichen Schrift Anthusa oder Roms Alterthümer. Ein Buch für die Menschheit (Berlin 1791). Hier entwickelt Moritz die polemisch gegen die jenseitsorientierte christliche Religion gerichtete Vorstellung einer antiken Religion der Immanenz, deren Ziel die »Weihung des würklichen Lebens« ist (wie es wiederholt im Text heißt). Daher die Bedeutung der Oberfläche und des Rituals, denen gegenüber die Tiefe und die Lehre sekundär sind (Karl Philipp Moritz, Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe, hg. von Annette Klingenberg, Albert Meier, Conrad Wiedemann und Christof Wingertszahn, Bd. IV: Schriften zur Mythologie und Altertumskunde. Teil 1: Anthusa oder Roms Alterthümer, hg. von Yvonne Pauly, Tübingen 2005, vgl. insbes. 405).

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Handlungen der Menschen sind vorübergehend, haben nichts Bleibendes, nichts Fortdaurendes, das, so wie die Bilderschrift, durch Mißbrauch oder Mißverstand zur Abgötterey führen kann. Sie haben aber auch den Vorzug vor Buchstabenzeichen, daß sie den Menschen nicht isoliren, nicht zum einsamen, über Schriften und Bücher brütenden Geschöpfe machen. Sie treiben vielmehr zum Umgange, zur Nachahmung und zum mündlichen, lebendigen Unterricht. [. . . ] der lebendige Unterricht von Mensch zu Mensch, von Mund ins Herz, sollte erklären, erweitern, einschränken, und näher bestimmen, was in dem geschriebenen Gesetz, aus weisen Absichten, und mit weiser Mäßigung unbestimmt geblieben ist (J 114).

Moses Mendelssohn unterscheidet im Falle des Judentums zwischen ritueller Schrift und politischer Verfassung. Am Sinai hat sich Gott einem besonderen Volk in einem einmaligen Aktus offenbart. »Staat und Religion«, so Mendelssohn, »war in dieser ursprünglichen Verfassung nicht vereiniget, sondern eins; nicht verbunden, sondern eben dasselbe« (J 123). Damit war Gott, der allen Menschen der Erde »Schöpfer und Erhalter« ist, durch seine Offenbarung am Sinai den Juden zugleich »König und Verweser« ihrer Nation (J 123). Damit schließt sich Mendelssohn eng an die Interpretationen der Sinai-Offenbarung an, die Thomas Hobbes im Leviathan und Spinoza im Tractatus theologico-politicus vorgelegt hatten.57 Diese Nähe Mendelssohns zu Hobbes und Spinoza markiert damit nicht nur einen epistemischen Ort, sondern einen existenziell politischen.58 Für Mendelssohn impliziert diese Lesart der religiös-politischen Verfasstheit der Juden, dass es schon in dieser alttestamentarischen Staatlichkeit keinen Gesinnungsterror und keinen eigentlichen Religionsbann gab. »Jeder Frevel wider das Ansehen Gottes, als des Gesetzgebers der Nation, war ein Verbrechen wider die Majestät und also ein Staatsverbrechen« (J 124). Mit der Zerstörung des Tempels durch Titus und der sich anschlieäenden jüdischen Diaspora hat diese Staatlichkeit für Mendelssohn – wie für den Spinoza des Tractatus theologico-politicus – aufgehört. Übrig bleibt die reine Religion des Judentums, befreit von allen Spuren politischer Macht und Gewalt. Während aber Spinoza mit dem Untergang der alttestamentarischen Staatlichkeit auch die Verpflichtung der Gesetze, auch der Zeremonialgesetze, suspendiert und die Mosaische Verfassung damit säkularisiert hatte,59 macht Mendelssohn mit seinem Offenbarungsbegriff insofern ernst, als er die jüdischen Gesetze nur durch eine erneute göttliche Offenbarung vor den 57 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, ed. by J.C.A. Gaskin, Oxford/New York 1996, 272 (Part III, 5: »That the kingdom of God is properly his civil sovereignty over a peculiar people by pact«), und Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat (Sämtliche Werke 3). Auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick (PhB 93), Hamburg 1994, 254ff. 58 Vgl. zum existenziellen Ort der politisch-religiösen Thesen von Hobbes und Spinoza die anregende Arbeit von Horst Althaus, Heiden – Juden – Christen. Positionen und Kontroversen von Hobbes bis Carl Schmitt, Würzburg 2007, 9ff. und 25ff. 59 Und zu dem historischen Ort machte, an dem ein Abfall vom Judentum, ja von aller positiven Religion vernünftig erscheint, vgl. Leo Strauss, Anleitung zum Studium von Spinozas Theologischpolitischem Traktat, in: Texte zur Geschichte des Spinozismus, hg. von Norbert Altwicker, Darmstadt 1971, 300–361, hier 323. – Hier sehe ich den Punkt, an dem Lessing, nicht aber Mendelssohn, mit Spinoza übereinstimmen konnte.

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Juden aufheben lassen will. Zuvor aber ist es die Aufgabe der jüdischen Nation, ihren besonderen, partikularen Weg zu gehen – einer historischen und nationalen Offenbarung folgend, im Gefüge einer seit je partikularen, nationalen, spezifischen und empirischen Menschheit, die unter dem Dach einer universalen Vernunft geeint ist.

6. Soweit in groben Zügen Moses Mendelssohns politisch-religiöses Konzept, wie er es zwischen 1769 und 1783 entwickelt und in der Jerusalem-Schrift in abschließender Form vorgelegt hat. Ausgangspunkt war die 1769 von Lavater aufgeworfene Frage nach der Legitimation der fortwährenden Sonderexistenz der Juden, nach ihrer kulturellen und religiösen Differenz im Rahmen der europäischen Aufklärung und des christlichen Universalismus. Die Beantwortung dieser elementaren Frage hat Moses Mendelssohn von seiner zuvor wie selbstverständlich gelebten Doppelexistenz als observanter Jude und europäischer Aufklärer durch die verfassungs- und religionstheoretischen, staats- und naturrechtlichen Texte der europäischen Neuzeit geführt, insbesondere durch die von Hobbes, Spinoza, Locke und Montesquieu. Am Ende dieser gewaltigen Denkbewegung steht mit der Jerusalem-Schrift einer der wohl humansten und weitsichtigsten politischen Entwürfe der europäischen Aufklärung, entwickelt aus einer ganz empirischen Situation und gedacht für eine ganz konkrete, pluralistische Gesellschaft. Ein Entwurf, der Partikularität und Universalität als die beiden Pole der Bestimmung des Menschen sieht. Fragt man nach der christlich-jüdischen Dialogizität dieses Entwurfes, so bleibt nach der Lektüre der Jerusalem-Schrift ein Paradox. Mendelssohns Begriff religiöser Toleranz hat zwar die aufklärerische Anthropologie zum Grund, entwickelt aber wird er aus einer tiefgehenden Sprachskepsis. Toleranz ist – wie David Martyn im Nachwort seiner Jerusalem-Ausgabe hervorhebt – für Moses Mendelssohn wesentlich »Toleranz gegenüber Anderssprechenden«.60 Sprechen in einem elementaren Sinn aber kann man über die Religion gar nicht, ja die einzelnen Begriffe der Religion sind für ihn derart individuell, dass nicht einmal basale Übereinstimmungen in der Sache möglich sind. Religionsgesetze können daher nur durch symbolisches Handeln, eben dem Buchstaben nach, erfüllt werden; jede wahre Religion kann nicht mehr beanspruchen, als »Veranlassung« zum Nachdenken über Religion zu sein. Mendelssohns Jerusalem ist also ein Plädoyer dafür, nicht über Religion zu sprechen, eine Bitte an die christlichen Leser, kein Gespräch mit Juden über Dinge des Glaubens zu führen, und zwar aus der Einsicht, dass man über die Religion nicht reden kann, auch nicht mit den Gebildeten.

60 Martyn, Nachwort (J 150).

Jüdische Christologie im 18. Jahrhundert Björn Pecina Was es mit der Bestimmung des Menschen auf sich habe, ob es sie überhaupt gibt und – wenn ja – wie sie dann so zu kennzeichnen sei, daß ihr nicht nur die Plausibilität verallgemeinerungswürdiger Stringenz zukommt, sondern daß sich in dieser Kennzeichnung auch jene wiederfinden, die die Liebe zur Weisheit nicht zu ihrem Beruf erwählt haben – dies ist eine der meistdiskutierten Fragen der Hoch- und Spätaufklärung. Darum kann es auch nicht verwundern, daß die Formel in den Buchtitelformulierungen um die Wende zum 19. Jahrhundert immer wieder auftaucht, so etwa bei August Adolph von Hennings, Johann Lenz, Christian Friedrich Michaelis, Johann Gottfried Gruber, Johann Weitzel, Gebhard Friedrich August Wendeborn und Johann Gottlieb Fichte.1 Johann Joachim Spaldings berühmte Frühschrift aus dem Jahre 1748 war eine wichtige Initialzündung dieser Begriffskarriere, doch wurde sein Buch nicht nur mit Zustimmung aufgenommen. Als im Jahre 1763 die 7. Auflage seiner Bestimmung des Menschen erschien, begann die sicherlich berühmteste Debatte um Spaldings Bestimmungsschrift. Ausgelöst wurde sie durch eine Rezension des Rintelner Professors Thomas Abbt.2 Da Moses Mendelssohn auf Abbts Spaldinginterpretation reagiert hat, stellt dieses Dokument ein Zeugnis für die unmittelbare Auseinandersetzung eines jüdischen Philosophen mit dem wohl bekanntesten Werk aus neologischer Feder dar, und somit haben wir hier zugleich das interessante Beispiel für einen jüdisch-christlichen Dialog aus der Aufklärungsepoche vor Augen. Mendelssohn tritt dabei auf die Seite Spaldings und führt die Position des lutherischen Kanzelredners gegen die sehr kritischen Einwände seines Freundes ins Feld. Ferner gehen wir auf Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem als einem weiteren wichtigen Vertreter der Neologie ein.3 Seine Theologie dient uns als Hinter1

2

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Cf. F. Jannidis, Die Bestimmung des Menschen. Kultursemiotische Beschreibung einer sprachlichen Formel, in: Aufklärung (2002) 14, 75–95. Hier (88–93) findet sich auch eine Sammlung jener Quellen, die die in Rede stehende Formel im Titel führen. Thomas Abbts Rezension wurde wegen der schon vorher durch Friedrich Gabriel Resewitz in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend eingereichten Rezension zurückgestellt, um dann am 21./28. Juni und 5.Juli 1764 im 287. Literaturbrief zu erscheinen. Mendelssohns auf Abbt reagierendes Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend erschien ebenfalls im 287. Literaturbrief am 5. und 12.Juli 1764. Mendelssohn hat sowohl Spaldings Bestimmungsschrift als auch Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768ff.) besessen. Cf. H. Meyer (Hg.), Verzeichnis der auserlesenen Büchersammlung des seeligen Herrn Moses Mendelssohn, Berlin 1786 (Faksimile der SoncinoGesellschaft 1926), 32/249; 40/376 u. 47/557.

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grund für eine Wortmeldung des jüdischen Weltweisen, in der er seine Religion darlegt und verwundertes Unverständnis gegenüber jenem Ansinnen zeigt, ihn, Moses Mendelssohn, den aufgeklärten Juden unter das Kreuz des Gottessohnes zu rufen.

1. Aufstieg ins Innere – Spaldings Suche nach Gott Indem Spaldings Bestimmungsschrift von 1748 auf die Frage zu antworten sucht, was das Glück des Menschen ausmache, wendet sie sich einem typischen, wenn nicht sogar dem zentralen Problem des 18. Jahrhunderts zu.4 Die Weise aber, in der Spalding auf diese Frage antwortet, ist originell, und es ist vielleicht nicht übertrieben, diese Originalität weniger in dem Ergebnis der Spaldingschen Schrift als in der Weise, wie Spalding auf dieses Ergebnis stößt, zu suchen.5 Indem Spalding nämlich bei der Suche nach dem unverlierbaren Glück des Menschen auf seine introspektive Fähigkeit der Selbstergründung setzt, deutet er voraus sowohl auf die ethikotheologische Philosophie Kants als auch auf die subjektivitätslogisch entfaltete Theologie Schleiermachers. Ausgehend von der Quid-sumus-Frage exponiert Spalding seinen Gedanken von der Werthaftigkeit des menschlichen Lebens.6 Dabei ist die Überlegung leitend, dieses Eigenwertes weder mit Blick auf die Lebensführung anderer Menschen noch im phantasierenden Sich-Versteigen in die Bilderwelt fremddiktierter Wünschbarkeiten innewerden zu können (cf. 45).7 »Die bloße einfältige Natur mag bey mir reden; ihre Entscheidungen sind ohne Zweifel die zuverläßigsten« (45). Damit ist das Ich angelangt bei der einzig 4

5 6

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Cf. hierzu die brillante Darstellung bei P. Hazard, Die Herrschaft der Vernunft. Das Europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949, 44–59. Erst am Ausgang des 18. Jahrhunderts dann wurde die Glückseligkeit als Staatszweck (cf. Th. Moos, Staatszweck und Staatsaufgaben in den protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts, Berlin u. a. 2005, 46–48) grundsätzlich – am nachhaltigsten sicher in der Staatsphilosophie Fichtes – in Frage gestellt. Diese Ablösung findet sich kurz dargestellt bei J. Rolin, Der Ursprung des Staates. Die naturrechtlich-rechtsphilosophische Legitimation von Staat und Staatsgewalt im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts, Tübingen 2005, 124–126. Cf. U. Barth, Von der Theologia naturalis zur natürlichen Religion. Wolff – Reimarus – Spalding, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 145–171, 171. J. J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen (11748, 21748, 31749, 41752, 51754, 61759, 71763, 8 1764, 91768, 101774, 111794), hg. v. A. Beutel, D. Kirschkowski u. D. Prause, Tübingen 2006, 43: »Ich sehe, daß ich die kurze Zeit, die ich auf der Welt zu leben habe, nach ganz verschiedenen Grundregeln zubringen kann, deren Werth und Folgen daher auch unmöglich einerley seyn können [...] Desto mehr würde ich mir [...] vorzuwerfen haben, wenn ich nicht die ernsthafteste Ueberlegung auf dasjenige gerichtet hätte, worauf mein eigentlicher Werth [...] ankömmt«. Die im folgenden in den Text gesetzten Seitenzahlen beziehen sich immer auf diese Ausgabe der Spaldingschen Bestimmungsschrift. Es stellte eine lohnende Aufgabe dar, Spaldings Bestimmungsschrift einmal speziell unter wertphilosophischer Perspektive zu interpretieren und kontextualisieren. Hier sei nur verwiesen auf Christian Wolff, in dessen Überlegungen zur Ökonomie und zur Ethik sich der Wertbegriff ebenfalls findet. Cf. hierzu F. Werner, Vom Wert der Werte. Die Tauglichkeit des Wertbegriffs als Orientierung gebende Kategorie menschlicher Lebensführung. Eine Studie aus evangelischer Perspektive, Münster 2002, 37f.

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möglichen reflexiven Instanz, die mit Aussicht auf Erfolg dem religiösen Subjekt verheißt, mit sich selbst in Übereinstimmung treten zu können: dem neigungsbetroffenen und fühlenden Selbstbewußtsein. »So lange also noch etwas Wesentlicheres, das meine Neigung rege machen kann, in der Natur vorhanden ist, kann ich mich vor mir selbst nicht entschuldigen, wenn ich mich bey Träumen aufhalte« (47). Damit ist zumindest ein Zweifaches gesagt: Der religiöse Mensch empfindet das Affiziert-Sein durch die Neigung niemals schon als einen hinreichenden Grund dafür, dieser Neigung auch zu folgen. Aller Neigung nämlich ist immer die wertende Reflexion auf jenen Auslöserreiz, durch den die Neigung hervorgebracht wurde, konkomitant. Zugleich aber, und damit ist die zweite Pointe der zitierten Passage angesprochen, geschieht religiöses Leben in einem Selbstverhältnis des fühlenden Subjekts, ein Selbstverhältnis freilich, bei dem nicht die logische Struktur strenger Selbstbezüglichkeit das Entscheidende darstellt, sondern der ganz konkrete fromme Akt des Rechenschaftgebens. Immer dann nämlich, wenn das religiöse Subjekt seiner Neigung folgt, die zu bewerten zu den basalen Aufbaumomenten religiösen Bewußtseins gehört, bringt sich der Mensch zugleich – in einer Rechenschaft gebenden Haltung – vor sich selbst. Damit haben wir den Einstieg in die von Spalding nun entfaltete Stadienlehre des religiösen Bewußtseins gefunden: Das sich in der Verständigung über sein Handeln immer neu vor sich selbst bringende Subjekt folgt seinen Neigungen, weil anders diese Neigungen das menschliche Handeln mit Negativität aufladen würden. Somit entgeht das religiöse Subjekt der Fremdbestimmung nicht dadurch, daß es seine Triebstruktur ausschaltet, sondern es steigert die Neigungsbetroffenheit in wertendem Bewußtsein – immer weiter getrieben von dem reflexiven Vorbehalt, mit sich selbst noch nicht sich in Übereinstimmung zu befinden. Ein erstes Stadium stellt die Geworfenheit auf den »gewaltige[n] Reiz« (47) der Gewißheitsversprechungen sinnlicher Vergnügen dar. Hier ist es interessant zu sehen, daß Spalding diesen Vergnügen nicht den Garaus zu machen trachtet durch eine vorlaufende moralische Wertung, sondern alle reflexiv vertretbaren Ausdrucksformen dieses Vergnügens durchspielt und auf ihre Dauerhaftigkeit hin überprüft.8 Indem die Vernunft den genießenden Empfindungen supponiert wird, entsteht ein durchdachtes und folgenkritisch analysiertes »System« sinnlicher Hochgefühle, die zu empfinden, der Mensch sich nicht einfach hingibt, sondern »mit aller Vorsichtigkeit und Sorgfalt« darauf bedacht ist, daß diese Gefühle nicht instabil werden (55). Hier ist sehr genau zuzusehen, wie sich für Spalding der Übergang in ein neues Stadium der Selbstübereinstimmung ergibt, da auch die weiteren Stadien als von dieser Übergangslogik betroffen sich herausstellen werden.9 Auch wenn das religiöse Subjekt – indem es im Stadium der Sinnlichkeit das Glücksempfinden auf Dauer gestellt zu haben meint – eine nachgerade systematische Form des Genießens ausgebildet hat, stellt sich doch immer ein Mangelgefühl ein. 8 9

Spalding (wie Anm. 6) 55: »Ich unterdrücke meine Vernunft nicht; ich brauche sie ihrem Zwecke gemäß, und lasse sie, da ich zum Empfinden lebe, den Empfindungen dienen«. Zu dieser Logik des Übergehens in je neue Bewußtseinszustände, denen dann vorläufig eine Leitfadenfunktion zukommt, cf. U. Barth, Mündige Religion – Selbstdenkendes Christentum. Deismus und Neologie in wissenssoziologischer Perspektive, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 201–224, 222f.

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Björn Pecina »Und nichts desto weniger finden sich gewisse Augenblicke, da mir ist, als wenn mir etwas fehlete« (55).

Nahezu jedes Wort ist hier bedeutsam. Der nicht vorhersehbaren Plötzlichkeit des Augenblickes ist es vorbehalten, dem Genießenden ein Gefühl der Sehnsucht nach jenen Gefilden zu geben, die sich am Orte dieses Gefühls noch nicht in einer konkreten Vorstellung zu materialisieren vermögen. Es steht noch dahin, wonach der Mensch in diesem Zustand sich sehnt. Sind also die konkreten Vorstellungen dem sich sehnenden Geist nicht faßbar, so weiß er dennoch, daß diese aufblitzenden Momente nicht nur die reine Negativität an sich tragen, sondern als ›gewisse Augenblicke‹ dem Gefühl einen deutlichen Wiederholungseffekt versprechen. Gewiß sind diese Augenblicke nämlich insofern, als sie – unbeschadet dessen, sich nicht in einer konkreten Vorstellung materialisiert zu haben – dennoch ein Gefühl des Ausseins-auf-Anderes statuieren, das die Menschen danach streben läßt, der nur empfundenen Gewißheit, auf etwas auszusein, auch Bestimmtheit zu geben. Dem Menschen ist, als wenn ihm etwas fehlte. So befindet sich also das religiöse Subjekt im sehr konkreten Zustand der Bestimmtheit, wenngleich Spalding diese Bestimmtheit durch eine hypothetische Vergleichsformulierung mit zweiteiligem Subjunktor zum Ausdruck bringt. Im Als sedimentiert nämlich zum einen die Bestimmtheit des Subjekts in seinem Ist- oder konkreten Seinszustand, um aber zugleich in diesem Zustand von Gnaden einer weiteren Relation zu leben. Das Fundament dieser Relation ist bezeichnet durch jenen Mangel, der sich am Ort des Subjektes als ein vages Gefühl bemerkbar macht, um aber ineins damit auf etwas zu verweisen, das sich dem Subjekt allererst noch konkret darstellen muß. Damit ist der Umschlagpunkt in ein neues Stadium der Suche nach Selbstübereinstimmung erreicht. Am Ort der noch nicht in einer konkreten Vorstellung materialisierten Sehnsucht strebt das Subjekt danach, diese Vorstellung zu gewinnen, auf daß sich auch die hoffende Suche nach Selbstübereinstimmung erfüllen möge.10 Wir können hier die von Spalding als Wissens- (65–78) und Tugendstadium (79– 134) bezeichneten Zwischenstufen übergehen, da sich sowohl in der rein geistigen als auch der tugendhaften Einstellung des Menschen genau jenes Darüber-hinaus-Wollen bemerkbar macht, das unaufhaltsam auf den finalen Standpunkt zusteuert: die Religion. Dieser Standpunkt wird betreten, indem das Relationsgefüge einer Subjektivität, die gerade darin ihre Bestimmtheit hat, sich im Gang durch die Stadien ihrer Bestimmtheit in Selbstübereinstimmung gegenwärtig zu werden, an dieser Subjektivität unmittelbar in dem Gedanken des Herseins-von-Anderem aufscheint, von einem Anderen nämlich, dem nachgerade Urbildcharakter zukommt. »[E]in Ganzes, daß so mannichfaltig ist; dieß giebt mir die Vorstellung von einem Urbilde der Vollkommenheiten, von einer ursprünglichen Schönheit, von einer ersten und allgemeinen Quelle der Ordnung. Welch ein Gedanke! – So ist denn etwas, von dem alles, was ich bisher bewundert habe, abhänget! So ist denn etwas, von dem alle Theile der Natur ihre Uebereinstimmungen, ihre Verhältnisse [...] haben« (135). 10 Spalding (wie Anm. 6) 55: »[A]llein, ich spüre bald, daß ich meinen Unmuth zwar auf eine kleine Zeit vergesse, aber nicht hebe«.

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Im religiösen Stadium weiß sich der Mensch als ein Teil des wohlgeordneten Ganzen in Gott. Damit schlägt die im Modus ›bestimmter Unbestimmbarkeit‹ gesetzte Bestimmtheit des Menschen um in eine Teil-Ganzes-Relation. Das religiöse Subjekt hat jetzt sein Selbstübereinstimmungsgefühl darin, sich als Teil eines Ganzes zu wissen, ohne daß dieses Ganze von dem Teil rückbedingt würde. Den Ausdruck mithin, daß das religiöse Subjekt diese Relation wisse, haben wir mit Bedacht gewählt, denn es entspricht keinesfalls dem Konstruktionsprinzip der Spaldingschen Bestimmungsschrift, die Relation von Teil und Ganzem einer Ontologie einzubergen. Hier ist genau darauf zu achten, daß Spalding vom Aufgehen des menschlichen Geistes in Gott als von einem ›Gedanken‹ spricht, einem erhabenen zwar, der eine generische Differenz allen anderen Gedanken gegenüber markiert, aber doch einem Gedanken, womit indiziert ist, daß Spalding nicht unter der Hand eine ungedeckte ontologische Versicherung zwischenschaltet, sondern unbeirrt den Weg introspektiver Vergegenwärtigungen geht. Gleichwohl aber läßt sich dieser Gedanke noch näher kennzeichnen: »Ich bin mir also beständig bewußt, daß ich unter den segnenden Augen dieses allgemeinen Vaters, und in der Gesellschaft einer unendlichen Menge lebendiger Wesen [...] ein jedes Glück [...] genieße« (139). Der erhabene Gedanke, aus dem Seinsursprung einer göttlichen Ganzheit zu leben, der – bei aller gebotenen Differenzierung im einzelnen – Schleiermacher gar nicht unähnliche Gedanke mithin, von diesem Ursprung abhängig zu sein, ohne daß der Grund dieser Abhängigkeit nochmals in einer transsubjektiven Seinsversicherung festgestellt würde, ist in der sehr konkreten Form eines Selbstbewußtseins zum Ausdruck gebracht, das sich seiner selbst als der Erzeugungsbedingung aller Gottesprädikate bewußt ist. Die Unsicherheit des Menschen darüber, wie er sein Leben nach dessen letzten Zielen und Absichten zu gestalten habe, hat sich hier in ein Selbstbewußtsein gewandelt, das darum weiß, sich von Gott abhängig zu wissen, aber eben darin zugleich weiß, den Gott dieser Abhängigkeit in einem Gedanken zu haben, so daß der letzte Grund des religiösen Selbstbewußtseins zugleich von diesem immer noch umgriffen wird. Somit besteht der Glückseligkeitsgewinn auf dem Standpunkt der Religion keineswegs in einer variierten Ontologie, sondern vielmehr darin, daß sich der Mensch mit sich selbst in Übereinstimmung gebracht hat, und diese Glückseligkeit stabilisiert die mit ihr einhergehende Seelenruhe gerade darin, in einem identischen Bewußtseinsakt vollzogen worden zu sein.11 Wenn Spalding auf die Unsterblichkeitslehre zu sprechen kommt, zeigt sich, daß die Tendenz einer Ausbalancierung des Glückseligkeitsempfindens in bewußten und auch selbstbezüglichen Akten noch verstärkt wird. Er entwirft hier nämlich eine an Shaftesbury angelehnte Selbstbewußtseinstheorie, der dann eine basale Begründungsfunktion für den Unsterblichkeitsgedanken zukommt.12 »Ich bin Eines, wenngleich alles andere um mich noch so vielfach und folglich noch so wechselnd ist« (177). Dieses Selbstbewußt11 Spalding (wie Anm. 6) 165: »So wie mich aber dieß groß macht, so macht es mich auch ruhig«. 12 Cf. C. Schwaiger, Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung, in: N. Hinske (Hg.), Die Bestimmung des Menschen (Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Jg. 1, H. 1) Hamburg 1999, 7–19, bes. 10–16.

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sein findet ein virtuelles Gegenüber im Ganzen der Ewigkeit, das in Wahrheit nur eine Ausdrucksform subjektiver Religiosität ist: »Ich will mich also gewöhnen, die Ewigkeit und das gegenwärtige Leben beständig als ein Ganzes zu betrachten [...] und nimmer [...] vergessen, daß Rechtschaffenheit und eine ordentliche Seele das Einzige sey, welches in beyden seinen gleichen Werth behält« (185). Damit schließt sich ein Kreis. Am Beginn seiner Überlegungen hatte Spalding nach dem eigentlichen Wert des Lebens gefragt. Gefunden kann dieser Wert nur werden, indem sich der Mensch immer tiefer und immer stärker dessen besinnt, was in seinem Herzen er als Sehnsucht nach einem gelingenden Leben auszumachen vermag. Sein Leben hat genau dann am meisten Aussicht zu gelingen, wenn sich der Mensch auf einen Standpunkt gestellt hat, der enttäuschungsresistent das Sehnsuchts- oder Mangelgefühl zum Schweigen bringt. Das vermag aber nicht durch Kompensationsversuche, sondern nur durch eine Identisch-Setzung des Subjekts mit seinem Sehnsuchtsgefühl zu geschehen, ein Akt der Frömmigkeit, in dem der Mensch sich in Gott und von Gott her nicht nur weiß, sondern auch seelenberuhigt fühlt, daß seine Glaubensgewißheit von dem Sachverhalt, Gottes Voraus-Sein nur in einem Gedanken zu haben, unbetroffen ist.

2. Vom Bestimmen der Bestimmung des Menschen Thomas Abbt und Moses Mendelssohn 2.1. Thomas Abbt Der jüdisch-christliche Dialog beginnt nun, wenn Thomas Abbt auf Spaldings Glückskonzeption reagiert und darüber in eine Auseinandersetzung mit seinem jüdischen Freund Moses Mendelssohn gerät. Am 22./28. Juni und am 5. Juli 1764 erscheint im 287. Literaturbrief Abbts Rezension der Bestimmungsschrift.13 Abbts Kritik an Spalding ist sehr schlicht, aber sie trifft dennoch einen nicht unwichtigen Nerv. »Die ganze Schrift [sc. Spaldings Bestimmungsschrift] ist die Monologue eines unterrichteten und nachdenkenden Mannes. Daher passet sie keineswegs auf die ungeheure Menge von Menschen, die fast allein durch die äußern Gegenstände zu ihrer Glückseligkeit, oder zu dem Gegentheile bestimmt werden« (18).

Offenbar ist für Abbt die Spaldingsche Lösung der Glückseligkeitsproblematik schon darum kritisch zu nehmen, weil sie auf ein Lesepublikum abstellt, das den Umgang mit bestimmten Reflexionsgepflogenheiten gewohnt ist. Eine Anleitung zur Erlangung menschlicher Selbstübereinstimmung aber sollte nicht sich abhängig machen von den reflexiven Fähigkeiten ihrer Leserinnen und Leser. Den Mitmenschen nicht zu schaden und sie erhalten zu wollen, mag noch eine Kompetenz sein, die sich bei allen menschlichen Wesen zu finden pflegt, aber die daraus sich dann höherstufig ergebende Arbeit 13 Die im folgenden in den Text und die Fußnoten gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf den 287. Brief, in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, Berlin 1765.

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an der Beförderung des allgemeinen Besten unter den Menschen setzt eine Stufe an Reflektiertheit voraus, die sich nicht bei allen Menschen findet.14 Anhand der Endzweckvorstellung entwickelt Abbt seine Idee von der moralischen Bestimmtheit des Menschen, die er von einer Teleologie abkoppelt. Eine an der Endzweckvorstellung orientierte Teleologie vermöchte nach Abbt auf das Zentrum der menschlichen Bestimmtheit als einer Gattung gar nicht zu stoßen, weil das teleologische Moment dem Menschen im Zugleich mit der gesamten Natur eignet. Will man also die Bestimmtheit des Menschen in den Blick nehmen, so ist es notwendig, eine generische Differenz zu bezeichnen, durch die der Mensch von der Naturteleologie unterschieden ist.15 Wenn es zwar richtig ist, daß der Mensch mit der Gesamtheit des Naturverlaufs gemeinsame teleologische Strukturen aufweist, so ist doch das, was seine nur ihm zukommende Teleologie von diesem Naturverlauf unterscheidet, nicht qua Vernunftschluß aus dem Naturverlauf herauszubringen, da der Natur keine Kriterienfunktion hinsichtlich dessen, was den Menschen der Natur gegenüber in seiner Eigentlichkeit bestimmt, zukommt.16 Um das dem Menschen als Gattungswesen Eigentliche herauszubringen, bedürfte es einer besonderen Offenbarung Gottes, wenn denn weder in der Natur noch im Menschen selbst sich ein seine Bestimmung aufklärendes Moment ausmachen ließe. Wenn aber eine solche Offenbarung sich nicht findet, so muß der Mensch mit dem Mangel leben, daß Gott es für gut befunden hat, bestimmte Wesensmomente der menschlichen Bestimmung im Dunkeln zu lassen. So kann der Mensch aus seiner besonderen Stellung innerhalb des Natur- und Weltgeschehens keinerlei Anhaltspunkt für seine besondere Bestimmung finden, so daß jeder Schluß auf eine solche Bestimmung in strengem Sinne ohne Rechtfertigung bliebe. Daraus aber folgt keineswegs eine Beliebigkeit hinsichtlich menschlichen Weltverhaltens, so etwa, daß nun keinerlei gesichertes Wissen darüber, was denn moralisch angemessen sei, mehr möglich wäre. Abbt hat hier offenbar eine provisorische Moral im Auge, innerhalb derer sich der Mensch »Lebensregeln« (28) bildet, die dazu angetan sind, in dem ihm möglichen Maße seine Glückseligkeit auf Erden zu verwirklichen.17 Insoweit diese Lebensregeln orientiert sind 14 23f.: »Man wird sich niemals aus dem Streite zwischen der sogenannten eigennützigen, und zwischen der mitleidigen Philosophie herauswickeln: wenn man nicht drey Stücke auseinander setzt: 1) Die Neigung, einem Geschöpfe [...] nicht schaden zu wollen. 2) Die Neigung, dis Geschöpf, wenn es sich auf unserm Wege findet, zu erhalten. 3) Die Neigung und den Eifer, sich allenthalben zur Beförderung des allgemeinen Besten, zum Dienste aller Nebengeschöpfe anzugeben. Die beyden ersten Stücke finden sich bey allen Menschen; aber das letztere, ich zweifele, daß es sich bey einem finde, der es sich nicht durch Nachdenken und Ueberlegung erworben. Die Wilden sind hierin die besten und unverwerflichsten Zeugen der Natur. Sollte aber wohl jemals in der Brust des Wilden das Bewußtsein einer allgemeinen Liebe für das menschliche Geschlecht gewohnt haben«? 15 27 (Hhgn. z. T. v. Vf.): »Man unterscheide doch einmal die Bestimmung des Menschen, die er mit allen anderen Dingen dieses Weltgebäudes gemeinschaftlich hat, von derjenigen, die ihm als einer besonderen Gattung von Wesen, an einer besondern Stelle, eigen ist«. 16 Ibid. (Hhgn. v. Vf.): »Aus der erstern läßt sich die letztere nicht schliessen, und diese allein entdeckt uns die Geheimnisse der Gottheit über ihn«. 17 Cf. S. Lorenz, De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791), Wiesbaden 1997, 194–207, bes. 206f. u. ders., Skeptizismus und natürliche Religion. Thomas Abbt und Moses Mendelssohn in ihrer Debatte über Johann Joachim Spaldings

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an einer Telosstruktur, darf der Mensch aber für diese Telosstruktur keine Exklusivität behaupten, sondern muß stets dessen eingedenk sein, auf diesen Endzweck nur im Zugleich mit allem Lebendigen sich richten zu können. Und so ist es bezeichnend, daß Abbt an den Ausgang des Menschen bei Gott – wobei dann durch diesen Ausgang als Endzweck des Lebens der neuerliche Eingang in die göttliche Wirklichkeit schon beschlossen liegt – die Metapher einer umwölkten Tür setzt: Zwei Türen beschreiben den Lebensweg des Menschen hienieden: die Pforte, durch die der Mensch ins Leben tritt und das andere Tor, durch das er einmal dieses Leben wieder verlassen wird. Beide Pforten sind verhangen durch Wolken, so daß sich weder am Eintritt in das Leben schon sehen läßt, auf welches Ziel hin es enden wird, noch sich an der Finalität dieses Lebens ablesen ließe, wo und mit welcher Bestimmung der Mensch sein Anfangen hatte. Abbt plädiert also – hierin durchaus modern – für eine Perspektive, die die Sinnvermutungen hinsichtlich eines finalen und indisputablen Lebensziels konsequent zurücknimmt in die Diesseitigkeit des Lebens. Damit, wir haben schon darauf hingewiesen, soll nicht einer Indifferenz alles Moralischen das Wort geredet werden, sondern es geht Abbt im Kern darum, die menschlichen Sinnerwartungen nicht mit einer rational unkontrollierbaren Heilsmetaphysik zu überfordern. Dazu paßt es, wenn er die Moralgrundsätze im Vorläufigen des dem Menschen überschaubar sich darstellenden Lebenswegs verankern will, genau dort also, wohin das Licht Gottes reicht, unbeschadet dessen, daß die letzten Sinnstrukturen unseres Lebens im Verborgenen ruhen, denn der Mensch hat trotzdem »Licht genug [...] für den Weg, den er wandeln soll« (28, Hhg. v. Vf.). Wie steht es aber nach diesem Plädoyer für die Diesseitigkeit mit Abbts Fassung des Unsterblichkeitsglaubens? Oder in den Worten Abbts: »Gehört wohl zu meiner Existenz auf der Erde noch eine Fortdauer mit angeknüpftem Faden der Begebenheiten unter zurückerinnerndem Bewußtseyn« (29)? Diese Frage vermag nur mit Blick auf den allgemeinen Endzweck der Natur oder das konkrete Ziel des menschlichen Lebens beantwortet zu werden. Antwortet Spalding hier, indem er den Unsterblichkeitsglauben als Kontingenzkompensation statuiert, so fragt Abbt, warum denn diese Kontingenzkompensation überhaupt statthaben müsse.18 Von dieser Skepsis gegenüber Letztaussagen ist dann auch das Theodizeeproblem betroffen, das durch Abbt weitgehend entschärft wird, indem er jegliche Endzweck-Metaphysik von sich weist. Spaldings These: »›Es muß eine Zeit seyn, da sich alles, was hier verrückt scheint, an seine Stelle hinsenket‹«, kontert Abbt: »Aber wenn es nur mir verrücket scheint« (34)? Und noch sprechender Bestimmung des Menschen, in: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, hg. v. M. Albrecht, E. J. Engel u. N. Hinske, Tübingen 1994, 113–133. 18 »Ein angeborner siecher oder verstümmelter Körper ist vielleicht nebst dem schädlichen Blitze, dem Erdbeben [...] und der Überschwemmung, alles Unglück, das von der Natur kömmt. Kriege, Unterdrückungen, kommen aus der Gesellschaft der Menschen. Doch alles dies zusammen genommen, wer will mit Gewißheit sagen, daß das Unrecht, welches ich durch die letztere leide, nothwendig mir, so daß ich darum wisse, und so zu sagen, zur Sättigung meiner Rachbegierde, müsse ersetzt werden? Kann nicht unsre Erde einem andern Balle und allen Begebenheiten auf demselben untergeordnet seyn. Wie will ich Wurm einsehen, daß irgendwo in dem Ganzen unersetztes Unrecht vorhanden sey« (32)?

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ist Abbts Argumentation, die auf Spaldings Überlegung, daß ein »›allgemeiner Hang zur Ordnung [...] einmal [...] durchgesetzt werden‹« muß, reagiert (34). Abbt antwortet hierauf mit einer sehr einprägsamen Skepsis an der umgreifenden Urteilsfähigkeit des einzelnen Subjektes. »Unstreitig, aber mit welchem Grund mach ich mich zum Subjekt, an dem diese Durchsetzung geschehen muß« (34). Damit stößt Abbt in das Herz der Spaldingschen Bestimmungsschrift. Die Spaldingsche Exposition der Glückseligkeitsproblematik bezog ihre Plausibilität ja aus der konsequenten Subjektivierung des Glücksproblems. Wenn nun aber fraglich wird, wie Abbt es unterstellt, daß das einzelne Subjekt überhaupt zum Gegenstand der Erlösung werden muß, ist zwar Erlösung zu denken möglich, aber gleichwohl nur als ein abstrakter Gedanke. Dieser Gedanke hätte dann zwar die Erlösungsvorstellung beibehalten, aber so, daß diese Vorstellung – als eine zu denken mögliche Vorstellung – zwar nicht vorschnell geleugnet werden darf, aber sich keinesfalls dem nach seiner Bestimmung fragenden Menschen fürderhin als eine finale Hoffnungsgewißheit aufdringt. Wenn wir unsere Erlösung denken können, aber nicht mehr auf sie hoffen dürfen, ist nicht nur das Ergebnis, sondern zugleich auch die Fragestellung der Spaldingschen Bestimmungsschrift aus dem Sattel gestochen. Kommen wir zu Abbts abschließender Deutung der Bestimmung des Menschen: »Was soll ich [...] nun von meiner Bestimmung denken? Zuerst anbeten! Und dann wohl thun« (38)! Wenn Abbt also in der von einer provisorischen Moral gesteuerten Handlung die einzige dem Menschen mögliche Übereinstimmung mit seiner Bestimmung zu sehen vermöchte, folgt er Spalding ganz bewußt nur auf die dritte, die moralische Stufe der Stadienlehre. Dies hängt, wie wir gesehen haben, zusammen mit Abbts Verabschiedung des Spaldingschen Introspektionsvollzuges zugunsten einer nüchtern kalkulierten Einsicht in die Intellektionsfähigkeiten des Menschen. Die Notwendigkeit moralischen Handelns, ohne das ein friedliches Gemeinwesen nicht gut zu denken ist, kann er getrost befürworten. Ob dieses Handeln allerdings zu einem allgemeinen Besten der Menschheit ausschlagen mag – darüber versagt sich Abbt jede weitere Mutmaßung. Überspitzt ließe sich sagen, daß Abbt die moralische Valenz menschlichen Handelns durchaus nach der Analogie eines funktionierenden Regelsystems versteht, wie es für die gesamte unbelebte und belebte Natur vorauszusetzen ist. Das erhellt dann nicht zuletzt daraus, daß Abbt in die besondere Bestimmung des Menschen keine Einsicht zu haben vorgibt.19 Damit ist auch jeder Unsterblichkeitsglaube verabschiedet, der eine Unsterblichkeit der Seele als einer nicht vergänglichen Substanz installieren will, weil eine Fortexistenz der Seele nach dem Tod kein notwendiger Gedanke mehr ist.20 Nur 19 »Welchen Theil der Schöpfung ich aber ausmache, wie weit ich und meine Gattung in die Berechnung des Ganzen gekommen seyen? ob wir nirgends eine gegenseitige Größe antreffen, die uns aufhebt: – soll ich entscheiden? nein« (38). 20 39: »[T]röstlicher Gedanke der Unsterblichkeit! Wir können dich nicht missen: Zwar so wie dich etwa der trockene Verstand in dem Worte: unvernichtet, hervorbringt: so können wir dich missen: aber nicht so, wie ihn jede tugendhafte Empfindung [...] hervorgehen lässet. Laß uns aber dich nicht auf den Eigendünkel gründen, daß Ordnung hier fehle, so bald wir sie nicht erblicken, und Gerechtigkeit des Himmels nicht gehandhabet sey, so bald wir sie nicht fühlen. Stille müssen wir warten, bis der Geber alles Guten [...] jedem von uns auf der vorgeschriebenen Höhe seine Befehle zu eröfnen erlaubet. Unwissend in diesem Stücke müssen wir alle vorher absegeln«.

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insofern unsere tugendhaften Taten nicht der Einschränkung durch ein biologisches Ende unserer Existenz ausgesetzt sein dürfen, ist die Unsterblichkeitslehre noch zu halten. Mendelssohn wird nicht zuletzt diese Aussagen Abbts zum Anlaß genommen haben, in seiner Übersetzung und teilweisen Neuschreibung (1767) des Phaidon sich intensiv daranzumachen, die Platonischen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele den Überlegungen der Plotin, Descartes, Leibniz, Wolff, Baumgarten und Reimarus anzupassen,21 um solchermaßen einen Evidenzschub zu erzielen. 2.2. Moses Mendelssohn Kommen wir zu Mendelssohns Antwort auf Abbts Rezension. Und hier ist allein schon bemerkenswert, daß sich Mendelssohn gegen seinen Freund Thomas Abbt auf die Seite von Spalding schlägt. »Wo ist nunmehr das ganze Heer von Zweifeln«, so resümiert er am Ende seines Votums mit Blick auf Abbt, »das sie wider Hr. Spaldingen zu Felde geschickt haben? [...] Verschwunden, so bald sie ihre Helden haben fallen sehn, und ihre Fahne der flatternde Foliobogen schmücket meinen Triumph« (57). Sehen wir zu, mithilfe welcher Argumente Mendelssohn Spalding an die Seite tritt. Mendelssohn nennt hier jenen Gedanken, von dem Ernst Cassirer gesagt hat, daß er die ganze Philosophie Mendelssohns bestimmen würde:22 »Das unermeßliche Weltall erfüllt die Absichten Gottes. Die gesammte Natur bezeichnet die Gedanken des Allmächtigen, aber durch Zeichen, die die Sache selbst sind« (42).23 Damit wird die Natur zu einer unmittelbaren Abbildung Gottes, wobei in den so gefaßten Bildbegriff immer jene Ambivalenz eingeht, im Abbilden des Abgebildeten zugleich dessen Negation als das dem Abgebildeten Andere im Bild zu sein. Mit dem Göttlichen und seiner Abbildung im Bild der Natur ist solchermaßen die umgreifende Relation bezeichnet, der alle Reflexionen über des Menschen Bestimmung und Glückseligkeit eingeschrieben sind. Aus dieser Relation erwächst nach Mendelssohn dem Menschen seine Bestimmung, die darin besteht, die »Absichten des Allerhöchsten« (43) zu erfüllen. Abbt hatte, wie wir gesehen haben, bestritten, daß wir eine Einsicht in die besondere Bestimmung des Menschen erlangen können. Anders Mendelssohn, der betont, daß der Mensch »auch etwas Eigenthümliches« (43), das ihn zum Menschen macht, besitzt. Dieses Eigentliche des Menschen sieht Mendelssohn in der Fähigkeit, durch Übung, Gewohnheit und das Aufspüren von Entdeckungszusammenhängen die in ihm angelegten Möglichkeiten immer weiter 21 Cf. M. Mendelssohn, Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, hg. u. m. Einl. vers. v. D. Friedländer, Berlin 71856, Vorrede XXXV. 22 E. Cassirer, Die Philosophie Moses Mendelssohns, in: Ders., Aufsätze und kleine Schriften (1927– 1931), Gesammelte Werke 17, hg. v. T. Berben, Hamburg 2004, 115–137, 117: »Das Prinzip, auf dem Mendelssohns Philosophie beruht und das alle Teile seiner Lehre zu einem einheitlichen Ganzen verknüpft, besteht in der Voraussetzung, daß die Wirklichkeit in ihrer Struktur und Fügung der Fügung des Gedankens genau entspricht und von ihr in keinem einzigen Zuge abweichen kann«. 23 Sehr ähnlich lautet das Ciceronische Motto auf der Titelseite von J. G. Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die dieser 1770 als Preisschrift bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften (ersch. bei C. F. Voß, Berlin 1772) eingereicht hat. Das von Herder leicht abgewandelte Wort lautet bei Cicero, Topica, 8, 35; 395: [Q]uia sunt verba rerum notae (M. Tullii Ciceronis Orator Brutus Topica. De optimo genere oratorum, hg. v. J. K. v. Orelli, Zürich 1830).

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hervorzubringen und zu entwickeln.24 »Die eigentliche Bestimmung des Menschen hienieden, die der Thor und der Weise, aber in ungleichem Maasse, erfüllen, ist also die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttlichen Absichten; denn hierauf zielen alle seine Verrichtungen auf Erden« (44f ). Die Basis der Mendelssohnschen Argumentation wird durch die panlogisch konzipierte Monadologie des Leibniz gehalten.25 So lebt der Mensch den Absichten Gottes stets unmittelbar: »Die Absichten Gottes gehen, wie die Schlußfolgen einer richtigen Demonstration, allezeit den nächsten Weg zum Ziele« (47). Alle intramundanen Wirklichkeiten haben ihr gemeinsames Orientierungszentrum in der Einheit eines teleologischen Momentes. Dabei kommt den einzelnen unterschiedlichen Zwecken die Funktion untergeordneter Mittel dieses Endzwecks zu.26 Mendelssohn deckt die sich leicht einstellende Täuschung auf, als wären Welt und Gott in einer schlichten teleologischen Zuordnung, in der dann das innerweltliche Sein nur ein vorausdeutendes Zeichen der Ewigkeit sei, aufeinander bezogen. Wäre diese sich intuitiv leicht aufdrängende Vorstellung richtig, so ließe sich am Ort des Endlichen triftig kein Umschlagpunkt ins Unendliche angeben. Nach Mendelssohn aber sind von der Endzweckhenologie sowohl Endlichkeit als auch Ewigkeit umgriffen, so nämlich, daß das Endliche um willen des Ewigen ist, wie auch das Ewige in Ewigkeit auf Endliches bezogen bleibt. Dieser Für-Bezug des Ewigen aber schreibt eine Rückbedingtheit durch Endliches darum nicht fest, weil des Ewigen Für-Endliches-Sein und des Endlichen Um-willen-des-Ewigen-Sein unter den absolutheitslogischen Bedingungen der Endzweckhenologie einander koimplizieren. In der Einheit des göttlichen Zwecks sind Endliches im Ewigen und Ewiges im Endlichen.27 Und so schwört Mendelssohn gegen Abbt die aus dem unsterblichen Haupt des Jupiter geborene blauäugige Minerva als Richterin ein. Auf der Anklagebank nimmt der Skeptiker Pierre Bayle Platz, und der Monadologe wird in den Zeugenstand gerufen: »Leibniz tritt näher [...] die Göttin spricht« (50), spricht von der besten aller Welten!28 Gegen Abbts provisorische Moral führt Mendelssohn an, daß moralische Aussagen über diese Welt allererst dann möglich werden, wenn in der Ewigkeit sich die Rätsel des 24 »Aber du besitzest auch etwas Eigenthümliches, wodurch du Mensch bist. Du kannst durch Uebung vollkommner werden, und du wirst es. Dein Leben ist eine beständige Bemühung, die in dir eingewickelten Fähigkeiten abzuwinden. Deine Kräfte arbeiten unaufhörlich an ihrer eigenen Verbesserung« (43). 25 A. Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin/New York 1974, hier bes. 430–484. 26 »In der göttlichen Ordnung herrscht Einheit des Endzwecks. Alle untergeordneten Endzwecke sind zugleich Mittel; alle Mittel sind zugleich Endzwecke« (48). 27 Ähnlich argumentiert Mendelssohn fast zwei Jahrzehnte später noch in der Jerusalemschrift, wo er ausführt: Es ist »im genauesten Verstande weder der Wahrheit gemäß, noch dem Besten des Menschen zuträglich, daß man das Zeitliche von dem Ewigen so scharf abschneide. Dem Menschen wird im Grunde nie eine Ewigkeit zu Theile werden: Sein Ewiges ist blos ein unaufhörliches Zeitliche [...]. Man verwirret die Begriffe, wenn man eine zeitliche Wohlfarth der ewigen Glückseligkeit entgegen setzet« (Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: M. Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Vorrede zu Manasseh Ben Israels Rettung der Juden, n. d. Erstausgaben neu ed. v. D. Martyn, Bielefeld 2001, 31–134, 37). 28 50: »Als mein Vater beschloß Welten werden zu lassen; suchten wir in diesem Saale, ich und Apollo, auf seinem allmächtigen Winke, den seiner Majestät würdigsten Plan«.

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Endlichen auflösen. Aus der Weltperspektive heraus eine innerweltliche Moral zu konzipieren, hieße, aus dem Widerspruch heraus den Widerspruch alles Endlichen heilen zu wollen. Hier wendet Mendelssohn also konsequent das Prinzip der Einheit des Endzwecks auf das Theodizeeproblem an.29 Mendelssohn löst das Problem ganz konkret, indem er alle Formen des menschlich Bösen als Entartung des natürlich Guten interpretiert. Die Natur ist also immer unmittelbar zu den Absichten Gottes in seiner Schöpfung, und insofern stellt sie sicher, daß Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hat.30 Mit dieser Überlegung endet die Rede der Minerva, die mit einem zärtlichen Abschiedsblick den Anwalt der besten aller möglichen Welten aus dem Zeugenstand entläßt. Wie stark sich Mendelssohn bei diesem Thema ins Mittel zu schlagen beabsichtigt, zeigt seine martialische Ausdrucksweise, wenn er nun vom minoischen Kreta an den Bach Kischon des israelischen Nordreichs wechselt: »Nunmehr finde ich mich stark genug alle [...] Zweifel, wie Elias die falschen Propheten, abzuschlachten« (54). Im folgenden geht Mendelssohn über das Gesagte nicht mehr hinaus, sondern widerlegt Schritt um Schritt Abbts Einwände gegen Spalding mit den Mitteln der Leibnizschen Theodizee. Im Zentrum steht dabei die Trias von vernünftiger Erkenntnis, Vervollkommnung und Glückseligkeit. Alle drei Momente antworten auf die in Frage stehende Bestimmung des Menschen: »Welches ist die Bestimmung des Menschen? – Antw. Im Zustande vernünftiger Erkenntnis die Absichten Gottes zu erfüllen, fortzudauern, vollkommener zu werden, und in dieser Vollkommenheit glückseelig zu sein« (55). Die Erfüllung der göttlichen Absichten als solcher macht es notwendig, sie vorher als solche erkennen zu können, warum die vernünftige Erkenntnis eine erste von Mendelssohn in das Spiel gebrachte Voraussetzung ist. Die Erfüllung dieser Absichten nach der Einsicht in ihre Bestimmtheit macht es fürderhin nötig, aus dieser Erfüllung nicht auszubrechen, sondern in ihr fortzudauern. Die Abbtschen Einwände nehmen sich insofern aus als eine Sistierung der Bestimmtheit göttlicher Absichten nach ihrem Absolutheitsmoment. Fortzudauern in der Erfüllung göttlicher Absichten ist also ein Moment der vernünftigen Einsicht in die Bestimmtheit des Weltverlaufs, eine Einsicht, in der zugleich mit eingesehen wird, daß diese Bestimmtheit in nichts anderem als eben dieser Erfüllung gelegen ist.

29 53 (Hhg. v. Vf.): »Du siehst also, mein Sohn! daß in der moralischen Welt nicht alles an seiner Stelle seyn würde, wenn jenes Leben nicht daas Räthsel aufklären sollte [...]. Ist alles wohl und gerecht, wenn ein unschuldiger Verfolgter auf die Leichname seiner Söhne verhungert [...]? – Wie aber, wenn er noch seyn, und sich der Prüfung mit Vergnügen erinnern wird? – O göttliche Beruhigung !« Beruhigung und Ruhe kehren – wie sich unten zeigen wird – als zentrale Termini auch in der Theologie Johann F. W. Jerusalems wieder. 30 54: »[D]ie allerverderbtesten Neigungen müssen eine natürliche Grundlage haben, die gut und der Seele von dem Schöpfer eingepflanzt ist«.

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3. Die Bestimmung des Gottessohns Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem 3.1. Fromme Ähnlichkeit mit Gott Mit Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem wenden wir uns einem weiteren prominenten Vertreter der Neologie zu.31 Sein Leben währte das ganze Aufklärungsjahrhundert, und als er an der Klosterkirche zu Riddagshausen seine letzte Ruhestatt fand, setzte ihm Philippine Charlotte von Preußen, die Schwester Friedrichs des II. und Herzogswitwe dort einen Epitaph, auf dem zu lesen war: »Zur Aufklärung legte er den ersten Grund [...]. Seine Verdienste werden unvergeßlich bleiben, sein Andenken wird nie verlöschen«.32 In dem unvordenklichen Zugleich von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis entdeckt Jerusalem ein Verhältnis, dessen Exposition und Kommentierung die Deduktionsvoraussetzung für seine Beschreibung von der Natur der Religion bereithält. »Dieß ist unser Gott. Etwas grössers, wichtigers kann unsre Seele nicht denken; gegen diesen Gedanken verschwindet alles, Welten werden Staub. Und wer sind wir? Gegen ihn unendlich klein, aber in seinen Augen, in Ansehung unserer Bestimmung, groß« (B 371f ).33 Erst die Versicherung der Existenz Gottes vermag nämlich jene bedrohliche Sonderstellung des Menschen zu enträtseln, dessen reflexive Lebendigkeit gleichsam auch die ihn umgebende Natur zu verlebendigen scheint. »Ich bin ein Gott [...] es wächst alles nur für mich [...] es ist alles nur für mich da. Ohne mich ist die ganze Natur todt, alle ihre Ordnung nichts besser als ein Chaos. Der Weinstock genießt sich selbst nicht« (B 8). Dieser Selbsttotalisierung entgeht der Mensch nur dann, wenn sich ihm die Existenz Gottes als jenes Ursprungsgeschehen aufschließt, dem sich der Mensch im Zugleich mit der Natur verdankt. Und nun wird jenes Motto benannt, das dem vorgestellten Spaldingschen Frühwerk seine Titelformulierung gab: Ich bin »mir auch das Räthsel nicht mehr; ich übersehe meine ganze Bestimmung. Ein allerhöchstes vernünftiges freyes Wesen hat mich auf die höchste Stufe dieser sichtbaren Natur gesetzt« (B 15). In dem Moment, da der Mensch aufgeklärt ist über die dreistellige Relation von Gottes-, Welt- und Selbstverhältnis,34 gewinnt für Jerusalem ein Motiv tragende Bedeutung, das sich zuerst bei 31 Über Jerusalems Theologie informiert die Darstellung von A. U. Sommer, Neologische Geschichtsphilosophie. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, Bd. 9, 2002, 169–217. Noch immer unentbehrlich ist die Studie von W. E. Müller, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung zur Theologie der Betrachtung über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, Berlin/New York 1984. 32 Zit. nach W. E. Müller, Einleitung, in: J. F. W. Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, ausgew. u. hg. v. W. E. Müller, Hannover 1991, 9–30, 22f. 33 Die Seitenzahlen in Haupt- und Fußnotentext beziehen sich im folgenden auf J. F. W. Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, Frankfurt/Leipzig 51773 (zit. B) u. ders., Fortgesetzte Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Hinterlaßne Fragmente. Nachgelassene Schriften, T. 1, Braunschweig 1792 (zit. FB). 34 B 372f: »Wir stehen [...] in einem dreyfachen Verhältnisse; mit dem höchsten Wesen, als unserm Schöpfer, mit unsern vernünftigen Mitgeschöpfen und mit unserer vernünftigen Natur. In der Ausübung bleiben sie unzertrennlich eins; und je heiliger uns ihre Verbindung ist, je vollkommner erfül-

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Demokrit im Zusammenhang mit der Eudaimonia nachweisen läßt, um bei Epikur den Mittelpunkt seiner Ethik zu bilden und dann besonders in der späten Stoa bei Epiktet aufgenommen zu werden: die Seelenruhe.35 Diese Seelenruhe kann der Mensch nur erreichen, wenn er beständig das Gefühl, von Gott abhängig zu sein, in sich stabil hält oder in Jerusalems Worten, wenn die »Empfindung unserer Dependenz« (B 377) auf Dauer gestellt wird. Darum besteht für Jerusalem die Religion als der »ganze Endzweck unserer vernünftigen Natur, der Grund aller unserer Pflichten und unserer Ruhe« (B 372). Zwei Elemente sind es, aus denen sich der Religionsbegriff Jerusalems aufbaut: Rechtschaffenheit und Versicherung eines ewigen Lebens (B 415). Etwas anders als die von Spalding beabsichtigte Übersteigung der Moralität durch die Religion ordnet Jerusalem die Moralität der Religion unmittelbar zu. Nur in der strengen Gleichzeitigkeit von Gottesgedanken und sittlicher Tat kommt das religiöse Gefühl an sein Ziel. »Denn eine Religion [...] die [...] die Liebe unsers Nächsten nicht zur einzigen Probe unserer Liebe Gottes macht; eine solche Religion ist nichts als Enthusiasmus« (B 383f ). Die Nächstenliebe aber kommt immer nur mit der Gottesliebe zugleich ins Ziel, eine Gleichzeitigkeit, zu dessen Veranschaulichung Jerusalem auf die in der Antike und bei den Kirchenvätern weit verbreitete Vorstellung der ὁμοίωσις θεῷ zurückgreift,36 mithilfe derer schon die antike Christenheit von Origenes über Paul von Samosata bis zu Theodor von Mopsuestia ein Ideal christlicher Lebensführung formulierte, das seine finale Orientierung in Jesus Christus hat, weil dieser als Gottessohn auf dem Weg der Verähnlichung mit dem Vater vorangegangen und ins Ziel gekommen ist.37 Das zweite Aufbaumoment der Religion ist in jenem Ewigkeitsbewußtsein gefunden, das dem Christenmenschen die apathische Gestimmtheit gegenüber allem diesen Aufbaumomenten Anderen ermöglicht. Am Ort des religiösen Subjekts bringen sich len wir den Endzweck unserer Natur, oder welches einerley ist, je vollkommner ist unsre Religion«. 35 Cf. B. Neymeyr, Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik, Berlin/New York 1996, 150; T. Rütten, Demokrit. Lachender Philosoph und sanguinischer Melancholiker. Eine pseudohippokratische Geschichte, Leiden 1992, bes. 16f, 20–23 u. 54; M. Hossenfelder, Epikur, München 32006, bes. 57–109 u. A. Bonhöffer, Epiktet und das Neue Testament, Gießen 1911, 318f. 36 FB 514: »Die Absicht der Religion ist, eine weise Denkungsart in uns zu bilden [...] die edlern Neigungen des Herzens durch eine zweckmäßigere Richtung auf ihre gehörigen Gegenstände in uns anzufachen, in das [...] himmlische Feuer der Liebe zu setzen, und so unsrer Seele diejenige Fassung zu geben, die uns Gott ähnlich [...] mache«. Zum Ursprung dieser Vorstellung cf. den Platonischen Theätet 176af (Platon, Sämtliche Dialoge IV, übers. u. erl. v. O. Apelt, Leipzig 41923 (ND Hamburg 2004); Platonis Opera I, ed. I. Burnet, Oxford 1900): »Aber das Übel kann weder verschwinden [...] denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben (ὑπεναντίον γάρ τι τῷ ), noch kann es etwa bei den Göttern seine Unterkunft finden, sondern ἀγαθῷ ἀεὶ εἶναι ἀναγκη ΄ mit Notwendigkeit umkreist es die sterbliche Natur und unsere irdische Stätte (τὴν δὲ θνητὴν φύσιν καὶ τόνδε τὸν τόπον περιπολε῀ι ἐξ ἀνάγκης). Daher gilt es auch zu versuchen, von hier so schnell wie möglich dorthin zu entfliehen. Die Flucht aber besteht in der möglichsten Verähnlichung mit Gott; ihm ähnlich werden heißt aber gerecht und fromm werden auf dem Grunde richtiger Einsicht (φυγὴ δὲ ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν: ὁμοίωσις δὲ δίκαιον καὶ ὅσιον μετὰ φρονήσεως γενέσθαι)«. 37 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 50ff.

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diese Aufbaumomente der Religion nicht vordringlich in Intellektionen, sondern in der Unmittelbarkeit einer Empfindung zum Ausdruck.38 Interpretiert man die voraufgegangenen Überlegungen Jerusalems weitherzig, so könnte man sie noch einer christlichen Variante der natürlichen Religion zuschlagen. Darum wenden wir uns nun der Christologie Jerusalems zu, um zu sehen, ob er die spezifische Differenz des Christentums ebenfalls mit den Mitteln einer natürlichen Religion beschreiben kann, was dann zu einer Reduktion traditioneller dogmatischer Lehraussagen führen müßte. 3.2. Natürliche Christologie Unmißverständlich bringt Jerusalem zum Ausdruck, daß es ihm keineswegs zu tun ist um eine Verabschiedung der christologischen Lehrtradition. »Ich denke hier an keine Reformation, an keine Abfassung neuer Glaubensbücher, an keine Abschaffung der [...] Symbole [...] da doch keine kirchliche Gesellschaft derselben entbehren kann, wenn man nicht die ganze öffentliche Religion aufheben, oder nach einer gewissen phantastischen Idee, die Religionsbekenntnisse noch vervielfältigen will« (FB 229).

So wenig aber Jerusalem die Lehrtradition beschneidet, so sehr zeigt sich zugleich, daß er hier nicht von orthodoxen Ambitionen getrieben ist. Die Beibehaltung der Symbole ist ihm vielmehr deshalb wichtig, weil die Religion um willen ihrer Öffentlichkeitsdimension als Corporate Identity einen fixen Bestand wiedererkennbarer Glaubensinhalte zur Darstellung bringen können muß; anders wäre die Seelenruhe der Glaubenden in Mitleidenschaft gezogen.39 Zugleich aber sieht Jerusalem natürlich, daß die Bestimmtheit des Bekenntnisses zu den Ausdrucksformen von Religiosität gehört und die Abschaffung tradierter Bekenntnisse die Phantasie des religiösen Bewußtseins dahingehend unter Druck setzen würde, nun diese Leerstelle durch eine unkontrollierbare Bekenntnisproduktion zu kompensieren. Soll aber das kirchliche Bekenntnis beibehalten werden, ohne daß dadurch die Frömmigkeitskultur christlichen Glaubenslebens in einem Bekenntnisraum, der durch die epochentypischen Denkgewohnheiten geprägt ist, den 38 B 386: »Diese Fähigkeiten, dieß Verhältniß, die Aehnlichkeit der Empfindungen, die ich mit allen gemein habe, fordern unwidersprechlich mehr, sie fordern, daß ich gut seyn soll; und so lange ich dieß nicht bin, so lange ich in die Empfindungen meines Nächsten nicht hineingehe, und dieselben wie die meinen schätze, so lange bin ich kein Mensch. Denn ich empfinde nicht wie ein Mensch, ich bin nicht werth, es zu seyn; ohne die Absicht meiner Natur zu erkennen, lebe ich wie ein Thier, nur für mich selbst, und gehe aus der Welt ohne mich in meinem Leben zu Einer Danksagung würdig gemacht zu haben; denn dafür, daß ich einem jeden das Seine gelassen, darf ich, ohne zu erröthen, keine erwarten«. 39 Das Argument der Ruhe als eines notwendigen Aufbaumomentes der Religion gehört zu den Kernargumenten Jerusalems gegen eine Abschaffung der christlichen Symbole. Cf. FB 132: »Es ist nichts weniger als meine Absicht, gewisse Bestimmungen, die einmal in dem Systeme seit so langer Zeit angenommen sind, und wozu der größte Theil der Christenheit in seinen Confessionen sich bekennt, zu widerlegen. Die Ruhe so vieler redlicher Bekenner ist mir dazu viel zu wichtig«. Oder FB 268: »Wie würdig und erhaben, wie kräftig, beruhigend und faßlich ist diese Wahrheit in der Lehre Jesu, die sie so unmittelbar auf die Allwissenheit, Weisheit und Güte Gottes gründet [...] Was kann de[n] Menschen [...] mehr beruhigen, wenn er das Seine gethan hat, was die Ruhe der Gesellschaft mehr sicheren«?

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Schaden eines intellektuellen Opfers nimmt, so ist nun nach der hermeneutischen Operation zu fragen, vor deren Hintergrund Jerusalem seine Christologie entfaltet. Diese Operation besteht nahe besehen in der schlichten Differenz, die Jerusalem zwischen den Begriffsausdrücken der orthodoxen Gotteswissenschaft und dem religiösen Ausdrucksarsenal, das das fromme Empfindungsleben kennzeichnet, einzieht, der konsequenten Unterscheidung also zwischen Religion und Theologie.40 Die eigentliche Religion umfaßt nämlich nur jene christlichen Kernaussagen, die sich unmittelbar zurückbeziehen lassen auf die sittliche Verähnlichung mit Gott und das christliche Ewigkeitsbewußtsein, jene Aufbaumomente des Religiösen also, die gegenüber allen anderen Lehraussagen eine Orientierungsfunktion einnehmen. Verlieren beide Aufbaumomente jene Orientierungsfunktion hinsichtlich der Theologie, so stehen theologische Aussagen notorisch in der Gefahr, unverständlich zu werden, wobei dann diese Unverständlichkeit sich immer zugleich niederschlägt in einer abnehmenden Beharrungskraft des Glaubens und der Frömmigkeit. Um dieser Gefahr zu entgehen, schlägt Jerusalem jene Doppelstrategie vor, die vorsieht, den überlieferten Bestand christlich-symbolischer Begriffe beizubehalten, diesen Bestand aber zugleich konsequent einer Interpretation zu unterwerfen, in die der Sachverhalt, daß die religiöse Substanz von Gottähnlichkeits- und Ewigkeitsbewußtsein durch diese Interpretationen unangefochten bleibt, immer schon mit eingegangen ist. Man »sey auch vorsichtig in der Wahl neuer Worte, behalte aus Klugheit lieber selbst die alten Terminologien bei, und suche nur durch faßlichere Erklärungen allen Mißverstand zu vermeiden, so kann man ruhig alles lassen wie es ist« (FB 230). Bei diesen Überlegungen gewinnt Jerusalems Bedürfnis, theologische Aussagen so zu formulieren, daß sie vom »gemeinen Menschen« (FB 234) verstehend und empfindend nachvollzogen werden können, ein starkes Gewicht. Zurückgewinnen will er nämlich ein Glaubensgefühl, das sich in Unmittelbarkeit zu den Lehren der Kirche befindet, ohne daß diese Lehren mit Zwang auf die Gewissen einwirken mögen.41 Und so geht Jerusalems Christologie den Denkweg von Nicäa nach Chalcedon noch einmal, um dann aber das ἐκδιδάσκομεν [...] ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν Χριστὸν υἱὸν κύριον μονογενῆ ἐν δύο φύσεσιν ἀσυγχύτως, ἀτρέπτως, ἀδιαιρέτως, ἀχωρίστως γνωριζόμενον des Chalcedonense vollständig dem Bekenntnis des bib40 FB 229: »Man unterscheide nur Religion und Theologie, die wesentlichen Lehren des Christenthums, von den gelehrten Erklärungen und Bestimmungen, die dem gemeinen Haufen der Christen doch nie recht begreiflich gemacht werden können«. Oder FB 269f: Nach Jesu Lehre »kann es [...] kein Vorwurf gegen die Vorsehung seyn, daß es dem Frommen hier nicht so gut als dem Gottlosen geht [...] dies also ist die erste Bedingung des Christenthums, wer sich dieser nicht unterwerfen will, kann kein Christ seyn. Dafür hat aber auch der, der sich ihr unterwirft, mehr wahre Ruhe, mehr Zufriedenheit mit sich selbst, mehr Bewußtseyn des göttlichen Wohlgefallens. – Ich mag kein Glück, das ich nicht mit der allerreinsten Ruhe genießen kann; Unglück würde mir dagegen Trost seyn«. In ähnlichem Sinn findet sich der Terminus in FB auch 272, 301, 312, 316, 318f, 322, 325, 327, 336f, 369f, 381, 395, 440, 490f. 41 FB 134f: »Dies hat die Absicht gar nicht, die bisher angenommenen Bestimmungen zu widerlegen, sie abzuschaffen, die Gewissen derer, die diese Absicht bisher angenommen, zu beunruhigen (Gefahr und Nachtheil alles übereilten Reformierens); nein, nur den mit diesen Bestimmungen so herrschenden Gewissenszwang aufzuheben«.

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lischen Gottessohnes zu seiner Unterlegenheit und Abkünftigkeit im Blick auf den Vater weichen zu lassen.42 Wie sich Jerusalem die Beibehaltung der altkirchlichen Symbole unter den Bedingungen der Aufklärungsfrömmigkeit vorstellt, kann man an dem zentralen Motiv der Gottheit Christi sehen, von dem er sagt, daß es »höchste Unbedachtsamkeit« sein würde, »wenn ich den Ausdruck [sc. Gottheit] auf einmal weglassen wollte, so wenig der Heiland selbst auch Gelegenheit dazu gegeben« (FB 232). An die Stelle eines einfachen Weglassens der Kennzeichnung Jesu als des wahren Gottes setzt aber Jerusalem eine »Milderung« (FB 232), die darin besteht, in die Nachbeschreibung des in Rede stehenden Ausdrucks seine Genese mit einfließen zu lassen. »[W]enn die Kirche Christum auch Gott nennet, so ist das nicht in dem Verstande, wie Jesus und unser christlicher Glaube den Vater Schöpfer und Regenten der Welt nennet« (FB 232). Damit wird eine Unterscheidung eingezogen nicht zwischen dem Glauben der Kirche und der christlichen Privatfrömmigkeit, sondern zwischen dem im Symbol von der Kirche Intendierten und jenen Intentionen, die Jesus und das an ihn anschließende fromme Bewußtsein hat, wenn es von der Göttlichkeit Jesu redet. Es wird also davon ausgegangen, daß die altkirchliche Rede von der Gottheit Jesu Christi nur insofern berechtigt ist, als bei den Kirchenvätern dem Ausdruck eine andere Bedeutung zukommt. Um dies zu verdeutlichen, bedient sich Jerusalem einer skeptischen Semiotik, die hinsichtlich der Bedeutung von Begriffen ein durchaus instabiles Zuordnungsverhältnis vorauszusetzen scheint. Wir geben die entscheidende Passage in Gänze wieder: »Sohn und Gesandter Gottes! zwei Verhältnisse, die in dem hohen Sinne, worin sie hier genommen werden, die Hoheit und Würde Jesu stärker bestimmen, als alle menschliche Sprache mit Worten sie auszudrücken vermag; indem der Heiland diese seine Sendung, für den höchsten Beweis der Liebe Gottes, und den Glauben an seine Sendung, als den Grund der wahren Erkenntnis Gottes erklärt; die aber auch seine Abhängigkeit von diesem seinem 42 Zit. nach H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, verb., erw, i. Deutsche übertr. u. unter Mitarb. v. H. Hoping hg. v. P. Hünermann, Freiburg i.B. u. a. 371991, 301f. Zur Entwicklung vom Nicaenum zum Chalcedonense cf. etwa A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. I. Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg i. B. 2004, 386–775 u. A. M. Ritter, Dogma und Lehre in der Alten Kirche, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. I. Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität, hg. v. C. Andresen, Göttingen 1982 (ND Göttingen 1989), 99–283, 163–270. Zum Konzil von Chalkedon cf. B. Welte, Zur Christologie von Chalkedon, in: Ders.: Auf der Spur des Ewigen. Philosophische Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Religion und der Theologie, Freiburg i.B. u. a. 1965, 429–458; W. Kasper, Jesus der Christus. Grundriß und Aufsätze zur Christologie, ausgew. u. hg. v. L. Ullrich, Leipzig 1981, 267ff; T. Nikolaou, Das Chalkedonense – Alte Antwort auf neue Fragen, in: Das Wesen des Christentums, hg. v. L. Mödl, J. Rohls u. G. Wenz, Göttingen 2003, 189–208; G. Wenz, Chalcedon 451 – Wahrer Mensch und wahrer Gott, in: Das Wesen des Christentums, hg. v. L. Mödl, J. Rohls u. G. Wenz, Göttingen 2003, 169–187 u. den Sammelband von J. v. Oort u. J. Roldanus (Hgg.): Chalkedon. Geschichte und Aktualität. Studien zur Rezeption und Aktualität der christologischen Formel von Chalkedon, Leuven 1998. Entwicklung und Probleme der Zwei-Naturen-Lehre finden sich beschrieben bei W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, Göttingen 1991, 423–440, bes. 423–433; ders.: Grundzüge der Christologie, Gütersloh 71990, 291–378, bes. 291–334 u. R. M. Hübner, Die eine Person und die zwei Naturen – Der Weg zur Zweinaturenlehre, in: Das Wesen des Christentums, hg. v. L. Mödl, J. Rohls u. G. Wenz, Göttingen 2003, 139–168.

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Vater wieder eben so deutlich ausdrücken, als Jesus sie in den Worten, der Vater ist größer als ich, nur selber hatte ausdrücken können. Denn alle wörtlichen Benennungen, selbst das Wort Gott sind verschiedenen Bedeutungen unterworfen [...] weil alle Worte nach den verschiedenen Sprachen, nach den verschiedenen Verbindungen, worin sie gebraucht werden, auch durch die Zeit, und die veränderte Denkungsart, ihre verschiedenen Bedeutungen haben und bekommen, die alle wörtliche Bestimmungen nie mit Sicherheit befestigen können« (FB 143f ).

Die Selbstaussage also des johanneischen Jesus, von Gott gesandt zu sein und aus dieser Sendung seine göttliche Vollmacht empfangen zu haben, ist vollkommen hinreichend dafür, Jesus als Grund der christlichen Kirche und Frömmigkeit anzuerkennen. Zugleich aber ist in unserer Passage auch ganz ernst genommen die Selbstaussage Jesu, sich nicht mit Gott identisch zu setzen, sondern von ihm nur her – und insofern göttlich – zu sein.43 Es ist bemerkenswert, daß Jerusalem seine Betonung der reinen Menschlichkeit Jesu in einen semiotischen Kontext stellt, so nämlich, daß nun schon zeichentheoretisch eine Reinstallation der Zwei-Naturen-Lehre ausgeschlossen wird. Wenn Jerusalem sagt, daß ›alle Worte – eingeschlossen das Wort Gott – unterschiedliche Bedeutungen haben‹, so stellt er damit auf den Sachverhalt, daß dem Bedeutungsmoment eines Wortes noch keinesfalls die fixe Bestimmtheit einer invarianten Denotation zuerkannt werden kann, ab. Worte haben eine unterschiedliche Bedeutung insofern, als durch ihren Bedeutungsumfang nur eine Menge von möglichen Referenten zum Ausdruck gebracht zu werden vermag.44 Dann aber ist am Orte der Wortverwendung noch vollkommen unausgemacht, welche Bestimmtheit dieses Wort denotiert, ein Umstand, der noch an Gewicht zunimmt, wenn in Anschlag gebracht wird, daß die Wortverwendungen als okkasionelle Zuschreibungen von Bestimmtheit über einen sehr langen Zeitraum hindurch tradiert und in sich wandelnden epochenspezifischen Reinterpretationen stets neu angeeignet werden. Wenn dies in Rechnung gestellt ist, wird man es kaum als problematisch empfinden, daß Jerusalem zwar die altkirchlichen Lehraussagen der Zwei-Naturen-Lehre beibehalten will, um nicht einen Abbruch religiös-kultureller Gedächtniskontinuität zu riskieren, zugleich aber konsequent auf die Tatsache abstellt, daß die konkreten Wortverwendungen der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse niemals eine indisputable Bestimmtheit, sondern immer nur das interpretationsoffene Angeld auf eine konkrete Denotation bereitzustellen vermögen. Wenn er als Konsequenz hieraus der Selbstkennzeichnung Jesu, Sohn seines göttlichen Vaters zu sein, der ihm zeugend voraus ist, den Vorzug vor der nicänisch-chalcedonensischen Formel gibt, dann deshalb, weil diese Kennzeichnung aus der Unmittelbarkeit eines natürlichen Zuordnungsverhältnisses gesprochen ist. Dem Selbstverständnis Jesu gegenüber nimmt sich die nicänisch-chalcedonensische Formulierung als eine Fremdzuschreibung aus, die Jesu Selbstverständnis zugunsten eines dogmatischen Fremdverstehens in Klammern setzt. Damit aber wäre dann eine Instanz etabliert, die Unmittelbares in Vermitteltes wandelt. 43 Immer neu weist Jerusalem auf dieses Voraus-Sein Gottes hin: FB (76, 140, 143f, 146, 151, 156, 179, 205f, 216, 226f, 232f, 569ff ). 44 Cf. S. Löbner, Semantik. Eine Einführung, Berlin 2003, 24–32.

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Dieser nach Jerusalem unzulässige Umgang mit dem Unmittelbarkeitsgefühl Jesu kehrt wieder im Unmittelbarkeitsverlust christlicher Frömmigkeit und ist mithin unnatürlich. Aber die Vergleichungen aus der Natur, behalten, so wie diese unveränderlich ist, auch immer ihre deutliche sichere Bedeutung. Und wo ist in der ganzen Natur ein Verhältnis deutlicher, als das zwischen Vater und Sohn? Daß der Heiland es von sich in der höchsten Bedeutung nimmt, verändert darin nichts. Man nehme es in der allgemeinen, man nehme es in der allerhöchsten Bedeutung, das Verhältnis ist immer dasselbe. Das Allererste und Natürlichste aber, was sich hierbei darbietet, ist die Abhängigkeit (FB 144).45

Damit ist die Spitze der Jerusalemschen Argumentation erreicht. Im Gegensatz zu allen Aussagen der altkirchlichen Christologie, die hinsichtlich ihrer Spekulativität immer von dem Vagheitsmoment betroffen sind, prinzipielle Bedeutungsoffenheit vorschnell in einer Bestimmtheit des zu Glaubenden zum Abschluß gebracht zu haben, hat eine Glaubensaussage mit stark reduzierter Bedeutungsvielfalt – weil diese Aussage sich auf die konkrete Analogie des Natürlichen festlegt – eine sehr viel größere Aussicht auf die Triftigkeit ihrer Bestimmungen. Wenn Jesus sagt, daß der Vater größer sei als er, so bezeichnet das nach Jerusalem die Grundregel der Christologie. Demgegenüber setzen die altkirchlichen Lehraussagen in Fremdsetzung das durch den Gottessohn Gesetzte aus. Bei Jerusalem ist das Homoousios außer Kraft, dies aber darum, weil eben dessen Abstraktheit sehr viel weniger dazu angetan zu sein scheint, ein gesichertes und im Glaubensleben der Menschen ratifizierbares Wissen zu stiften als die in Jesu Sohnesbewußtsein zum Ausdruck sich bringende natürliche Analogie. Die zentrale Dimension des Natürlichen ist darin gelegen, daß es den Bereich der möglichen Inhalte, die in das Wort gebracht zu werden vermögen, einschränkt auf unmittelbare Evidenzen.46 In unserem konkreten Zusammenhang besteht die Evidenz des Natürlichen in der jeder und jedem bekannten natürlichen Vater-Sohn-Beziehung. Dabei besteht, worauf Jerusalem 45 Eine schöne Entsprechung hat diese Passage bei J. B. Basedow, Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung, 2. Bd., Altona 1764, §81, 156, der darauf verweist, daß es natürliche Ausdrücke gibt, die eine unmittelbare Verbindung mit ihrer Bedeutung eingegangen sind und darum auch unmittelbar von jedem und jeder verstanden zu werden vermögen: »Man muß sie nicht verstehen, wie man will; denn es sind nicht philosophische Kunstwörter, sondern solche, deren sich die Welt weit eher viel tausend mal bedient hat, ehe sie in die philosophische Schule ging: es sind Worte des gemeinen Lebens; die Freundschaft dieser Worte mit ihren Bedeutungen ist unauflöslich, sie kann unterbrochen werden, aber sie kömmt wieder. Stiftet nun der Philosoph durch seine mit Autorität vorgetragene und oft gebrauchte Definition eine neue Freundschaft dieser Worte mit anderen Bedeutungen: so schwebt der Verstand zwischen beyden, und macht Schlüsse bald aus der gemeinen bald aus der Philosophischen Bedeutung, und weiß es nicht einmal, dass er aus zweyen Bedeutungen schliesse. Hieraus muß sogar in den geübten Seelen, wenn sie auf den Ursprung ihrer Begriffe zu unachtsam sind [...] ein widersinniges Disputieren über Worte entstehen [...]. Und daher ist es ein methodischer Hauptsatz, daß die Definitionen gemeiner Worte und Redensarten, ihnen keine andere Bedeutung geben müssen, als welche sie in dem gemeinen Sprachgebrauche haben«. 46 Zur Unterscheidung der Allgemeinheit dessen, in bezug worauf das Wort Bestimmtheit erzeugen kann und dem Wort als eines bestimmtheitstheoretischen Abschließens dieser Allgemeinheit cf. H. Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie. Transscendentalpsychologie und Transscendentallogik, Halle a.d.S. 1909 (ND Würzburg 2002), 178.

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in der oben zitierten Passage deutlich hinweist, der hier ins Wort gebrachte Inhalt oder das konkrete Bestimmtheitsmoment nicht etwa in einer näheren Kennzeichnung des Sohnes oder des Vaters, sondern allein in dem Sachverhalt des Verhältnisses zwischen beiden, das eben ein Verhältnis der Abhängigkeit ist. Zeigen wir dies abschließend am Beispiel der Trinitätslehre: Opera trinitatis ad extra indivisa sunt bedeutet innerhalb der Denkgewohnheiten neologischer Aufgeklärtheit, daß ein Gott ist, der Jesus als den Erlöser gesandt hat. Wenn diesem Erlöser darüber hinaus aber noch die leibliche Sohnschaft mit dem Vater in dem Sinne zukommen soll, daß auch der Sohn nun als wahrer Gott anzusprechen ist (opera trinitatis ad intra divisa sunt), wäre das für die »Vernunft so ganz fremd, so unbegreiflich, deswegen so abschreckend« (FB 223). Noch einmal: Nicht ist es Jerusalem darum zu tun, das christologische Lehrstück zu ermäßigen oder gar abzuschaffen zugunsten eines hemdsärmeligen Rationalismus, der die tieferen Sinnschichten der christlichen Religion durch Aufklärung unaufgeklärt läßt. Vielmehr geht es ihm darum, die Gültigkeitsreflexion theologischer Aussagen mit ihrer hesychiastischen Gewißheitsdimension am Ort des religiösen Subjekts so zu verschränken, daß daraus eine mündige und zugleich kritikfähige christliche Glaubenskultur erwächst. Jerusalems hier im Hintergrund stehender Gottesgedanke weiß sich eben als ein Gedanke, bei dem nichts anderes als Gott zu denken ist, dies aber so, daß Gott und dieser Gedanke nicht ineins fallen und sich Erlösungsund Ewigkeitsbewußtsein am Orte praktischen Christentums bewähren können. Solches Gottesbewußtsein stellt eine Kritik an aller spekulativen Theologie dar, die Gott nur Gott sein lassen will, wenn er sich in tödlichem Selbstverlust gerade als wahrer Gott behauptet.47

47 Man vergleiche dagegen die Auslegung des für Jerusalem zentralen Logions durch Athanasius, Vier Reden gegen die Arianer, übers. v. A. Stegmann, Kempten/München 1913, 103/Orationes contra Arianos, Migne PG 26; I, 58: »Denn deshalb hat auch der Sohn selbst nicht gesagt: ›Der Vater ist vorzüglicher (κρείττων) als ich‹, damit man nicht meine, er sei der Natur des Vaters fremd (ἵνα μὴ ξένον τις τῆς ἐκείνου φύσεως αὐτὸν ὑπολάβοι), sondern er sagte ›größer‹ (μέιζων), nicht mit Bezug auf eine bestimmte Größe oder Zeit, sondern wegen seiner Geburt aus dem Vater selbst (τὴν ἐξ αὐτὸῦ τοῦ Πατρὸς γέννησιν). Und er hat auch mit den Worten ›Er ist größer‹ wieder die Eigenheit der Substanz angezeigt (ἔδειξε πάλιν τὴν τῆς οὐσίας ἰδιότητα)«. Athanasius deutet also das Wort Jesu – so zumindest die Perspektive Jerusalems – gegen den natürlichen Sinn zugunsten seiner spekulativen Christologie um. Der Vorzug des Vaters vor dem Sohn liegt nicht in einem κρείττων, weil dieses offenließe, ob beide eines Wesens sind oder vielmehr in einer Beziehung ohne Wesensidentität stehen. Vorzüglicher nämlich vermag – so die Überlegung des Athanasius – dann auch das Wesen des Vaters zu sein. Dieser Wesensvorsprung nun soll durch das μείζων gerade ausgeschlossen werden, da es eine Relationsgröße darstellt, die nur innerhalb einer Wesensgleichheit nach Athanasius sinnvoll ausgesagt werden kann, in bezug auf die dann ein Mehr oder Weniger bestimmt wird. Daß aber ein Weniger des Sohnes mit Blick auf Gott – für Jerusalem die entscheidende Bedeutung des Johanneslogions – hier ausgesagt wird, spielt bei Athanasius eine der Gleichheit zwischen Jesus Christus und Gott untergeordnete Rolle.

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4. Mendelssohn als Ausleger der neologischen Christologie Mit Spalding und Jerusalem haben wir zwei repräsentative Vertreter der Neologie vorgestellt, um an einigen zentralen Merkmalen ihres Denkens auf charakteristische Umbesetzungen der Theologie des Aufklärungsjahrhunderts hinzuweisen. Spaldings Aufklärungsversuch der Bestimmung des Menschen nahm seinen Ausgang in den intimen Gefilden menschlichen Sehnsuchtslebens. Dabei zeigte sich, daß alle diese Sehnsüchte enggeführt werden im adhaerere Deo, um nach dem Aufstieg zum Urbild alles Seins in einer visio beatifica verklärt zu werden (Augustinus). Bei Johann F. W. Jerusalem ist diese Urbildreflexion ins Christologische gewendet. Weil die Natur als Abbild des Ewigen geheiligt ist, wiegt ihr Zeugnis schwerer noch als das Bekenntnis der alten Kirche: Christologie ist nun Reflexion auf Jesu Selbstbestimmung, Sohn Gottes – nach dem Gleichnis alles Natürlichen – zu sein. Abschließend soll ein Dokument vorgestellt werden, in dem Mendelssohn auf genau diese Umstellungen der Christologie und damit auch auf die neologische Theologie in toto bezug nimmt. Dieses Dokument findet sich am Ende der damals unveröffentlicht gebliebenen Auseinandersetzung Mendelssohns mit Charles Bonnets Palingenesieschrift.48 Unser Philosoph spricht hier unter dem unmittelbaren Eindruck des Lavaterstreits, der seinen Ausgang in dem pausbäckigen und ungewollt zudringlichen Ansinnen Johann Caspar Lavaters nahm, Mendelssohn eine »goldene Brücke« zu bauen, über die er als aufgeklärter Jude hineinschreiten könne in die weit offenen Arme der nicht minder aufgeklärten Christengemeinde.49 Den Anlaß hierzu gab Charles Bonnet. Als junger Mann mit Vorarbeiten zur Photosynthese, Untersuchungen über die parthogenetische Fortpflanzung der Blattläuse, die Atmung der Raupen und Schmetterlinge und den Bau des Bandwurms beschäftigt, wandte sich Bonnet, wozu ihn nicht zuletzt ein Augenleiden, das ihn seit seiner Jugend quälte, von der experimentierenden Naturforschung ab, um immer stärker spekulative Naturphilosophie zu treiben. Und so veröffentlichte er 1769 eine naturphilosophische Entwicklungslehre der Keime: La palingénésie philosophique. Bonnet hatte seine Überlegungen mit der theologischen Annahme einer Offenbarung und creatio continua Gottes in Wundern verbunden. Und genau diese Verbindung von experimentierendem Forschergeist mit dem christlichen Offenbarungsglauben war von so magischer Anziehungskraft auf Lavater, daß er umgehend an eine Übersetzung der offenbarungstheologischen Passagen aus Bonnets Palingenesieschrift schritt. Die Übersetzung war noch nicht im Druck, als er am 25. August 1769 Mendelssohn ein ungebundenes Exemplar zusendet, und ihn in einer beigelegten Widmung auffordert, Bonnet zu widerlegen oder zu konvertieren. Mendelssohn fand sich unversehens zwischen Skylla und Charybdis wieder: Die Aufforderung Lavaters zu ignorieren und mit Mißachtung zu strafen, hätte ihn um seine hohe Reputation als eines Aufklärungsphilosophen ersten 48 Wir zitieren – wenn nicht anders angegeben – Mendelssohn nach ders., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. v. F. Bamberger, H. Borodianski, S. Rawidowicz, B. Strauss, L. Strauss, beg. v. I. Elbogen, J. Guttmann, E. Mittwoch, fortges. v. A. Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971ff. (zit. JubA). 49 JubA 7, 327.

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Ranges fürchten lassen müssen. Über seine Religion aber in der Öffentlichkeit Rechenschaft zu geben und dies gar in apologetischer Absicht, widersprach zutiefst der subtilen Intimität, die Mendelssohn mit seinem Frömmigkeitsbewußtsein immer verbunden hat. Dennoch begann er, nicht nur Bonnets Palingenesieschrift gründlich zu studieren, sondern auch ausführliche Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenese zu entwerfen. Diese Gegenbetrachtungen enden, und das ist für unseren Zusammenhang interessant, mit einer Einschätzung neologischen Denkens, das er deutlich abgrenzt vom athanasianischen Theologiestil. Mendelssohn zeigt hier sehr deutlich, daß er vollkommen vertraut ist mit den theologischen Denkgepflogenheiten der Neologie, wenn er diese expressis verbis von der Theologie des Athanasius abgrenzt und als ihre Kernaussagen eine Betonung der Simplizität, eine Annäherung an die natürliche Religion, eine Versicherung unanfechtbarer Selbstübereinstimmung, die Herausnahme des Gottessohnes aus der dialektischen Logizität des trinitarischen Gottes und die konsequente Anwendung einer aufgeklärten Bibelhermeneutik kenntlich macht.50 Bis hier stellen Mendelssohns Ausführungen nur das kundige Referat jener Aufklärungstheologie dar, die sich uns in Spaldings Bestimmungsschrift und besonders dann in Jerusalems Betrachtung entdeckt hat. Doch nun hebt er die Klinge und setzt nach gekonnter Ligade an zu einem ganzvollen Patinando: Die gut gemeinte Absicht der Neologen, alle Bibelaussagen so zu verstehen, daß sie von Jesus nur als von einem besonderen von Gott gesandten Menschen handeln, überdehnt die Möglichkeiten aufgeklärter Bibelhermeneutik, da allein schon die Absicht, den betreffenden Stellen einen Sinn abzugewinnen, der sich mit den übrigen Paradigmen der Aufklärungstheologie in Übereinstimmung bringen ließe, die Gefahr mit sich bringt, deren natürlichen Sinn zu verkennen. Besonders deliziös ist diese Einlassung Mendelssohns allein schon darum, weil sie gleichsam nur ein Nebenprodukt seiner erklärten Absicht, sich in exegetische Fragen nicht einzulassen, da er mit den Instrumentarien der Neutestamentlichen Exegese viel zu wenig vertraut sei, darstellt. Dabei nimmt Mendelssohn die Lektürehaltung jenes schlichten Bibellesers ein, den Jerusalem gerade als durch die athanasianische Bibelauslegung überfordert empfunden hat.51 Doch Mendelssohn setzt noch einmal nach: 50 JubA 7, 99f. (Hhgn. v. Vf.): »Ich habe noch einen wichtigen Punkt zu berühren, bevor ich diese Untersuchung beschließe. Ich habe die Religion der Xsten nach dem Lehrbegriff des Athanasius vorgestellt. Nun weis ich aber auch, daß verschiedene angesehene Lehrer [...] von dieser Lehre abgehen, und [...] die mehresten Grundsätze misbilligen, die mir so anstößig geschienen haben. Diese rühmen sich die Religion der Xsten von irrigen Meynungen gereinigt, und auf ihre erste Einfalt zurükgeführt zu haben, da sie mit der natürlichen Religion ziemlich übereingekommen seyn soll. So viel mir von ihrer Glaubenslehre bekant ist, soll der Stifter ihres Glaubens keine Person der Gottheit, sondern ein außerordentlicher Mensch [...] seyn, der von Gott den Beruf gehabt, die Misbräuche der damals herrschenden Religionen abzuschaffen, die lautere natürliche Religion in ihre Rechte einzusetzen, durch Wunder zu bestätigen, und die Menschen von ihrer ewigen Glükseeligkeit zu versichern. Die Stellen im N.T., die den Athanasiern günstig zu seyn scheinen, wissen sie durch künstl. exegetische Mittel zu ihrem Vortheile zu lenken, oder doch wenigstens so zu erklären, daß sie auf beiden Seiten nichts beweisen«. 51 JubA 7, 100 (Hhgn. v. Vf.): »Ich lasse mich zuförderst in diesen Punkt nicht ein, zu untersuchen, ob

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»Dieses bey Seite gesetzt, muß ich [...] aufrichtig gestehen, daß mir diese Religionspartey mehr zum Judenthume, als zu der [...] Xstlichen Religion zu gehören scheinet. Von welcher Seite ich diese Glaubenslehre betrachte; so stimmet sie mit den wesentlichen Artikeln des Judenthums weit mehr überein, als mit den Grundwahrheiten des Xstlichen Glaubens«.52

Und wie Wasser gleiten nun vor einem streitbar vertretenen Judentum den Neologen ihre zentralen Lehren durch die Hand. Die außerordentliche Gesandtschaft Jesu,53 sein Prophetenamt54 und endlich das Christentum als Ewigkeits- und Glückseligkeitsreligion55 – nichts von alledem kann gegenüber dem Judentum einen Anspruch auf Originalität beanspruchen, und dies zumal dann nicht, wenn das NicaenoConstantinopolitanische φῶς ἐκ φωτός, Θεὸν ἀληθινον ` ἐκ Θεοῦ ἀληθινοῦ, γεννηθέντα οὐ ποιηθέντα, ὁμοούσιον τῷ Πατρί gefallen und an seine Stelle die Versicherung Jesu getreten ist, daß heller noch, wahrer noch und darum größer noch der Vater sei.56 Und so kann Mendelssohn keinen Grund für einen Religionsstreit mit den Neologen sehen: Denn wenn dieser »mich aufforderte, über Religionspunkte mit ihm zu streiten, so würde ich ihm ins Ohr sagen: Freund! ich bin der nicht, den du suchest. Da du dich in den wesentlichsten Religionspunkten der Glaubenslehre meiner Väter so merklich genähert hast; so laß uns über unwichtige Nebenpunkte keine Streitübung anstellen, die nur die Zuschauer belustigen würde«.57

Das neue Freiheitsempfinden der Aufklärungstheologie, ihr gekonntes hermeneutisches Umgehen mit den loci praecipui des christlichen Glaubens kann Mendelssohn also keinesfalls als eine Einladung zur Konversion auffassen. Im Gegenteil: Der vermeintliche neologische Rationalisierungs- und Modernisierungsschub ist in Wahrheit nichts anderes als eine larvierte Glissade in die Denk- und Glaubenswelten der jüdischen Religion.

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die streitigen Stellen des N.T. von diesen Lehrern, oder von ihren Widersachern richtiger erklärt werden. Wenn ich in meiner Einfalt lese; so scheinet mir zwar der natürliche Sinn der Worte sich auf die Seite der Athanasier zu neigen. Allein ich habe mich schon erkläret, daß exegetische Untersuchungen meine Sache nicht sind. In Ansehung des N.T. traue ich meiner Einsicht noch weit weniger, da mir die Grundsprache nicht bekannt genug ist, und ich auch niemals den Beruf gehabt, die Schriften des N.T. mit großem Fleiße zu studieren«. Ibid. JubA 7, 101: »Daß ein Mensch von Gott den ausserordentlichen Beruf gehabt, die natürliche Religion in ihre Rechte einzusetzen, kann ich mir, als Jude, gar wohl gefallen lassen«. Ibid.: »Dieser ausserordentliche Mensch, war ein Prophet. Auch dieses widerspricht der jüdischen R. nicht. Wenn er nichts gelehret, das dem Worte Gottes u. der Vernunft zuwider ist; so mag man ihn für einen Propheten halten«. Ibid.: »Dieser Prophet hat den ausserordentlichen Beruf gehabt, die Menschen von ihrer ewigen Glücks. zu versichern. – O wir glauben, daß alle Propheten des A.T., daß auch viele von unsern Lehrern in spätern Zeiten den ausserordentlichen Beruf gehabt, den Menschen unaufhörlich zu zurufen, daß sie unsterblich sind, und daß Tugend und Gottesfurcht der Weg zur ewigen Glükseeligkeit sey«. Cf. Denzinger (wie Anm. 42) 150. JubA 7, 102: »O lasset uns nur in den Sätzen selbst übereinstimmen, der Streit, ob wir sie diesem oder jenem Lehrer zu verdanken haben, kann auf unsere Glükseeligkeit keinen wichtigen Einfluß haben«. JubA 7, 106.

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Am Ende steht es so: Ein interreligiöser Dialog hat zu seiner Minimalvoraussetzung, die Gleichzeitigkeit ungleicher Gewißheitsreflexionen nicht übersteigen zu wollen. Wenn nun ein Dialogpartner aus dieser stillen Übereinkunft ausschert, um die eigene Gewißheit mit der Behauptung zu überfordern, auch andere Gewißheiten könnten ohne Verlust des Eigenen in ihr aufgehen, kann sich der Spieß umdrehen. In unserem Fall ist dieser Spieß unmittelbar auf das Herz der christlichen Religion gerichtet. Jene, die die Morgenröte in das helle Licht des Tages heimholen wollten, sind zu voreilig angetreten, denn sie stehen selbst im Dämmerlicht des Morgens.

Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Bild der mosaischen Religion Claus-Dieter Osthövener Daß eine Landesfürstin ihrem Untertan einen Grabstein stiftet, ist auch im 18. Jahrhundert nicht eben der Regelfall. Daß eine Fürstin auch noch höchstselbst den Text zu einem solchen Grabstein entwirft, dürfte zu den seltenen Ausnahmen gehören. Nur einem Manne aber ist die Ehre zuteil geworden, daß dieser Text die Worte enthielt: »zur Aufklärung legte er den ersten Grund«. Dieser Mann war Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Der Mann starb in hohem Alter, das man ohne weiteres als biblisch bezeichnen kann, besonders da hierfür nicht nur die Zahl der Jahre ausschlaggebend ist, sondern auch die Erfahrenheit, die Lebensklugheit und der unerschütterte Glaube an seinen Gott, der ihn bis hin zum Sterben mit sachter Hand geleitet. Von den letzten Wochen seines Lebens sind wir durch einen Augenzeugen unterrichtet, der von dem tiefen Frieden zu berichten weiß, in dem der Greis im Kreise seiner Lieben von dieser Welt schied. Einer Welt, in der er stets zum Guten zu wirken bemüht war, mit durchweg großem Erfolg. Eine Welt, die schon bei seiner Geburt in einem Umbruch sich befand, ein Umbruch der mit dem Sturm auf die Bastille eine katastrophische Zuspitzung erfuhr, die noch als erstaunliche Nachricht an sein Ohr gelangt ist, bevor er starb. Acht Jahrzehnte währte dieses Leben, das im ersten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts seinen Anfang nahm. Ein Zeitzeuge, der von seiner Zeit zeugt, aber auch für sie zeugt. Der sie prägte und Prägung auch empfing. Ein Mann von weitem Blick, gereist, belesen, menschenkundig, vor allem aber mit einem kräftigen Sinn für das Gestalten von Institutionen, die dann vielfältig über den Kreis des Individuums hinaus ihre Prägekraft entfalten. Ein Mann schließlich, der die Gunst seiner Oberen erhielt, verdiente und genoß, in einem Jahrhundert, in dem sogar der Absolutismus sich aufgeklärt nennen lassen durfte. Nie aber machte er sich zum abhängigen Knecht, sondern stets war er der loyale Diener seines Landesherrn, mit dem er denn auch Glück hatte, was im territorial pluralen Deutschland dieser Zeit wohl möglich war. Geboren wurde Jerusalem im westfälischen Osnabrück,1 als Sohn eines Pfarrers, er durchlief die übliche Schulbildung seines Standes und ging schließlich nach Leipzig, 1

»Westphalen, das Land, dem man mit Unrecht vorzuwerfen pflegt, daß es keine scharfsinnige Köpfe hervorbringt, kann uns am Beispiel des gründlichen Herrn Probst Jerusalems zeigen, daß die gütige Natur in Westphalen eben so wirksam sey, als an andern Orten« (Johann Christoph Strodtman, Geschichte jetzt lebender Gelehrter. 10. Teil, Celle 1746, 331–345 [331]).

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zum Studium der Gottesgelahrtheit. Leipzig, der Knotenpunkt von Waren und Ideen, vor allem von der Synthese beider, den Büchern. Dorther stammten Leibniz und Thomasius, die Väter der Frühaufklärung, dort war ein Hort der Orthodoxie, die noch in Gestalt des alten Carpzov den jungen Jerusalem in orientalischen Gefilden heimisch machte, dort schließlich wirkte Gottsched, einer der geistigen Führer seiner Zeit, ein unermüdeter Vermittler des Schönen in die entstehende bürgerliche Welt. Auch er zählt zu den Bildnern unseres jungen Mannes, der sich bei ihm in der Kunst der Beredsamkeit erprobte,2 die er hernach auf der Kanzel zu bewähren die Gelegenheit nutzte. Kein Redner von Natur, sondern eher schwächlich und daher nicht zum mitreißenden Vortrag disponiert, vermochte er doch von Anfang an, den angenehmen und flüssigen Stil zu entwickeln, der ihn nachmals so vielfach charakterisiert.3 Dazu trug nicht zuletzt auch seine Erfahrenheit mit anderen Ländern, anderen Sprachen, anderen Sitten bei. Er lebte für einige Jahre in den Niederlanden, der Zuflucht der neueren philosophischen Geistigkeit und der religiösen Pluralität, und er lebte wiederum für einige Jahre in England, was in der durchaus noch französisch geprägten Zeit der ersten Jahrhunderthälfte etwas bedeuten wollte. In beiden Ländern suchte und knüpfte er vielfältigen Kontakt zu den dortigen geistig anregenden Personen, er hörte in den Niederlanden die Koryphäen der Experimentalphysik, überhaupt der Naturwissenschaft, er nahm teil an dem vielfachen religiösen Leben dort, nicht nur dem offiziellen, auch dem am Rande liegenden. Er sah und er praktizierte eine lernfähige und lernwillige Toleranz, die überall das Gute und das Wahre zu finden und zu schätzen wußte. So war es auch in England, wo er bedeutende Prediger der unabhängigen Gemeinschaften durch oftmals weite Fahrt erreichte, an den Treffen teilnahm. Viel fehlte nicht und er wäre dort geblieben, doch rief ihn die Pflicht in sein Deutschland zurück – und er ging. An einer Weiche seines Lebens, an der mancherlei hätte geschehen können, zeigte sich ihm ein Weg ins akademische Fach, an der neu gegründeten Universität zu Göttingen, der Schwesteruniversität von Halle, dem Leuchtturm aufgeklärten Denkens im ersten Jahrhundertdrittel. Doch wählte er schließlich den Weg in die Provinz, die zu damaliger Zeit oftmals freier und kultivierter war, als die Metropolen des Jahrhunderts. Vor allem bot sie die Gelegenheit zur Gestaltung, was für Jerusalem am Ende das Entscheidende war. Das Herzogtum zu Braunschweig sollte nun Heimstatt werden und 2

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In den Publikationen der in Gottscheds Kreis gehaltenen Reden ist Jerusalem nicht mit einer eigenen Rede vertreten, wohl aber ist er Addressat einer Rede anläßlich des Erwerbs der Magisterwürde. – In dem »Verzeichniß der sämmtlichen Mitglieder dieser Rednergesellschaft seit 1727« ist Jerusalem an zehnter Stelle aufgeführt (Neue Proben der Beredsamkeit, welche in einer Gesellschaft guter Freunde, unter der Aufsicht Sr. Hochedl. des Hrn. Prof. Gottscheds, abgelegt worden. Zum Drucke befördert von Einem Mitgliede der Gesellschaft. Leipzig 1749 [o. p.]). »Der Herr Probst hat sich weder auf hohen Schulen, noch auch hernach, in öffentlichen Reden geübt, weil sein beständiger Vorsatz dahin gieng, daß er auf einer Universität dienen wollte. Er hat bloß zwey Predigten in Londen in der königlichen Capelle und etliche wenige in Hannover gehalten. Bey so seltenen Uebungen konnte er nicht zu der Fertigkeit kommen, aus dem Gedächtniß zu reden, sondern, er sieht sich genöthiget seine Predigten herzulesen. Wer ihn selber gehöret, wird es bezeugen können, daß sein Vortrag deswegen nichts an der Lebhaftigkeit verliehret; denn es kommt dabey vieles auf die Fertigkeit im Lesen an« (Strodtmann, aaO. 337f ).

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bleiben, ganz bis zum Schluß, bis hin zum Grab mit seiner denkwürdigen Inschrift. An Offerten von außerhalb fehlte es nie, die Universität Göttingen hätte ihn zum Kanzler gemacht, Friedrich der II. hätte ihn gern in Preußen gesehen. Doch widerstand er all diesen ehrenvollen Möglichkeiten, leichten Herzens wohl. Denn eben die Weltklugheit und Freimütigkeit, die ihm diese Wirkungsmöglichkeiten eingetragen hatte, ließen ihn in seinem Wirkungskreis verbleiben, besorgt um die Pflege des von ihm Gepflanzten, eingedenk der beschränkten Wirkungskraft menschlicher Natur, gesegnet auch mit einer mannhaften Bescheidenheit, die sich nie herausstreicht, sondern wirkt, solange es Tag ist. Wie nun läßt sich das Wirkungsfeld dieses Mannes beschreiben? Was hat er gewollt und getan, worin hebt er sich heraus, wovon wurde er getragen? Wenn man diese Fragen beantworten oder doch wenigstens umkreisen will, so darf man nicht nur auf das Geschriebene schauen, auf das Gedruckte zumal, sondern muß von Anbeginn auch das gesprochene Wort und mehr noch das institutionelle Handeln wahrnehmen. Dieses letztere beschäftigte ihn Tag um Tag und rund um die Uhr. Dagegen war das Schreiben eine Tätigkeit, die er diesem Wirken absparte, abrang zu Zeiten wohl auch, halbstundenweise mitunter. Das darf man bei der Würdigung seiner Schriften nie vergessen. Das anstaltliche Wirken, der ein wenig altväterliche Ausdruck mag hier doch passend sein, konzentrierte sich vor allem auf die Bildung, die Ausbildung derer, die zu weiterem Wirken in der Welt berufen waren oder sich berufen glaubten. Die Schriften zu dem von ihm mitverantworteten Collegium Carolinum sowie die Ausbildungsstätten der künftigen Prediger, sie waren Pflanzstätten des aufgeklärten Denkens und Handelns, das immer Bildung in einem sehr emphatischen Sinn dieses Wortes meint. Das fleißige Studieren, das nachhaltige Erwerben des gelehrten Handwerks, das unablässige Bilden seiner selbst am Ende, das einen Menschen erst zu einem vorbildlichen und ersprießlichen Handeln in der Welt befähigt. Daß zu diesem ersprießlichen Handeln nicht nur das akademische Wirken gehört, stand Jerusalem lebenslang felsenfest. Bei aller Bildung und Gelehrsamkeit, bei aller Hochschätzung der geistigen Gefilde, war er doch stets der Meinung, daß ein kluger Kopf in der Gesellschaft immer gebraucht wird und Nutzen zu stiften vermag, unabhängig von Ämtern und Posten. Bei all seinen Schriften zur Reform des Bildungswesens tritt dies ganz besonders hervor, das wache Aufmerken auf den Nutzen der Gesellschaft im Ganzen, der leidet, wenn sich ein Teil dieses Ganzen zu einem eigenen Territorium aufzublähen bemüht ist. In allem war sein Urteil mit antikem Maß gesegnet. All diese institutionellen Bemühungen wären ein reiches Feld des Forschens, das leider auf einen Großteil der Korrespondenz, die zur Aufhellung solcher Gebiete immer besonders aufschlußreich ist, wird verzichten müssen, da diese sich verlor oder zerstört wurde. Wie aber stellte sich Jerusalems geistiges Wirken im engeren Sinne dar, das Gestalten des Gedankens, der Idee? Hier mag eine kurze Übersicht über die Quellen angebracht sein, die uns zur Erhebung dieser offenen Fragen hilfreich sein können.

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1. Überblick über das Werk Jerusalems schreibende Gestaltung der Welt beginnt, stimmigerweise, mit Schriften zu Institutionen, vor allem zu dem von seinem Landesherrn neugegründeten Collegium Carolinum, einer Art höhere Schule, die junge Menschen auf den Weg in die Welt, nicht nur die akademische, vorbereiten will, gezielter und umfassender zugleich, als das die bisherigen Schulen haben leisten können oder wollen. Doch stellt sich der Hofprediger natürlich auch mit Predigten vor, zwei Sammlungen erscheinen im Abstand weniger Jahre, die den religiösen Denker und Redner in ebenso umfassender wie eindrücklicher Weise erkennen lassen. Sie sind die Grundlage für eine jede eingehende Beschäftigung mit Jerusalems theologischer Welt. Auch sind sie in der bewegten Geschichte dieser Gattung schon von den Zeitgenossen mit hohem Lob bedacht worden4 und auch die Nachwelt urteilte nicht anders.5 Aus der zu Beginn des Jahrhunderts zwischen Pietismus und Orthodoxie heiß umkämpften Predigtlehre ging mit zunehmender Aufhellung nun auch der deutschen Landschaften eine philosophisch durchgeklärtere Predigtweise hervor,6 für die vor allem Johann Lorenz Mosheim Pate steht. Diese religiösen Reden schöpfen in freier Weise aus dem reichen Fundus der heiligen Schrift, sie bemühen sich um die plastische Darstellung der wesentlichen Grundzüge des Christentums auf eine Weise, die es den Hörerinnen und Hörern erlaubt, in wiederum ihrer Art damit ein Leben zu führen, das in einem christlichen und humanen Sinne glücklich heißen darf. 4

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»Die erste Sammlung der Predigten des hochwürdigen Verfassers ist von den Thronen der Grossen bis zu den niedern Hütten in den Händen derer, welche die wahre Religion und die Christliche Moral nicht bloß dogmatisch, sondern aus überzeugenden Beweisgründen sich bekannt machen, indem er sich in seiner Art zu denken und in seinem Vortrage von denen unterscheidet, welche die Philosophie so ansehen, als wenn sie der Religion nicht nur unnütze, sondern auch derselben gänzlich entgegen gesetzet wäre, und nach deren Meynung es eine Schande ist, wenn man sich auf diese Wissenschaft leget, und antichristlich, wenn man vernünftig seyn will« (Freymüthige Nachrichten von neuen Büchern. 1753, 358). »Unstreitig war er einer der würdigsten Nachfolger Mosheims, der in der deutschen Kanzelberedtsamkeit zuerst Epoche macht. Aber Jerusalem besaß zu viel eigenes Talent, um ein bloßer Nachahmer Mosheims zu werden, den er an philosophischem Geiste, an Gründlichkeit und Gedankenfülle übertraf. Seinem Vortrage, der dadurch mehr innern Gehalt, mehr Geistesnahrung für den gebildetern Theil seiner Zuhörer erhielt, fehlte es nicht an rhetorischem Schmucke, der aber nie bei ihm in leeren Schimmer ausartete« (Heinrich Doering, Die deutschen Kanzelredner des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt. Neustadt a. d. Orla 1830, 147–154 [152]). – »Hervorragende und zugleich maßvolle Vertreter der neuen Richtung der Zeit sind Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem und Johann Joachim Spalding« (Martin Schian, [Art.] Geschichte der christlichen Predigt. RE3 15, 623–747 [693]). »Es kam also mit dem Anfange dieses Jahrhunderts eine ganz andere Art zu predigen in unserer Kirche auf, die alle diejenigen Thorheiten bey Seite setzte, womit das Volk so lange unterhalten hatte, und die besser zur Erbauung eingerichtet war. Allein die Verständigen fanden doch auch dieser neuen Art zu predigen vieles auszusetzen. Ohngefähr gegen das Ende des ersten Viertheils dieses Jahrhunderts fieng man demnach an, die geistliche Beredsamkeit nach den Regeln der gesunden Vernunft, und nach den Grundsätzen der wahren Beredsamkeit einzurichten« (Johann Lorenz von Mosheim, Anweisung erbaulich zu predigen, hg.v. Christian Ernst von Windheim. Erlangen 1763, 81f ). – Vgl. auch Martin Schian, Orthodoxie und Pietismus im Kampfe um die Predigt. Ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts. Gießen 1912.

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Steht doch der Gedanke des Glücks dem Gedanken der Seligkeit nicht entgegen, sondern ist vielmehr innig verbunden mit ihm. Ebenso gehen Christentum und Humanität in gleichem Schritt einer aufgeklärteren Zeit entgegen, ja die Aufklärung ist sogar das ureigene Geschäft der Religion, die nicht zuletzt der Vernunft diesen Liebesdienst leistet. Weitgehend frei von unfruchtbaren Entgegensetzungen wie von spitzfindigen Begriffsdistinktionen, ohne jedes Schwelgen in religiösem Fühlen, doch mit einem wachen und milden Blick für das menschliche Empfinden und Sehnen begabt, entfalten die Predigten eine Vorstellung des christlichen Wesens, das man auch heute noch mit einer gewissen Wehmut als schönes Ideal akzeptieren möchte. Ausgleich und Balancierung führen hier die Feder, maßvoll und realistisch ist das Urteil, lebendig die Darstellung. Als ein Pendant gewissermaßen zu dieser aufschlußreichen Landkarte von Jerusalems religiösen Anschauungen dient ein kurzgefaßtes und erläutertes Glaubensbekenntnis, das er in seiner Funktion als Prinzenerzieher für den jungen Leopold von Braunschweig angefertigt hat.7 Leider hat er sich nicht dazu entschließen können, das im Vorwort angedeutete Projekt eines ausgeführten christlichen Unterrichts für die Jugend selber zu bearbeiten, doch gibt auch diese kleine Schrift genügend Aufschluß über das Wesen des christlichen Glaubens, wie ihn Jerusalem verstand.8 Eine fruchtbare Synthese dieser verschiedenen Interessen legte Jerusalem im Jahre 1760 vor: »Gedanken von einer bessern Vorbereitung derer die sich dem Predigt-Amte widmen«.9 Hier spricht der Mann der Schule und der Akademie, der Mann der Predigt und des kirchlichen Dienstes, der Mann aber auch der Gesellschaft und der Politik. Mit dem Jahr 1762 beginnt eine dritte Art des schreibenden Erkundens, die sich nun den Ursprüngen der Menschheit und der Religion widmet: »Briefe über die Mosaischen Schriften und Philosophie«,10 ein Versuch, der auf Fortsetzung angelegt war, die jedoch unterblieb, weil der spätere Landesfürst und damalige Erbprinz seinen Lehrer und Erzieher Jerusalem zu umfassenderen Betrachtungen anregte, die ihn dann bis an sein Lebensende begleitet haben, die »Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion«. Dieses weit ausgreifende Werk ist zu lesen als eine fortgesetzte 7

Glaubens-Bekenntniß Sr. Durchlaucht des Prinzen Leopold von Braunschweig. Braunschweig 1769 (21769. 31781). 8 Ein Rezensent findet in der Schrift »den systematischen Geist, (aber nicht den Geist der Systeme) der so viel Licht über die Religion ausbreitet« (Neue Critische Nachrichten. 6. Band. Greifswald 1770. 2. Stück, 11–13 [12]). 9 In den neueren Bibliographien wird als Erscheinungsjahr durchgehend 1759 angegeben, offenkundig wegen der Datierung des Teilabdrucks in den Nachgelassenen Schriften. Die älteren Bibliographen, die das Buch wohl noch selbst in der Hand hatten, haben stets richtig 1760. 10 Braunschweig 1762 (im Folgenden zitiert als Br). – In gewisser Weise läßt sich ein Vorläufer dieses Interesses in der Schrift finden: »Beantwortung der Frage ob die Ehe mit der Schwester Tochter, nach den göttlichen Gesetzen zuläßig sey« (1754). Hier untersucht Jerusalem unter anderem die Frage der Verbindlichkeit der alttestamentlichen Ehegesetzgebung für die Gegenwart: »da die Christliche Religion, eigentlich nichts anders als die vollkommnere und bestätigte Jüdische Religion ist; so bleiben wir auch als Christen an all die Gesetze verbunden, die nicht als Anleitungen und Vorbilder des Christenthums, durch die Würcklichkeit des Christenthums aufgehoben sind, oder auf die damalige Theokratie und Verfassung des bürgerlichen Staats, dergestalt gerichtet gewesen, daß sie bey einer andern Verfassung nicht so füglich anzubringen sind« (aaO. 15).

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umfassende Rechenschaft über den christlichen Glauben im Kontext seiner Zeit, geschrieben von einem im Leben stehenden Manne, gerichtet an diejenigen interessierten Zeitgenossen, die sich mit den gelehrten Schatzkammern der akademischen Theologie bekannt zu machen weder Zeit noch Neigung hatten. Eine »Laiendogmatik«, wie in der Forschung verschiedentlich behauptet, ist das Werk schon deswegen nicht, weil es eine Dogmatik weder ist noch sein will. Es ist vielmehr einer der ersten in einer langen Reihe von Versuchen, der theologischen Aufklärung eine ihr angemessene Darstellungsform zu geben, angesichts des Umstandes, daß die hergebrachten Gattungen, wie eben die Dogmatik, dafür nicht mehr taugten. Die Haltung, die Jerusalem bei seinen Ausführungen einnimmt, ist die eines Schriftstellers, der seine Gedanken darlegt, ohne Anspruch auf irgendeine Autorität, im Vertrauen allein auf die freie Zustimmung der Leserin oder des Lesers: »meine Ueberzeugung wird für keinen einzigen andern Menschen eine Vorschrift. Es bleiben immer Gedanken eines einzelnen Mannes, die jedem andern durch eigene Prüfung erst wahr werden können« (B 3, Vorbericht).11 Dem Plan, der dem ersten Bande beigegeben war, ist zu entnehmen, wie sich Jerusalem die Ausführung des Ganzen dachte. Ein erster Teil handelt von der Religion überhaupt, von Gott zunächst und vor allem, sodann vom Menschen und seinem Leben, dem jetzigen und dem künftigen. Der zweite Teil geht der Urgeschichte der Offenbarung nach, wie sie vor allem in der mosaischen Religion ihren Niederschlag gefunden hat, eine Geschichte, die bis zum babylonischen Exil dargestellt werden und in einer allgemeinen Betrachtung über das jüdische Volk ausklingen sollte.12 Der dritte Teil sollte dem Christentum gewidmet sein, vor allem natürlich »der vollkommenen und allgemeinen Erleuchtung der Welt durch Christum«. Dieser dritte Teil ist wiederum dreigeteilt, indem zunächst die Verkündigung Jesu näher untersucht wird, um sodann die Grundlehren der christlichen Religion darzustellen und schließlich in eine gedrängte Betrachtung der Geschichte dieser Religion einzumünden. Freilich wußte Jerusalem einfach zuviel, um diesen Plan auch einhalten zu können. Schon der erste Teil füllte einen stattlichen Band, und die Fortsetzungen machten sich mit einer Detailfreude ans Werk, die bereits einen zeitgenössischen Rezensenten bemerken ließ: »Auf die Art dürfte freilich das Werk ziemlich weitläuftig werden«; doch faßte 11 Die Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion werden im Folgenden als B1 bis B3 zitiert, und zwar nach der von Andreas Urs Sommer betreuten Reprintausgabe ausgewählter Schriften Jerusalems (Hildesheim 2007). – Jerusalem steht damit in der Tradition John Lockes, der im Vorwort zu seinen Erläuterungen der Paulusbriefe bemerkt: »The same Reason that put me upon doing what I have in these Papers done, will exempt me from all Suspition of imposing my Interpretation on others. The Reasons that lead me into the Meaning which prevail’d on my Mind, are set down with it; as far as they carry Light and Conviction to any other Man’s Understanding, so far I hope my Labour may be of some Use to him; beyond the Evidence it carrie with it, I advise him not to follow mine, nor any Man’s Interpretation« (John Locke, A Paraphrase and Notes on the Epistles of St Paul to the Galatians, 1 and 2 Corinthians, Romans, Ephesians, hg. von Arthur W. Wainwright. Bd.1. Oxford 1987, 115). 12 Eine Skizze zu einer solchen Geschichte des Judentums findet sich in den nachgelassenen Schriften: Nachgelassene Schriften von J. Fr. W. Jerusalem. Erster Theil. Braunschweig 1792 [im Folgenden zitiert als NS] 30–68 (der erste Nachlaßband liegt in zwei Drucken vor, in Kleinoktav und in Großoktav. Hier wird die Kleinoktavausgabe zitiert).

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er sogleich wieder Mut: »allein wer ermüdet so leicht einen Jerusalem, der so viel philosophische Gründlichkeit und Anmuth des Vortrags verbindet, mit Vergnügen zu lesen?«13 So war der nächste Band ganz der Urgeschichte und den Vätergeschichten gewidmet, eingeleitet von ausgreifenden Überlegungen zum Begriff einer Offenbarung und dem Verhältnis von Vernunft und Religion. Erst der nachfolgende Band widmet sich dann Moses und der mosaischen Religion. Damit bricht das Projekt ab. Die Tochter Jerusalems, die in zwei Bänden seine nachgelassenen Schriften herausgab, hat dann aus dem Nachlaß Manuskripte zum dritten Teil, zur christlichen Religion mitgeteilt, die in sehr unterschiedlichem Maße ausgearbeitet sind, aber doch ein gewisses Bild davon geben, wie sich Jerusalem den weiteren Verlauf gedacht haben mag. Wenn im Folgenden von Jerusalems Bild der mosaischen Religion die Rede sein soll, dann kann das natürlich nicht mit eben der vergnüglichen Weitläuftigkeit geschehen, die Jerusalem selbst zu Gebote stand. Vielmehr möchte ich in einem ersten Schritt den Rahmen abstecken, der für dieses Bild einen festen Halt bereitstellt, zweitens die Grundzüge der Bezugnahme auf das Alte Testament und der jüdischen Religion nach den Predigten skizzieren, sowie schließlich das Terrain der »mosaischen Briefe« sowie der »Betrachtungen« beleuchten. Ein kurzes Fazit soll am Ende stehen.

2. Die mosaische Religion im Rahmen der christlichen Aufklärung Das »Glaubensbekenntniß Seiner Durchlaucht des Prinzen Leopold von Braunschweig«,14 das immerhin drei Auflagen erlebte, soll dem ›Vorbericht‹ zufolge »kein vollständiger Unterricht in der Religion« sein, sondern lediglich »die wesentlichsten Wahrheiten des Glaubens« enthalten (5), und zwar in der ihnen angemessenen »eigenthümlichen Simplicität« (6). Wir haben hier eine Zusammenfassung der theologischen Aufklärung vor uns, die in maßvoller Reduktion die wesentlichen Themen berührt und vorstellig macht. Dabei läßt sich noch einmal deutlich ein Grundbestand des Glaubens von einer aus Pietätsgründen mitgeführten Peripherie unterscheiden, in der sich solche Lehrstücke wie die Zwei-Naturen-Lehre oder die Versöhnungslehre finden.15 Der Grundbestand stellt den Gottesglauben und die Lebensführung in den Mittelpunkt, eine durch die Vorsehung geleitete Vollkommenheitsethik, die sich ganz durch die Liebe zum Guten und die Liebe zu den vernünftigen Mitgeschöpfen bestimmt weiß.16 Rechtschaffenheit und selige Ewigkeit sind die beiden Grundpfeiler des Glaubens. Dies wird 13 Neue Critische Nachrichten. Zehnter Band. Greifswald 1774 (Neuntes Stück, 65–68; Zwölftes Stück, 90–94); hier: 90. 14 Der Text wird im Folgenden nach der zweiten, verbesserten Auflage (Braunschweig 1769) zitiert. 15 Jerusalem selbst spricht von »Grundwahrheiten der Religion« (15), zu denen »meine Vernunft allein mich schon verbinden« würde, während alles weitere sich »noch überdem in dieser Offenbarung finde« (16). Die katechetischen Fragen richten sich ebenfalls zunächst auf »die wesentlichen Stücke einer Religion« (31). Erst später werden dann die Dogmen behandelt, die für die Vernunft zwar »ein Geheimniß« sind, ihr aber nicht »anstößig« sein können (37). 16 Am Ende seines Lebens faßte Jerusalem »die Seele des ganzen Christenthums« in vier Punkten zusammen: »die Lehre von der Einheit Gottes, von seiner moralischen Vorsehung, von der Unsterblichkeit

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in einem weiteren Schritt an die biblische Überlieferung angekoppelt, mithilfe eines weitherzig interpretierten Offenbarungsgedankens. In den Mittelpunkt stellt Jerusalem »den göttlichen Unterricht des Erlösers« (15f ). Das Alte Testament kommt hier lediglich indirekt in Betracht, insofern es erkennen läßt »wie dieser Jesus Christus schon vom Anfange des menschlichen Geschlechts, als der grosse Prophet verkundiget ist, der die Welt zur wahren Erkenntniß und Verehrung GOttes bringen sollte« (16f ). Auf dieses Bekenntnis des Prinzen folgen nun noch einige katechetische Fragen, die als Erläuterungen zu lesen sind. Charakteristisch für unser Thema ist zunächst der Gedanke des Gesetzes, der vollständig von jeder alttestamentlichen Konkretion abgekoppelt ist. Dann »als mein erstes und heiligstes Gesetz« wird angegeben, »daß ich mich bestrebe, diesem meinem GOtt in seiner Liebe zur Vollkommenheit ähnlich zu werden, und dadurch mich und meine vernünftigen Mitgeschöpfe so vollkommen zu machen, als ich Fähigkeiten und Kräfte dazu erhalten habe« (29). Die erste ausdrückliche Erwähnung des Alten Testaments geschieht im Problembereich der Erkenntnis der religiösen Grundlehren, der von der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung umrissen wird. »Da GOtt seine herrlichen Vollkommenheiten in seinen Werken so deutlich offenbaret hat, so würden auch die Menschen in diesen herrlichen Beweisen einer unendlichen Weisheit und Güte, und besonders in der Anlage ihre moralischen Natur, die Anweisung hierzu, wenn sie deren gehörig wahrgenommen, auch allemal gefunden haben; wobey es indessen unwidersprechlich ist, daß GOtt von dem Anfange des menschlichen Geschlechts an, diese Erkenntniß, durch nähere Erleuchtungen, von Zeit zu Zeit zu unterhalten gesucht hat, wovon die ersten Strahlen, in der ersten Geschichte des menschlichen Geschlechts, und in den Schriften Mosis, die gleichsam die Morgenröthe der folgenden grössern Erleuchtung waren, unleugbar sichtlich sind« (31f ).17

Jerusalem läßt keinen Zweifel daran, daß die Vernunft als solche durchaus auch ohne Offenbarung alles Nötige sich hätte erschließen können, daß aber weder die Allgemeinheit dieser Erkenntnis ohne die Offenbarung nicht erreicht worden wäre, noch die »Wirksamkeit, Freudigkeit und Stärke« des Glaubens (36). Eine sehr bezeichnende Auskunft gibt Jerusalem auf die Frage nach dem »Grund [...], diese Religion mit völliger Zuversicht als eine göttliche Offenbarung anzunehmen« (36). Hierauf lautet die Antwort: »Gesetzt, daß ich auch von allen den Beweisen nichts wüßte, die die göttliche Sendung dieses Erlösers so unwidersprechliche machen; daß ich die Weissagungen von ihm nicht kennete; daß ich nichts von seinen Wundern, nichts von seiner Auferstehung wüßte; daß ich auch die Glaubwürdigkeit seiner Zeugen nicht kennete; ich will noch hinzusetzen, daß ich auch nichts von dem Ursprunge und der Glaubwürdigkeit der Schriften wüßte, worin ich itzt diese Lehre finde, so würde ich dieselben dennoch ruhig zur einzigen Grundlage meiner Religion machen, und meine Vernunft würde mich selbst dazu verbinden« (36). der Seele und dem künftigen Vergeltungszustande, und der göttlichen Sendung des Erlösers« (NS 1, 10f ). 17 Als von der göttlichen Vorsehung gesandte »Morgenröthe« konnte Jerusalem auch das Erscheinen von Sokrates bezeichnen (NS 1, 16).

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Sämtliche autoritativen Außenstützen werden hier kurzerhand entfernt: Der Weissagungsbeweis,18 der Beweis aus den Wundern,19 die apostolischen Zeugnisse, die Inspirationslehre und Schriftautorität. Danach werden noch die Dogmen einer gründlichen Prüfung unterzogen, den Schluß bildet bezeichnenderweise das Gebet. Man sieht, wie in Jerusalems Wahrnehmung das Christentum vollständig auf seinen eigenen Füßen steht, ja recht eigentlich auf der Vernunft gegründet ist. Die heilige Schrift ist da lediglich ein willkommenes Hilfsmittel, eher erbaulichen Charakters, die jedoch keineswegs in ihrer historischen und auch erzieherischen Bedeutung verkannt wird. Gegen Ende seines Lebens hat Jerusalem das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft als eine wechselseitige Beförderung beschreiben können: »Geoffenbarte Religion und Zustand der Menschheit und der Welt, sind immer nur ein großer, weiser, göttlicher Plan, worinn die Religion der Vernunft zu ihrer Erleuchtung zu Hülfe kommen, und die aufgeklärte Vernunft zu mehrerer Aufklärung der Religion auch wieder behülflich werden muß« (B 3, 833). In den nachgelassenen Schriften schwingt er sich gar zu dem Satz auf, daß die Religion »ihrem Wesen nach selbst die allervollkommenste Vernunft ist« (NS 1, 201). Das Alte Testament jedenfalls wird seiner herkömmlichen funktionalen Beziehung auf das Neue Testament so weitgehend beraubt, daß es allenfalls als religionsgeschichtliche Vorstufe (Morgenröte) gewürdigt werden kann, jedoch in keinerlei konstitutiver Beziehung mehr zu ihm steht. Jerusalem hat das am Ende seines Lebens folgendermaßen in Worte gefaßt: »Billig hätte es eine der ersten Lehren der Protestanten von dem Anfange der Reformation an seyn müssen, (aber wie konnten die herrlichen Männer, die daran arbeiteten auf einmal alles sehn, und alles thun?) daß das alte Testament zwar göttlich geoffenbaret, daß die mosaische Religion zwar göttliche Autorität zum Grunde habe, daß das alte Testament in Ansehung der Geschichte der Menschheit und der Religion das unschäzbarste Denkmal sey, das die Vorsehung uns aufbehalten, daß es auch zur Bestätigung der Wahrheit der christlichen Religion und ihrer Aufklärung ungemein viel beigetragen, auch zum Theil herrlich zu lesen sey, vorzüglich wegen der erhabenen Ideen und Sprache von Gott und der Sittenlehre in Vergleichung mit den alten heidnischen Dichtern – daß es aber kein durchgängig göttlich inspirirtes Buch, auch kein eigentliches Religionsbuch für uns Christen sey« (NS 1, 517).20 18 In den nachgelassenen Schriften erklärt Jerusalem mit runden Worten, daß es nicht lohnt, sich über die prophetischen Weissagungen »mit den Juden [...] in einen Streit einzulassen«, da es ein hinreichender Beweis sei, »daß Jesus der Einzige ist, der darin die Erwartung von einem Messias auf das allervollkommenste erfüllet, daß mit ihm [...] die große allgemeine wahre Vernunftreligion [...] sich über die Welt verbreitet« (NS 1, 553f ). Diese Art eines faktisch-historischen Singularitätserweises findet sich ebensowohl in Schleiermachers fünfter »Rede« wie in Harnacks »Wesen des Christentums«. 19 »Bei den gewöhnlichen Beweisen von der Wahrheit der Sendung Jesu, bei der Geschichte und Rechtfertigung seiner Wunder; und bei der Erfüllung der auf ihn sich beziehenden Weissagungen, werde ich mich nicht weitläuftig aufhalten« (NS 1, 243). 20 »So lange wir aber [...] das ganze alte Testament auch als unser Religionsbuch ansehen, [...] ohne daß wir nur das Wesentliche daraus abstrahiren: so lange muß dies der christlichen Religion vieles von ihrer eigenthümlichen Simplicität benehmen, und die Gränze der Dämmerung, und des vollen Lichtes, das Christus in die Welt gebracht hat, immer noch verwirren« (NS 1, 518f ). – Die Nähe

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Diese Einsicht ist vor allem deswegen bedeutsam, weil sie nun eine ganz eigene Würdigung der alttestamentlichen Texte wiederum erlaubt. Dies wird vor allem ersichtlich werden an der Darstellung der »mosaischen Briefe«. Doch zunächst soll der Prediger Jerusalem in seiner Bezugnahme auf das Alte Testament gewürdigt werden. Die beiden Predigtsammlungen enthalten sechzehn Predigten, die in der letzten Auflage 1788/89 noch um zwei weitere vermehrt wurden.21 Nur eine dieser Predigten nimmt einen Text aus dem alten Testament zur Grundlage, doch werden alttestamentliche Texte häufig zitiert, die Psalmen vor allem, auch der Pentateuch und das Buch Jesaja, aus dessen 60. Kapitel denn auch der Text zur ersten Predigt stammt, die nach den Gepflogenheiten der Zeit vor allem die Weissagung auf die Erscheinung Jesu Christi thematisiert. So führt Jerusalem aus: »Man müßte die ungereimtesten Dinge behaupten, und allen diesen Worten die grösseste Gewalt anthun, wenn man sie von etwas anders, als von der seligen Erleuchtung, erklären wollte, die der Welt durch die Erscheinung des Erlösers wiederfahren ist. Denn wo soll man sonst in der ganzen Jüdischen Geschichte eine Zeit finden, worauf sich diese Beschreibung nur mit der geringsten Wahrscheinlichkeit deuten liesse? Man nehme die äusserlichen Umstände dieses Volks, oder man nehme die Verfassung seines Gottesdienstes; die Erklärung wird allezeit gleich gezwungen, gleich unmöglich bleiben. Jesaias lebte zu einer Zeit, da die Jüdische Republik ihren alten Glanz längst verlohren hatte, und ihrem unglücklichen Untergange immer näher kam. Sie erhielt zwar nach der Babylonischen Gefangenschaft ihre vorige Gestalt und Freyheit wider, aber zu ihrer vorigen Herrlichkeit und Grösse konnte sie sich nie wiederum erheben. Sie blieb ein beständiger Raub ihrer Nachbarn, denen sie durch ihre innerlichen Zerrüttungen selbst die Thore öffnete, bis sie unter der Herrschaft der Römer endlich auf ewig das Ende ihrer Freiheit und ihrer ganzen Verfassung fand« (Pr 1, 6f ).

Freilich: die Rede ist zunächst von der Jüdischen Republik, aber dann doch auch vom Volk und seiner objektiven Religion. In diesem Punkt ist Jerusalem recht traditionell, die Kontrastierung von Christentum und Judentum verläuft zwar nicht gerade nach der Metapher von Licht und Finsternis, aber doch durchgängig nach dem Bild von hellem Sonnenlicht und »Morgenröthe«. Dazu später mehr. Hier jedenfalls finden wir die stärkste Entgegensetzung dieser Art in Jerusalems Werk, die aber, das ist wichtig, nicht der mosaischen Religion als solcher und überhaupt gilt, sondern eben ihren Entwicklungsstand zur Zeit Jesu erörtert. Natürlich wird man bei Jerusalems kontrastiver Zeichnung der jüdischen Religion auch die wohlwollende Indifferenz der protestantischen Aufklärung gegenüber Zeremonien und Ritualen in Rechnung stellen müssen. So behandelt eine Predigt die Doppelzur vieldiskutierten These Adolf von Harnacks (Marcion) liegt auf der Hand; vgl. den Beitrag von Ekkehard Mühlenberg in diesem Band. 21 Eine systematische Sammlung ist es nicht, wie der Autor selbst in einer Vorrede ausführt: »Ich entschloß mich zu spät, sie zum Drucke hinzugeben, und, wegen der noch dazwischen kommenden Verhinderungen, behielt ich zuletzt auch die Freyheit nicht, daß ich etwan die Stücke, die sich am besten zusammen geschickt hätten, oder am ordentlichsten ausgeführet gewesen wären, hätte aussuchen können, sondern ich mußte, ohne Wahl, nur diejenigen nehmen, die am leserlichsten geschrieben waren« (Pr 1, Vorrede). – Die Predigten werden im Folgenden nach der Ausgabe von 1774 als Pr1 und Pr2 zitiert.

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these, daß zwar »die äusserlichen Gebräuche unsers Gottesdienstes erlaubt, und, nach Beschaffenheit der Umstände, nützlich sind«, daß wir sie aber »nicht als wesentliche Stücke der Religion ansehen müssen« (Pr 1, 192). Das gilt sogar für die Sakramente: »Unser Heiland selbst hat uns deßwegen auch gar keine Gebräuche verordnet, wenn man nicht den beyden Sacramenten eine weitläuftigere Bedeutng beylegen, und diese mit zu denselben zählen will« (aaO. 202). Bei solchen Herabstufungen sakramentaler und ritueller Religion kann Jersualem selbstverständlich auch auf die prophetische Kultkritik zurückgreifen (vgl. Pr 1, 208). Das betrifft nun auch den Bereich der Normen im Allgemeinen: »Willkührliche Gesetze haben ihre bestimmten Absichten, und können nicht weiter als nach den Worten erfüllt werden. Denn indem sie in dem freyen Willen des Gesetzgebers gegründet sind: so kann die Absicht desselben auch nicht weiter erkannt werden, als er sich selber darüber ausgedrückt hat. Aber das Sittengesetz ist in seiner Natur ewig und unveränderlich, und hat eine allgemeine und unumschränkte Verbindlichkeit« (Pr 2, 105).

Diese gängigen naturrechtlichen Muster werden aber sofort als Verinnerlichung normativer Einstellungen gedeutet: »Die wahre Heiligkeit bestehet in der innerlichen Lauterkeit des Willens, und in einer unveränderlichen Liebe zum Guten« (Pr 2, 100); »Auf diese innerliche Vollkommenheit, auf dieß Gefühl der Gerechtigkeit und Liebe, kömmt demnach alles an« (Pr 2, 107).22 Und eben darin besteht denn auch die Absicht des frühen Christentums: »Aber dieses ist der Endzweck des Heilandes und seines Apostels, daß die Menschenliebe ein heiliges, ewiges, und unveränderliches Grundgesetz in unserer Seele seyn soll« (Pr 2, 304). Hierzu werden die Juden zur Zeit Jesu in einen krassen Gegensatz gestellt: »Kein Volk in der Welt hat jemals einen grössern Menschenhaß gehabt, als die Juden, um diese Zeit, da die Pharisäer das Sittengesetz Mose durch ihre Satzungen so verderbt hatten« (Pr 2, 252).23 Dieser nicht gerade ungewöhnliche Topos wird aber auf eine sehr eigene Art in die christliche Vollkommenheitsethik eingezeichnet, da der Affekt des Hasses sich genau genommen aus der formalen Eigenschaft der Partikularität der Heilsgewißheit eines einzelnen auserwählten Volkes ergibt: »Eine Liebe, die nicht allgemein ist, verdienet den Namen dieser göttlichen Tugend nicht! sondern ist noch ein wirklicher Menschenhaß« (Pr 2, 316). Die religionsgeschichtliche Würdigung des Judentums zur Zeit Jesu fällt denn auch entsprechend verhalten aus: »Ihr einziger Vorzug war, daß sie in der Lehre von der Einigkeit GOttes standhaft blieb. Alle anderen Wahrheiten aber, die aus dieser Lehre fliessen, waren dagegen so verfälscht, und das Wesen des göttlichen Gesetzes durch die unvernünftige Ueberhäufung der äusserlichen Gebräuche so geschwächt, daß der ganze Gottesdienst auch diesen Namen nicht einmal verdiente« (Pr 1, 8). 22 »die wahre Religion, die allein auf die innerliche Reinigung des Herzens dringt« (Pr 2, 95). 23 Vgl. aber die späteren »Betrachtungen«: »Eben so ungegründet als dies Geschrey über die grausame Härte dieses Gesetzes ist, ist nun auch das Geschrey über die menschenfeindliche Intoleranz, und über den, dem Volke eingeprägten allgemeinen Menschenhaß« (B 3, 822).

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Nach diesem sehr exemplarischen Bezug auf die frühen Predigten, seien nun zumindest noch einige Schlaglichter auf das spätere Werk geworfen.

3. Die mosaische Religion im Rahmen der Geschichte der Menschheit Die »Briefe über die Mosaischen Schriften und Philosophie« erschienen im Jahr 1762 zunächst anonym.24 In seiner nachgelassenen Lebensgeschichte schreibt Jerusalem: »Nun versuchte er auch, einen Theil der erlangten mehrern Ruhe zur Aufklärung und Bestätigung der geoffenbarten Religion anzuwenden, und zufolge einer besondern Veranlassung machte er den Anfang mit den Briefen über die Mosaische Religion, die der gelehrte und vortrefliche Herr geheime Rath von Monlinas in Berlin dem Verfasser die Ehre erwies, in die französische Sprache zu übersetzen; welche Uebersetzung aber, zu des Verfassers noch fortdauernder innigster Kränkung, unglücklicherweise ungedruckt geblieben ist.«25

Das Werk erlebte noch zwei weitere Auflagen.26 Die Briefe stellen zunächst eine allgemeine These von der kulturgeschichtlichen Bedeutsamkeit des Alten Testaments und insonderheit des Pentateuchs an den Anfang: »wenn auch die göttliche Autorität dieses Buchs nicht zu beweisen wäre [...], so bliebe uns dieses Buch dennoch allemal das kostbarste Kleinod des Alterthums, das dem ganzen menschlichen Geschlechte nicht schätzbar genug seyn könnte: denn es enthält nicht allein, die der ganzen Menschheit so interessante Geschichte von dem ersten Ursprung der Menschen, ihren verschiedenen Sprachen und Reichen, von den ersten Völkerschaften und ihren Stammvätern, von dem ersten Ursprung der Künste und Sitten, und von den Veränderungen des Erdbodens, in sich, und breitet dadurch über die ganze Geschichte der Natur und unsers Geschlechts ein solches Licht aus, ohne welches uns beydes das finsterste Räthsel seyn würde; sondern es ist zugleich auch dasjenige Denkmal, das der menschlichen Vernunft die meiste Ehre macht, indem in diesem Buche noch allein die erste wahre Philosophie von GOtt, von dem Ursprung der Dinge, und von dem Ursprung des moralischen und physikalischen Bösen aufbehalten worden, die in der Folge der Zeit sich dergestalt verloren, daß sie die Vernunft mit allen ihren Bemühungen nicht eher wiedergefunden, als bis sie durch das ausgebreitete Licht der Offenbarung wieder auf die rechte Spur gekommen« (Br 24). 24 Vgl. Claus-Dieter Osthövener, Anonyme Theologie von Toland bis Schleiermacher, in: Stefan Pabst (Hg.): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. Berlin/New York 2011, 217–234 [223–226]. 25 Nachgelassene Schriften von J. Fr. W. Jerusalem. Zweiter und letzter Theil. Braunschweig 1793, 31f. – Es handelt sich um Wilhelm (Guillaume) Moulines (1728–1802), Theologe und Diplomat. »Er galt als einer der besten französischen Stilisten in Berlin« (Adolf von Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd.I/1. Berlin 1900, 373). 26 1772 und 1783; in dem »Vorbericht« zur zweiten Auflage hält Jerusalem fest: »Da die Fürstl. Waisenhaus-Buchhandlung für gut gefunden, diese Briefe noch einmal wieder drucken zu lassen, so habe ich dabey nur anzeigen wollen, daß dieser zweyte Abdruck bis auf einige wenige Verändrungen dem ersten gleich gelassen; da der Mangel der Zeit die genauere Berichtigung, die ein und andrer darinn gewagter Gedanke sonst wohl erfodert hätte, nicht verstattet hat«.

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Diese an Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« gemahnende Figur spielt auch in den Predigten eine bedeutende Rolle und wäre einmal eigens zu untersuchen. Jerusalem jedenfalls widmet sich den so gewürdigten Schriften zunächst in der Haltung des einfühlenden Nachverstehens und Anempfindens. Dabei legt er vor allem auf die Schilderung individueller Menschlichkeit in der Genesis großen Wert: »Sehen Sie erstlich, wie wahr und sprechend die verschiedenen Charactere eines Abrahams, eines Loths, eines Isaaks und Jacobs sind. In Abraham sehen Sie den simpelsten, aber zugleich den edelsten und großmüthigsten Character« (Br 53). Und so präsentiert er jeweils ausführliche Charakterschilderungen der Erzväter. Doch widmet er sich auch Fragen der sprachlichen und literarischen Form. Im vierten Brief stellt Jerusalem dann eine starke These in den öffentlichen Raum, daß nämlich »diese Ersten Capitel, nicht allein in einer sehr erhabnen Schreibart abgefasset, sondern daß sie selbst erhabne Gedichte, und zwar förmliche Gedichte sind.« Er fügt denn auch sogleich hinzu: »Ich bin, so viel ich weiß, der erste der diese Muthmassung wagt« (Br 82). Er stellt sich mit dieser originellen Vermutung allerdings in eine sehr aktuelle Debatte hinein, hatte doch vor einigen Jahren erst der englische Bischof und Bibelforscher Robert Lowth27 das Alte Testament auf seine poetischen Aspekte gründlich untersucht. In Deutschland wurde das Werk vor allem durch die Übersetzung Johann David Michaelis’ bekannt, die just zur Zeit von Jerusalems Briefen in mehreren Bänden erschienen war. Dieser nimmt auf beide auch Bezug, weist aber darauf hin, daß ausgerechnet die ersten Kapitel der Genesis dem poetologischen Spürsinn der Kollegen entgangen zu sein schienen. Freilich muß man sich vor Augen halten, daß Jerusalem einen vergleichsweise weiten Begriff von Poesie seiner These zugrundelegt: »Die Ausdrücke sind lebhafter und stärker; die Vorstellungen sind erhabner und abwechselnder; und sie werden mit einem gewissen Tonmasse, oder Tacte vorgebracht« (Br 83), eine Bestimmung, die am parallelen Beispiel des Tanzes abgelesen wurde. Offenkundig ist Jerusalem hier auf der Spur einer noch unverbildeten, ja gleichsam archaisch-ursprünglichen Ausdrucksweise, die das Charakteristikum dieser ältesten Urkunden, wie Herder sie nennen sollte, darstellen. Daher möchte er sie auch nicht Moses selbst, sondern einem ›älteren Erzvater‹ zuschreiben (vgl. Br 100). Moses hat sich dieser Quelle, dieser »Originalurkunden«, wie Jerusalem sagt, bedient. Hermeneutische Schlüssel haben die merkwürdige Eigenschaft, Türen nicht nur zu öffnen, sondern Türen auch zu schließen, oftmals in ein und demselben Auslegungsvorgang. Bei Jerusalem läßt sich das in aller Klarheit beobachten. Von dogmatischen Voraussetzungen freigeworden für die liebevolle Nachzeichnung der immanenten Sinnstruktur, kulturgeschichtlichen Bedeutung und poetischen Qualität insbesondere des Pentateuchs gehen dann doch wieder Voraussetzungen neuer Art in diese Auslegung ein, die von den genutzten Erschließungsinstrumenten nahegelegt werden. Hierzu gehört natürlich einmal, daß für Jerusalem die biblische Chronologie im Großen und Ganzen unerschüttert bleibt, sie ist der feste Rahmen für alle weiteren Zuordnungen. Eigentlich erst Wellhausen hat hier einen grundstürzenden Neuanfang gewagt. Aber es 27 Vgl. Rudolf Smend, Lowth in Deutschland, in: Ders., Epochen der Bibelkritik, München 1991, 43–62.

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ist auch die Voraussetzung der Einheitlichkeit und Homogeneität der Überlieferung, die unvermerkt sich zu einem Deuterahmen aufschwingt. Man kann das gut studieren an Jerusalems geradezu abfälliger Abwehr des Versuchs, durch eine Quellenscheidung das Verständnis zu befördern. Denn obgleich er gerade erst, geleitet von feinem Sprachempfinden und mit kulturgeschichtlicher Umsicht, die Unterschiedlichkeit der in der Genesis vorliegenden Erzählungen soweit entwickelt hatte, daß er sich sogar dazu entschloß, die Existenz älterer Urkunden anzunehmen, die Moses dann in sein Werk integriert habe, hat er die strukturell ganz ähnlich angelegte These des französischen Arztes Jean Astruc mit Unverständnis nur ansehen können, ja sie als »ungegründet und läppisch« bezeichnet.28 Und der eigentliche Grund dafür ist Jerusalems Vorstellung von der Einheitlichkeit der Urgeschichte, die ihm mit der integralen Autorenperson Hand in Hand geht. Sein Vorwurf an Astruc lautet denn auch, »daß er diesen heiligen Mann, diesen vortreflichen Geschichtschreiber, der auf allen Blättern seiner Geschichte den lautersten Geschmack und die schärfste Beurtheilung zeiget, ohne die geringste Wahl, in der Arabischen Wüste allerhand finstere namenlose Geschichten aufraffen, daß er Ihn diese auf die kindischste elendste Art zusammenflicken [...] läßt, und Ihm [...] dabey keine höhere Absicht beylegt, als daß er damit die Lücken in seinem Buche habe ausfüllen wollen« (Br 104).

Es scheint so zu sein, daß der Blick auf das Ganze verwirrend sein kann und vom Wesentlichen abzulenken vermag. Erst eine Fokussierung auf das Spezielle kann dann auch wieder übergeordnete Perspektiven freisetzen. Immerhin kann Jerusalem als jemand gelten, der auf Plausibilitätsprobleme auch literarkritischer Operationen aufmerksam gemacht hat, die bis heute in der Forschung umstritten sind. Lassen Sie mich zum Schluß noch einen kurzen Blick in das Hauptwerk, die »Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion« werfen. Daß Jerusalem dieses weitläuftige Werk nicht würde abschließen können, wurde ihm mit fortschreitender Arbeit immer deutlicher. Und so überlegte er angesichts seiner schwindenden Kräfte ernstlich, den zweiten Teil zum Alten Testament zunächst hintanzustellen und zuerst seine Betrachtungen zum Christentum dem Publikum vorzustellen. Doch eine bemerkenswerte Überlegung hielt ihn davon ab: »Die christliche Religion hat zwar ihre eigenthümliche und von der Mosaischen Religion ganz unabhängige Stärke; da indessen verschiedne ihrer Wahrheiten aus dieser ältern Religion ein vorzügliches Licht erhalten, so würden sie an ihrer vollen Aufklärung auch immer etwas verlieren, wenn ich bey ihrer Erklärung jenes Licht nicht zu Hülfe nehmen könnte« (B 2, IX).

Das ist Jerusalems reife Sicht auf den Zusammenhang von Eigenständigkeit und Verbundenheit der beiden Religionen. Die Aufklärung des Christentums bleibt doch unge28 »Denn was der Verfasser der Conjectures, die vor einigen Jahren in Brüssel herauskamen, hierüber sagt, das ist von allen Seiten so ungegründet und läppisch, daß man nicht anders denken kan, als daß der Verfasser von dergleichen älteren Nachrichten wohl einmal etwas gehört, aber es nicht recht anzuwenden, noch weniger aber das göttliche Ansehen dieses grossen Geschichtsschreibers dabey zu schonen gewußt noch gewollt habe« (Br 103).

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achtet ihrer relativen Autonomie zumindest in der Perspektive der historischen Hermeneutik auf das Judentum und seine Geschichte angewiesen. In dieser Einstellung kann Jerusalem dann auch die in der mosaischen Religion präsente frühe Gestalt des Judentums umfassen würdigen. So führt er etwa zu den von Moses gegebenen Gesetzen aus: Die zehn Gebote »sind nicht das ganze mosaische Sittengesetz; noch weniger sind sie ein vollkommener Inbegriff der christlichen Sittenlehre, die viel reinere und vollkommenere Pflichten fordert, weil sie höhere Bewegungsgründe hat« (B 3, 813). Aber sie sind doch auf ihre Art eine dem Stand der kulturgeschichtlichen Entwicklung vollkommen angemessenes normatives Instrumentarium. Auch das bereits damals vielumstrittene ius talionis wird mit klaren Worten als ein Fortschritt gekennzeichnet, als eine Einhegung der Rachsucht und damit gewürdigt als ein Schritt auf dem langen Wege zur Nächsten- und Feindesliebe (B 3, 815f ). Insgesamt zeichnet Jerusalem die Person des Moses als einen weisen und fortschrittlichen Gesetzgeber, der genau genommen bereits auf der Höhe des nur immer möglichen Einblicks in religiöse und sittliche Verhältnisse steht, der aber um der schwachen Fassungskraft seiner Volksgenossen eine ganze Reihe von eigentlich überflüssigen gesetzlichen und kultischen Bestimmungen in seine Verkündigung des einen Gottes hineinnehmen mußte.

Fazit Damit bin ich dann auch bereits am Ende meiner Überlegungen. Die mosaische Religion hat ihre Geschichte. Sie hat aber in ihrer Geschichte Einsichten entwickelt, die als solche unverlierbar und nach wie vor gültig sind. Schon in den Predigten findet sich der bemerkenswerte Satz: »Höre Israel, der HErr unser GOtt ist ein einiger Gott! Dieses bleibt in Ewigkeit der erste und wesentlichste Grundsatz aller Religionen« (Pr1, 235). Diese starke These steht ausgerechnet in einer christologischen Predigt zur Zweinaturenlehre. Diese Sichtweise, die vor allem die Gemeinsamkeit aller wahren Religionen betont, findet sich in den nachgelassenen Ausarbeitungen der »Betrachtungen« noch einmal sehr prägnant ausgeführt. Am Ende seines Lebens schärft Jerusalem seinen Lesern ein, daß »der größte Theil der ersten Bekenner dieser Religion [sc. des Christentums], Juden waren [...]; so daß wir immer Ursach haben, sie ohngeachtet des fanatischen Hasses, womit sie das Evangelium zu vertilgen suchten, als die ersten Werkzeuge der Vorsehung in Pflanzung des Christenthums mit Hochachtung und Liebe anzusehen, und mit ihrer Verblendung und ihrer traurigen Lage Nachsicht und Mitleiden zu haben, so wie es der Heiland selbst hatte« (NS1, 61f ). Und hier erscheint sogar die Idee einer schließlichen Vereinigung beider Religion am Horizont der Menschheitsgeschichte, eine von Jesus selbst gewünschte Vereinigung die allerdings bislang von beiden Seiten nicht recht in den Blick gekommen ist, indem sie »von der einen Seite, durch die Anhänglichkeit der Juden an ihre Religion, und von der Seite des Christenthums durch die darin gemischten philosophischen und sophistischen Hypothesen noch zu sehr aufgehalten worden« (NS1, 62f ).

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Doch steht Jerusalem der Grund dieser wesentlichen Verbundenheit klar vor Augen: »Der wesentliche Grundsatz der Religion, nehmlich die Einheit Gottes, bleibt derselbe; beide Religionen sind auf das genaueste mit einander verbunden; es ist kein anderer Unterschied unter ihnen, als unter der Morgenröthe und dem wirklich hell aufgegangenen Lichte. Denn was ist die Lehre, zu deren Verkündigung Jesus von Gott in die Welt gesandt war, anders, als die Lehre von der allgemeinen Vaterliebe Gottes und einer damit verbundenen allgemeinen Menschenliebe: das ist wesentlich die ganze Religion Jesu« (NS1, 65f ).

Johann Salomo Semler und das Alte Testament Marianne Schröter »Ich sehe also nicht ein, warum einem geübten Christen nicht freistehen solle, hierüber zu urtheilen; daß er, wenigstens nicht im Stande sey, sich von dem götlichen Ursprunge solcher Bücher [des Alten Testaments] zu überzeugen; wie man sie auch unter Christen nicht gebrauchen kan, die innerliche, geistliche, volkommenere Religion daraus bey sich zu befördern. Die Juden haben vielmehr aus solchen Beschreibungen die meisten Vorurtheile beibehalten, und sich unmoralische Vorzüge über alle andre Menschen so angemasset, daß sie die ganze Idee eines Meßias und seiner Bestimmung dadurch verdorben und verfälschet haben. Ich wüste wenigstens gar keinen Grund, warum ich den götlichen Ursprung des Buchs Esra, Nehemia, Esther, Chronike, Ruth, Richter, mit Ueberzeugung bejahen, und wie ich irgend etwas darin finden solle, das mir, als Christen, oder als Lehrer des Christentums, wirklich so beförderlich und nützlich seyn könte, daß ich jene Bücher dazu nötig hätte.«1

In diesem Zitat aus der Vorrede des dritten Bandes der Abhandlung von freier Untersuchung des Canon von 1773 legt Johann Salomo Semler ein Tableau von Gedanken vor, aus denen sich sein Verhältnis zum Alten Testament bestimmen lässt. Gilt ihm als Voraussetzung der gesamten theologisch-exegetischen Arbeit die Annahme eines geschlossenen, göttlich inspirierten Schriftencorpus als obsolet, ist es besonders der partikular gefasste Erwählungsgedanke Israels, der ihn in dieser Auffassung bestärkt. Der von Semler postulierte freie Umgang und historische Zugang zum Alten Testament erlaubt ein selbständiges, dogmatisch ungebundenes Urteil über die Relevanz einzelner Bücher für die innere Religiosität des Christen und legitimiert entsprechende Auszüge aus dem Gesamtbestand der Überlieferung auch für Andacht, Gottesdienst und Unterricht. Die so beschriebene Verhältnissetzung soll im Folgenden in vier Gedankengängen entfaltet werden: Zunächst wird eine Übersicht über Semlers akademische Lehre und literarische Produktion zu Fragen des Alten Testaments gegeben. Dem schließt sich die Herausstellung des historisch kontextualisierten Literalsinns als methodische Prämisse der Textbehandlung an. Anschließend sollen mit der sog. Nationalhistorie, dem von Semler gezeichneten Prophetenbild und besonders seiner Psalmeninterpretation die drei zentralen Beschäftigungsfelder herausgegriffen werden, die seine Arbeit am Alten Testament bestimmen, um schließlich zusammenfassend die dem zugrunde liegende Verhältnisbestimmung der christlichen und jüdischen Religion sowie den hermeneutischen Zugriff zum Alten Testament zu skizzieren. 1

Johann Salomo Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Dritter Theil. Nebst Antwort auf eines ungenanten Naturalisten Sendschreiben, Halle 1773, Vorrede, unpag. [c3v/c4r].

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1. Johann Salomo Semler wurde am 18. Dezember 1725 als Sohn des Archidiakons und späteren Superintendenten von Saalfeld in Thüringen geboren. Seine Kindheit und Jugend im Schatten des Saalfelder Hofes Herzogs Christian Ernst war radikalpietistischen Prägungen unterworfen; eine bedrückende Erfahrung, die ihn dazu brachte, sich mit Beginn seines Studiums in Halle im Jahre 1743 gerade Siegmund Jacob Baumgarten als demjenigen Lehrer, vor dem er von Seiten des Hofes ausdrücklich gewarnt worden war, zuzuwenden. Während des Studiums gewann Semler durch seine mehrjährige Tätigkeit als Adjunkt bei Baumgarten, wo er in erster Linie an der Herausgabe von dessen großen Rezensionswerken, den Nachrichten von einer hallischen Bibliothek (1748–1751) und den Nachrichten von merkwürdigen Büchern (1752–1758), beteiligt war, umfangreiche Kenntnisse der aktuellen westeuropäischen Debattenlage zu text- und literarkritischen Problemen. Nach den theologiegeschichtlichen Würdigungen in seiner Autobiographie und anderen Schriften ist es – neben Autoren wie Whiston, Clericus, Wettstein und Voß – immer wieder Richard Simon (1638–1712), dessen Werk für die eigene exegetische Arbeit die größten Anregungen bot. Der Oratorianer Richard Simon hatte als Bibliothekar am Haupthaus seines Ordens in Paris im Frühjahr 1678 sein Hauptwerk Histoire critique du Vieux Testament veröffentlicht. Mit der bereits in der Überschrift des fünften Kapitels formulierten Absage an eine mosaische Verfasserschaft des Pentateuchs und der Theorie, Mose habe in ägyptischer Tradition auf eine Schreiberschule zurückgegriffen, die – abgesehen von den expliziten Gesetzesformulierungen – den überwiegenden Teil der historischen Berichte des Hexateuch auf der Grundlage von vorliegenden Überlieferungen aus eigener Feder verantwortete, legte Simon Thesen vor, die eine jahrzehntelange europaweit geführte Diskussion auslösten. Nicht der jetzt vorliegende Text, sondern sein Gewordensein steht im Mittelpunkt seiner Untersuchungen.2 Durch diese Sicht war für Simon der Weg für eine historisch-kritische Untersuchung des alttestamentlichen Zeugnisses frei, insofern dieses ja eher als Produkt einer sekundären Schreiber-Schule anzusprechen sei. Diese Ausrichtung auf die Text- und Überlieferungsgeschichte eines biblischen Buches, wie sie für Simons Untersuchungen 2

Inwieweit Simon mit dieser Fragestellung von den Einsichten Baruch Spinozas beeinflusst ist, bleibt in der Forschungsdiskussion umstritten. Während Reventlow in einem Beitrag aus dem Jahr 1980 davon ausgeht, dass Simon den Tractatus Theologico-Politicus zwar rezipiert habe, allerdings zu diesem Zeitpunkt seine Kritik des Alten Testaments bereits im Manuskript fertig vorlag – vgl. Henning Graf Reventlow, Richard Simon und seine Bedeutung für die kritische Erforschung der Bibel, in: Georg Schwaiger (Hg.), Historische Kritik in der Theologie. Beiträge zu ihrer Geschichte, Göttingen 1980 (Studien zur Theologie- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts; 32), 11–36, hier 32 –, betont Woodbridge, dass aufgrund der Quellenlage eine solche eindeutige Entscheidung kaum möglich ist – vgl. John D. Woodbridge, Richard Simon’s Reaction to Spinoza’s »Tractatus Theologico-Politicus«, in: Karlfried Gründer (Hg.), Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, Heidelberg 1984 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; 12), 201–226, hier 205. Zu den Hauptmomenten des lutherisch-orthodoxen Einspruchs gegen die im Tractatus Theologico-Politicus vertretene Hermeneutik Spinozas vgl. Walter Sparn, Formalis Atheus? Die Kritik der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza, in: Karlfried Gründer (Hg.), aaO. 27–63, bes. 30–36.

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charakteristisch war, stellt auch die Grundlage der exegetischen Arbeiten Semlers dar. Dabei haben sich weniger die im eigentlichen Sinne einzelexegetischen Erkenntnisse, als vielmehr die streng historisch ausgerichteten Untersuchungen für den Fortgang der Geschichte der Bibelwissenschaften als weiterführend erwiesen, eine Feststellung, die Semlers Schüler und späterer Fakultätskollege August Hermann Niemeyer teilt: »Was er als Exeget geleistet, ist weit mehr aus historischer als linguistischer Forschung hervorgegangen. So hat er wenigstens in Deutschland den Grund zu der in der Folge weiter ausgebildeten historischen Interpretation gelegt.«3 Von Beginn seiner akademischen Tätigkeit in Halle an hielt Johann Salomo Semler regelmäßig Vorlesungen zur Auslegung des Alten und Neuen Testaments, die stets von einer intensiven textkritischen Untersuchung der zu exegetisierenden Passagen sowie einer Rekonstruktion der Geschichte der Textüberlieferung ausgingen.4 Einen Schwerpunkt dieser Vorlesungen bildete neben dem johanneischen Schrifttum und dem Corpus Paulinum die Weisheitsliteratur des Alten Testaments. Erst mit dem Eintritt von Johann August Nösselt in die theologische Fakultät und dem Beginn von dessen Lehrtätigkeit stellte Semler seine exegetischen Vorlesungen zugunsten der kirchen- und dogmengeschichtlichen Arbeit zurück.5 Diese intensive exegetische Beschäftigung spiegelt sich auch in seinem literarischen Werk. Im ersten Jahrzehnt seiner akademischen Tätigkeit trat Semler – wie in sämtlichen Bereichen der theologischen Wissenschaft – auch auf dem Gebiet der Exegese in erster Linie als Herausgeber der von Siegmund Jacob Baumgarten hinterlassenen unveröffentlichten Manuskripte hervor. So erschienen in wenigen Jahren zum Teil umfangreiche Kommentare und Paraphrasen zu verschiedenen biblischen Büchern, vorwiegend zur Briefliteratur des Neuen Testaments. Unter diesen Arbeiten erscheint die Herausgabe von Baumgartens Erbauliche[r] Erklärung der Psalmen in zwei Bänden im Jahr 17596 besonders interessant, insofern sich hier Semlers später durchgehend zu beobachtende Vorbehalte gegen eine den Literalsinn hintansetzende Fokussierung auf eine erbauliche Auslegung alttestamentlicher Schriften lediglich im Ansatz zeigen. Die eigene wissenschaftlich-literarische Produktion Semlers widmet sich zunächst textkritischen 3

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August Hermann Niemeyer, Die Universität Halle nach ihrem Einfluß auf gelehrte und praktische Theologie in ihrem ersten Jahrhundert, seit der Kirchenverbesserung dem dritten, Halle 1817, LXXXVII. In den Codices Lectionarum Annuarum der Universität sind insgesamt 26 exegetische Vorlesungen bezeugt, die sich zumeist neutestamentlichen Büchern widmen. Zu den acht alttestamentlichen Kollegien rechnen vier Psalmenvorlesungen, die Semler zwischen dem Sommersemester 1753 und dem Sommersemester 1757 anbietet, die Proverbien-Kommentare in den Wintersemestern 1755/56 und 1756/57, eine Hohelied-Auslegung aus dem Wintersemester 1756/57 – 1757 veröffentlicht Semler parallel zu dem gewählten exegetischen Vorlesungsthema auch seine literarische Auseinandersetzung mit der anonymen Hoheliedparaphrase – sowie eine Einführung in das Alte Testament aus dem Sommersemester 1756. Vgl. zur Übernahme des exegetischen Kursus durch Nösselt auch Johann Salomo Semler, Lebensbeschreibung. Zweiter Theil, Halle 1782, 153. Johann Salomo Semler, Vorrede, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Erbauliche Erklärung der Psalmen. Erster Theil, Halle 1759, [16 Seiten] unpag.; ders., Vorrede, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Erbauliche Erklärung der Psalmen. Zweiter Theil, Halle 1759, [zwei Seiten] unpag.

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und textgeschichtlichen Untersuchungen, wobei es in erster Linie um die Wahrnehmung und Interpretation der Varianten der Textüberlieferung geht.7 Es finden sich ebenfalls Arbeiten zum relativ späten Ursprung der Lesezeichen und der Masora der hebräischen Bibel.8 Die erste selbständige exegetische Abhandlung in Kommentarform ist die Entgegnung auf eine von einem anonymen Autor verfasste Abhandlung zum Hohelied,9 in der Semler allerdings vorwiegend die methodische Herangehensweise seines Kontrahenten kritisiert und keine eigentliche Textauslegung vorlegt. Über die gesamte Zeit seiner wissenschaftlichen Publikationstätigkeit finden sich deutsche und lateinische Paraphrasen und Kommentare zu den meisten neutestamentlichen Schriften;10 hingegen ist zu konstatieren, dass entsprechende Veröffentlichungen zum Alten Testament fehlen. Mit dem Apparatus ad liberalem Veteris Testamenti interpretationem von 1773,11 dem eine Parallele für das Neue Testament aus dem Jahre 176712 voranging, legte Semler allerdings den Versuch einer einleitungswissenschaftlichen Einführung in das Alte Testament vor. In dieser fast 400-seitigen lateinischen Abhandlung richtet sich sein Hauptaugenmerk jedoch darauf, über eine konsequente Erhebung des Literalsinns der einzelnen alttestamentlichen Bücher ihre Stellung als Urkunden der israelitisch-jüdischen Religion herauszuarbeiten und somit die vorherrschende allegorische und typologische Interpre7

So u. a. Johann Salomo Semler, Observationes exegeticocriticae et miscellae praecipue super 2. Timoth. III et IV, Altdorf 1753; ders., Admonitio de observandis hebraicorum manuscriptorum membranis, quae tegendis aliis libris serviunt, Halle 1764; ders., Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments [. . . ], Halle 1766. 8 Johann Salomo Semler, Beitrag zu der Geschichte der Meinung von einem späteren Ursprung der hebräischen Lesezeichen vor dem Elias Levita, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1754, Nr. 22, Sp. 377–383, Nr. 23, Sp. 393–401; ders., Neuer Beitrag zu der Geschichte der Meinungen von den hebräischen Lesezeichen, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1758, Nr. 28, Sp. 465–473, Nr. 29, Sp. 481–492. Beide genannten Beiträge finden sich auch in: ders., Eigne historische theologische Abhandlungen, nebst einer Vorrede vom Fanaticismo, Halle 1760, 170– 228. 9 Johann Salomo Semler, Kurze Vorstellung wider die neue dreifache Paraphrasin über das hohe Lied, Halle 1757. Auf die literarische Entgegnung des anonym gebliebenen Autors der Dreifachen Paraphrasin reagierte Semler mit einem weiteren kritischen Beitrag in: Ders., Theologische Abhandlungen, (s. o. Anm. 8), 231–320. 10 Hauptsächlich handelt es sich hier um exegetische Beiträge zur Briefliteratur des Neuen Testaments. Vgl. Johann Salomo Semler, Paraphrasis Epistolae ad Romanos [. . . ], Halle 1769; ders., Paraphrasis in primam Pauli ad Corinthios Epistolam, Halle 1770; ders., Paraphrasis Evangelii Johannis [. . . ], 2 Bände, Halle 1771–1772; ders., Paraphrasis II. Epistolae ad Corinthios, Halle 1776; ders., Paraphrasis Epistolae ad Galatas, Halle 1779; ders., Paraphrasis Epistolae Iacobi, Halle 1781; ders., Paraphrasis in Epistolam I. Petri, Halle 1783; ders., Paraphrasis in Epistolam II. Petri et Epistolam Judae [. . . ], Halle 1784. 11 Johann Salomo Semler, Apparatus ad liberalem Veteris Testamenti interpretationem, Halle 1773. Das in diesem Titel erscheinende Attribut ›liberal‹ kann als Vorverweis auf Semlers dogmatische Schriften, die diesen Begriff zentral führen, betrachtet werden. Es sei darauf hingewiesen, dass bei Semler stets ein innerer Zusammenhang von liberaler und streng geschichtlicher Herangehensweise besteht, insofern damit eine von dogmatischen Voraussetzungen absehende, ›freie‹ und so allererst einer historisch-kritischer Betrachtungsweise offenstehende Methode beschrieben wird. 12 Johann Salomo Semler, Apparatus ad liberalem Novi Testamenti interpretationem. Illvstrationis exempla mvlta ex Epistola ad Romanos petita sunt, Halle 1767.

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tation der christlichen Auslegungstradition zu brechen. Der Apparatus stellt das streng historisch verfahrende Fundament für eine Anwendung der höheren Kritik auf die alttestamentliche Überlieferung dar, wie sie durch Johann Gottfried Eichhorn wenige Jahre später mit seiner Einleitung in das Alte Testament (1780–83) in Angriff genommen wurde.13 Über den Bereich der im strengen Sinne exegetischen Werke hinausgehende Äußerungen zu Problemen der Auslegung des Alten Testaments finden sich auch in den hermeneutischen und kanonkritischen Schriften. So können sichere Hinweise auf Semlers Bewertung bestimmter biblischer Bücher, wie zum Beispiel der historischen Passagen des Alten Testaments, die er nicht eigens exegetisch traktiert, ausschließlich aus der Nachzeichnung des Argumentationsganges der vierbändigen Kanonschrift gewonnen werden. Auch Aussagen zu Semlers Prophetenverständnis lassen sich überwiegend aus diesem literarischen Kontext erheben.

2. Der Ausleger eines biblischen Buches, der den mystischen Schriftsinn absolut setzt und das buchstäbliche Verständnis lediglich als Hülle des dahinter verborgenen eigentlichen Gehalts wertet, ist »[. . . ] zwar im Besitze seines Rechts, als Leser dieses Buchs; aber er kan nicht erweisen, daß dieses nicht eben der Verstand des Buches seie, da es zum ersten zum Vorschein kam.«14 Mit der Problematik mystischer Schriftauslegung und ihren Angriffen auf die wissenschaftlich verfahrende Exegese beschäftigt sich Semler vorwiegend in seinen Entgegnungen auf die traditionelle Auslegung der Johannesapokalypse, aber auch hinsichtlich der Interpretation eines alttestamentlichen Buches. Aufgrund eines anonym veröffentlichten Werkes zum Hohelied15 sieht sich Semler bereits 1757 in seinem Insistieren auf der Notwendigkeit einer fundierten Ausbildung zur Vermeidung und Zurückdrängung von theologisch-hermeneutischen Vorurteilen bestätigt. Nach dem Anonymus lässt sich der verborgene Gehalt dieser Schrift überhaupt nur unter drei Vorraussetzungen erschließen: Erstens muss die Geltung der menschlichen Gelehrsamkeit – besonders der Philologie, Philosophie und Dogmatik – hintangesetzt werden, um eine wirkliche Erkenntnis der Schrift und eine nützliche Anwendung ihrer Heilssätze zu erlangen.16 Weiterhin ist zweitens die gesamte biblische 13 Vgl. Johann Gottfried Eichhorn, Allgemeine Bibliothek der Biblischen Litteratur. Band V, Leipzig 1793, 88 u. ö. 14 Johann Salomo Semler, Neue Untersuchungen über Apocalypsin. Dem verdienten Chorherren in Zürich Herrn Breitinger zugeeignet, Halle 1776, 140. 15 [Anonym], Das Lied der Lieder, oder das Hohe Lied Salomonis, nach dem Grundtext übersetzet, und dergestalt erkläret, daß in einer dreifachen Paraphrasi deutlich und überzeugend zu sehen ist, wie in diesem allerherrlichsten Liede, nicht nur die Kirchengeschichte des Alten und Neuen Testaments, sondern auch der wahre und geheime Weg zur innigsten Vereinigung der Seele, mit GOTT enthalten sey und besungen worden, Halle und Leipzig 1756 – Titel zitiert nach Semler, Hohe Lied (s. o. Anm. 9), 9 Fußnote. Semler bezeichnet den unbekannten Verfasser als »theosophisch« (aaO. 38). 16 »Die Theologie wird bey euch als eine Kunst erlernet [. . . ] daher ist auch die Lehre, die nur aus der Vernunft und vernünftigen Wissen vorgetragen wird, so unkräftig und fruchtlos«; zitiert nach

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Überlieferung auf ihren mystischen Sinn hin zu befragen.17 Auch im Bereich der Schriftauslegung selbst sollte schließlich drittens mit einer besonderen Begabung oder Offenbarung durch den heiligen Geist gerechnet werden, die mit den Mitteln der gelehrten Hermeneutik nicht zu fassen ist.18 Semler weist in seiner Entgegnung dem Verfasser Fehler und Ungenauigkeiten im Bereich von dessen historischen und dogmatischen Behauptungen nach und bemerkt zu der vertretenen These von einer mehrfach angelegten, mystischen Struktur des Gehalts der Offenbarung: »Unser Heiland ist ein vortreflicher und unvergleichlicher Ausleger der heil. Schrift in den Tagen seines Fleisches gewesen: aber eine Paraphrasin von solcher Art hat er, so viel die Evangelisten wenigsten aufbehalten haben, niemalen angebracht.«19 Das vernunftgeleitete und kritische Herangehen an die biblischen Schriften, dessen Berechtigung der Autor so vehement bestreitet, stellt nach Semler gerade die Herausforderung dar, die den Menschen von Gott als besondere schöpfungsgemäße Bestimmung aufgegeben wurde. Bei einem ausschließlich mystischen Verständnis der Bibel existieren dagegen keinerlei hermeneutische Regeln bzw. Auslegebezüge mehr, ein rein subjektiv-intuitiver Zugang wäre die Folge. Die Verteidigung einer streng allegorischen Auslegung solcher Texte wie das Hohelied, die ihrem Literalsinn nach für die Beförderung des christlichen Glaubens keine erkennbare Bedeutung besitzen, stellt so für Semler über eine fachexegetische Streitfrage hinaus sogar eine gefährliche Behinderung der durch die göttliche Heilsökonomie bewirkten allmählichen Ausbreitung der wahren, inneren Religion dar, ein Vorwurf, den er wiederholt auch gegen Vertreter des theologischen Lehrstandes richtet. Es muss vielmehr das Ziel der akademisch-exegetischen Ausbildung sein, den zukünftigen Berufstheologen das methodische Rüstzeug für einen selbstverantworteten, gewissenhaften Umgang mit den biblischen Büchern zu vermitteln. Semler gilt als Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit dem Offenbarungszeugnis, dass die sprachliche Einkleidung der darin enthaltenen Wahrheiten einer Sprachwelt entstammt und Bilder gebraucht, mit denen der heutige Ausleger nicht mehr vertraut ist. Die der Entstehungszeit geschuldete Bedeutung der Semler, Hohe Lied (s. o. Anm. 9), 17. 17 Mit der Forderung nach Bevorzugung der mystischen Auslegung steht der anonyme Autor in der Tradition der Hohelied-Interpretation wie sie für den protestantischen Bereich des 17. Jahrhunderts charakteristisch war. Vgl. dazu Ernst Koch, Beobachtungen zum Umgang mit dem Hohenlied in Theologie und Frömmigkeit des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert, in: ders., Studien zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert, hg. von Matthias Richter und Johann Anselm Steiger, Waltrop 2005, 285–306. Während einerseits die Erbauungsliteratur der Zeit »mit Motiven der Hoheliedfrömmigkeit nahezu durchtränkt« war (aaO. 296), kann andererseits auch für die wissenschaftlich-exegetische Literatur eine deutliche Präferenz dieser alttestamentlichen Schrift konstatiert werden. Der Wittenberger Theologe Andreas Sennert wies in einem Kommentar aus dem Jahr 1671 darauf hin, dass sich für dieses biblische Buch, das die Liebe Gottes zu den Menschen resp. die Liebe Christi zu seiner Kirche repräsentiert, ein buchstäbliches Verständnis nicht anbiete (vgl. aaO. 288). Auch Johann Gerhard bezeichnet in seiner deutschsprachigen Postilla Salomonaea von 1631 die mystische Vereinigung des einzelnen Christen mit Christus als den Scopus des Buches, eine Bestimmung, die eine besondere religiöse Disponiertheit des Auslegers erfordere (vgl. aaO. 299). 18 Zu diesen Grundthesen des anonymen Verfassers vgl. Semler, Hohe Lied (s. o. Anm. 9), 12–18. 19 Semler, Hohe Lied (s. o. Anm. 9), 20.

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Worte und Wendungen, Verstehenskontexte und Assoziationshintergründe eines Ausdrucks sind also durch intensive philologisch-kritische Untersuchungen allererst zu rekonstruieren. Diese Erhebung des Literalsinns bildet folglich den Ausgangspunkt einer jeden Auslegung eines alttestamentlichen Buches und muss stets mit einer historischen Textanalyse verbunden werden. Falls man – wie im Falle des Hohelieds – auf diesem Weg keinerlei Applikationsbezug auf die eigene religiöse Verfasstheit feststellen kann, ist es nur konsequent, diesen Bestandteil des überlieferten Kanons nur noch als ausschließlich religions- oder kulturgeschichtlich relevantes Dokument zu verstehen.

3. Wenden wir uns nun den drei Themengebieten zu, deren Bearbeitung im Zentrum der exegetischen Arbeiten Semlers zum Alten Testament steht. Zunächst soll seine Sicht auf die historischen Bücher und Passagen, die er als »einheimische Geschichten, Erzählungen und Vorstellungsarten«20 charakterisiert, vorgestellt werden. Für Semler bestehen einige Stücke der Überlieferung, aber auch ganze biblische Bücher ausschließlich aus solchen historischen Mitteilungen, die sich auf die internen politisch-rechtlichen Angelegenheiten des Volkes Israel oder auf die Erklärung eines einzelnen für diesen Zusammenhang konstitutiven Sachverhaltes beziehen und so für den christlichen Leser höchstens noch aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive interessant sind. Das von Semler immer wieder angeführte Beispiel für einen solchen kritischen Befund ist das Buch Ruth. Hier werden nach seiner Lesart lediglich genealogische Zusammenhänge angeführt, die die Herkunft Davids aus moabitischen Geschlecht erzählen und schon zum Zeitpunkt ihrer schriftlichen Fixierung gar nicht dazu bestimmt waren, universale göttliche Wahrheiten mitzuteilen und entsprechende praktisch-moralische Veränderungen hervorzubringen.21 In dem von Semler dem dritten Band der Kanonschrift 1773 beigegebenen »Verzeichnis der vornehmsten Sachen«, einem Sachregister für die Bände 1–3 mit äußerst pointierten Beurteilungen, findet sich unter dem Eintrag »Das Buch Ruth« folgende kurze Bemerkung: »enthält keine moralische Grundsätze der Ausbesserung aller Menschen aller Zeiten [. . . ] kan nicht als ein götliches Buch erkant werden«.22 Eine beinahe wortgleiche Behandlung wird hier auch den Büchern Esther, Chronik, Esra und Nehemia zuteil. Unter ein solches Verdikt fällt ebenfalls der Gesamtbereich der Vorderen Propheten, die Semler vorwiegend als Chronisten der politischen Geschichte ihrer Zeit gelten.23 Auch der Pentateuch wird weitgehend kritisch gesehen, erfährt aber 20 Johann Salomo Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon; nebst Antwort auf die tübingische Vertheidigung der Apocalypsis, Halle 1771, 64. 21 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 34–36. Vgl. auch ders., Apparatus VT (s. o. Anm. 11), 111. 22 Semler, Canon III (s. o. Anm. 1), Sachregister. 23 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 79. In diesem Zusammenhang verweist Semler auf die These Richard Simons, nach der in den Prophetenschulen allererst die wesentlichen Teile auch des Pentateuch entstanden. Vgl. ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Zweiter Theil. Nebst Beantwortung einiger Recensionen des ersten Theils, Halle 1772, 359. 450.

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in einzelnen Teilen – besonders aus dem Bereich des Buches Genesis – durchaus eine ambivalente bis verhalten positive Beurteilung. Die in der exegetischen Forschung seiner Zeit relevanten Streitfragen wie die nach der Verfasserschaft streift Semler lediglich am Rande. Seiner Auffassung nach kann es unentschieden bleiben, ob der Pentateuch von Mose selbst oder einer Schreiberschule – wie es Simon vorgeschlagen hatte – verfasst wurde. Ihm scheint es vielmehr naheliegend, dass sich die Tradition der Bezeichnung als Bücher Mosis auf inhaltliche Aspekte zurückführen lässt.24 Obgleich Semler mehrfach positiv auf Jean Astruc und dessen literarkritische Thesen rekurriert, verfolgt er – anders als dann Eichhorn, der Astrucs Beobachtung von zwei Quellen in der Genesis auf alle fünf Bücher Mosis überträgt – diesen Ansatz nicht weiter. Übergriffen werden sämtliche einleitungswissenschaftlich orientierte Sachprobleme von seiner Gesamtsicht auf den ersten Kanonteil: »Die Absicht der Bücher Mosis ist so einzeln, so local, daß alle noch so ungleiche Allegorien und mystischen Deutungen nicht hinreichen, diese Bücher dem nur einigermaßen geübten Christen zur fernern Quelle seiner mehrern christlichen Erkentniß zu machen.«25 Der Pentateuch enthält demnach nichts, was ein christlicher Leser zusätzlich zu den im Neuen Testament und dabei besonders im Johannes-Evangelium und in den paulinischen Briefen überlieferten Offenbarungswahrheiten benötigen würde. Besonders kritisch werden von Semler die Gesetzespassagen der Bücher Exodus bis Deuteronomium gesehen. Auch hier ist wieder zu konstatieren, dass für ihn Fragen des Alters, des Kontextes und der Spezifik des israelitischen Gesetzes, wie sie zeitgleich etwa Johann David Michaelis mit der Abhandlung von den Ehegesetzen des Mosis (1755) und seinem großen sechsbändigen Mosaischen Recht (1770–1775) untersucht hatte, irrelevant sind. Für den Theologen maximal religionsgeschichtlich interessant, gelten – Semlers Auffassung nach – die gesetzlichen Bestimmungen ausschließlich für den Bereich der öffentlichen Sphäre einer fremden Religion und damit lediglich für diejenigen, die sich als Mitglied eben dieser Religionsgemeinschaft verstehen.26 Im Falle der christlichen Rezipienten des Alten Testaments sieht Semler bei einer unproblematisierten Übernahme auch der Gesetzescorpora die zusätzliche Schwierigkeit, dass sie, statt sich auf die Hauptwahrheiten ihrer eigenen Religion zu konzentrieren, fremden Regeln und Bestimmungen folgen.27 Wenn auch diese kritische Sicht deutlich überwiegt, so enthält doch auch der Pentateuch Zeugnisse von religiösen Grundwahrheiten, die aufgesucht und extrahiert werden müssen. Vorwiegend bedarf es eines solchen hermeneutischen Verfahrens im Falle der Interpretation der ersten Kapitel der Genesis. Semler steht jedoch auch in dieser Frage in gewisser Weise außerhalb der zeitgenössischen Fachdiskussion, insofern sich 24 Vgl. Semler, Apparatus VT (s. o. Anm. 11), 62. 25 Johann Salomo Semler, Vorrede, in: Johann Kiddel, Abhandlung von Eingebung der heiligen Schrift mit vielen freiern Zusätzen von D. Johann Salomo Semler. Nebst einem Anhange über das Buch Esther, Halle 1783, Vorrede, unpag. [b4r]. 26 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 58. 27 »So ist es mit mehrern solchen Erzälungen, von der Gesetzgebung; von den mit GOttes Fingern geschriebenen zwo Tafeln, von den Wundern in der Wüste [. . . ] dis sind einheimische Geschichten, Erzählungen und Vorstellungsarten [. . . ]«; Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 64. Vgl. auch Semler, Canon III (s. o. Anm. 1), 375.

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bei ihm keine Überlegungen zu einer Trennung in ersten und zweiten Schöpfungsbericht ausmachen lassen und auch Spezialuntersuchungen zur Spezifik der literarischen Gattung des Mythos, wie sie etwa in der sog. Göttinger Schule durch Michaelis, Eichhorn und Johann Philipp Gabler vorgelegt wurden, fehlen. Ebensowenig beschäftigt er sich mit der hohen poetischen Kraft dieser frühen literarischen Zeugnisse Israels, wie sie im Zuge der deutschen Lowth-Rezeption von Michaelis und dann vor allem von Herder herausgearbeitet wurde.28 Auch hier dominiert vielmehr seine Grundthese, dass eine jede sprachliche Ausformung den Verstehensvoraussetzungen der ersten Adressaten akkomodieren muss. Demnach ist die gesamte Einkleidung der Geschichten von Schöpfung und Sündenfall dem Kenntnisstand und dem Auffassungsvermögen der Zeit ihrer Entstehung geschuldet, womit erstens ein wörtliches Verständnis von vornherein ausgeschlossen ist.29 Zweitens führt – Semlers Auffassung nach – aber auch eine ästhetisch-poetische Sprachanalyse nicht weiter, da durch ein solches Verfahren lediglich kulturgeschichtliche Erkenntnisse gewonnen werden, die dem christlichen Leser keine Applikationsmöglichkeiten bieten. Die in den ersten Kapiteln der Bibel mitgeteilten Hauptwahrheiten sind nämlich für Semler durchaus göttlichen Ursprungs30 und lassen sich auf folgende, religiös fundamentale Kernsätze reduzieren: Der Schöpfungsbericht fokussiert auf den Gedanken »GOtt . . . als Urheber von den andern Dingen ausser ihm, zu unterscheiden«31 und der eigentliche Wahrheitsgehalt der Erzählung Gen3 liegt jenseits aller konkreten Ausformulierungen ihrer zeitgebundenen Fassung in einer radikalen Offenlegung der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen.32 Für den Verweisungszusammenhang des Sündengedankens gilt Semler jedoch generell das Zeugnis des Neuen Testaments – z. B. Jak1, 13–15 – mit seinem Verzicht auf mythologische Einkleidungen als einschlägiger.33 28 Vgl. Robert Lowth, De sacra poesi Hebraeorum praelectiones academicae Oxonii habitae. Notas et epimetra adjecit J.[ohann] D.[avid] Michaelis, Göttingen 1758 und 1761; Johann Gottfried Herder, Über die ersten Urkunden des menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen (1769); ders., Vom Geist der Ebräischen Poesie (1781/82 und 1783), beides in: Rudolf Smend (Hg.), Johann Gottfried Herder. Schriften zum Alten Testament, Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker; 93). 29 Seiner Grundüberzeugung der Freiheit theologischen Arbeitens entsprechend billigt er jedoch anderen Exegeten die Möglichkeit einer solchen Interpretation durchaus zu, bestreitet aber vehement den Anspruch, diese absolut zu setzen: »Wenn sie nur ihres Theils andern denkenden Lesern eben so viel Recht lassen, diesen uralten Vortrag uneigentlich zu verstehen, als eine nützliche Parabola, die nur den Hauptendzweck erreichen sol; ohne daß an den angenommenen Theilen der poetischen oder moralischen Erzälung weiter etwas liege«; Semler, Canon III (s. o. Anm. 1), 333. 30 Vgl. Semler, Canon III (s. o. Anm. 1), 512. 31 Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 62. 32 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 62; Johann Salomo Semler, Versuch einer freiern theologischen Lehrart, zur Bestätigung und Erläuterung seines lateinischen Buchs, Halle 1777, 334. 346. 353. 33 »Indes komt auf eine solche fremde Historie nun wenig an; indem wir den Maasstab unserer eigenen moralischen Ausbesserung [. . . ] nicht aus jener unbekanten Historie der ersten Menschen, sondern aus der christlichen Lehre zu nehmen haben«; Semler, Lehrart (s. o. Anm. 32), 348f. Vgl. auch Semler, Canon III (s. o. Anm. 1), 523. Semler verweist hier besonders auf Jak1, 13–15. Vgl. ders., aaO. 334.

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Deutlich anders geprägt ist Semlers Verhältnis zu anderen Überlieferungssträngen des Alten Testaments. Gerade die Prophetie gilt ihm als diejenige Tradition, die in Teilen die Bindung an partikulare Bezüge überwunden hat. Allerdings ist auch die Verkündigung der Propheten weitgehend an national-politischen Zusammenhängen ausgerichtet; es lassen sich sogar feste funktionale Bindungen an Königtum und Hof ausmachen. Hier nennt er mit Verweis auf Simons These von den Propheten als »Staatssecretairen«34 besonders deren Aufgabe als Annalisten. Es lässt sich auch anhand dieser Schriftengruppe konstatieren, dass Semler keine detaillierten literarkritischen Untersuchungen der einzelnen Prophetenbücher anstrebt. Anders als etwa bei Eichhorn, der im Falle des Jesajabuches auf der Grundlage genauester Strukturanalysen erstmals den Schlussteil ab Kap 40 dem Propheten abspricht und in die Zeit des Exils verortet35 und sogar bereits Anhaltspunkte für eine weitere Abtrennung der letzten Kapitel (Tritojesaja) sieht, findet sich bei Semler ein eher summarisches Zusammengreifen der unterschiedlichsten Prophetengestalten unter einer typisierende Beschreibung des Prophetenamtes. Im Zentrum dieser Typisierung stehen die Opposition gegen Königtum und Kultpraxis sowie die Einführung des Gedankens der Universalität der Gottesbeziehung. Die Propheten36 beziehen sich in ihrer Botschaft auf den erwarteten neuen Bund Gottes mit den Menschen, ausgerichtet an einer qualifizierten transzendenten Messiasidee und richten sich vor allem gegen ein enges partikulares Verständnis der Religion: »Viele von diesen Nebiim haben aber dem gemeinen Aberglauben und der fanatischen Einbildung ihres Volkes sich redlich widersetzt, und haben die allgemeinen moralischen Wahrheiten in ihrem göttlichen Umfange, in ihrer erhabenen Absicht, in ihrer heilsamen Kraft, so beschrieben und vertheidiget: daß sie von Zeit zu Zeit öffentlich gelehret, alle Völker auf der ganzen Erde sollen Theil bekommen, an dieser bessern Erkentnis und Verehrung GOttes [. . . ]«.37 Wertschätzung erfährt auch der persönliche Einsatz, mit dem die Propheten diese neuen Wahrheiten verkündigt haben. Der von Semler vorausgesetzten Perfektibilitätsannahme entsprechend konnte die prophetische Botschaft jedoch nicht in der Deutlichkeit und Klarheit formuliert werden und nicht die Wirkung erzielen, wie sie späteren Zeiten möglich war.38 Auch hier tritt wieder das Argument zu Tage, was uns bereits im Bereich der Genesisinterpretation begegnete. Die mitgeteilten religiösen Hauptgedanken enthalten die neutestamentlichen Schriften in reinerer und konzentrierter Form. Daher sind sie der prophetischen Überlieferung des Alten Testaments vorzuziehen. 34 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 79. 35 »Ferner, je öfter ich die Orakel vom vierzigsten bis zwey und fünfzigsten Kapitel des Jesaias lese, desto weniger will mir einleuchten, daß sie vor dem Babylonischen Exil abgefaßt seyn sollten«; Johann Gottfried Eichhorn, Einleitung in das Alte Testament, Band IV, Göttingen 41824, 89. 36 »Die Verfasser solcher Aufsätze heissen bey den Juden Nebiim; ein Nabi; und die Nebuah bedeutet eine Gabe oder Fertigkeit in solchen Aussprachen, Entscheidungen, Anzeigen, Urtheilen, die sich auf den politischen und moralischen Zustand des gemeinen Wesens beziehen, um es zu bessern und zu erhalten, um durch Hoffnung und Zuversicht, oder durch Furcht und Drohungen die nöthigen Bewegungsgründe für Regenten und Unterthanen mitzutheilen«; Semler, CanonI(s.o.Anm.20),78. 37 Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 79f. Vgl. auch Johann Salomo Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Vierter Theil, Halle 1775, 424f. 38 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 80; Semler, Canon 2I (s. o. Anm. 20; 2. Auflage), 40.

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Bildete die Weisheitsliteratur den eindeutigen Schwerpunkt von Semlers akademisch-literarischer Beschäftigung mit dem Alten Testament, so gilt dies in besonderer Weise für den Psalter. Auf seine Bedeutung für Semlers Verhältnis zum Alten Testament ist daher – diesen Zusammenhang abschließend – noch einmal näher einzugehen. Im ersten Band der Kanonschrift findet sich der überschwängliche Ausruf: »So würde Pythagoras, Plato, Cicero etc. von ganzem Herzen manche Psalmen gesungen haben, wenn er sie gekant hätte.«39 Für Semler hat dieses Buch eine Sonderstellung unter den Schriften des Altes Testaments inne, insofern es die Grundwahrheiten der Religion auf besonders greifbare Weise präsentiert. Wie bereits anhand der Vorrede zu Baumgartens Erbauliche[r] Auslegung der Psalmen von 1759 deutlich wird, misst Semler dem Psalter eine hohe Bedeutung als Erbauungsbuch zu.40 Die überlieferten Gebete spiegeln vorwiegend allgemeine religiösmoralische Grundgestimmtheiten wider, die als anthropologisch basal gelten dürfen. Weitgehend von konkreten biographischen, kultischen oder politischen Situationen absehend, thematisieren die Psalmen in konzentrierten Gedanken elementare Erfahrungen des Gottes-, Welt und Selbstumgangs. Im Zentrum der Sammlung, die in ihrer vorliegenden Fassung der Liturgie des alttestamentlich-jüdischen Gottesdienstes entstammt, steht die messianische Hoffnung, die über die Figur Davids vermittelt wird.41 Dass diese direkte Bezugnahme auf die Biographie eines geschichtlichen Königs notwendig war und zudem das Mitzuteilende ausschließlich in bild- und metaphernreicher Sprache gesagt werden konnte, begründet sich – gemäß der vorausgesetzten Perfektibilitätsannahme – im ›kindlichen Alter‹42 des Großteils der ursprünglichen Rezipienten. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang Semlers Sicht auf die Genese der Messiaserwartung. Diese Hoffnung wurde demzufolge bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und ihrer ersten liturgischen Ausgestaltung von besonders Befähigten auf einen jenseitigen und universal ausgerichteten Bezug hin orientiert und mit keinerlei historisch-politischen Vorstellungen verbunden.43 Diese hochstufige Form der messianischen Erwartung war also in Israel vorhanden, was auch im Zeugnis der Propheten seinen Niederschlag fand.44 Im Zuge der religiösen Entwicklung des Judentums verlor diese allgemeine Ausrichtung allerdings an Evidenz, die Erwartungen wurden zunehmend immanenter und wiesen einen immer höheren partikularen Bezug auf.45 Bemerkenswert ist, dass Semler 39 Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 60. 40 Semler, Vorrede, in: Baumgarten, Psalmen I (s. o. Anm. 6), 8. 41 Zur These eines analogen Bezugs zwischen König David und dem erwarteten Messias vgl. auch Semler, Vorrede, in: Baumgarten, Psalmen I (s. o. Anm. 6), 11. 42 Vgl. Semler, Vorrede, in: Baumgarten, Psalmen I (s. o. Anm. 6), 11. 43 Vgl. Semler, Vorrede, in: Baumgarten, Psalmen I (s. o. Anm. 6), 9f. 44 Vgl. Semler, Vorrede, in: Baumgarten, Psalmen I (s. o. Anm. 6), 11f. 45 »[U]nd es ist erst in den Zeiten kurz vor dieser grossen Person wirklicher Ankunft geschehen, daß ein grosser Theil der Juden sich lauter irdische und sinliche Vergnügungen von dem Meßia zu versprechen anfieng [. . . ]«; Semler, Vorrede, in: Baumgarten, Psalmen I (s. o. Anm. 6), 12. Dass diese Einschätzung der Entwicklung der Messiasvorstellung innerhalb der israelitisch-jüdischen Religion diametral den heutigen exegetischen Ergebnissen entgegensteht, braucht im Zusammenhang unserer Fragestellung nicht eigens betont zu werden.

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mit dieser Sicht in deutlichem Gegensatz zu der vorherrschenden, von Reimarus begründeten und von Lessing popularisierten These steht, Ideen einer transzendenten Religion seien Israel allererst im Exil durch den Kontakt mit fremden Völkern und Kulturen möglich geworden.46 Der eigentliche eschatologische Aussagegehalt und die universale Perspektive der Psalmen wurden – nach Semler – erst wieder von den ersten christlichen Gemeinden und der entstehenden Kirche aufgegriffen, die im Psalter deutliche Hinweise und Parallelen zum Leben und der Verkündigung Jesu erkannten. Diese Interpretationsdimension sowie die unter diesem Gesichtspunkt erfolgte Eingliederung des Psalters in die Liturgie des christlichen Gottesdienstes führte dazu, dass über die christologische Auslegung der eigentliche Aussagegehalt der Psalmen nunmehr ausschließlich in der Kirche erkannt und rezipiert wurde und dieses Buch so als ein genuin christliches zu bezeichnen sei.47 Eine solche Einschätzung erklärt, dass der Psalter in Semlers theologischer Bewertung des Alten Testaments stets eine Sonderstellung einnimmt und in viel direkterem Maße als andere, von ihm hochgeschätzte alttestamentliche Textpassagen eine innerlich religiöse Bezugnahme des christlichen Rezipienten zulässt. Trotz des festgestellten hohen Gehalts an unmittelbar evident werdenden göttlichen Wahrheiten müssen aber auch die Psalmen im Zuge des Auslegungsvorgangs zunächst auf ihren Literalsinn und ihren historischen Verstand hin untersucht werden, um die wenigen auf die Entstehungsumstände zurückgehenden Einträge und die vorkommenden Anthropomorphismen in der Rede von Gott vom moralischen Gehalt dieser Gebete zu trennen. Die sich in dem frühen Vorwort zu Baumgartens Psalmenauslegung zeigende deutliche christologische Interpretationsperspektive kann jedoch in gewisser Weise auch als Reminiszenz Semlers gegenüber seinem Lehrer verstanden werden. Aus Hinweisen zur redaktionellen Gestaltung der Bände lässt sich die große Verpflichtung ablesen, die er gegenüber dem Werk Baumgartens empfand. Eine Modifikation erfährt fast folgerichtig die Interpretation des Psalters in Semlers 1772 veröffentlichten Ascetischen Vorlesungen, der publizierten Fassung der von ihm in Halle gehaltenen Erbauungsstunden. Hier liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf einem durchgehenden christologischen Bezug. Semler lässt diese Möglichkeit frei, verweist aber auch auf die Legitimität anderer Verstehenshinsichten, die dennoch eine hohe applikative Kraft erreichen können.48 Der Psalmenbeter wird im Zusammenhang dieser Betrachtungen als »zuverläsiger Lehrer anderer Menschen«49 bezeichnet und mit den Propheten 46 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Im Auftrag der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, hg. von Gerhard Alexander, Band I, Frankfurt am Main 1972, V.4 § 14; 805ff.; Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), in: Ders., Werke 1778–1781, hg. von Arno Schilson und Axel Schmitt, Frankfurt am Main 2001 (Gotthold Ephraim Lessing Werke und Briefe; 10), 73–99. 47 Semler, Vorrede, in: Baumgarten, Psalmen I (s. o. Anm. 6), 12. 48 »Wenn ich nun gleich hier von vielen, auch neuen, Auslegern abgehe: so habe ich doch deswegen weder mich noch andere an gründlicher Erbauung gehindert, oder zu hindern mir vorgesezt«; Johann Salomo Semler, Ascetische Vorlesungen, zur Beförderung einer vernünftigen Anwendung der christlichen Religion. Erster Band, Halle 1772, 110. 49 Semler, Ascetische I (s. o. Anm. 48), 52.

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Israels sowie mit den Philosophen, Dichtern und Gesetzgebern der Völker in eine Reihe gestellt.50 Der Vorteil des Psalters – so kann festgehalten werden – besteht nach Semlers Sicht in der Breite der thematisierten Glaubenssituationen und religiös-moralische Grundgestimmtheiten sowie in dem hohen Gehalt unmittelbar zugänglicher göttlicher Wahrheiten. Unter dieser Voraussetzung erfahren besonders die Schöpfungspsalmen,51 aber auch alle diejenigen Psalmen, die keine direkte Bindung an die individuelle Lebenssituation des ersten Psalmenbeters aufweisen, eine deutliche Wertschätzung. Als Beispiel für eine konkrete Auslegung sei kurz auf Semlers Interpretation von Psalm8, der beinahe als sein ›Lieblingspsalm‹ bezeichnet werden könnte, eingegangen. Im Zentrum der Auslegung steht die parallel formulierte Frage von v5 »Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?« Den hier gebrauchten Parallelismus versteht Semler als Stilmittel zur Vertiefung der Zentralaussage des gesamten Psalms. Er verweist bezüglich dieser Wendung auf die Tradition eines direkten Christusbezugs, der aufgrund der Zitation in Mt21, 16 und der direkten Allegation in Hebr2, 6–9 traditionell vorgenommen wurde, allerdings keineswegs als bindend betrachtet werden kann. Die hier beschriebene Ambivalenz der Stellung des Menschen im Gesamtzusammenhang der Schöpfung lässt sich auch über das Erfahrungswissen verifizieren52 und stellt gerade daher einen geeigneten Punkt für die Anwendungsebene dar. In der Verantwortung im Umgang mit der Schöpfung und in der Warnung vor einer Selbstüberhebung des Menschen im Gegenüber zu den Mitgeschöpfen53 sieht Semler einen Schwerpunkt des möglichen Applikationsbezugs. Der andere besteht seiner Meinung nach darin, dass der Herrschaftsauftrag das ständige Bemühen um Erweiterung der Kenntnisse und Fähigkeiten impliziert. Die Betrachtungen zu Psalm 8 enden folgerichtig – wenn auch hinsichtlich des zugrunde liegenden Textes durchaus originell – mit einem Plädoyer für die Legitimität und Freiheit der wissenschaftlichen Arbeit: »[. . . ] wir mögen Mathematik, Astronomie, Physik, Chymie, Oekonomie etc. etc. so fleißig treiben, als wir nur können; wir thun gerade das, was GOtt von Menschen will gethan, erforschet und erkant haben.«54 50 »Alle haben etwas dazu beigetragen, daß die Gewalt der Unvernunft, die Herrschaft der Unwissenheit und der daraus leichter entstehenden Laster, also das Unglück und Elend der damals lebenden Menschen verringert werden solte«; Semler, Ascetische I (s. o. Anm. 48), 53. 51 Neben Ps8 ist es vor allem Ps19, der von Semler in seiner Applikationsfülle herausgestellt wird: »Der 19te Psalm enthält eine erhabene Betrachtung über die Grösse und Herrlichkeit GOttes, aus der so deutlichen algemeinen Offenbarung, welche GOtt durch Hervorbringung dieser sichtbaren Welt, bewerkstelliget und uns Menschen mitgetheilet hat; dergleichen schon im 8 Psalm dagewesen«; Semler, Ascetische I (s. o. Anm. 48), 145. 52 »Der menschliche Verstand, so weit er wirklich angewendet wird, ist unleugbar in der Lage und Bestimmung, sich Vortheile aus den übrigen mit ihm verbundnen Geschöpfen zu verschaffen«; Semler, Ascetische I (s. o. Anm. 48), 117. 53 »Hier können sich viele Menschen leicht prüfen, und nach ihrer eigenen Geschichte sich bald näher kennen lernen, ob sie diese grosse und erhabene Bestimmung auch bedenken und vor Augen behalten, in ihren bisherigen Handlungen und Veränderungen?« Semler, Ascetische I (s. o. Anm. 48), 121. 54 Semler, Ascetische I (s. o. Anm. 48), 123.

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4. Kommen wir unseren Gedankengang abschließend auf die Semlers Einzelpositionierungen zugrunde liegende Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum sowie die daraus resultierende Neubestimmung des hermeneutischen Zugangs zum Alten Testament. Sämtliche im Zusammenhang von Semlers exegetischen und kanonkritischen Untersuchungen erzielten Resultate basieren auf der von ihm vorgenommenen grundlegenden Revision der altprotestantischen Schriftlehre mit allen daraus folgenden Implikationen. Unter diesen Infragestellungen ist an erster Stelle der Abweis der – den Auseinandersetzungen um das katholische Traditionsprinzip erwachsenen – reformatorische These der Entgegensetzung der sich göttlichen Ursprungs verdankenden Heiligen Schrift und der traditiones humanes zu nennen. Für Semler dagegen ist die Schrift aus den Bemühungen ihrer menschlichen Autoren erwachsen und stellt damit ebenfalls ein Traditionsprodukt dar. Aus dieser Bestimmung resultiert für ihn die Grundunterscheidung, nach der die ihrer geschichtlichen Situation verhafteten menschlichen Formulierungen der Bibel vom bleibenden Gehalt der geoffenbarten göttlichen Wahrheit zu unterscheiden sind. Zur Bezeichnung dieser Differenz gebraucht er immer wieder das Begriffspaar Heilige Schrift und Wort Gottes. Letzteres ist seinem Wesen nach unveränderlich und übersteigt so jeden konkreten historischen Bezug. Es teilt sich dem Gewissen des Christen als dessen hermeneutisch-religiöse Instanz mit und weckt in ihm Glauben. Dem Einzelnen wird die Heilige Schrift also immer nur in einem Auslegungsvorgang, der durch die Wahrnehmung und Ablösung des historischen Sinnzusammenhangs einen Zugang zu dem im Text verborgenen Offenbarungsgehalt ermöglicht, aktual zum Wort Gottes. Diese Struktur betrifft den Gesamtbereich der biblischen Überlieferung, in noch stärkerem Maß als für das Neue Testament ist sie jedoch für den Umgang mit den alttestamentlichen Büchern einschlägig. Hier erfordert die Absage an das Verständnis eines geschlossenen, göttlich inspirierten Offenbarungscorpus der Heiligen Schrift, deren Wahrheiten aufeinander verweisen und sich auseinander herleiten lassen, eine ganz neue Verhältnisbestimmung zu den überlieferten Texten. Gehören sie als »Religionsbücher der Juden, (als Juden,)«55 doch in erster Linie einer fremden Religion an und zeigen in ihrem überwiegenden Bestand einen großen Abstand zu den zentralen Aussagen der Verkündigung Jesu und der apostolischen Lehre. Für Semler ist es vor allem die Beobachtung, dass das Alte Testament in weiten Teilen das Zeugnis einer Partikularreligion darstellt, insofern nicht nur die Hoffnungen und Erwartungen auf den engeren Bereich des national-politischen Bezugsrahmens hin ausgerichtet sind, sondern zudem selbst die extrahierten religiös bedeutsamen Sätze der Überlieferung stets aufs Engste mit rechtlich-bürgerlichen sowie ethischen Bestimmungen verflochten sind und sich aus diesem Kontext nicht ohne weiteres lösen lassen. Für ihn ergibt sich bei der Wahrnehmung der alttestamentlichen Überlieferung das Problem der »Mischung der Religion und der bürgerlichen Societät«.56 Eine solche politisch-partikulare Fassung steht für 55 Semler, Canon IV (s. o. Anm. 37), 424. 56 Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 57.

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Semler in direktem Gegensatz zu dem Wesen der christlichen Religion, das von ihm stets mit den Attributen »frei«, »universal« und »geistlich« beschrieben wird, und kann daher nur als ältere, unvollkommenere und überwundene Stufe der Gottesvorstellung und der religionsgeschichtlichen Entwicklung verstanden werden.57 Dieses Problem etwa mit dem Verweis auf den heilsgeschichtlichen Zusammenhang beider Testamente aufzulösen, ist für Semler nicht möglich, da er der israelitisch-jüdischen Religion generell keine andere Beziehung zur christlichen zubilligt, als sie etwa für den entwickelten heidnisch-philosophischen Gottesbegriff anzunehmen ist. In Anlehnung an die logosspermatikos-Lehre rechnet er wie unter allen Völkern – so auch in Israel – mit dem Vorkommen höherer Erkenntnis bei Einzelpersonen, die allerdings lediglich Vorstufen der vollen Einsicht, die erst mit der Offenbarung in Jesus Christus gegeben ist, darstellen.58 Beiden Religionsformen gegenüber erweist sich das Christentum als qualifizierter, weil erst hier eine tatsächliche Allgemeinheit der Ansprache, Zugänglichkeit zu den Gehalten und Innerlichkeit der Gottesbeziehung gegeben ist. Diese Einschätzung der religiösen Menschheitsgeschichte korrespondiert mit Semlers Sicht auf die geschichtliche Verhaftetheit religiöser Vorstellungen: Die Anfangsgestalt einer moralischen Größe kann demnach nie bereits ihre vollkommene Ausprägung darstellen, da sich jede neu in die Geschichte tretende Idee in ihrer Erscheinung zunächst notwendig an die Umstände ihrer Erscheinungszeit anpassen muss, um überhaupt ergriffen werden zu können. In jeder dieser Ideen liegt nach Semlers Auffassung dabei ein aktives Moment im Sinne einer internen Selbstdurchsetzungskraft gegründet, durch die ihr Gehalt im Verlauf der Geschichte über eine sukzessive Abstreifung der historisch bedingten Einkleidungen an Profil gewinnt. Dieses Entwicklungsmodell bildet den geschichtsphilosophischen Kern der Semlerschen Konzeption. Der Vorteil der israelitisch-jüdischen Religion liegt allein darin, durch große Einzelgestalten wie Moses und Abraham, die Propheten oder den Psalmenbeter den Mitmenschen einen Eindruck von der Unvergleichlichkeit, Einzigkeit und bezwingenden Kraft Gottes gegeben zu haben. Diese Funktion ist jedoch letztlich durch die viel deutlichere und leichter fassbare »Lehre und Historie Christi«59 für christliche Leser obsolet geworden. Das Alte Testament kann demnach in weiten Teilen nicht mehr als für Katechese, Gottesdienst oder Andacht60 geeignet betrachtet werden. Aus dieser Voraussetzung erklärt sich auch Semlers immer wieder geäußertes Insistieren auf der Notwendigkeit von Bibelauszügen, die alle nationalen und partikularen Bezüge und damit einen Großteil der alttestamentlichen Überlieferung ausschließen.61 In diesem Verfahren betrachtet er sich den Prämissen von Luthers Schriftumgang verpflichtet, der ebenfalls unter den biblischen Büchern eine deutliche Differenzierung nach dem Krite57 »Ein Grundsatz, der cultivierten Völkern ganz lächerlich und unerträglich vorkommen muste [. . . ]«; Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 43. 58 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 54. 59 Semler, Canon IV (s. o. Anm. 37), 425. 60 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 64f. 61 Vgl. Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 70.

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rium ihres Christusbezugs vorgenommen hatte.62 Ein solcher Auszug »würde [so Semler] die christliche Lehre und Religion viel leichter überzeugend und durch Erfahrung empfehlen, als die kalten Wiederholungen der Beschreibungen von Begebenheiten, die ganz und gar ausländisch, ganz fremd und unbekannt für uns und unsern ganz andern Geschmack in der Erkentnis und Moral sind und bleiben.«63 Allerdings eignet es Semlers Denken, dass er auch in der Frage einer abgestuften Relevanz der biblischen Schriften hinsichtlich ihrer Nähe zum Glaubensgrund keine der von ihm vorgelegten Bestimmungen als allgemein verbindlich setzt. So kann auch keine Auswahl aus den Büchern in gleicher Weise für alle Christen Geltung beanspruchen, da die menschliche Erkenntnisfähigkeit und die individuelle religiöse Prägung als unendlich differenziert und grundsätzlich entwicklungsfähig gedacht werden. Daher sind sowohl ein eklektischer Umgang mit der alttestamentlichen Überlieferung als auch das Festhalten am traditionellen dogmatischen Kanonprinzip als legitim anzusehen. Seinen über die umfassende Lehr- und Publikationstätigkeit geleisteten eigenen Beitrag versteht Semler vielmehr als eine Anregung zur Neubestimmung der exegetischen Aufgaben im akademischen Diskurs sowie als Unterstützung eines freien und ungebundenen Schriftumgangs unter allen Christen. Die Forderung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Alten Testament entspringt also letztlich nicht nur dem Anspruch einer selbstbewussten akademischen Theologie, wie sie in der Etablierung der Exegese als von dogmatischen Prämissen freie, selbständige theologische Grunddisziplin ihren Ausdruck findet, sie ist vielmehr unmittelbar auf Semlers Christentumsverständnis selbst zurückzuführen.

62 Vgl. Semler, Kiddel (s. o. Anm. 25), Vorrede, unpag. [b4r/v] und Semler, Canon II (s. o. Anm. 23), 126–128. 63 Semler, Canon I (s. o. Anm. 20), 70. Vgl. auch 84. 86.

Johann Gottfried Herder Nationalkultur und archaische Poesie Markus Buntfuss Kaum ein Autor im goethezeitlichen Deutschland hat sich in vergleichbarer Weise um die Aufklärung sowohl des Christentums als auch des Judentums bemüht, wie Johann Gottfried Herder. Diese Feststellung ist insofern mehr als ein theologiegeschichtlicher Gemeinplatz, als sie das Ergebnis eines durch die neuere Forschung modifizierten Herderbildes und eines erweiterten Verständnisses der Aufklärung einschließlich der Bedeutung des Judentums für das Werk Herders und für die Aufklärung ist. Als Aufklärer bündelt Herder in seinem Werk die kultur- und geschichtsphilosophischen, die ästhetischen, sprach- und religionstheoretischen Modernisierungstendenzen seiner Zeit mit dem Ziel einer umfassenden »Humanisirung des Christenthums«.1 Und als Aufklärer ist Herder als kongenialer Ausleger der heiligen Poesie der Hebräer sowie als Visionär einer religionskulturellen Zusammenbestehbarkeit von Christentum und Judentum unter dem gemeinsamen Dach Europas hervorgetreten. Ausgerechnet seine intensive und lebenslange Beschäftigung mit den jüdischen Religionsurkunden und dem Judentum wurde und wird Herder jedoch nicht nur wohlwollend ausgelegt. Neben berühmten Würdigungen insbesondere auch von jüdischer Seite2 mehren sich seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts äußerst kritische, bisweilen sogar verzerrende Beurteilungen von Herders Stellung zum Judentum, die oft nicht einmal auf einer eingehenden Herderlektüre beruhen, sondern sich auf herausgerissene Zitate stützen und jede historische Kontextualisierung von Herders Position vermissen lassen.3 Diese Stimmen reagieren freilich ihrerseits auf eine Herderrezeption, die genauso eklektisch verfuhr und ihn seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert für einen nationalistischen Chauvinismus oder sogar einen antisemitischen Rassismus zu vereinnahmen suchte.4 1 2

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Ferdinand Christian Baur, Geschichte der christlichen Kirche, Bd. 5, Kirchengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, hg. v. Eduard Zeller, Tübingen 1862, 44. Vgl. Ludwig Geiger, Die deutsche Literatur und die Juden, Berlin 1910 und in jüngster Zeit v. a. Frederick M. Barnard, Herder on Nationality, Humanity, and History, McGill-Queen’s University Press 2004. Vgl. dazu unten Absatz 3. Aufklärung von Christentum und Judentum. Besonders ärgerlich ist die Blütenlese und tendenziöse Paraphrasierung durch den Herausgeber der Ausgabe von Herders Werken in Meyers Klassiker Ausgaben, 5 Bde., Leipzig und Wien o. J., Theodor Matthias, Bd. 1, 56f.

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Die neueste Herderforschung sieht sich deshalb vor allem auch mit der Aufgabe konfrontiert, Herders Werk von ideologischen Vereinnahmungen und ideologiekritischen Verdächtigungen gleichermaßen zu befreien, um – vielleicht erstmals – den ganzen Herder in seinem geistesgeschichtlichen Kontext in den Blick zu bekommen. Vor diesem Hintergrund geht es mir im Folgenden nicht um eine nochmalige Beurteilung von Herders Stellung zum Judentum,5 auch wenn diese Thematik durchaus anklingt, sondern um eine Skizze seiner Epoche machenden Einsichten in den Zusammenhang von Kultur und Nation sowie von Poesie und Religion im Interesse an einer Aufklärung und Humanisierung sowohl des Christentums als auch des Judentums.

1. Herders Konzept kultureller Ursprünglichkeit Am Anfang stand die Frage nach dem Anfang. Als Mitbegründer der modernen Kulturphilosophie erkennt Herder die Frage nach dem Ursprung als die ursprüngliche Frage der Kultur. In der Vorfassung zur Älteste[n] Urkunde des Menschengeschlechts (1774/76), dem 1993 erstmals edierten Text Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen (∼1769)6 lässt Herder die Geburtsstunde der Kultur aus der »Frage an den Ursprung der Dinge«7 entspringen. Das Merkmal jeder ursprünglichen kulturellen Selbstverständigung seien die Fragen: »wie die Welt? Wie die Menschen? Wie der jetzige Zustand der Welt und der Menschheit? wie einzelne Merkwürdigkeiten und Erfindungen? wie insonderheit die Nation in der man lebte, mit ihrer Sprache und Sitten und Denkart entstanden wäre? Dies ohngefähr war der Katechismus jeder Nation, da sie aus dem rohen Aberglauben zuerst zu sich selbst kam.«8

Der Anfang der Kultur entspringt aus der Frage nach dem Anfang. Die Aufgabe einer Philosophie der Kultur besteht deshalb im Rückgang auf die anfänglichen Dokumente kultureller Selbstverständigung. Damit wird Herder zum Vater der genetischen Methode, die das Wesen einer Erscheinung aus ihrem Ursprung erkennt. Denn – so Herder – »in dem Ursprung eines Phänomenon [liegt, M.B.] aller Schatz von Erläuterung, durch welche die Erklärung desselben Genetisch wird.«9 Mit dieser Ursprungsbegeisterung gibt sich Herder zwar auch als einer von vielen zeitgenössischen Anhängern Rousseaus 5

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Vgl. die keineswegs unkritischen aber ausgewogenen Darstellungen von Wolf-Daniel Hartwich – Zwischen Talmudismus und Antisemitismus. Lesarten des Judentums bei Herder, in: Ronen Reichman (Hg.), »Der Odem des Menschen ist eine Leuchte des Herrn«. Aharon Agus zum Gedenken, Heidelberg 2006, 139–158 – und Ernest A. Menze – Herders ›deutsche Art von ›Humanität‹‹ und die jüdische Frage: Geschichtliches Umfeld und moderne Kritik, in: Judaica, Bd. 49, 1993, 156–169. Zu Entstehung und Edition vgl. den Kommentar von Rudolf Smend in: Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, hg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a., Frankfurt a.M. 1985–2000, Bd. 5, 1328–1331. Diese Ausgabe im Folgenden abgekürzt als FA. FA5, 12. Ebd. Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877–1913, Ndr. Hildesheim 1978/79, Bd. 2, 62. Diese Ausgabe im Folgenden abgekürzt als SWS.

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zu erkennen. Im Unterschied zu diesem jedoch beurteilt er die weitere Geschichte einer Kultur nicht als Abfall von ihrem idealen Ursprung, sondern als Entfaltung ihrer Anlagen und Kräfte mit dem Ziel der Erfüllung ihrer Bestimmung. Insofern ist Herders Kulturentstehungslehre nicht nur archäologisch, sondern auch teleologisch bestimmt. Das Ziel jeder Kultur ist nicht schon am Anfang verwirklicht, sondern wird erst im Verlauf ihrer Entwicklung und Vollendung erreicht. Doch zurück zum Anfang, beziehungsweise zur Frage nach dem Anfang, die sich – wie aus dem obigen Zitat erhellt – nicht primär für den Einzelnen stellt, sondern sich immer schon auf dem Boden einer menschlichen Kulturgemeinschaft erhebt – und das ist für Herder die Nation, beziehungsweise das Volk. Im Unterschied zu Rousseau kennt Herder keinen Naturzustand der Menschheit, der dem Zustand ihrer Vergesellschaftung voraus liegt. Herder bestimmt den Menschen vielmehr ursprünglich als gesellschaftliches Wesen: »Der Naturstand des Menschen ist der Stand der Gesellschaft«.10 Diese konstituiert sich Herder zufolge weder vertrags- noch landrechtlich,11 sondern durch gemeinsame Abstammung, eine gemeinsame Sprache und durch gemeinsame religiöse Vorstellungen. Herder darf damit als der Erfinder der Kulturnation gelten. Seit den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur (1767–1768) erkennt er das Genie einer Nation in ihrem Nationalcharakter, der wesentlich durch Sprache und Religion bestimmt wird. Die Sprache der Religion ist deshalb auch diejenige Ausdrucksform, in der sich die anfänglichen Kulturen über ihren Ursprung Klarheit zu verschaffen suchen. Der älteste »Katechismus jeder Nation«12 so Herder beantwortet die Frage nach dem Woher der eigenen Nation mit den Mitteln der Religion: »Die Antwort geriet also nach dem Geist der vorigen Zeitalter, Mythisch. [. . . ] Jedwede Nation dachte sich also die Entstehung der Welt und des Menschengeschlechts, und ihres Zustandes, und ihrer Völkerschaft in Begriffen der Religion: alles bekam Theologische Farbe. [. . . ] Natürlich, daß diese Theologische Traditionen auch so National sein mußten, als etwas in der Welt. [. . . ] Welt und Menschengeschlecht und Volk ward also nach Ideen seiner Zeit, seiner Nation, seiner Kultur errichtet. Im Kleinsten und im Größesten National und Lokal.«13

Aus dem Bisherigen dürfte deutlich geworden sein, dass Herder von einem ursprünglichen Zusammenhang zwischen Kulturentstehung, Sprachentwicklung, Religionsgeschichte und Nationwerdung ausgeht. Der Ursprung der Kultur wird durch ein auseinander unableitbares Knäuel von sprachlichen, religiösen und nationalen Motiven markiert und verschattet zugleich. Ein wesentliches Hilfsmittel zur Aufhellung dieses gleichursprünglichen kulturgenetischen Motivbündels ist für Herder die Menschenalteranalogie. Was am Anfang der Menschheit war, ist mit dem zu vergleichen, was die Kindheit jedes einzelnen Menschen ausmacht. »Die Kindheit des Menschengeschlechts 10 FA6, 362. 11 Gegen Wilhelm Schmidt-Biggemann, Elemente von Herders Nationenkonzept, in: Regine Otto (Hg.), Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996, 27–34. 12 FA5, 12. 13 AaO. 13.

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ist im Großen, was die Kindheit und Jugend der Menschen im kleinen ist.«14 Das herausragende Merkmal aber sowohl der menschheitlichen als auch der individuellen Kindheit ist die Elementarfunktion der Sinnlichkeit. Sinnlich sind die kindlichen Mittel des Erlebens und des Ausdrucks, sinnlich sind deshalb auch die ursprünglichen kulturellen Ausdrucks- und Darstellungsformen. Ursprünglichkeit korreliert deshalb bei Herder mit Sinnlichkeit und umgekehrt: Sinnlichkeit liefert den Hinweis auf kulturelle und anthropologische Ursprünglichkeit. Herders erstes großes Projekt besteht deshalb in dem Entwurf einer Ästhetik des Gefühls, die der elementaren Sinnlichkeit des Menschen Rechnung trägt. So vor allem in der frühen Studie Zum Sinn des Gefühls (∼1769) und in dem zu Lebzeiten unveröffentlichten Vierten Kritischen Wäldchen – einer Auseinandersetzung mit Friedrich Just Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1767). Auf der Basis einer Epistemologie der Sinnlichkeit entwickelt Herder dort eine »Physiologie der Sinne«,15 die er zu einer umfassenden »Philosophie des Gefühls«16 ausarbeitet, wobei das Gefühl als Grund und Inbegriff für das Ganze der sinnlichen Erkenntnis fungiert und als umfassendes »Organ der Seinserfahrung und der in ihr sich bildenden Selbsterfahrung gedacht«17 wird. Sowohl sinnesphysiologisch als auch genetisch deutet Herder das Gefühl als den ursprünglichsten Sinn und als das primäre Organ der Selbst- und Weltwahrnehmung.18 Diese frühe Philosophie des Gefühls spiegelt sich auch in Herders ästhetischen und hermeneutischen Überlegungen zur dichterischen Sprache und zum geschichtlichen Verstehen. In ihnen versucht er sich über den inneren Zusammenhang von Sinnlichkeit und Sprachlichkeit Rechenschaft zu geben. Auf der Suche nach einer der Sinnlichkeit des Gefühls entsprechenden sprachlichen Form wendet sich Herder der Poesie zu. Dabei kommt den unveröffentlichten Dispositionen und Fragmenten Von der Ode (∼1764– 65), die er sich im Zusammenhang eines geplanten Grundrisses zur Poetik gemacht hatte, eine zentrale Bedeutung zu. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Spannung zwischen Gefühl beziehungsweise Affekt und Ausdruck. »Empfindungen und Worte sind sich so gar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm, durchbraust unsre ganze Brust inwendig eingeschlossen. Sein erstes Wort, ist ein Begriff; er schwächt sich, wälzt zu klaren Begriffen, zum Selbstgefühl, zum Bewußtsein, zur Vernunft herunter; und die wird jetzt wortreich, sie sagt, was sie nicht mehr empfindet«.19

Im Anschluss an Johann Georg Hamanns These von der Poesie als der Mutterspra-

14 Johann Gottfried Herder, Briefe, Gesamtausgabe, hg. v. Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, 10 Bde., Weimar 1977–96, Bd. 1, 99. 15 FA2, 301. 16 AaO. 294. 17 Jürgen Brummack in seinem Kommentar, FA4, 986. 18 »Das Gefühl ist gleichsam der erste, sichre und treue Sinn, der sich entwickelt: er ist schon bei dem Embryon in seiner ersten Werdung und aus ihm werden nur mit der Zeit die übrigen Sinne losgewunden« (FA2, 325). 19 FA1, 66.

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che des menschlichen Geschlechts,20 interpretiert Herder die unspezifische Gattung der Ode21 als »die vollkommen sinnlichste Sprache einer unvermischten Empfindung«.22 Dabei geht es Herder jedoch nicht um eine poetologische Gattungsbestimmung, sondern um das Wesen der Dichtkunst im Allgemeinen. Gemäß der genetischen Methode, wonach der Ursprung eines Phänomens auch Aufschluss über dessen Wesen gibt, repräsentiert die Ode nicht nur den »Ursprung der Dichtkunst«23 sondern fungiert gleichsam als »Maßstab der ganzen poetischen Seele«.24 In der Ode machen »Gegenstand und Empfindung eine Art Einheit aus«.25 Sie ist deshalb für Herder die erste und sinnlichste Form dichterischer Rede und wird im emphatischen Sinne als ursprüngliche Dichtung verstanden. Gleichwohl ist schon dem Ursprung die Entzweiung eingesenkt, denn das gedichtete Lied stellt einen Sprung aus dem Medium der Empfindung in das Medium der Sprache dar und ist kein unmittelbarer, sondern ein vermittelter Ausdruck des Gefühls.26 Bereits die Ode als erste und sinnlichste Form dichterischer Rede »ist also ein künstlicher Ausdruck einer künstlichen Empfindung durch die Sprache; – Die Empfindung drückt sich also eigentlich durch Zeichen aus«.27 Auch das empfindungsreichste Lied besteht nicht aus sinnlicher Unmittelbarkeit, sondern lebt aus der eigentümlichen Brechung im Medium der Einbildungskraft. Dichterischer Ausdruck ist deshalb keine bloße Nachahmung der Natur, sondern ein in der Einbildungskraft erzeugter Ausdruck. Die Einbildungskraft fungiert somit als Organ der Vermittlung zwischen Affekt und Ausdruck. Nur über sie kann die Empfindung ihren adäquaten Ausdruck finden und einen neuen Eindruck stiften. In der Ode als Gesang gelingt diese Vermittlung in besonderer Weise, weil der Dichter qua Sänger seinen sinnlichen Eindruck auch sinnlich zum Ausdruck bringt. Literaturgeschichtlich und religionsgeschichtlich gilt das in besonderer Weise für die Ode der Hebräer, in der die »hohe poetische Theopnevstie«28 im Gesang sinnlich zum Ausdruck gebracht wird. »Die Ursprünglichkeit der hebräischen Dichtkunst besteht in [der, M.B.] Harmonie von Innen und Außen, Empfindung und Ausdruck, und kann deshalb als ›sinnlich-seelische Ursprünglichkeit‹ bezeichnet werden.«29 20 Vgl. Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler, 6 Bde., Wien 1949–1957, Ndr. Tübingen/Wuppertal 1999, Bd. 2, 197. 21 ›Ode‹ bedeutet zu Herders Zeit ein »lyrisches Gedicht im hohen Stil« (Vgl. Karl Vietor, Geschichte der deutschen Ode, München 1923; zit. nach Hans Dietrich Irmscher, Johann Gottfried Herder, Stuttgart 2001, 147) und meint bei Herder alle Formen ursprünglicher lyrischer Dichtkunst vom Lied über Hymnus, Psalm und Chorlied bis zur Erneuerung durch Klopstocks Oden (1750). 22 FA1, 65. 23 AaO. 78. 24 AaO. 77. 25 AaO. 93. 26 Diesen dialektischen Zusammenhang eines immer schon vermittelten Ursprungs in Herders Poetik und Hermeneutik hat Bertold Heizmann (Ursprünglichkeit und Reflexion. Die poetische Ästhetik des jungen Herder im Zusammenhang der Geschichtsphilosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Bern 1981) vor allem auch an den Entwürfen zur Ode herausgearbeitet. 27 FA1, 69. 28 AaO. 80. 29 Heizmann, Ursprünglichkeit und Reflexion (s. o. Anm. 26), 49.

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2. Der exemplarische Charakter der heiligen Poesie der Hebräer Wenn der Ästhetik die Funktion einer ergänzenden Korrektur des herrschenden Rationalitätsdiskurses zukommt, und wenn dem Bereich des Kognitiven die Empfindung und das Gefühl an die Seite gestellt werden, dann muss Herders Einsicht zufolge der hebräischen Poesie eine paradigmatische Bedeutung für die kulturelle Selbstverständigung zukommen. Den Entdeckungszusammenhang für diese Einsicht bilden Herders Studien zum Alten Testament, die ihren ersten Niederschlag in den Vorfassungen zur Älteste[n] Urkunde des Menschengeschlechts (1774/69), also den Fragmenten zu einer Archäologie des Morgenlandes (1769),30 sowie dem eingangs erwähnten Text Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts (∼1769)31 gefunden haben. Die zuletzt genannte Skizze markiert dabei den Übergang von einer dem Konzept der natürlichen Religion verpflichteten32 Interpretation der biblischen Schöpfungserzählung als »Mythologische Nationalgesänge vom Ursprunge ihrer ältesten Merkwürdigkeiten«33 hin zu einem ästhetisch-poetischen Konzept geschichtlich-positiver Religion, das den biblischen Text als »Heilige Sage [. . . ] vom Ursprunge der Woche und des Sabbats aus dem Göttlichen Vorbilde bei der Weltschöpfung«34 versteht, bei der ein »unmittelbarer Göttlicher Unterricht [. . . ] erforderlich und unentbehrlich«35 sei. Die Vermittlung von historischer und religiöser Perspektive, von Geschichte und Offenbarung, gelingt Herder im Zuge einer sukzessiven Entdeckung der Hieroglyphe als tragender formaler Struktur und zentraler inhaltlicher Figur der Genesis.36 Beide Aspekte hat Herder schon in den genannten Vorstudien im Blick. So bestimmt er die biblische Schöpfungserzählung als »ein Episches Gedicht in sieben Abschnitten, oder wenn man will, Strophen«,37 dessen Komposition »ein angenehmer, sinnlicher Rhythmus«38 zugrunde liege: »Jede Strophe faßte Eine Tagesbegebenheit in sich, und diese bekam wieder nach dem Geist der Orientalischen Einfalt, des Poems, und des Gedächtnisses wegen, eine vorleuchtende au30 31 32 33 34 35 36

SWS 6, 1–129. Zu Entstehung und Edition vgl. den Kommentar von Rudolf Smend (FA5, 1328–1331). Vgl. FA5, 11–17. AaO. 15f. AaO. 34. AaO. 17. Auch Christoph Bultmann (Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999, 151ff.) erkennt in dieser Vermittlungsaufgabe das zentrale Anliegen von Herders Genesisauslegung. Er sieht deren Einlösung jedoch nicht durch die Hieroglyphenthese, sondern durch »einen universalhistorischen Beweis« (aaO. 154) geleistet, wonach die Entstehung der natürlichen Religion durch die Offenbarung Gottes in der Natur und deren poetische Tradierung bedingt ist. Im Gegenzug setzt Bultmann die Bedeutung der Hieroglyphe gegen deren Entdecker kategorisch herab: »die Hieroglyphenthese ist der Interpretation von Gen. 1 nur aufgesetzt und hat keine zentrale Funktion für die Deutung von Schöpfung« (aaO. 147). Es ist nur konsequent, wenn Bultmann eine Analyse des VI. Kapitels des ersten Teils – immerhin mit der Überschrift »Hieroglyphe« versehen – unterlässt. 37 FA5, 34. 38 AaO. 34f.

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genscheinliche Einheit, und ward gleichsam ein Einziges sinnliches Bild, eine Einige Heilige Hieroglyphe.«39

Zwar bezieht Herder den Begriff der Hieroglyphe hier noch auf einzelne Versabschnitte und nicht auf die Struktur im Ganzen. Im Anschluss an seine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Deutungen der Genesis jedoch baut er seine eigene Hypothese über die »Symmetrische Struktur des Ganzen«40 erstmals auf dem synthetischen Siebenerschema der Hieroglyphe auf. Die Ordnung der Tagewerke folgt demnach keiner Chronologie, oder Geographie, sondern einer auf dem symmetrischen Parallelismus beruhenden Poetologie. In dieser frühen Fassung wird die Hieroglyphe als poetische Struktur begriffen und entspricht der späteren Auszeichnung des Parallelismus membrorum als wesentlichem Formelement der hebräischen Poesie. Die spezifische Leistungsfähigkeit der hieroglyphischen Struktur erkennt Herder dabei in ihrer ästhetischen Wirkung sowie ihrer mnemotechnischen Funktion, wobei auch die ars mnemonica als Wissenschaft der memoria sensitiva und Bestandteil der ars analogi rationis bei Baumgarten in den Bereich der Ästhetik fällt.41 Der charakteristischen »Parallelendenkart«42 des Orients entspricht Herders Interpretation zufolge ein »einfacher, dichterischer Grundriß von sinnlichen Ideen«,43 der zugleich eine »lebendige Gedächtniskunst« und »ein Meisterstück der uralten Orientalischen Mnemosyne«44 darstellt.45 Die Schöpfungserzählung wird deshalb vor ihrem historischen und kulturellen Hintergrund als »eine symmetrische, Rhythmisch-Mnemonisch- und Poetisch wohlgeordnete Urkunde«46 verstanden, die dem Grad der Aufmerksamkeit und eigentümlichen Bemerkungskraft der Morgenländer entspreche. »Die biblische Schöpfungsgeschichte beschreibt in diesem Sinne die dem morgenländischen Grad der Besinnung eigene und der orientalischen Perspektive entsprechende Welt: ›so sahen die ältesten Morgenländer in dies grosse Buch der Schöpfung‹.«47 Mit dieser Verbindung von Schöpfungstheologie und sinnlicher Erkenntnistheorie entfernt sich Herder weit von jeder Orthodoxie und bezieht eine klare aufklärerische Position, denn Schöpfung ist nun nicht mehr Erklärung, sondern Deutung, das heißt menschliche Perspektive in Abhängigkeit von einem bestimmten kulturgeschichtlichen Kontext. 39 AaO. 35. 40 AaO. 44. 41 Heißt es in der 1. Auflage der Metaphysika (1739): »ARS MNEMONICA, pars aestheticae« (§587), so spezifiziert Baumgarten ab der 2. Auflage (1743) diese Gedächtniskunst als »Mnemonica memoriae sensitivae« (AaO. zitiert nach Hans Adler, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, 36). 42 FA5, 48. 43 AaO. 47. 44 AaO. 48. 45 Dieser Spur ist vor allem Ralf Simon (Das Gedächtnis der Interpretation, Hamburg 1998) nachgegangen. 46 FA5, 49. 47 Ralph Häfner, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, Hamburg 1995, 203 (das Herderzitat aus SWS 6, 273).

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Ihre Fortsetzung und nochmalige Umformung findet die ästhetische Interpretation der Schöpfungsgeschichte in Herders großem Buch Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83), für das er sich »Liebhaber der ältesten, einfältigsten, vielleicht herzlichsten Poesie der Erde«48 als Leser wünscht. Das sehr viel positiver als die Älteste Urkunde aufgenommene49 Werk stellt eine topische Poetik des alttestamentlichen Schrifttums dar. Im Vordergrund steht dabei nicht die fortlaufende Auslegung eines Textcorpus,50 sondern die umfassende Darstellung der »Poesie der Ebräer« als einer eigentümlichen »Hirtenund Landespoesie«.51 Entscheidend für Herders Verfahren ist zunächst, wie er die poetische Interpretation der Bibel nicht verstanden wissen will. Seine Kritik an einer modernartifiziellen Deutung des heiligen Denkmals der Urwelt hat er in den unmittelbar zuvor erschienenen Briefe[n], das Studium der Theologie betreffend (1780/81) formuliert. Dort beanstandet er an dem sonst hoch geschätzten Robert Lowth52 »die etwas zu künstliche neue Art, mit der er alte ebräische Poesie, teils allgemein, teils in einzelnen Klassen und Stücken behandelt«53 und in »das Fachwerk der neuern Poetik«54 zwingt. Es gehe jedoch nicht darum »ob das Buch Hiob ein wahres Drama? Das hohe Lied ein wahres theokritisches Hirtengedicht sei? und unter welche Klasse von Oden und Gedichten jeder Psalm, jeder Prophet gehöre?«55 Abgesehen von dem Anachronismus des dabei zugrunde gelegten Maßstabs, sei kein biblischer Schriftsteller seinem Selbstverständnis nach ein Dichter im modernen Sinn gewesen. »Seine Poesie war nicht Kunst, sondern Natur, Beschaffenheit der Sprache, Notgedrungenheit des Zwecks, der Wirkung.«56 Herder bezieht sich auf seine These aus den Briefe[n] zu Beförderung der Humanität (1793–97), wonach die Natur des Menschen Kunst ist und deutet die Poesie der Hebräer nicht als artifizielle Hervorbringung, sondern als natürliche Lebensäußerung. In diesem Sinne betont er die unterschiedlichen Funktionen der neueren Literaturproduktion und der ältesten Nationalpoesie. David etwa habe seine Psalmen keineswegs »als Idylle beinah zum Zeitvertreib«57 geschrieben. »Poesie, wie sie in der Bibel ist, ist nicht zum Spaß, 48 FA5, 669. 49 Noch im 19. Jahrhundert äußert sich der liberale Pentateuchkritiker und Psalmenkommentator Hermann Hupfeld wie folgt: »Meiner Meinung nach hat dieses Buch dem Christenthum einen größeren Dienst geleistet, als alle Dogmatiken zusammen genommen.« (Eduard Riehm, D. Hermann Hupfeld. Lebens- und Charakterbild eines deutschen Professors, Halle 1867, 23f; zit. nach Smend, Kommentar, FA5, 1432f.). 50 Der erste Band läßt sich die behandelten Grundbegriffe zwar durch den Aufriss von Gen1–11 vorgeben, greift aber in dem herangezogenen Erläuterungsmaterial und in der Verwendung des Buches Hiob als Parallel-Kommentar zu Gen1–3 weit darüber hinaus. Der zweite Band behandelt die Prophetie, wobei Moses und David im Mittelpunkt stehen. Den dritten Band von den Propheten über die Apokryphen bis zur Apokalypse konnte Herder nicht vollenden (Vgl. den Kommentar, FA5, 1426–1430). 51 FA5, 663. 52 De sacra poesi Hebraeorum praelectiones academicae (1753). 53 FA9/1, 164. Chr. Bultmann weist in seinem Kommentar darauf hin, dass Lowth selbst zugibt, seine poetologischen Klassifikationen seien durch das Zeugnis der Hebräer nicht belegbar (FA9/1, 1003). 54 FA9/1, 152. 55 AaO. 152f. 56 AaO. 153. 57 AaO. 164.

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nicht zur entbehrlichen, müßigen Gemütsergötzung [. . . ] Der poetische Ausdruck, die Art der Vorstellung und Wirkung war damals überall Natur«.58 Die Kategorie des Poetischen ist deshalb im Zusammenhang der biblischen Schriften so zu verstehen, »dass es die sinnlichste, wahrste, nachahmendste Beschreibung der Sache bedeutet, wie sie sich in ihrem Zeitalter zutrug, und von den Mitlebenden angesehen wurde.«59 Die Poesie der Hebräer, wie der biblischen Schriften überhaupt, entspringt keinem Kunstwillen, sondern muss als Naturausdruck verstanden werden. Herder versteht das Attribut ›poetisch‹ nicht im Sinne von Gottscheds Regel- und Gattungspoetik, sondern im Anschluss an Baumgarten und Hamann als Bezeichnung für eine sinnlich ursprüngliche Sprachform. Getreu der Dichtungs-Definition Baumgartens »Oratio sensitiva perfecta est POEMA«60 versteht Herder die Poesie als anthropologisches Datum, wenn er in den Fragmenten zu Baumgartens Denkmal schreibt: »Im Geiste des Menschen, das war Baumgartens große Ahndung, in der Seele muß der Poesie ein Gebiet des Eigentums zuerkannt, und genau angewiesen werden können.«61 Poesie sei »sinnliche Wissenschaft«62 und deren Prolegomena Seelenkunde sowie genetische Geschichtsbetrachtung. Vor diesem Hintergrund versteht Herder die hebräische Sprache als idealtypische Verknüpfung von Bild und Empfindung, mithin als genuin sinnliche Sprache, die inneres Gefühl und äußeres Bild verlustfrei zu verbinden vermag. So konstituiere vor allem der Verbalstil die hebräische als genuin poetische Sprache: »Alles in ihr ruft: ›ich lebe, bewege mich, wirke. Mich erschufen Sinne und Leidenschaften, nicht abstrakte Denker und Philosophen: ich bin also für den Dichter, ja ich selbst bin ganz Dichtung.‹«63

Vor dem Hintergrund des leibnizschen Kraftbegriffs wird die hebräische Poesie als Ausdruck von Sinnen und Leidenschaften gedeutet und als Dichtung bezeichnet. Die Ableitung ganzer Wort- und Bedeutungsfelder aus einer einfachen Wurzel, »dem Bilde der ersten Empfindung«64 mache die hebräische Sprache sinnlich und »den Ausdruck der Poesie so gegenwärtig und rührend«.65 Außerdem befördert der präsentische Temporalstil den poetischen Charakter der hebräischen Sprache: »Ihr ist alles Gegenwart, Darstellung einer Handlung, sie möge vorbei oder zukünftig sein, oder fortdauern. [. . . ] Bei den Ebräern ist die Geschichte selbst eigentlich Poesie, d. i. Tradition einer Erzählung, die auch als gegenwärtig gemacht wird. [. . . ] Das Eine tempus vermehrt das Wort vor- das andre rückwärts; also wird eine Art schöner Abwechslung auch dem Ohr bereitet, und die Gegenwart der Darstellung auch ihm sinnlich.«66 58 59 60 61 62 63 64 65 66

AaO. 164f. AaO. 215. Meditationes §9, zitiert nach Adler, Prägnanz (s. o. Anm. 41), 28. FA1, 684. AaO. 669. FA5, 676. AaO. 682. Ebd. AaO. 682f.

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Sinnlich wirksame Präsenz, nicht historische Repräsentation zeichne die hebräische Sprache und Vorstellungsart aus. Neben den poetischen Texten im engeren Sinn charakterisiert Herder deshalb auch die prophetischen und geschichtlichen Schriften als »Meisterstücke historisch-poetischer Erzählung«,67 die durch lebendige Darstellung statt durch getreue Aufzeichnung bestimmt seien. Als poetisch-poetologisches Hauptmerkmal der alttestamentlichen Literatur bestimmt Herder jetzt jedoch mit Robert Lowth den Parallelismus der Glieder. Wie in der Älteste[n] Urkunde die Schöpfung durch das Denkbild der Hieroglyphe, so wird nun die hebräische Poesie formal wie inhaltlich durch den Parallelismus erschlossen. Formal als Stilmittel, das Rhythmus und Gleichmaß bewirkt, inhaltlich, insofern es die polare »Grundform der Vorstellungsart«68 der Hebräer zur Darstellung bringt. Herder entdeckt in der hebräischen Poesie die Kontrarietät als das Prinzip des Lebens und bestimmt sie als »Poesie Himmels und der Erde«.69 In dieser Beziehung entspreche sie nicht nur naturphilosophisch dem »Pulsschlag der Natur« und »Otemholen der Empfindung«,70 sondern spiegele auch ästhesiologisch die »früheste Logik der Sinne«71 wieder und dürfe deshalb archäologisch als »älteste Naturpoesie der Schöpfung«72 gelten: »Das älteste Schöpfungsbild ist ganz auf sie eingerichtet; die sogenannten Tagewerke sind darnach eingeteilt. Wenn der Himmel erhöhet ist, wird die Erde aufgeführt und gezieret: wenn Luft und Wasser bevölkert sind, wird die Erde bevölkert. Der Parallelismus Himmels und der Erde geht nachher durch alle Lobgesänge, die sich auf dies Bild von der Schöpfung gründen, durch die Psalmen, wo die ganze Natur aufgerufen wird, den Schöpfer zu preisen, durch die feierlichsten Anreden Moses und der Propheten, kurz, sie macht den größesten Überblick der Poesie und Sprache.«73

Dabei steht – wie in der Älteste[n] Urkunde – die Schöpfungsthematik qua Naturpoesie im Mittelpunkt des Interesses. Sie überwölbt nach Herders Verständnis des Alten Testaments das hebräische Denken und Schrifttum. Indem der schöpfungstheologische Parallelismus Himmelshöhe und Erdentiefe gegeneinander hält und miteinander verbindet, konstituiert er den »Begriff der Unendlichkeit einer sinnlichen Welt«,74 der es erlaubt, »das Unendliche und Endliche zu vergleichen, das Unermeßliche und das Nichts zu paaren.«75 In Aufnahme der ästhetischen Grundunterscheidung des 18. Jahrhunderts interpretiert Herder das hebräische Weltbild deshalb auch als Spannungsverhältnis zwischen dem Schönen und dem Erhabenen: »Die Morgenländer paaren also auch Himmel und Erde. [. . . ] Alles Erhabne will etwas Unendliches und Unermeßliches, kurz Himmelshöhe, so wie alles Schöne und Wahre bestimmte Schranken will, das ist Erde.«76 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

FA9/1, 215. FA5, 709. AaO. 706. AaO. 686. AaO. 691. AaO. 697. AaO. 707. Ebd. AaO. 708. AaO. 708f.

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Schließlich korrespondiert der sinnlichen Kosmologie der Hebräer auch eine parallel entworfene Anthropologie, denn »im Bau des Menschen vereinen sich Himmel und Erde; aus dieser ist sein Leib, von jenem weht sein lebendiger Atem.«77 In dem Maße wie Herder den Monozentrismus der Schöpfungshieroglyphe durch das duale Modell des Parallelismus ersetzt, verliert seine Auslegung zwar an spekulativer Kraft, dafür gewinnt seine Anthropologie an Tiefenschärfe, weil sie im Unterschied zur anthropologia gloriae der Älteste[n] Urkunde auch die Integration der menschlichen Endlichkeit und Fehlbarkeit erlaubt. In der Ebräischen Poesie zeichnet Herder dem aufrechten Gang das krumme Holz ein und bringt die Dialektik des Menschen in dialogischer Form zum Ausdruck, wenn er Alciphrons »Elegie über des Menschen Schwachheit«78 mit einem Psalm Eutyphrons, »der den Menschen wie einen Gott der Erde«79 feiert, beantwortet. Wie die griechische Plastik die leibliche Doppelnatur des Menschen zwischen Ruhe und Bewegung im Kontrapost zusammenspannt und im ›Kanon des Polyklet‹ vollendet zur Darstellung bringt, so vermittelt die hebräische Poesie die moralische Doppelnatur des Menschen im »Parallelismus Himmels und der Erde«:80 »Eine Poesie, die die Schwachheit des Menschen nicht vergißt, um ihm etwa Selbstgenügsamkeit der Götter anzulügen, die sich aber auch von seiner Schwachheit nicht besiegen läßt, um etwa seinen Adel, seine große Bestimmung zu verkennen.«81

So, wie Herder die Schönheit der Skulptur in seiner Plastik (1769/1770 und 1778) nicht nur als ästhetische Formgebung, sondern auch als gestalteten Ausdruck einer Bedeutung, nämlich als Bestimmung des Menschen zu vollendeter Humanität versteht, so deutet er auch die hebräische Poesie als ästhetische Darstellung des Göttlichen in der Gottebenbildlichkeit des Menschen.82 Es ist also nur konsequent, wenn Herder das Motiv vom »Bilde Gottes in der Menschengestalt«83 als gemeinsamen Bedeutungskern der gesamten biblischen Literatur bestimmt: »das Menschengeschlecht zu dieser Idee in aller Würde und Schönheit emporzubilden; mich dünkt, es gebe keinen reinern und höhern Begriff des Zwecks der Menschheit in Poesie und Prose der gesamten Welt.«84

77 78 79 80 81 82

Ebd. AaO. 823. Ebd. AaO. 706. AaO. 825. Diese Doppellektüre von griechischer Antike und jüdisch-christlicher Glaubensüberlieferung hat auch Häfner, Kulturentstehungslehre (s. o. Anm. 47) herausgearbeitet: »Herders Ideal des ›Seelenmenschen‹ kommt daher in ›Jesus vor seinem Leiden‹ ebenso zum Ausdruck wie in dem schönen Menschen der griechischen Antike«; seine flapsige Bemerkung »Jesus also ein Grieche« läßt die Tragweite der Herderschen Pointe jedoch kaum erkennen (147). 83 FA5, 825. 84 Ebd.

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3. Aufklärung von Christentum und Judentum Mit Herders ästhetisch-genetischer Interpretation der hebräischen Poesie war eine grundlegende Umformung ihrer religiösen Geltung und Bedeutung verbunden. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der orthodoxen Schriftlehre infolge der historischen und sachlichen Kritik der biblischen Schriften seitens der Aufklärung wurden diese nicht mehr als übernatürliche Offenbarungszeugnisse, sondern als menschliche Urkunden einer religionskulturellen Vergangenheit ausgelegt. Das hatte auch eine weitreichende Entsakralisierung der biblischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments zur Folge, die jedoch bei Herder ihre positive Entsprechung in der Poetisierung und Ästhetisierung der Bibel fand, die der Freilegung ihres religiösen und humanen Gehalts dienen sollte. Gegen diese Form der Rehabilitierung insbesondere der hebräischen Poesie werden in der neueren Herderinterpretation jedoch auch Vorwürfe erhoben.85 So kommt etwa die Germanistin Liliane Weissberg zu dem Schluss, dass es Herder bei seinen Bemühungen um ein angemessenes Verständnis der hebräischen Bibel um eine solche Humanisierung des Judentums zu tun sei, die in erster Linie den Zweck verfolge, das Judentum den Christen und ihrem Staat akzeptabel zu machen.86 Herders Erziehungsprogramm richte sich nämlich nur an die Juden. Weissberg beruft sich dazu auf den zentralen Eingangssatz aus den Briefen, das Studium der Theologie betreffend (1780/81): »Menschlich muß man die Bibel lesen« und kommentiert: »aber das heißt, dass das Alte Testament letztendlich germanisiert werden muß.«87 Damit greift Weissberg in abgemilderter Form eine Deutung auf, die der Historiker Paul Lawrence Rose in seinem Buch Revolutionary Antisemitism in Germany: From Kant to Wagner (Princeton 1990) vertreten hat. Rose zufolge musste Herders Programm der Humanisierung konsequenterweise auf die Zerstörung des Jüdisch-Seins im Sinne von Houston Stewart Chamberlains antisemitischer Kampfformel, ein humanisierter Jude sei kein Jude mehr, hinauslaufen und einen revolutionären Antisemitismus befördern. Humanisierung bedeute deshalb schon bei Herder Germanisierung auf Kosten des jüdischen Nationalcharakters. In diesem Sinne zieht auch Weissberg eine Parallele zwischen Herders Humanisierungsprojekt und der Vorstellung vom deutschen Staatsbürger jüdischer Konfession, was anscheinend auch für Weissberg gleichbedeutend mit der Zerstörung jüdischer Identität ist. Von der Fragwürdigkeit dieser Schlussfolgerung einmal abgesehen, schießen Rose und Weissberg in ihrer ideologiekritischen Herderlektüre jedoch weit über das Ziel hinaus. Zwar kann 85 Am krassesten bei Paul Lawrence Rose, Revolutionary Antisemitism in Germany: From Kant to Wagner, Princeton 1990. Für Rose wird Herder zum Befürworter eines revolutionären Antisemitismus im Dienste des deutschen Nationalismus. Zu diesem Zweck werde der jüdische Nationalcharakter als dem deutschen Nationalcharakter unterlegen dargestellt und solle durch eine revolutionäre Transformation zur Humanität überwunden werden. (vgl. Hartwich, Zwischen Talmudismus und Antisemitismus, s. o. Anm. 5, 141). 86 Liliane Weissberg, Juden oder Hebräer? Religiöse und politische Bekehrung bei Herder, in: Martin Bollacher (Hg.): Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Würzburg 1994, 191–211, 209. 87 AaO. 210.

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durchaus gefragt werden, ob Herder bei seinen Versuchen der Einfühlung der Fremdheit und Eigentümlichkeit der Kultur und Literatur des antiken Judentums immer gerecht geworden ist und, ob seine späten Äußerungen über die Bekehrung der Juden in der Adrastea (1801–1804) dazu geeignet waren, die Intentionen seiner Humanitätsphilosophie adäquat zum Ausdruck zu bringen. Aber eine bewusste Enteignung des Judentums, um dessen kultureller Vereinnahmung willen, sollte einem Autor, der seinen hermeneutischen Ehrgeiz darein gesetzt hatte, bei der Beschäftigung mit den jüdischen Religionsurkunden den Juden ein Jude zu werden und diese konsequent aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang heraus zu verstehen, nicht unterstellt werden. Nicht zuletzt weist Herder selbst die antijüdische Religionskritik der Aufklärung aus dem Grund zurück, weil diese der Eigentümlichkeit des Judentums mit ihren an den eigenen Denkvoraussetzungen gewonnenen Maßstäben nicht gerecht werden könne. Dazu kommt ein zweiter Punkt, der die Vorwürfe Weissbergs und Roses entkräftet. Dass im Zuge von Herders humanisierender Aufklärung sowohl des Christentums als auch des Judentums die den beiden Religionen gleichermaßen als heilig geltenden Schriften des Alten und des Neuen Testaments entsakralisiert werden, ist zwar völlig richtig, bedeutet aber gerade keine einseitige Enteignung des Judentums oder gar dessen germanisierende Christianisierung. Denn die Entwicklung des historischen Bewusstseins, das zu einer einschneidenden Umformung des Verständnisses der biblischen Schriften geführt hat, entzieht deren Interpretation nicht nur dem orthodoxen Rabbinismus, sondern auch dem kirchlichen Dogma. Die Zumutungen der neuen Schrifthermeneutik unter den Bedingungen der Aufklärung waren für beide Seiten die gleiche und dürfen nicht als einseitige Enteignung des Judentums zugunsten des Christentums interpretiert werden. Zumal Herder sein Humanitätsideal weder mit dem geschichtlichen Christentum noch mit dem kirchlichen Christentum seiner Zeit identifiziert hat. Das belegen seine überaus kritischen Äußerungen über das Christentum und die Kirchengeschichte sowohl in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) als auch in dem religionstheoretisch grundlegenden Essay Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen (1798). Das Ideal der Humanität muss vielmehr auch im Christentum gegen das Christentum nämlich gegen seine symbolisch-konfessionelle und seine kirchlich-dogmatische Gestalt zur Geltung gebracht werden. Schließlich – und das ist für die innige Verbindung von Christentum und Judentum, die Herder zeitlebens hervorgehoben hat, besonders wichtig – gründet sich die wesensgestaltende Wesensbestimmung des Christentums als reine Humanität, an der Herder im Sinne seiner Bestimmung gleichwohl festgehalten hat, sowohl auf die alttestamentliche Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, als auch auf das Judentum Jesu von Nazareth. So heißt es etwa in den Ideen: »Die echteste Humanität ist in den wenigen Reden enthalten, die wir von ihm haben; Humanität ists, was er im Leben bewies, und durch seinen Tod bekräftigte; wie er sich denn selbst mit einem Lieblingsnamen, den Menschensohn, nannte.«88

Will man Herders religiösem Modernisierungsprojekt gerecht werden, so muss seine In88 FA6, 708.

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tention einer Humanisierung sowohl der christlichen als auch der jüdischen Religion in ihrem Kontext gewürdigt werden. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt von der ästhetischen Darstellung des jüdisch-christlichen Motivs vom »Bilde Gottes in der Menschengestalt«89 und ihrer Verdichtung in der Person Jesu von Nazareth. Darüber hinaus kann wahre Humanität von keiner Religion exklusiv reklamiert werden, sondern bringt sich in allen Religionen in unterschiedlicher Weise zur Geltung. Humanität ist für Herder also nicht das alleinige Wesensmerkmal einer bestimmten Religion – auch nicht des Christentums – sondern fungiert als Maßstab der Bestimmung jeder Religion: »Je reiner eine Religion war, desto mehr mußte und wollte sie die Humanität befördern. Dies ist der Prüfstein selbst der Mythologie der verschiednen Religionen.«90

Das gilt auch für das Christentum und das Judentum. Nathans Frage in Lessings Drama: ›Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch?‹ hätte der Aufklärer Herder mit seinem großen Vorbild, dem Aufklärer Lessing, verneint und zwar deshalb, weil der wahre Gehalt des Christentums und des Judentums nicht unter Zurücksetzung, sondern nur unter Herausstellung und Verwirklichung wahrer Humanität zu denken ist.

4. Partikulare Ethnizität und/oder universale Humanität? Bleibt noch die Frage, wie Herder das Verhältnis zwischen kultureller, nationaler und religiöser Partikularität einerseits und universaler Humanität andererseits verstanden hat. Denn in dieser Frage wurde Herder sowohl kultureller Relativismus beziehungsweise religiöser Indifferentismus vorgeworfen als auch nationaler Chauvinismus beziehungsweise westlich-christlicher Imperialismus. Doch um Herder zu verstehen und historisch zu würdigen, wird man sich hier vor falschen Alternativen zu hüten haben. Denn Herders ästhetische Kultur- und Geschichtsphilosophie kennt das Allgemeine zwar nur in der Gestalt des Besonderen und Individuellen, jedoch ohne dieses aus seinem Zusammenhang mit den Erscheinungsformen des natürlichen und geschichtlichen Lebens herauszureißen. Toleranz gegenüber jedem einzelnen individuellen Nationalcharakter bedeutet für Herder deshalb keine Vergleichgültigung, sondern die Würdigung des jeweils individuell hervortretenden allgemeinen Humanums. Damit verbunden vertritt Herder ein Toleranzkonzept, das sich von dem formalen Toleranzbegriff der aufklärerischen Naturrechts- und Staatslehre unterscheidet und seine Wurzeln im christlichen Neuplatonismus hat, der die ganze Welt als Manifestation Gottes und die Fülle des individuellen Seins als Ausfluss des einen ungeteilten Urseins versteht. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund versteht Herder die Natur und die Geschichte als Ausdruck der göttlichen Kraft des Schöpfers, der seine Haushaltung in der Vielfalt von Natur und Kreatur, sowie von Epochen und Kulturen verwirklicht. Als solche aber sind diese jeweils einzigartig und unvergleichlich, so wenn Herder etwa im Geist der Ebräischen Poesie schreibt: 89 FA5, 825. 90 FA7,130.

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»Keine zwei Dinge auf der Welt sind sich gleich: keins ist gemacht, daß es mit dem andern verglichen werde; und das zarteste Gewächs, seiner Stelle entrissen, verdorret am ersten.«91

Bei Herder ist somit zum ersten Mal in programmatischer Weise nicht mehr von der Kultur im Singular, sondern von Kulturen im Plural die Rede. Denn Herder gehört zu denjenigen Autoren, die den zivilisatorischen Universalitätsanspruch der Aufklärung mit einem kulturkritischen Fragezeichen versehen und einen kulturell differenzierten Begriff von Menschheit beziehungsweise Humanität vertreten haben. Daraus folgt jedoch, wie gesagt, kein kulturalistischer Relativismus. Herder hält vielmehr an dem aufklärerischen Projekt der einen ungeteilten Menschheit fest. Zusammengehalten wird diese Dialektik von individueller Ethnizität und universaler Humanität durch einen anthropologisch-ästhetischen Geschichtspantheismus, der vor allem in Herders systematologisch-organologischer Hintergrundmetaphorik greifbar wird. Ein Beispiel aus den Humanitätsbriefen mag hier genügen: »Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgeteilt; auf unterschiedlichen Stämmen, nach Klima und Pflege wachsen verschiedne Früchte. Wer vergliche diese unter einander? oder erkennete einem Holzapfel vor der Traube den Preis zu? Vielmehr wollen wir uns wie der Sultan Solymann freuen, daß auf der bunten Wiese des Erdbodens es so mancherlei Blumen und Völker gibt, daß diesseit und jenseit der Alpen so verschiedene Blüten blühn, so mancherlei Früchte reifen! Wir wollen uns freuen, daß die große Mutter der Dinge, die Zeit, jetzt diese, jetzt andre Gaben aus ihrem Füllhorn wirft, und allmählich die Menschheit von allen Seiten bearbeitet.«92

Herder vergleicht die unterschiedlichen Nationalkulturen mit Biotopen, die sich zwar von Zeit und Standort abhängig jeweils ganz unterschiedlich und unvergleichlich präsentieren, aber gleichwohl alle eine Erscheinungsform des natürlichen beziehungsweise geschichtlichen Lebens sind. Alle Blumen sind Kinder der großen Mutter der Dinge und alle Kulturen machen zusammen das aus, was keine einzelne von ihnen allein repräsentiert: die Menschheit. Herders grundlegende Weltbildmetapher ist wie gesagt neuplatonisch gestimmt. So wie sich die Strahlen des Lichts tausendfach brechen und dennoch einer Quelle entspringen, verdanken sich alle Erscheinungsformen des natürlichen und geschichtlichen Lebens jenem All-Leben, dessen Verehrung Herders gelehrigsten Schüler Goethe von Weltfrömmigkeit sprechen ließ. Und so wie bei Goethe das neue Programm einer Weltliteratur nicht aus einer homogenen Einheitsliteratur besteht, sondern sich aus dem lebendigen Zusammenspiel unterschiedlichster National- und Regionalliteraturen zusammensetzt, so kann Herder von der wahren Humanität als dem universalen Bildungsziel aller Völker, Nationen und Kulturen sprechen.

91 FA5, 966. 92 FA7, 225.

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Markus Buntfuß

5. Schluss Herder sollte als maßgeblicher Vertreter der Aufklärung von Christentum und Judentum gleichermaßen präsentiert werden. Als wichtigstes methodisches Verfahren hat sich dabei seine genetische Methode erwiesen. Demnach kann aus dem Ursprung einer Kultur, einer Sprache oder einer Religion auf deren eigentümlichen und individuellen Charakter geschlossen werden, den sie dann in ihrer weiteren geschichtlichen Entwicklung nach allen darin beschlossenen Anlagen und Kräften entfaltet. Dabei korrespondiert für Herder Ursprünglichkeit in besonderer Weise mit Sinnlichkeit, weshalb kulturelle Ursprünglichkeit auf anthropologische Sinnlichkeit bezogen werden kann, womit schließlich auch ein Verständnis ursprünglicher Kulturleistungen aus ihren urkundlichen Quellen möglich ist. Im Zuge der Entzifferung dieser Quellen rückt bei Herder das Besondere, Individuelle und Unvergleichliche in den Mittelpunkt des Interesses. Historisierung und Ästhetisierung gehen einher mit einer grundlegenden Individualisierung, ohne jedoch in die Resignation des Relativismus zu verfallen. Denn als Gegengewicht zur Kultur des Individuellen fungiert bei Herder die Bildung zur Humanität als wahrer Menschlichkeit und Bestimmung der Menschheit. Aufklärung des Christentums und Judentums bedeutet bei Herder Anerkennung kultureller Differenz unter der Bedingung humaner Konsonanz.

Gotthold Ephraim Lessings Verständnis des Judentums Gesa Dane Als erste Publikation des jungen Gotthold Ephraim Lessing zum Judentum darf man eine Rezension betrachten, die in der Berlinischen Privilegierten Zeitung am 4. August des Jahres 1753 erschienen ist. Lessing bespricht hier die anonym publizierte Abhandlung Schreiben eines Juden an einen Philosophen nebst der Antwort. In diesem fiktiven Briefwechsel zwischen einem Juden und einem Philosophen wird von beiden Dialogpartnern die Gleichstellung der Juden im Staate gefordert. Der Jude habe, so heißt es in der Rezension, »mit Gründen dargetan«, warum »es der Gerechtigkeit und dem Vorteile eines Regenten gemäß sei, das Elend der jüdischen Nation aufzuheben.«1 Die Rezension läßt keinen Zweifel daran, daß Lessing diese Position teilt. Folgende Zeilen finden sich wörtlich in dem Brief des Juden an den Philosophen: »Zu meinem Glück habe ich eben so wenig den Einwand wegen unserer Religion von ihnen zu befürchten, in dem ihnen als einem Philosophen, die welche an den gewesenen, und die, welche an den zukünftigen Messias glauben, gleich angenehm sind.«2 Lessing paraphrasiert diese Äußerung in seiner Rezension, um dann hinzuzufügen, Juden und Christen seien demnach in »wenig oder nichts«3 unterschieden. Wenig oder Nichts: dieser Euphemismus zielt im Kontext der Rezension vornehmlich auf die Folgen aus der Religionszugehörigkeit für die rechtliche Position innerhalb des staatlichen Gemeinwesens.4 Die These, daß Juden und Christen in Wenig oder Nichts unterschieden seien, ist auch theologisch von einiger 1

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[Gotthold Ephraim Lessing], Rezension zu: Schreiben eines Juden an einen Philosophen, nebst der Antwort. Berlin 1753, in: Ders., Werke und Briefe in 12 Bänden, hg.v. Wilfried Barner u. a., Frankfurt/M. 1985ff, Bd. 2: Werke 1751–1753 hg.v. Jürgen Stenzel, 523f [diese Ausgabe der Werke Lessings wird im Folgenden zitiert mit der Sigle FA/Bd./Seitenzahl, unter Angabe Bandherausgebers]. Schreiben eines Juden an einen Philosophen nebst der Antwort, abgedruckt in: Jacob Toury, Eine vergessene Frühschrift zur Emanzipation der Juden in Deutschland, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts, 12 (1969), 253–281, darin: 270–281, hier: 271; als Verfasser dieser Schrift gilt inzwischen Aaron Solomon Gumpertz, er hat dieses Schreiben vielleicht sogar auf Anregung von Lessing verfaßt, Lessing hat dann auch die Verbindung zu dem Verleger Christian Friedrich Voß hergestellt, dazu vgl. Gad Freudenthal, Aaron Salomon Gumpertz, Gotthold Ephraim Lessing and the First Call for an Improvement of the Civil Right of Jews in Germany, in: Association of Jewish Studies Review 29 (2005), 299–353. [Lessing], Rezension, (s. o. Anm. 1), 523. Noch in seinem späteren Freimaurergespräch Ernst und Falk (1778) wird der Umstand, daß freimaurerische Logen keine Juden aufnehmen, kritisch ins Visier genommen, vgl. Gottfried Ephraim Lessing, Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer, in: Ders., Werke 1754–1757, FA 10, hg. v. Arno Schilson und Axel Schmitt, 11–66, hier: 29.

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Brisanz, da sie die in christlicher Sicht exponierte Stellung von Jesus Christus in Frage stellt. Diese Einstellung wird sich bis in die späte Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts nicht verändern: Jesus wird von Lessing als großer Lehrer und außerordentlicher Mensch gedeutet, nicht aber als Gottes Sohn, wie es in den Evangelien überliefert wird. »Ob Christus mehr als Mensch gewesen, das ist ein Problem«,5 so formuliert Lessing es noch in dem Entwurf Die Religion Christi (1780) und nimmt damit eine Überlegung aus der Abhandlung Gedanken über die Herrnhuter (1750) wieder auf. Seine ersten persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Juden wird Lessing wahrscheinlich in der Kamenzer Jugendzeit gehabt haben. Juden waren im Königreich Sachsen mit einer höchst restriktiven Politik konfrontiert: Kamen jüdische Händler aus dem Osten, um zur Leipziger Messe zu reisen, so war ihnen vorgeschrieben, die über Kamenz führende Handelsstraße zu benutzen.6 In Berlin wohnte Lessing unweit des Bezirkes, in dem die Berliner Juden ansässig waren.7 Die erste Begegnung Lessings mit Moses Mendelssohn fand im Jahre 1754 statt, also während der Zeit von Lessings zweiten Berliner Aufenthalts.8 Im Verlaufe seiner Reise nach Italien (1775) konnte Lessing in Livorno das Zusammenleben von Juden, Christen und Moslems innerhalb eines städtischen Gemeinwesens beobachten.9 Den aufsehenerregenden Prozeß zwischen Voltaire und dem jüdischen Finanzier im Jahre 1750 in Berlin hatte er verfolgt und ein Spottgedicht auf Voltaire Auf — verfaßt, das darauf Bezug nimmt. Hier setzt Lessing ironisch alle judenfeindliche Stereotype ein, um das Vorgehen des »schlauesten Hebräer in B**« zu charakterisieren, was er freilich noch überbietet, wenn er das Gedicht mit der Feststellung schließt: »V** war ein größrer Schelm als er«.10 Die zeitgenössischen theologischen Debatten innerhalb des Protestantismus hatte Lessing nicht erst während seiner Studienzeit in Leipzig und Wittenberg kennen gelernt, sondern bereits auf der Fürstenschule St. Afra in Meißen.11 So war ihm das historische 5

Gotthold Ephraim Lessing, Die Religion Christi, in: Ders., Werke 1778–1781, FA 10, hg. v. Arno Schilson und Axel Schmitt, 223–224, hier: 223. 6 Vgl. Wilfried Barner, Gotthold Ephraim Lessing, Die Juden, in: Ders., Ein Text und ein Leser. Weltliteratur für Liebhaber, Göttingen 1994, 93–107, hier: 97. 7 Hugh Barr Nisbet, Lessing. Eine Biographie, aus dem Englischen von Karl S. Guthke, München 2008, 94. 8 Dazu: Dominique Bourel, Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Zürich, 2007, 85; bei Bourel finden sich auch ausführliche Angaben zur rechtlichen und sozialen Situation der Berliner Juden zur Zeit Lessings und Mendelssohns, vgl. ebd. 79–115. 9 Vgl. Lea Ritter Santini, Die Erfahrung der Toleranz. Melchisedech in Livorno, in: Dies. (Hg.), Eine Reise in die Aufklärung. Lessing in Italien 1775, 2 Bde., Berlin 1993, Bd. 1, 433–466. 10 Gotthold Ephraim Lessing, Auf —, in: FA 2, (s. o. Anm. 1) 640–641; 1750 hatte Voltaire ein Spekulationsgeschäft mit Sächsischen Steuerscheinen mit dem Berliner Abraham Hirschel gemacht, Hirschel hat zwar Voltaire übervorteilt, Voltaire seinerseits aber hat einen Meineid geschworen, um Hirschel ins Unrecht zu setzen, der Prozeß endete mit einem Vergleich; in diesem Spottgedicht findet sich die Verfahrensweise, die Lessing bereits in Die Juden erprobt hatte. 11 Vgl. Nisbet, ( s. o. Anm. 11), 31; in St. Afra nahm der Religionsunterricht fünfundzwanzig Wochenstunden ein und schloß auch »dogmatischen Lehrstoff« ein; es läßt sich nicht eindeutig ausmachen, welche theologischen Richtungen von Seiten der Lehre vertreten wurde, Detlef Döring vermutet eine Orientierung an der Spätorthodoxie, weist zudem auf mögliche Einflüsse der Herrnhuter hin; es

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Judentum im Verhältnis zum Christentum und die Deutungen dieser Konstellation auf das genaueste bekannt, einschließlich der religiös begründeten judenfeindlichen Einstellungen von Seiten der Christen, die ihm wohl schon von seinem Vater vermittelt worden waren, dem orthodoxen Lutheraner und Kamenzer Hauptpastor Johann Gottfried Lessing.12 Lessings frühe Komödien Der Freigeist und Die Juden sowie die Gedanken über die Herrnhuter teilen miteinander die Frontstellung gegen die herrschenden Vorurteile gegen die Juden, die Herrnhuter und die Freigeister.13 »Ein Comoedienschreiber ist ein Mensch der die Laster auf ihrer lächerlichen Seite schildert. Darf denn ein Christ über die Laster nicht lachen? Verdienen die Laster so viel Hochachtung?«14 Dies schreibt er dem Vater, als dieser sich wiederholt kritisch-ablehnend zu dem, was der Sohn unternimmt, äußert. Lessing fährt gar mit einer rhetorischen Frage fort: »Und wenn ich ihnen nun gar verspräche eine Comoedie zu machen, die nicht nur die H. Theologen lesen sondern auch loben sollen?«15 Mit diesen Worten kündigt Lessing seinem Vater die Komödie Der Freigeist an. Daß die Wahl des Sujets dieser Komödie mit den Vorhaltungen des Vaters verbunden ist, erscheint offenkundig. Ob dies auch für die Entstehung der Komödie Die Juden gilt, kann nicht ausgeschlossen werden. Die Frage von Jürgen Stenzel ist berechtigt: »Sollte Lessing auch hier [wie in Der Freigeist, G.D.] seinem Vater vorführen wollen, in welcher Weise ein ›Comoedienschreiber‹ ein besserer ›Xrist‹ sein könne als die bloßen Traditionschristen?«16

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steht aber fest, daß die Schule im Spannungsfeld zwischen dem katholischen Herrscherhaus und der protestantischen Bevölkerung stand, vgl. Detlef Döring, Die Fürstenschule in Meißen zur Zeit des jungen Lessing, in: Eva J. Engel/Claus Ridderhoff (Hg.), Neues zur Lessing-Forschung. Ingrid Strohschneider-Kohrs zu Ehren am 26. August 1997, Tübingen 1998, 1–29, hier: 11ff. Dazu: Wilfried Barner, Vorurteil, Empirie, Rettung. Der junge Lessing und die Juden, in: Herbert A. Strauss/Christhart Hoffmann, Juden und Judentum in der Literatur, München 1985, 62–77, hier: 57; 59. Dazu: Wilfried Barner, Lessing und die Minderheiten – aus der Perspektive von heute, in: Lessing Yearbook XXXVII (2006/07), 55–63. Brief von Gotthold Ephraim Lessing an Johann Gottfried Lessing vom 28. April 1749 in: Briefe von und an Lessing, FA 11/1, hg. v. Helmuth Kiesel, Frankfurt/M. 1987, 24; der Briefwechsel zwischen Vater und Sohn aus dieser Zeit dokumentiert die Befürchtungen und Vorwürfe, gegen die Lessing sich seinem Vater gegenüber wehren mußte: der intensive Umgang etwa mit Mylius, die literarischen Ambitionen, das hat der Vater beanstandet; Lessing hatte Grund zu vermuten, daß dem Vater zahlreiche Gerüchte hintertragen wurden, und er fragt den Vater: »Was soll ich aber darbei tun? Soll ich mich weitläufig entschuldigen? Soll ich meine Verleumder beschimpfen, und zur Rache ihre Blöße aufdecken? Soll ich mein Gewissen — soll ich Gott zum Zeugen anrufen? Ich müßte weniger Moral in meinen Handlungen anzuwenden gewohnt sein, als ich es in der Tat bin, wenn ich mich so weit vergehen sollte. [...] So lange ich nicht sehe, daß man eins der vornehmsten Gebote des Xstentums, Seinen Feind zu lieben nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Xsten sind, die sich dafür ausgeben.« Brief von Gotthold Ephraim Lessing an Johann Gottfried Lessing vom 30.5.1749 in: FA 11/1, 26. Brief von Gotthold Ephraim Lessing an Johann Gottfried Lessing vom 28. April 1749 in: (s. o. Anm.14), 24f. Jürgen Stenzel, Auseinandersetzung in Lessings frühen Schriften, in: Wolfram Mauser/Günter Sasse (Hg.), Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings, Tübingen 1993, 494–500, hier: 500.

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Von den späten 40-ger Jahren an bis hin zu dem späten Schauspiel Nathan der Weise und der Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts aus seiner Wolfenbüttler Zeit läßt sich eine kontinuierliche Beschäftigung mit dem Judentum nachweisen. Bei allen Unterschieden der Argumentation, bezieht Lessing doch von Beginn an deutlich Position gegen die soziale und rechtliche Ausgrenzung der Juden. Hinsichtlich der theologisch-religiösen Fragen des Verhältnisses von Judentum und Christentum ist Lessings Zurückhaltung erkennbar, da er den Glauben von Juden nicht in Frage stellen oder gering achten will. Vorstellungen von einer Judenmission, wie sie in protestantischen Kreisen kursierten, lagen ihm fern. In der berühmten von Johann Kaspar Lavater angestoßenen öffentlichen Debatte zu Moses Mendelssohn nimmt Lessing eindeutig Stellung zugunsten des Freundes und gegen Johann Kaspar Lavater: »Lavater ist ein Schwärmer, als nur einer des Tollhauses wert gewesen«,17 schreibt er an Friedrich Nicolai. Für eine Rekonstruktion von Lessings Verständnis des Judentums sind zahlreiche Texte unterschiedlicher Gattungen zu berücksichtigen, wie die zwei dramatischen Texte: Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge verfertiget im Jahre 1749 und dann Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht (1780), sodann der Essay Rettung des Hier. Cardanus (1774), weiterhin eine Reihe von kleineren Schriften, wie Gedanken über die Herrnhuter (1750) und endlich sein geschichtsphilosophischer Entwurf Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780). Man ist hier mit völlig unterschiedlichen Gattungen konfrontiert, mit einer Komödie, mit einem Schauspiel – Nathan – das vom Verfasser gezielt aus den traditionellen Gattungszuschreibungen herausgenommen wird, mit Traktaten, schließlich mit Dialogen und Abhandlungen. Die Wahl der jeweiligen Textgattung, deren Wirkungsfunktion, Adressatenbezug und Stil ist stets in Betracht zu ziehen. Methodisch empfiehlt sich eine Art von konstellativem Verfahren, in dem die einzelnen Überlegungen nicht nur gesichtet, sondern auch in ihren gattungsspezifischen Voraussetzungen beleuchtet werden, erst dann können die Bedeutungs-Valenzen angemessen herausgearbeitet werden. Lessings ungemein gattungsbewußtes Schreibverfahren erfordert einen solchen Zugang. Sein dialogisches Denken ist zumeist auf ein Gegenüber bezogen und auf eine, mitunter fiktive, Gesprächssituation, bei der er mögliche Einwände antizipiert, argumentativ entkräftet oder polemisch zurückweist. Hierin mag auch einer der Gründe für die Enttäuschung vieler Leser liegen, wenn sie von Lessing einen konsistent durchgeführten theologisch-philosophischen Ansatz erwarten. Lessing war im übrigen davon überzeugt, daß man über die zentralen Aspekte von Religion und Theologie nur in Andeutungen, mit Fingerzeigen und Anspielungen sprechen könne, also vornehmlich im Modus der Erzählung. Deshalb erschließt sich sein Verständnis des Judentums auch nur, wenn man Literarizität und Narrativität seiner Darstellungsweise berücksichtigt. Lessings Komödie Die Juden wäre eine ergiebige Quelle, wollte man judenfeindliche Einstellungen der christlichen Mehrheitsgesellschaft der Mitte der 18. Jahrhunderts rekonstruieren, sind doch diese Vorbehalte allen christlichen Figuren der Komödie mitgegeben. Lessing hat diese Vorurteile allerdings in einer Weise disponiert, daß die 17 Brief von Gotthold Ephraim Lessing an Friedrich Nicolai vom 2. Januar 1770, in: FA11/1 (s. o. Anm. 14), 656.

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stereotypen Zuschreibungen durch die Anlage und Lösung des Konflikts unterlaufen werden: Nicht der Jude ist Träger der inkriminierten Eigenschaften, vielmehr kommen diese den Christen selbst zu. Jürgen Stenzel spricht vom Risiko, das Lessing hier einging, wenn er sich »in reichlicher Kühnheit gegen das mit dem Vorurteil behaftete Publikum wendete.«18 Das bereits im Jahre 1749 verfaßte Lustspiel handelt von den Ermittlungen nach einem nächtlichen Überfall, dessen Opfer, ein Baron, von einem unbekannten Reisenden gerettet worden war. Hier setzt die Bühnenhandlung ein, in deren Verlauf, auf oberflächlicher Handlungsebene, nach den Tätern geforscht wird. Ein Teil der Dialoge ist den Mutmaßungen über die Täter vorbehalten: Die Bedienten des Barons wollen alle anderen glauben machen, die Straßenräuber seien Juden gewesen. Als Indiz wird der Umstand angeführt, daß die Übeltäter Bärte getragen hätten. »Ach! Gott behüte alle rechtschaffne Christen vor diesen Leuten! [den Juden, G.D.] Wenn sie der liebe Gott nicht selber haßte, weswegen wären denn nur vor kurzen, bei dem Unglücke in Breslau, ihrer bald noch einmal soviel als Christen geblieben? Unser Herr Pfarr erinnerte das sehr weislich in der letzten Predigt. [...] Ach, mein lieber Herr, wenn Sie wollen Glück und Segen in der Welt haben, so hüten Sie sich vor den Juden ärger als vor der Pest«,19 so äußert sich beispielsweise der Diener Martin Krumm. Solche Vorurteile der Christen gegenüber Juden sind ständeübergreifend, das erweist sich, wenn auch der Baron abfällige Meinungen über die Juden, über deren Habgier und Falschheit äußert: »O! es sind die allerboshaftesten und niederträchtigsten Leute.«20 In Äußerungen in einem Monolog: »Ich zweifle, ob sich einer von ihnen rühmen kann, mit einem Juden aufrichtig verfahren zu sein [...]. Wenn zwei Nationen redlich mit einander umgehen sollen, so müssen beide das ihre dazu beitragen. Wie aber, wenn es bei der einen ein Religionspunkt und beinahe ein verdienstliches Werk wäre, die andre zu verfolgen?«21 Der Reisende nimmt als Zeichen der Dankbarkeit vom Baron weder Geld an noch akzeptiert er die Hand von dessen Tochter. Er gibt den Grund dafür an: »Ich bin ein Jude«.22 Der Baron kommentiert dies: »Ein Jude? Grausamer Zufall! [...] So giebt es denn auch Fälle, wo uns der Himmel selbst verhindert dankbar zu sein?«23 Also wieder der Religionspunkt, freilich hier schon mit einer Frage verbunden. Dem Dramatiker Lessing gelingt es, wie in einer Nußschale, die Vorurteile der Christen den Juden gegenüber festzuhalten, trotz der Gefühle von Dankbarkeit, trotz der menschlichen Verbundenheit, die aus der mutigen Tat und großherzigen Haltung des Reisenden folgten. Lessing durchbricht mit dem Titel Die Juden die Gattungsgepflogenheiten der Typenkomödie, wonach die Titelfigur/en dem Verlachen preisgegeben werden, als Träger von lächerlichen Eigenschaften oder gar von Lastern. Hier werden statt dessen die christ18 Stenzel, Auseinandersetzung (s. o. Anm. 16), 500. 19 Gotthold Ephraim Lessing, Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge. Verfertiget im Jahr 1749, in: Ders., Werke 1743-1750, FA 1, hg. v. Jürgen Stenzel, 447–488, hier: 453 (2. Auftritt). 20 Lessing, Die Juden (s. o. Anm. 19), 461 (7. Auftritt). 21 Lessing, Die Juden (s. o. Anm. 19), 454 (3. Auftritt). 22 Lessing, Die Juden (s. o. Anm. 19), 486 (22. Auftritt). 23 Ebd.

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lichen Vorurteile vorgeführt und damit dem Lachen preisgegeben. Lessing unterläuft damit gezielt die Zuschauererwartung. Die Juden, die der Titel ankündigt, sind eigentlich die Phantasmen der Christen. Doch geht es in Lessings Lustspiel keineswegs nur um eine Komisierung wie in der sächsischen Verlachkomödie, denn am Ende zwingt das Stück erneut zum Nachdenken, bittet der Reisende doch zum Abschied als Dank nichts anderes als darum, daß weniger »allgemein« von den Juden gedacht werde: »Ich habe mich nicht vor Ihnen verborgen, weil ich mich meiner Religion schäme. Nein. Ich sahe, daß Sie Neigung zu mir, und Abneigung gegen mein Geschlecht hatten. Und die Freundschaft eines Menschen, er sei wer er wolle, ist mir allezeit unschätzbar gewesen.«24 Der Baron schämt sich über seine Verhaltensweisen und räumt ein: »O wie achtungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen«, worauf der Reisende nur antwortet: »Und wie liebenswürdig die Christen, wenn sie alle Ihre Eigenschaften besäßen.«25 Am Schluß dieser Komödie herrscht auf der Bühne zwar die Einsicht in die Unbegründetheit der Vorurteile gegen die Juden, das Arrangement des Schlusses zeigt jedoch, wie schwerfällig Einstellungen zu verändern sind, trotz der Einsichten, die dem Baron und den anderen Christen zuteil geworden sind. Lessing hat, durchaus im Horizont der Gattungsvorgaben der Lustspieltradition, den Figuren entweder typisierende Standesbezeichnungen oder redende Eigennamen verliehen. Die einen heißen Michel Stich oder Martin Krumm, Lisette ist der typische Dienstmädchen-Name in Komödien, die andern sind ›der Baron‹ und ›seine Tochter‹, ›das Fräulein‹. Eine Ausnahme macht Lessing lediglich bei dem Reisenden, der weder einen Eigennamen trägt noch mit einer typisierenden Standesbezeichnung versehen ist, in beiden Fällen wäre er von Beginn an als Jude identifiziert worden. Die Bezeichnung ›Der Reisende‹ ermöglicht es Lessing, eben dies zu camouflieren. Ein Name hätte etwas verraten, was Lessing zugunsten der Wirkungsabsicht der Komödie erst am Schluß preisgeben wollte, war der Name doch Stigma, besonders für Juden in der Mitte des 18. Jahrhunderts.26 Auch in einer anderen Hinsicht durchbricht Lessing die Gepflogenheiten der Gattung, nach denen am Schluß einer Komödie eine Heirat steht: Hier kann es zu keiner Heirat kommen, nachdem sich herausgestellt hat, daß der ins Auge gefaßte Bräutigam ein Jude ist. Ehen zwischen Juden und Christen waren (nicht nur) in Preußen zu dieser Zeit verboten, und Lessing will die soziale Wirklichkeit seiner Zeit nicht durch einen harmonisierenden Schluß überspringen.27 24 Lessing, Die Juden (s. o. Anm. 19), 487 (22. Auftritt). 25 Lessing, Die Juden (s. o. Anm. 19), 487f (22. Auftritt). 26 In den deutschen Staaten bestand ein Eigenname seit dem ausgehenden Mittelalter über alle Stände hinweg aus einem Vornamen und einem Geschlechts- bzw. Familienname, noch im 18. Jahrhundert führten Juden lediglich einen »Rufnamen, dem zur weiteren Verdeutlichung ][...] der Rufname des Vaters beigegeben wurde: ›Joseph (ben) Nathan‹«, Dietz Bering, Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933, Stuttgart 1987, 43; zu den literarischen Eigennamen bei Lessing vgl. Hendrik Birus, Poetische Namengebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings ›Nathan der Weise‹, Göttingen 1978, 84f, 87. 27 Dazu: Wilfried Barner, Vorurteil, Empirie, Rettung (s. o. Anm.12).

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Veröffentlicht wurde diese Komödie erst, als Lessing sie 1754 in die Ausgabe seiner Schriften aufnahm, 1766 wurde die Komödie dann in der freien Reichsstadt Nürnberg uraufgeführt. In seiner Vorrede zum Erstdruck führt Lessing aus: Das zweite Lustspiel, welches man [...] finden wird, heißt die Juden. Es war das Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrückung, in welcher ein Volk seufzen muß, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann. Aus ihm, dachte ich, sind ehedem so viel Helden und Propheten aufgestanden, und jetzo zweifelt man, ob ein ehrlicher Mann unter ihm anzutreffen sei?«28

Diese rhetorische Frage korrespondiert mit einer Feststellung, die in Die Erziehung des Menschengeschlechts zu finden ist, nach der »die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts«,29 aus dem jüdischen Volke stammen – und nur hierher kommen konnten. Schon dies sei Grund genug für Christen, ihnen Respekt und Anerkennung zu zollen. Über Lessings Lustspiel setzte eine öffentliche Debatte ein, ausgelöst von Johann David Michaelis, der das Lustspiel in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen rezensierte: »Der Endzweck gehet auf eine sehr ernste Sittenlehre, nehmlich die Thorheit und Unbilligkeit des Hasses und der Verachtung zu zeigen, damit wir den Juden meistentheyls begegnen.«30 Michaelis räumt ein, daß die Einstellungen der Christen den Juden gegenüber unbillig, also ungerecht seien. Deshalb hält er es auch für unwahrscheinlich, daß es einen so edelmütigen Juden überhaupt geben könne. Ob eine historische Figur Modell für Lessings Reisenden gewesen sein könnte, ist nicht mit letzter Sicherheit zu klären.31 Sicher aber gibt es eine intertextuelle Referenz: Lessing nimmt mit dem Lustspiel auf Christian Fürchtegott Gellerts Roman Das Leben der schwedischen Gräfin von G. aus dem Jahre 1748 Bezug. Hier gibt es einen Juden, dem ein Graf das Leben rettet. Dieser Jude zeigt Dankbarkeit und hilft dann seinerseits dem Grafen aus bedrohlicher Lage heraus, auf seine Veranlassung greifen später weitere Juden zugunsten des Grafen ein. »Vielleicht würden viele von diesem Volke beßre Herzen haben, wenn wir sie nicht durch Verachtung und listige Gewalttätigkeiten niederträchtig und betrügerisch in ihren Handlungen machten und sie nicht oft durch unsere Aufführungen nötigten, unsere Religion zu hassen.«32 So kommentiert die Ich-Erzählerin 28 Gotthold Ephraim Lessing, [Vorrede zum Erstdruck] (s. o. Anm. 19), 1152. 29 Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (s. o. Anm. 4), 73–99, hier: 78 (§18). 30 Johann David Michaelis, [Rez. zu: G. E. Lessing, Die Juden], in: [Rez. von: G.E. Lessing, Schriften Bd. 4, Leipzig 1753], in: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, Göttingen 1754, 13.Juni, 621, dazu vgl. ausführlich: Gesa Dane, Lessing – Mendelssohn – Michaelis: Aufklärung und Vorurteil, in: Jean-Marie Valentin (Hg.): Akten des 11. Kongresses der Internationalen Vereinigung der Germanisten in Paris 2005, Bd. 12: Deutsch-jüdische Kulturdialoge/-konflikte, Frankfurt/M. 2007, 195–205. 31 Möglich wäre es, daß Aaron Emmerich Gumpertz ein Modell für Nathan gewesen ist, durch ihn haben Lessing und Mendelssohn vermutlich einander kennengelernt. 32 Christian Fürchtegott Gellert, Das Leben der schwedischen Gräfin von G***, hg. v. Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart 1985 [zuerst: Leipzig 1747/48], 114f; zur Darstellung von Juden in der Literatur: Wolfgang Martens, Zur Figur eines edlen Juden im Aufklärungsroman vor Lessing, in: Jacob Katz/Karl Heinrich Rengstorf (Hg.), Begegnungen von deutschen und Juden in der Geistesge-

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dort die Begebenheit. In Gellerts Roman ist das Beweisziel die Tugend, die optimistische Annahme, daß Gleiches mit Gleichem vergolten wird: gute Taten der Juden haben demnach ihre Voraussetzung in denen der Christen. Lessing hat diese Konstellation aus seiner Vorlage nicht einfach übernommen und ausgeschrieben, sondern bedeutsam modifiziert. Die gute Tat des Reisenden in Die Juden hat ihren Grund in seiner eigenen Menschlichkeit, in ihm selbst, nicht in dem Verhalten seiner christlichen Mitmenschen. Die Komödie ermöglicht es Lessing, von der Vorgeschichte des jüdischen Reisenden nur jeweils so viel mitzuteilen, wie dies für die Bühnenhandlung erforderlich ist. Vieles von seiner Herkunft wissen wir nicht. Von der Vorgeschichte erfahren wir nur, daß der Reisende offensichtlich das christliche Gebot der Nächstenliebe erfüllt und einen Christen vor einigen Wochen in Hamburg aus einer mißlichen Lage befreit, der ihn seither als Diener begleitet. Wenn dieser Diener noch nicht einmal bemerkt, daß er für einen Juden arbeitet, so kann dies als Hinweis darauf gelesen werden, wie kaum merkbar, wie wenig auffällig die Religionszugehörigkeit im Alltag sein kann. Um Fragen der Religionen kann es in dieser Komödie nicht gehen, anders als etwa in der anderen frühen Komödie Der Freigeist – doch da werden innerprotestantische Konfliktlagen thematisiert. In Die Juden hält Lessing sich mit der Einrichtung des Konflikts streng an die zeitgenössischen rechtlichen Vorgaben. Die Ehe zwischen Juden und Christen war per Gesetz untersagt. Allerdings wurden diese Ehegesetze in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft kritisch diskutiert. Der Strafrechtler Karl Ferdinand Hommel (1722–1781) gilt als einer der ersten seines Faches, der entschieden gegen dieses Eheverbot argumentierte. Hommel besuchte die Universität in Leipzig zur selben Zeit wie Lessing. Es ist nicht auszuschließen, daß sie einander kannten, die Quellenlage aber läßt, anders als im Falle von Gellert und Michaelis, keine Rezeption nachweisen.33 Dennoch sind die Ähnlichkeiten zwischen Lessings und Hommels Denkansätzen unübersehbar. Hommel insistiert darauf, daß die überlieferten Gesetze überprüft und verändert werden müssen:34 Weder soll die Ehe zwischen Juden und Christen verboten noch soll der Beischlaf zwischen ihnen geahndet werden, denn, so fragt Hommel polemisch: »Wer denkt beim Beischlaf schon an Glaubensfragen? Oder wird dadurch die Religionsausübung befleckt? Oder ist etwa der Jude nicht ebenso ein Mensch wie der Christ?«35 schichte des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1994, 65–77. 33 Eine Verbindung ließe sich über Lessings Freund und Vetter Christlob Mylius (1722–1754) denken, der in Leipzig auch juristische Vorlesungen gehört hat. Eva J. Engel hat Mylius in seinem Bildungsweg dargestellt und dabei die Anregungen für Lessing unterstrichen, vgl. Eva J. Engel, Ad se ipsum? Werde ich denn niemals des Vorwurfs los werden können, den Sie mir wegen M. machen?, in: Dies./Claus Ridderhoff (Hg.), Neues zur Lessing-Forschung (s. o. Anm. 11) 43–57. 34 »Doch müssen die Rechtslehrer zeitliche Gesetze, die aus irgendeinem heute nicht mehr bekannten Grunde eine uns heute grausam dünkende Rechtsfolge androhen, für ungültig erklären und nicht etwa ihre ewige Gültigkeit behaupten. Durch diesen Irrglauben ist einst viel Unfug angerichtet worden.« So Hommel mit Blick eben auf das Eheverbot zwischen Christen und Juden, zit nach: Hans Hattenhauer, Von Christen, Juden und Menschen. Zum Strafrecht der Aufklärung, in: Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, Paderborn 1769, 244–269, hier: 246 35 Ebd.

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Lessing, Gellert, Michaelis, der anonyme Verfasser der eingangs genannten Abhandlung, die Lessing rezensierte, Hommel und Mendelssohn – das sind nur wenige Stimmen in der Geschichte einer aufgeklärten Kritik an den Vorurteilen gegenüber den Juden, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Argumentation und Akzentuierung. Sie können als Beispiele für den dialogisch argumentativen Grundzug der europäischen Aufklärung betrachtet werden, ein Beispiel aber auch dafür, wie im Medium der Literatur, von Drama und Roman, zentrale ethische, religiöse und staatsrechtliche Probleme diskutiert wurden. In dem ›dramatischen Gedicht‹ Nathan der Weise wird diese Diskussion in anderer Weise fortgesetzt. Die Bühnenhandlung wird von Vertretern der drei monotheistischen Religionen getragen, deren wechselseitige Vorbehalte immer wieder geäußert, freilich durch die Handlungs- und Dialogführung weitgehend entkräftet werden. So ist eine zentrale Einsicht des Klosterbruders im Dialog mit Nathan zugleich eine von Lessing immer wieder betonte Geschichtswahrheit, wodurch das Verhältnis von Judentum und Christentum historisch miteinander in Beziehung gesetzt werden müsse: Und ist denn nicht das ganze Christentum Aufs Judentum gebaut? Es hat mich oft Geärgert, hat mir Tränen gnug gekostet, Wenn Christen gar so sehr vergessen konnten, Daß unser Herr ja selbst ein Jude war.36

In den Dialogen des Nathan wird gezeigt, wie das menschliche Handeln häufig genug seine Voraussetzung auch im Gefühl hat, auch in religiösen Gefühlen. Sultan Saladin sieht in letzter Minute davon ab, den Tempelherrn zu töten, weil der Anblick dieses jungen Mannes sein Herz rührt, weil er ihn an seinen verstorbenen Bruder erinnert. Damit hat er vor allem Wissen und unabhängig von seinen Einstellungen Christen gegenüber mit dem Gefühl etwas Wahres erfaßt. Diese Rettung des Tempelherrn ist für die Fabel des Nathan eine conditio sine qua non, denn wäre der Tempelherr hingerichtet worden, hätte er Recha nicht aus dem Brand von Nathans Haus retten können und Recha wäre verbrannt. Nathan hätte dann ein zweites Mal eine Familie verloren. Der Tempelherr wußte seinerseits nicht, daß er die Tochter eines Juden rettete. Mit seinen judenfeindlichen Vorbehalten hält er nicht hinterm Berg, was wiederum Nathan die Möglichkeit gibt, im Dialog die Unbegründetheit dieser Vorurteile aufzuzeigen. Der Tempelherr wird ihm schließlich zustimmen, wenn er konstatiert: Sind Christ und Jude eher Christ und Jude Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch Zu heißen!37 36 Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, in: Ders., Werke 1778–1780, FA 9, hg. v. Klaus Bohnen und Arno Schilson, 483–627, hier: 595 (IV,7; V. 642–646). 37 Lessing, Nathan der Weise (s. o. Anm. 36), 533 (II,6; V. 523–526).

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Nathan scheint von der Überzeugung getragen zu sein, daß die Religion zwar zum Menschen gehöre, daß aber die jeweilige Religion, zu der er sich zugehörig fühlt, nicht allein seine Humanität ausmacht. Als er von dem Klosterbruder einmal ein Christ genannt wird, »ein beßrer Christ war nie!«,38 wegen der Vergebensbereitschaft, Demut und Nächstenliebe, kommentiert Nathan dies mit den Worten: [...] Wohl uns! Denn was Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir Zum Juden! [...]39

Auf die Frage, was denn ein Jude sei, gibt Lessings Schauspiel keine Antwort nach Maßgabe von religiösen Überzeugungen oder theologischen Dogmen. Ob Jude oder Christ, das sind äußere Zuschreibungen, denen gemeinsame Einstellungen zugrunde liegen können. Sie unterscheidet wenig – oder nichts, wie Lessing in seiner Rezension im Jahre 1753 festgestellt hatte. Nathan selbst scheint keine Vorbehalte gegenüber anderen Religionen zu haben, mit dieser Haltung steht er aber allein da. Seine eigenen Glaubensüberzeugungen und die Antwort zur Frage nach den Gründen für die Religionszugehörigkeit legt er in der Ringparabel dar. Die Zugehörigkeit zu einer Religion ist nicht die Folge eines rationalen Entschlusses, es ist die Religion der Väter, der man auf Treu und Glauben angehört, sie ist mithin im Zwischenbereich von Vernunft und Gefühl angesiedelt. Nathans Position erhält freilich eine weitere Präzisierung, verfolgt man die wenigen Kommentare von Recha, seiner Pflegetochter, zur Religion. An ihr wird die Macht des Gefühls in Glaubensdingen erkennbar. Recha tritt zunächst als Schwärmerin auf, unter dem Einfluß der Christin Daja. Diese hat einen Engel als Rechas Retter zu erkennen geglaubt und Recha hatte sich diese Deutung in Abwesenheit Nathans zu eigen gemacht. Es ist dann Nathan, der ihr beweist, daß solche religiös überhöhte Deutung in Wirklichkeit eine Selbstüberhebung des Menschen darstellt, verbunden mit einer Mißachtung der guten menschlichen Tat, die das wirkliche Wunder ist. Recha erhebt dann auch selber Einwände gegen Dajas Christentum. Die Art, wie sie diese äußert, läßt zugleich den Unterschied zwischen Judentum und Christentum aus der Perspektive ihres Judentums erkennen. Recha wendet sich nämlich nicht gegen das Christentum schlechthin als falscher Religion. Es sei nur nicht ihre Religion und die ihres Vaters. So sagt Recha zu Daja: Du hast doch wahrlich deine sonderbaren Begriffe! ›Sein, sein Gott! Für den er kämpft‹! Wem eignet Gott? was ist das für ein Gott, Der einem Menschen eignet? der für sich Muß kämpfen lassen? [...] Wenn war ich nicht ganz Ohr, so oft es dir Gefiel, von deinen Glaubenshelden mich 38 Lessing, Nathan der Weise (s. o. Anm. 36), 597 (IV,7; V. 689f ). 39 Lessing, Nathan der Weise (s. o. Anm. 36), 597 (IV,7; V. 690–693).

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Zu unterhalten? Hab’ ich ihren Taten Nicht stets Bewunderung; und ihren Leiden Nicht immer Tränen gern gezollt? Ihr Glaube Schien freilich mir das Heldenmäßigste An ihnen nie. Doch so viel tröstender War mir die Lehre, daß Ergebenheit In Gott von unserm Wähnen über Gott So ganz und gar nicht abhängt. – Liebe Daja Das hat mein Vater uns so oft gesagt;40

Recha kann Bewunderung und sogar Tränen des Mitleids für Dajas Erzählungen von christlichen Helden und Märtyrern, die um ihres Glaubens Willen leiden, aufbringen. Doch sagt das Heroische ihr nichts über den Glauben als solchem. Dieser fordert vielmehr ›Ergebenheit in Gott‹, also eine mit Demut vergleichbare Haltung, eine Wendung, die Nathan selbst an exponierter Stelle in der Ringparabel gebraucht. Aus Rechas Einwänden gegen Daja lassen sich zwei Vorbehalte gegen deren Christentum ableiten: Zum einen richtet Recha sich gegen Vorstellungen von Gott, die diesen vermenschlichen, zum anderen gegen Überzeugungen, Gott gehöre irgend jemandem an, oder er ließe für sich kämpfen. Auch ihrer Überzeugung, daß die menschlichen Vorstellungen von Gott von diesem selber grundsätzlich unterschieden sind, liegt die Ablehnung jeder Anthropomorphisierung zugrunde. Freilich hatte das Seufzen, Warnen, Beten und Drohen von Daja insofern eine nützliche Wirkung auf Recha, als es sie selbst dazu zwang, eigene Überlegungen anzustellen und eine Haltung der Nachdenklichkeit zu entwickeln. In diesen Dialogen wird Lessings eigene Haltung in religiösen Streitfragen erkennbar, der seine eigenen Positionen stets in Auseinandersetzungen mit anderen Anschauungen und Argumentationen entwickelte. In der Ringparabel wird die Tatsache, daß es drei monotheistische Religionen gibt, von Nathan im Lichte der Vorsehung gedeutet, als Möglichkeit, auf diese Weise der Tyrannei von nur einer einzigen Religion zu entgehen: Möglich; daß der Vater nun Die Tyrannei des Einen Rings nicht länger In seinem Hause dulden wollen!41

Zudem ist die Existenz von nicht weniger als drei Offenbarungsreligionen für Lessing als eine Voraussetzung für »Religions-Bewegungen« anzuerkennen. Sie sind »sichtbare Veränderungen in der Ordnung der Dinge nebeneinander«, also »Fermentationen«,42 die die Substanz der Sache, um die es geht nicht verändern, sondern zu deren Aufklärung und Wachstum beitragen. Zwar gibt es nur die eine wahre Religion, doch diese zu erkennen, sei dem Menschen nicht möglich. So gelesen, ist Lessings Nathan nicht lediglich ein poetisches Plädoyer für die Toleranz der Religionen, sondern zugleich ei40 Lessing, Nathan der Weise (s. o. Anm. 36), 542f. (III,1; V. 39–77). 41 Lessing, Nathan der Weise (s. o. Anm. 36), 559 (III,7; V. 519–521). 42 Gotthold Ephraim Lessing, [Anmerkungen zu einem Gutachten über die itzigen Religionsbewegungen], (Nachlaß, ca. 1780), in: Ders.,Werke 1774–1778, FA 9, hg. v. Arno Schilson, 220.

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ne ganz ungewöhnliche Aussage zu Religion und Theologie. ›Toleranz‹ bedeutet in der Semantik des 18. Jahrhunderts so viel wie Duldung, und um Duldung geht es in der Ringparabel aber gerade nicht.43 Denn hier wird die Möglichkeit unterstellt, daß sie alle drei miteinander streitenden Religionen für die Entwicklung zu einer künftigen Offenbarung unerläßlich sind, sie folglich jeweils Übergangsstadien in einem historischen Bildungs- und Erziehungsprozeß darstellen. In diesen Horizont gerückt, sind alle drei Religionen gleichberechtigt. »Nathans Gesinnung gegen alle positive Religion ist von jeher die meinige gewesen«,44 so schreibt Lessing in einem Fragment zu einer Vorrede zum Nathan. Das Lustspiel Die Juden und Nathan der Weise haben beide verdeckte Bezüge zu einer Gleichniserzählung Jesu, zu dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas10,30– 37). Dieses Gleichnis ist seine Antwort von Jesus auf die Frage der Schriftgelehrten, wer denn der Nächste sei, der zu lieben sei. Der Samariter nimmt sich eines überfallenen Juden an, nachdem andere Juden gleichgültig an ihm vorbeigegangen sind. Auch im Nathan hilft der Tempelherr der Andersgläubigen, ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Der Jude Nathan wiederum erzieht das Kind eines Freundes, eines Christen und liebt sie wie seine Tochter. Selbst Sultan Saladins Begnadigung des Tempelherrn kann als eine Variation dieses Themas verstanden werden. Als gemeinsamer Fluchtpunkt von biblischer Gleichniserzählung und den beiden Dramen erscheint die »allgemeine Menschenliebe«,45 wie sie von dem Reisenden in Die Juden postuliert worden war, eine Liebe, die in der guten menschlichen Tat ihren Ausdruck findet. Nichts anderes ist der Sinn der Aufforderung des Richters in der Ringparabel.46 In dem frühen Lustspiel Die Juden wie auch in Nathan der Weise finden sich die wesentlichen dialogischen Aussagemodi, wie Verteidigen, Widerlegen und Rehabilitieren, die auch in anderen apologetischen Schriften Lessings nachweisbar sind, von denen einige den Begriff ›Rettung‹ im Titel tragen. Diese Rettungen gehören zu Lessings Beiträgen zu Gelehrtenstreitigkeiten, in denen er Fehlurteile aufdeckt und falsche Überlieferungen 43 Hier ist der Unterschied zwischen den Positionen zwischen Lessing und seinem Großvater Theophil Lessing aufschlußreich, hatte Theophil Lessing doch in seiner juristischen Dissertation De Religionum Tolerantia (Leipzig 1669) für die Duldung der Religionen plädiert, damit meinte er die Toleranz, die die Obrigkeit gegenüber den Religionen walten lassen solle, es geht ihm nicht um Fragen des Verhaltens zwischen den Angehörigen einzelner Religionen untereinander. Lessing nimmt im Übrigen eine deutliche Unterscheidung zwischen Duldung und Billigung, also Akzeptanz, vor; vgl: Theophil Lessing, De Religionum Tolerantia. Über die Duldung der Religionen, hg. u. eingeleitet v. Günter Gawlick u. Wolfgang Milde, Göttingen 1992; Gawlik betont, Toleranz meine hier »Duldung eines Übels, denn Lessing ist der Überzeugung, daß alle Religionen außer der einen falsch sind, daß alle falschen Religionen Übel sind und daß es besser wäre, wenn keine Übel existierten. Die Verschiedenheit der Religionen kann daher bestenfalls geduldet werden.« Günter Gawlik, Zum ideengeschichtlichen Kontext der Schrift, in: Theophil Lessing, De Religionum Tolerantia. Über die Duldung der Religionen, 65–79, hier. 68. 44 Gotthold Ephraim Lessing, [Fragment einer Vorrede], in: FA 9, 665–666, hier: 665. 45 Lessing, Die Juden (s. o. Anm. 19), 451 (2. Auftritt). 46 Vgl. dazu: Johannes von Lüpke, Der fromme Ketzer. Lessings Idee eines Trauerspiels »›Der fromme Samariter‹ nach der Erfindung des Herrn Jesu Christi«, in: Eva J. Engel/Claus Ridderhoff (Hg.), Neues zur Lessing-Forschung (s. o. Anm. 11), 128–151.

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korrigiert, dies freilich so, daß seine eigene Position auch für ein nicht gelehrtes Publikum nachvollziehbar ist. Rettungen konnten für Lessing im Medium des Theaters, wie auch durch Essay und Dialog erfolgen. In seiner Schrift Rettung des Hier. Cardanus nimmt Lessing den Philosophen Hieronymus Cardanus (1501–1576) vor dem Vorwurf des Atheismus in Schutz.47 In seinem Hauptwerk De subtilitate hatte Cardanus Heidentum, Christentum, Judentum und Islam gegeneinander abgewogen und behauptet, über die richtige Religion werde einmal ein zufälliger Kriegsausgang entscheiden. Lessing hält dagegen, daß Zufälle nur über den Ausgang von Kriegen entscheiden könnten, über mehr aber nicht. Lessing hat noch andere gewichtige Einwände gegen Cardanus, wenn er ihm vorwirft, nur dem Christentum gegenüber gerecht zu sein, womit er implizit den Atheismusvorwurf zurückweist. Zum Beweis führt Lessing eine Diskussion über Heidentum, Judentum, Christentum und Islam ein. Er tritt dabei dem weit verbreiteten Topos entgegen, von dem auch Cardanus Gebrauch macht, Gott habe sich von den Juden abgewendet, deren verstreutes Leben in der Diaspora sei ein sichtbares Zeichen dafür. Lessing zieht eine entgegengesetzte Schlußfolgerung und nutzt dafür literarische Verfahren von Rede und Gegenrede, historische Ableitung und Mutmaßung: »Wie wann ihr [der Juden, G.D.] jetziger Zustand, nichts als eine verlängerte Babylonische Gefangenschaft wäre? Der Arm, der sein Volk damals rettete, ist noch jetzt ungeschwächt. Vielleicht hat der Gott Abrahams, die Schwierigkeit, die Nachkommenschaft dieser Frommen wieder in ihr Erbteil zu führen, nur darum sich so häufen, und nur darum so unübersteiglich werden lassen, um seine Macht und Weisheit in einem desto herrlichern Glanze, zur Beschämung ihrer Unterdrücker, an Tag zu legen. Irre dich nicht, Cardan, würde ihm ohne Zweifel ein rechtgläubiger Israelite geantwortet haben; unser Gott hat uns so wenig verlassen, daß er auch in seinen Strafgerichten, noch unser Schutz und Schirm bleibt. Wann er nicht über uns wachte, würden wir nicht längst von unsern Feinden verschlungen sein? Würden sie uns nicht längst von dem Erdboden vertilgt, und unsern Namen aus dem Buche der Lebendigen ausgelöschet haben? In alle Winkel der Welt zerstreuet, und überall gedrückt, beschimpft und verfolgt, sind wir noch eben die, die wir, vor tausend und viel mehr Jahren, gewesen sind. Erkenne seine Hand, oder nenne uns ein zweites Volk, das dem Elende so unüberwindliche Kräfte entgegen setzt, und bei allen Trübsalen den Gott anbetet, von dem diese Trübsalen kommen; ihn noch nach der Weise ihrer Väter anbetet, die er mit guten überschüttete.«48

Dieser Passus zeigt exemplarisch, wie Lessing seine Argumente aufbaut, wie er durch die beiden Stimmen im Text ein und denselben Sachverhalt – das Leben der Juden in der Diaspora – unterschiedlich perspektiviert. Solche literarischen Verfahren des dramatisch bewegten Sichtwechsels und der dialogischen Denkbewegung macht Lessing für das Gespräch über die Religionen fruchtbar. Sein Ziel ist Vorurteilskritik und Diskussion über 47 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Rettung des Hier. Cardanus, in: Ders., Werke 1754–1757, FA 3, hg. v. Conrad Wiedemann unter Mitwirkung von Wilfried Barner und Jürgen Stenzel, 198–223, hier: 198f; die Titel der anderen Rettungen sind: Rettungen des Horaz, Rettung des Inepti Religiosi, und seines ungenannten Verfassers, Rettung des Cochläus aber nur in einer Kleinigkeit. 48 Lessing, Rettung des Hier. Cardanus (s. o. Anm. 47), 212f.

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Glaubenswahrheiten mit Hilfe literarisch-dialogischer Mittel. Er setzt sein dramatisches Talent und Können auch hier ein – wie später im Nathan, nachdem ihm die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze untersagt worden ist. Pointiert gesagt, gibt es keinen Denker wie Lessing in Fragen der Theologie, der nicht zugleich auch Dramatiker, Kritiker und Fabelerzähler wäre. Historisch bezieht Lessing Judentum und Christentum immer wieder eng aufeinander, etwa in jenen »Rettungen«, die auf den ersten Blick nichts mit dem Judentum zu tun zu haben scheinen. Ein markantes Beispiel dafür ist das frühe Fragment Gedanken über die Herrnhuter. Lessing ist weit davon entfernt, sich zur herrnhutischen Frömmigkeit zu bekennen. Dennoch nimmt er diese Frömmigkeitsbewegung vor den Angriffen der protestantischen Orthodoxie in Schutz.49 Den Impuls der Herrnhuter Gemeinschaft zu praktischer Tätigkeit teilt Lessing selber. »Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen«,50 so erklärt er in diesem Zusammenhang. Um die Herrnhuter historisch zu bestimmen, holt Lessing zu »einer Geschichte der Weltweisheit in einer Nuß«51 aus, indem er eine Ursprungsgeschichte erzählt. Die »Religion des Adams«52 sei zunächst sehr lebendig gewesen, durch Adams Nachkommen aber seien Zusätze gemacht worden, die das Wesentliche von der Wahrheit entfernt hätten. »Wer konnte die Welt aus ihrer Dunkelheit reißen? Wer konnte der Wahrheit den Aberglauben besiegen helfen? Kein Sterblicher. Ein deus ex machina [griechisch im Original, G.D.]. Christus kam also. Man vergönne mir, daß ich ihn hier nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer ansehen darf«.53 ›Deus ex machina‹ – das ist ein Terminus technicus aus der Theaterarbeit: gegen einen ›deus ex machina‹ auf dem Theater, der die Konflikte mit einem ›coup de théâtre‹ löst, ist Lessing mehr als einmal zu Felde gezogen. Denn der ›deus ex machina‹ greift von außen in die Bühnenhandlung ein und löst Konflikte, die nach menschlichem Ermessen gar nicht lösbar gewesen wären. In dem Argumentationsgang der Gedanken über die Herrnhuter eröffnet Lessings Formel vom ›deus ex machina‹ die Möglichkeit, Christus als außerordentlichen und von der menschlichen Vernunft letztlich nicht begreifbaren Menschen zu bezeichnen, der aber selber nur scheinbar göttlich ist. Dessen Absicht sei nichts anderes gewesen, »als die Religion in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen«.54 Mit Lauterkeit bezeichnet Lessing das, was er auch ›Geist‹ der Religionen nennt. Diesen Geist gesteht er dem Judentum ebenso wie dem Christentum zu. Was diesen Geist ausmacht, führt er freilich nicht aus, und dies mit Absicht, denn hier nähert er sich den Grenzen des direkt Mitteilbaren. Und er führt auch nicht weiter aus, wie und ob aus der historischen Abfolge der beiden Religionen sich Erkenntnisse über die richtige Religion ableiten lassen. Dazu wird er freilich später in der Erziehung 49 Lessing verweist auf Nikolaus von Zinzendorf, der nie »die Theorie unsers Christentums« zu verändern unternommen – es sei ihm um das tugendhafte Handeln gegangen, vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Gedanken über die Herrnhuter, in: FA 1 (s. o. Anm. 19), 935–945, hier: 945. 50 Lessing, Gedanken über die Herrnhuter (s. o. Anm. 19), 936. 51 Lessing, Gedanken über die Herrnhuter (s. o. Anm. 19), 938. 52 Martin Ohst (Wuppertal) verdanke ich den Hinweis, daß mit der Religion Adams ein Urmonotheismus zu verstehen ist, der nicht mit dem Judentum gleichzusetzen ist. 53 Lessing, Gedanken über die Herrnhuter (s. o. Anm. 3), 939. 54 Ebd.

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des Menschengeschlechts Vermutungen entwickeln. Lessing weist freilich schon hier darauf hin, daß das Christentum in dem Maße an »Lauterkeit« verloren habe, in dem es an weltlicher Macht gewonnen habe. Zwei Aspekte scheinen hier für das Verständnis des Judentums bedeutsam zu sein, zum einen die Tatsache, daß Lessing das Maß an ›willkürlichen Setzungen‹ im rabbinischen Judentum durchaus kritisch betrachtet, ein Umstand, den das etablierte Christentum mit dem rabbinischen Judentum gemeinsam hat. Zum anderen aber unterstreicht er die durchgängige Verwandtschaft beider Religionen. Noch 20 Jahre später wird er in den Neuen Hypothesen über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber diese Verwandtschaft zwischen Juden und den ersten Christen hervorheben: »Die ersten Anhänger Christi waren lauter Juden, und hörten, nach dem Beispiele Christi, als Juden zu leben nicht auf«.55 Die ersten Christen sind eben Juden gewesen, die »mit der Beschneidung das ganze Mosaische Gesetz übernommen hatten«.56 In seinem Herrnhuter Fragment legt Lessing die Notwendigkeit einer Erneuerung des Christentums nahe, in dessen Zentrum die Liebe zu Gott zu stehen habe. Diese Dimension des Emotional-Geistigen in der Religion, das nicht durch die Vernunft preisgegeben werden dürfe, betont Lessing immer wieder, etwa wenn er selbst den religiösen Enthusiasten ihre Berechtigung zuspricht –sofern sie keine schwärmerischen Proselytenmacher werden, wie etwa Johann Kaspar Lavater. Impulse für die Religion könnten auch von Enthusiasten ausgehen, selbst wenn ihnen Theologen und Philosophen im Zuge ihrer Kritik an der Schwärmerei opponierten. »Diese Herren, die ich nicht kenne [...], hielten Wärme und Sinnlichkeit des Ausdrucks, inbrünstige Liebe der Wahrheit, Anhänglichkeit an eigne besondere Meinungen, Dreistigkeit zu sagen was man denkt, und wie man es denkt, stille Verbrüderung mit sympathisierenden Geistern – hielten, sage ich, dieser Stücke eins oder mehrere, oder alle, für Enthusiasmus und Schwärmerei: ei nun! desto schlimmer für sie.«57 Hier wird einmal mehr deutlich, daß der Glaube für Lessing im Bereich des Gefühls verankert ist, die Kategorien von wahr und falsch versagen hier. Eine solche im Gefühl verwurzelte Frömmigkeit und religiöse Orientierung steht für Lessing nicht zur Diskussion.58 Diese Dimension des Fühlens ist in anderen Gemeinschaften allerdings in ähnlicher Weise zu finden, so auch bei den Freimaurern, über diese heißt es in Ernst und Falk, sie beruhten »nicht auf äußerlichen Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten; sondern auf dem gemeinschaftlichen Ge55 Gotthold Ephraim Lessing, Neue Hypothesen über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet. Wolfenbüttel 1778, in: Ders., Werke 1754–1757, FA 8, hg. v. Arno Schilson, 629–654, hier: 630 (§1). 56 Ebd. 57 Gotthold Ephraim Lessing, [Über eine zeitige Aufgabe], in: FA 8 (s. o. Anm. 55), 667–675, hier: 670. 58 »Was gehen dem Christen dieses Mannes (d. i. Reimarus) Hypothesen, Erklärungen und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, so selig fühlet. – Wenn der Paralyticus die wohltätigen Schläge Elektrischen Funken erfährt: was kümmert es ihn, ob Nollet, oder ob Franklin, oder ob keiner Recht hat?- [...] Kurz: der Buchstab ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion.« Gotthold Ephraim Lessing, [Gegensätze des Herausgebers], in: FA 8 (s. o. Anm. 55), 312–350, hier: 312.

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fühl sympathisierender Geister.«59 Lessing wußte allerdings um die Gefährdungen, die mit der Instanz des Gefühls verbunden sind. Nicht von ungefähr war er immer wieder gegen Schwärmerei zu Felde gezogen. Auch in seinen Trauerspielen sind die Schwärmer durchweg Gefährdete, wie etwa Emilia Galotti und Sara Sampson oder Philotas. Auch im Nathan sind Recha und der Tempelherr zeitweilig anfällig für Schwärmerei, verändern allerdings im Dialog mit Nathan ihre Haltung. In solchen direkten und indirekten Auseinandersetzungen mit den Religionen trat der Kamenzer Pastorensohn immer wieder als Liebhaber der Theologie, wenn auch nicht als Theologe auf.60 Lessing verstand sich selbst als freier Gelehrter, als Altertumswissenschaftler, Altphilologe, Literaturkritiker, und eben als Dramatiker. Die biblischen Überlieferungen waren ihm auch große Erzählungen, die er als Altertumswissenschaftler und Altphilologe im Horizont der modernen Textkritik las. Sie waren für ihn keine heiligen, von Gott unmittelbar inspirierten Schriften. Eine solche Überzeugung nachzuvollziehen, war ihm nicht möglich: »Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüber helfen, der tu es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet einen Gotteslohn an mir.«61 So erstaunt es nicht, wenn Lessing aus den biblischen Überlieferungen immer wieder Geschichten und Fabeln neu erzählt. Er hält sich dabei weitgehend an das, was man positiv wissen kann, gerade dann, wenn keine lückenlose Erzählung vorliegt. Damit folgt er einer Maßgabe, die er selbst im Umgang mit den historischen Überlieferungen in der Hamburgischen Dramaturgie entwickelt hatte.62 Diese Position läßt sich auch an Lessings Auseinandersetzungen mit der biblischen Überlieferung erkennen, wie er sie in der 1780 publizierten Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing geführt hat. Hier wird die Geschichte des Monotheismus in den Kontext der Entwicklungsgeschichte von Offenbarung und Vernunft der Menschen gestellt. Diese Geschichte vollzieht sich entsprechend den Lebensaltern des Menschen, von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Die Schriften des Alten Testaments entsprechen demgemäß dem frühesten Entwicklungsstand des Menschen, sie sind »Vorübung«,63 »Anspielung«,64 »Fingerzeig«65 und »Keime«66 höherer Wahrheiten. Hermann Samuel Reimarus hatte im 4. Fragment dar59 Gottfried Ephraim Lessing, Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 11–66, hier: 57. 60 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Axiomata. Wider den Herrn Pastor in Hamburg (1), in: FA 9 (s. o. Anm. 36), 57. 61 Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: FA 8 (s. o. Anm. 55), 437–445, hier: 443f. 62 »Darf ein Poet, oder ein Erzehler, wenn man ihn auch noch so viel Freiheit verstattet, diese Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken?« Diese Frage beantwortet Lessing negativ, die Charaktere müssen erkennbar bleiben; Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 33. Stück (21. August 1767), in: Ders., Werke 1767–1769, FA 6 hg. von Klaus Bohnen, 346f. 63 Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 87 (§44) 64 Ebd. (§45). 65 Ebd. (§46). 66 Ebd. (§47).

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gelegt, daß das Alte Testament keine Offenbarungsschrift sei, weil es für die frühen Zeiten Israels keine Zeugnisse über den Unsterblichkeitsglauben und den Glauben an Belohnung und Bestrafung des Menschen im jenseitigen Leben kenne, auch nicht die Vereinigung der Seele mit Gott.67 Lessing nimmt auf diesen Gedanken in Die Erziehung des Menschengeschlechts Bezug. Er wendet freilich gegen Hermann Samuel Reimarus ein: »Der Mangel jener Lehren in den Schriften des Alten Testaments beweiset wider ihre Göttlichkeit nichts. Moses war doch von Gott gesandt, obschon die Sanktion seines Gesetzes sich nur auf dieses Leben erstreckte. Denn warum weiter? Er war ja nur an das Israelitische Volk, an das damalige israelitische Volk gesandt: und sein Auftrag war den Kenntnissen, den Fähigkeiten, den Neigungen dieses damaligen Israelitischen Volks, so wie der Bestimmung des künftigen, vollkommen angemessen. Das ist genug.«68

Hier berührt sich Lessings Bestimmung von Offenbarung und Religion in der Erziehungsschrift mit derjenigen einer einzigen praktisch-tätigen Religion in allen positiven geoffenbarten Religionen, wie sie Nathans Ringparabel zugrunde liegt. Lessings Lesart des historischen Judentums in der Erziehungsschrift ist aufschlußreich. Nicht weniger als in dreiundvierzig Paragraphen dieser Schrift, die insgesamt hundert Paragraphen umfaßt, widmet er der Rolle des Judentums in der Entwicklung des Monotheismus und der Reinigung der Moralbegriffe. Gott habe »ein einzelnes Volk« zur besonderen Erziehung der Menschen gewählt, »und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können.«69 Diese Aussagen werden dann sprechend, wenn man sie als Element einer Ursprungserzählung versteht und mit denen von Jean-Jacques Rousseau zur Dekadenz des Menschen durch Soziabilität vergleicht. Wie Rousseau erzählt Lessing eine Geschichte des Menschengeschlechts, doch für ihn ist es eine Fortschrittsgeschichte, wenn man nur die Entwicklung hin zu den monotheistischen Religionen im Blick behält, von denen das Judentum die älteste ist. Die Vorstellung von »einem Einigen Gotte«70 mußte nach Lessing im ersten Menschen schon angelegt gewesen sein, sonst hätte sie überhaupt 67 Vgl. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Vierter Beitrag von Gotthold Ephraim Lessing [Hermann Samuel Reimarus Viertes Fragment], in: FA 8 (s. o. Anm. 55), 171–277, bes. 247ff. 68 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 80, (§23); in den ›Gegensätzen zu Reimarus‹ wird das historische Judentum ebenfalls als notwendig im Gange der Offenbarung interpretiert: »Diese Bücher können sogar eine seligmachende Religion enthalten; das ist, eine Religion, bei deren Befolgung sich der Mensch seiner Glückseligkeit so weit versichert halten kann, als er hinausdenkt. [...] Freilich wäre eine solche seligmachende Religion nicht die seligmachende Christliche Religion. [...] Gott könnte ja wohl in allen Religionen die guten Menschen in der nemlichen Betrachtung, aus den nemlichen Gründen selig machen wollen: ohne darum allen Menschen von dieser Betrachtung, von diesen Gründen die nemliche Offenbarung erteilt zu haben.« Lessing, [Gegensätze des Herausgebers], in: FA 8 (s. o. Anm. 55), 312–350, hier: 331f; zum Zusammenhang von Erziehungsschrift, Nathan und den Gegensätzenvgl.: Ingrid Strohschneider-Kohrs, Historische Wahrheit der Religion. Hinweise zu Lessings Erziehungsschrift, Göttingen 2009, 16–28, Strohschneider hat die Formel von der »bleibendbeunruhigende(n) Gewißheit von Unwißbarem« für Lessings Haltung mit Blick auf die Wahrheit der Religion geprägt, ebd. 50. 69 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 76 (§8). 70 Ebd. (§6).

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nicht zur Entfaltung kommen können. Dem rohen Zustand entsprechend habe die Erziehung in »unmittelbare[n] sinnliche[n] Strafen und Belohnungen«.71 bestanden. Das Volk sei »in diesem heroischen Gehorsame gegen Gott erzogen«72 Lessing nimmt eine Einschränkung vor, wenn er zwischen dem rohen Volk einerseits und den einzelnen Gliedern desselben andererseits unterscheidet. Gott habe in dem jüdischen Volk nämlich »die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts«73 erzogen. »Das wurden Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer aus einem so erzogenen Volke.«74 So konnte Jesus nur inmitten des jüdischen Volkes aufstehen, um reinere Religionsbegriffe, vor allem die Idee der Unsterblichkeit der Seele, zu lehren. Lessing unterstellt, daß die Offenbarung die menschliche Vernunft bei diesem Erziehungsprozeß geleitet habe. Allerdings kann auch die Vernunft die Offenbarung erhellen – ein Wechselbezug, der von Anbeginn besteht und sich im Zuge der Erziehung des Menschengeschlechts immer weiter vertieft.75 Im Kontext dieser Erziehungsgeschichte von Offenbarung und Vernunft erscheint es unvermeidlich, daß die jüdische Religion durch die christliche überwunden wird, als die ältere noch unvollständige, ja rohere Gestalt der Offenbarung. Das historische Judentum wird mithin als ein Übergangsstadium interpretiert auf dem Wege zur reinen Vernunftreligion. Auch wenn das Christentum als historische Stufe einmal in der Zukunft relativiert werden wird, so erscheint es in historischer Perspektive seiner Vorgängerreligion als überlegen. Lessing kann es in diesem Kontext nicht vermeiden, seine Vorbehalte gegenüber dem rabbinischen Judentum zu wiederholen, wie sie in christlichen Kreisen üblich waren. Die Beschränkung auf das Alte Testament hätte zu einer Verzerrung der Offenbarungswahrheiten geführt: »Man muß der Anspielungen und Fingerzeige zu viel suchen und machen, die Allegorien zu genau ausschütteln, die Beispiele zu umständlich deuten, die Worte zu stark pressen. Das giebt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand; das macht es geheimnißreich, abergläubisch, voll Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte. – Die nehmliche Weise, wie die Rabbinen ihre heiligen Bücher behandelten! Der nehmliche Charakter, den sie dem Geistes ihres Volks dadurch ertheilten! – Ein beßrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. – Christus kam.«76

Hier zeigt sich, wie Lessing, durchaus im Horizont der Zeit, völkerpsychologisch argumentieren kann. Freilich gibt es auch Kontrapunkte, wenn er vor Überhebung und zu großer Sicherheit wegen scheinbar besserer Religionseinsicht warnt: »Hüte dich, du fähigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuch stampfest und glühest, hüte dich, es deine schwächere Mitschüler merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehn beginnest. Bis sie dir nach sind, [...] kehre lieber noch einmal 71 72 73 74 75 76

Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 78 (§16). Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 84 (§33). Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4),78 (§18). Ebd. Vgl. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 84 (§36) Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 88 (§§51–53).

Gotthold Ephraim Lessings Verständnis des Judentums

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selbst in dieses Elementarbuch zurück, und untersuche, ob das, was du nur für Wendungen der Methode, für Lückenbüßer der Didaktik hältst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist.«77

Dies ist die Variation eines Themas aus dem Nathan, die Gleichberechtigung der drei monotheistischen Religionen im Horizont einer gemeinsamen Entwicklung zur Vernunftreligion. Wer nun aber glaubt, in Lessings Erziehungsschrift mit ihren hundert Paragraphen Lessings letztes Wort zu den Offenbarungsreligionen und insbesondere zum Judentum in der Hand zu haben, wird durch das Motto dieser Schrift eines besseren belehrt. Lessing als der fiktive Herausgeber dieser Schrift setzt ein Augustinus-Motto wie einen Stolperstein vor seine Leser: »Haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt.«78 In einem Vorbericht zu seiner Schrift präsentiert der Herausgeber, also Lessing, den eigentlichen anonymen Autor als auf einem Hügel stehend, an Moses auf dem Berg Sinai wie an Rousseau erinnernd, von »welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt. [. . . ] Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse.«79 Lessing kommt es auf den Fingerzeig des auf dem Hügel stehenden begeisterten Sehers an: »Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?«80

Das ist eine in der Tat abgründige Formulierung. Denn nicht nur werden damit die verschiedenen Offenbarungswahrheiten der einzelnen Religionen qualifiziert, die der Autor Der Erziehung des Menschengeschlechts in einem Gang der zunehmenden Reinigung, bis hin zu dem Punkt sieht, an dem das Gute um seiner selbst Willen und nicht aus Furcht vor Gott und dessen Strafen getan wird. Aber eben diese Meinung könnte ebensosehr, so deutet es Lessing in seiner Rolle als fiktiver Herausgeber an, ein von Gott gewollter Irrtum sein, der freilich wohltätige Auswirkungen gehabt haben könnte. Der Irrtum könnte die Menschen auf die Spur des richtigen Handelns führen. Dies ist einmal mehr ein Beleg dafür, daß es Lessing, wie schon in seiner frühen Schrift über die Herrnhuter, letztlich nie auf den richtigen Glauben ankommt, das in einer Religion seinen Grund hat, sondern stets auf das richtige Tun. So hat Lessing mit Motto, Herausgeberfiktion und Vorbericht seine Schrift mit einem großen Als-Ob-Vorbehalt versehen. Es könnte auch ganz anders gewesen sein, doch wie es auch gewesen ist, ob Irrtum oder Wahrheit, es trägt doch zur Reinigung unserer Begriffe ethischen Handelns bei, ist Teil der Erziehung des Menschengeschlechts. Das 77 78 79 80

Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 92 (§§68, 69). Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 73. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: FA 10 (s. o. Anm. 4), 74. Ebd.

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Gesa Dane

ist seine Hoffnung. Lessing wäre nicht Lessing, wenn er nicht, in einem persönlichen Brief, die Vorläufigkeit auch dieser Überlegungen zugestanden hätte: »Die Erziehung des Menschengeschlechts ist von einem guten Freunde, der sich gern allerlei Hypothesen und Systeme macht, um das Vergnügen zu haben, sie wieder einzureißen. [...] Aber was tuts? Jeder sage, was ihm die Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.«81

So gelesen, stellt die Erziehungsschrift keine Rücknahme des Nathan dar. Lessing hat das dramatische Gedicht einmal eine Utopie genannt. Was in der historischen, stückhaften Erzählung der Erziehungsschrift in eine Sequenz gereiht wird, wird in dem Bühnenstück in Interaktion gezeigt, durch Vertreter der drei Religionen. Lessing stößt noch heute bei vielen seiner Leser auf Vorbehalte oder Verwunderung, weil er die erwarteten harten systematischen Argumente in theologicis gerade nicht liefert. Der junge Friedrich Schlegel hat eben dieses Charakteristikum in Lessings kritischliterarischem Schreiben zu würdigen gewußt. In Über Lessing (1797) drückt er seine Wertschätzung aus, wenn er betont, Lessing sei einer von »den revolutionären Geistern«, der in »der Theologie wie auf der Bühne und in der Kritik [...] nicht bloß Epoche gemacht«82 habe. Lessings Nathan liest Schlegel denn auch »als Polemik gegen alle illiberale Theologie«83 und als eine Polemik gegen »durch Mißbildung in sich oder in andern erzeugte Dummheit und alberne Schnörkel im Verhältnisse des Menschen zu Gott«.84 Die Erziehung des Menschengeschlechts hat für Schlegel den Status einer »Philosophie des Christianismus«.85 Schlegel formuliert einen einzigen Einwand gegen diese Schrift, indem er fragt, ob Lessing »den großen Satz seiner Philosophie des Christianismus, daß für jede Bildungsstufe der ganzen Menschheit eine eigene Religion gehöre, auch auf Individuen angewandt und ausgedehnt, und die Notwendigkeit unendlich vieler Religionen eingesehen hat.«86 Auf diese Frage eine befriedigende Antwort zu geben, wäre freilich eine andere Diskussion geworden, vermutlich im Horizont der Subjektivitätsphilosophie des deutschen Idealismus, als dessen Ahnherrn Schlegel ohne Zögern auch Lessing reklamiert hätte.

81 Brief von Gotthold Ephraim Lessing an Johann Albert Heinrich Reimarus vom 6. April 1778, in: FA 12: Briefe von und an Lessing 1776–1781, hg. v. Helmut Kiesel, 142–144, hier 143f. 82 Friedrich Schlegel, Über Lessing, in: Ders., Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801) hg. v. Hans Eichner, Paderborn, München [. . . ] 1967, (= Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner) Bd. 2/1, 100–125, hier: 101. 83 Friedrich Schlegel, Über Lessing, 123. 84 Ebd. 85 Friedrich Schlegel, Über Lessing, 124. 86 Ebd.

Immanuel Kant: Judentum und Vernunftreligion Peter Grove Die Urteile über Kants Verhältnis zum Judentum bilden das denkbar breiteste Spektrum. Auf der einen Seite steht in der Literatur die Auffassung, dass Kants Ethik und Religionsphilosophie sehr gut zum Judentum passt, dass es bei Kants moralphilosophischer Interpretation der Religion eine grundsätzliche Übereinstimmung gerade mit der jüdischen Religion gibt. Hermann Cohen war ein prominenter Vertreter dieser Auffassung, die vor allem gerade in der Zeit des Neukantianismus verbreitet war.1 Auf der entgegengesetzten Seite findet man die Behauptung, dass – mit dem Titel eines Beitrags, typisch für eine neuere Forschungsrichtung – ein Weg »From Kant to Auschwitz« führt.2 Nicht zuletzt Kants Rede von ›der Euthanasie des Judentums‹3 hat hier Diskussionen veranlasst.4 1

2

3 4

Hermann Cohen, Innere Beziehungen der Kantischen Philosophie zum Judentum, in: Ders., Ethische und religiöse Grundfragen, Jüdische Schriften, Bd. 1, Berlin 1924, 284–305; ein anderes Beispiel ist Julius Guttmann, Kant und das Judentum, in: SGFWJ 12 (1908), 43–61. Dazu siehe Friedrich Niewöhner, »Primat der Ethik« oder »erkenntnistheoretische Begründung der Ethik«? Thesen zur Kant-Rezeption in der jüdischen Philosophie, in: Judentum im Zeitalter der Aufklärung (WSA IV), Bremen/Wolfenbüttel 1977, 119–161. – Aus Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910–1997 (abgekürzt AA) werden folgende Arbeiten zitiert: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 1913, 1–163 (mit Angabe der Originalpaginierung zitiert als KpV); Kritik der Urtheilskraft, AA V, 1913, 165–485 (mit Angabe der Originalpaginierung zitiert als KU); Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 1914, 1–202; Die Metaphysik der Sitten, AA VI, 1914, 203–493; Der Streit der Fakultäten in drei Abschnitten, AA VII, 1917, 1–116; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 1917, 117–333; 1747–1788, Kant’s Briefwechsel, Bd. I, AA X, 1922; Vorarbeiten und Nachträge, Kant’s handschriftlicher Nachlaß, Bd. X, AA XXIII, 1955. Joshua Halberstam, From Kant to Auschwitz, in: Social Theory and Practice 14 (1988), 41–54. Da Halberstam sich allein auf den Ansatz der Kantischen Ethik bezieht, wird sein Beitrag im Folgenden nicht diskutiert. Siehe dazu Bettina Stangneth, Antisemitische und antijudaistische Motive bei Immanuel Kant?, in: Horst Gronke/Thomas Meyer/Barbara Neisser (Hg.), Antisemitismus bei Kant und andern Denkern der Aufklärung. Prämierte Schriften des wissenschaftlichen Preisausschreibens »Antisemitische und antijudaistische Motive bei Denkern der Aufklärung«, Würzburg 2001, 11–124, hier 64–69. AA VII, 53. Siehe zum Beispiel Amy Newman, The Death of Judaism in German Protestant Thought from Luther to Hegel, in: JAAR LXI (1993), 455–484. – In unserem Zusammenhang besonders relevante systematisch angelegte Arbeiten sind Nathan Rotenstreich, The Recurring Pattern. Studies in AntiJudaism in Modern Thought, London 1963, die 23–47 unter der Überschrift »A Code of Statutory

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Da das Folgende Kants Verhältnis zum Judentum im Zusammenhang mit seiner Religionstheorie behandeln soll, wird es nicht so sehr auf den biographischen Befund ankommen, der einerseits Kants wohldokumentierte positive persönliche Beziehungen zu vielen Juden und andererseits judenfeindliche Äußerungen von ihm in Briefen und Anekdoten umfasst.5 Ein auch sachlich wichtiges Zeugnis des Ersten ist Kants Brief an Moses Mendelssohn vom 18. August 1783, wo er mit Bezug auf dessen im selben Jahr erschienene Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum hervorhebt, »mit welcher Bewunderung der Scharfsinnigkeit, Feinheit und Klugheit ich Ihren Jerusalem gelesen habe. Ich halte dieses Buch vor die Verkündigung einer großen, obzwar langsam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht allein Ihre Nation, sondern auch andere treffen wird. Sie haben Ihre Religion mit einem solchen Grade von Gewissensfreyheit zu vereinigen gewußt, die man ihr gar nicht zu getrauet hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kan. Sie haben zugleich die Nothwendigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreyheit zu jeder Religion so gründlich und so hell vorgetragen, daß auch endlich die Kirche unserer Seits darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen und drücken kan, von der ihrigen absondere, welches endlich die Menschen in Ansehung der wesentlichen Religionspuncte vereinigen muß; denn alle das Gewissen belästigende Religionssätze kommen uns von der Geschichte, wenn man den Glauben an deren Wahrheit zur Bedingung der Seeligkeit macht«.6

Kants Schriften sind wichtiger. Es ist nun nicht so, dass das Judentum ein großes Thema darin ausmacht, im Gegenteil. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die 1793 erschien, und Der Streit der Fakultäten, der zwar erst 1798 veröffentlicht, dessen einschlägiger erster Abschnitt aber schon kurz nach der Religionsschrift geschrieben wurde,7 enthalten viele, aber meistens knappe Aussagen über das Judentum. Es gibt jedoch zwei Textpassagen, die eine gewisse Ausführlichkeit besitzen und wirklich aufschlussreich sind.8 Vor allem von ihnen her soll im Folgenden untersucht werden, wie Kant die jüdische Religion darstellt, wie er sich zum geschichtlichen und zum zeitgenössischen Judentum stellt und wie sich Darstellung und Stellungnahme zu seiner eigenen Philosophie und Religionstheorie verhalten.

5 6 7 8

Laws (Kant)« eine vorzügliche philosophische Analyse von Kants Konzept vom Judentum geben, und die umfassende und in vielen Hinsichten hilfreiche Untersuchung von Stangneth (s. o. Anm. 2). Einschlägige Bibliographien finden sich aaO. 119–123 und bei Niewöhner (s. o. Anm. 1), 153–161. Inzwischen erschienene Titel sind Andrée Lerousseau, Le judaïsme dans la philosophie allemande 1770–1850, Paris 2001; Francesco Tomasoni, Modernity and the Final Aim of History. The Debate over Judaism from Kant to the Young Hegelians, Dordrecht 2003. Siehe dazu die Übersicht bei Karl Vorländer, Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, Bd. 2, Leipzig 1924, 73–80. AA X, 347. Vgl. Karl Vorländer, Einleitung, AA VII, 337–339. AA VI, 125–128; VII, 52f. Eine nützliche Zusammenstellung von Aussagen Kants über das Judentum gibt Stangneth (s. o. Anm. 2), 77–118.

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1. Judentum als statutarischer Glaube Die erste der genannten Passagen befindet sich in der zweiten Abteilung des dritten Stücks der Religionsschrift.9 Es dreht sich um Kants überhaupt ausführlichste Behandlung des Judentums, die von Hans Michael Baumgartner mit Recht als ›merkwürdig und irritierend‹ gekennzeichnet wurde.10 Die betreffende Abteilung hat zur Aufgabe, die Geschichte der positiven, organisierten Religion oder der historischen Kirche als Annäherung an die moralische Religion darzustellen. Mit dem Kirchenbegriff bezieht sich Kant nicht allein auf das Christentum, sondern auch auf andere religiöse Gemeinschaften. Seine Hauptthese ist jedoch, dass diese Geschichte eigentlich nur als die Geschichte der christlichen Religion dargestellt werden kann.11 Damit verbindet sich eine These mit Bezug auf das Judentum: dass es mit dem Christentum »in ganz und gar keiner wesentlichen Verbindung, d.i. in keiner Einheit nach Begriffen, steht« und ihm nur »die physische Veranlassung« gab, dass das Christentum »als eine völlige Verlassung des Judenthums [. . . ], auf einen ganz neuen Princip gegründet, eine gänzliche Revolution in Glaubenslehren bewirkte«.12 Bedeutsamer als diese These selbst ist für uns ihre Begründung, die Kants grundlegendste Aussagen über das Judentum enthält: »Der jüdische Glaube ist seiner ursprünglichen Einrichtung nach ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war; denn welche moralische Zusätze entweder damals schon oder auch in der Folge ihm angehängt worden sind, die sind schlechterdings nicht zum Judenthum als einem solchen gehörig. Das letztere ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten; vielmehr sollte es ein bloß weltlicher Staat sein, so daß, wenn dieser etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer der (wesentlich zu ihm gehörige) politische Glaube übrig bliebe, ihn (bei Ankunft des Messias) wohl einmal wiederherzustellen. Daß diese Staatsverfassung Theokratie zur Grundlage hat (sichtbarlich eine Aristokratie der Priester oder Anführer, die sich unmittelbar von Gott ertheilter Instructionen rühmten), mithin der Name von Gott, der doch hier bloß als weltlicher Regent, der über und an das Gewissen gar keinen Anspruch thut, verehrt wird, macht sie nicht zu einer Religionsverfassung«.13

Hier muss zuallererst der Begriff der ›statutarischen‹ Gesetze erklärt werden, der den Leitbegriff der Kantischen Auffassung des Judentums darstellt.14 ›Statutarisch‹ ist erstens eine Kennzeichnung im Hinblick auf den Ursprung der betreffenden Gesetze. ›Statuten‹ 9 AA VI, 124–136. 10 Hans Michael Baumgartner, Das »ethische gemeine Wesen« und die Kirche in Kants »Religionsschrift«, in: Friedo Ricken/Francois Marty (Hg.), Kant über Religion, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 156–167, hier 156. 11 AA VI, 124f. 12 AaO. 125, 127. 13 AaO. 125, vgl. 79. 14 Dazu Rotenstreich (s. o. Anm. 4), 23–28; Rainer Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990, 168.

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oder ›Satzungen‹ sind »von der Willkür eines Obern ausgehende« Gesetze oder Lehren.15 Es kann dabei um einen weltlichen oder um einen göttlichen Regenten gehen; im letzten Fall beruhen die Gesetze auf Offenbarung.16 Dem zitierten Passus zufolge scheint im Judentum das göttliche Regententum ganz im weltlichen aufzugehen. Zweitens ist ›statutarisch‹ eine inhaltliche Kennzeichnung. Kant hebt vor allem auf rechtliche Gesetze ab, wie das Zitat zeigt, in anderen Zusammenhängen außerdem auf Vorschriften und Lehren, die normalerweise unter den Religionsbegriff gebracht werden; so nennt Kant in bezug auf das Judentum zeremonielle Vorschriften.17 Kant gibt in drei Punkten einen »Beweis«18 für seine Disqualifikation des Judentums als Religion: Erstens sind die jüdischen Gesetze »Zwangsgesetze«, die »bloß äußere Handlungen betreffen«. Auch die Zehn Gebote sind nach Kant nicht auf die Gesinnung, sondern »schlechterdings nur auf die äußere Beobachtung« gerichtet. Zweitens schließt der jüdische Glaube keinen »Glauben an ein künftiges Leben« ein, und drittens ist die betreffende Gemeinschaft auf das jüdische Volk beschränkt. Kant fügt hier – seine zitierte Kritik des jüdischen Gottesgedankens ergänzend – hinzu, dass das mosaische Bildverbot nicht »so hoch anzuschlagen« ist. »Denn ein Gott, der bloß die Befolgung solcher Gebote will, dazu gar keine gebesserte moralische Gesinnung gefordert wird, ist doch eigentlich nicht dasjenige moralische Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nöthig haben«. Demgegenüber kann daran erinnert werden, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft das Bildverbot in Zusammenhang mit der Theorie der Darstellung von Vernunftideen in hohen Tönen lobt.19 Es ist versucht worden, diesen Antijudaismus von Kants Kampf mit der Zensur her zu erklären: In der Religionsschrift und im Streit der Fakultäten will Kant in Polemik gegen die orthodox-kirchliche Christentumsauffassung die Übereinstimmung seiner Religionsphilosophie mit der christlichen Religion erweisen, und das Judentum dient ihm hier allein als Folie: »Er schlägt [. . . ] den Juden, und meint die herrschende preußische Orthodoxie«.20 Dieser Erklärungsversuch setzt sich jedoch nicht nur darüber hinweg, dass positive Hinweise auf das Judentum in Kants anderen Schriften sehr selten sind, sondern entlastet auch nicht im Hinblick auf die negative Bewertung des jüdischen Glaubens, die ja auch von der vorgeschlagenen Interpretation vorausgesetzt wird. Meines Erachtens besteht kein Zweifel, dass die behandelten antijudaistischen Aussagen Kants eigenen Standpunkt ausdrücken. Etwas anderes ist, dass sie sein Bild des Judentums nicht erschöpfen. 15 16 17 18 19

AA VII, 22, vgl. 32. Siehe zum Beispiel AA VI, 104–106, 178. AaO. 79. AaO. 125. Zum Folgenden vgl. 125–127. KU 124: »Vielleicht giebt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildniß machen, noch irgend ein Gleichniß, weder dessen, was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u.s.w. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Periode für seine Religion fühlte, wenn es sich mit andern Völkern verglich«. 20 Heinz Moshe Graupe, Kant und das Judentum, in: ZRGG 13, 1961, 308–333, hier 317.

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2. Judentum und Vernunftreligion Davon sehen wir noch ab, indem wir zuerst Kants kritische Darstellung des Judentums durch Einbeziehung von zentralen Argumentationen seiner Religionsphilosophie besser zu verstehen suchen. Zunächst die Bestimmung der Religion als reinen Vernunftbegriff. Gemäß einer Bemerkung in der Kritik der Urteilskraft ist Religion »die Moral in Beziehung auf Gott als Gesetzgeber«.21 Diese Auffassung der Religion kann man in Kants pointierterer Definition näher bestimmt sehen, die erstmals in der Kritik der praktischen Vernunft eingeführt und dann in vielen Zusammenhängen variiert wird.22 Sie findet sich auch in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wo die präziseste Formulierung am Anfang des vierten Stücks steht: »Religion ist (subjectiv betrachtet) das Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote«.23 Unmittelbar könnte man vielleicht glauben, dass diese moralphilosophische Religionsdefinition, mit der Kant den Anspruch erhebt, »das Wesentliche aller Religion« anzugeben,24 der jüdischen Religion entgegen kommt. Das war die Intuition vieler Kantisch orientierten jüdischen Philosophen – nach Kant selbst ist aber das Gegenteil der Fall. Die Definition bestimmt die epistemische Struktur des religiösen Bewusstseins. Die Bestimmung läuft in der Sache darauf hinaus, dass die betreffende Erkenntnis keine eigentliche Erkenntnis, sondern eine besondere Beurteilung oder Deutung darstellt.25 Im Blick auf unsere Fragestellung ist es wichtig, dass damit mehrere subjektive Leistungen in die Religion eingehen, dass das religiöse Bewusstsein sich in Bezug auf mehrere Dimensionen aufbaut. Innerhalb der Religionsschrift wird die Definition in der ersten Abteilung des dritten Stücks begründet und erhellt.26 Zuerst kommt es für uns auf die in der Definition durch den Pflichtbegriff angegebene Dimension an. Der Pflichtbegriff umfasst nach der Metaphysik der Sitten teils Rechtspflichten, teils Tugendpflichten oder ethische Pflichten.27 Obwohl die Religionsdefinition fast überall von ›allen unseren Pflichten‹ spricht, sind, wie es ebenso überall hervorgeht, in ihr die ethischen Pflichten gemeint.28 Somit bezieht sich die Religion nicht auf die rechtliche, sondern auf die moralische Selbstgesetzgebung des Menschen. Damit ist die moralische Dimension der Religion noch nicht hinreichend bestimmt: die Gesetze, auf die die religiöse Deutung gerichtet ist, sind zudem öffentlich. Das dritte Stück der Religionsschrift geht von der These aus, dass die Autonomie nicht vom Ein21 22 23 24 25

KU 441. KpV 233; KU 477; AA VI, 440; 487 u. ö. AA VI, 153. AaO. 110, vgl. AA VII, 49; 54. Ulrich Barth, Die religiöse Selbstdeutung der praktischen Vernunft. Kants Grundlegung der Ethikotheologie, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 263–307, hier 297–307. 26 AA VI, 95–124; siehe dazu Allen W. Wood, Kants Moral Religion, Ithaca/London 1970, 187–192; Barth (s. o. Anm. 25), 301–303. 27 AA VI, 239; 394. 28 Vgl. besonders aaO. 99.

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zelnen, sondern nur in einer Gesellschaft realisiert werden kann.29 Die betreffende Gesellschaft kann keine rechtlich-bürgerliche, politische Gesellschaft sein, in der Zwangsgesetze gelten und die nur eine begrenzte Menge von Menschen umfasst. Von der im Gegensatz dazu beschriebenen ethischen Gesellschaft sagt Kant: »Wenn ein ethisches gemeines Wesen zu Stande kommen soll, so müssen alle Einzelne einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Gesetze, welche jene verbinden, müssen als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können«. Weil die Gesetze nicht rechtlich, sondern moralisch und innerlich sind, so argumentiert Kant, müssen sie als Gebote eines göttlichen Gesetzgebers gedacht werden.30 Mit der Näherbestimmung der moralischen Dimension gelangt Kant somit zugleich auch zum Begriff der Religion. Der letzte Schritt veranlasst eine weitere Abgrenzung: Der Urheber der Gesetze, auf die das religiöse Bewusstsein bezogen ist, ist und bleibt die menschliche Vernunft. Mit einem uns schon bekannten und hier in die Religionsschrift eingeführten Terminus, der die Religionsdefinition darin und im Streit der Fakultäten in den meisten Fällen abgrenzend begleitet: die Gesetze, die in der Religion als göttliche Gebote erkannt werden, sind nicht ›statutarische‹ Gesetze.31 Vergleichen wir mit diesem Gedankengang die obige Behandlung des Judentums, ergibt sich, dass das Judentum nach Kant alle diese Abgrenzungen nicht macht und deshalb die Religion grundsätzlich verfehlt. Das religiöse Bewusstsein wird sowohl in der Richtung des Rechts missverstanden als auch mit Heteronomie verwechselt. Es zeigt sich also, dass Kants These, das Judentum sei »eigentlich gar keine Religion«, von seinem spezifisch moralphilosophischen Begriff der Religion her zu verstehen ist und dass er diesen als Maßstab auf die jüdische Religion verwendet. Das dürfte wenig überraschend sein, und doch wird in der umfassendsten vorliegenden Untersuchung zum Thema behauptet, dass Kant nur das Christentum an der reinen Vernunftreligion, das Judentum hier dagegen am Christentum misst.32 Es lässt sich mit dieser Feststellung eine weitere Einsicht verbinden: Es ist nicht nur so, dass die Religionsdefinition immer wieder via negationis mit dem Begriff verbunden wird, der die Darstellung des Judentums trägt. Kant grenzt dabei wiederholt auch die moralische Vernunftreligion vom Judentum als dem statutarischen Glauben par excellence ab.33 Insofern spielt dieses schon auf der ersten Ebene der Kantischen Religionstheorie eine gewisse Rolle als Folie. Bisher war allein von der reinen Vernunftreligion und von der moralisch-religiösen Beurteilung oder Deutung im allgemeinen die Rede. Damit ist Kants Religionstheorie aber nicht erschöpft: das religiöse Bewusstsein hat auch eine empirische Dimension. Das ist so »wegen des natürlichen Bedürfnisses aller Menschen, zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen immer etwas Sinnlich-Haltbares, irgend eine Erfahrungsbestä29 30 31 32 33

AaO. 93f. Zum Folgenden aaO. 95–100, vgl. KpV 229–233. AA VI, 98. AaO. 99; 103f; 105; AA VII, 36; 49. Siehe auch KpV 233. Stangneth (s. o. Anm. 2), 36. AA VI, 84; 99f. Die letztgenannte Stelle weist voraus auf die Hauptstelle zum Judentum, aaO. 125– 127.

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tigung u. d. g. zu verlangen«.34 Hier nimmt die moralisch-religiöse Deutung eine neue Gestalt an: sie betrifft eine konkrete Schematisierung und Symbolisierung der reinen Vernunftreligion, auf die in vielen Zusammenhängen der Religionsschrift hingewiesen wird.35 Die empirische Dimension der Religion wird von Kant vor allem in der Thematisierung der positiven historischen Religion mit ihren Symbolsystemen als ›Vehikel‹ für die Vernunftreligion aufgegriffen.36 In diesem Zusammenhang kehren die ›statutarischen‹ Gesetze oder Lehren wieder als teilweise legitime Bezugspunkte des religiösen Bewusstseins.37 So kann Kant davon reden, dass statutarische Sätze zugleich als göttliche Gebote gedacht,38 das heißt, religiös gedeutet werden sollen. Das könnte dem Judentum vielleicht eine neue Chance geben. Dagegen spricht zwar unser Hauptzitat: das Judentum, das als solche keine Religion ist, bildet auch keine Kirche, sondern nur einen weltlichen Staat. Andere Aussagen von Kant weisen indessen in eine andere Richtung. So sagt er in der ersten Abteilung des dritten Stücks der Religionsschrift: »Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben. – Man kann hinzusetzen, daß in den mancherlei sich der Verschiedenheit ihrer Glaubensarten wegen von einander absondernden Kirchen dennoch eine und dieselbe wahre Religion anzutreffen sein kann«. Als Beispiele nennt Kant den ›jüdischen, muhammedanischen, christlichen, katholischen, lutherischen‹ Glauben.39 Macht sich Kant hier einer Inkonsequenz schuldig oder lässt sich der Befund anders erklären?

3. Reform des Judentums Zum anfangs zitierten Passus aus der Religionsschrift soll noch etwas Wichtiges bemerkt werden. Kant operiert dort mit einer Unterscheidung von Epochen des Judentums. Hier muss ich mich wiederum von der oben erwähnten Untersuchung distanzieren, der jedoch das Verdienst zukommt, auf diese Epochenunterscheidung aufmerksam gemacht zu haben. Diese Untersuchung betrachtet sie als widersprüchlich, unter anderem weil dabei einerseits ausgeschlossen, andererseits vorausgesetzt werde, dass das Judentum eine Religion sei.40 Dagegen sind meines Erachtens die Unterscheidung und Beschreibung

34 AaO. 109. 35 Siehe zum Beispiel aaO. 64f Anm.; 96; 110f; 131; 176; vgl. Ernst Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, in: KantSt 9 (1904), 21–154, hier besonders 140–142; Claus Dierksmeier, Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, Berlin/New York 1998, 81–96. Die entsprechende allgemeine Symboltheorie hat Kant im 59. Paragraphen der Kritik der Urteilskraft skizziert. 36 AA VI, 102–136. 37 AaO. 103f; 105f; 153f. 38 AA VII, 49. 39 AA VI, 107f. 40 Stangneth (s. o. Anm. 2), 36–38.

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der Epochen – die übrigens eine gewisse Vorlage bei Mendelssohn haben41 –, ohne dass darin geradezu eine begründete und entfaltete Theorie zu sehen wäre, eine Art Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs von Kants unterschiedlichen Aussagen über das Judentum. Kant spricht im betreffenden Passus und anderswo vom jüdischen Glauben »seiner ursprünglichen« oder »ersten Einrichtung nach«.42 Er sagt nicht viel zur zeitlichen Abgrenzung der damit angezeigten ersten Epoche: er rechnet sie von der Offenbarung auf dem Berg Sinai an,43 während die zweite Epoche jedenfalls die Zeit nach dem Anfang unserer Zeitrechnung umfasst. Diese zweite Epoche ist die Epoche desjenigen Judentums, aus dem das Christentum entstanden ist: »Aus dem Judenthum also, – aber aus dem nicht mehr altväterlichen und unvermengten [. . . ], sondern aus dem schon durch allmählich darin öffentlich gewordene moralische Lehren mit einem Religionsglauben vermischten Judenthum, in einem Zustande, wo diesem sonst unwissenden Volk schon viel fremde (griechische) Weisheit zugekommen war, welche vermuthlich auch dazu beitrug, es durch Tugendbegriffe aufzuklären«.44

Gibt Kant hier zwar zu, dass das Christentum das Judentum zur Voraussetzung hat, wird die religionsgeschichtliche Bedeutsamkeit dieses Umstands jedoch durch den Hinweis auf die griechische Philosophie wieder relativiert.45 Mit der Epochenunterscheidung ist eine Unterscheidung zwischen Wesen und Zusätzen verbunden. Das erste und ursprüngliche mosaische Judentum, das Kants gnadenloser Kritik ausgesetzt wird, das Judentum »in seiner Reinigkeit«,46 sei das eigentliche Judentum. Was mit Kants Beschreibung davon nicht übereinstimmt, seien spätere Zusätze. Die kritische Linie wird festgehalten in Bezug auf die zweite Epoche. In diesem Zusammenhang gehört auch die Idee, dass das Judentum nach der Zerstörung des Tempels verfallen und zugrunde gehen müsste, so dass sein fortgesetztes Bestehen erklärungsbedürftig sei.47 Auf der anderen Seite findet man, wie schon erwähnt, bei Kant Bemerkungen, die das Judentum neben das Christentum und andere Glaubensarten stellen und auf die Moral und die wahre Religion beziehen.48 Solche Bemerkungen wären als allein auf das nach Kants Darstellung eigentliche Judentum gehend unverständlich, lassen 41 Siehe Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: Ders., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 8, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983, 99–204, hier 191–198. 42 AA VI, 125; 184 Anm. 43 Vgl. AA XXIII, 440. 44 AA VI, 127f. Auf die zweite Epoche wird auch Bezug genommen aaO. 79f; 141 Anm.; AA VII, 48. 45 Vgl. AA VI, 79f. 46 AaO. 126. 47 Vgl. aaO. 130f; 136 Anm.; AA VII, 80. 48 Siehe auch AA VI, 111; VII, 48; XXIII, 438 und den nicht unhumoristischen Hinweis in den Vorarbeiten zum Streit der Fakultäten, aaO. 440: »Wenn also die Juden außer der Offenbarung vom Berge Sinai welche sie nur zu einem Volke von besonderer politischer (nämlich theokratischer) Verfassung machen sollte nicht noch eine besondere doch öffentliche blos moralische Religionsunterweisung hatten (wovon wir zwar keine Nachricht haben was wir aber doch aus christlicher Liebe annehmen wollen) so war ihr Glaube nicht einmal natürliche Religion sondern Heidenthum obzwar vielleicht von schicklicherer Form für eine künftige Religion als der anderer Völker ihrer Nachbaren«.

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sich aber von Kants Annahme der zweiten Epoche und der darin stattfindenden Ergänzungen zum ursprünglichen Judentum her verstehen. Man sollte auch nicht übersehen, dass das letzte Zitat bei aller Kritik am Judentum dennoch auch Begriffe auf dieses anwendet, die einen positiv geladenen Sinn in sich bergen. So ist schon hier implizit von einem aufgeklärten Judentum die Rede. Im ersten Abschnitt vom Streit der Fakultäten behandelt Kant nun etwas, was man als eine weitere Epoche auffassen kann, die Epoche des modernen Judentums.49 Es dreht sich um die zweite einleitend hervorgehobene Passage.50 Kant bezieht sich hier, den Faden seines eingangs zitierten Briefs an Mendelssohn in der Sache wieder aufnehmend, anerkennend auf die zeitgenössische jüdische Reformbewegung. Kant stellt neben ›aufgeklärten Katholiken und Protestanten‹, die »einander als Glaubensbrüder ansehen können, ohne sich doch zu vermengen«, Juden, unter denen, »wie jetzt geschieht, geläuterte Religionsbegriffe erwachen und das Kleid des nunmehr zu nichts dienenden, vielmehr alle wahre Religionsgesinnung verdrängenden alten Cultus abwerfen«. Kant sieht Mendelssohn auf dieser Linie,51 hebt jedoch auf einen Gedankengang ab, der, über Mendelssohns Position hinausgehend, die Abschaffung des jüdischen Ritualgesetzes einschließt. Insofern besteht eine Übereinstimmung mit einem jüngeren Vertreter der Reformbewegung, Lazarus Bendavid, mit dem Kant ebenso Kontakt hatte und den er in der Fortsetzung erwähnt: »Da sie nun so lange das Kleid ohne Mann (Kirche ohne Religion) gehabt haben, gleichwohl aber der Mann ohne Kleid (Religion ohne Kirche) auch nicht gut verwahrt ist, sie also gewisse Förmlichkeiten einer Kirche, die dem Endzweck in ihrer jetzigen Lage am angemessensten wäre, bedürfen: so kann man den Gedanken eines sehr guten Kopfs dieser Nation, Bendavid’s, die Religion Jesu (vermuthlich mit ihrem Vehikel, dem Evangelium) öffentlich anzunehmen, nicht allein für sehr glücklich, sondern auch für den einzigen Vorschlag halten, dessen Ausführung dieses Volk, auch ohne sich mit andern in Glaubenssachen zu vermischen, bald als ein gelehrtes, wohlgesittetes und aller Rechte des bürgerlichen Zustandes fähiges Volk, dessen Glaube auch von der Regierung sanctionirt werden könnte, bemerklich machen würde; wobei freilich ihr die Schriftauslegung (der Thora und des Evangeliums) frei gelassen werden müßte, um die Art, wie Jesus als Jude zu Juden, von der Art, wie er als moralischer Lehrer zu Menschen überhaupt redete, zu unterscheiden«.

Einen solchen Vorschlag hat Bendavid allerdings nicht gemacht. Kant verwechselt diesen wahrscheinlich mit einem anonymen Rezensenten der relevanten Schrift von Bendavid. Dieser Rezensent hatte Bendavid in Übereinstimmung mit dem hier von Kant Angeführten überboten: Während Bendavid das Zeremonialgesetz aufgeben wollte, um »die reine Lehre Mosis«, »die Lehre der natürlichen Religion« zu behalten,52 wollte der Rezensent, der sich selbst als Jude vorstellt, lieber »die reine Lehre Jesu« haben.53 49 50 51 52 53

Vgl. AA VII, 48 mit 52f. Zum Folgenden aaO. 52f. Vgl. AA XXIII, 443f; VI, 166 Anm.; VII, 52 Anm. Lazarus Bendavid, Etwas zur Charakteristik der Juden, Leipzig 1793, 45; 64f. Anonym, Rezension von Bendavid (s. o. Anm. 52), in: ALZ Nr. 43 (7.2.1794), 339–344, hier 344, vgl. Michael A. Meyer, The Origins of the Modern Jew. Jewish Identity and European Culture

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Kants Begründung seiner Zustimmung zum betreffenden Reformvorschlag enthält eine doppelte These: Die Juden waren »Kirche ohne Religion«, können aber auch nicht »Religion ohne Kirche« sein, müssen also Formen der empirischen Religion als Mittel haben, aber solche, die nicht veraltet und der echten Religion inadäquat sind; an beiden Punkten sieht man sowohl Zusammenhang als auch Verschiebung im Verhältnis zum Antijudaismus der Kantischen Religionsschrift. In Entsprechung zu dieser Begründung ist der Vorschlag selbst, wie Kant ihn darstellt, ein doppelter. Der erste Mangel soll nicht dadurch ersetzt werden, dass die Juden das Christentum als historischen Kirchenglauben übernehmen.54 Die »Jesusreligion«55 steht nicht dafür, sondern für die reine Vernunftreligion,56 und Jesus gilt hier als »moralischer Lehrer«. Kant legt also auch auf dieser Ebene der Diskussion seinen eigenen Religionsbegriff zugrunde.57 Der zweite Mangel soll dadurch aufgehoben werden, dass man das der Religion Jesu korrespondierende ›Vehikel‹, die Evangelien58 oder die Schrift,59 annimmt. Mit der Hervorhebung der vorteilhaften Wirkung einer solchen öffentlichen Anerkennung der moralischen Religion, von welcher auch gesagt wird, dass sie den Juden die Hoffnung einer »Erleichterung der sie drückenden Lasten« geben könnte,60 bezieht sich Kant immer noch auf die Fragestellung der innerjüdischen Reformdebatte.61 Endlich verwendet Kant hier die berüchtigte, aber meistens missverstandene Euthanasiemetapher: »Die Euthanasie des Judenthums ist die reine moralische Religion mit Verlassung aller alten Satzungslehren«. Die mir bekannte Literatur scheint unmittelbar von der heute gängigen Bedeutung des Wortes auszugehen,62 so dass von aktiver lebensverkürzender Sterbehilfe seitens eines Anderen die Rede ist. Das ist jedoch irreführend. ›Euthanasie‹ bedeutet noch zur Zeit Kants einen leichten, schönen Tod ohne äußere Einwirkung.63 Mit diesem Missverständnis könnte sich leicht ein anderes verbinden,

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in Germany 1749–1824, Detroit 1967, 74. Sowohl Bendavid als der Rezensent war durch Kants Denken geprägt. Kants Hinweis auf Bendavid hat in der Literatur eine gewisse Verwirrung veranlasst. Einige Autoren folgen Hermann Cohens irreführender Korrektur, dass der betreffende Vorschlag von David Friedländer gemacht wurde, und zwar in Friedländers Sendschreiben an Teller von 1799 (Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik, in: Ders., Werke, Bd. 2, Hildesheim/Zürich/New York 2001, 496). Vgl. auch AA XXII, 441: »zur wahren obzwar blos natürlichen Religion überzugehen, welche denn zwar nicht christlich (actu) aber von diesem nur durch kirchliche Form unterschieden seyn würde«; aaO. 443: »ohne sich mit dem Christenthum zu vermischen«. AaO. 444. Vgl. aaO. 443; AA VI, 167: Die christliche Religion hat »den großen Vorzug vor dem Judenthum, daß sie aus dem Munde des ersten Lehrers als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen, vorgestellt wird«. Stangneth (s. o. Anm. 2), 71. AA XXIII, 443. Vgl. AA VII, 36f; 44. AaO. 52 Anm. Vgl. Bendavid (s. o. Anm. 52), 5. Vgl. Rotenstreich (s. o. Anm. 4), 38; Paul Lawrence Rose, Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner, Princeton 1990, 93–96; Newman (s. o. Anm. 4), 461f; Stangneth (s. o. Anm. 2), 43. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Art. »Euthanasie«, in: DWb NA 8, Stuttgart 1999, 2447. Im 19.

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indem ›die Euthanasie des Judentums‹ mit einer Fehldeutung des Bendavid zugeschriebenen Vorschlags kombiniert wurde: das Missverständnis, dass die Euthanasie in einem Übergang zum Christentum bestehe. Paul Lawrence Rose kommentiert, nachdem er die Idee Bendavids oder seines Rezensenten in der Richtung einer jüdischen Anerkennung des Christentums ausgelegt hat, folgendermaßen: »The most sinister implication of Kant’s critique of Judaism was that it acknowledged no validity or even right to an independent existence of Judaism, which was seen not only as immoral, but obsolete in the modern world«.64 Vergleichen wir dazu Amy Newmans auf geschickter Verbindung von Zitaten beruhende Darstellung: »Kant concludes that it is now time for the Jews to let themselves to be led to their ›final end‹ (94–95). It is in this context that he makes his notorious assertion that the ›euthanasia of Judaism is pure moral religion, freed from all the ancient statutory teachings‹ (95). The remains of Judaism, according to Kant, ›must disappear‹ so that there will be ›only one shepherd and one flock‹ (95)«.65

Diese letzten Wendungen Kants gehen jedoch auf die von ihm in der unmittelbaren Fortsetzung erwähnte umfassendere, alle kirchliche Formen verlassende Reform, auf »den Beschluß des großen Drama des Religionswechsels auf Erden«, eines Wechsels, der nicht nur das Judentum betrifft. Gegen Interpretationen wie die von Rose und Newman bleibt festzuhalten, dass die Euthanasiestelle ein Hinweis auf die zeitgenössische Debatte der jüdischen Avantgarde und ein Ausdruck von Kants positiver Einschätzung des modernen Reformjudentums ist.

4. Judenfeindlichkeit bei Kant In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798 kommt Kant im Abschnitt über das Erkenntnisvermögen auf den Betrug zu sprechen und fügt in einer Fußnote folgende Bemerkung hinzu: »Die unter uns lebenden Palästiner sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil, auch was die größte Menge betrifft, in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges gekommen. Es scheint nun zwar befremdlich, sich eine Nation von Betrügern zu denken; aber eben so befremdlich ist es doch auch, eine Nation von lauter Kaufleuten zu denken, deren bei weitem größter Theil, durch einen alten, von dem Staat, darin sie leben, anerkannten Aberglauben verbunden, keine bürgerliche Ehre sucht, sondern dieser ihren Verlust durch die Vortheile der Überlistung des Volks, unter dem sie Schutz finden, und selbst ihrer untereinander ersetzen wollen«.66 Jahrhundert gewinnt der Ausdruck im medizinischen Kontext die Bedeutung von Schmerzlinderung beim Sterben, und erst im 20. Jahrhundert kommt die heute übliche Bedeutung hinzu (Alf Hermann, Art. »Euthanasie«, in: HWPh 2, Basel/Stuttgart 1972, 828f; hier 828). 64 Rose (s. o. Anm. 62), 95f. 65 Newman (s. o. Anm. 4), 461. Die Zitate und die Hinweise in Klammern entsprechen AA VII, 53 Z.5. 16ff. 20. 23). 66 AA VII, 205f Anm.

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Kant verweist in der Fortsetzung auf den Rechtsstatus der Juden in europäischen Ländern als den Hintergrund dieses Befundes und versucht, davon eine geschichtliche Erklärung zu geben. Im Zitat gibt Kant bekannte Vorurteile wieder, die als unzweideutig judenfeindlich bezeichnet werden müssen. Er distanziert sich nicht davon: der betreffende Ruf sei ›nicht unbegründet‹. Kants auch hier erkennbarer Blick für die missliche rechtliche und soziale Lage der Juden67 ändert nichts an diesem Sachverhalt. Ebenso erhält Kants Darstellung der jüdischen Religion an dieser Stelle einen neuen Akzent: hieß es in den zuerst betrachteten Aussagen, dass der jüdische Glaube eigentlich nicht Religion sei, wird er an dieser Stelle, wo es vor allem um das zeitgenössische Judentum geht, schlicht als Aberglaube beschrieben. Hält man sich wiederum an die einschlägige Bestimmung in Kants Religionsschrift, muss dies als auf die zeremonielle Seite des jüdischen Statutarismus zielend begriffen werden: »Der Wahn, durch religiöse Handlungen des Cultus etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott auszurichten, ist der religiöse Aberglaube«.68 Lässt sich somit gewissermaßen eine Linie zu Kants Darstellung des ursprünglichen Judentums ziehen, steht diese Stelle andererseits in Widerspruch mit Kants Erwägungen zum neueren Reformjudentum.

5. Schluss Von den in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft und im Streit der Fakultäten stehenden wichtigsten Äußerungen Kants über Judentum und Vernunftreligion her ließ sich – insbesondere durch Berücksichtigung von Kants Unterscheidung von Epochen des Judentums – ein einigermaßen zusammenhängendes Bild rekonstruieren. Dies ist weitgehend durch einen starken Antijudaismus geprägt. Der Maßstab von Kants Polemik ist seine eigene Moral- und Religionsphilosophie. Auf der anderen Seite dient das Bild des Judentums bei Kant dazu, seine Darstellung der reinen Vernunftreligion zu profilieren. Dieses Bild übt auf das nachkantische Denken einen großen Einfluss aus.69 So spielt Schleiermacher in seiner fünften Rede darauf an, vor allem mit folgender Aufforderung mit Bezug auf den Judaismus: »Nehmt einmal alles Politische, und so Gott will, Moralische hinweg, wodurch er gemeiniglich charakterisirt wird; vergeßt das ganze Experiment den Staat anzuknüpfen an die Religion, daß ich nicht sage an die Kirche; vergeßt daß das Judenthum gewissermaßen zugleich ein Orden war, gegründet auf eine alte Familiengeschichte, aufrecht erhalten durch die Priester«.

67 Vgl. Stangneth (s. o. Anm. 2), 25f; 71. 68 AA VI, 174. 69 Zum jungen Hegel siehe den Beitrag von Andreas Arndt in diesem Band.

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Schleiermacher fährt aber anders als Kant fort: »seht bloß auf das eigentlich Religiöse darin, wozu dies Alles nicht gehört«.70 Auf das moderne aufgeklärte Judentum bezieht sich Kant wohlwollender. Es ergab sich hier, dass seine berüchtigte Rede von ›der Euthanasie des Judentums‹ nicht, wie in neueren Arbeiten angenommen wird, den Gipfel seiner Judenfeindlichkeit, sondern eine Anerkennung des Reformjudentums darstellt. Dies lässt sich noch mehr auf Kants Religionsphilosophie beziehen. Dagegen kann die durch die Anthropologie und biographische Dokumente belegte Judenfeindlichkeit Kants nicht als in seinem Denken begründet angesehen werden. In einem eklatanten Widerspruch mit seinem kritizistischen Ansatz ist sie in Vorurteilen begründet – und das heißt eben nicht begründet. Das macht sie in keiner Weise unschuldiger, erst recht nicht bei einem Denker von Kants Format und Autorität.

70 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I/2, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York, 185–326, hier 315. – Ich danke Dr. des. Oliver Heller herzlich für seine Hilfe bei der sprachlichen Korrektur des Textes.

II. Schleiermachers Sicht des Verhältnisses von Christentum und Judentum

Friedrich Schleiermachers Stellungnahme zur Judenemanzipation im »Sendschreiben« David Friedländers Die »Briefe bei Gelegenheit [...]« von 1799 Hans-Martin Kirn 1. Einleitung Nach einer längeren Phase der Schleiermacher-Forschung, in der die »Briefe bei Gelegenheit [...]«1 eher am Rande standen, hat sich in den letzten Jahren das Interesse an ihnen deutlich erhöht, und zwar nicht nur im Kontext der Debatten um Friedrich Schleiermachers Verhältnis zum Judentum, sondern auch im Blick auf aktuelle Fragestellungen wie die zur Integration von Minoritäten und zur »Leitkultur«.2 Das fortdauernde Problem der Marginalisierung von Minoritäten in Deutschland beruht demnach mit auf einem schon bei Schleiermacher sichtbaren »Ethnic Essentialism«, einer »substantialistisch« gedachten Unveränderlichkeit von Abstammungsgemeinschaften, die für biologistische und rassistische Deutungen offen standen.3 Wie man sich auch zu diesen und ähnlichen Aktualisierungen verhalten mag: Weitgehend Einigkeit besteht darin, dass Schleiermachers Stellungnahme zur Emanzipationsfrage in den »Briefen« von tiefen Ambivalenzen geprägt ist.4 Dies betrifft vor allem zwei Sachverhalte: Zum einen, dass Schleiermacher zwar die rechtliche Gleichstellung der Juden durch die Verleihung der Bürgerrechte forderte, doch keineswegs bedingungslos; zum anderen, dass Schleiermacher in Wahrheit nicht das Judentum, sondern die Sicherung der Kirche vor jüdischem 1

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Friedrich Schleiermacher (anon.), Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter. Von einem Prediger außerhalb Berlin, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe (KGA), hg. v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 327–361. Eine Faksimileausgabe des Exemplars der UB Rostock mit Nachwort besorgte Kurt Nowak, Berlin 1984. Vgl. Richard Crouter/Julie Klassen (Hg.), David Friedländer. Wilhelm Abraham Teller. Friedrich Schleiermacher. A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin, Indianapolis, Ind. 2004. Neben der Übersetzung der »Briefe bei Gelegenheit« und den schon in der KGA abgedruckten Referenztexten Schleiermachers, der »Politisch-theologischen Aufgabe« und David Friedländers »Sendschreiben« wurde auch Wilhelm Abraham Tellers Antwort aufgenommen. Vgl. Julie Klassen, A Postscript: Contemporary Parallels and Permutations, in: Crouter/Klassen (s. o. Anm. 2), 145–172, bes. 148f. Verbesserungen brachte demzufolge erst das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht von 1999. Vgl. schon Joseph W. Pickle, Schleiermacher on Judaism, in: JR 60 (1980), 115–137, bes. 135–137.

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Einfluss bzw. um den Schutz des fragilen, von Kirchen- und Religionskritik bedrängten Christentums im Auge hatte.5 Vor allem die zeitnahe Negativzeichnung des Judentums als »toter Religion« und »Mumie« in der Fünften Rede stützt diese Deutungsperspektive.6 So kommt Schleiermacher trotz seiner grundsätzlichen Bejahung der rechtlichen Judenemanzipation im Sinne der rechtlichen Gleichstellung bei vielen Kommentatoren nicht wirklich als ein Vorkämpfer derselben in Betracht. Zudem zeigten die »Briefe«, wie sich Schleiermachers theologischer Antijudaismus – als Variante der klassischen Enterbungs- und Substitutionshypothese aufgefasst – in die Frühform eines sozialen Antisemitismus wandeln konnte.7 Vor allem die Ansätze zur romantischen Verbindung von »Volksindividualität« und »Nationalgedanke« werden in diesem Zusammenhang als bedenklich notiert.8 Dass darüberhinaus noch stets neue Zugänge zu den »Briefen« gesucht werden, zeigt ihre Positionierung im Kontext des Pantheismusstreits. Demzufolge dokumentieren die »Briefe« in erster Linie den Umgang mit der von Baruch Spinoza aufgenommenen Trennung von Religion und Moralität.9 Fragt man nach der Stellung der »Briefe« im breiteren Kontext von Schleiermachers Verhältnis zum Judentum, so zeigt sich, wie weit entfernt man von einem Gesamtbild noch ist. Manche sprechen schlicht von einem »Rätsel«.10 Erinnern wir uns: Schon Heinrich Graetz hatte die »Briefe« eingebettet gesehen in eine schwer zu fassende Judenfeindschaft nicht nur Schleiermachers, sondern auch seiner Schule, die nach dem bekannten Diktum eine »vornehme Verachtung des Judentums zum Stichwort und zum 5

Vgl. Matthias Wolfes, Schleiermacher und das Judentum. Aspekte der antijudaistischen Motivgeschichte im deutschen Kulturprotestantismus, in: Aschkenas 14 (2005), 485–510, 489f. Schleiermachers Vorstellungen vom Alten Testaments und der jüdischen Frömmigkeit werden als »Karikaturen« bezeichnet, aaO. 509. 6 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 293–326, hier vor allem 314.36–315.21. Zur Fünften Rede vgl. den Kongressbeitrag von Arnulf von Scheliha. 7 Zur sog. supersessionist view vgl. z. B. Richard Crouter, Schleiermacher’s »Letters on on the occasion« and the Crisis of Berlin Jewry, in: Theodore M. Vial/Mark A. Hadley/Wendell S. Dietrich (Hg.), Ethical Monotheism, Past and Present. Essays in Honor of Wendell S. Dietrich (Brown Judaic Studies 329), Providence 2001, 74–91, 77; Wilhelm Abraham Teller wird im übrigen zu Unrecht als »Deist« mit christlichem »flair« bezeichnet, aaO. 89–91. 8 Vgl. Bernd Oberdorfer, Sind nur Christen gute Bürger? Ein Streit um die Einbürgerung der Juden am Ende des 18. Jahrhunderts. Verheißungsvoller Ansatz für ein friedliches Zusammenleben oder erster Schritt zu den Nürnberger Gesetzen?, in: KuD 44 (1998), 290–310, 305–308. 9 Vgl. Peter W. Foley, Der Jude als moralisch zurechnungsfähiger Bürger. Schleiermachers philosophische Erwiderung auf die Frage der Bürgerrechte für Juden, in: ThLZ 126 (2001), 721–734. So habe sich Markus Herz eine spinozistische Antwort auf die Pantheismusdebatte erhofft, nachdem Mendelssohn gestorben und Kant nur unbefriedigend auf das einschlägige Problem eingegangen sei. 10 Vgl. Micha Brumlik, Die Duldung des Vernichtenden: Schleiermacher zu Toleranz, Religion und Geselligkeit. Eine Fallstudie zur Dialektik der Anerkennung, in: Rolf Kloepfer/Burckhard Dücker/Dietrich Harth (Hg.), Kritik und Geschichte der Intoleranz. [Dietrich Harth zum 65. Geburtstag], Heidelberg 2000, 41–56; 43, 47f. Die »Lösung des Rätsels« liegt demnach möglicherweise in der Beziehung zu Henriette Herz geb. de Lemos, der Gattin von Markus Herz. Zu Schleiermachers im Kreis der Frühromantik und der Verbindung zur »Seelenfreundin« Henriette (»Jette«) vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung (UTB 2215), Göttingen 2001, 79–97, bes. 81–83. Henriette Herz konvertierte nach langer innerer Vorbereitung 1817 – Schwester und Mutter waren gestorben – zum lutherischen Glauben. Die Taufe wurde in aller Stille vollzogen.

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Ausgangspunkt ihrer Gläubigkeit gemacht«11 und den »gebildeten Kreisen Deutschlands von neuem eine eigene, kaum bezeichenbare Antipathie gegen das Judentum« eingeimpft habe.12 Auch wenn man dies heute differenzierter sieht und den »Briefen« in dieser Frage sicher keine Schlüsselrolle zukommt, bleiben sie trotz ihres episodischen Charakters von hohem Interesse, gerade auch im Blick auf die unterschwelligen antijüdischen Stereotypen und Ressentiments, die gänzlich unberührt von der Berliner Salonwelt und ihrer Relativierung religiöser Differenzen blieben und noch im Eintreten für die rechtliche Judenemanzipation wirksam wurden.13 Im folgenden soll zunächst der Entstehungskontext der »Briefe« in Erinnerung gerufen werden. Sodann kommen die beiden Referenzschriften aus jüdischer Hand zur Sprache. In der anschließenenden Analyse der »Briefe« wird auf wichtige Zielsetzungen in der literarischen Strategie derselben eingegangen.

2. Zum Entstehungskontext der »Briefe« Glaubt man der Datierung des ersten Briefs auf den 17. April 1799, dann begann Schleiermacher, damals Prediger in Vertretung am Hof in Potsdam, zwei Tage nach dem Abschluss seiner »Reden« mit der Abfassung der »Briefe«.14 Wie wir wissen, hatte Schleiermacher schon im März während der Abfassung der »Reden« in der Korrespondenz mit Henriette Herz eine Antwort auf die unmittelbar zuvor anonym erschienene »Politischtheologische Aufgabe über die Behandlung der jüdischen Täuflinge« angekündigt, offenbar von deren Ehemann Markus Herz dazu aufgefordert.15 Auch nachträgliche Rückdatierungen der Briefe sind denkbar und vor allem dann plausibel, wenn Schleiermacher auf diese Weise einer näheren Auseinandersetzung mit Wilhelm Abraham Tellers Antwort auf das »Sendschreiben« aus dem Wege gehen wollte. Tellers Antwort hatte er in jedem Fall noch vor der Herausgabe der »Briefe« im Juli 1799 zur Kenntnis genommen und im letzten Brief respektvoll, aber deutlich reserviert gewürdigt.16 Unabhängig von dieser Detailfrage sind die »Briefe« in erster Linie Produkt der religions- und ständeübergreifenden Freundschafts- und Salonkultur der Zeit, an der 11 Heinrich Graetz, Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 11 Bde., Leipzig 1890–1909, Bd. 11: Geschichte der Juden vom Beginn der Mendelssohnschen Zeit (1750) bis in die neueste Zeit (1848), 2. verm. u. verb. Aufl., Leipzig 1900, Repr. Darmstadt 1998, 173f. 12 Graetz, Geschichte (s. o. Anm. 11), 172; vgl. das Zitat bei Wolfes, Schleiermacher (s. o. Anm. 5), 489. 13 Zum zeitgenössischen Verhältnis von Judentum und Christentum vgl. Michael A. Meyer (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 2 Bde., München 1996–2000, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996, 177–207. 14 Schleiermacher vertat den Potsdamer Hofprediger Johann Peter Bamberger, Schwager von Friedrich Samuel Gottfried Sack. Zum Entstehungskontext vgl. Günter Meckenstock, Historische Einführung 12, in: Friedrich Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 1), LXXVIII-LXXXV. Der letzte (sechste) Brief ist auf den 30. Mai datiert, das Vorwort nennt den 2. Juli 1799 als Datum. 15 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1799–1800 (Briefe 553–849), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, in: Ders., KGA (s. o. Anm. 1), Bd. V/3, 38f, Nr. 582–583; ibid., 82–84, Nr. 625, an H. Herz, vom 12.4.1799. 16 Vgl. Crouter/Klassen, Friedländer (s. o. Anm. 2), 21.

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auch Teller und Friedländer teilhatten.17 Die dort gepflegte zwanglose »Geselligkeit« – ein Grundbegriff bürgerlicher Sozialität – regte Schleiermacher nicht nur zur Theoriebildung, sondern auch zur Wahrnehmung gesellschaftspolitischer Verantwortung an.18 Als fiktiver Gesprächspartner fungiert in den »Briefen« ein hoher Staatsbeamter und Politiker. Wahrscheinlich stand hier der Freund Alexander Graf zu Dohna Pate, mit dem Schleiermacher Materialien zur Frage der rechtlichen Gleichstellung der Juden ausgetauscht hatte.19 Sachliche Bezüge zu den zeitnahen »Reden« sind offenkundig, so in der Frage nach der Natur religiöser Assoziationen und der Verbindung von Kirche und Staat, aber auch zu den erwähnten Negativzeichnungen des traditionellen Judentums als »toter Religion«, analog zur Kritik am Verfall der Kirchen.20 In einer doppelten Brechung der Anonymität – einmal als Schreiber der Briefe, einmal als Herausgeber – nahm Schleiermacher in sechs Briefen Stellung zu den ebenfalls anonym erschienenen Schriften zur Frage der Judenemanzipation aus jüdischer Feder: Zum schon erwähnten Beitrag »Die politisch-theologische Aufgabe über die Behandlung der jüdischen Täuflinge«, und zu dem kurz darauf publizierten »Sendschreiben« Friedländers an Teller, das eine Flut von Reaktionen auslöste.21 Die ersten Entgegnungen auf Friedländers »Sendschreiben« ignorierte Schleiermacher. Sie waren ihm zu unbedeutend, offenbar weil sie auf traditionelle Weise an der Koppelung von Taufe und Verleihung der Bürgerrechte festhielten.22 Im Hintergrund der beiden Schriften aus jüdischer Hand stand der langjährige vergebliche Kampf um Fortschritte in der bürgerlichen Gleichstellung. Friedländer spielte hier als einflussreicher Kaufmann, Schüler Moses Mendelssohns und namhafter Vertre17 Zur Berliner Salonkultur vgl. Deborah Hertz, Die jüdischen Salons im alten Berlin. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Neumann-Kloth, 4. Aufl., Bodenheim bei Mainz 2002. Neben der besonders vertraulichen Beziehung Schleiermachers zu Henriette Herz ist hier auch an die Bekanntschaft mit Rahel Varnhagen von Ense geb. Levin und Dorothea Veit geb. Mendelssohn zu erinnern. 18 Vgl. Friedrich Schleiermacher (anon.), Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 163–184. Schleiermacher wies dabei u. a. auf die Bedeutung der Frauen als »Stifter der besseren Gesellschaft« hin. Sein Beitrag kann als Baustein zu einer Theorie der offenen Gesellschaft verstanden werden. 19 Carl Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu Dohna-Schlobitten; vgl. Nowak, Schleiermacher (s. o. Anm. 10) (Personenregister); zu den Anspielungen auf dessen Person vgl. u. a. den ersten, dritten und fünften Brief der »Briefe bei Gelegenheit«, Friedrich Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 332.20–24; ibid., 345.9–13; ibid., 356.10–14. 20 Schleiermacher, Reden (s. o. Anm. 6). 21 Anon., Politisch-theologische Aufgabe über die Behandlung der jüdischen Täuflinge, in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 5.1799, 1. Teilbd., 228–239, wieder in: Friedrich Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 373–380 (vgl. die knappe Stellungnahme im 2. Teilbd. des Berlinischen Archivs 1799, 206–210, zur Frage der »Prüfungszeit« nach der Taufe); David Friedländer (anon.), Sendschreiben an seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion, Berlin 1799, wieder in: Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 381–413. – Friedländer war mit Teller persönlich bekannt. Tellers neologische Theologie und seine einflussreiche Stellung im Oberkonsistorium als quasi-staatlicher Behörde machten ihn zu einem geeigneten Ansprechpartner. Teller wusste um Friedländers Autorschaft des »Sendschreibens«, war ihm dieses doch im Rahmen der Vorzensur vorgelegt worden. 22 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 331, Anm. zu Z. 5–9.

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ter der jüdischen Aufklärung, der Haskala, eine Hauptrolle.23 Seit Christian Wilhelm von Dohms wegweisender Schrift zur »bürgerlichen Verbesserung der Juden« von 1781 hatte sich in vielen Ländern die rechtliche Situation der Juden verbessert. Die Reformen im josephinischen Österreich hatten große Hoffnungen geweckt, ebenso die Verleihung der vollen Staatsbürgerrechte an die Juden in Frankreich 1790/1791 im Gefolge der Französischen Revolution. Ähnliche Regelungen waren in Napoleons Satelittenstaaten übernommen worden, so in den Niederlanden, der Batavischen Republik 1796.24 Auch in Nordamerika waren die Juden rechtlich emanzipiert. In Preußen jedoch gab es keine nennenswerten Fortschritte.25 Das große Reformvorhaben, das auf jüdischen Wunsch mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. 1786 auf den Weg gebracht und 1787 in einer Denkschrift von Deputierten der preußischen Juden festgehalten worden war, hatte die Regierung mit so vielen Bedingungen verknüpft, dass die Juden lieber alles beim alten lassen wollten.26 Weiterhin galt, von einigen Verbesserungen abgesehen, das »revidierte General-Privilegium« für die Juden vom April 1750, das Graf von Mirabeau (Honoré Gabriel Riqueti) »ein Gesetz, eines Kannibalen würdig« genannt hatte.27 Den enttäuschenden Ausgang der damaligen Verhandlungen hatte Friedländer 1793 in seinen »Aktenstücken« der Öffentlichkeit zu23 Zur Haskala vgl. die Überblicksdarstellung von Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002; zum Hintergrund der Konfessionalisierung des Judentums vgl. auch Gerhard Lauer, Die Rückseite der Haskala. Geschichte einer kleinen Aufklärung, Göttingen 2008. Zu Friedländer vgl. Michael A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München 1994, 66–98; Steven M. Lowenstein, The Jewishness of David Friedländer and the Crisis of Berlin Jewry (Braun Lectures in the History of the Jews in Prussia 3), Raman-Gan 1994; Martin L. Davis, Klassische Aufklärung. Überlegungen zur Modernisierung der deutsch-jüdischen Kultur am Beispiel des Exlibris von David Friedländer, in: ZRGG 55 (2003), 40–61. 24 Vgl. Laurence Charpentier, Aufklärung und Judenemanzipation in den ersten Jahren der Batavischen Republik (1795–1798). Bemerkungen zum Emanzipationsdekret vom 2. September 1796, in: Aschkenas 4 (1994), 141–152. 25 Dohms Schrift ist in Schleiermachers Bibliothek nicht nachzuweisen. Auch im Briefwechsel wird sie nicht erwähnt. Schleiermacher besaß allerdings J.D. Michaelis’ Mosaisches Recht, vgl. Günter Meckenstock, Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer; im Anhang eine Liste der nichtliterarischen Rechnungsnotizen der Hauptbücher Reimer (SchlAr 10), Berlin 1993, 230; Klaus Beckmann, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts (FKDG 85), Göttingen 2002, 123. 26 Die Obrigkeit war keineswegs bereit, auf die Hauptforderungen wie Freigabe der Handels- und Gewerbetätigkeit, die Beseitigung von Sonderabgaben und die Aufhebung der kollektiven Haftung einzugehen. 27 Zum Text des Generalprivilegiums vgl. Ismar Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen, 2 Bde., Berlin 1912, Bd. 2, 22ff, wieder in: Juden in Berlin 1671–1945. Ein Lesebuch [...], Berlin 1988, 34–38; Zu den Verbesserungen gehörte die Abschaffung des Leibzolls 1787, allerdings nur für preußische Juden, und die Aufhebung der Kollektivhaftung für Finanzabgaben 1792. Zur Situation der Juden insgesamt vgl. Albert Bruer, Preußen und Norddeutschland 1648–1871, in: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 1: Länder und Regionen, hg. v. Elke-Vera Kotowski/Julius H. Schoeps/Hiltrud Walborn, Darmstadt 2001, 47–66, bes. 50–57.

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gänglich gemacht.28 Schleiermacher war mit diesen vertraut, konnte also die rechtliche Situation der jüdischen Gemeinschaft einigermaßen realistisch einschätzen. Auch nach dem Scheitern der ersten Reform hatten die Bemühungen von jüdischer Seite nicht aufgehört. Neue Hoffnungen richteten sich seit 1797 auf Friedrich Wilhelm III. Noch 1798 hatte sich Wolf Davidson mit seiner Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« direkt an den König gerichtet, doch ohne Erfolg.29 Hiervon war Schleiermacher offenbar nichts bekannt. Innerjüdisch trug die obrigkeitlich-bürokratische Verzögerungstaktik zur Radikalisierung der Haskala in den 1790er Jahren in Berlin bei. Nicht mehr nur die Modernisierung des Schul- und Bildungswesens, sondern die Modernisierung des Judentums als Religion (nach dem Idealbild eines »vernünftigen Judentums«) war für viele jüngere, vor allem von der Kantschen Philosophie begeisterte Aufklärer das Gebot der Stunde. Friedländer bewegte sich hier als eine Figur des Übergangs von der ersten zur zweiten Generation der jüdischen Aufklärer (Maskilim) in einem schwierigen Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Reforminteressen. Der junge Schleiermacher konnte dies in seiner Brisanz kaum einschätzen. Deutlich schien nur der Konflikt zwischen den Maskilim und der rabbinischen Orthodoxie. Doch auch die letztere war nicht so monolithisch wie von den ersteren dargestellt. So wenig die gesellschaftspolitische Potenz der Pflege der »Geselligkeit« in den Salons bestritten werden kann, so sicher ist doch, dass diese eher zur Suspendierung als zum besseren Verständnis religiöser Distinktionen beitrug.

3. Die Referenzschriften 3.1. Die »Politisch-theologische Aufgabe« Die »Politisch-theologische Aufgabe« entstammt nach der heute mehrheitlich geteilten Auffassung dem Kreis um Friedländer.30 Sie diente wohl dazu, das Erscheinen des »Sendschreibens« vorzubereiten. Schleiermacher erkannte schnell, dass es sich bei der »Aufgabe« um eine bitter-ironische Persiflage auf die Taufe als »Entreebillet in die christliche Gesellschaft« handelte: Der Staat wurde in dieser Schrift ermahnt, sich eines mehr »haushälterischen« Umgangs mit der »Spendung bürgerlicher Wohlthaten gegen Täuflinge« zu befleißigen und jedem konversionsbereiten Juden eine »Bildungszeit« von mindestens (!) sechs Jahren zu verordnen. Erst danach sollten die vollen Bürgerrechte verliehen werden.31 Deutlicher konnte die Absurdität der Verflechtung von Taufe und Bürgerrechten kaum demonstriert werden. Damit war das Ziel der »Aufgabe« erreicht, nämlich den Staat zum Verzicht auf alle Vorbedingungen für die bürgerliche Gleichstellung aufzufordern. 28 David Friedländer, Akten-Stücke die Reform der jüdischen Kolonien in den preußischen Staaten betreffend, Berlin 1793. 29 Wolf Davidson, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1798. 30 Anon., Politisch-theologische Aufgabe (s. o. Anm. 21). 31 Darüber könne sich der Konvertit nicht beschweren, gehe es ihm doch um die »Vereinigung mit Jesu« und nicht um die Erlangung äußerer Vorteile. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 379.3–5.

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3.2. David Friedländers »Sendschreiben« David Friedländers »Sendschreiben« an Teller scheint, vom Ende her gelesen, mit der »Aufgabe« in Widerspruch zu stehen.32 Dort wird nach der Überzeugung der meisten Interpreten auf mehr oder wenige peinliche Weise nach dem Preis gefragt, den die protestantische Kirche für eine notfalls zeremoniell befestigte »Quasi-Konversion« verlangen würde. Will man freilich die »Aufgabe« und das »Sendschreiben« als sich gegenseitig ergänzend lesen, wie dies auch Schleiermacher am Ende vorschlug, dann kann die Frage nur lauten: Unter welchen Bedingungen wäre die protestantische Kirche bereit, öffentlich die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Juden zu erheben?33 Und zwar ohne Taufe und ohne Konversion. Was hier aufgrund der Teller weit entgegenkommenden Formulierungen Friedländers auch immer an Quasi-Konversions- und Taufbereitschaft der jüdischen Hausväter phantasiert wird: Es ging Friedländer m. E. einzig und allein um die Frage, ob das Judentum in der protestantischen Kirche einen Verbündeten im Kampf um die Staatsbürgerrechte finden konnte. Dies schien immerhin möglich, insofern in aufklärerischer Perspektive die Religionen abgesehen von jeder Positivität eine zivilreligiöse Basis deistischer Provenienz teilten. Damit war der gemeinschaftlichen Staatsbürgerschaft eine Grundlage gegeben, die jenseits des gefürchteten praktischen Atheismus (»Irreligion«) der Zeit lag. Diese Grundlage war wie schon bei Rousseau funktional-politisch definiert. Friedländers Rede von der »große[n] christliche[n] protestantische[n] Gesellschaft«, die man sich zum Zufluchtsorte erwählen wollte, war identisch mit der »großen Staatsgesellschaft«, also dem zivilreligiös-protestantisch geprägten Staatsgebilde und nicht mit der protestantischen Kirche als solcher.34 Friedländer beschrieb diese zivilreligiöse Option daher auch als eine Art »Mittelposition« zwischen positiver Religion und Atheismus, die der aufklärerisch-neologische Protestantismus beschreibbar gemacht hatte.35 Die spezifischen Inhalte protestantischen 32 Crouter will die Frage der (alleinigen) Autorschaft Friedländers offenlassen, Crouter/Klassen, Friedländer (s. o. Anm. 2), 19 (Anm. 44). Dabei bekannte sich Friedländer 1823 ausdrücklich zu seiner Autorschaft; David Friedländer, An die Verehrer, Freunde und Schüler Jerusalem’s, Spalding’s, Teller’s, Herder’s und Löffler’s, hg. v. [Wilhelm Traugott] Krug, Leipzig 1823, 14–16. 33 Was den Kampf um die öffentliche Meinung betraf, so war sich Schleiermacher sicher, dass die Persiflage der »Aufgabe« interessanter war als das »Sendschreiben«: Jene bringe den politisch-praktischen Widerspruch des staatlichen Handelns wirkmächtig zum Ausdruck, dieses deduziere nur kalt und trocken ein »reines Judentum«, verbunden mit der Frage nach einem »reinen oder vielmehr möglichst leeren Christenthum«. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 337.23–29. 34 Friedländer, Sendschreiben, in: Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 21), 411.1f, vgl. ibid., 411.22. 35 Dass dies überhaupt als Möglichkeit erschien, hing mit der von vielen Maskilim geteilten Vision von einem mosaisch-prophetischen Judentum zusammen, das in vielem analog zum neologischen Protestantismus organisiert war. Schleiermacher meinte, das »Sendschreiben« konzipiere die neue Religionsgemeinschaft zu Unrecht als »Mittelding zwischen Juden und Christen« – denn Friedländer bleibe ja doch im Judentum. An einem »Mittelding« hatte Friedländer insofern kein Interesse, als er die jüdische Identität nicht zur Disposition gestellt wissen wollte. Sein Interesse galt dem »Kern« jeder positiven Religion, die auch als »Mittel« zwischen positiver Religion und Irreligion bestimmt werden konnte, vgl. Friedländer, Sendschreiben, in: Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 21),

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Glaubens interessierten Friedländer nicht. Die Bewunderung der Reformation und der Neologie galt der Modernisierungsfähigkeit, nicht den dogmatischen Inhalten, wie neologisch flexibel auch immer formuliert. Auf diese wollte er sich in keiner Weise verpflichten lassen – sehr zum Missfallen Tellers. Diese Sicht schloss im typisch aufklärererischen Fortschritts- und Perfektibilitätsdenken konvergente Entwicklungen der Religionen ein. Die bürgerliche Gleichstellung konnte also auch als Voraussetzung einer erfolgreichen religiös-kulturellen Assimilation propagiert werden, sofern damit eine Bildungsgeschichte gemeint war, welche sich die protestantischen »Religionsverwandten« und »Mitbrüder« schon zueigen gemacht hatten.36 Wenden wir uns nun auf diesem Hintergrund den Schleiermacherschen »Briefen« selbst zu, die – wie nicht anders zu erwarten – mit hohem rhetorischem Geschick die Brücke zu schlagen suchten zwischen Freundschafts- und Salonkultur und praktischer Emanzipationspolitik. Dies geschah durch zwei Bewegungen: einer Dekonstruktion der ursprünglichen Zielsetzung, und einer Rekonstruktion des Potentials des »Sendschreibens«.

4. Schleiermachers »Briefe bei Gelegenheit« Aspekte ihrer Interpretation Grundsätzlich wolle Schleiermacher die in der »Aufgabe« und im »Sendschreiben« signalisierten Emanzipationsprobleme lösen, indem er analog zur Forderung der Trennung von Kirche und Staat eine Trennung religiöser und politisch-rechtlicher Ansprüche in der Gleichstellungsfrage einforderte. Dies entsprach dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller Religionen vor dem Gesetz im quasi-säkularen Staat, wie er im egalitären Denken der französischen Aufklärung herausgebildet und in der Französischen Revolution zur praktischen Geltung gebracht worden war. Dies entsprach zugleich der Mendelssohnschen Forderung in seiner Schrift »Jerusalem«, aber auch dem Kantschen Verständnis von Gleichheit als Vernunftrecht und Gebot der praktischen Vernunft.37 Schon der erste Brief sollte diese Grundsätze literarisch verarbeiten, nämlich als Frage, warum gerade er, der Briefschreiber, Rechte haben sollte, welche die Juden nicht hatten. Freilich 387.37–42. Friedländer adaptierte hierbei die aufklärerischen Basisformeln (Gottesglaube, Tugend und Unsterblichkeit bzw. die Bestimmung des Menschen zu irdischer und himmlischer Glückseligkeit). 36 Vgl. Friedländer, Sendschreiben, in: Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 21), 397, 399. Dass man hier weit über das hinauszugehen bereit war, was Mendelssohn vertreten, war den Reformern bewusst – doch sie waren ebenso davon überzeugt, dass Mendelssohn im Fortgang der Geschichte nicht anders gehändelt hätte als sie selbst. 37 Zur Gleichberechtigung aller Religionen und der Trennung von Staat und Kirche als Leistung der Französischen Revolution vgl. noch 1802 Johann Heinrich Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution, hg. v. Helmut König, Berlin 1961, 351f. (Reprint der Ausgabe Braunschweig 1790 Hildesheim 1977). Zu Schleichermachers früher Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche vgl. insbesondere die Vierte Rede; Schleiermacher, Über die Religion, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 266–292.

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zeigte sich bald, dass Schleiermacher hier keineswegs so konsequent dachte, wie es von diesem Ansatz her nahelag. 4.1. Die Dekonstruktion der ursprünglichen Zielsetzung des »Sendschreibens«: Die Kritik an Friedländer Schleiermacher sprach sich zwar anerkennend über den Stil und die strategische Platzierung im öffentlichen Diskurs aus – Teller werde wohl antworten müssen – doch inhaltlich sah er im »Sendschreiben« nur eine Episode ohne Bedeutung.38 Die Adressaten waren falsch gewählt, weil in der Sache ohne Befugnisse, und die »Hausväter«, hinter denen Schleiermacher zweifellos Friedländer ausmachte, sprachen nur für sich.39 Alles diente demnach der Inszenierung jener »Quasi-Bekehrung« am Ende, die Schleiermacher strikt ablehnte.40 Immerhin, so vermerkte er, ließen die Konversionswilligen wegen ihrer Sorge um Familienzusammenhalt und Nachkommenschaft jenen »feinern Eudämonismus« erkennen, den Schleiermacher der Mehrheit der Konvertiten absprach.41 In dieser Sicht wurde das »Sendschreiben« zum Zeugnis des gescheiterten Kampfes um die Judenemanzipation: Friedländer und die seinen gaben den Streit auf und verrieten damit Mendelssohns Lebenswerk. Friedländer musste es besonders schmerzen, dass Schleiermacher sich von ihm in gespielter Ahnungslosigkeit explizit distanzierte, ihn wie die anderen als charakterschwach diffamierte und dabei selbst den Verdacht äußerte, die »Hausväter« seien nur literarische Fiktion.42 Zudem wurde das ausgeprägte Selbstbewusstsein Friedländers wenig schmeichelhaft interpretiert: Schleiermacher erkannte nur tiefe »Bitterkeit« gegenüber Staat und Kirche, ja ausgesprochenen »Hass« auf das Christentum.43 Schleiermacher spielte in seiner ironischen Distanzierung auch mit anderen Interpretationsmöglichkeiten des »Sendschreibens«, die Friedländer nicht weniger ärgerlich vorkommen mussten: Vielleicht sei das »Sendschreiben« wie die »Aufgabe« eine Persiflage, die mit der Unmöglichkeit eines »halben Übergangs« zum Christentum nur die Inkonsequenz jeder Bedingung für die Erteilung der Staatsbürgerrechte demonstrieren wolle. Man müsse mit der Möglichkeit eines »geheimen Sinns« der Schrift rechnen, der 38 Vgl. den Ersten Brief, Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 332–338, bes. 333.22–334.35. 39 Vgl. Schleiermacher, Gedanken I, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 47, Nr. 205: »Sie meinen Teller soll im Namen des Consistoriums antworten da sie doch nicht einmal als Deputirte im Namen ihrer Committenten antworten konnten.« 40 Die »Quasi-Bekehrung« galt Schleiermacher als »Fabel« des ganzen Dramas; Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 334.24–26. 41 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 334.30–34. 42 »Wie tief verwundet muß besonders der treffliche Friedländer sein!« Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 335.10f. Wenig schmeichelhaft wurden die Hausväter als Menschen typisiert, welche die Religion »nach dem Curs« zu wechseln bereit waren, wenn sie ihnen nur die Staatsbürgerrechte einbrachten, aaO. 339.9–11. Dabei hatten Friedländer und die Seinen Teller gerade gebeten, einen Ausweg aus dem »Labyrinth« zu weisen: Das Judentum solle reformiert werden, um den bürgerlichen Zustand zu verbessern, aber man wolle sich nicht auf Kosten der Wahrheit und der Tugend die (irdische) »Glückseligkeit« erschleichen, aaO. 410.40. 43 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 341.29–342.5.

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den in subtilen Auslegungsfragen geübten Juden, nicht aber der einfältigeren christlichen Leserschaft – sprich ihm selbst zugänglich sei.44 Selbst in der ironischen Verfremdung lassen sich Anklänge an das Stereotyp der jüdischen Verstellung und Verschwörung nicht verleugnen. Dies auch deshalb, weil sich ähnliche Momente in anderen Zusammenhängen wiederfinden. 4.2. Die Kritik am Religionsbegriff Mühe machte vor allem der Religionsbegriff, obwohl Friedländer bei der »Mystik« ansetzte – was zwar unspezifisch blieb, aber auf Schleiermacher sympathisch wirkte.45 Im Hintergrund stand Friedländers Überzeugung von der doppelten Offenbarung Gottes in einer symbolischen und einer intuitiven Gestalt: Die symbolische bestand für ihn in den Worten und Zeichen der Heiligen Schrift. Sie war der kritischen Exegese aufgegeben, wie sie für seine Begriffe vorbildhaft in der Neologie praktiziert wurde. Die intuitive Offenbarung bestand in der unmittelbaren Anschauung des Göttlichen. Sie wurzelte in der mystischen Gotteserfahrung, wie sie ausdrücklich auch die orthodoxe jüdische Erziehung zur Ehrfurcht vor dem Heiligen erschloss.46 Juden und Christen teilten nach Friedländer dieses Verständnis von Offenbarung.47 Der intuitiv-mystische Offenbarungsbegriff blieb freilich nach Schleiermachers Eindruck dem »Eigentlichen« der Vernunftreligion äußerlich und wurde pädagogisch-historisierend distanziert.48 Diese Kritik am aufklärerischen Religionskonzept Friedländers traf einen entscheidenden Punkt, doch so kalt und rationalistisch deduzierend, wie Schleiermacher am Ende glauben machen wollte, war dieses Konzept nicht. Die sachlichen Differenzen führten, ganz dem vertraulichen Briefstil entsprechend, an herausragenden Stellen zur verstärkten Äußerung emotionaler Irritation. Dass Friedländer die »Aufhebung« der Halacha (des jüdischen Religions- oder Zeremonialgesetzes), d. h. faktisch deren Privatisierung, nicht im Widerspruch zur mosaischen und rabbinischen Tradition, sondern in tiefer Übereinstimmung mit dieser sehen wollte, musste 44 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 342.5–14. 45 Friedländers Begriff der »Mystik« signalisierte für Schleiermacher offenbar die Möglichkeit einer unmittelbaren Gottesbeziehung in der ursprünglichen Einheit von Gefühl und Anschauung, vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 333.24–27; 340.20–26. Offen bekannte er sich daher auch zu seiner »alten Liebe«, aaO. 333.27. In der Tat wertete Friedländer die »Richtung der Seele auf Frömmigkeit, auf Gefühl und erhebende Andacht« im religiösen Erziehungsprozess der Jugendzeit ausgesprochen positiv, Friedländer, Sendschreiben, in: Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 383.23–25. 46 Mit Blick auf M. Mendelssohns Werdegang hieß es: »[...] alsdann geht aus der Schule der so verschrienen Mystik ein kräftiger, nachdenkender, moralischvollendeter, nicht selten großer Mann hervor.« Friedländer, Sendschreiben, in: Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 383.42–384.1. 47 Vgl. Friedländer, Verehrer (s. o. Anm. 32), 11. Brief, 109–114. 48 Vgl. die weitläufig geratene Metaphorik in diesem Zusammenhang: Der durchaus achtenswerte religionshistorische Unterbau des »Sendschreibens« galt Schleiermacher als »Fußgestell« des Ganzen, dem eine organische Verbindung mit dem »Hauptgebäude« fehle; dieses wiederum erschien ihm wie eine nach oben immer dünner werdende »Pyramide«, der die Spitze abgebrochen sei. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 333.30–35.

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auch einem judaistisch Unbedarften wie Schleiermacher unlogisch erscheinen.49 Dass er aber behauptete, die halachischen Lebensregeln schadeten – so wenig zeitgemäß sie auch sein mochten – im Unterschied zu den Zentraldogmen des Christentums der Moralität nicht, kam einem Affront gleich. Friedländer hatte genau wahrgenommen, dass die neologische Theologie den traditionellen Dogmenbestand nicht ohne »läuternde Feuerprobe« akzeptierte.50 Dennoch war für ihn klar, dass auch die Neologie in irgend einer Weise an der Gottessohnschaft Jesu festhielt, und dass dies ein strikt jesuanisches Verständnis im jüdischen Sinne überstieg. Gerade dieser Kernpunkt führte bei Schleiermacher zur Empörung über Friedländers angeblich gänzliche Unkenntnis der theologischen Debatte – dem orthodoxen Bekenntnis zu Christus als dem Sohn Gottes komme in der Kirche längst nicht mehr jene Stellung zu, die Friedländer suggerierte: »Mein Gott«, so Schleiermacher, »weiß denn der Mann gar nichts von den alten und neuen Geschichten des Christenthums, und von dem Range, den man [...] diesem Dogma, und den Meinungen darüber schon seit langer Zeit anweiset? [...] wißen sie Alle so blutwenig vom Christenthum?«51

Schleiermachers Klage über Friedländers unkundige und vermessenene Theologie- und Christentumskritik hatte eine charakteristische Kehrseite: den Protest gegen die jüdische Zumutung, Christen müssten mehr vom Judentum wissen. Es war für ihn keineswegs nötig, dass Christen Geschmack fanden an »chaldäischer Weißheit und Schönheit«, die doch so sehr »unserm europäischen Geiste zuwider ist [...]«.52 Die Distanzierung war kulturell: Johann Gottfried Herders Impulse für die Bibelexegese schienen nicht wirklich relevant für das religiöse Selbstverständnis. Hier unterschied er sich grundlegend von Friedländer, der Herder mit zu den wichtigsten Aufklärungstheologen rechnete – eine Einschätzung, welche die Weite des Horizonts des gebildeten jüdischen Kaufmanns erkennen ließ. 4.3. Die Kritik an der Untätigkeit der Politik und am antijüdischen Vorurteil Schleiermachers Kritik an der Untätigkeit der preußischen Bürokratie mit ihrer »faulen Vernunft« traf sich mit dem Anliegen der jüdischen Reformer.53 Das Missverständnis – wenn man so will – von der »Quasi-Konversion« im »Sendschreiben« hatte ihr Gutes: 49 In der klassischen rabbinischen Theologie finden sich nur vereinzelt Stimmen, die eine endzeitliche Änderung der Vorschriften der Tora, etwa im Blick auf die Reinheits- und Speisegebote, für denkbar hielten; von einer gänzlichen Aufhebung entsprechender Bestimmungen in messianischer Zeit ging man allenfalls im Sabbatianismus aus; vgl. Peter Schäfer, Studien zur Geschichte und Theologie des Rabbinischen Judentums (AGJU 15), Leiden 1978, 213. 50 Vgl. Friedländer, Sendschreiben, in: Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 21), 398.11–13. 51 Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 342.26–35. 52 AaO. 342.32f. 53 Vgl. aaO. 335.34–336.1; 336.27–30. Bei Kant bezeichnete die »faule Vernunft« (ignava ratio) jenen Grundsatz, »welcher macht, daß man seine Naturuntersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begibt, als ob sie ihr Geschäft völlig ausgerichtet habe«. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 717f., 2 Bde., hg. v. Wilhelm Weischedel, 6. Nachdr., Darmstadt 2005, Bd. 2, 596.

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Schleiermacher nutzte die Gelegenheit, ein deutliches Plädoyer für die rechtliche Gleichstellung der Juden im Ständestaat zu halten. Es war an der Zeit, dass die Politik die Initiative ergriff. Die Zustände in anderen Ländern mit fortschrittlicher Gesetzgebung wie Frankreich sollten studiert und Vorschläge zur Umsetzung ausgearbeitet werden. Kleinere Verbesserungen im Rahmen der herkömmlichen Privilegienpolitik reichten demnach nicht mehr aus.54 Die vom Staat bestellten Vertreter der Kirche – und das heißt hier Teller und seine Kollegen im Oberkonsistorium –, wurden aufgefordert, die, wie er es nannte, »verderbliche Artigkeit« des Staates in der Verknüpfung von Taufe und Staatsbürgerrechten zurückweisen und notfalls gegen die Obrigkeit Stellung zu beziehen.55 Schleiermacher kritisierte in diesem Zusammenhang auch Vorurteile wie das Stereotyp von der jüdischen Immoralität.56 Hier traf er sich mit Friedländer, dem gerade dieses Vorurteil als Argument zur Verweigerung der Bürgerrechte sehr zu schaffen gemacht hatte. In den »Aktenstücken« war er ihm mit Statistiken zum erweislich niedrigen Anteil der Juden an der Kriminalität entgegengetreten. Das reformerische Eingeständnis, das Judentum habe auf religiös-kulturellem Gebiet Nachholbedarf, galt in seinen Augen ausdrücklich nicht für den Bereich der Ethik. Das Judentum stand hier nach Friedländer mit den kultiviertesten Völkern der Welt schon jetzt auf einer Stufe. Er hätte dabei im Berliner Kontext auf vieles hinweisen können: nicht zuletzt auf die vorbildliche Organisation der praktischen »Zedaka« in der Armen- und Krankenfürsorge, die auch Außenstehende beeindruckte.57 Für Friedländer war dies zugleich ein wichtiges Argument gegen die religiösen Absolutheitsansprüche des Christentums und seine angeblich überlegene Moralität. 4.4. Schleiermachers innerkirchliches Kernproblem: Die Sorge um die sog. »Judaisierung« des Christentums Dass es Schleiermacher bei der Forderung nach rechtlicher Gleichstellung nicht nur um das Judentum, sondern um den Schutz der Kirche vor einer »judaisierenden« Übermacht ging, zeigt der Umgang mit der Konversionsfrage. Sie war deshalb so interessant, weil der Staat mit der Koppelung von Taufe und Bürgerrechten eine problematische Begünstigung der Kirche offenbarte und sich so mitschuldig an der Proselytenmacherei machte – zum Nachteil von Staat und Kirche. Den Staat sah Schleiermacher mit der Erziehungsaufgabe gegenüber den Nachkommen der Konvertiten überfordert. Der Kirche drohte eine Überfremdung durch sog. »judaisierende« Christen, die – so die Befürchtung – ihre Kinder taufen und beschneiden lassen wollten. In jeden Fall musste so das Judesein des Juden zum Problem für Staat und Kirche werden.58 Einerseits zeigt 54 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 336.8–30. 55 Vgl. aaO. 348.21–349.37. Sollte der Staat dem kirchlichen Verlangen nicht folgen, könnten »wir Christen [...] wenigstens unsre Hände in Unschuld waschen.« AaO. 349.36f. 56 Es wurde benannt als »[...] Dogma von einer innern Verderbniß der Juden« und Maxime, derenthalben es gefährlich sei, »sie in den bürgerlichen Verein aufzunehmen«, aaO. 336.38–337.2. 57 Vgl. Friedländer, Sendschreiben, in: Schleiermacher, KGAI/2 (s. o. Anm. 21), 399. 58 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 339.11–14. Schleiermacher verglich die »Judaisierer« mit »Amphibien«, deren Natur nur schwer zu bestimmen sei.

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sich hier Schleiermachers klares Bewusstsein für die Bedeutung religiöser Differenz, die nicht überspielt werden sollte. Andererseits erinnert die Typisierung der Konvertiten an die stereotypen Vorstellungen vom sog. »Taufjuden«, der sein wahres Judesein gerade darin offenbarte, dass er das christliche Gemeinwesen von innen her zu zerstören trachtete.59 Dass derartige antisemitische Denkfiguren Schleiermacher nicht gänzlich fremd waren, auch wenn er sie nicht offen propagierte, ist aus den privaten Notizen im ersten Gedanken-Heft zu ersehen. Hier heißt es im Blick auf die Reformer: »Wie betrüglich zur Reform Zeit die aufgeklärten Juden gegen die Anderen zu Werke gegangen sind. Recht jüdisch wollten sie sie um ihr Judesein bringen.«60

Wie stark Schleiermacher durch die angeblich drohende jüdische Überfremdung des Christentums beunruhigt war, zeigte sich in der Art und Weise, wie er die historische Entwicklung dramatisierte.61 War demnach in den 1770er Jahren die Trennung der Lebenswelten von Juden und Christen noch mehr oder weniger intakt und die Konversions- und Taufwilligen leicht als zweifelhafte Subjekte auszumachen – eine Erfahrung, die Schleiermacher in der Erinnerung an die pfarramtliche Tätigkeit des Vaters bestätigt sah –, so hatte sich die Lage mit den zunehmenden Übertritten assimilierter Juden verändert. Jetzt wurde dieser Zuwachs auf einmal als Krisensymptom einer breiteren Säkularisierungskrise der Kirche wahrgenommen, die stets mehr religiös Unaffizierte in ihrer Mitte versammelte und damit ihren Untergang beschleunigte.62 Nach den Gesetzmäßigkeiten religiöser Vergemeinschaftung bedeutete dies: Eine »kleine Masse Religion« musste in einer großen Religionsgemeinschaft ihre Kraft zur Zirkulation verlieren; die Wenigen, die noch »im Besitz der Religion« waren, konnten nicht mehr aufeinander wirken, die Gemeinschaft löste sich auf.63 So bedeutsam diese gleichsam entdogmatisierte Krisenanalyse in ekklesiologischer Hinsicht war, und so offenkundig in manchen Fällen die Konversion auf Statusgewinn zielte, so erstaunlich bleibt die Dramatisierung dieses Problems. Das mögliche Entstehen einer Subkultur jüdischer Konvertiten wurde faktisch nicht nur als Gefahr für die Kirche, sondern auch als Stimulans für die weitere Säkularisierung des Gemeinwesens 59 Möglicherweise erinnern auch Charakterisierungen wie die des »münzartigen« Umgangs dieser Konvertiten mit dem »geselligen Empfinden« an unterschwellig antijüdische Stereotype wie das vom jüdischen Handels- und Schachergeist. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 339.29–340.2. 60 Schleiermacher, Gedanken I, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 47, Nr. 206; vgl. aaO. 208 (»Zur Zeit der Reform machten die Juden noch gemeinschaftliche Ansprüche; jezt nicht mehr, weil die Gebildeten entschloßen sind ihre ungebildeten Mitbrüder sitzen zu laßen«). In Nr. 206 erkennt M. Brumlik »ein[en] unverhohlene[n] Antisemitismus«, der mit den theologischen Überzeugungen ein vollständiges Amalgam bilde; Brumlik, Duldung (s. o. Anm. 10), 48. 61 »Ja! ein judaisirendes Christenthum das wäre die rechte Krankheit, die wir uns noch inokuliren sollten!« Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 347.7f. 62 Schleiermacher wollte keinesfalls als »Judenfeind« gelten (Briefe bei Gelegenheit, in: KGAI/2 [s. o. Anm. 1], 350.3–6) und dehnte seine Ausschlussforderung daher auf »falsche«, d. h. religiös unaffizierte Christen aus. »Haben Sie vergeßen, daß ich auch den größten Theil der Christen aus der Kirche heraus wünsche?« AaO. 350.8–10, vgl. aaO. 346.15–17. 63 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 346.2–11.

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gesehen. Weil es um ein breiteres Säkularisierungsproblem ging, wurden die jüdischen Konvertiten mit unverhältnismäßiger Schärfe kollektiv denunziert und in widersprüchliche Rollen gedrängt. Einerseits galten sie Schleiermacher als religiös indifferent; darin repräsentierten sie gleichsam ein Kernproblem der säkularen »Moderne«. Andererseits fürchtete er die zerstörerische Potenz ihres verkappten Judeseins. Erstaunlich, aber in sich stimmig klingt daher die Behauptung, ein Religionswechsel sei im Grunde unmöglich – eine Auffassung, die Schleiermacher bekanntlich so nicht durchhielt.64 Auf stereotype Vorurteilsbildung weist in jedem Fall die notorisch antijüdische Verarbeitung der Konversionsproblematik im breiteren Kontext der Analyse von Säkularisierungsproblematik und innerchristlichen Konfliktfeldern. Entsprechend unkritisch konnte daher auch das sog. »judaisierende Christentum« zur Quelle allen Elends in der Geschichte der Kirche stilisiert werden.65 Dabei bleibt zu beachten, dass sich die ansteigende Zahl jüdischen Konvertiten in der Phase bis 1805 mehrheitlich aus (heiratswilligen) Frauen und Kleinkindern aus Mischehen zusammensetzte. Die Entwicklung war bis um 1800 insgesamt weniger dramatisch verlaufen, als verbreitete Redeweisen wie die von einer »Taufepidemie« vermuten lassen.66 Dass die jüdischen Konvertiten in vielen Fällen weiterhin mit ihrer jüdischen Verwandtschaft Kontakte pflegten, irritierte offenbar nicht nur die erklärten Gegner der Judenemanzipation. Aus der Perspektive der von jüdischem Einfluss freigehaltenen Kirche, formuliert als Verteidigung gegen den Vorwurf der Proselytenmacherei, sprach Schleiermacher das Problem der interreligiösen Ehen, der sog. Mischehen, an.67 Im Zuge der von der aufklärerischen Problematisierung der Mischehengesetze vorangetriebenen Privatisierung der Ehe war das Mischehenverbot, wie es von Seiten der jüdischen und christlichen Orthodoxie hochgehalten wurde, ohnehin nicht mehr zeitgemäß. Staat und Kirche sollten die Mischehe anerkennen und damit den Weg zur Ziviltrauung freimachen. Zugleich widersprach er der bewussten Vergleichgültigung des Sachverhalts, wie wir sie bei Gebildeten der Zeit, etwa bei Wilhelm von Humboldt, verbreitet finden.68 Dies entsprach 64 »Es ist unmöglich, daß Jemand, der Eine Religion wirklich gehabt hat, eine andere annehmen sollte; und wenn alle Juden die vortrefflichsten Staatsbürger würden, so würde doch kein einziger ein guter Christ [...].« Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 347.2–4. In den »Briefen bei Gelegenheit« war die Konversion und die Judenmission der Kirche noch strikt abgelehnt worden; später schien der Übergang von Juden zum Christentum als notwendiges Moment der geschichtlichen Weiterentwicklung und als Folge des geselligen Verkehrs untereinander. Die Intergration des ganzen jüdischen Volkes in die universale Kirche der Endzeit wird in der Prädestinationsschrift von 1819 vorausgesetzt. Vgl. Beckmann, Wurzel (s. o. Anm. 25), 127f. 65 Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 347.8–14. 66 Vgl. Steven M. Lowenstein, The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family, and Crisis 1770–1830 (Studies in Jewish history), New York 1994, ch. 11. 67 Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 349.19–31. Zur Mischehe in Judentum und Christentum vgl. Joachim Lell, Art. »Mischehe«, in: TRE 23, Berlin/New York 1994, 3–13. 68 Vgl. Wilhelm von Humboldt, an Henriette Herz (ohne Datum): er sei »für alle Arten der gemischten Ehen nach allen Haut- und Glaubens-Farben, wenngleich das Aesthetische der Hautfarben bei dem Prozesse mehr als der Glaube gefährdert« werde; Humboldt erinnerte an Franz Michael Leuchsenring, der die Mischehe »als Mittel des Untergangs des Judenthums« geradezu herbeiwünschte. Hans

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Schleiermachers Eheauffassung, die den Nachdruck auf die konstituierende Kraft der Liebe und die gegenseitige religiöse Bereicherung legte – wobei letzteres deutlich machte, dass Mischehen nur im Ausnahmefall gelingen konnten.69 Hier bleibt der Respekt vor der religiösen Differenz noch am ehesten spürbar. Dass Schleiermacher trotz seines Plädoyers für die Trennung von Staat und Kirche und die bürgerliche Gleichstellung der Juden wieder hinter den Stand der Aufklärungsdebatte Dohmscher Provenienz zurückfiel, zeigt das Folgende. 4.5. Die Rekonstruktion einer positiven Lesart des »Sendschreibens«: Die politisch eingeforderte Selbstzensur des Judentums Obwohl Schleiermacher nachdrücklich betonte, es sei Aufgabe der Politik, die näheren Bedingungen für die »Naturalisation« der Juden zu bestimmen, und zwar unabhängig von religiösen Fragen, definierte er doch diese Bedingungen mit. Dies setzte voraus, religiöse Tatbestände benennen zu können, die unmittelbar politisch relevant erschienen. Das war für Schleiermacher bei den Vorschriften der Halacha, dem sog. Zeremonialgesetz, und beim Messiasglauben der Fall. Beide signalisierten grundsätzliche Loyalitätskonflikte des rabbinisch-orthodoxen Judentums mit dem Staat bzw. der Zivilgesellschaft. Damit wurden wesentliche Elemente des Antirabbinismus der jüdischen Aufklärung übernommen. Zugleich sollte damit das Problem des »Staats im Staat« gelöst werden, eine wichtige polemische Figur im Kampf gegen die Judenemanzipaton, wie sie etwa Johann Gottlieb Fichte vorgetragen hatte. Hier nun setzte die positive Auswertung des Friedländerschen »Sendschreibens« ein: Was erst im Blick auf die »Quasi-Taufe« als Dokument des Scheiterns diskreditiert worden war, wuchs nun, recht interpretiert, heran zum »wahre[n] Codex eines neuen, der politischen Existenz in jeder Rücksicht fähigen und würdigen Judentums.«70 Dass auch in den Kreisen der rabbinischen Orthodoxie das Problem der Bürgerpflichten bedacht und praktikable Lösungen gefunden waren – so wurde stets betont, dass (nach der Regel dina de-malkuta dina) die Landesgesetze für die jüdische Gemeinschaft bindend waren –, scheint Schleiermacher nicht bewusst gewesen zu sein. Er beharrte auf einem prinzipiellen Konfliktszenarium, das im Falle der rechtlichen Gleichstellung die öffentliche und förmliche Absage an Halacha und Messiashoffnung erforderlich machte.71 Landsberg (Hg.), Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Weimar, Kiepenheuer, 1913, Eschborn bei Frankfurt/M. 2000, 424. 69 Zur Eheauffassung Schleiermachers im weiteren Kontext der zeitgenössischen Geschlechterdebatte vgl. Elisabeth Hartlieb, Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers (TBT 136), Berlin 2006. 70 Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 355.6f. Hierzu gehören die lobenden Worte über Friedländers Liebe zum Judentum (aaO. 354.22–25), dergegenüber der erwogene Übergang zum Christentum eine »falsche Zutat« sei. Schleiermacher sah hierin keinen Widerspruch zu seiner früheren Polemik, die Friedländer vor allem Bitterkeit und Christenhass bescheinigt hatte. 71 Vgl. zum Folgenden insbesondere den Vierten Brief, Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 351–355; zu einer kurzen Zusammenfassung von Schleiermachers Forderungen vgl. aaO. 352.11–20.

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Zwar verlangte Schleiermacher kein generelles Verbot der Halacha, was im übrigen auch Friedländers Radikalformel von der »Aufhebung« des Zeremonialgesetzes nicht meinte. Ziel war die vollständige Privatisierung der halachischen Orthopraxie. Dies zeigt ein erklärender Zusatz: Demnach dürfe niemand aus religiösen Gründen etwas verboten werden, was von Staats wegen erlaubt sei. Jeder religiöse Normierungsanspruch wurde damit dem individuellen Freiheitsbewusstsein untergeordnet. Der traditionelle Toragehorsam schien in der Substanz auf den Staatsbürgergehorsam und die private Praxis der Religion reduzierbar. Ebenso hinderlich für die Ausbildung von staatsbürgerlicher Loyalität und Patriotismus war für Schleiermacher die jüdische Messiashoffnung. Diese wurde interpretiert als Ausdruck eines eng mit dem Erwählungsglauben zusammenhängenden nationalen Sonderbewusstseins.72 Dass die Messiashoffnung, wie er bei Friedländer las, nur noch wenigen Juden wirklich etwas bedeutete – man erinnere sich an das Scheitern der Bewegung des Schabbatai Zwi und deren Folgewirkungen –, hielt er nicht für wesentlich. Ihm genügte, dass dieser Hoffnung im synagogalen Ritus und der Gebetsliteratur noch stets Ausdruck verliehen wurde.73 Entscheidend war hier: Aus Friedländers Wille zur Reform dieser Literatur wurde bei Schleiermacher ein politischer Programmpunkt staatlich eingeforderter Selbstzensur. Das Festhalten an der Messiashoffnung bedeutete für Schleiermacher demnach: Die Juden hatten sich, wie auch Friedländer selbst, noch nicht frei gemacht vom Konzept des Judentums als einer eigenständigen »Nation« im Staat und einem nur »interimistischen Aufenthalt«, der allenfalls Anspruch auf ein Gastrecht verlieh. Die jahrhundertelange Dauer des Aufenthalts spielte keine Rolle, Klagen darüber waren unangebracht.74 Für Schleiermacher unterschieden sich die Juden in dieser Hinsicht nicht von den Angehörigen der französischen Kolonie in Berlin, die erklärtermaßen ebenfalls so bald wie möglich in ihre Heimat zurück wollten und mit ihrem Gaststatus zufrieden waren.75 Inwieweit mit diesem Bemühen um formalrechtliche Argumentation tiefsitzende antijüdischen Ressentiments verbunden waren, zeigt der Kontext. Die Juden glichen demnach einem kurzfristig denkenden Grundstückspächter, der nichts investieren, aber das Land möglichst gewinnbringend »aussaugen« wolle, ein klassischer Reflex gegen den vor allem Juden zugerechneten Geist des Konkurrenzkapitalismus.76 Überhaupt erschienen alle bürgerlichen (»politischen«) Gebrechen der Juden mit der Messiashoffnung verknüpft: Die starke Bindekraft des Zeremonialgesetzes, das als Gesetz des »eigentlichen«, d. h. eines fremden Vaterlandes diskreditiert wurde, sowie die übermäßige Neigung zum 72 Vgl. Schleiermacher, Gedanken I, Nr. 204, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 46. 73 Vgl. KGAI/2, 353.11–15. Vom Trauma des Sabbatianismus, der im Judentum des 18. Jh. ernüchternd, aber auch polarisierend gewirkt hatte, war hier nichts wahrzunehmen. 74 »Friedländer in den Acten lehnt sich immer dagegen auf daß die Juden nicht sollen als Fremde angesehn werden, und doch nennt er sie selbst bisweilen unsere Nation«, Schleiermacher, Gedanken I, Nr. 203, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 46. 75 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 352.32–353.7; aaO. 342.35–37. Die mangelnden Deutschkenntnisse der Franzosen wiesen dabei auf manglenden Integrationswillen. 76 Vgl. aaO. 353.15–21.

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Betrug und zum Hintergehen der »Fremden« bei den Angehörigen der jüdischen Unterschicht. Die letzte Behauptung generalisierte Schleiermacher sogleich bildungselitär, um sich von plumper antijüdischer Stimmungsmache zu unterscheiden. Alle ungebildeten Menschen entwickelten demnach nur einen juridischen und nicht einen moralischen Gerechtigkeitsbegriff. Weiter harmonierten für ihn die jüdische Sonderexistenz in der Absonderung von der christlichen Umwelt und die Vorliebe für Handel und Geldgeschäft auf ausgezeichnete Weise mit der Messiashoffnung: Diese mobilen, von wenig Bodenhaftung bestimmten Lebens- und Erwerbsformen entsprachen demnach genau der bewusst gewählten »interimistischen« Existenz der Juden im Exil.77 Kurzum: Friedländers Reformanliegen wurden in ein Programm religiös-politischer Zensur überführt, das auf der Ablehnung jedes religiös-ethnischen Sonderbewusstseins und jeder futurischkosmologischen Eschatologie beruhte.78 Damit hatte Schleiermacher gleichsam mit Hilfe von Friedländer sein eigenes Entreebillet für die Aufnahme der Juden in die Gemeinschaft gleichberechtigter Staatsbürger entworfen. So deutlich er sich hier auch an die Reformanliegen der Haskala anschloss, so auffällig ist doch deren Entfremdung aus dem unmittelbaren Kontext. Aus dem jüdischen Reformprogramm wurden Bedingungen für die rechtliche Gleichstellung abgeleitet. Dies wird noch in anderer Hinsicht deutlich. Das Zugeständnis bürgerlicher Defizite bei Friedländer und anderen war stets verbunden mit einer historisierenden Erklärung, welche auf die jahrhundertelange Diskriminierungs- und Marginalisierungspolitik der christlichen Obrigkeiten verwies. Schleiermachers Räsonnement verzichtete darauf. Alle Probleme schienen nun auf die sog. »bürgerlichen« Schwachpunkte des jüdischen Glaubens selbst zurückführbar zu sein. Auch wenn Schleiermacher die Leidensgeschichte des Judentums deshalb noch nicht leugnen musste, korrespondierte in diesem Zusammenhang die Judenfeindschaft der Umwelt auf merkwürdige Weise mit realen, innerjüdisch generierten Problemen. Die Bürgerrechte waren nur den Juden zuzuerkennen, die sich aufklärerisch zensieren und durch Verpflichtungserklärungen vereinsmäßig organisieren ließen. 4.6. Die Vision: Die Konfessionalisierung des Reformjudentums, eine Frühform des sozialen Antisemitismus Nach Schleiermacher sollte die bisherige individuelle Naturalisationspraxis aufgegeben und die bürgerliche Gleichstellung mit der Zugehörigkeit zu einem neuen Kollektiv verknüpft werden. Aufgabe des Staates war es, neben den bestehenden Konfessionen eine neue »Kirchengesellschaft« oder »Sekte« als eine Art Reformgemeinde zu konstituieren, 77 Vgl. aaO. 353.23–40. 78 Vgl. Schleiermachers Aussage zur Unsterblichkeit der Religion am Ende der Zweiten Rede, Schleiermacher, Über die Religion, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 247.9–11 (»Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick [...]«). Zur Transformation der traditionellen Eschatologie vgl. Henning Theissen: Die evangelische Eschatologie und das Judentum. Strukturprobleme der Konzeptionen seit Schleiermacher (FSÖTh 103), Göttingen 2004.

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in die man freiwillig ein- oder auch austreten konnte.79 Anders als in der amerikanischen oder französischen Gleichstellungspraxis wurde hier nicht von Grund- und Individualrechten ausgegangen, sondern von der Privilegierung eines assimilationsbereiten Reformjudentums nach dem Modell der Vereinsbildung, aber offenbar in einer festen, mit den konfessionskirchlichen Institutionen vergleichbaren Form.80 Für entsprechend wichtig hielt Schleiermacher die staatliche Überwachung dieser jüdischen »Kirchengesellschaft«, etwa im Blick auf die dauerhafte Durchführung der Kultusreformen und die Modernisierung der Pädagogik. Die Zweckbindung dieser Vergesellschaftungsform war also deutlich markiert, ein neben der Freiwilligkeit typisches Kennzeichen neuzeitlicher Vereinsbildung. Mit einer sofortigen völligen Gleichstellung rechnete Schleiermacher offenbar auch bei der Verwirklichung dieses Modells nicht. Mit Einschränkungen in der Berufswahl, etwa im Blick auf die Übernahme von Staatsämtern, blieb zu rechnen. Hier schätzte er die tiefsitzenden Empfindlichkeiten selbst der reformbereiten Bürokratie gut ein, wie sich im Zuge der Emanzipationsgesetzgebung von 1812 noch zeigen sollte. Der Vorschlag zur Gründung einer privilegierten Reformgemeinde war für Schleiermacher die notwendige Konsequenz einer faktisch längst vollzogenen Pluralisierung innerhalb des Judentums.81 Die Reformer, die gut aufklärerisch das »Wesentliche« des Judentums zu bewahren versprachen, hatten alle Unterstützung vom Staat verdient. Was Schleiermacher soziologisch neutral als Prozess religiöser Gruppenbildung beschrieb, blieb freilich der typisch volksaufklärerischen Hierarchisierungsperspektive unterworfen: Den »besseren« Juden der Bildungsschicht standen die Angehörigen der »niederen Klasse« gegenüber, die aus ihrer sog. »Unkultur« herausgeführt werden mussten. Die Welt der Orthodoxie wurde mehr oder weniger dieser »Unkultur« zugerechnet, und blieb mit Aberglauben, »Christen- und Vaterlandshaß« und gemeinschaftsschädigendem Verhalten verbunden.82 Schleiermacher schätzte in diesem Zusammenhang das Dilemma der Reformer klar ein: Einerseits war es unmöglich, die Reform des Judentums mit Hilfe der Obrigkeit gegen die Orthodoxie zu erzwingen, andererseits durfte 79 Vgl. Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 353.40–354.7; aaO. 354.18f. (»Lachen Sie nur, es ist mein voller Ernst mit dieser neuen Sekte«). 80 Vgl. die kritischen Anmerkungen zum Westfälischen Frieden im Fünften Brief; jenem komme nur noch wenig praktische Bedeutung zu. Seine Bestimmungen richteten sich nach Schleiermachers Einschätzung wohl mehr gegen die Etablierung einer neuen christlichen als einer jüdischen »Sekte«, Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 356.10–16. Offenbar blieb das Verhältnis zu den seit 1794 mit der Einführung des Allgemeinen Preußischen Landrechts eröffneten Möglichkeiten der Gründung von Privatvereinigungen mit körperschaftlichen Rechten außerhalb des Blickfelds. 81 Schleiermacher sah seine Forderung als notwendige Konsequenz der »Trennung« der religiösen Richtungen im Judentum bzw. der innerjüdischen »Spaltung«, die gleichsam auf einen naturgesetzlich ablaufenden Prozess antwortete, vgl. den Fünften Brief; Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 356–358, besonders 356.25 und 358.3–6.30. 82 Vgl. das Negativbild, das Schleiermacher zur Unterstützung seiner Position von der Orthodoxie zeichnete, sollte Friedländer mit den Seinen zum Christentum konvertieren, Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2, 357.8–27. Die Tatsache, dass auch die preußischen Rabbiner Anstrengungen unternahmen, den traditionellen Bildungskanons durch »weltliche« Inhalte zu erweitern, fand keine Berücksichtigung.

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die jüdische Identität nicht aufgegeben werden. Der freiere Umgang mit dem Zeremonialgesetz werde aber, so Schleiermacher, fließende Übergänge zwischen weniger strenger Orthodoxie und konservativer Reform möglich machen, die am Ende das orthodoxe Lager schwächen und das reformerische stärken würde. Die ungleiche Behandlung beider Gruppierungen durch den Staat, wie sie auch in andere emanzipationsskeptischen Reformvorschläge einging, und die Folgeprobleme einer von außen beförderten innerjüdischen Polarisierung problematisierte Schleiermacher nicht.

5. Schleiermacher – Teller – Friedländer: Übereinstimmungen und Differenzen Im letzten Brief beklagte Schleiermacher das Schweigen der meisten Berliner Amtskollegen und Gelehrten zur Emanzipationsfrage, obwohl doch gerade hier eine lebendige Kultur des Austauschs zwischen Juden und Christen bestand.83 Tellers Antwort auf das »Sendschreiben« wurde als lehrreiche und gütige Privatmeinung gelobt, doch – wie erwähnt – nicht näher analysiert.84 Dabei waren die Unterschiede trotz eines gemeinsamen starken Antirabbinismus deutlich: Teller hoffte in der Tat auf eine Konversion der »Hausväter«, zu ermäßigten Bedingungen zwar, doch nicht auf einer rein zivilreligiösen Basis.85 Freilich wollte auch Teller die Frage der Bürgerrechte von der Tauffrage getrennt und dem Verhältnis von Kirche und Staat zugeordnet wissen. Dabei zeigte er sich genau über die nordamerikanischen Zustände informiert, ohne ähnliche Regelungen für Deutschland zu fordern. So fiel sein Appell an den Staat schwach aus: Dieser sollte sich wegen der individuellen Verdienste Friedländers und seiner Gruppe erkenntlich zeigen. Hier zeigte Schleiermacher mehr Profil. Eine wirkliche Anerkennung der Juden in ihrer Diversität und Alterität unterblieb freilich bei beiden, im religiösen wie im politischen Sinn.86 83 Vgl. den Sechsten Brief; Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit, in: Ders., KGAI/2 (s. o. Anm. 1), 359–361. 84 AaO. 360.32–361.6. Teller teilte mit Friedländer und Schleiermacher einen strengen Antirabbinismus. Vgl. insgesamt Wilhelm Abraham Teller, Beantwortung des Sendschreibens einiger Hausväter jüdischer Religion an mich den Propst Teller, Berlin 1799 (eine zweite vermehrte Aufl. erschien ebenfalls noch im Jahr 1799). 85 Zu den Bedingungen der Konversion zählte Teller das Bekenntnis, die ewigen (Vernunft-)Wahrheiten der Religion seien im Christentum besser und reiner bewahrt geblieben als im Judentum; das Minimalbekenntnis, das jüdischen Konvertiten abverlangt werden sollte, erstreckte sich auf die Grundwahrheiten des praktischen Christentums, welches die wenigstens implizite Anerkenntnis Jesu als des Gründers der besseren Moralreligion einschloss. Zur »Vereinigung der Juden mit anderen Völkern [...] zu einer Religion« im biblischen Kontext von Eph2,16 und Kol1,20–22 vgl. Wilhelm Abraham Teller, Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre, 3. verb. und verm. Aufl., Berlin 1780, 392 (Stichwort »Versöhnen, Versöhnung«). Ein spezifisch eschatologischendgeschichtliches Konzept kann daraus nicht abgeleitet werden. 86 Zu den schriftlichen Reaktion auf Friedländers »Sendschreiben« vgl. die Übersicht bei Ellen Littmann, David Friedländers Sendschreiben an Probst Teller und sein Echo, in: ZGJD 6 (1935), 92– 112, 105–107.

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Und Friedländer? Einen bleibenden Eindruck hatten Schleiermachers »Briefe« auf ihn nicht gemacht. In einem Rückblick hieß es 1823: Viel kalter Spott und bitterer Hohn sei damals über ihn niedergegangen, während »Religion und Wahrheit« nicht viel gewonnen hätten, schließlich habe außer Teller »kein Mann von Gewicht und Ansehn [...] seine Stimme hören lassen«.87 Als immerhin lesenswert kamen ihm neben Tellers Antwort noch stets Heinrich Philipp Konrad Henkes wohlwollende Anzeige in der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek« vor, vom jungen Schleiermacher kein Wort.88 Das ändert nichts an der Tatsache, dass Schleiermachers »Briefe« gerade in ihren Ambivalenzen eine bemerkenswerte Reaktion auf das »Sendschreiben« darstellten. Auch wenn die Ereignisse Episode blieben und der Emanzipationsbewegung keine unmittelbaren Impulse gaben, weisen die »Briefe« doch auf die Aktivitäten der preußischen Reformära seit 1809 und das Emanzipationsedikt Friedrich Wilhelms III. vom 11.März1812 voraus.89 Schleiermachers grundsätzliches Plädoyer für die Judenemanzipation deckte sich im Großen und Ganzen mit dem frühliberalen Leitbild der (idealiter) egalitären Staatsbürgergesellschaft. Dies schloß die Propagierung eines theologisch motivierten Antijudaismus und die Verfestigung anitjüdischer Stereotypen nicht aus. Wie andere konnte auch der junge Schleiermacher für die Judenemanzipation plädieren und zugleich auf den Untergang des Judentums als Religion hoffen. Die kollektiven Erziehungs- und Bildungsvorstellungen verraten breites spätaufklärerisches, auch in der Romantik rezipiertes Erbe. Seine Ideen zur Teilintegration einer jüdischen Bildungselite unter Ausschluss des Restes weisen auf frühromantische Normierungen des Volks- und Nationbegriffs mit antisemitischem Potential. Diese segregierenden Normierungsvorstellungen sollten ihre Zukunft vor allem im Lager der Gegner der Judenemanzipation haben – freilich vom reiferen Schleiermacher ausdrücklich nicht mehr unterstützt.90

87 Friedländer, Verehrer (s. o. Anm. 32), 14–16, 30. Die 1803 durch ein antisemitisches Pamphlet von Wilhelm Friedrich Grattenauer ausgelöste Debatte um die Judenemanzipation zeigte, wie stark die emanzipationsfeindlichen Stimmen waren. Grattenauer setzte die judenfeindliche Polemik des Juristen und Kriminalrats Christian Ludwig Paalzow fort, die dieser 1799 formuliert hatte. 88 Vgl. schon Schleiermachers Notiz zum Geschick der »Judenbriefe« in einem Schreiben an G.A. Reimer Mitte Dezember 1803: »auf die aber leider Niemand gemerkt hat, und die auch in der Stille verwes’t sind« (Schleiermacher, Briefwechsel 1803–1804 (Briefe 1541–1830), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, in: Ders., KGAV/7, Berlin/New York 2005, Nr. 1621, 170–172, hier 171.31–33). 89 Vgl. kurz Meyer, Geschichte (s. o. Anm. 13), 26–35. 90 Das Konzept der »Trennung« der Juden in zwei Gruppierungen mit unterschiedlichem Rechtsstatus spielte im konservativen Diskurs der 1820er und 1830er Jahre eine wichtige Rolle, vgl. die Äußerungen des Berliner Regierungsrats, Schriftstellers und Übersetzers Karl Streckfuss, Über das Verhältniß der Juden zu den christlichen Staaten. Die Erklärungen der Stände sämmtlicher Provinzen der preußischen Monarchie über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden, Halle 1833.

Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede »Über die Religion« und ihre Rezeption bei Abraham Geiger Arnulf von Scheliha Zwei Vorbemerkungen seien vorausgeschickt, deren erste die Forschungslage betrifft. In den vergangenen Jahren sind einige gewichtige Beiträge zu Schleiermachers Verhältnis zum Judentum beziehungsweise zum Alten Testament erschienen, so dass dieser Kongress Gelegenheit zu einer Zwischenbilanz gibt. Kurt Nowak, Klaus Beckmann, Matthias Wolfes, Richard Crouter und Henning Theissen haben sehr differenzierte Studien zum Thema vorgelegt und neben theologiegeschichtlichen Bezügen,1 wirkungsgeschichtlichen Folgen und dogmatischen Voraussetzungen insbesondere den gesellschaftlichen Rahmen, in dem Schleiermacher wirkte und den er selbst als politischer Akteur mitbestimmt hat, berücksichtigt. Es wurde bestätigt, dass Schleiermacher zur jüdischen Religion ein positives Verhältnis nicht hat aufbauen können.2 Diesbezüglich war er wenig informiert, desinteressiert und hat sich abwertend geäußert. Dem stand seine persönliche Freundschaft zu Menschen jüdischer Herkunft nicht entgegen.3 In politischer Hinsicht 1

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Beckmann resümiert vor allem auf der Basis der gegenwärtigen Forschungslage den Einfluss von Lessing, Herder und Semler auf Schleiermachers Deutung des Judentums (vgl. Klaus Beckmann, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002, 43–51). So schon der jüdische Historiker Heinrich Graetz: »Er war keineswegs [...] ein Judenfeind, er wehrte sich vielmehr dagegen, wenn er als solcher bezeichnet wurde. Aber es waltete in ihm ein dunkles, unangenehmes Gefühl gegen das jüdische Wesen, dessen er sich nicht erwehren konnte«; Heinrich Graetz, Geschichte der Juden vom Beginn der Mendelssohnschen Zeit (1750) bis in die neueste Zeit (1848) (Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, aus den Quellen neu bearbeitet von Heinrich Graetz, Bd. 11), Leipzig 21900, 172. – Wolfes spricht davon, dass Schleiermacher »eine tiefgreifende Fremdheitserfahrung gegenüber dem Judentum niemals [hat] überwinden können«; Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Bd. II, Berlin/New York 2004, 327. – Hirsch schreibt in seiner Theologiegeschichte von einer »ihm naturhaft eignen Abneigung gegen die alttestamentlich-jüdische religiöse Art«; Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 4, hg. v. Albrecht Beutel, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. Hans Martin Müller u. a., Bd. 8, Waltrop 2000, 534. – Nowak notiert, dass »Schleiermacher der Glaubenswelt des Judentums keine große Wertschätzung entgegenbrachte«; Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 97. Vgl. Matthias Wolfes, Schleiermacher und das Judentum. Aspekte der antijudaistischen Motivgeschichte im deutschen Kulturprotestantismus, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur

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hat er sich für die bürgerliche Gleichstellung der Juden eingesetzt. Einer aufgeklärten Einheitsreligion, dem Vorschlag David Friedländers (1750–1834), stand er ablehnend gegenüber.4 Schließlich ist deutlich, dass sich die Beurteilung des Judentums in den ›Reden‹ im späteren Werk durchhält. Es kommen zwar einige Differenzierungen hinzu, aber die Distanzierung ist der bestimmende Zug. Schleiermacher bestreitet »jede normative Bedeutung jüdischer Gotteserfahrung für das Verhältnis des Christen zu Gott [...]. Dem Judentum kommt keinerlei regulative oder auch nur orientierende Funktion zu.«5 Die zweite Vorbemerkung betrifft das Problem der kategorialen und historischen Identifikation dessen, was gemeinhin als »Judentum« oder »Altes Testament« bezeichnet wird. Heute spricht man von der »Hebräischen Bibel« und ihrer zweifachen Nachund Rezeptionsgeschichte im Judentum einerseits und als Altes Testament im Christentum andererseits.6 Jede Konstruktion einer »Einheit« oder »Mitte« des Alten Testaments wirkt angesichts der Vielfalt theologischer Aussagen im Alten Testament wie eine gewaltsame Reduktion.7 Die großen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Stefan Alkier8 und Hans-Günther Waubke9 haben gezeigt, dass die in der protestantischen Bibelwissenschaft übliche Verwendung der Begriffe »Pharisäer«, »Spätjudentum« und »Urchristentum« normativ aufgeladen und mit anti-judaistischen Konnotationen verbunden waren, so dass heute die Wahl der historiographischen Leitbegriffe mit erheblichen Reflexionslasten verbunden ist. Gemessen daran erweist sich Schleiermachers Deutung des Judentums als unterkomplex. Im Blick auf die jüdische Religionsgeschichte waren die Dinge schon damals im Fluss. Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) hatte die Exilszeit als eigentlichen Beginn der jüdischen Religionsgeschichte angesehen. Gotthold Ephraim Lessing (1729– 1781) rechnet in seiner pädagogischen Rekonstruktion der alttestamentlichen Geschichte mit einem sehr langen Prozess der Vergeistigung der Religion, während für Johann Gottfried Herder (1744–1803) die Gestalt des Mose die zentrale Figur des Alten Testaments war. Bei Novalis (1772–1801) ist es der im Exil entwickelte »Messiasglaube [...], [der] das Wesen des Judentums bis in seine eigene Zeit hinein ausmacht.«10 An Lessing und Novalis knüpft Schleiermacher in den ›Reden‹ an. Vor diesem Hintergrund soll in einem ersten Teil das Thema »Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede« behandelt werden. Dabei der Juden 14 (2004), H. 2, 497–501. Vgl. Richard Crouter/Julie Klassen (Hg.), A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin, Indianapolis 2004. 5 Wolfes, Schleiermacher und das Judentum (s. o. Anm. 3), 506. 6 Vgl. Klaus Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testaments in Judentum und Christentum, in: JBTh 6 (1991), 215–242. 7 Vgl. Jan Christian Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 2006, 519–523. 8 Vgl. Stefan Alkier, Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, Tübingen 1993. 9 Vgl. Hans-Günther Waubke, Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1998. 10 Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht (Beiträge zur historischen Theologie 135), Tübingen 2006, 323. 4

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wird die gängige Isolierung der knapp 5seitigen Passage zum Judentum aufgehoben und diese in den Kontext der allgemeinen Religionshermeneutik gestellt, die Schleiermacher in den ›Reden‹ ansetzt.11 Im zweiten Teil wird ein Blick in die Wirkungsgeschichte der ›Reden‹ geworfen. Am Beispiel eines prominenten jüdischen Religionsgelehrten des 19. Jahrhunderts und seiner Schleiermacher-Rezeption wird gezeigt, dass trotz jener abfälligen Bemerkungen zum Judentum Schleiermachers Religionstheorie auf jüdische Intellektuelle als attraktiv und anregend wirken konnte.

1. »[...] denn der Judaismus ist schon lange eine todte Religion, und diejenigen, welche jezt noch seine Farbe tragen, sizen eigentlich klagend bei der unverweslichen Mumie, und weinen über sein Hinscheiden und seine traurige Verlaßenschaft« (R 286).

Mit diesem fast berüchtigten Satz beginnt Schleiermacher seine Deutung der jüdischen Religion in den ›Reden‹. Diese Wendung wird stets mit einigem Recht in Erinnerung zitiert, wenn man auf Schleiermachers Verhältnis zum Judentum zu sprechen kommt, denn sie ist durchaus repräsentativ. Schleiermacher hat die Passage zum Judentum in weiteren Auflagen der ›Reden‹ weder überarbeitet noch kommentiert. Richard Crouter hat die mit ihr verknüpfte Bewertung als »surprisingly illiberal«12 bezeichnet. Überraschend deshalb, weil die »Apologie« der ersten Rede, der allgemeine Wesensbegriff der zweiten Rede und die Hermeneutik zur Entdeckung der positiven Religionen in der fünften Rede alle Türen zu einer vorurteilsfreien Wahrnehmung der nicht-christlichen Religionen öffnen.13 Vor diesem Hintergrund ist es schon merkwürdig, dass die einzige Passage, die sich einer nicht-christlichen Religion widmet, formal als Exkurs ausgewiesen ist – »Zwar sollte ich nur von Einer reden« (R 286) – und inhaltlich eine für »todt« erklärte Religion behandelt. Zwei Gründe sprechen nach Schleiermacher gegen die Thematisierung des Judentums. Einmal ist es eben jene Einschätzung, nach der das Judentum den religionsgeschichtlichen Tod bereits gestorben ist. Aber die Begründung dieser These, die Schleiermacher liefert, rechtfertigt den Exkurs, zumal sie zugleich auf die positive Beschreibung des Christentums vorverweist. Der zweite Grund, der nach Schleiermacher gegen die Beschäftigung mit dem Judentum spricht, bezieht sich auf die theologische Konvention, die vom Judentum als einem »Vorläufer des Christenthums« (R 287) spricht. Diese Sicht 11 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I/2, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185–326. Im Folgenden erfolgen die Nachweise (R) im Haupttext. 12 Crouter/Klassen (s. o. Anm. 4), 9. 13 Zu Recht notiert Crouter: »What Schleiermacher says in speech 5 about Judaism being dead is at odds with the more general position of speeches 2 and 5 that each religion has a foundational intuition that shapes the tradition as it unfolds in history«; Richard Crouter, Between Enlightenment and Romaticism, Cambridge, MA 2005, 67, FN 110.

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geht nämlich an der zuvor entfalteten religionshermeneutischen Theorie der Zentralanschauung vorbei.14 Daher ruft der Redner emphatisch aus: »Ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen« (R 287), um die Betrachtung des Judentums sogleich an die eigene Religionshermeneutik anzuschließen: »ihre Nothwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich« (R 287). Damit erteilt Schleiermacher jenseits der Diagnose von der »todten Religion« jeder inferioren Deutung des Judentums eine scharfe Absage. Vielmehr wird der jüdischen Religion (wie jeder Religion) historische Unableitbarkeit und kreative Ursprünglichkeit grundsätzlich zugemessen. Dieser ursprünglichen Grundidee geht Schleiermacher im Folgenden nach. Freilich steht die Erörterung unter dem bewertenden Vorzeichen, nach dem die jüdische Religion »einen so schönen kindlichen Charakter« (R 287) habe, während die anschließend zu behandelnde christliche Religion »der erwachsenen Menschheit« (R 291) angemessen sei. Mit der Rezeption des bereits von Lessing in der »Erziehung des Menschengeschlechts« verwendeten Schemas ist zweifellos eine Abwertung verbunden.15 Aber dieses »pejorative[...] Moment«16 muss noch einmal bezogen werden auf die Tatsache, dass Schleiermacher in anderen Zusammenhängen die Kindheit als notwendige und eigens zu berücksichtigende Phase des menschlichen Lebens, insbesondere in pädagogischer Hinsicht, gewürdigt hat.17 Gleichwohl wird die Diagnose vom religionsgeschichtlichen Tod des Judentums durch diesen kategorialen Zugriff noch bestärkt. Die folgenden Sätze Schleiermachers sind der kritischen Rekonstruktion der jüdischen Religion gewidmet. Die Vermischung von Religion und Moral wird dabei ebenso kritisiert wie das enge Verhältnis von Religion und Staatlichkeit. Ethnische Beschränkung und Priesterherrschaft finden die Missbilligung des Redners. Deutlich ist, dass Schleiermacher hier vor allem seine Kriterien der vierten Rede in Anschlag bringt, in der Gemeinschaftsbildung aus genuin religiösen Motiven auf der Basis von Gleichheit und Wahlverwandtschaft grundgelegt worden war. Nachdem Schleiermacher diese historischen Verschalungen der jüdischen Religion sukzessive abgetragen hat, bietet er seine berühmte Formel für die religiöse Grundschauung des Judentums auf. »Keine andere, als die von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkühr hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkühr hervorgehend angesehen wird. So wird alles betrachtet, Entstehen und Vergehen, Glük und Unglük, selbst nur innerhalb der menschlichen Seele wechselt immer eine Äußerung der Freiheit und Willkühr und eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit; alle andere Eigenschaften Gottes, welche auch angeschaut werden, äußern sich nach dieser Regel, und werden immer in der Beziehung auf diese 14 »Daß ichs kurze sage: ein Individuum der Religion [...] kann nicht anders zu Stande gebracht werden, als dadurch, daß irgend eine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkühr [...] zum Centralpunkt der ganzen Religion gemacht, und alles auf sie bezogen wird« (R 259f ). 15 Zum Lessing-Bezug vgl. Beckmann (s. o. Anm. 1), 43–47. 16 Beckmann (s. o. Anm. 1), 37. 17 Zutreffend spricht Theissen davon, dass die Bewertung, nach der das Judentum »einen so schönen kindlichen Charakter habe«, »zwiespältig« sei; Henning Theissen, Die evangelische Eschatologie und das Judentum. Strukturprobleme der Konzeptionen seit Schleiermacher, Göttingen 2004, 62.

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gesehen; belohnend, strafend, züchtigend das Einzelne im Einzelnen, so wird die Gottheit durchaus vorgestellt« (R 287f ).

Die Grundformel ist also diejenige der »allgemeinen unmittelbaren Vergeltung«, nach der im Judentum das Verhältnis des Einzelnen zum Universum gedeutet wird. Die mit dieser religiösen Erfahrung verbundene Deutungsleistung wird ausdrücklich hervorgehoben (»aus der Willkühr hervorgehend angesehen wird«). Schleiermacher betont darin vor allem den existenziellen und geschichtlichen Charakter des Gottesverhältnisses. Es ist so beschaffen, dass jeder menschliche Freiheitsakt eine direkte göttliche Reaktion hervorruft. Seit dem 20. Jahrhundert spricht man in der alttestamentlichen Forschung nicht mehr von Vergeltung, sondern von »schicksalwirkender Tatsphäre«18 oder »TunErgehen-Zusammenhang«.19 Entscheidend ist für Schleiermacher dabei der dialogische Charakter der jüdischen Religion, das »Gespräch zwischen Gott und den Menschen in Wort und That« (R 288). Es macht den vitalen Kern dieser Religion aus.20 Freilich leidet diese religiöse Grundidee nach Schleiermacher daran, dass der unterstellte »fortdauernde[] Wechsel zwischen diesem Reiz und dieser Gegenwirkung« komplexen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen nicht standhält. In den Worten des Redners: Sie ist »nur auf einen kleinen Schauplatz ohne Verwikelungen berechnet, wo bei einem einfachen Ganzen die natürlichen Folgen der Handlungen nicht gestört oder gehindert werden« (R 289). Daher entwickelt sich diese Religion unter der »Verbindung mit mehreren Völkern« (R 289) weiter. Schleiermacher deutet die prophetische Tradition (»Weißagung«) als religiös innovativen Faktor der jüdischen Religionsgeschichte, insofern nun der »Glaube an den Meßias« (R 290) die Vergeltungsidee transzendiert und die apokalyptische Wiederherstellung der religiösen Grundidee imaginiert. Ein »neuer Herrscher sollte kommen um das Zion wo die Stimme des Herrn verstummet war in seiner Herrlichkeit wieder herzustellen, und durch die Unterwerfung der Völker unter das alte Gesez sollte jener einfache Gang wieder allgemein werden in den Begebenheiten der Welt, der durch ihre unfriedliche Gemeinschaft, durch das Gegeneinandergerichtetsein ihrer Kräfte und durch die Verschiedenheit ihrer Sitten unterbrochen war« (R 290).21

An diese Würdigung der »Weissagung« als religiöser Produktivkraft wird im 19. Jahrhundert in Theologie und jüdischer Religionsphilosophie vielfach angeknüpft werden. 18 Vgl. Klaus Koch, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?, in: Ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie (Gesammelte Aufsätze Bd. 1, hg. von Bernd Janowski und Martin Krause), Neukirchen-Vluyn 1991, 107–127. 19 Vgl. Bernd Janowski: Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des »TunErgehen-Zusammenhangs«, in: ZThK 91 (1994), 245–271. 20 Wegen dieses von Schleiermacher positiv herausgestellten dialogischen Charakters des Judentums dürfte es nicht zutreffend sein, Schleiermachers Deutung der jüdischen Gottesidee als »maschinelle[n] Schicksalswalter« wiederzugeben; Wolfes, Schleiermacher und das Judentum (s. o. Anm. 3), 505. 21 Ob die Entwicklung der Messianologie von Schleiermacher im Kontext des Politischen verstanden wird, wie Beckmann meint, scheint zweifelhaft; vgl. Beckmann (s. o. Anm. 1), 43. Anhaltspunkte dafür gibt es kaum. Auch eine Abwertung des Messiasgedankens – vgl. Beckmann (s. o. Anm. 1), 46 – kann nicht erkannt werden.

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Die Prophetie war in den Augen Schleiermachers aber nur die eine, wenn auch kreative Strömung im Judentum. Die andere Richtung, die sich durchsetzte, ist diejenige, die die Kanonisierung der Heiligen Schriften betrieb und mit dieser Konzentration auf die buchstäbliche Tradition »das Gespräch des Jehova mit seinem Volk als beendigt« (R 290) erklärte. Diese Formierung als Buchreligion mit einem festen Kanon ist es, die Schleiermacher für den religionsgeschichtlichen Tod des Judentums verantwortlich macht: »Sie starb, als ihre heiligen Bücher geschloßen wurden [...]« (R 290), weil auf diese Weise die personale Vermittlung der Zentralschauung durch ihre innovative Interpretation ausgeschlossen wird. Nicht die innige Verbindung mit Moral und Politik ist für Schleiermacher der Grund für den religionsgeschichtlichen Tod des Judentums. Diese Korruption ist ein religionsgeschichtlich allgemeiner Sachverhalt.22 Die mit der ›Kindlichkeit‹ der Zentralidee verbundene fehlende Komplexionsfähigkeit konnte durch den messianischen Glauben aufgewogen werden. Aber die Kanonisierung der Heiligen Schriften und die Konzentration auf das Gesetz sind es, die dieser Religion den Lebenssaft genommen haben, um ein von Schleiermacher selbst verwendetes Bild zu benutzen. Das Versiegen der prophetischen Tradition und der Mangel religiös innovativer Individuen bilden den inneren Anlass für die Bedeutungslosigkeit des »Judaismus«.23 Damit dürfte implizit auch Schleiermachers Urteil über den Islam getroffen sein. Stellt man dieses Urteil noch einmal ausdrücklich in die Bezüge der Religionshermeneutik der ›Reden‹, können folgende drei Aspekte hervorgehoben werden: Erstens, die Deutung von Judentum und Christentum ist eingebettet in eine aus dem Wesensbegriff der Religion abgeleitete Stufenlehre (vgl. R 240ff ),24 die die notwendige und unvermeidliche Vielheit und Verschiedenheit der Religionen strukturiert (vgl. R 238). Schleiermacher ordnet sie nach den »Arten das Universum anzuschauen als Chaos, als System und in seiner elementarischen Vielheit« (R 255)«. Auf allen drei Stufen lässt sich im Blick auf die Identifizierung des Göttlichen der Gegensatz zwischen Personalismus und Pantheismus ausmachen. Die erste Stufe bildet der »Fetischismus«, in dem einzelne Naturphänomene vergöttlicht werden, so dass hier personalistische und pantheistische Momente ineinander liegen. Die zweite Stufe bildet der Polytheismus, der je nach Symbolgehalt zwischen Personalismus und Pantheismus schwankt. Eine rein symbolische Darstellung, wie etwa »in den Egyptischen [...] und Indischen Systemen«25 »hat eigentlich keine Götter mit Bewußtsein, sondern ist wahrhaft pantheistisch« (KGAI/12, 301 Z.12f ). Die dritte und höchste Stufe ist die systematische Anschauung des Univer22 Vgl. dagegen irrtümlich Beckmann: »Daß der ›Judaismus‹ eine ›todte Religion‹ sei, folgt notwendig aus seiner Affinität zum Politisch-Moralischen«; Beckmann (s. o. Anm. 1), 37. 23 Wahrscheinlich deckte sich diese Einschätzung Schleiermachers mit denen seiner jüdischen Freundinnen; vgl. Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, 136; Michael A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München 1994, 123–125. 24 Vgl. dazu Hirsch (s. o. Anm. 2) 529–531. 25 Friedrich Schleiermacher, Erläuterungen zur fünften Rede (2.–4. Aufl.), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hermann Fischer u. a., Bd. I/12, hg. v. Günter Meckenstock/Hermann Fischer, Berlin/New York 1995, 301, Z 9f. Im Folgenden erfolgen die Nachweise (KGAI/12) im Haupttext.

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sums. Auf dieser Stufe sind Judentum und Christentum anzusiedeln. Die nahe liegende Frage, wie sie unter die begriffliche Differenz von Personalismus und Pantheismus einzuordnen sind, beantwortet Schleiermacher in den ›Reden‹ nicht (ausdrücklich). Zweitens gilt für Schleiermacher, dass die »Grundanschauung jeder positiven Religion an sich [...] ewig [ist], weil sie ein ergänzender Theil des unendlichen Ganzen ist, in dem Alles ewig sein muß: aber sie selbst und ihre ganze Bildung ist vergänglich [...]« (R 307). Die Kindheit endet, aber in die Entwicklung des reifen Menschen geht die Erfahrung der Kindheit ein. Bleibt man in diesem Bild, ist eine Revitalisierung des Judentums auch unter Schleiermachers Prämissen denkbar. In den Erläuterungen zur dritten Auflage der fünften Rede von 1821 kommt Schleiermacher noch einmal auf das Verhältnis von Judentum und Christentum zu sprechen und schreibt, dass »jede Religion [...] nach dem Maaß ihrer Lebendigkeit ein solches Verlangen [hat] noch unerkanntes Göttliches in sich selbst zu finden« (KGAI/12,306 Z.31–33). Zwar seien die im Judentum ausgebildeten »messianischen Hoffnungen [...] durch die weit über dasselbe hinausgehende Erscheinung Christi erfüllt« (KGAI/12,306 Z.27f ) worden, aber grundsätzlich ist eine Weiterentwicklung des Judentums denkbar. Jedoch verweigert Schleiermacher ihm die günstige Prognose. Drittens, der gesamte Duktus der »Reden« wirbt für die Religion und damit steht auch die Deutung der Religionen unter dem Vorzeichen der Lebensdienlichkeit, der Entwicklung der religiösen Anlage, der Kritik an gesellschaftlichen und innerreligiösen Tendenzen, die die Ausbildung dieser Anlage verhindern und der Forderung nach einer Modernisierung der Religionen. Daher wird man die Kritik am Judentum nicht von jenen kultur- und religionskritischen Passagen der ›Reden‹ isolieren dürfen, in denen Schleiermacher die gesellschaftlich und kirchlich verursachte Entfremdung von der Religion analysiert.26 Im Eingangsteil zur fünften Rede räumt Schleiermacher noch einmal die Kritikbedürftigkeit aller positiven Religionen ein. »Mißverständnisse und Entstellungen« (KGAI/12,256 Z.33f ) sowie »Ausartung und Abweichung in ein fremdes Gebiet« (R 246) seien überall zu beklagen. Einzelheiten dazu hatte Schleiermacher in der ersten, dritten und vierten Rede dargelegt. Auch das Christentum unterliegt der Kritik und der historischen Erstarrung. Bedingung der Möglichkeit für eine Reform der bestehenden Religionen ist die Entflechtung von Kirche und Staat, wie Schleiermacher in der vierten Rede fordert. Gegenüber dem Judentum äußert er ebendiese Forderung in den »Briefen bei Gelegenheit [...]«. Insofern liegen die diesbezüglichen Kritiken auf einer Ebene. Weil aber die apologetische Rhetorik der ›Reden‹ im Dienste der Modernisierung des Christentums steht,27 bedient Schleiermacher mit seiner Kritik am Judentum gängige Negativvorstellungen.28 Schleiermacher skizziert ein ideales Christentum, auf dessen Realisierung hingewirkt werden soll, denn, so der Redner, »je göttlicher die Religion [...] ist, um desto weniger will ich ihr Verderben ausschmüken [...]« (R 246). 26 Vgl. dazu Ulrich Barth, Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 279–289; Crouter (s. o. Anm. 13), 47f. 27 Vgl. Beckmann (s. o. Anm. 1), 51f. 28 »His comments on Judaism reflect the age-old stereotypes of legalism [...]«; Crouter (s. o. Anm. 13), 67.

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Diese Deutung des Christentums soll hier nur insoweit in den Blick genommen werden, als sie auf das Judentum zu beziehen ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die berühmte Formel, nach der das Christentum den Stoff der Religionen zum Gegenstand hat, als Anwendung jener Unterscheidung zwischen dem kindlichen und erwachsenen Stadium der Religion, insofern die Reflexionskultur spezifischer Ausdruck adulten Menschseins ist. Inhaltlich kommt diese Unterscheidung darin zum Ausdruck, dass das Christentum die Bedingungen für die Anschauung des Universums mitreflektiert, nämlich das grundlegende Widerstreben des Endlichen gegen das Unendliche. Dieser Antagonismus wird als zentrales Thema des Christentums ausgewiesen und aus diesem Grunde begegnet hier an der Stelle des Prinzips von Parallelismus und Dialog die Vermittlung, die im Mittler angeschaut und durch ihn wirksam wird.29 Die Idee der geschichtlichen Vergeltung ist ersetzt durch die christliche »Haupt-Idee [...] von göttlichen vermittelnden Kräften« (R 305), die in der Welt wirksam werden. Real wird die Vermittlung durch »Offenbarung«, die an die Stelle von »Weißsagung« künftiger Ereignisse tritt. Statt der ›geschlossenen heiligen Bücher‹ weht der nach innen wie nach außen gerichtete kritische Geist der Reflexion, der zugleich Prinzip der Lebendigkeit ist. Der Geist des Christentums unterscheidet sich von der Buchreligion dadurch, dass seine kritische Dauerreflexion jede vollständige Positivierung der Religion verhindert. Damit wohnt dem Christentum ein Prinzip der Wiederbelebung inne, das Schleiermacher dem Judentum nicht zugesteht. Auch diese Christentumsdeutung muss noch einmal auf den theoretischen Rahmen der ›Reden‹ bezogen werden. Danach ist nach Schleiermacher in religionsgeschichtlicher Perspektive das letzte Wort noch nicht gesprochen. Der Begriff des Universums schließt es aus, dass sein Inhalt durch die Zentralanschauung des Christentums allein erschlossen werden könnte. Die Begründung hängt mit dem allgemeinen Religionsverständnis zusammen. »Die Notwendigkeit einer je individuellen und deshalb pluralen Entfaltung der Religion ist im Begriff der Religion selbst angelegt und dem religiösen Bewußtsein als solchem unmittelbar gegenwärtig.«30 Jenseits der inhaltlichen Diagnose zum Judentum etablieren die ›Reden‹ also eine pluralistische Religionstheorie, die durch die offene Deutung des Christentums noch einmal intensiviert wird.31 Daher gibt es systematisch betrachtet keinen Grund, trotz der Präferenz für die christliche Religion, nicht auch die religiöse Zentralanschauung des Judentums anzuerkennen und ihren Anhängern einen Platz in einer aus Gründen der Religion toleranten Religionskultur einzuräumen. Genau diese »Pluralismusoffenheit«32 der ›Reden‹ ist es gewesen, die jenseits des Schleiermacher’schen Urteils seine Theorie auch für jüdische Denker attraktiv erscheinen ließ. Dies soll nun im zweiten Teil exemplarisch deutlich gemacht werden. 29 Zum Verhältnis von Schleiermachers Mittleridee zu Novalis’ Mittlerfragment vgl. Kubik (s. o. Anm. 10), 311–324. 30 Markus Schröder, Das »unendliche Chaos« der Religion, in: Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener (Hg.), 200 Jahre »Reden über die Religion«. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999 (SchlA 19), Berlin/New York 2000, 595f. 31 Vgl. Schröder (s. o. Anm. 30), 604. 32 Barth (s. o. Anm. 26), 288.

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2. Der jüdische Intellektuelle und Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874) ist zwei Generationen jünger als Schleiermacher und hat im liberalen Judentum eine ähnliche Bedeutung wie Schleiermacher im Protestantismus. Geiger macht sich die von Schleiermachers ›Reden‹ ausgehende pluralitätsfreundliche Stimmung ebenso zu Eigen wie das Modernisierungsprogramm, das durch Entpositivierung und Reflexion des Religionsverständnisses eingelöst wird. In Geigers Oeuvre lassen sich Einflüsse Schleiermachers nachweisen.33 Aus seinem »Offenen Sendschreiben an Herrn Professor Dr. J.H. Holtzmann« geht hervor, dass er dessen Schriften gelesen und Anregungen daraus selbstständig verarbeitet hat.34 Geiger verstand sich vor allem als Theologe, der vorwiegend im Bereich der jüdischen Geschichte geforscht hat und der daraus zu erklärende Anti-Hegel-Affekt verstärkt die religionstheoretische Nähe zu Schleiermacher. Geiger lehnt jede »Spekulation« auf dem Gebiet der Religion ab und versteht Religion als eigenständige Anlage im Bewusstsein. Mit den Händen zu greifen ist diese Nähe zum Stoff der ›Reden‹ im ersten Kapitel von Geigers dreibändiger historischer Gesamtdarstellung »Das Judenthum und seine Geschichte«. Dabei handelt es sich um einen aus populären Vorlesungen hervorgegangenen Überblick, der sowohl in Bezug auf den literarischen Zuschnitt als auch was die Skizze der religionstheoretischen Grundannahmen betrifft Adolf von Harnacks »Das 33 Der früheste Hinweis auf Schleiermacher stammt aus einem Brief Geigers an das Preußische Innenministerium vom 4. August 1842, in dem Geiger Religion als »hoehere[] Gesittung« und »Bewusstsein der Abhaengigkeit von einem hoeheren heiligen Willen« bezeichnet – zitiert nach Ulrich Steuer, Schleiermachers Religionsphilosophie in ihrer systematischen und historischen Bedeutung für die jüdische Religionsphilosophie. Diss.phil. Köln 1969, 129. In einem Brief an M.A. Stern vom 25. August 1843 grenzt Geiger sich gegen das »Junghegelthum« ab und bekennt, »dass ich ein Unbegreifliches über uns anerkenne, dass ich dem Gefühle, das sich zum Abhängigkeitsbewusstsein steigert, sein Recht einräume und nicht verkümmert wissen will«; Abraham Geiger, Nachgelassene Schriften, Bd. V: Tagebuch und Briefe, hg. v. Ludwig Geiger, Berlin 1878, 167. Eine umfassende Analyse der Bezüge von Geiger zu Schleiermacher liegt nicht vor, in der Literatur gibt es nur einige Verweise. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Belege gibt Steuer (aaO. 106. 122–131). Geigers Verdienst besteht nach Steuer darin, die »systematische Theologie auf dem Boden einer geschichtlichen Anschauung des Judentums zugleich im Einklang mit bestimmten religionsphilosophischen Grundanschauungen [...] auf eigene Art neu begruendet zu haben« (aaO. 122). Steuer verweist insbesondere auf den Zusammenhang von Schleiermachers theologischer Enzyklopädie und Geigers Wissenschaftsverständnis (aaO. 125–128) und resümiert den religionstheoretischen Einfluss mit den Worten, dass »ein tiefgehender Einfluss Schleiermachers auf Geiger bestimmt nicht abzulehnen« und »nicht von der Hand zu weisen ist« (aaO. 131). 34 »Aber so wenig ich Anstand nehme zu bekennen, daß ich auf die Worte dieser Meister [Schleiermacher und Hegel] gelauscht und, ohne mich ihnen gefangen zu geben, ihnen gern entnehme, was ich als richtigen Gedanken bei ihnen finde, so werden sie doch bei meinem Anstreifen an die Religionsphilosophie gewaltsam herbeigezogen. Die Probleme, welche ich bespreche, gehören schon Jahrtausenden an, das Judenthum hat ihre Lösung in einer sehr bestimmten Weise vollzogen; die Fassung dieser Gedanken modificiert sich, der Einfluß der fotschreitenden geistigen Entwickelung auf dieselbe muß sich zeigen.«; Abraham Geiger, Offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr.H.J. Holtzmann, in: Ders., Das Judenthum und seine Geschichte von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. In zwölf Vorlesungen, Breslau 1865, 193.

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Wesen des Christentums« nicht unähnlich ist.35 Die erste Vorlesung ist mit »Das Wesen der Religion« überschrieben und bietet nach einer Apologie des Judentums36 eine religionstheoretische Grundlegung,37 die jene selbstständige Schleiermacher-Rezeption zu erkennen gibt. Anknüpfung und Fortschreibung erfolgt aber aus kritischer Distanz. Geigers Haltung erinnert bisweilen an Albrecht Ritschls (1822–1889) Buch über die ›Reden‹ von 1874, in der Aufnahme und Überbietung sich die Waage halten.38 Geigers Theorienähe zu Schleiermacher ist von dem Neutestamentler Julius Heinrich Holtzmann (1832–1910) in einer Besprechung von Geigers Buch erkannt, ausgesprochen39 und mit dem Vorwurf einer illegitimen Erschleichung versehen worden, denn, so Holtzmann wörtlich: »Das [...] sind [...] Ideen, die dem echten Juden transcendent sind und bleiben.«40 In einem kurzen Text aus Anlass der öffentlichen Feiern zu Schleiermachers einhundertsten Geburtstag hat Geiger seine Bezugnahmen auf Schleiermacher relativiert. Er betont scharf den inhaltlichen Gegensatz zu Schleiermacher. Dieser habe »durchaus Nichts für Juden und Judenthum geleistet« und »für dieselben durchaus keine Sympathie«.41 Man müsse in Rechnung stellen, dass dessen Religionsdeutung »spezifisch christlich«42 sei. Daher wollte er den religionstheoretischen Unterbau seiner Apologie des Judentums nicht durch ›Lehnsätze‹ aus dem Christentum errichten. Gleichwohl sei es »das allgemein menschliche culturhistorische Interesse«,43 welches ihn und andere Vertreter des modernen Judentums dazu anhalte, Schleiermacher und »seine großen Verdienste«44 anzuerkennen sowie mit »Unbefangenheit das fremde Gute zu würdigen [...] und diese Würdigung auszusprechen.«45 Daher könne man mit dem Ziel der intellektuellen Verständigung und historischen Durchdringung des Judentums eines der beiden Grundmotive von Schleiermachers Werk aufgreifen, nämlich die »Versenkung in die tiefen Gründe der Wissenschaft, die Beseitigung alles unbegründet Angenommenen.«46 Am Ende zeigt sich, dass die Kritik Geigers an Schleiermacher sich vor 35 Vgl. Claus-Dieter Osthövener, Nachwort, in: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 2005, 255–287, 279ff. 36 Vgl. Abraham Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte bis zur Zerstörung des zweiten Tempels. In zwölf Vorlesungen nebst einem Anhange: Renan und Strauß, Breslau 21865, 1–11. 37 AaO. 4–11. 38 Vgl. Arnulf von Scheliha, Albrecht Ritschls Deutung von Friedrich Schleiermachers Reden ›Über die Religion‹, in: Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener(Hg.), 200 Jahre »Reden über die Religion«. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999 (SchlA 19), Berlin/New York 2000, 728–747. 39 »Es bedarf nicht erst eines besonderen Nachweises, daß [...] Gedanke und Ausdruck [...] nur möglich war in einer Zeit, zu der [...] Schleiermacher über das Wesen der Religion geredet hatte [...]«; Julius Heinrich Holtzmann, Jüdische Apologetik und Polemik, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland, 10 (1865), 11. März, 227. 40 Ebd. 41 Abraham Geiger, Die Schleiermacher-Feier und die Juden, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 7 (1869), 214. 42 AaO. 213. 43 AaO. 214. 44 AaO. 214. 45 AaO. 215. 46 AaO. 212.

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allem auf seine Wirkungsgeschichte und nur insoweit gegen Schleiermacher selbst richtet, als er die darin erkennbaren Einseitigkeiten durch Undeutlichkeit selbst verschuldet hat. Geiger rezipiert Schleiermachers Grundideen also in reflektierter Distanz. Aber noch in der Negation bleibt er dessen Prämissen treu. In der amerikanischen GeigerForschung ist dieses Vorgehen als »Counterhistory«47 bezeichnet worden und in der Tat kann man Geigers Judentums-Deutung als eine solche »Counterhistory« gegen Schleiermachers Deutung des Judentums der fünften Rede deuten. Zunächst aber ist festzuhalten, dass Geiger grundlegenden religionstheoretischen Einsichten Schleiermachers folgt, was Holtzmann ja zu anti-judaistischer Polemik veranlasst hatte. Geiger unterscheidet mit Schleiermacher »das Wesen der Religion«48 von der »positiven Religion«.49 Auf der Ebene der Wesensbestimmung rekonstruiert Geiger Religion als Funktion und Ausdruck des höheren Selbstbewusstseins. Dafür sind folgende Aspekte einschlägig, die allesamt an Schleiermacher erinnern, ohne dass dessen Theorietiefe erreicht wird. Erstens, Geiger folgt der Subjektivierung des Religionsverständnisses der Aufklärung, löst sich aber wie Schleiermacher von dessen ethico-theologischer Intention, setzt aber unmittelbarer und zugleich allgemeiner an. Das Wesen der Religion ist ein Erlebnis, das als subjektiv, unmittelbar, ursprünglich und vorprädikativ charakterisiert werden kann. Geiger spricht vom »Ahnen«, von einem »tiefe[n] Erfülltsein«, von »unmittelbare[r] Erleuchtung«.50 Der Erlebnisgehalt wird abgekoppelt von der objektiven Geltung der religiösen Symbole. Religion ist »nicht Dogmatik und nicht Spekulation«,51 kein »System von Wahrheiten, sie ist der Jubel der Seele«.52 Ihre historischen Urkunden sind Ausdruck, nicht Grund der Religion.53 Zweitens, die religiöse Ursprünglichkeit hat ein intentionales Korrelat, das aber auf der Ebene der Wesensbestimmung nicht mit Gott identifiziert, sondern als die dem Individuum gegenüber zunächst transzendente Sphäre des Geistes ausgewiesen wird. Geiger spricht vom »Streben nach Vervollkommnung«, vom »sich Emporsehnen«, vom »Schwung des Geistes nach dem Idealen hin«, vom »sich Emporstreben nach den höchsten Gedanken«, vom »Schwung nach dem Höchsten hin«, vom »Aufschwung nach der Alles umfassenden Einheit«, oder von der »Sehnsucht nach dem Höchsten und Besten«, das ein »Hinaufringen nach dem Unendlichen« oder ein »Schwung des Geistes zum Allgeiste« ist.54 Deutlich wird an diesen Formulierungen, dass Geigers allgemeiner Religionsbegriff ohne einen personifizierten Gottesgedanken auskommt. Drittens, die Wendungen, mit denen er den Begriff des Absoluten umschreibt, deuten darauf hin, dass für ihn das Wesen der Religion darin 47 Vgl. Susannah Heschel, How the Jews invented Jesus and Mohammed. Christianity and Islam in the Work of Abraham Geiger, in: Ethical Monotheism. Past and Present, Providence 2001, 49–73. 48 Vgl. Anm. 37. 49 Abraham Geiger, Die protestantische Kirchenzeitung und der Fortschritt im Judentum II, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 2 (1863), 85. 50 AaO. 84. 51 Ebd. 52 Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte (s. o. Anm. 36), 9. 53 Vgl. Geiger, Protestantische Kirchenzeitung (s. o. Anm. 49), 84. 54 Alle vorstehenden Zitate bei Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte (s. o. Anm. 36), 9–11.

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besteht, Funktion der Einheit des Selbstbewusstseins zu sein, indem sie als Integral aller Bewusstseinsvermögen wirkt. Die religiösen Ideen »verklären« das Leben und »bewegen« »zu einem Handeln nach höheren Antrieben.«55 »Religion«, so formuliert Geiger einmal, »ist ein inneres Verlangen des ganzen Menschen, des Denkenden, Empfindenden, sittlich Wollenden.«56 Die letzte Gemeinsamkeit zwischen Schleiermacher und Geiger besteht, viertens, darin, dass trotz des romantisch-idealistischen Religionsverständnisses die historische Kritik als konstitutiv für den modernen Umgang mit Religion angesehen wird. Vor allem an diesem Punkt hat Geiger seine eigentliche Lebensleistung angesetzt. Auch Schleiermacher hat sich, wie immer wieder und mit Recht betont wurde, die historisch-kritischen Leistungen der Aufklärung dauerhaft zu Eigen gemacht.57 Auf der Basis setzt Geigers Counterhistory an. In seiner Deutung des Judentums setzt Geiger der Vergeltungsformel Schleiermachers die Idee der »Einheit Gottes«58 beziehungsweise des »reinen Gottglauben[s]«59 entgegen. Weder das Gesetz noch die Erwählungsgeschichte mit ihrer pädagogischen Absicht bilden für Geiger das Wesen des Judentums, sondern der Monotheismus. Er ermöglicht einen einheitlichen Weltbegriff und schafft die stabile Grundlage für die sittliche Forderung an den Menschen, die Geiger biblisch im Gebot der Nächstenliebe zusammengefasst findet,60 die er aber auch ganz modern als wechselseitige Anerkennung der Menschenwürde reformulieren kann.61 Die religionsgeschichtliche Leistung des Judentums besteht für Geiger darin, den Gedan55 Geiger, Protestantische Kirchenzeitung (s. o. Anm. 49), 84. 56 Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte (s. o. Anm. 36), 12. 57 Vgl. Beckmann (s. o. Anm. 1); Hans-Walter Schütte, Christlicher Glaube und Altes Testament bei Friedrich Schleiermacher, in: Dietrich Rössler u. a. (Hg.), Fides et Communicatio. Festschrift für Martin Doerne zum 70. Geburtstag, Göttingen 1970, 291–310. 58 Geiger, Protestantische Kirchenzeitung (s. o. Anm. 49), 84. 59 Abraham Geiger, Ueber den Austritt aus dem Judenthume. 2 Schriften (1858), in: Ders., Nachgelassene Schriften, Bd. I, hg. v. Ludwig Geiger, Hildesheim/Zürich/New York (Berlin 1875) 1999, 255. 60 »Man sollte [...] erwarten, dass sie da den wesentlichen Glaubensinhalt und die wesentlichen religiössittlichen Grundsätze des Judenthums angeben, wie etwa die Lehre von der Einheit Gottes, Seiner Heiligkeit, Seiner Anforderung an uns, unser Leben zu heiligen, der Berufung Israels, diesen Glauben durch die Welt zu tragen, die Hoffnung von der einstigen Herankunft des Messiasreiches u. dgl., oder als Grundlage der Pflichtenlehre – was schon der Thalmudist Rabbi Akiba ›den grossen Grundsatz des Judenthums‹ nennt – das Gebot: liebe deinen Nächsten wie dich selbst, oder den Spruch des Thalmudisten Hillel: ›Was du nicht willst, das dir geschehe, das thue auch Andern nicht; dies ist der Text, das Uebrige Commentar‹ und Anderes«; Abraham Geiger, Die letzten zwei Jahre (1840), in: Ders., Nachgelassene Schriften, Bd. I, hg. v. Ludwig Geiger, Hildesheim/Zürich/New York (Berlin 1875) 1999, 8. 61 »Des Judenthums Wesen ist freie Entfaltung der innern sittlichen Kraft, die Anerkennung des Menschen in seiner Würde, die nicht in seiner vollendeten Güte besteht, sondern gerade in der Kraft, mit welcher er die gute Anlage dem ihm nothwendig, als einem unvollkommenen Geschöpfe, das nicht Gott ist, anklebenden begehrlichen Wesen überlegen macht und sie als Siegerin ausbildet; sein Streben und Wirken muß daher aus freier sittlicher Ueberzeugung entspringen, und in dem Kampfe, der sein Beruf ist, liegt eben so sehr das Bewußtsein der eignen Würde, wie die Nothwendigkeit, seine Unvollkommenheit demüthig anzuerkennen«; Abraham Geiger, Die Rabbinerzusammenkunft. Sendschreiben an einen befreundeten jüdischen Geistlichen, in: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie, 3 (1837), H. 3, 314.

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ken der Einheit Gottes, der sich, wie schon Schleiermachers Typenlehre gezeigt hatte, religionsgeschichtlich nicht von selbst versteht, hervorgebracht und durch philosophische Durchdringung (»Spekulation«) gedanklich gefestigt zu haben.62 Dahinter steht die Einsicht, dass nicht erst das Christentum das Widerstreben des Endlichen gegen das Unendliche reflektiert und darauf eine religiöse Antwort gegeben habe. Vielmehr gehöre die Einsicht von der internen Gegenläufigkeit im religiösen Erlebnis bereits zum reflektierten Verständnis des Wesens der Religion selbst. In Geigers Formulierung klingt das so: Religion ist »das Bewußtsein von der Höhe und Niedrigkeit der Menschen, dieses Streben nach Vervollkommnung mit dem Gefühl, daß man zur höchsten Stufe sich nicht emporringen könne, [...] sie ist der Jubel der Seele, die ihrer Höhe bewußt ist, und zugleich wieder das demüthige Bekenntniß der Endlichkeit und Begrenztheit; Religion ist [...] das Verlangen im geistigen Leben zu reifen [...], das Körperliche und Irdische zu bewältigen, und [...] die nicht zu beseitigende Empfindung, daß man dennoch gebunden ist an das Endliche und Begrenzte«.63

Geiger arbeitet die Differenzerfahrungen, die mit dem religiösen Erlebnis verbunden sind, stärker als Schleiermacher heraus und erweist sich damit als ein Religionsgelehrter, der die religiöse Lage aus dem vorgerückten 19. Jahrhundert vor Augen hat. Gegen die Diagnose vom religionsgeschichtlichen Tod des Judentums durch Kanonisierung der Heiligen Schriften setzt Geiger die These: »Das Judenthum steht nicht abgeschlossen da, es empfängt von der gesammten Entwickelung der Menschheit, wie es ihr giebt [...]«.64 Geiger arbeitet die kontinuierlichen Wechselwirkungsverhältnisse zwischen den Religionen und ihrer Umwelt heraus, die Schleiermacher methodisch in sein Theologieverständnis eingebunden hatte und die nach Geiger in gleicher Weise für das Judentum zu veranschlagen sind. Innerer ›Motor‹ der religiösen Weiterentwicklung der Religion ist für Geiger der Geist der Prophetie,65 dem auch Schleiermacher Produktivkraft zugesprochen hatte. »Dem Judenthum, dem seine unverwüstliche geistige Gesundheit in seinem Prophetenthume verbürgt ist, [...] ihm vor allem ziemt Muth und Vertrauen zur Wahrheit. Das Judenthum der palästinischen Nationalität und der herkömmlichen Satzungen ist erstorben; das Judenthum aber, das die Menschheit umfaßt und die prophetischen Ideen zu seinen Leitsternen hat, lebt und gelangt zu immer mehr erstarkendem Leben«.66

Neben der Hervorhebung der Prophetie zeigt dieses Zitat auch, dass die Zurückstellung des Gesetzes und die Trennung von Politischem und Religiösem für Geiger zur Weiterentwicklung seiner Religion gehören. Letzteres hatte Schleiermacher in den »Briefen bei 62 Vgl. Geiger, Protestantische Kirchenzeitung (s. o. Anm. 49), 84ff. 63 Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte (s. o. Anm. 36), 9f. 64 Abraham Geiger, Der Boden zur Aussaat, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, 1 (1862), 6. 65 Vgl. Ismar Elbogen, Geschichte der Juden in Deutschland, Berlin 1935, 246. 66 Abraham Geiger, Ein weltgeschichtlicher Wendepunkt, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, 10 (1872), 3f.

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Gelegenheit [...]« gefordert und Geiger versichert: »Wir halten namentlich das Judenthum nicht abhängig von dem Glauben, dass seine Bekenner einst wieder eine politische Einheit bilden werden, wir bekennen vielmehr, dass wir dem Lande, in dem wir leben, innigst als unserem Vaterlande angehören.«67 Entsprechend wird die »die Menschheit umfassend[e]«68 Sendung des Judentums betont, die auf »Vereinigung der ganzen Menschheit«69 zielt. Im historischen Rückblick zeigt sich für Geiger die geistige Kraft des Judentums darin, dass es das Christentum und den Islam entbunden hat. Das Judentum habe sich damit in Epochen religiöser Unruhen beziehungsweise Erschlaffung als vitaler geistiger Impulsgeber erwiesen. So spricht Geiger davon, dass das Judentum »die Mutter des [...] Christenthums ist« und des Islam »Amme, die ihn mit ihren besten Säften und Kräften nährte, [...] seine Lehrerin, welche den Schüler ausstattete und groß zog.«70 In der weiteren Deutung der Geschichte des Judentums nominiert Geiger immer wieder große Persönlichkeiten, um die Subjektivierung, Lebendigkeit und Reformfähigkeit historiographisch zu demonstrieren. Die systematische Kategorie, die Geiger dabei benutzt, ist der Begriff des Geistes. Seine forcierte Verwendung widerspricht direkt Schleiermachers Zuschreibung, nach der das Judentum eine dem Buchstaben verhaftete Religion ist. Entsprechend reklamiert Geiger den Geistbegriff, um Lebendigkeit und kulturelle Vernetzung des Judentums aufzuzeigen. Zugleich wird damit die Kritik am gegenwärtigen Zustand des Judentums eingeführt und seine Reformbedürftigkeit begründet. Träger dieser Reform ist für Geiger der Geist der Wissenschaft. Er nimmt zwei Richtungen: Einmal soll durch konsequente Historisierung der Tradition der Zustand der »geschlossenen Bücher« überwunden und die in ihnen dokumentierte religiöse Lebendigkeit freigelegt werden. Sodann entwirft Geiger im Anschluss an Schleiermachers »Kurze Darstellung« das Programm einer »Jüdischen Theologie«,71 das strukturell der gleichen Dreiteilung gehorcht wie das Theologiestudium in Schleiermachers Konzept, darin aber der Binnenlogik der jüdischen Religion und der für sie geltenden praktischen Bedürfnisse gehorcht. Große Anteile dieser Programmatik sind in die 1872 gegründete Hochschule für die Wissenschaft des Judentums eingegangen, nachdem die Gründung jüdisch-theologischer Fakultät sich als nicht durchsetzbar erwiesen hatte.72 67 Geiger, Nachgelassene Schriften (s. o. Anm. 33), 168. 68 Abraham Geiger, Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums, in: Ders., Nachgelassene Schriften, Bd. II, hg. v. Ludwig Geiger, Hildesheim/Zürich/New York (Berlin 1875) 1999, 39. 69 Abraham Geiger, Die Versammlung zu Leipzig und die zu Philadelphia, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 8 (1870), 1. Schleiermacher räumt in seiner Erläuterung zur fünften Rede 1821 ein, dass »selbst das Judenthum« »die Schranken der Volksthümlichkeit« durchbrochen habe (vgl. KGAI/12,307 Z.14f ). 70 Abraham Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. In zwölf Vorlesungen nebst einem Anhange: Offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Holtzmann, Breslau 1865, 50. 71 Abraham Geiger, Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie, in: Ders., Nachgelassene Schriften, Bd. II, hg. v. Ludwig Geiger, Hildesheim/Zürich/New York (Berlin 1875) 1999, 1–32. 72 Vgl. Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelmini-

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3. Die kritische Zeitdiagnose und das theologische Modernisierungsprogramm der ›Reden‹ stehen im Dienste einer Apologie des Christentums. Ein ausgeprägtes religionswissenschaftliches Interesse verfolgte Schleiermacher nicht, sonst hätte er außer Judentum und Christentum noch andere Religionen zur Sprache gebracht. Aber seine Religionstheorie enthält methodische und systematische ›Fenster‹ zu anderen Religionen und, darin besteht die epochale Leistung, begründet die Pluralität der Religionen. Die kritische Darstellung des Judentums aber dient der Profilierung seiner idealen ChristentumsDeutung. Empirisch betrachtet unterliegen beide Religionen der Kritik. Aber eine Reform des Judentums konnte Schleiermacher sich nicht vorstellen und seine jüdischen Gesprächspartnerinnen dürften ihn darin bestärkt haben.73 Es zeugt aber von dem Reichtum der Theorie Schleiermachers, dass ein Gelehrter wie Geiger auch dort, wo er den inhaltlichen Vorgaben nicht folgte, in der Konstruktion einer Counterhistory der theoretischen, methodischen und hermeneutischen Reichweite seines Konzeptes verhaftet bleiben konnte. Jenseits von Schleiermachers persönlicher Einschätzung der jüdischen Religion gibt es in seiner Judentumsdeutung eine innere Gegenläufigkeit, die auch im Blick auf die Gegenwart aktuell zu sein scheint. Einerseits wird mit seiner Theorie der Zentralanschauung eine prinzipielle Äquidistanz aller Religionen zueinander exponiert, die cum grano salis der in der gegenwärtigen Theologie der Religionen ausgearbeiteten Differenzhermeneutik entspricht.74 Dieser Standpunkt ermöglicht die Anerkennung der Eigenständigkeit der jeweils anderen Religion, gebietet Toleranz und schützt vor Vereinnahmungen. Diese Position ist grundsätzlich richtig. Andererseits gibt es im Verhältnis von Judentum und Christentum doch auch eine nicht zu leugnende Nähe, die selbst Schleiermacher in den ›Reden‹ anerkennt. Denn lange vor Papst Johannes Paul II. nennt bereits der Redner die Juden »die nächsten Brüder« (R 294) und dieser Nähe sind wir als Christen bleibend verpflichtet.

schen Deutschland. Ein Schrei ins Leere? (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des LeoBaeck-Instituts, Bd. 61), Tübingen 1999. 73 The »negative comments on Judaism of the fifth speech [...] reflect the belief and aspirations of Schleiermacher’s circle of Jewish friends, who were deeply alienated from their roots in Talmudic tradition«; Crouter (s. o. Anm. 13), 139. 74 Vgl. Christian Danz, Einführung in die Theologie der Religionen, Münster 2005.

Wesensbestimmung und Wesensunterscheidung Monotheismus und Erlösung als Religionskategorien bei Schleiermacher Jörg Dierken 1. Wesenskategorie und Essentialismusproblem Die Kategorie des Wesens unterliegt heute schnellem Essentialismusverdacht. Stand sie klassischerweise für die kontingenzüberhobene Eigenart einer Sache, so avanciert sie gegenwärtig zum Inbegriff eines äußerlich identifizierenden Denkens, das die Vielfalt der Phänomene ins Korsett fahler, wenn nicht gar willkürlicher Normbegriffe zwängt. Dies gilt insbesondere für lebendige Formationen wie komplexe Religionen. Der Verdacht spitzt sich zu, wenn mit der Wesensbestimmung der einen die Abgrenzung von einer anderen Religion einhergeht – potenziert bei der Wesensunterscheidung von Judentum und Christentum als geschichtlichen Gestalten von Ideen und Kulturidealen.1 Die Historie des christlichen Antijudaismus wirft lange Schatten. Dennoch lässt sich schwerlich auf die Wesenskategorie mitsamt ihrer unterscheidenden Dimension verzichten. Der Preis würde dem des Essentialismus ähneln: willkürliche Fixierung von Einzelzügen der komplexen Religionsphänomene – oder eine Identifikation der anderen Seite nach Maßgabe eigener Normbegriffe. Feindliche Ausgrenzung und Übernahme, auch ungewollte, sind zwei Seiten einer Münze. Auch hierfür bietet die Geschichte des christlichen Verhältnisses zum Judentum dunkles Anschauungsmaterial. Die essentialistischen Probleme, aber auch deren spiegelbildliche Gegenstücke, lassen sich bei einer Wesensbestimmung auf dem Gebiet der Religion methodisch eingrenzen. Dazu gehören die auf christlicher, aber auch jüdischer Seite in den Denkwelten von Schleiermacher, Harnack und Troeltsch bis hin zu Baeck herausgearbeiteten Verfahren der kritischen Geschichtsforschung.2 Ursprung und Entwicklung einer Religion 1

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Damit wird an die Bestimmung des Judentums von L. Wallach in seiner 1937 von der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums preisgekrönten Arbeit angeknüpft: Luitpold Wallach, Leopold Zunz und die Grundlegung der Wissenschaft des Judentums. Über den Begriff einer jüdischen Wissenschaft, Frankfurt 1938 (zit nach F. Dexinger, Art. Judentum, in TRE Bd. XVII, Berlin/New York 1992, 331–377, hier 332). Vgl. F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg.v. H. Scholz, Hildesheim 41977 §§ 32ff. (=KD); ders., Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830), hg.v. M. Redeker, Berlin 1960, §§ 11–14 (=CG); A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums (1900), hg.v. T. Rendtorff, Gütersloh 1999; E. Troeltsch, Was heißt »Wesen des Christentums«? In: Ders.,

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werden über Kontinuität und Abweichen in den Prozessen geschichtlicher Überlieferung gemustert, Abstraktion maßgeblicher Kräfte und Kritik arbiträrer Faktoren erlauben ein differenziertes Bild der Phänomene. Es darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass in es immer auch die Konstruktivität des Beobachters und dessen subjektive Sicht eingehen. Insofern gibt es keine fixe Wesensbestimmung inmitten der Relativität der Geschichte.3 Von besonderem Gewicht gegenüber dem Essentialismusverdacht sind dabei zwei Theoreme der Wesensbestimmung auf dem Gebiet der Religion: Zum einen ein pragmatisch-performativer Charakter, wie er insbesondere von Troeltsch in der Formel »Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung« herausgestrichen wird,4 und zum anderen die Anerkennung von Kontingenz im Urdatum als innerlich verbindender Grundanschauung einer Religion. Hierfür steht Schleiermachers Gedanke, dass »irgendeine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkür [. . . ] zum Zentralpunkt [einer] ganzen Religion« wird.5 Während das erste Theorem der Veränderlichkeit alles Geschichtlichen Rechnung trägt und eine vermeintliche Invarianz des Wesens an einem reflektierten Werturteil mit gestaltender Performanz bricht, betont das zweite Theorem den Kontingenzcharakter der Religion, gerade als inneres Ganzes. Hierfür steht die Figur der Stiftung. Durch diesen ›Zentralpunkt‹ können disparate religiöse Gehalte und Vollzüge zu einem individuellen Allgemeinen werden. Mit der Bestimmung von dessen kontingenter Individualität geht einher, dass virtuell die Fülle anderer ›Zentralpunkte‹, in denen das ›Universum‹ in einem jeweiligen ›Einzelnen‹ angeschaut wird, thematisch wird. Denn Bestimmen ist Unterscheiden. Diese Gedankenfigur impliziert zwei Prämissen: zum einen, dass die Kategorie des Individuellen auch auf kulturelle Formationen wie Religionen anwendbar ist, und zum anderen, dass individuelle ›Zentralanschauungen‹ sich in ihren Differenzen aufeinander beziehen lassen. Beide Prämissen beanspruchen einen ebenso offenen wie allgemeinen Begriff von Religion. Er ermöglicht eine Nagelprobe für eine nichtessentialistische Wesensbestimmung im Durchgang durch die Frage, inwiefern die Wesensbestimmung einer Religion, in diesem Fall der christlichen, mit der mitlaufenden Unterscheidung im Wesen einer anderen Religion eine eigene religiöse Bedeutung erkennen lässt, etwa als subkutanes Element im Eigenen oder als attraktive, aber zugleich abzulehnende Alternative. Methodisch knüpft diese differenztheoretische Pluralisierung im Wesensbegriffs übrigens an das Verfahren der reflektierenden Unterscheidung aus Hegels Logik des Wesens an, modifiziert aber das für den einfachen Wesensbegriff maßgebliche Gefälle von Wesen und Unwesentlichem, von ›Sein und Schein‹ dahingehend, dass das Andere nicht das Nichtige ist, sondern selbst zum anderen Wesen wird. Dies führt freilich über die Wesenslogik hinaus.

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Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 21922 (Nachdr. Aalen 1981), 389–451; L. Baeck, Das Wesen des Judentums, Wiesbaden 7. Aufl. o.J. Das gilt auch für den Jesus der Evangelien, der nach Harnack das Wesen des Christentums unter Trennung von Kern und Schale ermöglichen soll (vgl. Harnack (s. o. Anm. 2), 56ff; 60 u.ö.). Hierauf zielt Troeltschs Kritik zu Recht ab. E. Troeltsch (s. o. Anm. 2), 431. Troeltsch spricht selbst von der Bedeutung des Willens bei der Bestimmung des Wesens. F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg.v. H.-J. Rothert, Hamburg 1970 (=R), 259.

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Bei aller methodischen Reflektiertheit bietet Schleiermachers Verständnis des Judentums bekanntlich ambivalente Befunde. In zeitdiagnostischer Hinsicht spricht sich Schleiermacher vehement für die politische Emanzipation der Juden unter Anerkennung ihrer individuellen jüdisch-religiösen Identität aus. Das von der Vernunft geforderte Bürgertum aller im Staat verlange keine Anpassung ans Christentum, auch keine äußerliche Annäherung, wie in manchen reformjüdischen Kreisen erwogen.6 Doch Schleiermachers liberales Plädoyer für eine Entkoppelung von Bürgerrecht und Bekenntnis mit positiver Religionsfreiheit als Kehrseite ist eben auch von Reserven gegen eine Verwässerung des Christlichen durch die »Krankheit« eines »judaisierenden Christentums« bestimmt.7 Zudem sollten die Juden als Gemeinschaft zwecks Kompatibilität von Religions- und Staatsbürgerpflichten, jedenfalls solange sie als solche noch existieren, das Zeremonialgesetz »den Gesezen des Staats unterordnen«. Und zur Vermeidung des Verdachts, einer eigenen »Nation« anzuhängen, sollten sie »der Hofnung auf einen Meßias förmlich und öffentlich entsagen«.8 Das politisch weitsichtige Bekenntnis zur Judenemanzipation lässt eine entsprechende Sensibilität für die jüdische Religion vermissen – trotz Schleiermachers großer Sympathie für individuelle jüdische Bildung und gesellige Salonkultur. Schon ein flüchtiger Blick in die theologischen Hauptwerke bestätigt diese Ambivalenz. Die ›Reden‹ beschreiben die ›Idee‹ der jüdischen Anschauung des Universums als »Gespräch zwischen Gott und Mensch in Wort und Tat« und bescheinigen der darin leitenden Idee der »Vergeltung«, nach der alle »Äußerung der Freiheit« mit einer »unmittelbare[n] Einwirkung der Gottheit« wechselt, eine dialogische Einheitsstiftung in allem Geschehen.9 Hiermit sei eine universale »Gleichheit« in der Behandlung von Freiheitsäußerungen aufgekommen. Trotz der Gleichheit von Freiheit gründe das Judentum aber auf einer partikularen »Familiengeschichte«, und seine universale messianische Hoffnung wolle nur das »alte Gesetz« wiederherstellen und »jene[n] einfache[n] Gang« unter einem »neue[n] Herrscher« gegen die unfriedlichen Antagonismen der Weltläufe »allgemein« aufrichten.10 Der »eingeschränkte Gesichtspunkt« habe dem Judentum nur 6

Gemeint ist David Friedlander; vgl. Briefe bei Gelegenheit der politisch-theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter. Von einem Prediger außerhalb Berlin (= F. Schleiermacher), Berlin 1799, Nachdruck hg.v. K. Nowak, Leipzig 1984, 12f. Vgl. zum Folgenden: M. A. Meyer, V. Judentum und Christentum, in: M. Brenner/St. Jersch-Wenzl/M. A. Meyer, Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 2000, 177–207; M. Wolfes, Schleiermacher und das Judentum. Aspekte der antijüdischen Motivgeschichte im deutschen Kulturprotestantismus, in: Aschkenas – Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 14 (2004), 485–510; M. Brumlik, Die Duldung des Vernichtenden. Schleiermacher zu Toleranz, Religion und Geselligkeit – eine Fallstudie zur Dialektik der Anerkennung, in: R. Kloepfer/B. Dücker, Kritik und Geschichte der Intoleranz, Heidelberg 2000; ders., Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München 2000, 132–195; B. Oberdorfer, Sind nur Christen gute Bürger? In: KuD 44 (1998), 290–310. 7 Schleiermacher, Briefe (s. o. Anm. 6), 36f. Für das Judentum gilt Analoges. 8 AaO. 46f. 9 R (s. o. Anm. 5), 287f. 10 AaO. 287–291.

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kurze Dauer beschert; das Gespräch von Jehova und seinem Volk sei »beendet« und diese Religion sei eigentlich »tot«. Die ›Glaubenslehre‹ bescheinigt dem Judentum, dass es mit dem Christentum und dem Islam auf der höchsten Entwicklungsstufe, dem Monotheismus, stehe und hierin als eigene Art ein individuelles Ganzes wie das Christentum und der Islam, die beiden anderen Religionen auf dieser Stufe, bilde.11 Allerdings sei sein ›teleologischer‹, also ethisch-aktiver Charakter nicht so rein ausgeprägt wie im Christentum, und ihm hafte unbeschadet des monotheistischen Sinns für »Totalität« wegen der partikularen »Beschränkung der Liebe des Jehova auf den Abrahamitischen Stamm« noch eine »Verwandtschaft mit dem Fetischismus« an.12 Da Schleiermacher das Wesen des Christentums durch den Rückbezug aller Elemente der Frömmigkeit auf die »durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung« bestimmt und dies als Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen monotheistisch-teleologischen Glaubensweisen erachtet, nimmt es nicht Wunder, wenn Schleiermacher auf einer grundsätzlichen Differenz der Stiftung des Christentums durch Jesu Erlösungswerk gegenüber den »Büßungen und Reinigungen« anderer monotheistischer Religionsstiftungen insistiert.13 Das Judentum und seine heiligen Schriften werden zwar als historische Voraussetzungen des Christentums gewürdigt,14 doch im Blick auf die Systematik einer Wesensbestimmung des Christentums scheint ihnen keine besondere Stellung zu gebühren. Schleiermachers ambivalente Haltung zum Judentum ist offensichtlich. Dies wurde schon vielfach festgestellt und bedarf keines neuen Nachweises. Doch mit den Prädikaten des Partikularismus, der äußerlich-zeremonialgesetzlichen Fassung des Gottesverhältnisses und einer subalternen Position des Menschen in der Vergeltungsordnung ist das religiöse Thema, für das das Judentum bei Schleiermachers christlicher Wesensbestimmung steht, nicht abschließend geklärt. Über die Zentralkategorie des Monotheismus ist die jüdische Religion im religionsphilosophischen Kategoriengeflecht präsent, ebenso wie durch die Erlösungsthematik in der christlichen Wesensunterscheidung. Erst hier lassen sich wesentliche Bedeutungen der anderen Seite der Unterscheidung taxieren.

2. Monotheismus und Frömmigkeitstypen Schleiermachers religionsphilosophische Kategorienbildung, die ›fromme Gemeinschaften‹ in ihren Verschiedenheiten bestimmt und dadurch die Wesensbestimmung des Christentums vorbereitet, ist als Teil der ›philosophischen Theologie‹ an einem Übergang verortet. Einerseits ist ihre Perspektive »über« dem Christentum angesiedelt, und ihr Verfahren ist die »kritisch[e]« Unterscheidung des geschichtlich gegebenen Chri11 12 13 14

Vgl. CG § 10.2. CG §§ 9.2; 8.1; 4. CG § 11; 11.4. Vgl. hierzu H.-W. Schütte, Christlicher Glaube und Altes Testament bei Friedrich Schleiermacher, in: Fides et communicatio (FS M. Doerne), hg.v. D. Rössler/G. Voigt/F. Winzer, Göttingen 1970, 291–310; R. Smend, Schleiermachers Kritik am Alten Testament, in: Ders., Epochen zur Bibelkritik, Gesammelte Studien Bd. 3, München 1991, 128–144.

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stentums von anderen frommen Gemeinschaften.15 Dabei ist die religionsphilosophische Kategorienbildung eingebunden in ein Set von Theoremen. Zu ihnen zählen die metaphysisch-dialektische Bestimmung von analogen Begriffen wie Kraft und Erscheinung, die ethisch-geschichtstheoretische Beschreibung des Gebietes der Religion im Kontext von Kultur, die subjektivitätstheoretische Bestimmung des religiösen Bewusstseins als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und die soziologischen Prinzipen kommunikativer Vergemeinschaftung.16 Andererseits impliziert die religionsphilosophische Kategorienbildung stets auch Bezüge zu der praktischen Aufgabe aller Theologie, für die die Stichworte »Kirchenleitung« und »Überzeugung von der Wahrheit« des christlichen Glaubens stehen.17 Die Kategorialität der Wesensbestimmung bewegt sich daher im Grenzbereich von christlich-perspektivischer Positionalität und deren reflektierender Überschreitung. Vor diesem Hintergrund entwirft Schleiermacher eine spannungsvolle Kombination von Einteilungsmodellen der Religionsgeschichte. Einerseits sei sie von Stufen des Fortschrittes von Fetischismus, Polytheismus zu Monotheismus bestimmt. Andererseits zeige sie auf der Stufe des Monotheismus verschiedene Arten als gleichrangige geschichtliche Bildungen. Allerdings verkörpere nur das Christentum die höchste Stufe gänzlich – und erfülle insofern den religionstheoretischen Begriff –, während die anderen monotheistischen Arten, also Judentum und Islam, Restbestände untergeordneter Stufen mitschleppten. Gleichwohl eröffnet das Artenmodell grundsätzlichen Zugang zur geschichtlichen Pluralität monotheistischer Religionen. Denn in ihnen ist »in jeder alles auf andere Weise«, und die Weise, wie »alles anders bestimmt« ist, gleicht der durch begriffliche Einteilung nicht einholbaren Kontingenz des Individuellen.18 Dementsprechend ist der »individuelle Gehalt« einer Frömmigkeitsart »nicht aus dem früheren geschichtlichen Zusammenhang« ableitbar, sondern beruht auf einem »eigenen Grundfaktum«.19 Es bestimmt die unverrechenbare Positivität einer Religion – oder, in der Perspektive ihrer Anhänger, ihren Offenbarungscharakter.20 Das religionsgeschichtliche Äquivalent hierzu ist die Eigenart ihrer Stiftung durch eine individuelle Gestalt. Sosehr begriffliche wie historische Kontingenz es verwehren, die Stiftergestalt aus ihrem geschichtlichen Kontext heraus abzuleiten, sosehr gilt in dialektischer Umkehrung auch, dass sie religiöse Wirkung nur durch Bezüge »auf das vor [ihr] vorhandene Gottesbewusstsein« entfalten kann.21 Für den Christusglauben bedeutet dies, dass er ohne Bezug auf die vorhandene monotheistische Glaubensrichtung, also das Judentum, außerhalb des Gebiets der Frömmigkeit stehen würde – sosehr sein ›Grundfaktum‹ eine Differenz zum Judentum impliziert. Dieser religionsgeschichtliche Sachverhalt muss auf dem Boden des Artenmodells nicht als heilsgeschichtliche Teleologie gedeutet werden – wenn15 KD (s.o. Anm. 2) §§ 33; 32. 16 Vgl. die umfassende Analyse der methodischen und sachlichen Implikationen von Schleiermachers Wesensbestimmung von M. Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996. Vgl. KD §§ 32ff. 17 KD §§ 38; 39. 18 CG § 10.2; 3. 19 CG § 10, Zus. 20 Vgl. KD § 45. 21 CG § 10.2.

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gleich die aus dem Stufenmodell stammende Forschrittsfigur weiterer kritischer Bearbeitung bedarf. Monotheismus als gemeinsame Grundbestimmung von Christentum, Judentum und Islam wird von Schleiermacher letztlich in subjektivitätstheoretischen Figuren entfaltet. Danach beruht er auf der Struktur des Bewusstseins, über Wechselverhältnisse mit anderem Endlichen auf dessen Totalität auszugreifen und die »ganze Welt [. . . ] in die Einheit unseres Selbstbewusstseins« aufzunehmen.22 Das Bewusstsein, »Bestandteil der Welt« zu sein, erweitert sich mit seinem Gehalt zum »allgemeine[n] Endlichkeitsbewußtsein«, das sich als Bewusstsein der »Abhängigkeit alles Endlichen von einem Höchsten und Unendlichen« ausspricht.23 Schleiermachers Monotheismusbegriff steht für ein Bewusstsein von der Totalität der Welt kraft interner Wechselwirkungen, das als Bewusstsein der Allheit und Einheit aber selbst kein bloßes Teilmoment der Wechselwirkung alles Endlichen sein kann. Als Bewusstsein kann es nicht in seinen Gehalt eingeschlossen sein, und dieses Moment von Selbständigkeit kommt über eine Differenz zum Unendlichen zur Darstellung. Dem entspricht die Selbstentdeckung von Subjektivität im Wissen um die Einheit des Bewusstseins gegenüber seinen verschiedenen Zuständen im Wechsel mit der sinnlichen Welt. Das Bewusstsein von dieser Differenz des ›höheren‹ und ›sinnlichen‹ Selbstbewusstseins – um Schleiermachers Terminologie zu gebrauchen – wird durch den monotheistischen Gottesgedanken symbolisiert. Er vergegenwärtigt die Sonderstellung von Subjektivität in ihrem Wissen um die durchgängige Wechselrelation von Selbst und Welt in der Doppelheit von Aktivität und Passivität. Eben darum kann Schleiermacher ausgerechnet vom Monotheismus aus Linien zum vermeintlich pantheistischen Motiv des »Eins und Alles« ziehen – und dabei gerade das HEN KAI PAN über die Unterscheidung von Welt und Gott erfassen.24 Die im Monotheismus artikulierte Differenz zielt nach Schleiermacher nicht auf eine ›Gegenwelt‹, um mit Jan Assmanns Monotheismusdeutung zu sprechen.25 Sie steht vielmehr für die Differenz von Subjektivität und Welt, und zwar im Kontext der in ihrer Ganzheit gefassten Welt. Eben zu dieser Differenz ist nach Schleiermacher der heidnische ›Polytheismus‹ nicht gelangt, sosehr er im Bewusstsein der Vielheit des Pantheon auch Tendenzen zur Allheit impliziert, während der ›Götzendienst‹ oder ›Fetischismus‹ die Unterscheidung gegenüber den Weltdingen nur für beschränkte Gegenstände kennt.26 Innerhalb der Stufe des Monotheismus werden Christentum, Judentum und Islam einerseits dadurch differenziert, dass dem vorexilischen ›Judentum‹ aufgrund seiner Partikularität ein fetischismusähnliches Moment eigne, während dem Islam in der sinnli22 CG § 8.2. 23 CG § 8; 8.2. 24 CG § 8, Zus. Wie Schleiermacher ausführt, unterliegt der »Schimpf- und Neckname« des Pantheismus einer Fülle von Missverständnissen, zu denen die Unklarheit gehört, ob er tatsächlich »Theismus« ist oder nicht vielmehr dessen »materialistische Negation« (CG § 8, Zus.). Selbstverständlich kennt auch Spinoza, dem ein solcher Pantheismus – fälschlich – zugeschrieben wurde, die begrifflich klare Unterscheidung von der Einen singulären Substanz und der Welt des Vielen. 25 Vgl. J. Assmann, Die mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München 2003, passim. 26 Vgl. CG § 8.1.

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chen Leidenschaftlichkeit der Vorstellungen ein Nähe zum Polytheismus zukomme. Mit diesem Theorem wird die individualitätstheoretische Figur des Artenmodells durch die Fortschrittsskala der Stufen konterkariert. Schleiermacher expliziert denn auch nicht, wie Judentum und Islam ›auf andere Weise‹ den Zentralgehalt des Monotheismus darstellen. Damit wird der systematisch starke Gedanke der Mehrzahl religiöser Arten von einem christlichen Überbietungsgestus, der sich mit dem allgemeinen Religionsbegriff in Einklang wähnt, unterlaufen. Eine gedankliche Figur zum Gewinn von Differenzen, in denen die Religionen je zum individuellen Allgemeinen werden, findet sich nur in der Unterscheidung eines ästhetischen und teleologischen Typs der Frömmigkeit. Beide Typen setzen das immanente Bewusstsein der Wechselseitigkeit alles Geschehens sowie das davon unterschiedene Einheits- bzw. Abhängigkeitsbewusstsein voraus. Sie unterscheiden sich aber insofern, als das Einheitsbewusstsein die Bewusstseinsebene der Wechselseitigkeit entweder nach der passiv-hinnehmenden oder aktiv-gestaltenden Seite hin ausrichtet. Hieraus folgt die Unterscheidung zwischen einem ›teleologisch‹ auf das sittliche Ziel des Ganzen ausgerichteten Frömmigkeitstyp, dem alles passiv Widerfahrende zum Anreiz für einen »werktätigen Beitrag zur Förderung des Reiches Gottes« wird, und einem Typ, der auf die empfindende Hinnahme des Geschehens abstellt.27 Beide implizieren ein Bewusstsein vom Ganzen der Welt in Abhängigkeit von Gott, aber einmal so, dass diese Ganzheitsbestimmung mit einer voluntativen Zielrichtung verbunden wird, während im anderen Fall ästhetische Kontemplation dominiert. Dabei kann die Unmittelbarkeit des einzelnen Schönen überwiegen wie im hellenistischen Polytheismus oder die monotheistisch vergegenwärtigte Subjektivität sich zu einer Art amor fati in der Hinnahme »göttlicher Schickungen« bilden.28 Dass und wie es zu dem einen oder anderen Typ kommt, ist geschichtlich kontingent und begrifflich unableitbar. Schon darum lässt sich die Explikation dieser Frömmigkeitstypen nicht von positiven religiösen Gehalten trennen. Dies dokumentiert exemplarisch der Reich-GottesGedanke. Schleiermacher rezipiert dieses Zentralmotiv israelitisch-jüdischer Eschatologie in christlichem Kontext. Hier bündele es eine Frömmigkeit, die »allen Schmerz und alle Freude« als Anreize für eine »Tätigkeit im Reiche Gottes« versteht.29 Der in der subjektivitätstheoretischen Einheitsfigur fundierte christlich-ethische Monotheismus konkretisiert das eschatologisch-regulative Grundmotiv in laufenden Übergängen von Leidenszuständen zu sittlicher Aktivität. Aber auch der ethische Monotheismus des Judentums kennt Übergänge von Leiden zu Tätigkeit. Hierin stehe das Gottesbewusstsein aber im Zeichen eines »gebietenden Willens«, und eine Tendenz zur Einheit finde sich nur im Prinzip göttlichen »Strafens und Belohnens«.30 Man könnte diese Andeutung in der Fluchtlinie eines Verständnisses des Gesetzes als Regelbildung, wie es auf Kantischem Boden von Hermann Cohen expliziert worden ist, verstehen. Ähnliches gilt für 27 CG § 9.1. – In Verbindung mit der Deutung des Monotheismus in Figuren von Allheit und Einheit ließen sich von diesem Typ her ebenso Linien zu fernöstlichen Religionsformen ziehen. 28 CG §10.2. 29 CG § 9.2. 30 CG § 9.2.

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den ethischen Monotheismus, wenn das Prinzip des Gottesreichs im Zeichen des Messianischen als »Herrschaft des Guten auf Erden« in entgrenzender Tendenz zur Universalität gedeutet wird.31 Allerdings denkt Schleiermacher nicht in den für das Judentum charakteristischen Figuren differenzvermittelter Kontrafaktizität, sei es angesichts des Leidens der Anderen, sei es im Zeichen der prophetischen Dialektik von göttlichem Gericht und eschatologischer Gegengeschichte. Deutlicher noch sind die Unterschiede zu einer Frömmigkeit der Erwartung des messianischen Reiches als reale Gegenmacht gegen Leiden und Unrecht, wie sie parallel zum Antihistorismus im Christentum auf jüdischem Boden unter Kritik ethischer Spiritualisierung etwa von Gerhard Scholem und Walter Benjamin artikuliert wurde.32 Es ist ersichtlich, dass Schleiermachers Theorie der Religionen aus christlicher Optik entworfen ist und kein besonderes Verständnis für das Judentum zeigt. Gleichwohl sind mit Monotheismus und Subjektivität, ethischem Willen mit Regelbildung und symbolischer Ausrichtung auf das Gottesreich wesentliche Elemente aus der Erbschaft des Judentums thematisch. Indessen, Schleiermacher fokussiert keine Figuren des Kontrafaktischen, sei es im Sinne der Deutung von Geschichte als Gericht, sei es im Sinne messianischer Verheißung von göttlicher Rettung. Gleichwohl stehen die aus dem Judentum stammende Figur des Erlösers mitsamt der religiösen Erlösungskategorie im Zentrum von Schleiermachers christlicher Wesensbestimmung.

3. Erlöser und Erlösung Im Fokus der christlichen Wesensbestimmung steht die »durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung«.33 Nicht schon Monotheismus und sittliche Frömmigkeit, sondern erst der Bezug auf die geschichtliche Stifterperson Jesus in der christologischpneumatologischen Bestimmung, als Erlöser in die innere Gewissheit des Glaubens der Christen einzugehen, macht das Wesen des Christentums aus. Sosehr Schleiermacher mit dem Erlösungsthema an religiöse Grundgehalte des Judentums anknüpft, sosehr relativiert er systematisch den besonderen geschichtlichen Zusammenhang von Christentum und Judentum – wenngleich das Alte Testament den geschichtlichen »Wendepunkt« hin zum Monotheismus dokumentiert.34 So habe ein Erlöser wohl nur aus einem »monotheistischen Volke« wie dem der Juden hervorgehen können, obzwar Schleiermacher das zeitgenössische Heidentum auf dem Weg zum Monotheismus sieht und die »religiöse Denkart« des Judentums schon »mannigfaltig umgebildet durch nichtjüdische Elemente« findet.35 Dass das Christentum nicht als »Umbildung« oder »erneuern31 H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 1966. 32 Vgl. G. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1980, 121–167; vgl. auch W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a. M. 1980, 691–704. 33 CG § 10. 34 F. Schleiermacher, Dogmatische Predigten der Reifezeit, hg.v. E. Hirsch, 62. 35 CG § 12.1.

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de Fortsetzung des Judentums« zu begreifen ist, wird von der hermeneutischen Regel zum Umgang mit dem Alten Testament unterstrichen, dass das »am wengisten Wert hat, was am bestimmtesten jüdisch ist«.36 Überbietung und Vollendung sind denn auch Figuren, in denen alttestamentliche Vorstellungen wie Weissagung und Wunder, aber auch die christologisch verarbeiteten Vorstellungen von Prophetie, Priester- und Königtum gefasst werden.37 Schleiermachers Distanzierung des Jüdischen lässt an Deutlichkeit nichts missen. Dass auf dessen Boden zugleich spezifische Bestimmungen der Wesensunterscheidung des Christlichen beruhen, steht demgegenüber klar zurück. So werden die Grundbestimmungen des Erlösers, dass er das vollkommene Gottesbewusstsein vermittelt und darin ein Novum in der Geschichte darstellt, kaum in ein Verhältnis zu jüdischen Vorstellungen des geschichtlich Neuen gesetzt.38 An die Stelle von deren eschatologischer Gegenbildlichkeit zu Zuständen der Erlösungsbedürftigkeit treten, unter Aufnahme johanneischer Vorstellungen von der Einheit von Vater und Sohn, Figuren der Gegenüberstellung von dem einen, universalen Erlöser und allen anderen. Das Gottesbewusstsein Jesu begründet eine Singularität Christi, die über das Wechselverhältnis von ›Würde‹ und ›Werk‹, von Erlöser und Erlösung tendenziell alle einschließt und als Individuen in das vollkommene Gottesbewusstsein aufnimmt. Dabei führe die Stellung der Person des Erlösers zu dem von ihr bewirkten Erlösungswerk zu einer Besonderheit gegenüber den Stifterfiguren anderer monotheistischer Religionen. Die religionssoziologische Kategorie des Stifters gelange im Christentum zur Reinheit, insofern dieser nun gänzlich in das Erlösungsgeschehen eingeht und die Vollbringung der Erlösung das alles Übrige prägende »Hauptgeschäft« ist.39 Demgegenüber sei das Verhältnis der Stiftergestalten des Judentums und Islams zu ihren religiösen Stiftungen von einer gewissen Äußerlichkeit geprägt: Sie erscheinen als »willkürlich herausgehoben« aus dem Kreis der anderen Menschen, und sie übermitteln Lehren, Lebensordnungen und auch Büßungen, ohne dabei selbst zum Zentrum von deren Realisierung zu werden.40 Die für das Christentum charakteristische Gleichung von Stifter und Stiftung durch das Wechselverhältnis von Singularität des Erlösers und Universalität der Erlösung hat stattdessen ihr Integral in der Innerlichkeit des Glaubens der Christen in virtueller Allgemeinheit. Erst in deren frei vollzogener ›inneren Erfahrung‹ komme die Erlösungsbestimmung zu ihrem Ziel. An die Stelle der Geschichtstranszendenz des Messianischen tritt die Transzendenz ins Innerliche inmitten der Geschichte. Dies darf freilich nicht in dem Sinne missverstanden werden, als kreierte der Glaube willkürlich den Erlöser. Schleiermacher lässt vielmehr keinen Zweifel daran, dass der Erlöser unbeschadet seines Auftretens an einem geschichtlich-kulturellen Ort die Dif36 CG § 12.2; 3. 37 Vgl. zu den neologischen Hintergründen von Schleiermachers Verständnis H.-W. Schütte (s. o. Anm. 14). 38 Dass »das Gesetz nicht minder als die messianischen Hoffnungen der Anknüpfungspunkt sind, woran er [sc. Christus] seine Verkündigung des neuen von ihm zu stiftenden Gesamtlebens oder Reich Gottes entwickelte« (103.2), findet wenig Widerhall in der materialen Darstellung Schleiermachers. 39 F. Schleiermacher, Predigt: Der Unterschied zwischen dem Wesen des neuen und des alten Bundes an ihren Stiftern dargestellt, in: Ders., Predigten, 7. Sammlung, Reutlingen 31835, 41–59. 40 CG § 11.4

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ferenz des Neuen mit sich bringt und daher Urbild und Urheber des Glaubens wird. Hierfür steht symbolisch die übervernünftige, aber in der Grenzbestimmung der höchsten Steigerung menschlicher Vernunft nicht widervernünftige Gottheit Christi.41 Und deren Exklusivität wird durch in feinste Differentiale der Bildungsgeschichte von Jesu vollkräftigem, ungetrübten Gottesbewusstseins übersetzt, an dem die christliche Frömmigkeit in der Erlösung Anteil bekommt. Das christologische Prädikat der Gottheit markiert eine durchgängige Distanz zu den stets partikularen Bestimmungskräften des historischen Lebens – bis hin zu dem Bestimmenden des Gesamtlebens der Sünde –, und diese christologisch-theologische Distanz wird in den Konfigurationen des ›Lebens Jesu‹ detailliert in Kontraste zur umlaufenden Religiosität überführt. Dabei folgt Schleiermachers Darstellung des ›Lebens Jesu‹ einer idealisierten johanneischen Darstellung, die der Selbstverkündigung Jesu entstammen soll. Dass die christologische JesusDarstellung aufgrund ihrer Maxime der Distanz nicht historisch im kritischen Sinn ist, ist seit David Friedrich Strauß’ Diktum, sie biete ein »nach der Schnur gezogenes Ideal«, oft betont worden.42 Gleiches gilt für die anthropologisch wenig überzeugende These von einem kontinuierlich-kampflosen Hervortreten des Gottesbewusstseins bis hin zur stetigen Vollkräftigkeit. Interessanter sind die Modifikationen oder gar Korrekturen, die Schleiermachers Jesus an jüdischen Vorstellungen im Interesse des christologischpneumatologischen Übergangs zum neuen ›Gesamtleben‹ vornimmt. Hierzu zählt insbesondere die Ausdifferenzierung von religiöser und politischer Hoffnung. Das Gegenbild einer messianischen Eschatologie der Erneuerung der politischen und religiösen Größe des Gottesvolks ist die programmatische Entflechtung von Politik und Religion.43 Sie tritt an die Stelle utopischer Gerechtigkeitserwartungen und bildet die Nahtstelle zu einer pragmatischen Geschichtstheorie, die eine Selbstverständigung der Moderne eröffnet. Der Gedanke des Reiches Gottes gewinnt dabei den Charakter eines symbolischen Regulativs einer ethischen Frömmigkeit, die um eine freiheitliche »Zusammenstimmung beider« bei »äußerer Trennung« weiß.44 Schleiermachers Entfaltung des christlichen Prinzips der Erlösung durch das Wechselverhältnis von Person und Werk Christi in der Stiftung eines neuen ›Gesamtlebens‹ geht nicht auf jüdische Argumente der Bestreitung der Messiasprädikation Jesu ein. Das betrifft insbesondere die Strittigkeit einer tatsächlichen Manifestation des Guten. Gleichwohl bleibt die christliche Frömmigkeit mit dem Erlösungsgedanken auf ein ursprünglich jüdisches Motiv bezogen. Erlösung ist ohne Unterscheidung von besseren und 41 Sie wird freilich von Schleiermacher nicht im dogmatischen Schema der zwei Naturen gedacht, sondern in einer idealtypischen ›Biographie‹ des ganz vom Gottesbewusstsein bestimmten Jesus dynamisiert. 42 D.F. Strauss, Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu, Berlin 1865 [Nachdruck Waltrop 2000, hg. u. eingel. von A. DörflerDierken/J. Dierken], 38. Vgl. auch die Einleitung der Herausgeber. 43 Vor diesem Hintergrund kann Schleiermacher im Begriff des ›großen Mannes‹ zeitdiagnostische Bezüge herstellen und diesen Begriff entweder auf den Staat oder die Kirche beziehen. Vgl. F. Schleiermacher, Über den Begriff des großen Mannes, in: Ders., Werke, Bd. 1, hg.v. O. Braun, Leipzig 1910, 520–531. 44 CG § 105.3.

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schlechteren Zuständen und die dabei implizierte Normativität nicht denkbar. Das Bewusstsein der Sünde als des Nicht-Sein-Sollenden ist die Kehrseite. Hinzu kommt, dass die Erlösung mit ihrer Dynamik der Veränderung im Übergang der Zustände mit einer »von einem anderen geleisteten Hülfe« verbunden ist.45 Die Alterität dieses Anderen – gemeint ist Christus in der erlösenden Mitteilung seiner Vollkommenheit – korrespondiert mit der Neuheit seines geschichtlichen Auftretens, an der die Stiftung des der Sünde entgegen gesetzten ›Gesamtlebens‹ hängt. Die erlösende Tätigkeit besteht in der Aufnahme in die »Kräftigkeit des Gottesbewusstseins«, der die Versöhnung als Aufnahme in seine »ungetrübte Seligkeit« entspricht.46 Beides lässt sich nur zusammen mit dem neuen ›Gesamtleben‹ als in sich differenziertem Reich-Gottes denken, und das Wechselverhältnis der Einheit von Person und Werk Christi findet erst im selbsttätigen Selbstbewusstsein der Gläubigen seinen Resonanzboden. Darum stehen Glaube und Gottesreich selbst in der Dialektik der Erlösung. Auch in die Pneumatologie als Integral der Christologie geht jüdisches Erbe ein, etwa mit der Erinnerung der Erlösungsbedürftigkeit im Nachwirken der Sünde auch nach der Aneignung Christi im Glauben der Gemeinde. Dieses Erbe lässt sich vom Christentum nicht simpel abtrennen, solange es eine Erlösungsreligion ist. Am deutlichsten scheint dieses Erbe durch die dogmatischen Lehrstücke des prophetischen, hohepriesterlichen und königlichen Amtes Jesu Christi hindurch. Schleiermacher betont, dass die »Vergleichung« einer gegenwärtigen Explikation der Christologie mit den Vorstellungen, »durch welche unter dem jüdischen Volk die Gottesherrschaft dargestellt« wurde«, auch »jetzt im Lehrgebäude nicht zu vernachlässigen« sei.47 Dabei sollen sowohl »Kontinuität« als auch »Umbildungen« das »Antijudaisierende des Christentums unter der jüdischen Form« sichtbar machen.48 Das Grundschema besteht darin, dass die auf die eine Gestalt Christi konzentrierten Ämter des Propheten, Hohepriesters und Königs jeweils den Gipfel und das Ende der diesbezüglichen jüdischen Formen und Institutionen darstellen.49 So knüpfe Jesu Prophetie an Gesetz und messianische Hoffnungen an, um die Gesetzeserfüllung im Reich Gottes zu verkündigen. Von diesem Reich habe der »nun persönlich erschienene Messias« lehren können, dass »nichts zu denken ist, was [als . . . ] noch Wesentliches fehlen könne«.50 Christi Königtum wird konsequent auf das nicht von dieser Welt stammende Reich bezogen und als zwanglos-innerlich die Gesinnung der Glaubenden in der Gemeinde erbauende Tätigkeit beschrieben, die an keine partikularen Grenzen gebunden ist. Und in seinem hohepriesterlichen Amt komme es nicht nur zur Realisierung des Gesetzes in der Aufhebung des »Zwiespalts« von »einem gebietenden« und einem »unvollkommenen untergeordneten Willen«, sondern auch zu einem Ende der an diesen Zwiespalt geknüpften 45 46 47 48 49 50

CG § 11.2. CG § 100; 101. CG § 102.1. Ebd. Vgl. CG §§ 103.2; 104.6; 105.3. CG § 114.3.

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»widersinnigen Vergeltungsnotwendigkeit«.51 Seine in der Hinnahme des unschuldigen Todes geschehende Hingabe an Gott ist darum zugleich die Aufhebung der menschlichen Institution des religiösen Opfers.52 Insbesondere durch Schleiermachers Deutung von Leiden und Tod Christi scheinen Kontinuität und Umbildung jüdischer Vorstellungen hindurch. Sosehr Schleiermacher eine Deutung der erlösenden Wirkung des Kreuzes in Formen eines sühnenden Leidens zurückweist und Leiden und Sterben Christi als Gipfel der Beharrlichkeit seiner »sich selbst schlechthin verleugnenden Liebe« versteht,53 sosehr steht deren Verständnis im Zeichen einer kontrafaktischen Umkehrung. So gehe uns »die Überzeugung von seiner Heiligkeit [. . . ] und Seligkeit [. . . ] aus dem Versinken in sein Leiden auf«, und wie »Gott uns in Christo als Genossen seines [tätigen] Gehorsams« sieht, so sehen wir gerade im »leidenden Gehorsam [. . . ] Gott in Christo«, worin uns Christus zum »unmittelbarsten Teilhaber der ewigen Liebe« wird.54 Insofern im Zentrum der christlichen Wesensbestimmung die Gestalt Jesu Christi steht, reicht in diese faktische Wesensunterscheidung gegenüber dem Judentum selbst ein Grundmotiv jüdischen Denkens von Gott hinein: nämlich dass Gott sub contrario erscheint und eine Umkehr des Faktischen in seiner Negativität darstellt. Und wenn die Nahtstelle von Verbindung und Unterscheidung der Tod Jesu und seine umwertende Deutung bildet, dann lässt sich von einer geradezu beiderseitig tragischen Dimension der »Verwicklung dieses großen Wendepunktes« nicht absehen: nämlich dass »Christus [. . . ] im Eifer für seinen Beruf [. . . ] und Bezug auf das väterliche Gesetz seinen Tod fand, wie seine Gegner [. . . ] ihn im Berufseifer für das Gesetz zum Tode verurteilten.«55

4. Monotheistische Erlösungsfrömmigkeit zwischen Einheitsprinzip und Gegenreligion In Schleiermachers Bestimmung des Wesens des Christentums läuft die Unterscheidung vom Judentum vielfältig mit. Gleichwohl ist die Debatte mit dem Judentum nicht zentral. Dessen religionsgeschichtliche Bedeutung wird gewürdigt, sowenig das Christentum als dessen Fortschreibung gilt. Es ist eine eigene und andere Religion. Fortwirkende jüdische Motive im Christentum wie der Monotheismus, die Rationalität einer Gesetzesordnung und eine ethische Frömmigkeit des Reiches Gottes werden in neue Deutungen überführt. Deren Logik entstammt z.T. selbst jüdischen Quellen und überschreitet diese zugleich, wie an der zentralen Differenz von Christentum und Judentum, der Christologie, sichtbar wird. Christus wird als der Messias verstanden, allerdings unter Umbildung der Messianitätsidee; das mit ihm verbundene Reich Gottes ist als ebenso universales wie innerliches da, und wesentlich Neues ist nicht mehr zu erwarten; das 51 52 53 54 55

CG § 104.3–4. Vgl. CG § 104.5. Vgl. CG § 104.3. CG 104.3. CG § 104.4.

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Gesetz wird im Sinne einer neuen Sittlichkeit erfüllt und vollendet, die der Überführung der neuen Gottesherrschaft in die Sozialität des neuen Gesamtlebens durch den Erlöser entspricht. Zugleich werden die äußere und politische Dimension der messianischen Erwartung, die zeremoniellen Gehalte des Gesetzes in ihrer Sperrigkeit gegenüber allgemein-sittlichen Vollzügen und die Besonderheit der Erwählung des Gottesvolkes in Schleiermachers Wesensunterscheidung auf Distanz gebracht. Dabei wird die religiöse Dialektik des Besonderen und Allgemeinen umgekehrt, die religiösen Gründe der jüdischen Bestreitung der Messianität Jesu Christi werden abgeblendet. Unbeschadet manch subtil-dialektischer Anknüpfung wird von Schleiermacher die religiöse Alternative kaum im Lichte einer möglichen religiösen Attraktivität erwogen. »Das Judentum ist eine Kultur der Differenz.«56 In dieser Formel von Jan Assmann ist eine Dimension des Jüdischen umrissen, für die Schleiermacher nur ein geringes Sensorium hat. Sie steht nicht nur hinter den von ihm mit Distanz notierten Merkmalen der Partikularität und Exklusivität, sondern begründet auch einen Charakter als »Gegenreligion«.57 Dies kann wie bei Assmann in Figuren von politischer Theologie beschrieben werden, für die die Opposition zu religiösen Herrschaftsrepräsentationen oder kosmischen Ordnungen maßgeblich sind. Dann geht mit dem Gott, der im Zeichen von Unterscheidung gefasst ist, die Forderung der Unterwerfung nach innen und monotheistische Intoleranz nach außen einher. ›Gegenreligion‹ kann aber auch zur Formel für eine aus der Wahrnehmung von Negativität und Leiden gespeisten Deutung der Welt werden, die über den in Distanz zur Welt stehenden Gott mit der Erwartung einer anderen, zukünftigen Welteinrichtung verbunden wird. Das Scharnier ist dabei die prophetische »Unheilstheodizee«, um mit Max Weber zu sprechen.58 Vor dem Hintergrund einer sakralisierten Sozial- und Rechtsordnung kommt es dabei zu einer grandiosen Deutung politischer Großereignisse mit schicksalhaften Negativfolgen für die Sozialverbände Israels als von Gott gewirkte Strafen für die als Schuld beurteilten Sünden – mag sich auch die Urheberschaft dieser Deutung durch prophetische Persönlichkeiten im Dunkel der Geschichte verlieren. Diese Deutung impliziert eine Verdoppelung der Wirklichkeit zugunsten eines weltüberlegenen Willens.59 Er ordnet die Sündenfolgen der Sünde zu – gedolmetscht über eine Umkehrung der Logik des Normativen im prophetischen Bewusstsein – und exekutiert sie unter Beanspruchung politischer Großmächte aufgrund eben dieses Willens. In diesem gleichsam zur Umwertung aller Werte fähigen Willen artikuliert sich Subjektivität am Orte Gottes als kontrafaktische Handlungsmächtigkeit mit hohen Plausibilitätsrisiken. Dass die Unheilstheodizee sich auch in Heilsverheißung umkehrt, ist dann kein großer Schritt mehr. Hinter ihm mögen auch Erinnerungen an Erfahrungen des Außerordentlichen, des Un-Erwarteten im heilsamen Sinn stehen. 56 J. Assmann (s. o. Anm 27), 30. 57 AaO. 14; 49ff. 58 M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Bd. III (1921), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III, Tübingen 81988, 319. 59 Wie sie aus dem orientalischen Herrscherkult über eine Dialektik von Bildlichkeit und Bilderverbot und entsprechenden Weltbildern hervor getrieben wird, zeigt exemplarisch F. Hartenstein, Weltbild und Bilderverbot. Kosmologische Implikationen des biblischen Monotheismus, in: Die Welt als Bild, hg.v. Ch. Markschies/J. Zachhuber, Berlin/New York 2008, 15–37.

Wesensbestimmung und Wesensunterscheidung

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In der Fluchtlinie der Dialektik von Unheilstheodizee und Heilsverheißung steht die kosmologische Ausweitung der voluntativen Handlungsmacht Gottes, der als Herrscher zum Schöpfer der Welt wird. In Entsprechungen hierzu verbinden sich mit der Umkehrung der Unheilstheodizee in Heilsverheißung Tendenzen zu einer weltgeschichtlichen Ausweitung im Zeichen eines universalen Ethos der umfassenden Geltung von Recht und Gerechtigkeit. Ihr entspricht eine Frömmigkeit der Erwartung. Enttäuschungsfestigkeit und damit Sinn werden über unterschiedliche Formen und Grade performativer Einbeziehung der die Verheißung Erwartenden gewonnen. Solche Performanz wird zur diesseitigen Dynamik der Verheißung – im weiten Spektrum von einer asketischen Sonderexistenz bis hin zur tätigen Vorbereitung auf den sichtbaren Anbruch der Gottesherrschaft im Kommen des Messias. Beidem lassen sich soziologische Formen von Abgrenzung, aber auch Assimilation zuordnen, ebenso wie Möglichkeiten der Verarbeitung von innerweltlichem Erfolg und Misserfolg. Schleiermacher ist dieses im Judentum als ›Gegenreligion‹ steckende »Negationspotential«60 fremd geblieben. Seine Wesensbestimmung des Christentums operiert mit einer Unterscheidung, die die Differenzsetzungen auf Seiten des Unterschiedenen abblendet. Dies ist auch dem konstruktiven Charakter der Wesensbestimmung, die als Wesensgestaltung über bloß beschreibende Zusammenschau herausführt, geschuldet. Denn Schleiermachers Wesensbestimmung betreibt ebenso eine reflexive Modernisierung des Christentums angesichts einer Heteronomie des religiösen Geistes gegenüber dem unverständlich gebietenden Gott. Daher schwingt in der Negation des Judentums zugleich eine Distanzierung von der christlichen Orthodoxie und ihrem autoritativen Theismus mit. An deren Stelle wird ein subjektivitätstheoretisch fundiertes und kulturell komuniziertes Religionsverständnis gesetzt, das im Endlichen das Unendliche, im Einen das Alles deuten kann. Das HEN KAI PAN, ein Grundmotiv für immanente Transzendenz auf neuzeitlichem Boden, wird dabei durch das Nadelöhr der Dialektik des Subjektiven geführt, artikuliert und ausgetauscht in komplementären Verhältnissen der Intersubjektivität. Dieser Monotheismus unterscheidet sich von dem eines welttranszendenten unbedingten Willens. Dennoch verweisen sie dialektisch aufeinander. Es ist schon des Aufmerkens wert, dass hinter Schleiermachers Wesensgestaltung des Christentums im Zeichen einer reflexiven Modernisierung nicht zuletzt Motive stehen, die durch Spinoza vermittelt sind. Diesem – freilich verfemten und seinerseits zuhöchst kritischen – Angehörigen des Judentums huldigte Schleiermacher bekanntlich in höchsten Tönen. Auf ihn gehen entscheidende Impulse der Kritik an einer politisch verstandenen Religion in der Neuzeit zurück, die auch den politischen Messianismus betreffen. Und er ist zugleich ein Kritiker von Subjektivität im Sinne eines weltjenseitigen absoluten Willens. Gott fällt als singuläre Substanz zwar nicht mit der Welt zusammen, aber er wird, gerade indem er keine Selbsthaftigkeit besitzt, sich selbst zum inneren Möglichkeitsgrund der Einzelnen, denen ein ethischer Weg der Zusammenstimmung mit dem Ganzen gewiesen wird. Von der dritten Erkenntnisart führen Linien zum Anschauen des Universums: Das Einzelne wird im Ganzen, das All im Individuel60 Assmann (s. o. Anm. 27), 26.

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len gesehen. Schon weil Spinoza hinter maßgeblichen Anregungen für Schleiermachers Verständnis des Christlichen steht, lassen sich die christlichen Kernbestände nicht einfach unter bloßer Abstraktion vom Judentum explizieren. Es wäre aber ebenso verfehlt, wollte man simpel beide Religionen in eine größere Einheit aufheben. Unhintergehbar für die Wahrnehmung von beidem in der jeweiligen religiösen Stärke ist eine Dialektik der Differenz. Für diese Dialektik der Differenz sind Wesensbestimmung und Wesensunterscheidung ein ausgezeichneter Ort.

»Die toten Schlacken des inneren Feuers« Schleiermachers Religionsformel, ihre Rezeption und die Idee einer vergleichenden Religionsforschung Jürgen Mohn Für Michael von Brück zum 60. Geburtstag

Vorbemerkungen Es scheint mit Blick auf die sich im 19. Jahrhundert ausdifferenzierenden Disziplinen eine allgemein geteilte Position zu sein, dass Friedrich Daniel Schleiermachers Werk auf viele neu entstehende Disziplinen, so auch auf die vergleichende Religionswissenschaft, anregend gewirkt hat. Es steht aber auch fest, dass er kein vergleichender Religionswissenschaftler avant la lettre war. Denn ausser mit dem Christentum hat er sich mit keiner anderen Religion wirklich eingehend auseinandergesetzt oder gar verschiedene ›positive‹ Religionen in einen komparativen Kontext gestellt. Und doch mutmassen viele, dass Schleiermacher im deutschsprachigen Raum einer der frühen Anreger gewesen war, die zu einer Professionalisierung der Religionsforschung beitrugen, die gekennzeichnet sei durch ein Interesse an der Vielheit der Religionen. So stellt sich im Nachhinein die berechtigte Frage, ob er denn bereits eine implizite Idee dessen formulierte, was sich später in der ›Disziplin‹ der Religionswissenschaft mit ihrem komparativem Interesse an den historisch-konkreten Gestalten der Religionen einen akademischen Ausdruck verschaffte und zu Beginn des 20. Jahrhunderts letztlich in Lehrstühle überführt wurde. Als der 31jährige Schleiermacher 1799 seine bis heute berühmten Religions-Reden, ohne seinen Verfassernamen zunächst preiszugeben, veröffentlichte, war deutlich, dass der Redner als Prediger einem Berufsstand angehörte, der dem internen Professionalisierungsbereich der Religion, genauer gesagt einer positiven, nämlich einer christlichen Religion angehörte. Und doch tastete er sich mit seinen dort formulierten Ideen zur Religion in eine Perspektivierung dieses Bereichs namens Religion vor, die zu seiner Zeit neu und vorläufig einzigartig war. Zentral scheint bei der weiteren Wirkung seiner Religionsideen die Erfindung einer neuen Terminologie zu sein, die die expliziten theologischen und aufklärungsphilosophischen Deutungs- und Beschreibungstermini weitgehend vermeidet. Er erfand eine neue Religions-Sprachlichkeit, die trotzdem anschlussfähig an die alte blieb. Ein strukturell ähnliches Phänomen ist ungefähr hundert Jahre später bei der

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Einführung des Begriffs des Heiligen in die damals bereits etablierte Religionsforschung festzustellen. Diese stand zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum bereits deutlich in der Abhängigkeit zu Schleiermacher, und selbst die Intention des neu akzentuierten Begriffs des Heiligen (beziehungsweise des Numinosen bei Rudolf Otto) ist zum Teil in Formulierungen, die sich in Schleiermachers Reden finden, vorweggenommen. In der Folge der Rezeptionen dieser Reden im 19. Jahrhundert kam es zu einer spezifischen Interessenssteigerung an Religion als eines genuinen Bereichs des Menschseins, die letztlich auch die vergleichende Religionswissenschaft mit hervorbrachte. Allerdings: Gerade weil Schleiermacher Theologe war, entwickelte sich in der deutschsprachigen Religionswissenschaft im Zuge der einsetzenden Schleiermacher-Rezeption eine Ideengeschichte des Religionsverständnisses, die mutmasslich anders ausgesehen hätte, wenn er seine Reden an die deutschen Gebildeten nicht der Öffentlichkeit überantwortet hätte. Zu dem Zeitpunkt, als Schleiermacher seine wirkungsreichen Reden verfasste, gab es keine eigene Disziplin, die sich der vergleichenden Untersuchung der Religionen gewidmet hätte. Es gab Überblickskompendien zu den Religionen seit dem 17. Jahrhundert wie beispielsweise die frühe des Engländers Alexander Ross, im Deutschen betitelt: »Der gantzen Welt Religionen«, oder beispielsweise der spätere historische Überblick von Siegmund Jacob Baumgarten zu den Religionsparteien.1 Allen diesen Werken ist eine biblisch-historische und systematisch-christliche beziehungsweise systematischkonfessionelle Perspektive eigen, die vier Religionstypen (Christen, Juden, Mohammedaner und Pagane) kennt, die Religion als einen auf Handlung bzw. Lebensführung bezogenen Ritualbegriff versteht (es geht um die eigenen ›wahren‹ Gottesdienste im Gegensatz zu den anderen ›falschen‹ Götzendienste) und die damit Religion als eine potentiell auf Gemeinschaften bezogene rituelle Angelegenheit nicht des inneren, sondern des äusseren Menschen interpretiert.2 Durch oder im Anschluss an Schleiermacher wird eine ›kopernikanische Wende‹ im Religionsverständnis in zweierlei Hinsichten gefordert beziehungsweise umgesetzt: 1. nicht mehr die Gemeinschaft, sondern das Individuum und dessen ›Gefühl‹, dessen ›Gemüth‹ seien das Zentrum zur Bestimmung von Religion und 2. nicht mehr das Handeln (die Rituale, die Gottesdienste), sondern eben dieses innere Gefühl und die mit ihm in Verbindung stehende ›Anschauung‹ charakterisiere Religion. Und diese spezifische Wendung im Religionsverständnis hatte Folgen. Zunächst konzipierte Schleiermacher Religion als Angelegenheit des inneren Menschen und des Individuums so, dass er damit das plurale Phänomen der Individualgestalten der von ihm so genannten positiven Religionen in Verbindung brachte. Damit kommt er einer am Individuum ansetzenden Religionsforschung sehr nahe, die sich von den klassischen Religionseinteilungen weg und hin zu zahlreichen bis zu potentiell un1

2

Alexander Ross [Alexandro Rossaeo], Der gantzen Welt Religionen; oder Beschreibung aller Gottesund Götzendienste wie auch Ketzereyen in Asia, Africa, America, und Europa, von Anfang der Welt biß auff diese gegenwertige Welt, übersetzt von Alberto Reimaro, 2. Aufl., Amsterdam 1668 [Engl. Orig. 1614]; Siegmund Jacob Baumgarten, Geschichte der Religionsparteien, hg. von Johann Salomon Semler, Halle 1766. Vgl. hierzu Ernst Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986, 16–31 und 273–281.

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endlichen Möglichkeiten von (Individualformen der) Religion(en) orientiert. Wurde er mit dieser Wendung im Religionsverständnis auf das Individuum beziehungsweise auf die Subjektivität zum Gründer einer vergleichenden Religionsforschung oder gar vergleichenden Religionswissenschaft? Es war wohl nicht die Absicht Schleiermachers, mit seinen Reden eine Disziplin ins Leben zu rufen. Und doch hat Schleiermacher einen Bereich möglicher Forschung angeregt und konstituiert, der ungefähr hundert Jahre später, kurze Zeit nachdem Rudolf Otto die »Reden« »Zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt neu« herausgab,3 zum Gegenstand einer an den Universitäten verankerten Disziplin geworden ist. Und zumindest für den deutschsprachigen Raum kann behauptet werden, dass Schleiermacher vermittelst seiner Rezeptionsgeschichte an dieser Entwicklung auch gegenläufig zu seiner eigenen Intention nicht unschuldig gewesen ist. Zwar bildete sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam eine Disziplin aus, die sich der wissenschaftlichen und vergleichenden Religionsforschung, nun explizit unter der Disziplinenbezeichnung Religionswissenschaft, widmete. Und doch sind in ihren Selbstverlautbarungen Wörter und Begriffe Schleiermachers präsent, die schon vor Ottos bewusster Erneuerungspolitik in die Konstituierungsphase dieser Disziplin eingegangen sind, bevor dieser Vorgang ihren Vertretern in seinem vollen Ausmasse und seinen einschneidenden Konsequenzen für die Konstituierung ihres Gegenstandsbereiches bewusst wurde. Erst mit Friedrich Max Müller kann von einer vergleichenden Religionswissenschaft im heutigen Sinne gesprochen werden. So stellt sich die Frage, wie Schleiermacher mit dieser Disziplin in Verbindung gebracht werden kann? Hatte er bereits eine Idee von einer noch zu begründenden vergleichenden Religionswissenschaft formuliert? Oder begründete er sogar ihren Gegenstandsbereich und öffnete als Ideengeber der komparativen Religionsforschung den Weg? Oder finden wir bei ihm nur Ansätze, die der Entstehung dieser Disziplin, wenn auch erst viele Jahrzehnte später, dienlich war? Und wie sieht die heutige Religionswissenschaft die Schriften und Positionen Schleiermachers? Als wissenschaftliches Erbe oder als Forschungsgegenstand? Zur Beantwortung dieser Fragen wird in drei Schritten vorgegangen: Von Schleiermachers Konstitution der Religion über die Rezeption dieser Religionskonstitution hin zur Sicht der heutigen Religionswissenschaft auf dieselbe. 1. Die Konstitution der Religion fragt nach dem Potential in Schleiermachers Religions-Ideen zu einem Vergleich der Religionen. Hierzu müssen die Reden in der (aufgrund von Rudolf Ottos Neuausgabe) folgenreicheren Fassung des Jahres 1799 rekonstruiert und auf deren Konstituierung eines genuinen Gegenstandsbereiches Religion in der zweiten Rede und auf die implizite Vergleichsthese in der fünften Rede hin befragt werden, die dann in ihren jeweiligen Rezeptionsgestalten der Entstehung einer vergleichenden Perspektive auf den Gegenstandsbereich Religion förderlich werden konnte. Es wird sich jedoch zeigen, dass die Leseweise und Wirkung der zweiten Rede aufgrund einer Ignoranz der fünften Rede gegenüber zu einem Rezeptionsmissverständnis führen musste. 2. Das soll das folgende kurze (aber auch nur andeutend ausformu3

Die Ausgabe erschien 1899 in Göttingen mit einem Rückblick Rudolf Ottos und erlebte bereits 1906 eine zweite Auflage mit einer neuen Einleitung (Zur Einführung) ebenfalls von Rudolf Otto.

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lierte) Kapitel über die Rezeption der Religionsreden und Schleiermachers Folgen für die Disziplinierung der Vergleichenden Religionswissenschaft zeigen. 3. Erst dann vermag ein Blickwechsel in Sachen Religion die Religions-Ideen Schleiermachers und deren Rezeption aus der Sicht einer heutigen religiös-distanzierten Religionswissenschaft neu zu interpretieren: nämlich als ›wissenschaftliche Religionisierung‹ des Gegenstandsbereichs Religion und damit als integraler Bestandteil zuvörderst der Religions- und nicht der Wissenschaftsgeschichte der Religionswissenschaft. Denn die Religionswissenschaft hat sich in ihrem Selbstverständnis spätestens in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts grösstenteils und bis heute insgesamt von der Tradition der Religionsphänomenologie und damit der Richtung, die partiell in der Schleiermacher-Nachfolge stand, abgewendet. Hiermit ist ein so genannter Paradigmenwechsel hin zur Kultur- und Sozialwissenschaft verbunden.4 Damit stellt sich die Frage, wie die Religions-Ideen Schleiermachers aus dieser Sicht nun zu interpretieren sind. In diesem dritten Schritt muss also die Frage diskutiert werden, ob Schleiermachers Religionsverständnis die wissenschaftliche Bearbeitung der Religionen in einer vergleichenden Perspektive förderte oder eher den Religionsstiftungen individueller Prägung im 18./19. Jahrhundert zuzurechnen ist. Anders formuliert: gehört Schleiermachers Religionsformel in die Wissenschafts- oder in die Gegenstandsgeschichte der Religionswissenschaft? Zur Beantwortung dieser Frage wird von den Beobachtungen der späten Schleiermacher-Interpretation Wilhelm Diltheys ausgegangen. Letztendlich müsste die historisch zurück projizierte Leseweise, die Schleiermacher zu einen Ideengeber der Religionswissenschaft erklärt, selbst motivational analysiert und kritisch hinterfragt werden.

1. Die Konstitution einer Religion der Religion(en): Schleiermachers Religionsformel und der Vergleich der Religionen Die Schleiermachersche Konstituierung und Interpretation der Religion ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis heute immer wieder und aus den verschiedensten Sichtweisen und Disziplinen heraus mehrfach rekonstruiert worden. Es kann im Folgenden nicht um eine Diskussion der religionsphilosophischen, theologischen und literaturwissenschaftlichen Probleme der Schleiermacher-Interpretation und deren Interpretationsvorschläge gehen, auch nicht um eine Gesamtinterpretation der Reden oder deren Stellung im Gesamtwerk Schleiermachers, sondern nur um die Frage nach der Potentialität der Reden für die Idee einer vergleichenden Religionswissenschaft. Da es also darum geht, spezifisch danach zu fragen, ob Schleiermacher die Idee einer vergleichenden Religionswissenschaft zumindest implizit in seinen Reden vorweggenommen, wenn 4

Programmatisch fand dieser gewollte Paradigmenwechsel seinen Niederschlag in dem Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, dessen erster Band 1988 herauskam und der im systematischen Teil die entsprechenden Begründungen lieferte. Vgl. hierzu insbesondere: Burkhard Gladigow, Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft, in: Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Matthias Laubscher (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988, 26–40.

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nicht sogar aus eigener Perspektive zum Programm erhoben hatte, konzentriert sich der Fokus einerseits auf die zweite Rede, die die Konstituierung der Religion im engeren Sinne betrifft, und andererseits auf die fünfte Rede, die den Horizont seines Religionsverständnisses auf die ›positiven‹ Religionen hin erweitert. Es ist bekannt, dass sich bei Schleiermacher der Versuch einer ›Verinnerlichung‹ von Religion vorfinden lässt, einer Verlegung von Religion – als des Verhältnisses des anschauenden und fühlenden Individuums auf das Universum, das Unendliche hin – in die Subjektivität des Individuums hinein. Kommt man aus dieser theologisch inspirierten religionsphilosophischen Position überhaupt zu einer ›anerkennenden‹ Einstellung der Vielfalt der Religionen gegenüber?5 Schleiermacher scheint genau diese Konsequenz in der fünften Rede zu ziehen, wenn einigen seiner Interpreten und einem Teil der Rezeptionsgeschichte der Reden Glauben geschenkt werden sollte. Denn er nimmt eine Wesensbestimmung vor, die die von ihm als positiv bezeichneten Religionen zu individuierten Gestalten werden lässt, in denen sich die unendliche Religion im Endlichen notwendigerweise darstellen müsse. Damit wird die innere Religion zum Wesentlichen und relativiert die äußeren Manifestationen, indem es diese in Abhängigkeit hält. Die hier nur kurz charakterisierte Konzeption von Religion ist nun ausführlicher daraufhin zu befragen, ob sie damit auch eine vergleichende Religionswissenschaft zumindest von der Idee her nahelegt. Ungeachtet der weiteren Beantwortung der Frage, kann an dieser Stelle bereits festgehalten werden, dass dieses Religionskonzept für verschiedene Richtungen der Religionsforschung und unter anderem auch für die beginnende vergleichende Religionswissenschaft äußerst wirkungsvoll bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts geblieben ist, da in den Rezeptionsgestalten der Schleiermacherschen Wesensbestimmung von Religion sich eine Psychologisierung der Religion einspielte, die einerseits die Gemeinsamkeit der religiösen Phänomene von der religiösen Erfahrung abzuleiten versuchte und andererseits dadurch das verbindende Element zwischen den differierenden Formen und Erscheinungsweisen des Wesens von Religion erklären konnte. Eine mehr oder weniger explizite Wirkungsgeschichte dieser in doppelter Hinsicht individualisierenden Neubestimmung von Religion kann über die philologische Religionsforschung vergleichenden Zuschnitts von Friedrich Max Müller bis Cornelis P. Tiele und Edmund Hardy,6 von William Brede Kirgensen bis zur Religionsphänomenologie van der Leeuws, von Rudolf Ottos und Nathan Söderbloms Konzeption des Heiligen bis zur Verhältnisbestimmung von Wesen und Erscheinung der Religion bei Friedrich Heiler,7 aber auch hinter den 5

6 7

Hierbei wird darauf zu achten sein, was mit positiven Religionen überhaupt gemeint sein könnte und welche Vielfalt hierdurch in den Blick gerät. Ist der plural eröffnete Horizont überhaupt der Religionen im heutigen Sinne oder nicht vielmehr einer der individuellen Christentümer, insofern nur diese Ausdruck von Schleiermachers Religionsbestimmung sein können, intendiert? Edmund Hardy, Was ist Religionswissenschaft? Ein Beitrag zur Methodik der historischen Religionsforschung, in: Archiv für Religionswissenschaft 1 (1898), 9–42. Vgl. als Überblick zu den einzelnen Namen und deren Positionen: Jacques Waardenburg, Classical Approaches to the Study of Religion. Aims, Methods and Theories of Research, Bd. I: Introduction and Anthology, The Hague/Paris 1973; speziell zur Bedeutung und zur Geschichte des Begriffs des Heiligen in der Religionsforschung: Carsten Colpe, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung

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Debatten wie sie beispielsweise zwischen Romain Rolland und Sigmund Freud über das Gefühl des ›Ozeanischen‹ geführt wurden,8 festgestellt werden. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass in der Religionsformel Schleiermachers zumindest die implizite Aufforderung zur vergleichenden Religionsforschung angelegt ist; zumindest wurde in und mit der Schleiermacher-Rezeption eine anthropologische Konstante namens Religion zur Diskussion freigegeben. Diese besagt, dass der religiösen Dimension des Menschen notwendigerweise etwas ihn wesenhaft Übersteigendes korrespondiere: eine transzendente Dimension (das Göttliche, Heilige, Numinose, Ozeanische). Diese dimensionale Relationierung des Menschen bestimmte unter anderen Religionsbestimmungen nun wesentlich den europäischen Blick auf die unterschiedlichen Religionen mit. Schleiermachers Reden hatten demnach trotz ihrer Formalisierung und, oberflächlich gesehen, theologiefernen Formulierungen deutliche Folgen für die sich etablierende vergleichende Religionswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber hatten sie auch schon eine Idee derselben? Aus dieser Sicht könnte bereits behauptet werden, dass mit der Rezeption oder der unterschwelligen Wirkungsgeschichte Schleiermachers ein einheitlicher Blick auf die Vielheit der ›Religionen‹ generiert und somit eine bestimmte Art von Religionswissenschaft ermöglicht wurde. Allerdings stellt sich weiterhin die Frage, ob die Wirkungsgeschichte dieser Idee noch mit der Position und damit der Wesensbestimmung von Religion übereinstimme, wie sie von Schleiermacher selbst in seinen Reden intendiert wurde? Eine zusätzliche Leseweise der fünften Rede legt allerdings eine Verneinung dieser Frage nahe. Daher müssen die Kerngedanken der zweiten Rede und anschliessend die komparativen Momente der fünften Rede herausgearbeitet werden, um die angedeutete Wirkungsgeschichte in ihrer Differenz zu Schleiermachers Gesamtintention der Reden besser aufzeigen zu können. Schleiermacher setzt in der Beschreibung der Religion mit einer neuen Begrifflichkeit ein: Er stellt Gefühl und Anschauung auf der einen Seite und das Universum und das Unendliche auf der anderen Seite im Sinne einer Grundunterscheidung gegenüber und vereint zugleich beide als Religion. Die zweite Rede besteht 1. in der begrifflichen Bestimmung dieses Verhältnisses und 2. in der Plausibilisierung durch die Beschreibung seiner sinnlichen Erfahrungsdimension, zu der er auf Topoi christlicher Brautmystik zurückgreift. Beides kann er nur im raum-zeitlich konkreten Individuum verorten, was (von dieser Grundunterscheidung und deren sinnlichen Erscheinung her konzipiert) ihm erlaubt, der Religion eine individual-anthropologische Dimension zuzuschreiben und diese zugleich in eine Formel zu fassen. Hierzu können die zentralen und bekannten Textstellen angeführt werden: »Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Gränzen aufs genaueste

8

kritisch vorzubeugen, Frankfurt am Main 1990. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Ders., Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt am Main (1930) 1994, 31–33.

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bestimmen laßen. Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem lezteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird.«9

Die hier betonte Tätigkeit drückt eine Relationalität aus, die als das zentrale und formale Moment in Schleiermachers Religionsbestimmung fungiert. Nicht die eine und nicht die andere Seite der Unterscheidung, sondern das Moment, in dem beide (Anschauung und Universum) im einzelnen Menschen zusammenkommen, wird als Formel der Religion konzipiert. Hiermit ist die Vergleichbarkeit aller Phänomene, auf die diese Formel passt, konstituiert und damit für den weiteren Gedankengang vorgegeben. Zudem ist die Pluralität der religiösen Phänomene bereits implizit mit konzipiert, aber nur, insofern sie sich dieser Formel und deren weiteren Ausformulierung fügen. Mit dieser Religions-Formel könnte auch in einem allgemeinen Verständnis von Wissenschaft ein Gegenstandsbereich der Forschung konstituiert worden sein. Geht es um die Idee einer Wissenschaft, die sich dem Gegenstand Religion zuwendet, muss diese Idee zunächst und in erster Linie eine deutliche Bestimmung des ›religiösen‹ Gegenstandsbereichs vornehmen. Geht es um eine vergleichende Wissenschaft, muss der Gegenstand darüber hinaus so konzipiert sein, dass er zu einem tertium comparationis taugt. Die Reichweite dieses Vergleichspunktes ergibt sich aus dem Grad seiner Formalisierung, wenn diese in der Lage sein soll, differente Phänomene desselben zu erfassen. Schleiermacher erreicht dies nun auf eine Art, dass er das konkrete Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie es in der jüdisch-christlichen Tradition unterschiedlich bestimmt wurde, auf eine formale Beschreibung reduziert und damit zur Grundlage einer Wesensbestimmung der Religion, die genau dieses Verhältnis umfasst, werden lässt. Schleiermacher vermeidet zwar weitgehend (insbesondere in der zweiten Rede) eine explizite theologische Sprachregelung zur Konstituierung dieses Bereichs, behält aber das theistische Strukturmoment der Differenz von Gott und Mensch bei und verwendet in Bezug auf den Begriff des Universums eine Offenbarungssprachlichkeit, die das Konzept einer ›kontinuierlichen Offenbarungstätigkeit‹ nahelegt: »das Universum ist in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick.« Deutlicher noch wird die theistische Engführung dieses relationalen Verhältnisses einige Zeilen später: »Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drückt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus«.10 Es geht hierbei nicht um das Ganze selbst, sondern um seine relationale Konstituierung. Die Reden können nach der religionstheoretischen Beschreibung religiöser Kommunikation, wie sie Niklas Luhmann vorschlägt, als ein mögliches Programm der grundlegenden Kommunikationscodierung in der Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz und damit als religiöse Kommunikation rekonstruiert werden.11 Zwischen beiden Polen der Differenz beginnt nun ein (kommunikativer) Prozess, der seitens des 9

Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin /New York (1799) 1999, 81–82 [213–214]. 10 AaO. 82 [214]. 11 Vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, 53–114.

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Anschauenden (Menschen) als Aufnehmen, Zusammenfassen und Begreifen charakterisiert wird und seitens des Angeschauten als Einflussnahme. Die Priorität des Verhältnisses liegt im Angeschauten, im Universum, weswegen es zunächst eine asymmetrische Unterscheidung zu sein scheint. Allerdings wird die weitere Bestimmung dieser Unterscheidung aus der Seite der Immanenz heraus beobachtet, da die Transzendenzseite nur durch den Eintritt in die Immanenz wirken und als solche beobachtet werden kann. So wird aus der Immanenzseite eine unendliche und ungebrochene Tätigkeit der Transzendenzseite in Bezug auf die Immanenz postuliert und damit bezüglich der Handlungsbeziehungsweise der Tätigkeitsdimension die Priorität (und damit die Ursache der Unterscheidung) in die Transzendenzseite verlegt: »Wenn die Ausflüße des Lichtes nicht – was ganz ohne Eure Veranstaltung geschieht – Euer Organ berührten, [. . . ], so würdet Ihr nichts anschauen und nichts wahrnehmen, und was ihr also anschaut und wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch. Was Ihr über jene wißt oder glaubt, liegt weit jenseits des Gebiets der Anschauung.«12 Damit beschränkt Schleiermacher aber Religion (als Gefühl und Anschauung) auf die Seite der Immanenz: Thema oder (in seiner Sprache) Wesen der Religion ist immer nur die Anschauung des Eintritts des Transzendenten in die Immanenz, die Spiegelung des Ewigen im Zeitlichen, die des Unendlichen im Endlichen oder eben des Universums im anschauenden Menschen. Religionen formulieren aber auch die Seite der Transzendenz aus, wollen qua Phantasie und Immagination in das Ganze (die Identität) der Unterscheidung vorstossen. Das lehnt Schleiermacher deutlich ab: »was aber darüber hinaus will, und tief hinein dringen in die Natur und Substanz des Ganzen ist nicht mehr Religion, und wird, wenn es doch noch dafür angesehen werden will, unvermeidlich zurücksinken in leere Mythologie.«13

Religion umfasst also bei Schleiermacher einen spezifischen und engen Bereich, der sich auf die zitierte Formel konzentrieren lässt und diese auch als Abgrenzungskriterium anführen kann. Religion hört dort auf, wo leere Mythologie beginnt, wenn diese behauptet, tiefer in das Ganze eindringen zu können, als es die Bestimmungen Schleiermachers vorsehen. Damit konstituiert er zugleich ein Korruptions-Kriterium, das zeigt, wo sein Interesse in der Konzipierung von Religion liegt: eben nicht in den vielfältigen Erscheinungsformen, sondern in der Selbigkeit des Verhältnisses von Anschauung und Universum. Diesen Bestimmungen widmet er seine weitere Aufmerksamkeit: »Nur denkt nicht – dies ist eben einer von den gefährlichsten Irrthümern – daß religiöse Anschauungen und Gefühle auch ursprünglich in der ersten Handlung des Gemüths so abgesondert sein dürfen, wie wir sie leider hier betrachten müßen. Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind.«14

In Ablehnung der Kantischen Position stellt er die sinnliche Grundierung der Anschau12 Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 82 [214]. 13 AaO. 82 [214]. 14 AaO. 89 [221].

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ung bestimmend in den Mittelpunkt und desavouiert mit begrifflichen Mitteln die Bedeutung des Begriffs für die Bestimmung des Wesens von Religion, denn es gründe diese Anschauung des Universums im Gefühl, das ihr erst die rechte Kraft verschaffe. Damit bestimmt Schleiermacher von vornherein den Kern des Wesens der Religion, nämlich den wie ein Prinzip alle weiteren Entwicklungen begleitenden Ursprung, in dem prozessual im Individuum, aber auch in der Geschichte Religion ihren konkreten Anfang nimmt. Genau mit diesem Punkt, den er in den Reden als Moment oder Augenblick beschreibt, baut er auch den möglichen Vergleichspunkt für seine späteren Überlegungen auf: Es ist ein Moment, das den Kern auch der Religionsbildung ausmache und um den sich notwendigerweise und diesen zugleich verschleiernd Anschauung und Gefühl legten. Jeder dieser Momente, die ihm vorschweben, sind also in die Anschauung eingebunden, die wiederum weitere Sichtweisen erlaubt. Der Grund der Pluralität der Religionen liegt also genau hier begründet: in einem geheimnisvollen Augenblick, der die Momente der Grundunterscheidung zusammenfügt und der nur als ein individueller, als einer eines einzelnen Menschen denkbar ist. Allen diesen möglichen Anschauungen, die sogar jeder sinnlichen Wahrnehmung zugrunde liegen, die auf den geheimnisvollen Augenblick zurück gehen, liegt in ihrer potentiell unendlichen Vielfalt das gleiche begrifflich bestimmte Strukturschema zugrunde, die Formel der Religion. Hier nun ein ausführliches Zitat mit der zentralen und entscheidenden Stelle in der zweiten Rede: »Jener erste geheimnißvolle Augenblick, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind, ehe noch beide an ihren ursprünglichen Platz zurückkehren – ich weiß wie unbeschreiblich er ist, und wie schnell er vorüber geht, ich wollte aber ihr könntet ihn festhalten und auch in der höheren und göttlichen religiösen Thätigkeit des Gemüths ihn wieder erkennen. Könnte und dürfte ich ihn doch aussprechen, andeuten wenigstens, ohne ihn zu entheiligen! Flüchtig ist er und durchsichtig wie der erste Duft womit der Thau die erwachten Blumen anhaucht, schamhaft und zart wie ein jungfreulicher Kuß, heilig und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung; ja nicht wie dies, sondern er ist alles dieses selbst. Schnell und zauberisch entwickelt sich eine Erscheinung eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums. So wie sie sich formt die geliebte und immer gesuchte Gestalt, flieht ihr meine Seele entgegen, ich umfange sie nicht wie einen Schatten, sondern wie das heilige Wesen selbst. Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblicke mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen. Die geringste Erschütterung, und es verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich meße sie, und sie spiegelt sich der offnen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl aus dem Innern empor, und verbreitet sich wie die Röthe der Scham und der Lust auf seiner Wange. Dieser Moment ist die höchste Blüthe der Religion. Könnte ich ihn Euch schaffen, so wäre ich ein Gott – das heilige Schicksal verzeihe mir nur, daß ich mehr als Eleusische Mysterien habe aufdecken müßen. – Er ist die Geburtsstunde alles Le-

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bendigen in der Religion. Aber es ist damit wie mit dem ersten Bewußtsein des Menschen, welches sich in das Dunkel einer ursprünglichen und ewigen Schöpfung zurückzieht, und ihm nur das hinterläßt, was es erzeugt hat. Nur die Anschauungen und Gefühle kann ich Euch vergegenwärtigen, die sich aus solchen Momenten entwickeln.«15

In diesen Worten spricht sich der Kern der Religion in den Reden aus und wird als Ziel einer Ursprungserforschung zum Ausdruck gebracht. Religion wird aus dem Geist einer auf das Anschauungssubjekt bezogenen Mystik bestimmt. Nicht nur die sprachlichen Metaphern und Anleihen bei der christlichen Mystik, sondern die mystischen Formen der Religion selbst werden zum Maßstab der Bestimmung von Religion. Eine der Folgen der Schleiermacher-Rezeption in der Religionswissenschaft war schliesslich die Fokussierung auf mystische Phänomene und Texte. Es ergibt sich hieraus auch ein Massstab zur Einordnung religiöser Phänomene, der bei Schleiermacher ebenfalls vorgeprägt wurde und der auf eine Ablehnung beziehungsweise Geringschätzung äusserlicher Erscheinungsformen der Religionen hinauslief, zu denen Mythologien genauso zählen wie Moral oder Metaphysik. Spätere religionsphilosophische und religionsphänomenologische Positionen, die der religiösen Toleranz nach Massgabe einer ursprungsbezogenen Einheitsmystik das Wort redeten und die Konfliktpotentiale zwischen des Religionen als Folge von deren moralischen und intellektuellen Institutionalisierungsformen und -folgen sahen, sind bei Schleiermacher vorweggenommen und vorgeprägt worden: »Worüber denn in der Religion hat man gestritten, Parthei gemacht und Kriege entzündet? Über die Moral bisweilen und über die Metaphysik immer, und beide gehören nicht hinein. [...] Die Systemsucht stößt freilich das Fremde ab, sei es auch noch so denkbar und wahr, weil es die wohlgeschloßnen Reihen des Eigenen verderben, und den schönen Zusammenhang verderben könnte, indem es seinen Platz forderte; in ihr ist der Siz der Widersprüche, sie muß streiten und verfolgen; denn in so fern das Einzelne wieder auf ein Einzelnes und Endliches bezogen wird, kann freilich Eins das Andere zerstören durch sein Dasein; im Unendlichen aber steht alles Endliche ungestört neben einander, alles ist Eins und alles ist wahr.«16

Das Individuationsprinzip ist zugleich Ursache der Pluralität der Religionserscheinungen und ihrer Systematisierungen wie auch ihrer Widersprüche, aber es ist letztlich schon nicht mehr im Kernbereich des Verhältnisses zu sehen, das Religion eigentlich vom Wesen her ausmacht. Und es läuft schon an dieser Stelle deutlich auf eine Konzeption hinaus, die davon ausgeht, dass Religion im engeren Sinne genau dort aufhört, wo die Religionen in ihren allgemeinen äusseren Erscheinungsbild her beginnen. Religionsstreitigkeiten ergeben sich nicht aus dem religiösen Verhältnis heraus, das ja im Unendlichen gründet, sondern aus den individuierten Korruptionsgestalten desselben. Diese Korruptionsgestalten, die wohl den grössten Teil religiöser Phänomene ausmachen, liegen für Schleiermacher schon hinter dem eigentlichen, geheimnisvollen Moment und dessen Anschauung und fallen auch hinter diesen ›mystischen‹ Kern notwendig zurück. Man kann also, was bei der fünften Rede näher zu sehen ist, davon ausgehen, dass es 15 Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 89–90 [221-222]. 16 AaO. 85 [217].

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zwei Formen der Pluralität gibt, eine notwenige und primäre, die mit der Individuation in der religiösen Formel gegeben ist, und eine sekundäre und letztlich unheilsame, die sich aus den raumzeitlichen Verfallsformen der ursprünglichen Pluralität ergibt. Wäre Schleiermacher Religionsforscher geworden, hätte er sich wohl auf die primäre Form der Pluralität konzentriert, an der er auch ein ›unendliches Interesse‹ hatte, nicht aber auf die sekundären Korruptionsgestalten. Die in der zweiten Rede vorgenommene Wesensbestimmung von Religion erlaubt zumindest die These, dass hiermit die Idee eines allgemeinen Zugangs zur Religion, also zu all dem, was als Religion aus dieser Wesensbestimmung heraus angesehen werden kann, grundgelegt wurde. Und damit ist auch ein Zugang zur primären und notwendigen Ebene der Religionsvielfalt, die eine Vielfalt der individuellen Anschauungen des Universums ist, gegeben. Dieser Zugang bleibt aber ein ›religiöser‹ im reflexiven Sinne der konstitutiven Selbstbestimmung und Setzung ›religiöser Reden über Religion‹. Sprache, Zugang, Gegenstandkonstituierung und Methode sind nicht die einer distanzierten Religionswissenschaft. Eine Wissenschaft zu begründen, war also nicht die Absicht Schleiermachers, sondern seine Religionsreden sind motiviert durch die Abwehr der Vernachlässigung des Religionsthemas, durch die Abgrenzung zu Religionsbestimmungen wie derjenigen Kants, die am Denken und Handeln ansetzten, und auch zu allen Theorien einer natürlichen Religion. Absicht war letztlich aber die Palingenesie des Christentums unter dem Vorzeichen von ›Religion‹ ›herbeizureden‹. Verbunden mit dieser Individualisierung war von vornherein die Frage, wie viele Religionen sich aus diesem Konzept einer primären Religionsvielfalt ergeben und wie sich diese Idee zu den positiven Religionen, insbesondere zu dem Christentum verhalte. Diese Fragen nimmt er explizit in der fünften Rede auf, die entsprechend »Über die Religionen« überschrieben ist. Nachdem er die »Idee, welche ich Euch gemacht habe vom Innern der Religion« als einer »uns allen innewohnenden Anlage« vermittelt hat,17 will er nun das Ziel des Unternehmens offenlegen: »Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hinführen; ich will Euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat und in oft dürftiger Gestalt unter den Menschen erschienen ist; in den Religionen sollt ihr die Religion entdecken, in dem, was irdisch und verunreinigt vor Euch steht die einzelnen Züge derselben himmlischen Schönheit aufsuchen, deren Gehalt ich nachzubilden versucht habe.«18

Der gegenwärtige Zustand sei gekennzeichnet durch die Vielheit der Religionen (und auch der Kirchen), die trotz ihrer Absonderung unendlich miteinander verbunden seien. Die Einheit dieser Vielfalt hat Schleiermacher zuvor beschrieben, weswegen sich ein Pluralismus der Religionen ergibt, der einerseits unhintergehbar ist, andererseits durch die zugrunde liegende ›Religion‹ von vornherein aufgehoben, überwunden und zudem trotzdem notwendig sei. Er schreibt: »so habe ich überall die Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas Notwendiges, und Unvermeidliches 17 Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 161 [293]. 18 AaO. 162 [294].

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vorausgesetzt.«19 Er formuliert auch: »So habe ich die Mehrheit der Religionen vorausgesetzt, und eben so finde ich sie im Wesen der Religion gegründet.«20 Die Religion könne niemand ganz haben, da sie im Gegensatz zum endlichen Menschen unendlich sei. Nun könnte auch hier die Frage gestellt werden, ob damit die Idee oder das Programm einer vergleichenden Religionswissenschaft angesprochen sei und ob Schleiermacher sich durch die Vielheit der positiven Religionen bestimmen lasse oder vielmehr diese aus seiner Wesensansicht heraus bestimme. Die weitere Entwicklung des Gedankengangs zeigt jedoch, dass Schleiermacher eigentlich kein explizites Interesse an anderen positiven Religionen zeigt, ausser an den christlichen. Da die Religion selbst ihrem Wesen nach als etwas »Unendliches und Unermeßliches«21 dem menschlichen Zugriff enthoben ist, bedarf es sozusagen der Figuren der Vermittlung, die »Umhüllungen« der Religion seien, die im »Vergänglichen« das Religiöse verstecken und entstellen. Dieses Individuationsprinzip führt also unabdingbar eine Pluralisierung des Unendlichen im Endlichen mit sich. Auch wenn das Wesen der Religion hinter den positiven Ausprägungen konstitutiv prägend sei, so sind doch die Prägungen selbst immer nur als vielfältige Brechungen desselben zu begreifen. Er kann daher über die »vorhandenen bestimmten religiösen Erscheinungen«, die »positive Religionen« genannt werden, schreiben: »Wollt Ihr von der Religion nicht nur im Allgemeinen einen Begriff haben [. . . ], wollt Ihr sie auch in ihrer Wirklichkeit und in ihren Erscheinungen verstehen: wollt ihr diese selbst mit Religion anschauen als ein ins Unendliche fortgehende Werk des Weltgeistes: so müßt Ihr den eitlen und vergeblichen Wunsch, daß es nur Eine geben möchte, aufgeben, Euren Widerwillen gegen ihre Mehrheit ablegen und so unbefangen als möglich zu allen denen hinzutreten, die sich schon in den wechselnden gestalten und während des auch hierin fortschreitenden Laufes der Menschheit aus dem ewigen reichen Schooß des Universums entwickelt haben.«22

Das hiermit angesprochene ›Forschungsprogramm‹ der Anschauung nun nicht des Universums, sondern der Anschauung von dessen Anschauungsformen, also den Religionen, könnte nun als ein vergleichendes ›Religions-Forschungsprogramm‹ verstanden werden. Ausgangspunkt sind bei Schleiermacher aber nicht die Religionen, wie sie historisch gegeben sind, sondern wie sie nach dem durch Schleiermacher vorgegebenen Kriterium überhaupt erst als Religionen erscheinen. Die Potentialität zu einer komparativen Forschung ist allerdings, abzüglich dieser Einschränkung, deutlich ausgesprochen und auch Anstoss zu möglichen Missverständnissen hinsichtlich des Status dieser ›positiven‹ Ausgangslage. Denn Schleiermacher führt diese Idee nicht weiter an den einzelnen positiven Religionen aus, da diese ihn nicht ›unendlich‹ wie die Religion selbst interessieren. Und doch fordert er, dass die Religion »in den bestimmten gestalten anzuschauen [sei], in denen sie schon wirklich erschienen ist, und ihr müßt vielmehr diese um so lieber Eurer 19 20 21 22

Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 162 [294]. AaO. 163 [295]. AaO. 164 [296]. Ebd.

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Betrachtung würdigen, je mehr das Eigentümlichste und Unterscheidende der Religion in ihnen ausgebildet ist«.23 Schleiermacher betont mehrfach die Differenz zwischen den positiven Konkretionen der Religion, die sich notwendig daraus ergeben, dass das »Unendliche eine unvollkommene und beschränkte Hülle annimmt und in das Gebiet der Zeit und der allgemeinen Einwirkung endlicher Dinge, um sich von ihr beherrschen zu lassen, herabsteigt.«24 Von daher fordert er zu einer vergleichenden Betrachtung der positiven Religionen auf, impliziert also eine vergleichende Religionsbetrachtung – wenn auch nicht Religionswissenschaft – aus der Notwendigkeit, in ein künftiges Zeitalter der Religion einzutreten, um die bestehenden und alten Religionen zu studieren: »Ich lade Euch ein, jeden Glauben zu betrachten, zu dem sich Menschen bekannt haben, jede Religion, die Ihr durch einen bestimmten Namen und Charakter bezeichnet, und die vielleicht nun längst ausgeartet ist in einen Kodex leerer Gebräuche, in ein System abstrakter Begriffe und Theorien, und wenn Ihr sie an ihrer Quelle und ihren ursprünglichen Bestandteilen nach untersucht, so werdet Ihr finden, daß alle die toten Schlacken einst glühende Ergießungen des inneren Feuers waren, das in allen Religionen mehr oder minder enthalten ist von dem wahren Wesen derselben, wie ich es Euch dargestellt habe; das jede eine von den besonderen Gestalten war, welche die ewige und unendliche Religion unter endlichen und beschränkten Wesen notwendig annehmen musste.«25

Der geforderte Zugang ist widersprüchlich, da einerseits darauf hingewiesen wird, dass die Reden nicht der Ort eines solchen Studiums sein können, da man dazu das Studium eines Lebens bräuchte, Schleiermacher also das genaue Vorgehen nicht demonstriert, er aber andererseits Orientierung in diesen »unendlichen Chaos« ermöglichen wolle, damit seine Hörer »ohne durch gemeine Begriffe verführt zu werden, nach einem richtigen Maaßstabe den wahren Gehalt und das eigentliche Wesen der einzelnen Religionen abmessen und nach bestimmten und festen Ideen das Innere von dem Äußerlichen, das Eigene von dem Erborgten und Fremden, das Heilige von dem Profanen scheiden mögt: so vergeßt fürs erste jede einzelne und das, was für ihr charakteristisches Merkmal gehalten wird, und sucht von innen heraus erst zu einer allgemeinen Idee darüber zu gelangen, was eigentlich das Wesen einer bestimmten Form der Religion ausmacht, so werdet Ihr finden, daß gerade die positiven Religionen diese bestimmten Gestalten sind, unter denen die unendliche Religion sich im Endlichen darstellt«.26

Nach einer ablehnenden Nebenbemerkung zur natürlichen Religion, betont er, »daß in jenen allein eine wahre individuelle Ausbildung der religiösen Anlage möglich ist, und daß sie, ihrem Wesen nach, der Freiheit ihrer Bekenner darin keinen Abbruch tut.«27 Die Idee zu einer Religionsforschung ist hier deutlich ausgesprochen, aber sie nimmt wiederum nicht ihren Ausgang bei den positiven Religionen und deren Selbstverständnis, sondern bei der Religionskonstituierung, wie sie Schleiermacher selbst vornimmt: 23 24 25 26 27

Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 165 [297]. AaO. 166 [298]. Ebd. Ebd. AaO. 167 [299].

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»Weil nämlich jede Anschauung des Unendlichen völlig für sich besteht, von keiner anderen abhängig ist und auch keine andere notwendig zur Folge hat; weil ihrer unendlich viele sind und in ihnen selbst gar kein Grund liegt, warum sie so und nicht anders eine auf die andere bezogen werden sollten, und dennoch jede ganz anders erscheint, wenn sie von einem andern Punkt aus gesehen oder auf eine andere bezogen wird, so kann die ganze Religion unmöglich anders existiren, als wenn alle diese verschiedenen Ansichten jeder Anschauung, die auf solche Art entstehen können, wirklich gegeben werden; und dies ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedener Formen, deren jede durch das verschiedene Princip der Beziehung in ihr durchaus bestimmt und in deren Jeder derselbe Gegenstand ganz anders modificirt ist, das heißt, welche sämmtlich wahre Individuen sind.«28

Was bestimmt und was unterscheidet die Individualgestalten der Religion? Das ist die Fragestellung Schleiermachers, die dementsprechend seine eigene Idee einer vergleichenden Religionsbetrachtung (um dezidiert nicht Religionswissenschaft zu sagen) nach sich zieht. Ihn interessiert explizit nicht die Differenz, die Vielfalt der Religionen an sich, sondern das »Gemeinschaftliche in ihren Bestandteilen«, das, was »sie zusammenhält, oder das Anziehungsprinzip, dem sie folgen«.29 Hierin ist Schleiermachers Idee einer identifizierenden Religionshermeneutik ausgesprochen, die von den Differenzen zunächst absieht. Religionsindividuen bestehen nicht in der Quantität oder in der Kombination ihrer Anschauungen und Gefühle, da diese einzelnen Ansichten »beweglich und fließend« seien. Auch interessieren Schleiermacher nicht die drei Arten der Religion, die nichts als die Einteilung in drei Arten der Anschauung wiedergeben: der Anschauung des Universums als Chaos, als System und als elementarische Vielheit. Auch die Einteilung nach Gottesvorstellungen wie Pantheismus, Deismus usw. ergebe nur Arten, aber keine Religionsindividuen. Schleiermacher kommt es auf die »Centralanschauung«30 an, darauf, »daß irgend eine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkühr [...] zum Zentralpunkt der ganzen Religion gemacht und Alles darin auf sie bezogen wird.«31 Eine Individualgestalt und deren Anhänger (»die Gemeinschaft aller Theilhaber«) von Religion ist also abhängig von demjenigen, »der zuerst ihre Religion gestiftet hat, weil er zuerst jene Anschauung im Mittelpunkt der Religion sah.«32 Geht man von den Augenblicken aus, die Schleiermacher zugrunde legt, dann eröffnet sich ein Feld unendlicher Forschung desselben Moments in seinen unendlich vielen individuellen Konkretionen, wird je neu die »Religiosität in Rücksicht der unendlichen religiösen Anlage der Menschheit als ein ganz eigenes und neues Individuum zur Welt gebracht.«33 Wenn Schleiermacher die vergleichende Erforschung der Religion vor Augen steht, dann bezieht sie sich auf dieses Feld: »Ein unendliches Feld ist eröffnet in jeder dieser Religionen, worin Tausende sich zerstreuen mögen; unbebaute Gegenden genug werden sich dem Auge eines jeden darstellen, der 28 29 30 31 32 33

Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 167 [299]. Ebd. AaO. 172 [304]. AaO. 171 [303]. AaO. 172 [304]. AaO. 173–174 [305–306].

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etwas Eigenes zu schaffen und hervorzubringen fähig ist, und heilige Blumen duften und prangen in allen Gegenden, wohin noch keiner gedrungen ist, um sie zu betrachten und zu genießen.«34

Es ist also kein wissenschaftliches, sondern ein religiöses Programm, das seine vergleichenden Betrachtungen motiviert und zugleich begleitet. Die Religionsindividuen, also die Positivierungen der Religion in den Individuen, werden in der Sprache organischen Wachstums beschrieben; es ist von Geburtsstunden der eigenen Religion und Kindheit die Rede und Schleiermacher übernimmt nun zunehmend bekannte christliche Terminologien: er redet von Gottheit und Seele, vom Allerheiligsten und von Offenbarung.35 Er verweist nun auch auf konkrete Gestalten der Religionen: auf Stimmungen und Affekte, Reize und Stufen der Empfänglichkeit, auf Märtyrer, Heroen und Verehrer des Lichts sowie auf individuelle Offenbarung.36 Zur Erforschung dieser Religionsgestalten ruft er auf, aber immer mit dem Hinweis auf die richtige Einstellung, nämlich dass »Religion nur durch sich selbst verstanden werden« können.37 Unter diesem Vorzeichen einer tautegorischen Forschungsperspektive interessiert sich Schleiermacher letztlich nicht für die Religionen, sondern für die Religion in den Religionen. Gleichgültig steht er den anderen, den ›konkreten‹ historischen und gegenwärtigen (nichtchristlichen) Religionen gegenüber, es ist eben nicht deren Vielfalt, die er zu studieren postuliert: »Wie es Euch glücken mag, die rohen und ungebildeten Religionen entfernter Völker zu entziffern oder die vielerlei religiösen Individuen auszusondern, welche in der schönen Mythologie der Griechen und Römer eingewikelt liegen, das läßt mich sehr gleichgültig – mögen ihre Götter Euch geleiten; aber wenn Ihr Euch dem Allerheiligsten nähert, wo das Universum in seiner höchsten Einheit angeschaut wird, wenn Ihr die verschiedenen Gestalten der systematischen Religion betrachten wollt, nicht die ausländischen und fremden, sondern die, welche unter uns noch mehr oder minder vorhanden sind: so kann es mir nicht gleichgültig sein, ob Ihr den rechten Punkt findet, von dem Ihr sie ansehen müßt.«38

Schleiermacher interessiert sich einzig und allein für die interne Systematisierung und individuelle Pluralisierung seiner eigenen Wesensbestimmung von Religion: Konkrete Religionen sind die ausländischen und fremden Religionen, die positiven Religionen hingegen sind die Individualgestalten der eigenen Religion – also letztendlich nur des Christentums. Aus dieser Position ergibt sich keine vergleichende Religionsforschung (allenfalls eine vergleichende Christentumsforschung unter der Voraussetzung, dieses sei als Religion zu bestimmen) und eine vergleichende Religionswissenschaft schon gar nicht, sollte der Begriff der Religion auch nur einen Hauch an Konkretisierung im Bereich des Historischen anhaften sollen. Und doch redet er über eine »schon lange tote Religion«: den Judaismus. Es ist die einzige Religion – in einem ›konkreten‹ Sinne –, die er in den Reden über einige Sei34 35 36 37 38

Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 173 [305]. AaO. 175 [307]. AaO. 176 [308]. AaO. 182 [314]. Ebd.

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ten hin (wenn auch negativ konnotiert) behandelt beziehungsweise unter seinem Begriff von Religion betrachtet. Er fordert auf: »seht bloß auf das eigentlich Religiöse darin«, – und das heisst zu fragen: »welches ist die überall hindurchschimmernde Idee des Universums?«39 Er fragt nicht, was trägt das Judentum (oder eben der Judaismus) zur Idee der Religion bei, sondern, was ist nach der Massgabe der zweiten Rede, also nach der Formel von Anschauung und Universum, im Judentum die Idee von Religion. Diese Position kann auch anders formuliert werden: Wäre eine Idee des Universums nicht im Judentum zu finden, wäre es auch keine Religion, gehörte es nicht in die Religionsgeschichte hinein. Nicht von der Vielheit der Religionen in einem ›geläufigen‹ Sinne geht Schleiermacher aus, sondern von der Vielheit der Konkretisierungen seiner Religionsformel; – erst aus diesen Konkretisierungen ergibt sich ein Kriterium für positive Religionen, wenn diese den Namen laut Schleiermacher wirklich verdienen sollten. Findet er die Formel in einer historischen Konkretisierung wieder, kann er sie entsprechend einschätzen und beurteilen; so auch das Judentum: Hat es eine Idee des Universums? »Keine andere als die von einer allgemein unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen jedes einzelne Endliche, das aus der Willkür hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkühr hervorgehend angesehen wird.«40 Das sei die Zentralanschauung des Judentums, unter der alle religiösen Phänomene desselben stünden. Eine seit langem tote Religion? Ja, aber nicht das Judentum als Gemeinschaft oder in anderen Hinsichten. Nur unter dem Blickwinkel der Idee des Universums, also als Religion, sei das Judentum im Laufe der Geschichte, des Vorrückens »auf den Schauplatz der Welt« die »Darstellung dieser Idee« geworden. Nicht die Idee ist tot, sondern die spezifisch jüdische Darstellung derselben. »Der eingeschränkte Gesichtspunkt gewährte dieser Religion, als Religion, eine kurze Dauer.« Daraufhin folgt der bekannte Satz: »Sie starb, als ihre heiligen Bücher geschlossen wurden.«41 In den Reden geht es Schleiermacher nur um die Betrachtung sub specie religionis, wobei das Kriterium für Religion einzig mit seiner Bestimmung der Religion in der Formel der Anschauung des Universums gegeben ist. Die Selbstbeschreibung oder Selbstbestimmung von Religionen als Religionen, wie diese aus der ›konkreten‹ Religionsgeschichte zu rekonstruieren wäre, lässt diese in der Sicht Schleiermachers nicht von vornherein zu Individualgestalten dessen werden, was er als Religion und damit als ›positive‹ Religionen bestimmt. Und genau unter dieser Vorgabe wird die Apologie des Christentums als höchstem Ausdruck der Entsprechung zu seiner Religionsformel eingeführt. Aus diesem Grund steht das Christentum am Ende der fünften Rede: »Herrlicher, erhabener, der erwachsenen Menschheit würdiger, tiefer eindringend in den Geist der systematischen Religion, weiter sich verbreitend über das ganze Universum ist die ursprüngliche Anschauung des Christenthums. Sie ist keine andere als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen«.42 39 40 41 42

Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 183 [315]. Ebd. AaO. 183–184 [183–184]. AaO. 184 [316].

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Die Potenzierung des Christentums zur Religion der Religion ist die systematische und historische Folge von Schleiermachers Religionsformel, die die anderen Religionen depotenziert und als solche, als Religionen, gar nicht mehr in den Blick geraten lässt: »Dieses, daß das Christenthum in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut, daß es die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet und so gleichsam eine höhere Potenz derselben ist, das macht das Unterscheidendste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form.«43

Anders ausgedrückt: nach Schleiermacher ist das Christentum auch erst dann Religion (im Sinne seiner Formel), wenn es als Religion der Religion, nicht aber als Religion unter den historischen Religionen, sondern als Religion der Religionsindividuen auftritt. Nur diese ›christlichen‹ Religionsindividuen, als individuelle Formen der Anschauung des Universums verstanden, sind auch mögliche positive Religionen. Hinsichtlich des Christentums und auch der anderen Religionen geht er nicht von deren Erscheinungsformen aus, sondern die Erscheinungsformen unterwirft er dem Kriterium seiner Formel für Religion. Dem Wesen von Religion entspricht nicht alles, was sich selbst Religion schimpft, sondern nur das, was sich in die Formel fügt. Und das Christentum entspricht – nach der Einschätzung Schleiermachers – im grössten Masse diesem Kriterium, weswegen er allein aus diesem Grund das Christentum der Irreligiosität, die von ihm vorausgesetzt wird, entgegenstellt und zwar in polemischer Hinsicht: Die Polemik ist das Verhältnis des wahren Christentums als Religion (immer im Sinne Schleiermachers) zu der Irreligiosität, die es umgibt. Denn es ist seine Aufgabe, »vor allen Dingen aber das irreligiöse Prinzip selbst überall [aufzudecken]. Ohne Schonung entlarvt es daher jede falsche Moral, jede schlechte Religion, jede unglückliche Vermischung von beiden«.44 Die von Schleiermacher geforderte Religion der Religion hat also eine Idee von Religion zum Massstab, die es insbesondere in polemischer Absicht erlaubt, wahre Religion von falscher, die dann auch nicht mehr den Namen Religion verdiene, zu scheiden. Das ist oder sei die Aufgabe des Christentums, insofern es zur Religion der Religion wird oder werden wolle. Die Pluralität der positiven Religionen ist daher nichts anderes als eine interne Pluralität des Christentums, und es wäre Aufgabe einer Christologie, die wahren Religionsindividuen, die es eben auch in den scheinbaren, den schlechten Religionen gebe, herauszudestillieren. Hierzu kann Schleiermacher dann den Vergleich einsetzen und fordert nicht mehr oder weniger als die Umsetzung der Idee eines Religionskomparatismus polemischen Zuschnitts, mit dem Ziel, die (eigene) Religion in den Religionen von den »irreligiösen Prinzip« zu trennen. Und das trifft selbstverständlich auch die Beurteilung der Christentümer als Religionen. Genauso wenig wie Schleiermacher von einem Religionspluralismus im heutigen Sinne ausgegangen ist, hatte er auch keine Idee von einer vergleichenden Religionswissenschaft im heutigen Sinne, die ja gerade nicht ein polemisches Verhältnis zur Ausscheidung des Irreligiösen aus der Religionsgeschichte anstreben darf. 43 Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 185 [317]. 44 AaO. 186 [318].

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Seltsamerweise wurde die Rezeption seiner Wesensbestimmung der Religion entgegen Schleiermachers Intentionen zum Ideengeber der entstehenden vergleichenden Religionswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. und auch noch ihrer Folgedisziplin der Religionsphänomenologie im 20. Jahrhundert. Und das liegt eventuell daran, dass das Missverständnis die Normalform des Verstehens auch in der Schleiermacher-Rezeption zu sein scheint.

2. Die Rezeption einer Religions-Religion: Schleiermachers religiöse Erblast in der Vergleichenden Religionswissenschaft Schleiermacher hatte in seinen Reden keine Idee einer Religionswissenschaft in historisch vergleichender Perspektive, insofern diese von den – unabhängig von Schleiermachers Wesensbestimmung der Religion – bestehenden Religionen ausgehen und diese zugleich anerkennen will. Und doch lässt sich zeigen, dass seine Wesensbestimmung siebzig Jahre später Folgen in der Gründungsvorlesung der vergleichenden Religionswissenschaft zeitigte, nämlich in der »Einleitung in die Vergleichende Religionswissenschaft«, die Friedrich Max Müller 1870 an der Royal Institution in London hielt.45 Müller bündelt die bisherigen Anliegen zu einer solchen Disziplin und geht nun scheinbar programmatisch von den gegebenen Religionen in ihrer Vielheit aus, zu denen auch die ›nichtpaganen‹ und ›nichtabrahamitischen‹ Religionen in all ihrer Vielfalt – aber insbesondere auch in Gestalt des am meisten Rätsel aufgebenden Buddhismus (eine atheistische Religion?, so fragt er) – von ihm gerechnet werden. Friedrich Max Müller nimmt diese Religionsgestalten aber mit Schleiermachers Religions-Anschauung in den Blick. Es besteht das Ziel auch für Müller darin, das »Wesen wahrer Religion«46 (und wer nur eine kenne, kenne keine – in Anlehnung an einen Spruch Goethes über die Sprachen),47 zu erforschen: jener »geistigen Anlage, welche den Menschen in den Stand setzt, das Unendliche unter den verschiedensten Namen und den wechselndsten Formen zu erfassen«, eine Anlage, die »im schroffsten Gegensatz zu Sinn und Verstand steht«.48 Er greift das Programm Schleiermachers in seiner Deutung auf und fordert neben der philosophischen Disziplin, die die sinnliche Wahrnehmung untersucht, und derjenigen, die das begriffliche Wissen erforscht, eine weitere, dritte Disziplin, »welche die Grundbedingungen der Wahrnehmung des Unendlichen oder jene Sehnsucht nach dem Unendlichen untersucht, welche die tiefste Quelle aller Religion ist.«49 Dieses sei die Aufgabe der vergleichenden Religionswissenschaft, die ihrerseits in zwei Bereiche zerfalle: in die Vergleichende Theologie, die sich mit den historischen Erscheinungen der Religion beschäftigt, und in die Theoretische Theologie, die die höchsten oder nied45 Es wird zitiert nach der frühen deutschen Ausgabe: Friedrich Max Müller, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. Vier Vorlesungen, Strassburg 1874. 46 AaO. 9. 47 AaO. 13–14. 48 AaO. 15. 49 AaO. 16.

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rigsten Entwicklungsphasen der Religion zu erklären habe.50 Es gehe um die kritische Sichtung der Religionsgeschichte, also darum, »in den Irrgängen anderer Religionen einen versteckten Plan zu entdecken«.51 Müllers komparatives Ziel ist ähnlich wie das der Religionsformel Schleiermachers, der sich von der Wirkung seiner Reden eine Erneuerung der »Palingenesie des Christenthums«52 erhoffte, also »jüngere Gestalten der Religion«: ein Christentum, das nicht nur »in sich [die] Mannigfaltigkeit [der Religion] bis ins Unendliche erzeugen, sondern sie auch außer sich anschauen« solle.53 Ziel ist also die Erneuerung des Christentums als »Religion der Religionen«54 bei Schleiermacher. Bei Friedrich Max Müller lautet das Ziel in Abwandlung der religionsreflexiven Position Schleiermachers: die Entwicklung einer letzten Wissenschaft von der Religion: »Die Religionswissenschaft mag die letzte der Wissenschaften sein, welche die Menschheit auszuarbeiten hat; ist sie aber erst ausgearbeitet, so wird sie der Welt einen neuen Anblick verleihen, ja selbst dem alternden Christentum ein neues Leben einhauchen.«55 Er wendet sich ebenfalls gegen die Abstraktion einer natürlichen Religion,56 wendet sich gegen das Dickicht der Mythologien und erklärt für die Erfassung einer Religion den Geist des Stifters für zentral,57 ebenfalls teilt er die Entwicklung von Religion in organische Wachstumsstufen, anhebend von der Kindheit, ein. So wie sich die Religionsanschuung bei Schleiermacher in seinem Verständnis der positiven Religionen nicht nur spiegelte, sondern dieses regierte, zeigt sich die Religiosität und der gleichzeitige prophetische Wissenschaftsanspruch Müllers nicht nur gespiegelt in seiner Wesensbestimmung der Religion als Wahrnehmung des Universums, sondern wird zum vergleichenden Programm seiner Suchbewegung nach den Religionsstiftern als den eigentlichen kreativen Einbruchsstellen in der Religionsgeschichte. Friedrich Max Müllers Programm wurde teilweise zum Programm der Religionsphänomenologien weiterentwickelt und übertrug im Medium der Rezeption die Grundstrukturen der Schleiermacherschen Religionsformel in die unterschiedlichsten Sprachspiele: als Differenz von Wesen und Erscheinung bei Friedrich Heiler beispielsweise oder in der Form eines Herunterbrechens der Schleiermacherschen Formel von der Anschauung des Universums auf die spätere und banalere Formel der Wesensbestimmung von Religion als einer antwortenden Begegnung des Menschen auf die Erfahrung des Heiligen bei Gustav Mensching. Andere Namen und deren paradigmatische Fortführung oder Anlehnung an Schleiermacher wären zu nennen: so Natan Söderblom, der sich explizit nach der Schleiermacher-Edition Rudolf Ottos in seiner Probevorlesung in Uppsala über die Bedeutung von Schleiermachers Reden für die Religion äußerte. Ebenso wäre zu erwähnen W. Brede Kristensens Neubestimmung der Religionswissenschaft, die 50 51 52 53 54 55

Müller (s. o. Anm. 45) 19. Aao. 36. Schleiermacher (s. o. Anm. 9) 193 [325]. Ebd. AaO. 193 [325]. Friedrich Max Müller, Essays. Erster Band: Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft, 2. Aufl., Leipzig 1879, XVII. 56 Müller, Einleitung (s. o. Anm. 45), 115. 57 AaO. 241: so in Bezug auf Buddha.

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sich an den Anschauungen der Gläubigen orientieren solle, und Kristensens Einfluss auf die Religionsphänomenologie Gerardus van der Leeuws, die mit einem verwässerten Husserlschen Begriff der Epoché eine adäquate Einstellung den Religionen gegenüber suchte.58 Der Marburger Theologe Heinrich Frick formulierte diesen Einfluss Schleiermachers in seinem Göschen-Band über Vergleichende Religionswissenschaft dadurch, dass er ihn zum ersten Hauptvertreter einer der Richtungen, nämlich der theologischphilosophischen Richtung der Religionswissenschaft erklärte, die »die in allen geschichtlichen Religionen wirksame und nur in solchen Erscheinungen wirkliche religiöse Grundhaltung aufzudecken« habe. Diese Grundhaltung spezifiziert er dann mit dem bekannten Schleiermacher-Zitat als: »das Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit und die Anschauung des Universums«.59 In der oben genannten Richtung der frühen Phase der vergleichenden Religionswissenschaft wird das von ihr gesuchte Vergleichbare als das religiös Identische in der Vielfalt der Religionen und der Religionsgeschichte bestimmt. Hier erweist sich die akademische Religionsforschung, die unter dem Namen der vergleichenden Religionswissenschaft oder der Religionsphänomenologie segelt, in ihrer Suchbewegung nach dem Wesen der Religion von Schleiermachers religiösen Idee der Religion, die selbst noch keine Idee einer vergleichenden Religionswissenschaft war, nicht nur angeregt, sondern weithin und weiterhin (insbesondere im deutschen und skandinavischen Sprachraum) bis in das 20. Jahrhundert hinein als geprägt und bestimmt. Sie tritt damit aber zugleich auch Schleiermachers religiöses, religionsstiftendes Erbe an. Die Folgen der Schleiermacher-Rezeption in der Religionswissenschaft führten letztlich dahin, dass ihr vergleichendes Programm das religiöse Suchprogramm Schleiermachers fortschrieb und die Religionswissenschaft damit selbst zum Teil der modernen religionsreflexiven Religionsgeschichte einer protestantisch akzentuierten »Religion der Religionen« wurde. Damit traten die Vergleichende Religionswissenschaft und die Religionsphänomenologie aber auch in Konkurrenz zur Theologie.

3. Blickwechsel: Die Religionsformel Schleiermachers aus der Sicht einer reflexiven komparativen Religionswissenschaft Bereits Wilhelm Dilthey wies in einem späten Aufsatz aus dem Jahr 1911 über »Das Problem der Religion« darauf hin, dass die grosse Entdeckung Schleiermachers in seinen Reden darin bestünde, einen genuinen Bereich des Religiösen herausgearbeitet zu haben: »Es gibt ein religiöses Erlebnis, das legitim, selbständig, ursprünglich und unzer58 Hinweise zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Schleiermachers und seiner Religionsformel finden sich bei Burkhard Gladigow, Friedrich Schleiermacher (1768–1834), in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, 17–27. Vgl. hierzu auch die ausführliche Magisterarbeit von Stephanie Gripentrog, Das Problem der Schleiermacher-Rezeption in der Religionswissenschaft. Zur Religionsgeschichte religionstheoretischer Konzepte, München 2005 (unveröffentlicht). 59 Heinrich Frick, Vergleichende Religionswissenschaft, Berlin 1928, 7.

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störbar im Seelenleben wirksam ist, und dieses Erlebnis ist der Ursprung aller Dogmen, Zeremonien und Organisationen gemeinsamen religiösen Lebens.«60 Wenn das die Entdeckung Schleiermachers gewesen sei (wenn auch vielleicht nicht seine Intention), dann eröffnete er hiermit einen vergleichenden Blick auf die unterschiedlichen Religionen, aber aus einem Blick heraus, der selbst wiederum abhängig ist von diesem religiösen Bereich selbst. Dilthey erkennt diesen aus dem Religiösen selbst und nicht aus dessen ›Erforschung‹ schöpfend(en) religionsstiftenden Charakter der Schleiermacherschen Reden als erster und am deutlichsten: »dies religiöse Erlebnis erhält in sich den Erklärungsgrund für die Mannigfaltigkeit der Religionen und den Rechtsgrund für ihre Legitimität. [...] In dieser mystischen Einheit des endlichen Menschen mit dem Unendlichen werden wir der Realität desselben inne. Wie die Einwirkungen auch nach Zahl und Verschiedenheit unendlich sind, und ebenso die Individuen und Stellungen, die diese Einwirkungen empfangen, so offenbaren sich im religiösen Erlebnis immer neue Züge des Universums. Unmöglich, sie in einem System zu vereinigen: es gibt keine universale Religion, und es gibt kein gültiges objektives System religiöser Sätze. Es gibt nur in den religiösen Genien eine innere Beziehung dieser religiös erfaßten Züge des Universums, und dieser Zusammenhang, in seiner ganzen Individualität und der Freiheit seiner Bestandteile zueinander ist die Religion: Dogmatik ist nur ihr sekundäres Produkt. Und wo auch Religion auftritt, erlebt sie die Realität des unendlichen, und jeder Zug desselben, der in ihr erlebt wird, ist religiöse Wahrheit. So ist der Schleiermacher der Reden nicht Religionsforscher, er ist nicht einmal als Theologe zu bezeichnen: er ist Verkünder einer neuen Religiosität.«61

Damit gehören Schleiermachers Reden in die Religionsgeschichte des 18./19. Jahrhunderts hinein. Mit ihm hebt ein neuer Typ von Religion an, nämlich die religiöse Selbstartikulation unter dem Fokus auf die individuelle Innerlichkeit eines (altbekannten) Verhältnisses von Mensch und Gott (so in der Sprachregelung der christlichen Tradition) oder eben von Anschauung und Universum (so in der erneuerten Schleiermacherschen Sprachregelung), also unter dem Fokus auf ein reflexives Verhältnis, das selbst zum Inbegriff dessen erhoben wird, was – und das ist das Neue – als Religion benannt wird. Und damit formuliert sich eine (protestantisch-subjetivitätstheoretische und potentiell wissenschaftskompatible) Intellektuellenreligion, die sich gerade im Medium des Religionsbegriffs zugleich reflektiert und artikuliert. Es setzt in der Nachfolge Schleiermachers ein religiöser Religionsdiskurs ein, der durch Reflexion und späterhin durch den Versuch der ›Verwissenschaftlichung‹ einer apologetisch gesetzten Wesensreligion gekennzeichnet ist. Dieser Diskurs muss zunehmend auf die Erfahrung von Pluralisierungsprozessen (der Konfessionen, Religionen und insbesondere der Weltanschauungen) reagieren, um diese aus dem Geist der eigenen religiösen Überzeugung überwinden zu können. Und selbst die vergleichende Religionswissenschaft, die sich mehr oder weniger explizit an Schleiermacher anlehnt, sucht nicht allein die ›positive‹ Anerkennung und distanzierte Erforschung der vielen Religionen, 60 Wilhelm Dilthey, Das Problem der Religion, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, Stuttgart/Göttingen (1911) 1978, 296. 61 AaO. 296–297.

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sondern immer zugleich auch die Überwindung dieser Pluralität der Religionen und die Apologie dessen, was als Wesen der Religion allen anderen Religionen, aus welchen Gründen diese auch immer als solche bezeichnet werden, unterstellt wird. Der Religionsvergleich dient in diesem Kontext der (nun so genannten) religiösen Selbstfindung und Selbstvergewisserung angesichts einer (eigentlich unerträglichen) Vielfalt und Diversifikation in den wahrgenommenen Erscheinungsformen der Religion(en). Nicht nur Schleiermacher, sondern die frühe Religionswissenschaft selbst gehören daher innerhalb der Religionsgeschichte ebenso wie innerhalb der Wissenschaftsgeschichte der Religionsforschung verortet und analysiert. Religionsgeschichte und Geschichte der sie beobachtenden Religionswissenschaft interferieren nicht nur, sondern sind enger ineinander verschlungen und verstrickt als es einigen recht sein mag – und zwar bis heute. Wilhelm Dilthey hat das bereits in Bezug auf Schleiermacher deutlich gesehen; aber auch den Rezipienten Schleiermachers, seinen gebildeten Nachfolgern kann Diltheys Satz über Schleiermacher ins Stammbuch geschrieben werden: »In ihm ist eine einzige Verbindung von prophetischem Erlebnis und wissenschaftlicher Kraft, die es sich zum Gegenstand macht. Darum ist seine Religionswissenschaft nicht aus dem objektiven Verständnis der objektivierten Religionen entsprungen, sondern aus der religiösen Produktivität selbst.«62

Mit anderen Worten: Zumindest im deutschsprachigen Raum entsteht die Idee der vergleichenden Religionswissenschaft nicht aus einem genuinen Interesse an der Vielheit der Religionen, sondern im Gegenteil aus dem Interesse an der religiösen Überwindung der Vielheit – aus diesem Grund konnte Schleiermacher ihr früher Lehrmeister werden. Der Tübinger Religionswissenschaftler Burkhard Gladigow begründet den Status Schleiermachers als religionswissenschaftlichen Klassiker dadurch, weil: »Er [. . . ] für diese Wissenschaft als erster so etwas wie die ›Autonomie der historischen Gegenstände‹ begründet (habe). Mit einer doppelten Argumentation: Nur in ihren historischen Konkretisationen lassen sich Religionen erfassen, und: Diese Konkretisationen sind notwendig, nicht zufällig.«63

Jedoch übersieht Gladigow hierbei, dass diese Konkretisationen bei Schleiermacher nur aus einem religiösen Kriterium und nicht aus einem wissenschaftlichen Kriterium gewonnen werden können. Es ist also ein Produkt kreativen (und damit hier: religionsproduktiven) Missverständnisses, wenn das erkenntnistheoretische Modell, das sich hinter Schleiermachers Religionsformel verbirgt, als Gegenstandskonstituierung eines nichtreligiösen, also wissenschaftlichen Gegenstandsbereiches aufgefasst wurde. Genau dieses Missverständnis beförderte die Entwicklung der späteren phänomenologischen Ansätze in der Religionswissenschaft, »geschichtliche Eigenart und geschichtliche Vielfalt der Religionen zum Forschungsgegenstand zu erheben«.64 Denn für Schleiermacher – und es muss betont werden: auch für die Religionsphänomenologie – war das keine aus sich 62 Dilthey (s. o. Anm. 60) 297. 63 Gladigow, Schleiermacher (s. o. Anm. 58), 17. 64 AaO. 25.

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selbst heraus gegebene Vielfalt, sondern immer nur eine interne historische Entfaltung eines zuvor durch die Wissenschaftler (sehnsüchtig) postulierten und durch dieses Postulat nachträglich konstituierten Wesens der Religion. Der vermeintliche Zugriff auf die Vielfalt der ›konkreten‹ historischen Erscheinungsformen war eine fromme Selbsttäuschung, die sich hinter der Formel von den »positiven« Religionen versteckte. Dieser Vorgang zeigt sich bereits bei Schleiermacher. Er setzt wie viele Religionstheorien notwendig zirkulär an und ein: Die Erfassung der Pluralität setzt die Bestimmung dessen voraus, zu dem es sich als Vervielfältigung verhält. Partikularität ist notwendig an die Einheit dessen gebunden, zu dem es sich als Partikularisierung verhält. Und das, was Schleiermacher vorgibt, ist sein Verständnis des Christentums, das er eben folgenschwer mit dem Begriff Religion besetzt. Dabei ging es ihm nicht um die Individualgestalten der Religionen, sondern um die Religion als Individualgestalten seiner Vision eines ›wahren‹ Christentums. Letzten Endes konstituierte er nicht die Religion der Religion (wie er formulierte), sondern die Religion eines Christentums, das von ihm in seiner ›religiösen‹ Konstitutionsgestalt mit dem Begriff Religion benannt und damit eingenommen und kolonialisiert wurde. Die christlichen Individualgestalten der christlichen Religion sind der Fokus, auf den die Vergleichsbefunde hinauslaufen. Deren Pluralität ist keine vorgefundene, sondern eine konstruierte, die der individuellen Innerlichkeit jedes einzelnen Christen und der individuellen (jedem einzelnen Menschen möglichen) Potentialität einer Anschauung des Universums beziehungsweise der Anlage zu jenem von ihm in der zweiten Rede eindrücklich beschriebenen mystischen Moment der Gotteserfahrung Rechnung trägt. Dieses Religionskonstrukt hat primär nichts mit der Pluralität der Religionen zu schaffen, von der heute in gesellschaftlicher und kultureller Perspektive ausgegangen wird und darf mit dieser auch nicht verwechselt werden. Daher ist weder bei Schleiermacher noch bei seinen religionswissenschaftlichen Nachfolgern eine komparative65 Religionswissenschaft zu finden, die nicht zugleich von einem unendlichen religiösen Interesse des Individuums an seiner eigenen Religion geleitet wäre. Hätte Schleiermacher die Idee einer vergleichenden Religionswissenschaft besessen, wäre diese, ebenso wie die seiner Nachfolger, primär eine religiöse Idee und daher Teil der Neuproduktion von Religion im Zeitalter der vergleichenden Wissenschaften, im Zeitalter des Mahl65 Die Bezeichnung »komparative Religionswissenschaft« ist daher für die programmatische Neubestimmung eines vergleichenden Anliegens in der Religionswissenschaft zu wählen, das davon ausgeht, dass eine breite Anerkennung im Gegenstandsbereich nur unter Absehung religiös-inhaltlicher Bestimmungen und einer damit einhergehenden formalisierten Bestimmung eines tertium comparationis zu erreichen ist. Diese Bestimmungen müssen daher von der Gegenstandsebene der Religionen selbst (bei Schleiermacher: Anschauung des Unendlichen) schweigen, da sie von diesen ›wissenschaftlich‹ nichts aussagen können. Nur die in Kommunikation übergegangenen Inhalte (und damit Schleiermachers Religionsformel) können auf den Differenzierungsebenen beschrieben werden, insofern diese Ebenen unter Rekurs auf Inhalte (Gott, Nirwana, Gesellschaft) religiöse Orientierung und Sinnsetzung generieren. Diese Inhalte gehören aber nicht in die Bestimmung der Religion, sondern werden als differente erst nachträglich sichtbar und beobachtbar, wenn man beispielsweise dieses rekursive, rückbindende Element formal zur Bestimmung religiöser ›Weltanschauungen‹ oder Handlungen einsetzen will.

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stroms der Reflexion;66 sie wäre Teil einer Religionsgeschichte, die zunehmend unter religionswissenschaftliche Beobachtung gerät, und zu deren novum es eben spätestens seit Schleiermacher gehört, dass religiöse Anliegen, die einen Reflexionsanspruch erheben, unter Verwendungen einer wissenschaftsfähigen Terminologie von Religion zu formulieren sind: und eben als Religions-Religion rhetorisch vom Katheder propagiert werden können. Die Reden legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab und sind daher eine der Hauptquellen der reflexiven, der sich selbst beobachtenden Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die reflexiv gewordenen ›Religionen‹, die sich, was nicht selbstverständlich ist, explizit als Religionen bezeichnen, bedürfen zur Selbstbehauptung zunehmend der Idee einer vergleichenden Perspektive auf das Andere ihrer selbst: auf die Unterscheidung zu den anderen Religionen und zur ausgeschlossenen Nichtreligion bei gleichzeitigem Anspruch, die anderen Religionen und das ausgeschlossene Nichtreligiöse noch mit reflektieren und in das Eigene ihrer ›Religion‹ einverleiben zu können. Beide Diskurse, die im Anschluss hieran geführt werden, sind religiöse Diskurse, keine wissenschaftlichen: ihre Leitdifferenzen sind einerseits der Unterschied von der Religion und den Religionen, gipfelnd in der christlichen Idee einer Religion der Religion(en), und andererseits der Unterschied zwischen Religion und Welt, gipfelnd in einer (christlichen) Apologie der Säkularisierung. Die Religionswissenschaft ist daher gezwungen, sich diesen Diskursen gegenüber marginal zu verhalten, erstens, um diese Diskurse abständig in den Blick zu bekommen und kontextuell beschreiben zu können, und zweitens, um ihrem religionskomparativen Interesse und damit Anliegen gerecht werden zu können, nicht religiöse Orientierung, sondern Orientierung über religiöse Orientierungen zu generieren.

66 Vgl. hierzu: Friedrich H. Tenbruck, Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: J. Bergmann/Alois Hahn/Thomas Luckmann (Hg.), Religion und Kultur, (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft), Opladen 1993, 31–67.

Das Alte Testament als Problem des Kanonbegriffs Notger Slenczka Einleitung Das Thema und der Titel des Vortrages legt mir eine zweifache Pflicht auf: Zum einen die Aufgabe, die Haltung Schleiermachers zum Alten Testament im Kontext seiner Theologie des Kanons zu lesen. Zum anderen – da im Titel Schleiermacher nicht genannt wird – nicht oder jedenfalls nicht nur Schleiermacherphilologie zu betreiben, sondern zu fragen, wieweit seine Ablehnung der Kanonizität des Alten Testaments als gegenwärtig verantwortbares Denkangebot in Frage kommt. Ich will daher versuchen, das Denkangebot Schleiermachers auf seine kanontheologischen Voraussetzungen hin durchsichtig zu machen; dabei werde ich durchaus etwas philologisch werden (I.). Es wird sich zeigen, daß die kanontheologische Position Schleiermachers von einer Ambivalenz in der Begründung gekennzeichnet ist, die auch bezüglich des genauen Sinns seiner Haltung zum Alten Testament Fragen aufwirft (II.); auf der anderen Seite meine ich, daß ein dadurch motiviertes Weiterdenken des Ansatzes Schleiermachers auf Einsichten führt, die im Horizont gegenwärtiger Stellungnahmen zur Dignität und Verbindlichkeit des Alten Testaments für die christliche Frömmigkeit und Theologie unselbstverständlich, aber durchaus orientierend sind; und das werde ich in einem abschließenden Abschnitt zu zeigen versuchen (III.).

I. Die Dignität des AT und sein Ort im Kanon nach Schleiermacher 1. Die Position Daß Schleiermacher es abgelehnt hat, das Alte Testament als neben dem Neuen Testament gleichwertigen und gleichermassen verbindlichen Teil der Bibel zu betrachten, ist doxographisch bekannt.1 Er stellt in dem das Lehrstück von der Schrift abschließenden, diesem Lehrstück als ›Zusatz‹ zugeordneten § 132 fest, daß die »alttestamentischen 1

Dazu und zum Kontext einige (unvollständige) Literaturhinweise: Horst Dietrich Preuss, Vom Verlust des Alten Testaments und seinen Folgen, in: Joachim Track (Hg.), Lebendiger Umgang mit Schrift und Bekenntnis, Stuttgart 1980, 127–160; Hans-Walter Schütte, Christlicher Glaube und Altes Testament bei Friedrich Schleiermacher, in: Dietrich Rössler u. a. (Hgg.), Fides et Communicatio (FS Martin Doerne), Göttingen 1970, 291–310; Klaus Beckmann, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts (FKDG 85) Göttin-

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Schriften [. . . ] die normale Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen [nicht] teilen«.2 Ähnliche Passagen lassen sich aus der Kurzen Darstellung zitieren.3 Die Zusammenstellung von ›Dignität‹ und ›Eingebung‹ gibt zu erkennen, daß Schleiermacher die normative Dignität des AT an die Frage bindet, ob die alttestamentlichen Schriften in demselben Sinne wie die neutestamentlichen ›inspiriert‹ sind.4 Dieses Verständnis von ›Inspiration‹ bzw. das Verständnis des Kanonischen mit Bezug auf die neutestamentlichen Schriften ist damit die Prämisse und muß aufgerufen werden, denn nur so erschließt sich die interne Logik und die Problematik der Position Schleiermachers. Ich referiere damit Bekanntes, zumal ich mich hier allein auf die Glaubenslehre beziehe und somit Texte, die für einige Aspekte des Folgenden sachlich ebenfalls relevant sind (wie das im Rahmen dieses Kongresses anderwärts kompetenter behandelte Leben Jesu)5 weglasse und die einschlägigen Passagen in der ›Kurzen Darstellung‹ nur streife. 2. Der Ort der Lehre von der Schrift 2.1. Die klassische normative Funktion des Schriftkanons Klassisch – gemeint: in der vorneuzeitlichen Orthodoxie – hat die Lehre der Schrift die Funktion der Vergewisserung bezüglich der Wahrheit des gegenwärtigen Glaubens. Johann Friedrich König etwa stellt in seiner Theologia positiva acroamatica (1664) fest, die christliche Religion sei »die Weise der Verehrung des wahren Gottes durch den Glauben an Christus und durch die Liebe gegenüber Gott und dem Nächsten [. . . ], so daß der von Gott abgekehrte Mensch mit Gott wieder vereinigt wird«,6 und er präzisiert diese Definition durch die Wendung ›secundum verbum scriptum – gemäß dem geschriebenen Wort‹: Das Entscheidende an dieser Gestalt der religio besteht nämlich in ihrer Wahrheit, das heißt nach König: in der Übereinstimmung mit dem geschriebenen Wort Gottes.7 Damit muß also sichergestellt werden, daß dieses geschriebene Wort selbst wahr ist, das heißt: Der urbildlichen göttlichen Vernunft entspricht – und diese Entsprechung wird durch die Lehre von der Theopneustie der Schrift sichergestellt.8

2

3 4 5 6 7 8

gen 2002; Rudolf Smend, Die Kritik am Alten Testament, in: D. Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher, Göttingen 1985, 106–128; ders., Wilhelm Martin Leberecht de Wette, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 38–52. CG2 § 132, Leitsatz [hg. v. Martin Redeker, 2 Bde, Berlin 1960, hier I,304]; im folgenden wird die 2. Aufl. der Glaubenslehre mit dem Kürzel CG2 nach dieser Ausgabe zitiert; in eckigen Klammern werden jeweils Band- und Seitenzahl dieser Ausgabe angegeben; zu allen anderen Schriften, soweit vorhanden, die Paginierung des jew. KGA-Bandes. KD2 §§ 115 [KGA I,6,369] und 128 [373f ]; vgl. KD1 II. Teil § 3f [ebd. 272]. Vgl. im Zitat »oder die Eingebung«. Herrmann Fischer, Jesus und das Judentum nach Schleiermachers ›Leben-Jesu‹-Vorlesung, in diesem Band 309–324. Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica, Rostock 1664, hg. und übers. v. Andreas Stegmann, Tübingen 2006, hier Protheoria § 72. Dazu aaO. §§ 72–77, hier bes. § 74. Vgl. dazu exemplarisch: Johann Adam Quenstedt, Theologia didactico-polemica, Wittenberg 1691 p I cap IV sect II q 9, hier Thesis; David Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, Stargard 1707 [hier zit. nach Leipzig 1763], propaedia cap III q 27; zu König s. o. Anm. 6; zu Johann Gerhard u.

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Die Schrift ist damit für König wie für alle orthodoxen Theologen ein Wahrheitskriterium des christlichen Glaubens. Sie ist als göttlich eingegebenes Wort der Geschichte enthoben und ist so die Norm der beständig notwendigen Rückkehr aus dem Irrtum zur Wahrheit. Die Schrift und die Übereinstimmung mit ihr ist der Garant der Identität der eigenen Gemeinschaft mit der wahren Kirche und der Übereinstimmung des je eigenen Glaubens mit der Wahrheit Gottes. Dem entspricht es, daß bei den altprotestantischen Theologen die Lehre von der Schrift – die Begründung ihrer normativen Autorität und Wirkung – der materialen Dogmatik in Gestalt von Prolegomena vorangestellt wird, in denen die der kirchlichen Lehre vorgegebenen und ihr somit entzogenen normativen Grundlagen zur Darstellung kommen. Die Theologie insgesamt ist dabei verstanden als scientia practica, als auf einen Vollzug ausgerichtete Wissenschaft,9 ausgerichtet nämlich auf den Vollzug der Hinführung des Sünders zum Glauben und damit zum Heil10 – mit Ernst Lange: auf die Kommunikation des Evangeliums. Die Dogmatik vermittelt somit Orientierungswissen an diejenigen, die als Amtsträger der Kirche mit der öffentlichen Wahrnehmung dieser Kommunikation beauftragt sein werden.11 Die Grundlagen und Grundzüge dieser Kommunikation werden im durchschnittlichen Aufbau einer solchen vorneuzeitlichen Dogmatik im Rahmen der Soteriologie beschrieben – in der Darstellung der Wirkung und der Mittel der Kommunikation,12 meist im dritten Teil der Dogmatik. Alle anderen Inhalte der Dogmatik sind bezogen auf diesen Prozeß der Heilsvermittlung und – aneignung und weisen sich ihre Zugehörigkeit zum Gegenstandsgebiet der christlichen Theologie durch diese Bezogenheit aus.13 Im Rahmen der Beschreibung des Prozesses der Kommunikation des Evangeliums findet sich neben der Lehre von den Sakramenten die Lehre vom Wort Gottes, von der Verkündigung also als wirksames Geschehen, kurz: von Gesetz und Evangelium. Aber nicht hier, im Rahmen der materialen Dogmatik, sondern in den Prolegomena findet die Lehre von der Schrift ihren Ort. Sie kommt in diesen Dogmatiken also als der Verkündigung gegenüberstehende Norm dieser Kommunikation, nicht aber selbst als Vollzug der Verkündigung in den Blick – genau diese Entscheidung bildet die Verortung der Lehre von der Schrift in den Prolegomena und die damit vollzogene Trennung der Lehre von der Schrift vom Locus der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ab.14

9 10 11 12 13 14

Anm. 49. Vgl. Hollaz (s. o. Anm. 8), p I propaedia q 17. Ebd. Dazu etwa: Hollaz (s. o. Anm. 8), p I propaedia q 19. Etwa bei Hollaz (s. o. Anm. 8), III sect 1 und 2. Etwa Hollaz (s. o. Anm. 8), p I propaedia q 17. Das gilt natürlich unter dem Vorbehalt, daß für die Begründung der Autorität und Dignität der Schrift die affectio der efficacia eine zentrale Funktion hat – dazu unten 271f; 277f.

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2.2. Der Ort der Lehre vom Schriftkanon bei Schleiermacher: Die Schrift im Rahmen der Verkündigung der Kirche Schleiermacher geht bekanntlich in der grob den Prolegomena entsprechenden Einleitung in die Glaubenslehre ebenfalls auf die begrenzte Funktion der Schrift als principium cognitionis für die Dogmatik ein,15 weist aber der Lehre von der Schrift im Gesamtsystem ihren eigentlichen Ort in der Ekklesiologie an, das heißt: im zweiten Hauptteil, hier in ›des Gegensatzes andere Seite‹, also in der – der Entfaltung des Bewußtseins der Sünde gegenüberstehenden – Darstellung des ›Bewußtseins der Gnade‹, und hier näher unter den Lehrstücken, die von der Beschaffenheit der Welt (mit Bezug auf die Erlösung) handeln. Die Lehre von der Schrift ist also im wesentlichen Teil der materialen Dogmatik, genauer: der Ekklesiologie, und zwar (im Unterschied zur Beschreibung der Entstehung und der Vollendung der Kirche) der Beschreibung der ecclesia militans: Der Kirche in ihrem Zusammensein mit der Welt. Näher findet die Lehre von der Schrift hier ihren Ort im Rahmen der Beschreibung der ›wesentlichen und unveränderlichen Grundzüge der Kirche‹, wieder näher in der Beschreibung des vermittelnden Handelns der Kirche, die ihr Gottesverhältnis kommuniziert, indem sie es darstellt – genauer genommen: kommuniziert wird ihr nur als Gottesverhältnis auslegbares Selbstverhältnis und dessen Konstitution durch die Person Jesu.16 Hier erst findet sich also die Begründung der Dignität und Normativität der Schrift, die die altprotestantischen und zeitgenössischen Dogmatiken durchschnittlicherweise in den Prolegomena boten. Von vornherein kommt damit die Schrift im Rahmen und als Teil der Verkündigungstätigkeit der Kirche in den Blick; jede Normativität für die Verkündigung muß sich damit unter der Voraussetzung ergeben, daß die Schrift selbst Verkündigung der Kirche ist. 2.3. Verkündigung Die Schrift ordnet sich damit der Beschreibung der Kirche als Wirkung und Medium des Gottesbewußtseins Christi zu.17 Die Kirche ist nämlich auf der einen Seite das Ergebnis der von Jesu Gottesbewußtsein ausgehenden Impulse bzw. der Teilgabe am Gottesbewußtsein Jesu; auf der anderen Seite aber ist sie eben als solche das Abbild, die Darstellung dieses Urbildes und ist damit eingeordnet in die in das Reich Gottes berufende Tätigkeit Christi: Die Kirche insgesamt ist das Medium der Gegenwart und Wirksamkeit Christi oder der Organismus bzw. der Leib Christi, indem sie die traditionell in der Ämterlehre beschriebenen wesentlichen Tätigkeiten Christi fortsetzt.18 Die Schrift ist dabei dem prophetischen Amt und dessen Abbildung in der Kirche zugeordnet:

15 CG2 § 27 [I,148–154]. 16 Vgl. CG2 § 127.3 [II,283f ]; dazu § 103 [bes. II,111]; dies müßte nun abgeglichen werden mit dem ›Zweiten Lehrstück‹ des ›Ersten Hauptstücks‹: Von der Mitteilung des Heiligen Geistes: §§ 121–125; § 126 [II,248–278]. 17 Dazu CG2 § 121–126 [II,248–278]. 18 CG2 § 127 [II,278–284].

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»Besteht ferner die prophetische Tätigkeit Christi in seiner Selbstdarstellung und in seiner Aufforderung für das Reich Gottes: so ist die Heilige Schrift, sofern sie ihrer Abfassung und Aufbewahrung nach als Werk der Kirche die unmittelbarste Vergegenwärtigung Christi ist, auch das feststehende Abbild seiner prophetischen Tätigkeit; den Dienst am Wort aber können wir nur als die Fortsetzung derselben ansehen, da anwendende Mitdarstellung Christi und Aufforderung in seinem Namen die wesentlichen Elemente derselben sind.«19

Mit der Einordnung in die Ekklesiologie ordnet sich die Lehre von der Schrift dem Prozeß der Vermittlung des Gottesbewußtseins Jesu zu, der sich durch die Verkündigung der Kirche vollzieht. Die Reformulierung der Dignität und der normativen Funktion der Schrift, die Schleiermacher anstrebt, erfolgt damit in der Tat von vornherein im Ausgang von ihrem Charakter als Teil der Verkündigungstätigkeit Christi und der Kirche: Die neutestamentlichen Schriften sind nur insofern Norm der in der Kirche erfolgenden Darstellung des christlichen Glaubens, als sie zugleich historisch die erste Gestalt dieser Darstellung sind.20 Das ist eine gegenüber den traditionellen Zuordnungen nicht unwesentliche Umstellung: Die Schrift ist zunächst Teil der Verkündigung, und dann erst deren Norm. Diese Bewertung schlägt sich in der beschriebenen Verortung in der materialen Dogmatik nieder. 2.4. Schrift und Glaube Das impliziert ein zweites: Schleiermacher stellt fest, daß das Ansehen der Heiligen Schrift in der Kirche eine abgeleitete Einsicht ist: »Das Ansehen der Heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesetzt werden, um der Heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen.«21

Es kommt nicht auf die Begründung dieser These, sondern auf die systematischen Implikationen an: Schleiermacher begründet in der Auslegung des Leitsatzes nämlich seine Verortung der Lehre von der Schrift und weist einleitend darauf hin, daß er in seiner Glaubenslehre bis zu diesem Punkt den christlichen Glauben dargestellt habe ohne seiner Konstitutionsbedingungen zu gedenken: »Daher haben wir bei der ganzen bisherigen Entwicklung des Glaubens nur diesen selbst als in einem erlösungsbedürftigen Gemüt, vermittelst welcher Kunde es auch sei entstanden, vorausgesetzt, die Schrift aber nur als denselben Glauben aussagend einzeln angeführt; und hier erst wird von ihr besonders in ihrer natürlichen Beziehung zur christlichen Kirche gehandelt, und die Frage über ihren Unterschied von andern Büchern in Betracht gezogen.«22

Das ist darum interessant, weil damit die Dignität der Schrift nicht damit begründet wird, daß sie Glauben weckt – auf diese Weise begründet die altprotestantische Lehre 19 20 21 22

CG2 § 127.3 [II,283]. CG2 § 129.2 [II,289f ]. CG2 § 128, Leitsatz [II,284]. CG2 § 128.3 [II,287].

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vom testimonium spiritus sancti internum die Einsicht in die Dignität der Schrift.23 Die Schrift ist vielmehr ungeachtet ihres Charakters als Predigt dem individuellen Glauben in keiner Weise konstitutiv vorgeordnet, sondern dieser könnte grundsätzlich auch ohne Kontakt mit der Schrift durch andere Medien des frommen Selbstbewußtseins entstehen:24 »[W]ie die Apostel den Glauben schon hatten, ehe sie in einem von dem Glauben selbst noch verschiedenen Zustand kamen, in welchem sie ihren Anteil an diesen Büchern hervorzubringen vermochten, so auch bei uns der Glaube schon vorangehen muß, ehe wir durch die Lesung dieser Schriften darauf geführt werden, einen solchen Zustand, in dem sie geschrieben worden, und eine darauf gegründete Beschaffenheit dieser Bücher anzunehmen [. . . ]«.25

Die Einsicht in die besondere Auszeichnung der Autoren der biblischen Schriften, die die Tradition als Geistbegabung bezeichnet, ist Folge und nicht Voraussetzung des Glaubens. Entsprechend wird man sagen müssen, daß insgesamt die Begründung der Dignität und Normativität der Schrift dem Glauben nicht vorausgeht, sondern folgt. 2.5. Der Sinn der Normfunktion der Schrift Dem gemäß besteht die normative Funktion der Schrift für die Verkündigung und Lehre der Kirche nicht darin, daß sie die Quelle von für den Glauben verbindlichen Lehrsätzen oder normative Lehrüberzeugungen darstellt, die der Glaube sich aneignet, aus der die kirchliche Theologie Ableitungen vornähme oder mittels derer die Wahrheit aktueller Lehre festgestellt würde. Vorausgesetzt ist vielmehr, daß die Lehre insgesamt ein wohl unverzichtbarer, ebenso gewiß aber sekundärer Ausdruck der Ursprünglichkeit des frommen Selbstbewußtseins ist.26 Insgesamt gilt daher, daß der Ausweis der Schriftgemäßheit eines in Geltung befindlichen Satzes nur dies anzeigt, daß er »ein echtes und ursprüngliches Element christlicher Frömmigkeit aussage«,27 das heißt: daß er die Bestimmtheit des ihm vorausgehenden christlich frommen Bewußtseins zur Darstellung bringt. Denn auch die Schrift ist Ausdruck der Frömmigkeit, und die Übereinstimmung bestimmter Aussagen einer Religionsgemeinschaft mit der Lehre der Schrift hat ihren Wert als ein Indiz der Übereinstimmung im vorprädikativen Glauben bzw. der Identität der spezifischen Gestalt des frommen Selbstbewußtseins, in der der christliche Glaube sein Wesen hat.28 Das könnte man nun im Rekurs auf die einschlägigen Zuordnungen von Religion 23 Vgl. dazu Notger Slenczka, Das Evangelium und die Schrift, in: Ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen, Göttingen 2003, 39–64, hier bes. 61–63. Dazu auch Jörg Lauster, Prinzip und Methode, Tübingen 2004, 17f. 24 Vgl. im vorangehenden Zitat: »[. . . ] vermittelst welcher Kunde es auch sei entstanden [. . . ]«. 25 CG2 §128.2 [II,286f ]. 26 CG2 § 15 [I,105ff ]; vgl. § 127.2 [II,281]. 27 CG2 § 128.3 [II,287]. 28 Daher kommt die Lehre von der Schrift im Rahmen der Ekklesiologie der Glaubenslehre als erstes unter den Momenten zu stehen, die im Rahmen der Darstellung des Bestehens der Kirche »in ihrem Zusammenhang mit der Welt« deren ›wesentliche und unveränderliche Grundzüge‹ zur Darstellung bringen; vgl. CG2 § 126 und 127.

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und Lehre bzw. Schrift in der Glaubenslehre und in den entsprechenden Passagen der Zweiten Rede verdeutlichen.29 Diese Unterscheidung der Frömmigkeit vom Ausdruck dieser Frömmigkeit in der Rede, die Schleiermacher in der Einleitung hergeleitet hatte, bildet nun das Fundament für die Herleitung der Normfunktion der Schrift, die ich begrenzt auf die wichtigsten Gedankenschritt nachvollziehe: 3. Die Begründung der Dignität der Schrift Schleiermacher geht davon aus, daß der christliche Glaube zu allen Zeiten entsteht durch die persönliche Einwirkung Christi, die zu Lebzeiten Jesu unmittelbar erfolgte, nach seinem Tod aber vermittelt ist durch die Darstellung der Persönlichkeit Christ in der Schrift resp. in den Sakramenten.30 Wenn sich der christliche Glaube als besondere Form der Frömmigkeit dadurch ausweist, daß in ihm alles bezogen ist auf die durch Jesus vollbrachte Erlösung, wenn es also nicht außerwesentlich ist, daß die Weckung und Stärkung des frommen Selbstbewußtseins an seine Person und ihr Gottesverhältnis geknüpft ist, dann muß die in der Kirche erfolgende Kommunikation des Evangeliums ausweisbar eine Gestalt der Gegenwart Jesu Christi sein. Die Glauben bzw. höheres Selbstbewußtsein weckende Predigt der Kirche ist selbst die Einwirkung Jesu bzw. seines Gottesbewußtseins auf die Glaubenden insofern, als in dieser Predigt dieses Gottesbewußtsein Jesu zur Darstellung kommt in der Beschreibung seines Lebens und in der Mitteilung seiner Lehre.31 3.1. Die Notwendigkeit einer die Identität der gegenwärtigen Verkündigung mit der Person und der Lehre Jesu gewährleistenden Instanz Da diese Einwirkung Jesu und seines Gottesbewußtseins vermittelt ist durch die Kirche, bedarf es einer Instanz, die der Identität dieser vermittelten Einwirkung mit der ursprünglichen Einwirkung Jesu vergewissert, und diese Instanz der Vergewisserung ist die Schrift:32 Einerseits die Darstellung der Persönlichkeit, des Wirkens und der Lehre Jesu, die in den Evangelien vorliegt; zum anderen die apostolische Verkündigung, die auf der einen Seite als Zeugnis der Kirche der Beleg für die Fortwirkung der Verkündigung Jesu, zum anderen mittelbare Quelle für Belehrungen und Anweisungen Jesu ist. Die 29 Vgl. etwa die Verhältnisbestimmung von frommem Selbstbewußtsein und Lehre in § 15 und 16 sowie in Schleiermacher, Reden über die Religion (etc.), 1 1799, hier und im folgenden zitiert nach der Paginierung der Erstausgabe und der KGA) Zweite Rede, 116ff [KGA I,2, 239ff ]. 30 »Besteht [. . . ] die prophetische Tätigkeit Christi in seiner Selbstdarstellung und in seiner Aufforderung für das Reich Gottes: so ist die Heilige Schrift, sofern sie ihrer Abfassung und Aufbewahrung nach als Werk der Kirche die unmittelbarste Vergegenwärtigung Christi ist, auch das feststehende Abbild seiner prophetischen Tätigkeit; den Dienst am Wort aber können wir nur als die Fortsetzung derselben [i. e. der prophetischen Tätigkeit Christi, N. Sl.] ansehn, da anwendende Mitdarstellung Christi und Aufforderung in seinem Namen die wesentlichen Elemente desselben sind.« (CG2 § 127.3 [283]). 31 CG2 § 126.2 und 3 [II,280-284]. 32 Zum folgenden vgl. CG2 § 127.2 und 3 [II,280-284].

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schriftliche Fixierung der ersten Berichte über das Auftreten Jesu und die schriftliche Fixierung der Verkündigung der ersten Jünger hat somit vergewissernde Funktion: Sie bietet die nachprüfbare Gewähr für die Identität der gegenwärtigen, Gottesbewußtsein weckenden Verkündigung mit der Einwirkung Jesu: »[M]ündliches und schriftliches Lehren sowohl als Erzählen von Christo war doch ursprünglich dasselbe und nur zufällig verschieden. Jetzt ist die Schrift ein Besonderes, weil die unveränderte Aufbewahrung derselben auf eine eigentümliche Weise die Identität unseres und des ursprünglichen Zeugnisses von Christo verbürgt.«33

3.2. Schrift und Verkündigung Dabei behält Schleiermacher vor, daß diese Schrift lediglich Bezugspunkt einer lebendigen Tätigkeit der Kirche sein kann, daß die schriftliche Fixierung die weitere Predigt also nicht überflüssig macht, sondern aus sich heraussetzt – nicht im fixierten Zeugnis der Schrift, sondern in der an der Schrift orientierten lebendigen Darstellung des frommen Selbstbewußtseins erfolgt die Selbstvergegenwärtigung Christi und die Kommunikation seines Gottesverhältnisses.34 Die Schrift ist nicht, wie die Schriftlehren der Altprotestanten voraussetzen, für sich genommen wirksam, sondern ihre Wirksamkeit gewinnt sie in der auslegenden Vergegenwärtigung ihres Gehaltes in der Predigt, die damit eben auch nicht eine wörtliche Wiederholung von Aussagen der Schrift sein kann, sondern mit ihr »in Sinn und Geist« übereinzustimmen hat.35 Die Schrift ist selbst ursprünglich Teil der Verkündigung der Kirche, und sie zielt auf die Aktualisierung der Verkündigung ab. 3.3. Kanonizität und Apostolizität Geht man nun dem Gedankengang weiter nach und fragt nach der Begründung dafür, warum nun ausgerechnet die faktisch im Neuen Testament versammelten Texte kanonischen Rang haben, so begründet Schleiermacher – jedenfalls auf den ersten Blick – die Dignität der Schrift damit, daß sie die erste, auf den Einfluß Jesu selbst zurückgehende Gestalt der Darstellung des Glaubens ist. Diese Feststellung betrachtet Schleiermacher nicht als Selbstverständlichkeit; gegen einen solchen Rückgang auf die Ursprünge spricht, so gibt Schleiermacher gegen die eigene Position zu bedenken,36 der Umstand, daß die Durchdringung der Kirche durch den Heiligen Geist ein progressiver Prozeß ist, der von relativ unvollkommenen Anfängen zu immer höherer Vollkommenheit fortschreitet, so daß das erste Glied mitnichten ohne weiteres und notwendigerweise als das vollkommenste gelten kann. Schleiermacher sieht dieses Prinzip einer fortschreitenden Entwicklung aber darin durchbrochen, daß die unmittelbar der Einwirkung Jesu ausgesetzten direkten Nachfolger Schüler Jesu am tiefsten von seinem Geist durchdrungen sind und daher zu erwarten ist, daß sich das durch Jesus vermittelte Gottesbewußtsein in ihnen am reinsten darstellt – und am reinsten heißt hier (und damit bin ich beim The33 34 35 36

CG2 § 127.2 [II,281] CG2 § 127.2 [II,281]. Ebd. CG2 § 129.2 [II,289].

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ma): Daß es am wenigsten von jüdischen oder heidnischen Vorstellungen durchzogen ist: »Diesem Unvollkommensten gleichzeitig aber waren die verkündigenden Darstellungen der unmittelbaren Schüler Christi, bei denen die Gefahr eines unwissentlichen verunreinigenden Einflusses ihrer früheren jüdischen Denk- und Lebensformen auf die Darstellung des Christlichen in Wort und Tat, in dem Maß als sie Christo nahegestanden hatten, abgewehrt wurde durch den reinigenden Einfluß der lebendigen Erinnerung an den ganzen Christus.«37

Das Fundament dieser Auszeichnung ist also das nicht mehr steigerungsfähige Gottesbewußtsein Jesu, das sich dem unmittelbar seiner Lehre und Verkündigung ausgesetzten Jüngerkreis in höchster Kräftigkeit mitteilt und dort in höchster Reinheit darstellt: »[D]iese Wirksamkeit des Geistes [wird] am vollkommensten sein in dem von Petrus auch mit Zustimmung der ganze Gemeine besonders ausgezeichneten Kreise derer, die mit Christo bald von Anfang seines öffentlichen Lebens an gewandelt waren.«38

Die Theopneustie der apostolischen Verfasser der biblischen Texte faßt Schleiermacher als durch diese dauerhafte Nähe zur Person Christi bewirkte besondere Kräftigkeit des Gottesbewußtseins resp. des kirchlichen Gemeingeistes: »[I]n dem Berufsleben der Apostel [ist] die Wirksamkeit des in der Kirche waltenden Gemeingeistes [. . . ] jener personbildenden Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur, welche die Person Christi konstituiert hat, so nahe gekommen [. . . ], als gedacht werden kann, ohne den spezifischen Unterschied zwischen beiden Vereinigungsweisen auszuheben [. . . ]«.39

Die Dignität der Schriften hängt, so scheint es auf den ersten Blick, an der Apostolizität derselben, daran also, daß die Verfasser Jünger, das heißt Weggenossen und damit Augen- und Ohrenzeugen des Weges und der Lehren Jesu waren.40 3.4. Kanonizität und Rezeption Damit scheint das Kriterium der Dignität und damit der Kanonizität der biblischen Schriften zunächst die Herkunft aus dem Kreis der Apostel zu sein, ein Kriterium also, das grundsätzlich historischer Nachprüfung unterliegt und dem die Schleiermacher selbstverständlich als solche bekannten41 pseudonymen neutestamentlichen Schriften nicht genügen; dasselbe gilt natürlich für die Evangelien, deren komplexe Überlieferungsverhältnisse Schleiermacher bewußt sind.42 Darüber hinaus rechnet Schleiermacher aber durchaus auch damit, daß selbst die Schriften der apostolischen Zeit Einflüsse aus dem Juden- und Heidentum aufweisen, und zwar auch dann, wenn sie Verfassern 37 38 39 40 41 42

CG2 § 129.2 [II,289]. CG2 § 130.2 [II,293], vgl. 130.3 [296]. CG2 § 130.2 [II,295]. Ebd. CG2 § 131.1 [II,300] CG2 § 130.3 [II,295–297, bes. 296f ].

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aus dem engsten Jüngerkreis zugeschrieben werden; diese Texte werden daher als apokryphe von den kanonischen Schriften unterschieden.43 Somit genügt es offensichtlich nicht, die kanonischen Schriften durch den historischen Nachweis ihres apostolischen Ursprungs als einer besonderen Kräftigkeit des Gottesbewußtseins entspringend zu identifizieren, sondern Schleiermacher stellt diesem äußeren ein zweites Kriterium der Kanonizität zur Seite, nämlich die Rezeption dieser Schriften durch die Kirche.44 Diese ist das Ergebnis eines langsamen Prozesses der Auswahl und Zurückweisung, die Schleiermacher ebenfalls als geistgeleitet betrachtet, der aber nun nicht von den apostolischen Amtsträgern vollzogen wird. Das Subjekt dieser Auswahl ist vielmehr der in der Gesamtheit der Kirche waltende Geist. Daher sind die Grenzen des Kanons auch von geringerer Verbindlichkeit. Es handelt sich dabei um einen Prozeß, der nach Schleiermacher bis zur Gegenwart nicht abgeschlossen ist. Schleiermacher weist der historisch-kritischen Arbeit an den neutestamentlichen Büchern sowohl in der Glaubenslehre wie in der Kurzen Darstellung45 unter anderem diese Aufgabe der Vergewisserung des Rechtes der behaupteten Apostolizität zu: »Denn auch der Sinn für das wahrhaft Apostolische ist, wie die Geschichte lehrt, eine in der Kirche sich allmählich steigernde Geistesgabe; und so kann sich in die heiligen Bücher zeitig durch Versehen einzelner manches eingeschlichen haben, was erst eine spätere Zeit als unkanonisch zu erkennen und bestimmt nachzuweisen vermag. Aber auch was die ganze Sammlung betrifft, so verbürgt die Tatsache, daß seitdem sie als solche in der Kirche besteht, sie auch immer sich selbst gleichgeblieben ist, noch nicht, daß diese Bestimmung auch unwiderruflich sei [. . . / . . . ] Daher auch, wenn manche symbolische Schriften unserer Kirche den Kanon bestimmen, die weitere freie Untersuchung über denselben dadurch nicht soll gehemmt werden; sondern die kritische Forschung muß immer wieder aufs neue die einzelnen Schriften darauf prüfen, ob sie ihren Ort in der heiligen Sammlung auch mit Recht einnehmen.«46

Die Bezugnahme auf diesen Prozeß der Überprüfung der Kanonizität ist darum hochinteressant, weil ungeachtet des das eben gebotene Zitat abschließenden Satzes nicht allein die historische Untersuchung der Verfasserfrage über die Kanonizität entscheidet; Schleiermacher verwirft vielmehr ausdrücklich die These, daß die Feststellung einer nichtapostolischen Herkunft allein einen Text aus dem Kanon zu entfernen oder daß die Feststellung einer apostolischen Verfasserschaft den Text dem NT einzufügen nötige.47 Neben dieses äußere Kriterium tritt nämlich das innere Kriterium der kollektiven Subjektivität: der Umstand, daß das kollektive fromme Selbstbewußtsein (die Kirche) die Schriften als angemessenen Ausdruck des frommen Selbstbewußtseins anerkennt und so als apostolisch rezipiert.48 Mit der Unterscheidung der äußeren Bezeugung einer apoCG2 § 130.2 [II,297–299]; 131.1 [300–302]. Ebd. CG2 § 130.4 [298f]; Kurze Darstellung2 §§ 105–115, hier bes. 111–114 [KGA I,6, 366–369]. CG2 § 130.4 [298f ]. Das Stichwort ›freie Untersuchung‹ nimmt natürlich ein Stichwort des Titels der Abhandlung Semlers (Johann Jakob Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, Halle 1771 [TKTh 5, Gütersloh 21980]) auf. 47 CG2 § 131.1 [II,300f ] 48 CG2 § 130.3 und 4 und 131.1 [II,295–299 und 300–302]. 43 44 45 46

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stolischen Verfasserschaft einerseits von dem Urteil der Kirche andererseits, die in den Schriften den in ihr waltenden Geist wiedererkennt, nimmt Schleiermacher eine Unterscheidung der altprotestantischen Schriftlehre auf 49 und faßt sie so, daß die inneren Kriterien der Kanonizität danach fragen, ob die Texte sachlich adäquater Ausdruck des Bewußtseins der Kirche sind. Damit ist deutlich, daß nicht einfach die Rückführbarkeit der Texte auf den Jüngerkreis über die Kanonizität der Texte entscheidet, sondern die Textsammlung und die Aussagen der Texte unterliegen selbst einer Sachkritik, nämlich der Frage, ob sie Darstellung und Ausdruck des christlich frommen Selbstbewußtseins sind. Dieses Sachkriterium leitete nach Schleiermacher bereits die altkirchliche Rezeption, die zur Behauptung der Kanonizität der biblischen Schriften führte, und dieser Rezeptionsprozeß ist bis in die Gegenwart nicht abgeschlossen. Diese Rezeption ist orientiert an einer eigenen Einsicht in das Wesen des christlichen Glaubens, und das heißt: über die Kanonizität der Texte entscheidet, daß das fromme Selbstbewußtsein bzw. der Gemeingeist der Kirche sich – und damit eben den Heiligen Geist – in den Texten wiedererkennt. In Schleiermachers Beschreibung der Rezeption, so scheint mir, sind die Begründungsverhältnisse von Norm und Normiertem entschlossen umgekehrt; Schleiermacher macht Ernst mit der Grundeinsicht, daß der Glaube an Christus den Kanon konstituiert und nicht umgekehrt: Das fromme Selbstbewußtsein besteht und entsteht auch außer der Schrift, erkennt in der Schrift sich selbst wieder und erkennt die so als Zeugnis des christlich frommen Bewußtseins identifizierten Schriften als kanonisch an. Dabei ist deutlich, daß Schleiermacher offenbar davon ausgeht, daß die beiden Kriterien – die Anerkennung der Texte anhand der Übereinstimmung mit dem frommen Selbstbewußtsein einerseits und die historische Feststellung der apostolischen Herkunft andererseits – nicht völlig auseinandergehen und daß eine apostolische Herkunft eines Kerns der Texte auch vor dem Forum der an äußeren Kriterien orientierten historischen Kritik ausweisbar ist; man sieht das an seiner Beschreibung der Rezeption der Überlieferung vom Leben Jesu, die den kanonischen Evangelien zugrunde liegt und die Schleiermacher der Ausbildung des Kanons parallelisiert:50 Er geht bezüglich der Evangelien davon aus, daß ihnen verschiedene, eben nicht nur von den Aposteln, sondern von der Kirche insgesamt erzählte Berichte von der Wirksamkeit Jesu zugrunde liegen, die umliefen, gesammelt und miteinander komponiert wurden – alles produktive Re49 Dazu Slenczka, Evangelium (s. o. Anm. 23), 61, dort Belege aus Quenstedt und Hollaz; vgl. Johann Gerhard, Loci theologici [1625], Leipzig 1885, loc I cap 3. Die Unterscheidung ›äußerer‹ von ›inneren‹ Kriterien der Erkenntnis der Autorität der Schrift, um die es den Altprotestanten geht, ist nicht mit der Unterscheidung von historischer Verfasserschaft und Geist identisch, die Schleiermacher vornimmt: Für die Altprotestanten sind die äußeren Kriterien schriftexterne Kriterien, während die ›internen Kriterien‹ Eigenschaften der Schrift selbst (Stil etc.) sind. Die späteren altprotestantischen Orthodoxen rechnen die Wirksamkeit der Schrift und damit auch das ›testimonium Spiritus Sancti internum‹ zu den inneren Kriterien (König (s. o. Anm. 6), § 112–114), während dies testimonium bei Gerhard, Quenstedt und Hollaz von den genannten inneren und äußeren Kriterien unterschieden werden (vgl. Slenczka, ebd.). Das Schleiermachersche Kriterium ist eine eigentümliche Mischung zwischen einigen der äußeren Kriterien (zu denen die Rezeption in der Kirche gehört) und dem testimonium spiritus sancti internum. Vgl. auch Lauster, Prinzip (Anm. 23) 50–65. 50 Vgl. dazu CG2 § 130.3 [II,295–297]

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zeptionsakte, die geleitet sind von dem Bestreben, »den Erlöser darin ganz so erscheinen zu machen, wie er wirklich war« (296). Dies charakterisiert Schleiermacher wiederum als das Werk des Geistes. Und dies besagt ja nun nichts anderes als: Der Glaube bildet in den Berichten Jesus von Nazareth so ab, wie er ihn, und zwar vor dem Bericht, als wirksam erfahren hat: als Erlöser. So sehr diese Berichte von Christus bereits als historische Erinnerung umlaufen: im Vorgang der Gestaltung dieser Erinnerung, in der Komposition und Rezeption der Berichte ist der Glaube resp. der in der Kirche wirkende Geist am Leitfaden dessen, was er bereits von dieser Person weiß bzw. als Wirkung erfahren hat, produktiv. Wie der Redaktion und Komposition der Evangelien nicht einfach historische Arbeit, sondern diese aus einer selbständigen Einsicht in die Person Jesu und ihre Wirksamkeit geleitete produktive Rezeption zugrundeliegt, so ist auch die Rezeption der biblischen Bücher geleitet vom Kriterium ihrer Harmonie mit dem christlich frommen Selbstbewußtsein – und nicht einfach von der historischen Feststellung der apostolischen Verfasserschaft. Macht man sich dies klar, dann wird deutlich, warum Schleiermacher solchen Wert darauf legt, daß nicht allein in der Abfassung der biblischen Schriften, sondern auch in der sonstigen Tätigkeit der Gemeindeleitung und Verkündigung die Apostel vom Geist geleitet sind;51 und warum er solchen Wert darauf legt, daß die kanonischen Schriften nur ein kleiner Teil der Verkündigung der apostolischen Zeit sind: Damit stellt er sicher, daß die von Jesus ausgehende Kräftigung des frommen Selbstbewußtseins nicht gebunden ist an die Texte des Neuen Testaments, sondern daß außerhalb von diesen und unabhängig von diesen der Gemeingeist der Kirche wirkt und die apostolischen Texte darum als verbindlich anerkennt, weil er sich in ihnen zur Sprache gebracht weiß. 3.5. Die Dignität des Kanons und der Glaube der Kirche Damit ist deutlich, daß das Verhältnis des Kanons zum Glauben der Kirche nicht einsinnig ist, so daß der Kanon den Glauben wie auch immer normiert, sondern zirkulär: Wie die Schrift als Verkündigung und wie die ihr entsprechende Verkündigung den Glauben bildet, so kann mit dem gleichen Recht der Kanon im Blick auf seine Rezeption und kritische Bearbeitung als Produkt eben dieses Glaubens bezeichnet werden, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß besondere und ausgezeichnete Geistträger in den Schriften des Kanons das von Christus empfangene fromme Selbstbewußtsein und Christus als dessen Ursprung ausgesprochen haben, sondern eben auch so, daß das kollektive fromme Selbstbewußtsein die Texte darum rezipiert und anerkennt, weil es in ihnen den Geist bzw. das Gottesverhältnis Jesu, an dem es selbst teilhat, wiedererkennt.52

51 CG2 § 130.2 [II,294]. 52 CG2 § 130.4 [II,298f ].

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II. Die Ablehnung der normativen Geltung des Alten Testaments 4. Die Gründe für den Widerspruch gegen die kanonische Dignität des Alten Testaments 4.1. Kein apostolischer Ursprung Damit zum Alten Testament. Ich habe den Leitsatz des § 132 bereits zitiert, in dem Schleiermacher feststellt, daß die »alttestamentischen Schriften [. . . ] die normale [= normative] Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen [nicht] teilen.«53 Als Zusatz klassifiziert Schleiermacher den Paragraphen aus zwei Gründen:54 zum einen weil er rein polemisch sei und sich erledigt haben werde, wenn die Differenz der beiden Kanonteile allgemein anerkannt sein wird; die derzeit noch allgemeine Wertschätzung des AT als Teil des Kanons verbietet allerdings die Überführung in einen expliziten Lehrsatz: Es handelt sich eigentlich nicht um einen Satz, der die ›gegenwärtig geltende Lehre‹ zur Sprache brächte. Dies gilt ums so mehr, als die kirchliche Praxis von ihm abweicht; das AT erfreut sich, so deutet Schleiermacher an, nicht nur in den Kreisen, die auf die Besonderheit des Christlichen keinen Wert legen, sondern gerade in den Kreisen, die exklusiv das Christentum als Heilsweg betrachten, besonderer Beliebtheit.55 Das ist relativ interessant, denn die zentrale These Schleiermachers ist die, daß das Alte Testament nicht in der Weise wie das Neue vom heiligen Geist eingegeben ist; das besagt nach dem Vorangehenden dies, daß die Texte nicht Ausdruck des durch die erlösende Kraft Christi bestimmten frommen Selbstbewußtseins im wechselseitigen Kommunikationsprozeß der Kirche sind oder sein können. Diese Feststellung könnte nach allem Vorangehenden zum einen als historisches Urteil verstanden werden, nämlich so, daß die Schriften nicht der Gemeinschaft derer entstammen, die durch den von Jesus von Nazareth ausgehenden Impuls bestimmt sind. Das wiederum wäre zunächst unstrittig: Keine von den alttestamentlichen Kollegen ständig vollzogene Umdatierung der Texte wird absehbar dazu führen, daß Angehörige des Jüngerkreises Jesu als Verfasser alttestamentlicher Schriften diskutabel werden. Auf der anderen Seite ist diese historische Feststellung angesichts des relativ weichen Kanonbegriffs, den Schleiermacher voraussetzt, kein zwingendes Argument: Schleiermacher rechnet schließlich auch mit der Kanonizität der Paulusbriefe und damit mit der Kanonizität von Schriften, deren Verfasser nicht zum Kreis der Jesusjünger im Sinne der unmittelbaren Augen- und Ohrenzeugen gehört hatte. Noch in der ersten Auflage der Glaubenslehre nimmt er diese Frage ausdrücklich auf und stellt im Haupttext der Auslegung des Leitsatzes fest, daß die Kanonizität der Schriften des Paulus sichergestellt sei durch die außergewöhnliche Kräftigkeit des Impulses, der ihn zum Glauben führ53 CG2 § 132, Leitsatz [II,304]. 54 CG2 § 132.1 [II,304f ]; in der ersten Auflage hatte er die Bewertung des AT in einem Zusatz zu § 150 untergebracht. 55 Ebd. Schleiermacher hat hier natürlich die zeitgenössischen Erweckungsbewegung in ihren Berliner Repräsentanten, namentlich Ernst Wilhelm Hengstenberg, vor Augen; vgl. dazu die demnächst erscheinende Arbeit zu Hengstenberg von Matthias Deuschle.

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te, und die – so wörtlich: »wie man sich auch die Thatsache denke, im unmittelbaren Zusammenhang mit dem menschlichen Leben Christi und als eine Nachwirkung desselben angesehen werden muß«;56 in der zweiten Auflage verweist er die Frage in eine knappe Anmerkung, notiert dort lediglich das Problem und verzichtet völlig auf eine Begründung der Apostolizität dieser Schriften57 – aber darin liegt folgeweise nun auch ein Problem für seine Ablehnung der Kanonizität des AT: Wenn Paulus bei seiner Bekehrung, »wie [auch] immer«, unter der Einwirkung der menschlichen Persönlichkeit Jesu stand, ohne mit dem irdischen Jesus Umgang gehabt zu haben, dann wird man Gründe brauchen, um ein ähnliches ›wie auch immer‹ hinsichtlich eines proleptischen Kontaktes der Propheten mit der Person Jesu auszuschließen. Genau einen solchen Kontakt setzen Zeitgenossen Schleiermachers voraus mit der prominent von seinem Fakultätskollegen Hengstenberg58 vertretenen These, daß das AT prophetisches Zeugnis von Christus und in diesem Sinne Produkt von Augenzeugen sei; dem hat Schleiermacher eigentlich nichts entgegenzusetzen, wenn er die Kanonizität der Paulusbriefe dadurch begründet, daß er den Verfasser als jemanden einführt, der der Einwirkung des Impulses Jesu auch ohne direkten Kontakt mit dem Irdischen ausgesetzt sei. Warum sollte nicht auf dieselbe Weise auch die Apostolizität der Schriften des AT sichergestellt werden können oder die Prophetie als der Apostolizität sachlich gleichrangig behauptet werden? 4.2. Das AT als Ausdruck eines ›fremden Geistes‹ Ich notiere dies nicht als eine diskutable Position, sondern will damit lediglich verdeutlichen, daß das ganze Gewicht der Ablehnung des AT nicht auf diesem historischen, sondern auf dem zweiten von Schleiermacher vorgetragenen Argument liegt: Daß eine Rezeption der Schriften des AT eigentlich einem Christen nicht möglich sei, weil es sich dem Versuch, in ihm den Ausdruck des christlich frommen Bewußtseins zu erkennen, widersetzt. Lediglich die Psalmen, so räumt er ein,59 könnten als Ausdruck des christlich frommen Selbstbewußtseins gelesen werden; wer das aber versucht, so fährt er fort, würde doch auf Widerständigkeiten stossen, die es ihm nicht erlauben, den Psalm vollständig als Ausdruck des eigenen Gottesbewußtseins zu sprechen oder in einer Reflexion auf das Gottesbild das in den Psalmen implizierte Gottesbild als christliches zu rezipieren: Es »ist nicht zu leugnen, daß der fromme Sinn der evangelischen Christen [. . . ] einen großen Unterscheid zwischen beiderlei heiligen Schriften anerkennt; wie denn selbst die edelsten Psalmen doch immer etwas enthalten, was sich die christliche Frömmigkeit nicht als ihren reinsten Ausdruck aneignen kann, so daß man sich erst durch unbewußtes Zusetzen und Abnehmen selbst täuschen muß, wenn man meint, aus den Propheten und Psalmen eine christliche Lehre von Gott zusammensetzen zu können.«60 56 CG1 § 150.1 [KGA I,7,3,233f ]. 57 CG2 § 130.2, Anm. 1 [II,293]. 58 Ernst Wilhelm Hengstenberg, Christologie des Alten Testaments, 3 Bde., Berlin 1829–35 (1854– 572 ); dazu Deuschle (s. o. Anm. 55). 59 Vgl. dazu CG2 § 132.2 [II,306]. 60 CG2 § 132.2 [II,306]. Nebenbei: Wer an dieser Auskunft Schleiermachers zweifelt, muß sich die im

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Diese Feststellung entspricht der referierten rezeptionstheoretischen Begründung des Kanons und behauptet, daß ein Christ sogar in den Psalmen eigentlich sich und den ihm mitgeteilten Geist nicht wiedererkennen könne; diese Feststellung bleibt unbegründet, aber es läßt sich rekonstruieren, worauf Schleiermacher hinaus will: Im Kontext weist er nämlich darauf hin, daß auch dann, wenn man der üblichen Klassifizierung folgend das Gesetz und die Propheten als Kanonteile unterscheidet und darin die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wiederfinden will, auch die Propheten bestimmt sind vom Gesetz in dem Sinne, daß sie sich auf Verhältnisse eines partikularen (des jüdischen) Volkes beziehen; damit seien auch die prophetischen Schriften nicht aus dem Geist, der die Trennung zwischen allen Völkern aufhebt, hervorgegangen, sondern aus dem Geist eines spezifischen Volkes.61 Das ist natürlich ein klassisches aufklärerisches und von Schleiermacher auch anderwärts – etwa in der 5. Rede – notiertes Stereotyp, nach dem die Religion des Judentums partikular sei und entsprechend Gott als an einem partikularen Volk exklusiv interessiert konzipiere. Diese Partikularität, verbunden mit der etwa in der 5. Rede als wesensbestimmenden Kern der jüdischen Religion identifizierten Tun-Ergehen-Zusammenhang,62 dürfte im Hintergrund der Feststellung Schleiermachers stehen, daß der Christ sogar beim Lesen der Psalmen deutlich fremdele und eigentlich unfähig sei, die eigene Frömmigkeit mittels dieser Texte auszusprechen: Er hat es hier – so Schleiermacher! – mit einer Frömmigkeit zu tun, die partikular konzentriert ist, die die Heilsgemeinschaft exklusiv auf ein Volk und seine Geschichte limitiert und – so in der 5. Rede – Gott als Exekutor des Gesetzes der Vergeltung konzipiert. 4.3. Mögliche Einwände Dies ist näher besehen wiederum eine eigentümliche Auskunft. Denn Schleiermacher geht ja davon aus, daß genau dies – daß sich Christen der Psalmen und anderer Texte zum Ausdruck ihrer Frömmigkeit bedienen – laufend geschieht; und er setzt voraus, daß eine solche Aneignung auch nicht nur zum Ausdruck der individuellen, sondern der kollektiven Frömmigkeit in der öffentlichen Kommunikation im Gottesdienst einer Gemeinde erfolgt. Und Schleiermacher würde es vermutlich nicht bestritten haben, daß die ersten Christen einschließlich des Apostelkreises sich der heute im Alten Testament gesammelten Texte durchaus zum Ausdruck ihres spezifisch christlichen Bewußtseins der Einheit mit Gott bedient haben.63 Das heißt: Schleiermacher scheint der Meinung zu sein, daß diese Rezeption der Psalmen immer begleitet ist von einem bewußten oder unbewußten Wählen: begleitet also von dem Eindruck, daß einige der alttestamentliEvangelischen Gesangbuch abgedruckte Auswahl aus den Psalmen ansehen – hier wird eine Auswahl vorgenommen, die u. a. ganz eindeutig der Tatsache Rechnung trägt, daß wir gewöhnlich nicht bereit sind, beispielsweise Ps 137, 7-9 als Ausdruck unserer Frömmigkeit mitzusprechen. Dazu unten 287. 61 Ebd. 62 Schleiermacher, Reden (Anm. 29), hier die Fünfte Rede, 286–291 [KGA I,2,314-316]; dazu Slenczka, Religion and the Religions. The ›Fifth Speech‹ in Dialogue with Contemporary Concepts of a ›Theology of Religions‹, in: B. Sockness u. a. (Hgg.), Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theology, Berlin/New York 2009, 51–68. 63 Vgl. CG2 § 132.3 [II,307f ].

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chen Aussagen besser, und andere schlechter, manche auch gar nicht geeignet sind zum Ausdruck der spezifisch christlichen Gestalt des frommen Selbstbewußtseins; wenn sich aber das christlich fromme Selbstbewußtsein konstitutiv auf das AT bezieht, verkommt es, so Schleiermacher, zu einer »gesetzlichen Denkweise oder einem unfreien Buchstabendienst«.64 Diese Einsicht ist nun aber auch nicht neu; auch die kirchliche Tradition hat ja nie das gesamte Alte Testament einsinnig und vollständig als Ausdruck des christlichfrommen Selbstbewußtseins rezipiert, sondern war in der Rezeption des AT immer von theologischen Sachkriterien geleitet, die spezifisch Christliches – das im AT lautwerdende Evangelium – und diesem Widersprechendes – das Gesetz – unterscheiden. Schleiermachers Einwand ist eine reductio ad absurdum, die impliziert, daß derjenige, der dem Alten Testament kanonischen Rang zuweisen wolle, alle Texte als Ausdruck des frommen Selbstbewußtseins verstehen müßte – mit diesem Einwand hätten die Vertreter des traditionellen Umgangs mit dem AT allerdings umgehen können, er trifft die Position nicht.

III. Die gegenwärtige Wertschätzung des AT und das eigentliche Argument Schleiermachers 5. Neuere Einwände Doch dies ist nur ein Hinweis darauf, daß auch mit diesem Argument Schleiermachers der eigentliche Punkt noch nicht erreicht ist. Um diesen Punkt erkennbar zu machen, wende ich mich kurz der Wertschätzung des AT zu, die im neueren christlich-jüdischen Dialog und in den in diesen Kontext gehörenden theologischen Stellungnahmen empfohlen wird. Hier wird gegen Positionen wie die Schleiermachers die Tatsache ins Feld geführt, daß Jesus und seine ersten Jünger nicht nur faktisch Juden waren, sondern daß sie sich auch bewußt als solche verstanden haben; daß sie sich auf das Alte Testament bezogen haben und zentrale Vorstellungsgehalte des Alten Testaments, angefangen von der Bezugnahme auf die Patriarchen, rezipiert haben, und daß von diesem Ursprung her das Christentum und das Judentum ein Basiskonsens hinsichtlich bestimmter Vorstellungen verbinde – ich zitiere nur aus der nun schon etwas älteren Studie ›Christen und Juden II‹: »Das christlich-jüdische Verhältnis ist dadurch einzigartig, daß Juden und Christen die Schrift gemeinsam haben, die die Bibel Jesu, seiner Jünger und der neutestamentlichen Autoren ist.«65

64 Vgl. CG2 § 132.2 [II,306]. 65 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Christen und Juden II [Gütersloh 1991], in: Juden und Christen I–III,Gütersloh 2002, 53–111, hier bes. 3.2.2.; vgl. auch Leuenberger Kirchengemeinschaft, Kirche und Israel, Frankfurt a.M. 2001, hier II,2.2.

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Die Studien insgesamt weisen auf umfängliche christliche Vorstellungsgehalte hin, die dem Alten Testament entnommen sind, und auf die Präsenz liturgischer Elemente jüdischer Provenienz in christlichen Gottesdiensten; und die Verfasser der Studie ›Christen und Juden III‹ entnehmen dem die hermeneutische Anweisung, daß alttestamentliche Texte nicht nur in christologischer Perspektive gelesen werden sollten: »Die Einheit zwischen Altem und Neuem Testament tritt klarer hervor, wenn man vermeidet, alttestamentliche Texte ausschließlich in christologischer Perspektive zu lesen. In der Schrift begegnet Juden und Christen der eine [. . . ] Gott, der mit den Menschen unterwegs ist und ihnen Gnade und Barmherzigkeit erweist.«66

5.1. Das eigentliche Argument Schleiermachers Angesichts solcher auf der Hand liegender Feststellungen könnte man auf der einen Seite fragen, warum eigentlich diese Einsicht Schleiermacher und anderen nicht aufgegangen ist; und selbstverständlich ist sie Schleiermacher nicht verborgen geblieben, wie allein schon der Leitsatz des eingangs zitierten § 132 zeigt, in dem Schleiermacher den Gebrauch des AT in der Kirche und seine bisherige kanonische Geltung mit der Bezugnahme des NT auf das AT einerseits und mit dem aus der Synagoge übernommenen Brauch der Lesungen des AT im christlichen Gottesdienstes begründet. Offenbar bestreitet Schleiermacher diese Einsicht bezüglich der materialen Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Judentum nicht, ist aber dennoch nicht der Meinung, daß dies einen kanonischen Rang der alttestamentlichen Schriften begründet: In § 12 der zweiten Auflage der Glaubenslehre, in dem er die schärfste Abgrenzung gegen das Judentum vornimmt, weist er ausdrücklich auf die historische Verbindung hin, die durch die Geburt Jesu in Israel zwischen dem Judentum und dem Christentum besteht.67 Diese Geburt in Israel ist nach Schleiermacher darin begründet, daß der universale Erlöser im Kontext einer monotheistischen Religion geboren werden mußte – sachlich ist also der alttestamentliche Monotheismus die unverzichtbare Voraussetzung der christlichen Kirche. Schleiermacher ist nun aber offenbar nicht der Meinung, daß der Monotheismus oder die in ›Christen und Juden II‹ apostrophierte Vorstellung eines Gottes, der ›mit den Menschen unterwegs‹ ist, eine inhaltliche Klammer zwischen dem Judentum und dem Christentum bildet. Dieser Ablehnung liegt etwas Weiterführendes zugrunde: Schleiermacher weist nämlich in § 12 darauf hin, daß der Eindruck entstehen könnte, daß das Judentum durch den gemeinsam geteilten Monotheismus dem Christentum nun doch näher stünde als das Heidentum, das, bevor es zum Christentum gelangen könne, scheinbar erst den Schritt zum Monotheismus vollziehen und damit zunächst zum Judentum übertreten müsse. Dagegen stellt Schleiermacher lapidar fest: »[D]er Monotheismus wurde nun gleich den Heiden unter der Gestalt des Christentums gegeben, wie früher unter der des Judentums.«68 66 Christen und Juden III [2000] in: Kirchenamt (s. o. Anm. 65), 113–219, hier 5.3. 67 Vgl. zum folgenden CG2 § 12 [I,83–86]. 68 CG2 § 12 [I,84].

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Das heißt: Der Monotheismus Israels ist – nach Schleiermacher! – keine Prämisse der christlichen Verkündigung oder Lehre, durch die sie fortan konstitutiv auf ein Erbe des Judentums bezogen bleiben müßte, sondern der Monotheismus ist ein eigenes Implikat des frommen Selbstbewußtseins Jesu und des christlichen frommen Selbstbewußtseins seiner Jünger. Das heißt: Das ursprünglich jüdische Erbe des Monotheismus ist nun als Moment dieser neuen, weil konstitutiv an der Person Jesu von Nazareth hängenden (§ 11) Gestalt des frommen Selbstbewußtseins – als Ausdruck desselben – reformulierbar. Genau diese Reformulierung der Lehre von dem einen Gott oder von der Schöpfung aus den Mitteln des christlich-frommen Selbstbewußtseins (und nicht als Erbe eines konstitutiv jüdischen frommen Selbstbewußtseins) nimmt Schleiermacher in seiner Glaubenslehre vor; denn genau hier gilt die Einsicht, daß alle Sätze der Dogmatik auch dann, wenn sie mit Sätzen übereinstimmen, die anderen Quellen entspringen, sich in ihrem Recht dadurch ausweisen müssen, daß sie als genuiner Ausdruck des christlich frommen Selbstbewußtseins gelten können.69 Das heißt: Nach Schleiermacher ist die Bezugnahme Jesu selbst oder der ersten Christen auf das Alte Testament oder auf spezifische Vorstellungsgehalte des Judentums nicht konstitutiv, sondern das Verhältnis ist so zu beschreiben, daß sich das durch die Person Jesu und den Umgang mit ihr neubestimmte fromme Selbstbewußtsein der im Alten Testament vorgefundenen Rede von Gott bedient, sie aber gleichsam aus eigenen Mitteln rekonstruiert. Das kulturell, d. h. durch die Zugehörigkeit zur Religion Israels vermittelte Sprachelement des einen Gottes wird aufgenommen, tritt aber nun in den Dienst des Ausdrucks einer neuen, das heißt: auf einen unableitbaren Impuls zurückgehenden Gestalt des frommen Selbstbewußtseins. 5.2. Religion als Selbstverständnis und ihre Ausdrucksformen Das wiederum impliziert die Einsicht, die Schleiermacher insbesondere in der genialen fünften Rede entfaltet hat:70 daß Religionen definiert sind nicht durch die Summe der Anschauungen oder Theorien, die sie transportieren, sondern daß in ihrem Zentrum der subjektive Niederschlag eines Grundimpulses steht, der alle zu seinem Ausdruck ergriffenen, woher auch immer stammenden Elemente individualisiert und zum Ausdruck genau dieses Impulses macht auch dann, wenn diese Elemente anderen Kontexten als dieser einen Religion entstammen: »[E]in Individuum der Religion [. . . ] kann nicht anders zustande gebracht werden, als dadurch, daß irgendeine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkür [. . . ] zum Zentralpunkt der ganzen Religion gemacht, und Alles darin auf sie bezogen wird. Dadurch kommt auf einmal ein bestimmter Geist und ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze [. . . ]; alle einzelnen Elemente erscheinen nun von einer gleichnamigen Seite, von der, welche jenem Mittelpunkt zugekehrt ist, und alle Gefühl erhalten eben dadurch einen gemeinschaftlichen Ton und werden lebendiger und eingreifender ineinander.«71 69 Dazu CG2 § 16 und 17 [I,107–115]. 70 Slenczka, Religion (Anm. 62). 71 Schleiermacher, Reden (s. o. Anm. 29), 260f [KGAI,2, 303f].

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Genau dies geschieht nach Schleiermacher mit den Elementen, die der christliche Glaube faktisch und religionsgeschichtlich aus dem Judentum übernimmt: Entweder eignet er sie so an, daß sie zum genuinen Ausdruck der spezifisch christlichen Gestalt der Frömmigkeit werden; oder er stößt die Elemente, die nicht Ausdruck dieser Frömmigkeit sein können, wieder ab. Der Prozeß der Rezeption, der sich damit positiv oder negativ vollzieht, hat sein Kriterium am christlich frommen Selbstbewußtsein und ist damit in der Weise strukturiert wie die Aneignung der kanonischen Schriften des NT durch die Kirche. Das Alte Testament, so die These Schleiermachers, ist nicht und war nie Ausdruck eines christlich frommen Selbstbewußtseins und wird daher faktisch über kurz oder lang seine kanonische Bedeutung verlieren.72 Auf den Abschluß dieses Klärungsprozesses greift der Leitsatz des § 132 voraus. 5.3. Das Bild des Judentums und die Figur der Dihärese Damit liegt der Bestimmung des Verhältnisses der Kirche zum Alten Testament die These zugrunde, daß das Christentum und das Judentum sich als zwei unterschiedliche Typen des frommen Selbstbewußtseins unterscheiden.73 Selbstverständlich ist die Schleiermachersche Charakterisierung des jüdisch frommen Selbstbewußtseins und damit seine Haltung gegenüber dem AT auch getragen von Stereotypien, die man heute unter dem label ›Antijudaismus‹ rubrizieren würde. Diese Feststellung muß aber zum einen unter den Vorbehalt gestellt werden, daß es sich bei Schleiermacher um ein religiöses Urteil handelt, das ihn in keiner Weise am freundschaftlichen Umgang mit Juden gehindert hat.74 Zum anderen ist dieses religiöse Urteil jedenfalls in der Fünften Rede so verfaßt, daß es sich um Wesensaussagen handelt, die im Verfahren der Dihärese der jeweiligen empirischen Gestalt religiöser Phänomene ihren Ort in den mit dem Phänomen der Religion eröffneten Raum von Möglichkeiten zuweisen.75 Schleiermacher verfährt hier eben gerade nicht als religionswissenschaftlicher Empiriker, sondern er weist dem Christentum einerseits und dem Judentum andererseits Orte an, die er nicht einer empirischen Beschreibung, auch nicht nur der Feststellung eines bestimmten und unterschiedlichen historischen Ausgangspunkts dieser Religionen, sondern einer deduktiven Analyse des Religionsbegriffs entnimmt; er charakterisiert sie somit nicht von ihrer empirischen Erscheinungsform her, sondern stellt sie in ein im Begriff der Religion vorgezeichnetes Raster der Realisationsformen von Religion ein – wobei freilich in der Fünften Rede das Christentum als Vollendung des Begriffs der Religion, das Judentum als deren Depravation (weil Vergegenständlichung) zu stehen kommt; dies aber eben so, 72 73 74 75

S. o. 279. CG2 § 10 [I,64ff]. Dazu Beckmann (s. o. Anm. 1), 110 und ff. Zu diesem Verfahren, das Deduktion und Induktion verbindet und das Schleiermacher mit großer Souveränität beständig anwendet, vgl. Kurze Darstellung2 § 32 und ff [KGAI,6, 338] und die Vorlesungen über Dialektik, hier verwendet die Ausarbeitung der Thesen von 1814/15, hier Lehrsatz 197 und Kontext (dazu die Abgrenzung gegen Idealismus und Realismus in den Leitsätzen 168–172). Dazu die ausgezeichnete Analyse von Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, Tübingen 1996, 124–183.

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daß die empirischen Gestalten sowohl des Christentums und wie des Judentums sich diesen apriorischen Realisationstypen der Religion annähern können: Es gibt für Schleiermacher auch veräußerlichte Gestalten des Christentums beispielsweise in Gestalt einer strikten Lehrorthodoxie, die der von ihm als ›Judentum‹ gekennzeichneten Verfallsform entsprechen – das gilt jedenfalls für die Charakterisierung in der Fünften Rede.76 Damit ist deutlich, daß Schleiermacher hier in der Beschreibung des Judentums so wenig wie in der Beschreibung des Wesens des Christentums den Anspruch erhebt, eine empirische Beschreibung des Judentums zu bieten, sondern die Beschreibung der Verfallsform des Religiösen, die er – das ist allerdings einzuräumen – in der Tat in den Gestalten des Judentums (aber eben nicht nur dort, sondern auch dort, wo das Christentum zur gesetzlichen Buchstabenreligion depraviert) realisiert sieht. Das eigentliche Problem ist nicht diese Dihärese der Religion, sondern das Bild des Judentums, das es Schleiermacher nahelegt, den Typus der depravierten Religion als ›jüdisch‹ zu identifizieren; dieses ist mit den vorangehenden Differenzierungen mitnichten ins Recht gesetzt. Es wird aber deutlich, daß die Einsicht Schleiermachers ablösbar ist von den labels ›Judentum‹ und ›Christentum‹, weil er unter diesem Titel – jedenfalls in der 5. Rede – die im Begriff der Religion bzw. die im Phänomen der Religion angelegten Möglichkeiten der positiven Ausformung und der Depravation fixiert. 6. Weiterführendes 6.1. Hermeneutik religiöser Differenzen Zurück zur Glaubenslehre: Die der Charakterisierung des AT als Zeugnis einer wesentlich vom christlich frommen Selbstbewußtsein differierenden Glaubensweise und der Beschreibung des Verhältnisses von Judentum und Christentum zugrundeliegenden Einsichten in das Wesen religiöser Differenzen sind jedenfalls weiterführend, zumindest dann, wenn man sie mit dem im gegenwärtigen außerwissenschaftlichen, von kirchlichen Verständigungsinteressen bestimmten interreligiösen (und auch interkonfessionellen) Dialog und den ihn leitenden Konzepten abgleicht: Schleiermacher ist hier die Einsicht zu entnehmen, daß in einem solchen Dialog mit einer Verständigung auf der Ebene materialer Lehraussagen oder Vorstellungsgehalte – etwa mit der Verständigung auf ein Monotheismusgebot oder bestimmte ethische Grundforderungen – oder mit der Feststellung einer Übereinstimmung in der Bezugnahme auf bestimmte Quellen sehr wenig gewonnen ist. Das liegt eben nicht nur daran, daß sich diese materialen Gehalte in sehr unterschiedliche Lehrgebäude einfügen und daß dieser jeweilige Kontext den Stellenwert und den genauen Sinn des jeweiligen Lehrstücks fixiert; vielmehr liegt der geringe Mehrwert solcher materialer Übereinstimmungen weitergehend daran, daß im Bereich der Religion die Lehre insgesamt zurückweist auf ein Selbstverständnis, das bestimmten Medien entspringt und das sich in den gegenständlichen Vorstellungsgehalten und Aussagen ausspricht. Der Feststellung liegt die Einsicht zugrunde, 76 Dazu Slenczka, Religion (s. o. Anm. 62). Zu vergleichen sind hier die in der Ersten und Zweiten Rede vorgenommenen Charakterisierungen der dogmatischen Depravation der Religion in eine Lehrorthodoxie.

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daß Religion erst in zweiter Linie Lehre oder eine Gestalt der Sittlichkeit ist, in erster aber eine bestimmte Ebene und Gestalt des Selbstverständnisses. Nicht einfach durch den Systemzusammenhang mit anderen Lehrelementen, sondern durch das sich in allen Lehren einer bestimmten Religion aussprechende Selbstverständnis haben die jeweiligen Lehrstücke ihren Sinn, und diese Einsicht begründet und begrenzt die Differenz der Religionen. Im Verhältnis der Kirche zur religiösen Welt oder den religiösen Welten des Alten Testaments nehmen die klassischen Kriterien der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament – etwa die Schemata von Weissagung und Erfüllung, Gesetz und Evangelium oder die mehr oder weniger weitgehend heremeneutisch reflektierten Varianten einer christologischen Relektüre des AT – die Funktion wahr, diese Differenz zu markieren. Dabei kommt nach meinem Dafürhalten der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium eine besondere Bedeutung zu, weil sie die Differenz eben nicht als eine solche materialer Aussagen und Vorstellungsgehalte faßt, sondern als Differenz des individuellen Selbstverständnisses, das sich in den Vorstellungsgehalten ausspricht und das durch sie generiert wird. 6.2. Die Erfahrung der Differenz im faktischen Umgang der Kirche mit dem Alten Testament Mit Bezug auf den Umgang mit dem AT und zur Erfassung der Aktualität dieser These Schleiermachers bedarf es eigentlich nur der Aufmerksamkeit auf den religiösen Umgang mit diesen Texten in der faktischen gemeindlichen oder individuellen Praxis; dieser Umgang sieht immer so aus, daß die Texte nicht einfachhin als verbindlich übernommen oder das in ihnen sich aussprechende Selbstverständnis als mit dem kirchlichen oder individuellen religiösen Selbstverständnis übereinstimmend erkannt oder anerkannt wird, sondern daß eine Differenz wahrgenommen wird, die sich im – faktisch oder reflektiert vorgenommenen – wählenden Umgang mit den Texten manifestiert; in diesem Unterscheiden akzeptabler von unpassenden Texten spricht sich die explizite oder implizite Einsicht aus, daß diese Texte und die in ihnen transportierten Vorstellungsgehalte zum Ausdruck des je eigenen Selbstverständnisses nicht geeignet sind, sondern hermeneutisch unter Kuratel gestellt werden. Ich bin daher sicher, daß der gegenwärtige Umgang mit den alttestamentlichen Texten die Diagnose Schleiermachers zum Verhältnis der Kirche zum Alten Testament nolens volens verifiziert. Es wäre eine hochinteressante und lohnende Fragestellung, die gegenwärtig übliche Rezeption und Auswahl als verbindlich anerkannter alttestamentlicher Texte auf die leitenden impliziten Kriterien hin zu untersuchen. Ich vermute, daß diese faktischen Kriterien auch da, wo die klassischen Kriterien einer Verhältnisbestimmung von AT und Kirche wie etwa die oben genannten abgelehnt werden, beim zweiten Hinsehen ein hohes Maß an Übereinstimmung mit diesen klassischen Kriterien aufweisen werden.

Schöpfungsglaube und Monotheismus in Schleiermachers Glaubenslehre Christine Axt-Piscalar 1. Die göttliche Allmacht im Horizont des Erlösungsbewusstseins Dass alle Aussagen über Gott aus dem frommen Selbstbewusstsein abgeleitet werden können müssen, ist bekanntlich der Grundsatz, nach dem Schleiermacher die Aussagen der ›Glaubenslehre‹1 insgesamt und mithin auch die Gotteslehre entfaltet. Diese Zuordnung insinuiert der Titel meines Vortrags, indem er auf die präzise Korrelation von Schöpfungsglaube und Monotheismus abstellt. In der Hauptsache ist dies anhand von Schleiermachers Ausführungen im ersten Teil der ›Glaubenslehre‹ herauszuarbeiten. Dies kann in angemessener Weise jedoch nur so geschehen, indem zugleich betont wird, dass dasjenige, was Schleiermacher zur göttlichen Allmacht als einer Grundbestimmung des monotheistischen Gottesgedankens ausführt, zusammengedacht werden muss mit jenen Bestimmungen von Gott, die sich aus dem Gegensatz von Sünde und Gnade und dessen Aufhebung im Erlösungsbewusstsein ergeben.2 Aus der besagten Zusammenschau ergibt sich, dass die göttliche Allmacht eine teleologische Bestimmtheit erfährt,3 so dass sie als göttliche Weltregierung unter der aus der Erlösung gewonnenen Wesensbestimmung Gottes als Liebe und Weisheit und auf die 1

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Die ›Glaubenslehre‹ wird im Folgenden zitiert nach Paragraph und Abschnitt sowie den Seitenzahlen der zweiten Ausgabe von 1830/31. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31) Teilband I und II, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin 2003, in: Kritische Gesamtausgabe, Abteilung I, Band 13/1 und 2. – Sofern die erste Ausgabe der ›Glaubenslehre‹ von 1821/22 zitiert wird, ist dies entsprechend vermerkt, die Seitenzahlen dieser Angaben beziehen sich auf die Ausgabe: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), Teilband I und II, hg. v. Hermann Peiter, Berlin 1980, in: Kritische Gesamtausgabe, Abteilung I, Band 7/1 und 2. Vgl. §31,2, Tb.I, 197, wo Schleiermacher festhält: »Hieraus folgt freilich, daß die Lehre von Gott, sofern sie sich in der Gesammtheit der göttlichen Eigenschaften darstellt, nicht eher als mit dem Ganzen zugleich vollendet wird«. Bei dieser Formulierung ist im Blick zu behalten, dass Schleiermacher die Unterscheidung von Mittel und Zweck in Gott für unzulässig hält. Die Zweck-Mittel-Bestimmung sieht er durch das Verhältnis von Teil und Ganzem in der Wechselwirkung untereinander überholt, insofern innerhalb des Ganzen jedes zugleich Mittel und Zweck ist, und das Ganze im Sinne eines in sich vollendeten Kunstwerks, in welchem alle Teile zu einem Gesamtbild zusammenstimmen, gedacht wird. Vgl. dazu die Bemerkung Schleiermachers §168,1, Tb.II, 508f: »Wie sollte also nicht vielmehr noch die göttliche

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Stiftung des Reiches Gottes hin ausgerichtet zu verstehen ist.4 Wir können diese Zusammenschau und die Konsequenzen, die sich aus der erlösungstheologischen Perspektive für die Bestimmung der göttlichen Allmacht ergeben, hier nicht im Einzelnen leisten. Es seien vor allem zwei aus ihr sich eröffnende Aspekte besonders hervorgehoben, die eine entscheidende Modifikation in die Aussage von der göttlichen Allmacht bringen. Sie werfen zugleich ein Licht auf Schleiermachers Verständnis des Schöpfungsglaubens, wie er es im ersten Teil der ›Glaubenslehre‹ entwickelt. 1.1. Die Affirmation des Individuums Hinsichtlich dieser Modifikation, die sich aus der Perspektive des Erlösungsbewusstseins für das Verständnis der göttlichen Allmacht ergibt, hält Schleiermacher selbst fest: »Denn wenn wir auch die Allmacht erklären als die Eigenschaft, vermöge deren alles endliche so wie es ist durch Gott ist: so haben wir freilich die ganze göttliche That gesezt aber ohne Motiv, also als Handlung schlechthin unbestimmt [...]. Nämlich da das Endliche als solches nicht nur ein mannigfaltiges ist, sondern auch ein veränderliches und uns immer nur in vergänglichen Zuständen also in Durchgangspunkten gegebenes: so liegt in jener Erklärung gar nicht, als was eigentlich das Endliche durch Gott ist, und er es will und sezt; und wir bleiben, wenn wir nicht über jenes Gebiet hinausgehn, immer in Ungewißheit über den in der Allmacht mitgesezten Willen Gottes als solchen.«5

Dasselbe gelte von allen göttlichen Eigenschaften, die auf der Basis des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls im ersten Teil der ›Glaubenslehre‹ gewonnen worden seien. Schleiermacher fährt daher fort: »Ja da sie [i. e. diese Eigenschaften] uns insgesammt in der Abstraction von dem bestimmten Gefühlsgehalt unseres Gottesbewußtseins geworden sind: so werden wir sagen müssen, wenn wir sie nicht in die Eigenschaften Gottes, die uns aus der Betrachtung dieses Gefühlsgehaltes werden, hineindenken – wie in der Formel, Gott ist die allmächtige oder ewige Liebe, geschieht – sondern bei ihnen allein stehn bleiben, so ist ein Glaube an Gott als

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Weisheit diesen Gegensaz so ausschließen, daß, da nichts ist außerhalb der Welt, was als Mittel gebraucht werden könnte, alles innerhalb derselben so geordnet wäre, daß es sich in seiner Verbindung mit allem übrigen betrachtet nur wie Theil zum Ganzen verhält, jedes aber einzeln für sich so sehr zugleich Mittel und Zwekk ist, daß diese Betrachtungsweise sich jedesmal gleich wieder aufhebt und in die andere übergeht«. In der ersten Auflage der ›Glaubenslehre‹ hat Schleiermacher dies als »die göttliche Kunstthätigkeit in der Anordnung und der Regierung der Welt« bezeichnet. Vgl. 1. Aufl. §184,1, Tb.II, 351. Zum Gedanken des Ganzen des Weltzusammenhangs als Kunstwerk, wie er sich aus der allwirksamen göttlichen Weisheit ergibt, vgl. auch bes. 2. Aufl. §55,1, Tb.I sowie die Ausführungen unten 303f zur Bestimmung des Naturzusammenhangs als Manifestation der göttlichen Allwirksamkeit. Vgl. §90,2, Tb.II, 34: »[D]a wir uns erst jezt auf dem Gebiet eines kräftigen Gottesbewußtseins befinden, so müssen auch alle im ersten Theil nur unbestimmt zu beschreiben gewesenen Regungen des absoluten Abhängigkeitsgefühls hier ihren vollen Gehalt bekommen, indem es im Christenthum kein anderes Bewußtsein der göttlichen Allmacht und Ewigkeit und der daran hangenden Eigenschaften giebt als nur in Bezug auf das Reich Gottes.« §167,2, Tb.II, 504f, Hervorhebung C.A.-P.

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den allmächtigen und ewigen nur jener Schatten des Glaubens, den auch die Teufel haben können«6 .

Das Verständnis des Endlichen unter der Bestimmung der göttlichen Allmacht – abgesehen von ihrer Bestimmtheit durch die Liebe und Weisheit – ist, so Schleiermacher – nicht davor gefeit, die Einzelnen als bloße »Durchgangspunkte« zu erfassen, »deren Werth für das Ganze uns völlig unbekannt ist«.7 Ganz offenbar holt also das Verständnis Gottes als Liebe, wie es durch die Christologie und Pneumatologie eingeholt wird, für den Einzelnen etwas ein, was der Gedanke seiner Einbindung als Teil im Ganzen des als Wechselwirkung bestimmten Naturzusammenhangs, der der Allwirksamkeit Gottes unterliegt – wiewohl diese die relative Freiheit nicht aufhebt –, so nicht gewährt: nämlich so etwas wie die unbedingte Affirmation meiner selbst. Dies sieht Schleiermacher allererst mit dem Erlösungsbewusstsein erreicht; zumindest möchten wir ihn so interpretieren und mithin geltend machen, dass eine Interpretation aller Aussagen, die im ersten Teil der ›Glaubenslehre‹ gemacht werden, für diese immer auch die Perspektive des Erlösungsbewusstseins zum Zuge zu bringen hat.8 Nur eine solche Lesart wird der von Schleiermacher beabsichtigten Klimax der Argumentation in der Durchführung der ›Glaubenslehre‹ gerecht. Eine Lesart hingegen, welche die Perspektive des Erlösungsbewusstseins nicht mitführt, bleibt hinter dem eigenen Anspruch Schleiermachers zurück. Nun ist die Verhältnisbestimmung von erstem und zweitem Hauptteil der ›Glaubenslehre‹ zueinander in der Geschichte ihrer Rezeption durchaus strittig gewesen und hat eine teilweise scharfe Kritik nach sich gezogen, die Schleiermacher in den ›Sendschreiben‹9 zurechtzurücken versucht hat. Dies spricht dafür, dass eine Einseitigkeit in der Rezeption der ›Glaubenslehre‹ durch diese selbst zumindest nicht vollends ausgeschlossen ist. Umso mehr ist für eine angemessene Interpretation derselben zu fordern, dass sie das Erlösungsbewusstsein als den Auslegungshorizont des Ganzen zur Durchführung zu bringen hat. Für die Aussagen über die göttliche Allmacht hat dies die alles entscheidende Konsequenz, dass jener Glaube an den allmächtigen und ewigen Gott, der von seinem Sein in Christus und der Gemeinde absieht, und den »auch die Teufel haben können«, eben nur die Einordnung des Einzelnen als eines Teils in den Gesamtzusammenhang alles Seins erreicht, nicht aber die unbedingte Affirmation meiner selbst im Ganzen der Welt. Diese Aussage ist – so möchte ich hervorheben – das Zentrale, das sich aus der erlösungstheologischen Perspektive auf die Bestimmung der göttlichen Allmacht ergibt. Und dies ist denn auch dasjenige, was Schleiermacher im religionsgeschichtlichen Vergleich den an6 7 8

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§167,2, Tb.II, 505, Hervorhebung C.A.-P. §168,2, Tb.II, 509. Für die Aussagen der Sündenlehre habe ich dies in meiner Habilitationsschrift durchgeführt, vgl. Chr. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Friedrich Schleiermacher und Sören Kierkegaard, (BhTh Bd. 94), Tübingen 1996. Vgl. Erstes und zweites Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke, in: Kritische Gesamtausgabe, Abt.I, Bd. 10, Schriften und Entwürfe, hg. von Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin/New York 1990, 307–394.

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deren Religionen gegenüber, die alle irgendwie die göttliche Allmacht als Grundaussage festhalten, aber auch gegenüber der profanen Weltanschauung jedweder Couleur als die Kernaussage des christlichen Selbstverständnisses festhält: dass die christliche Religion die unbedingte Bejahung des Einzelnen mit sich führt, die in den anderen Religionen und den profanen Weltanschauungen gleich welcher Art nicht erreicht wird. In der ersten Auflage der ›Glaubenslehre‹ heißt es in diesem Sinn: »[D]enn der Begnadigte ist sich seiner selbst bewußt als eines Gegenstandes jener göttlichen Gesinnung, indem seine Seele gleichsam der Ort einer göttlichen Mittheilung ist.«10 Warum legen wir auf diesen Aspekt besonderes Gewicht? Nun, die kritische Auseinandersetzung mit Schleiermacher im 19. Jahrhundert – und darüber hinaus – zielt genau auf diesen Punkt: dass er die Individualität des Einzelnen nicht ausreichend zu begründen vermag. Es ist das fromme Gefühl, das hier gegen Schleiermacher Sturm läuft, weil es unter der Bedingung des Schleiermacherschen Gottesbegriffs den ›Untergang des Individuums‹ fürchtet. Ausgetragen wird dieses Anliegen auf dem Boden der Auseinandersetzung um die Vorstellung eines personalen Gottesverständnisses.11 Sie wird im Grunde genommen vor allem aus diesem Interesse heraus geführt, der Frage nämlich, welches Selbstverständnis im Horizont einer bestimmten – hier der personalen Vorstellung von Gott – für den Einzelnen eröffnet wird.12 Ich brauche in diesem Zusammenhang nur die Namen Jacobi, Tholuck, Julius Müller, Kierkegaard und nicht zuletzt Ritschl und Harnack zu nennen, um anzudeuten, was hier vermisst wird;13 oder eben auch Luther aus dem kleinen Katechismus zu zitieren: 10 1.Aufl. §183,3, Tb.II, 350. Schleiermacher fährt an derselben Stelle fort: »Das Bewußtsein aber von der vollkommnen Zusammenstimmung aller Dinge in den Erweisungen der göttlichen Liebe ist zwar eben so wahr aber nicht auch ebenso unmittelbar, indem nicht auch jeder sich mit gleicher Sicherheit bewußt sein kann, weder wie auch er durch seines jedesmaligen Zustand die Herbeiführung des Besten mit bedingt, noch auch wie alles seine Wiedergeburt und sein Wachsthum in der Gnade mit bedingt hat und noch bedingt.« 11 Der Redner über die Religion hat die Vorstellung eines personalen Gottes nicht zu den unabdingbaren religiösen Gehalten gerechnet, sondern lediglich als eine mögliche Symbolisierung des Universums angesehen. Vgl. ders., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), nach der Originalpaginierung bes. 128f, 256f, 274; siehe die Studienausgabe der Reden, hg. v. Günther Meckenstock, Berlin/New York, 2001 (= Kritische Gesamtausgabe, Bd. I/2, Schriften aus der Berliner Zeit, hg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185–326). Die Rede von Gott als Person oder von den drei Personen der Trinität gebraucht Schleiermacher auch in der ›Glaubenslehre‹ nicht, sondern bestimmt Gott als Liebe und Geist, so dass sich daran die Frage anknüpft, ob das durch das personale Gottesverständnis Intendierte damit eingeholt ist. 12 Es geht an dieser Stelle nur darum, die Intention, die mit der personalen Gottesvorstellung verbunden wird, hervorzuheben. Dass der Vfin die insbesondere mit den Namen Spinozas und Fichtes verbundenen Diskussionen um die Verendlichung des Absoluten, sofern es als mit Verstand und Wille ausgezeichnete Persönlichkeit vorgestellt wird, bekannt sind, darf vorausgesetzt werden. In aller Regel geht es im Zusammenhang der Debatte um das personale Gottesverständnis um die bestimmte Unterscheidung zwischen Gott und Welt, und zwar so, dass dem Endlichen eine relative Selbständigkeit zukommt, und um die unbedingte Affirmation des Individuums im und durch das personale Gottesverhältnis. Wo dies nicht festgehalten ist, wird der Spinozismusvorwurf als Allverteidigungswaffe erhoben. 13 Dazu vgl. die unter Anm. 8 genannte Arbeit der Vfin.

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»Ich gläube,daß mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturn, [...] [dass er mich] mit aller Notdurft und Nahrung dies Leibs und Lebens reichlich und täglich versorget [...] aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit [...]«.14

1.2. Die Konstitution wahrer Selbsttätigkeit Eine zweite, ebenso grundlegende Einlassung, die vorab gemacht werden soll, und sich gleichfalls aus der erlösungstheologischen Perspektive ergibt, betrifft Schleiermachers Bestimmung der monotheistischen Religionen und unter ihnen die des christlichen Monotheismus, der, wie Schleiermacher sagt, den Monotheismus in der reinsten Form darstellt.15 Die Abgrenzung, die er in dieser Hinsicht gegenüber den beiden anderen monotheistischen Religionen – Judentum und Islam – vollzieht, zielt darauf, dass er die christliche Religion als eine »teleologische« Frömmigkeit versteht,16 derart, dass in ihr auf die theonom begründete, christologisch vermittelte und im Geist vollzogene Selbsttätigkeit des Einzelnen in der Bestimmung auf das Reich Gottes hin abgehoben ist. Hier sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben, die für unser Thema – Monotheismus und Schöpfungsglaube – von Belang sind. Der emphatische Anhänger der christlichen Trinitätslehre würde in religionsvergleichenden Paragraphen zur Bestimmung desjenigen, was den christlichen vom jüdischen und islamischen Monotheismus unterscheidet, natürlich die Antwort »der trinitarische Monotheismus« erwarten. Er würde gerade darin das Spezifische der christlichen Religion ausgedrückt sehen wollen. Er würde vor allem darauf verweisen, dass die rechte Unterscheidung und Vermittlung von Gott und Welt, die im Monotheismus gedacht werden können soll – was sich nicht zuletzt an Schleiermacher studieren lässt –, durch den trinitarischen Monotheismus auch gedanklich überzeugender eingeholt wird. Schließlich würde er beanspruchen, dass auch das religiöse Bewusstsein an der Frage der Vermittlung zwischen Gott und Welt ein eminentes Interesse hat. Diese Argumente müssen hier wenigstens genannt werden. Sie greifen in der Frage nach der Vermittlung von Gott und Welt und ihrer soteriologischen Bedeutung für das religiöse Bewusstsein Schleiermachers Intention im Grunde genommen durchaus auf. Denn Schleiermachers Zurückweisung der Trinitätslehre als einer für das religiöse Bewusstsein unnötigen Spekulation zielt vornehmlich auf die Lehre von der immanenten Trinität, weil wir, so Schleiermacher im religiösen Bewusstsein von solchen innergöttlichen Unterscheidungen gar nichts wissen können. Dass Schleiermacher das Sein Gottes in Christo und in der Gemeinde als schlechthin grundlegend für das Erlösungsbewusstsein erachtet, steht hingegen außer Frage. Dezidiert in Frage steht allerdings, ob diese aus soteriologischen Gründen für das religiöse Bewusstsein unabdingbare Aussage bei Schleiermacher eine hinreichende Begründung im Gottesgedanken erfährt oder ob bei ihm nicht doch die einfache Einheit des Absoluten in Korrespondenz zum schlecht14 Vgl. Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 12. Auflage Göttingen 1998, 510f, Hervorhebung C.A.-P. 15 Vgl. §8,4, Tb.I, 70: Es ist das Christentum die »reinste in der Geschichte hervorgetretene Gestaltung des Monotheismus«. 16 Vgl. §9.

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hinnigen Abhängigkeitsgefühl überwiegt, so dass die abstrakte Gotteslehre des ersten Teils der ›Glaubenslehre‹ die soteriologisch begründete Gotteslehre nachhaltig dominiert.17 Dasjenige nun, was teleologische Frömmigkeit als Kennzeichen der christlichen Religion bei Schleiermacher meint, habe ich bewusst so formuliert – theonom begründete, christologisch vermittelte, im Geist vollzogene Selbsttätigkeit des Einzelnen auf die Zweckbestimmung im Reich Gottes hin –, um anzudeuten, dass Schleiermachers Bestimmung des christlichen Monotheismus den Verweis auf die Trinität – freilich im Schleiermacherschen Sinn18 – durchaus mit sich führt. Schleiermacher macht denn auch nachdrücklich darauf aufmerksam, dass dadurch – durch die teleologische Bestimmtheit – der Monotheismus der christlichen Religion sich in allem von dem Monotheismus des Judentums und des Islams unterscheidet, und damit als Religion nicht in einzelnen Stücken von jenen abweicht, sondern ein Ganzes anderer Art bildet.19 Dies führt uns auf die Frage nach derjenigen Bedeutung, welche die teleologische Bestimmtheit der christlichen Religion für das religiöse Verhältnis des Einzelnen mit sich führt, indem sie die endliche Freiheit in ihrer Mitwirkung am Reich Gottes konstituiert. Dadurch nämlich wird das Verhältnis zwischen Einzelnem und Ganzem bzw. Einzelnem und Welt einer spezifischen Modifikation zugeführt. Dies wiederum ist wichtig im Blick auf den Schöpfungsglauben, in welchem es auch um das Verhältnis des Einzelnen in und mit der Welt unter der Bestimmtheit der schlechthinnigen Abhängigkeit geht. Wie schon die Orientierung der Allmacht an der Liebe und Weisheit Gottes in religionsvergleichender Perspektive das grundlegend Andere und Neue des Christentums herausstellt, so auch die teleologische Bestimmtheit desselben. Denn im Unterschied zum Islam, den Schleiermacher als eine ästhetische Form des Monotheismus20 versteht, und zwar deshalb, weil hier die Allmacht Gottes über das Ganze des Weltzusammenhangs den Einzelnen so bestimmt, dass das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen – des Einzelnen in seinem In-der-Welt-Sein – in eine fatalistische Frömmigkeit mündet, findet das religiöse Weltverhältnis in der christlichen Religion eine andere Bestimmtheit: Es wird in die selbsttätige Mitwirkung am Reiche Gottes gesetzt.21 In der ästhetischen Frömmigkeit hingegen wird das Bestimmtsein des Einzelnen durch das gesamte endliche Sein 17 Zu dieser Problematik vgl. Chr. Axt-Piscalar, Der Grund des Glaubens. Eine theologiegeschichtliche Untersuchung zum Verhältnis von Trinität und Glaube bei I.A. Dorner, (BhTh 79), Tübingen 1990, dort bes. Kapitel II zur Wiederaufnahme der immanenten Trinitätslehre bei den Schülern Schleiermachers. 18 Dazu vgl. ›Glaubenslehre‹, §§170–172, Tb.II, 514–532. 19 Vgl. dazu Schleiermachers Bemerkung, dass »wol das Bewußtsein von Gott überhaupt ein anderes sein, wenn die Sendung des Sohnes und die Ausgießung des Geistes als etwas wesentliches und ausgezeichnetes gefühlt« wird (1. Aufl., §17,2, Tb.I, 59). 20 Vgl. §9,1, Tb.I, 74–78. 21 Vgl. §9,1, Tb.I, 76, wo Schleiermacher festhält, dass in der teleologischen Frömmigkeit die leidentlichen Zustände »das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl nur in sofern erregen, als sie auf die Selbstthätigkeit bezogen werden, das heißt insofern als wir wissen, daß etwas und was, eben deshalb weil wir uns zu der Gesammtheit des Seins in dem Verhältniß befinden welches in dem leidentlichen Zustand ausgedrükkt ist, von uns zu thun sei, so demnach daß die mit jenem Zustande zusammenhängende und daraus hervorgehende Handlung eben dieses Gottesbewußtsein zu seinem Impuls hat.«

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als Ausdruck der göttlichen Allmacht so aufgefasst, dass die Selbsttätigkeit des Einzelnen aufgehoben ist und eine fatalistische Gestimmtheit nach sich zieht,22 indem die göttliche Vorsehung eigentlich als Schicksal verstanden und dabei »gedacht wird an ein Bestimmtsein des einzelnen durch das Zusammenwirken alles übrigen ohne Berükksichtigung dessen, was aus dem Fürsichgeseztsein des Gegenstandes hervorgegangen sein würde.«23 Will heißen, im christlichen Monotheismus ist dies nicht der Fall, wird dieses fatalistische Verhältnis von göttlicher Allmacht und Einzelnem vielmehr aufgehoben in der teleologischen Bestimmtheit der Frömmigkeit zur Mitwirkung am Reich Gottes.24 Der christliche Monotheismus ist aufgrund seiner teleologischen Bestimmtheit – die wir als theonom begründete, christologisch vermittelte, im Geist vollzogene Selbsttätigkeit des Einzelnen auf die Zweckbestimmung im Reich Gottes hin zu verstehen gegeben haben – nun ebenfalls vom Monotheismus des Judentums spezifisch unterschieden. Auch der Unterschied zu diesem wird von Schleiermacher im Blick auf das »Selbsttätigkeitsbewusstsein«25 geltend gemacht. Zunächst hält Schleiermacher fest,26 dass das Judentum sich erst allmählich von einer polytheistischen zu einer monotheistischen Religion herausgebildet habe, wobei der Exilserfahrung für diese Entwicklung die entscheidende Rolle zukam. Seine Herkunft aus dem Polytheismus habe die alttestamentliche Religion jedoch nie ganz überwunden. Vielmehr sei sie von der Beimischung polytheistischer Elemente nicht vollends gereinigt, wie sich besonders an den sinnlich geprägten Aussagen über die Eigenschaften Gottes zeige.27 Zudem sei der jüdische Monotheismus durch die Beschränkung auf das jüdische Volk geprägt und lasse eine universale Ausrichtung auf die ganze Menschheit vermissen.28 22 Vgl. §9,1, Tb.I, bes. 76ff. 23 §164,3, Tb.II, 497. Hier grenzt Schleiermacher den christlichen Gedanken der göttlichen Vorsehung von dem des Schicksals ab, wie er in der ästhetischen Gestalt der Frömmigkeit prägend ist. 24 Schleiermacher gesteht selbst zu, dass die Aussagen des ersten Teils der ›Glaubenslehre‹ ohne Bezug zur teleologischen Bestimmtheit der christlichen Religion einen einseitigen Charakter haben. Man könnte dann sagen »es wären dogmatische Säze, die nur das monotheistische im allgemeinen aussprächen, ohne daß hervortrete, ob sie der teleologischen oder der aesthetischen Ansicht angehören« (§29,2, Tb.I, 192). 25 Diesen Ausdruck gebraucht Schleiermacher §9,2, Tb.I, 80. 26 Vgl. §8,4 und ferner zum Verhältnis zwischen der christlichen und der jüdischen Religion §12. 27 Die Grundaufgabe der in der ›Glaubenslehre‹ zu entwickelnden Eigenschaftenlehre gegenüber ihrer traditionellen Behandlung, in die, so Schleiermacher, vieles aus dem Judentum übernommen sei, besteht daher darin, »diese Vorstellungen zu regeln, so daß das menschenähnliche, welches sich mehr oder weniger in allen findet, und das sinnliche, das so manchen beigemischt ist, möglichst unschädlich gemacht werde, und nicht ein Rükschritt gegen die Vielgötterei hin daraus entstehe« (§50,1, Tb.I, 301). 28 Vgl. §8,4, Tb.I, 70. Dass gerade der Schöpfungsbericht der Priesterschrift der Durchsetzung des strengen Monotheismus – gegen die Vielheit der Götter – und damit einhergehend dem Anspruch des einen Gottes auf die Welt und die Völkerwelt als Ganze diente, sieht bzw. will Schleiermacher nicht sehen. Den Schöpfungsbericht zieht er vorwiegend zur kritischen Behandlung heran, weil und insofern seine Rezeption in der traditionellen Theologie die aus Schleiermachers Sicht unstatthafte Vorstellung über die Schöpfung am Anfang nach sich zog und dadurch zeitliche Vorstellungen in den Gottesbegriff eingetragen wurden.

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Insbesondere aber walten im Judentum ein vorwiegend am Gesetz ausgerichteter Monotheismus und eine dementsprechende Frömmigkeitspraxis vor. Dies haben wir auf dem Hintergrund des zur teleologischen Frömmigkeit Ausgeführten so zu verstehen, dass es in ihm nicht zu einer Konstitution wahrhafter Selbsttätigkeit kommt, sondern nur zu einem äußerlichen Vollzug der Gesetzesnorm und ihrer Vorschriften, die der Fromme vollzieht, weil sie geboten sind, nicht jedoch aufgrund einer ihm innewohnenden göttlichen Kraft, welche die Einsicht in den göttlichen Willen mit der Verwirklichung desselben verbindet. Dies ist nur im Glauben als Erlösungsbewusstsein möglich, der in der Kraft des Geistes an der Kräftigkeit des Gottesbewusstseins Jesu Christi partizipiert, der nicht wie ein Knecht lediglich Gebote empfängt und sie vollzieht, sondern als der Sohn aus der inneren Übereinstimmung mit dem väterlichen Willen diesen vollkommen frei verwirklicht. Dadurch unterscheiden sich der neue und der alte Bund und die im Erlösungsbewusstsein konstituierte Selbsttätigkeit des Christenmenschen von der jüdischen Gesetzesfrömmigkeit.29 Zwei Aussagen wollten wir vorausgeschickt haben, bevor wir Schleiermachers Ausführungen zum Schöpfungsglauben auf der Grundlage des ersten Teils seiner ›Glaubenslehre‹ analysieren. Die eine rückt die Frage nach der Bejahung der Individualität des Einzelnen für das Sichselbstverstehen im Horizont des Gottesverständnisses und im Gegenüber zur Welt in den Vordergrund. Die andere macht auf die Konstitution endlicher Freiheit in ihrer Bestimmung zur Mittätigkeit am Reich Gottes aufmerksam. Wenn man diesen Verstehenshorizont, wie er sich aus der Zusammenschau mit dem zweiten Teil der ›Glaubenslehre‹ ergibt und also vom Standpunkt des Erlösungsbewusstseins aus eröffnet ist, mitführt bei der Analyse des ersten Teils der ›Glaubenslehre‹, dann kann man sich salopp gesagt schon eher vorstellen, dass Jacobi sich über die von Schleiermacher beabsichtigte Widmung seiner ›Glaubenslehre‹ an ihn auch hätte gefreut haben können. Ohne die Perspektive auf das im Erlösungsbewusstsein Mitgesetzte kommen die Aussagen des ersten Teils der ›Glaubenslehre‹ nicht darüber hinaus, den Einzelnen in den Naturzusammenhang einzuordnen und ihn als einen bloßen Teil im Ganzen des Weltzusammenhang zu verstehen. Und ohne die erlösungstheologische Perspektive erreichen Schleiermachers Ausführungen nicht den Begründungszusammenhang der Konstitution wahrer Freiheit des Menschen. Liest man die beiden Teile der ›Glaubenslehre‹ in diesem Horizont, dann verbindet sich mit ihrer vielfach so kritisierten Ordnung eine starke These, die sich nur in dieser Ordnung und also der Verbindung von erstem und zweitem Teil der ›Glaubenslehre‹ als eine starke These bewährt. Denn hier wird auf der Grundlage des ersten Teils gezeigt, dass und warum das Selbst- und Welt- und Gottesverständnis, das in ihm erreicht ist, in die Bewegung einer Aufhebung gestellt ist, die 29 Zu diesem Gedanken vgl. bes. Schleiermachers Adventspredigt über den »Unterschied zwischen dem Wesen des neuen und des alten Bundes an ihren Schriften dargestellt«, in: Friedrich Schleiermachers Sämmtliche Werke, Bd. II/2 Predigten, Berlin 1834, 299–313. Auch im §12,3, Tb.I, 105f der ›Glaubenslehre‹ unterstreicht Schleiermacher – mit Verweis auf Jeremia 31,31–34 – den in der verheißenen Geistteilhabe begründeten, vom alten Bund gänzlich verschiedenen Charakter des neuen Bundes.

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allererst im zweiten Teil der ›Glaubenslehre‹ mit der Entfaltung des im Erlösungsbewusstsein mitgesetzten Gottes-, Selbst- und Weltverständnisses erreicht ist. Was dies für die anderen Religionen, was dies für die vernünftige Gotteserkenntnis, was dies für die profanen Weltanschauungen jedweder Couleur heißt, habe ich anzudeuten versucht.

2. Der im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl mitgesetzte Weltbegriff 2.1. Die Duplizität des Selbstbewusstsein Wir gehen nun vom frommen Selbstbewusstsein aus, wie es Schleiermacher beschreibt, und heben dabei diejenigen Momente hervor, die für die weiteren Ausführungen zum Schöpfungsglauben und Monotheismus entscheidend sind. Damit entsprechen wir dem eingangs erwähnten Schleiermacherschen Grundsatz, der die nachvollziehbare Ableitung aller Sätze der ›Glaubenslehre‹ aus dem frommen Gefühl verlangt. Das heißt, wir setzen unter den gebildeten Freunden des Religionstheoretikers Schleiermachers detaillierte Argumentation für das Abhängigkeitsgefühl schon voraus, und stellen, indem wir §4 der ›Glaubenslehre‹ als ständigen Bezugstext unserer Darlegung mitführen, dezidiert auf jene Momente ab, die das Weltverhältnis des Subjekts und den im Selbstbewusstsein mitgeführten Weltbegriff betreffen, der im frommen Gefühl unter die Bestimmtheit der schlechthinnigen Abhängigkeit gebracht wird, woraus sich das Verständnis des Schöpfungsglaubens und die dementsprechenden göttlichen Eigenschaften ergeben. Schlechthin ausschlaggebend für unseren Gedankengang ist die von Schleiermacher behauptete gleichursprüngliche Duplizität des Selbstbewusstseins.30 In unserem Selbstbewusstsein ist immer schon sein Bezogensein auf das Andere seiner selbst und damit der Weltbezug mitgesetzt. Dies drückt sich in dem »veränderlichen Sosein[]«,31 das wir in der Selbsterfahrung gewärtigen, aus und ist insgesamt Ausdruck des In-der-Welt-Seins des Subjekts. Weil dies so ist, dass wir uns in wechselnden Zuständen erfahren, und weil die darin sich zeigende veränderliche Bestimmtheit des Selbstbewussteins nicht noch einmal aus dem sich selbst gleichen Ich abgeleitet werden kann, kann nach dem »Woher« dieser wechselnden Bestimmtheit des Selbstbewusstseins gefragt werden. Es kann ferner gefragt werden, wie dieses Woher aufgrund der Bestimmtheit unseres Selbstbewusstseins näherhin zu begreifen ist, und nicht zuletzt kann bestimmt werden, wie der Einzelne sich selbst und die Welt im Verhältnis zu diesem Woher zu verstehen hat.32 30 Die Duplizität des Selbstbewusstseins ist insofern grundlegend, als Schleiermacher damit die idealistische Frage nach der reinen Subjektivität als Instanz der Selbst- und Welterfahrung entschieden ablehnt und im Ausgang vom wirklichen Selbstbewusstsein dessen gleichursprüngliches Bezogensein auf das Andere seiner selbst behauptet. »Es giebt kein als zeiterfüllend hervortretendes reines Selbstbewußtsein, worin einer sich nur seines reinen Ich an sich bewußt würde, sondern immer in Beziehung auf etwas, mag das nun eines sein oder vieles« (1. Aufl., §9,1, Tb.I, 31). In der zweiten Auflage heißt es entsprechend: »In keinem wirklichen Selbstbewußtsein [...] sind wir uns unsres Selbst an und für sich, wie es immer dasselbe ist, allein bewußt, sondern immer zugleich einer wechselnden Bestimmtheit desselben« (§4,1, Tb.I, 33). 31 Ebd. 32 Vgl. §30,1, Tb.I, 194, wo Schleiermacher den Argumentationszusammenhang genau in dieser Weise

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Wenn diese Aspekte näher erfasst sind, ist deutlich, was Schleiermacher unter dem Gedanken des »Naturzusammenhangs« versteht. Damit wiederum ist die Grundlage dafür erarbeitet, das »fromme Naturgefühl«33 als Ausdruck des Schöpfungsglaubens und die allwirksame und als solche erhaltende Tätigkeit Gottes im Sinne Schleiermachers zu verstehen. Es gilt nämlich: »Der Naturzusammenhang wird als das Werk der göttlichen Alleinbestimmung gesetzt«, so die handschriftliche Bemerkung Schleiermachers zum Leitsatz des §46; und dies ist der primäre Ausdruck des Schöpfungsglaubens. Diese Auffassung, der zufolge der Naturzusammenhang als das Werk der göttlichen Alleinbestimmung zu verstehen ist, bildet nichts anderes als die Konsequenz aus Schleiermachers Grundsatz,34 dass jedwede Bestimmtheit unseres Bewußtseins, die sich aus unserem Zusammensein mit der Welt ergibt, so dass die Welt darin mitgesetzt ist – wie werden wir noch genauer sehen müssen – unter das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl gebracht werden kann.35 Der Schöpfungsglaube, wie er im Zusammenhang der ›Glaubenslehre‹ sich darstellt, ist Ausdruck dafür, wie der Einzelne sich in der Welt vorfindet und wie er dieses sein In-der-Welt-Sein und die Welt als Ganze unter die Bestimmtheit der schlechthinnigen Abhängigkeit bringt. Der §34 greift diesen sich aus der beschriebenen Duplizität des Selbstbewusstseins ergebenden Zusammenhang auf, wenn Schleiermacher formuliert: »Das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl ist in jeder christlich frommen Erregung mit enthalten, in dem Maaß als darin, vermittelst dessen wodurch sie mit bestimmt wird, zum Bewußtsein kommt, daß wir in einen allgemeinen Naturzusammenhang gestellt sind, d. h. in dem Maaß, als wir uns darin unsrer selbst als Theil der Welt bewußt sind«.36 Das Bewußtsein, dass wir in den Zusammenhang der Welt gestellt sind, bildet eine konstitutive Bestimmtheit unseres Selbstbewusstseins eben aufgrund der unvorgreiflichen Duplizität desselben. Schleiermacher erläutert dementsprechend: »Aber das entgegengesezte ist nur im Selbstbewußtsein, sofern es uns afficirt, mithin mit uns im Naturzusammenhang steht; und so ist also der gesammte Naturzusammenhang oder die Welt in unserm Selbstbewußtsein mitgesezt, sofern wir uns unserer selbst als eines Theils eröffnet. Zum Woher des Abhängigkeitsgefühls vgl. §4,4. 33 §34,3, Tb.I, 215. 34 Vgl. dazu insgesamt §5, 40–53 der im Kern festhält: »[U]nverträglich ist keine Bestimmtheit des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewußtseins mit dem höheren« (§5,5, Tb.I, 51). 35 Dies muss, so Schleiermacher, »Jedem, der nur überhaupt dies, daß durch Einwirkungen auf unser sinnliches Selbstbewußtsein das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl erregt werden kann, als einen Erfahrungssaz zugiebt, auch in seinem ganzen Umfang unmittelbar einleuchten« (§46,2, Tb.I, 268f ). Vgl. seine Schlussfolgerung: »Hieraus folgt nun zugleich die Möglichkeit des frommen Selbstbewußtseins für jeden Moment eines objectiven Bewußtseins, und die Möglichkeit des vollendeten Weltbewußtseins für jeden Moment eines frommen Selbstbewußtseins« (§46,2, Tb.I, 269). Der Grundsatz, dass jedwede Bestimmtheit des sinnlichen Selbstbewusstseins unter das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl gebracht werden kann, führt Schleiermacher zu einer kritischen Umbildung der traditionellen Urstandslehre. Ihr Kern besteht darin, dass er sie in die Aussage der prinzipiellen Bestimmbarkeit alles dessen, was uns affiziert, durch das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl überführt. Zur Kritik und Umbildung der Urstandslehre vgl. Chr. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde, 219ff. 36 §34, Leitsatz, Tb.I, 212.

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der Welt bewußt sind. Dies aber muß vermöge des jedesmal mitgesezten sinnlichen Selbstbewußtseins in jeder christlich frommen Erregung der Fall sein.«37

Wie argumentiert Schleiermacher nun im Einzelnen und welche Aspekte ergeben sich im Ausgang von der Selbsterfahrung für den Weltbegriff und das Verständnis des Einzelnen im Zusammensein in und mit der Welt, welche sodann unter die Bestimmtheit der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott gesetzt werden und solcherart Ausdruck des Schöpfungsglaubens sind? Wir können in unserem Zusammenhang nur die Grundbestimmungen anführen, die sich aus der Analyse des Selbstbewusstseins ergeben und dann maßgeblich sind für die Durchführung der Erhaltungslehre und der darin mitgesetzten göttlichen Eigenschaften. 2.2. Die Schlechthinnigkeit des Abhängigkeitsgefühls Die erste Bestimmung, die wir hier zu bedenken haben, ist selbstredend das am Vollzug endlicher Freiheit mitgesetzte Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit als Ausdruck dafür, dass wir den Vollzug von Freiheit, in dem wir uns immer schon vorfinden, nicht unserer Selbsttätigkeit verdanken, sondern uns in ihn eingesetzt finden.38 Schleiermacher entwickelt das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl auf der Grundlage der Duplizität des Selbstbewusstseins. Sie schließt ein schlechthinniges Freiheitsgefühl aus, insofern wir durch Anderes außer uns bestimmt sind. Sie schließt aber auch ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl aus, weil wir auf der Ebene der Wechselwirkung mit Anderem auf dieses immer eine gewisse Gegenwirkung auszuüben vermögen, mit der sich ein Freiheitsgefühl verbindet. Will heißen, wenn von einem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl die Rede ist, dann kann dieses nicht von einzelnem Endlichem, aber auch nicht von der Welt als ganzer herrühren.39 Es kann ein solches Gefühl nur als Ausdruck der Be37 §34,1, Tb.I, 213. Das Mitgesetztsein der Welt im Selbstbewusstsein ist sowohl aufgrund unseres leibhaften Daseins also auch aufgrund der auf Objekte bezogenen Vernunfttätigkeit gegeben. Beides – die leibhafte Organisation des Menschen wie seine Vernunft – gehört mithin zur ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen (s. o. Anm. 35), insofern sie die Bedingung der Affektion durch Anderes und solcherart die Anknüpfung für die göttliche Wirksamkeit bildet. Vgl. die beiden handschriftlichen Anmerkungen Schleiermachers zu §34: »Das Verhältniß der Intelligenz zum Organismus setzt Naturzusammenhang«; und »Sein im Selbstbewußtsein als objektivbewußtem« (Tb.I, 213). 38 Der entscheidende Satz in diesem Zusammenhang lautet, dass »unser ganzes Dasein uns nicht als aus unserer Selbstthätigkeit hervorgegangen zum Bewußtsein kommt«. Es ist das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl der Ausdruck dafür, »daß unsere ganze Selbstthätigkeit [...] von anderwärtsher ist« (§4,3, Tb.I, 38). Es fällt auf, dass Schleiermacher in seiner Argumentation für das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl drei Mal pointiert den Ausdruck »Dasein« – etwa wenn er »Gott« als Ausdruck für das »Woher unseres empfänglichen und selbstthätigen Daseins« bezeichnet (§4,4, Tb.I, 39) – gebraucht. Das Dasein versteht er als im Fortbestehen begriffenes Dasein, mit dem sich nicht die Frage nach seinem Dasein überhaupt verbindet. Dies bildet das zentrale Argument für Schleiermacher, die Schöpfungslehre, insofern sie auf den Anfang der Welt bezogen gedacht sein soll, abzulehnen. Die Frage, ob wir mit dem Bewusstsein davon, dass wir da sind, nicht auch ein Bewusstsein davon haben, dass wir nicht da sein könnten, ist am Schluss unserer Überlegungen noch einmal aufzuwerfen. 39 Vgl. §4,4, Tb.I, 39: »daß dieses Woher nicht die Welt ist in dem Sinne der Gesammtheit des zeitlichen Seins, und noch weniger irgend ein einzelner Theil derselben.«

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dingtheit durch Gott, näherhin durch Gott als absolute Ursächlichkeit,40 für welche die einfache Einheit die sich aus dem religiösen Grundgefühl ergebende Grundbestimmung darstellt. Das »Mitgeseztsein Gottes als der absoluten ungetheilten Einheit«41 ist das Entscheidende der im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl mitgesetzten Bestimmung Gottes. Mit diesem Argument sind folgende weitere Bestimmungen bereits verbunden: Erstens ist festzuhalten, dass das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl am Vollzug endlicher Freiheit ausgesagt wird, diesen also voraussetzt und nicht negiert, vielmehr auf sein Gegründetsein im Absoluten hin durchsichtig macht. »Ohne alles Freiheitsgefühl [...] wäre ein schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich«.42 Zweitens ist festzuhalten: Wir finden uns in diesem Vollzug von Freiheit, der auf sein Gegründetsein im Absoluten hin durchsichtig gemacht wird, vor. Wir sind im »Fortbestehen«43 begriffen, wie Schleiermacher sagt, von einem Anfang dieses Vollzugs haben wir keine Vorstellung. Dies bildet ein zentrales Argument für Schleiermacher, die Schöpfungslehre, sofern mit ihr auf einen zeitlichen Anfang der Welt abgehoben sein soll, einer Kritik zuzuführen und die Erhaltungslehre als den genuinen Ausdruck des frommen Gefühls zu behaupten. Drittens ist festzuhalten, dass der Vollzug der Freiheit als Vollzug der Wechselwirkung mit Anderen zu verstehen ist, in welcher Wechselwirkung für jedes der Relate Tätigkeit behauptet wird, so dass alles Endliche unter der Bestimmung von zugleich gesetzter Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit zu denken ist,44 – was wiederum zur Folge hat, dass zwischen freien Ursachen und natürlichen Ursachen nur ein gradueller Unterschied aufgemacht wird und beide gleichermaßen unter die göttliche Allwirksamkeit gesetzt werden. Dass der Vollzug der Freiheit in der Wechselwirkung mit Anderem, in welcher jedem der Relate Tätigsein zu attestieren ist, gedacht wird, ist wichtig, um den Naturzusammenhang im Ganzen und den Einzelnen in und mit allem Endlichen zu verstehen und von daher zu begreifen, dass und wie Schleiermacher damit die Allwirksamkeit Gottes verbindet. 40 Vgl. §50,3, Tb.I, 304: »wogegen der Begriff der Ursächlichkeit mit dem schlechthinigen Abhängigkeitsgefühl selbst im genauesten Zusammenhange steht«. 41 §32,2, Tb.I, 203f. 42 §4,3, Tb.I, 38. 43 §36,1, Tb.I, 219; s. dazu unten 305f. 44 Vgl. §49,1, Tb.I, 294–297, wo Schleiermacher gleichermaßen die Geordnetheit der natürlichen Ursachen und der freien Ursachen behauptet und hier die Aussagen von §4,3 m. E. aufgreift und ausführt: »Ist nun die Freiheit noch so sehr in der Willensbestimmung und im Entschluß, so wird doch die Handlung immer schon gleich im Heraustreten durch anderwärts her gegebenes so mitbestimmt, daß sie, was sie wird, nur als demselben allgemeinen Zusammenhang angehörig wird, welcher der eigentlich untheilbare Gegenstand des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls ist« (§49,1, Tb.I, 294). Schleiermacher belegt dies damit, dass »jeder andere freihandelnde an demselben Ort anders würde gehandelt haben als der wirklich dort befindliche, eben so gewiß als dieser an einem andern Ort anders, und ist doch dieses an welchem Orte jeder ist, in dem allgemeinen Zusammenhang gegründet: so kann niemand bezweifeln, daß auch die Wirkungen der freien Handlungen vermöge der schlechthinigen Abhängigkeit erfolgen« (§49,1, Tb.I, 295).

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Denn Gott ist reines Tätigsein oder, wie Schleiermacher auch sagen kann, die ewige Kraft,45 die niemals ruhend ist46 und die als wirkende Kraft eben alles Mögliche auch tatsächlich wirkt, nicht bloß wirken könnte.47 So hält der Leitsatz zu Paragraph 54 fest, dass »alles wirklich wird und geschieht, wozu es eine Ursächlichkeit in Gott giebt«.48 Eine Unterscheidung von Wollen und Vollbringen in Gott, ein danach gebildeter Begriff göttlicher Freiheit ebenso wie die Vorstellung einer zeitlichen Abfolge in Gott, werden von Schleiermacher als inadäquate Aussage über Gott als die stets wirkende Kraft zurückgewiesen. Dem Umfang nach ist die göttliche Ursächlichkeit mit dem Naturzusammenhang eins. »[D]ie ganze Allmacht ist ungetheilt und unverkürzt die alles thuende und bewirkende«.49 Sie bedient sich des Naturzusammenhangs, indem sich in und durch den Naturzusammenhang die »geordnete[] Ausübung der Macht [vollzieht], welche die Abhängigkeit jedes einzelnen von der Gesammtheit des Seins auf ewige Weise festgestellt hat, und sich zum Fortbestehen der allgemeinen Wechselwirkung der Kräfte der einzelnen Dinge bedient«.50 Es ist sonach viertens ganz grundlegend festzuhalten: Dass Gott an dem Vollzug endlicher Freiheit in der Wechselwirkung in und mit Anderem und mithin auch in Bezug auf den darin mitgesetzten Naturzusammenhang ausgesagt wird.51 Fünftens ist festzuhalten, dass, indem Gott der Ausdruck für die Schlechthinnigkeit des Abhängigkeitsgefühls ist, er nicht mit der Welt in eins gesetzt werden kann. Denn auf die Welt hat immer eine, wenn auch noch so kleine, Gegenwirkung statt, wo45 §52,1, Tb.I, 313: »Das fromme Bewußtsein aber wird, indem wir die Welt überhaupt auf Gott beziehen, nur wirklich als das Bewußtsein seiner ewigen Kraft«. Schleiermacher zieht Röm1,20 als Beleg heran und lehnt die zeitliche Vorstellung für das göttliche Schaffen als alttestamentlich ab. So in der handschriftlichen Bemerkung zur Stelle, wo es heißt: »Sein vor allem Andern ist alttestamentlich, aber dadurch nicht brauchbar. Denn es bleibt zeitlich, wenn es als vor, oder mit, oder nach einem Andern, zeitlich Entstehenden, wird« (ebd.). 46 Dies wird gegen die Unterscheidung von ruhenden und tätigen Eigenschaften Gottes in der Schultheologie geltend gemacht. 47 Wobei es streng genommen für Gott gar kein bloß Mögliches gibt, nur immer schon Wirkliches. Kurz und bündig hält Schleiermacher fest: »Ein Unterschied zwischen Können und Wollen ist aber in Gott eben so wenig, wie der zwischen wirklich und möglich« (§54,3, Tb.I, 328). Die oben angeführten Bestimmungen sind für Schleiermachers Kritik an der schulmäßigen Behandlung der Schöpfungslehre grundlegend. Denn Schleiermacher verwirft jede Vorstellung eines (zeitlichen) Übergangs vom Sein Gottes für sich zur Schöpfung der Welt, ebenso die Auffassung, er vollziehe die Schöpfung auf der Grundlage der Unterscheidung des Möglichen vom Wirklichen und schließlich auch ein Verständnis von göttlicher Freiheit, das diese als einen Akt der Wahl zwischen Möglichkeiten aufgrund eines Selbstentschlusses begreift. Als Hauptursache für diese Fehlentwicklung in der Schultheologie sieht Schleiermacher die Gewichtung und ein verfehltes Verständnis des alttestamentlichen Schöpfungsberichts an. 48 §54, Leitsatz, Tb.I, 324. 49 §54,3, Tb.I, 329. 50 §54,4, Tb.I, 330. 51 Vgl. dazu die Anmerkung zu §51 zur schlechthinnigen Ursächlichkeit, die dem Umfange nach mit dem Naturzusammenhang gleichgesetzt wird: »Gleichgesetzt. Ein schlechthin reges Gottesbewußtsein wird überall göttliche Ursächlichkeit finden, wo ihm endliche entgegentritt. – Aber auch nirgend anders, weil wir nur in Verbindung mit sinnlich erregtem Selbstbewußtsein das Gottesbewußtsein als Moment erfüllend haben« (§51,1, Anmerkung, Tb.I, 309).

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mit ein, wenn auch noch so kleines, Freiheitsgefühl gesetzt ist, so dass das Woher der Schlechthinnigkeit unseres Abhängigkeitsgefühls nicht von der Welt herrührt, sondern in diesem »Woher« Gott mitgesetzt ist, weshalb Schleiermacher sich gegen den Pantheismusvorwurf verwahrt.52 Alle die genannten Implikationen sind in der Duplizität des Selbstbewusstseins schon enthalten, wie Schleiermacher sie im §4 beschreibt. Ich gehe auf zwei weitere Aspekte noch etwas genauer ein, um zu verstehen, was im Sinne Schleiermachers Schöpfungsglaube zu heißen verdient und was nicht. Der eine Aspekt betrifft diejenige Operation53 des frommen Selbstbewusstseins, wodurch es ein allgemeines Endlichkeitsbewusstsein repräsentiert. Der andere zielt auf diejenige Operation im Selbstbewusstsein, in der es den Weltbegriff bildet, sowie auf das damit zusammenhängende Verständnis des Einzelnen, insofern er sich als eines lebendigen Teils im Ganzen der Welt begreift. Denn dieses zusammengenommen – allgemeines Endlichkeitsbewusstsein und Weltbegriff im Sinne der Einheit der Vielheit als eines Ganzen sowie das mit ihm zusammenhängende Bewusstsein des Sich-seiner-selbst-alseines-Teils-der-Welt-bewusst-Sein – ist die Basis des Schöpfungsglaubens.

3. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als »allgemeines Endlichkeitsbewusstsein« Das fromme Selbstbewusstsein ist dadurch gekennzeichnet, dass der Einzelne nicht nur sich selbst als schlechthinnig abhängig fühlt, sondern mit sich zugleich alles Endliche als schlechthin abhängig versteht. Wir »erweitern«, wie Schleiermacher sagt, das Bewusstsein der eigenen schlechthinnigen Abhängigkeit auf alles Endliche hin.54 Die schlechthinnige Abhängigkeit wird »nicht von uns als jezt so und nicht anders seienden Einzelnen, sondern nur von uns als einzelnem endlichen Sein überhaupt«55 ausgesagt. Im frommen Gefühl übertragen wir die schlechthinnige Abhängigkeit »auf das gesammte endliche Sein«,56 so dass das fromme Gefühl das Bewusstein von der »Endlichkeit des Seins im Allgemeinen vertritt«57 und es ein »allgemeine[s] Endlichkeitsbewußtsein«58 52 Vgl. §32,2, Tb.I, 203f, wo Schleiermacher diese Argumentation über die Wechselwirkung mit Anderem und das darin mitgeführte relative Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl dessen Unterscheidung von der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott wieder aufgreift. 53 Der Ausdruck »Operation« des Selbstbewusstseins ist insofern nicht ganz unbedenklich, als Schleiermacher strikte den Unmittelbarkeitscharakter des religiösen Gefühls – gegenüber Wissen und Tun – als Spezifikum der Frömmigkeit betont. Dies ist m. E. auch strikte zu betonen, weil nur die Unmittelbarkeit der Schlechthinnigkeit des Abhängigkeitsgefühls entspricht, indem sie die Form reiner Passivität darstellt. Das heißt nun aber nicht, dass in diesem Grundgefühl – das als ein unmittelbares auftritt – nicht bestimmte Implikationen mitgesetzt sind, die in einer sekundären Reflexion auf das fromme Gefühl durchsichtig gemacht werden. In diesem Sinn ist das ganze Unternehmen der ›Glaubenslehre‹ zu verstehen. 54 Vgl. §34,1, Tb.I, 213. 55 §5,1, Tb.I, 43. 56 §36,1, Tb.I, 219. 57 §33, Leitsatz, Tb.I, 205. 58 §8,2, Tb.I, 67.

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darstellt. »Denn wenn wir uns unserer Selbst ohne weiteres in unsrer Endlichkeit als schlechthin abhängig bewußt sind: so gilt dasselbe von allem Endlichen und wir nehmen in dieser Beziehung die ganze Welt mit in die Einheit unseres Selbstbewußtseins auf.«59 Die Grundlage dafür ist, dass unser Selbstbewusstsein das Bewußtsein »der Wechselwirkung des Subjectes mit dem mitgesezten Anderen«60 ist, und dieses mitgesetzte Andere im Selbstbewusstsein nicht als ein bloß vereinzeltes Anderes und nicht als bloße Mannigfaltigkeit mitgesetzt ist, sondern auf die Totalität alles Endlichen hin erweitert wird. Wir setzen »das Gesammte Außeruns als Eines«61 und im frommen Gefühl mithin alles Endliche unter die schlechthinnige Abhängigkeit. Damit zugleich wird nun aber auch die Totalität alles Einzelnen als Welt, nämlich im Sinne der Einheit alles Einzelnen in einem durch Wechselwirkung bestimmten Ganzen, im frommen Gefühl unter die schlechthinnige Abhängigkeit befasst. Damit einhergehend versteht sich der Einzelne als Teil dieses Ganzen. Denn unser Bewußtsein ist das »Bewußtsein unseres Seins in der Welt oder unseres Zusammenseins mit der Welt«.62 Dieses im Selbstbewusstsein gesetzte Weltverhältnis und der auf die Totalität des Endlichen ausgreifende Weltbegriff werden im frommen Gefühl unter das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl gebracht, so dass »der Fromme sich selbst als einen Bestandtheil der Welt und mit dieser zugleich schlechthin abhängig sezt«.63 Das fromme Gefühl sagt mithin nicht allein aus, dass alles Endliche als schlechthin abhängig von Gott zu sehen ist. Vielmehr rückt das fromme Gefühl den Einzelnen zugleich in das Ganze ein, indem er sich als Teil dieses Ganzen versteht; und es setzt das Ganze – als Wechselwirkungszusammenhang alles Einzelnen – unter die schlechthinnige Abhängigkeit. Erst dieses zusammengenommen ist das Korrelat des Monotheismus, in welchem alles Endliche und alles Endliche als Ganzes sowie der Einzelne als Teil dieses Ganzen unter die schlechthinnige Abhängigkeit gebracht wird. Denn das Bewusstsein der monotheistischen Frömmigkeit ist dadurch bestimmt, »[e]inen Gott zu glauben, vor welchem der Fromme sich selbst als einen Bestandtheil der Welt und mit dieser zugleich schlechthin abhängig sezt«.64 59 60 61 62 63 64

Ebd. §4,2, Tb.I, 35, kursiv Gesetztes im Original gesperrt. AaO. 36. Ebd. §8,2, Tb.I, 66. Ebd., Hervorhebung C.A.-P. Das so bestimmte Gefühl der monotheistischen Frömmigkeit – ein Teil des Ganzen und mit dem Ganzen zugleich schlechthinnig abhängig zu sein – kann, so Schleiermacher, durchaus auch mit einem pantheistischen Gottesgedanken verknüpft sein. Solange der Pantheismus wirklich ein Theismus sei und nicht nur eine verlarvte materialistische Negation des Theismus darstelle, solange könne sich mit der Vorstellung »Eins und Alles« durchaus dasselbe fromme Gefühl verbunden sin, wie in der monotheistischen Frömmigkeit. Voraussetzung ist, dass der Einzelne sich als Teil der Welt und die Welt im Ganzen als schlechthin abhängig von Gott begreift. Nämlich »so werden dann doch Gott und Welt wenigstens der Function nach geschieden bleiben, und also kann auch ein solcher, indem er sich in die Welt mit einrechnet, sich mit diesem All abhängig fühlen von dem was das Eins ist dazu. Solche Zustände werden sich dann von den frommen Erregungen manches Monotheisten schwer unterscheiden lassen. Wenigstens trifft der immer etwas wunderliche daß ich so sage grob gezeichnete Unterschied zwischen einem außer oder überweltlichen und

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4. Die im frommen Gefühl mitgesetzte Vorstellung vom Naturzusammenhang als Ausdruck der göttlichen Allwirksamkeit Dies führt nun noch einmal auf die Frage nach der Bestimmtheit des im Selbstbewusstsein aufgrund der Wechselwirkung mit dem Anderen mitgesetzten Naturzusammenhangs als Ausdruck jenes Ganzen, innerhalb dessen sich der Einzelne als Teil desselben versteht, und der unter die schlechthinnige Abhängigkeit gesetzt und so als Ausdruck der göttlichen Allwirksamkeit verstanden wird. Der Gedanke des im Selbstbewusstsein mitgesetzten Naturzusammenhangs ist näher zu erfassen, um zu verstehen, wie das Endliche untereinander in Beziehung steht und wie der Einzelne sich im Zusammenhang des Naturzusammenhangs versteht, der als Ganzer unter die Bestimmtheit der schlechthinnigen Abhängigkeit gesetzt wird. Schleiermacher versteht den Naturzusammenhang als einen Zusammenhang der tätigen Wechselwirkung von Teil und Ganzem. Dies impliziert, dass nichts Einzelnes als ein bloß Fürsichbestehendes verstanden werden kann, ohne dass nicht immer zugleich seine Bedingtheit durch Anderes und der Zusammenhang mit dem Ganzen berücksichtigt wird.65 Umgekehrt darf das Ganze gegenüber den Teilen nicht so geltend gemacht werden, dass es nicht zu einem »beziehungsweisen Fürsichbestehen« des Einzelnen kommen kann. Und schließlich ist von jedem Einzelnen im Zusammenhang der Wechselwirkung untereinander und mit dem Ganzen zu sagen, dass ihm ursächliche Wirksamkeit zukommt. Will heißen, der Naturzusammenhang – in den hineingestellt wir uns finden und innerhalb dessen wir als Einzelne ein Teil des Ganzen sind – ist nicht als Naturmechanismus, nicht als »todte[r] Mechanismus«66 zu begreifen. Er ist vielmehr als Zusammenhang der Wechselwirkung von Kräften,67 die jedem Daseienden eignen68 und die als tätige Wirkkraft zu verstehen sind, zu erfassen.

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einem innerweltlichen Gott, die Sache nicht sonderlich, da streng genommen von Gott nichts nach dem Gegensaz von innerhalb und außerhalb ausgesagt werden kann, ohne irgendwie die göttliche Allmacht und Allgegenwart zu gefährden« (§8, Zusatz 2, Tb.I, 73). Schleiermacher spricht von einem »Verhältniß des nur beziehungsweisen Fürsichbestehens und der entsprechenden gegenseitigen Bedingtheit des endlichen. Da es nämlich keine schlechthinige Vereinzelung giebt im endlichen: so ist jedes nur in sofern für sich bestehend, als anderes durch dasselbe bedingt ist, und jedes nur sofern durch anderes bedingt als es auch für sich besteht«(§48,2,Tb.I,290). §34,2, Tb.I, 214. Vgl. §37, Tb.I, 223f; §45, Tb.I, 263ff und bes. §46, Zusatz, Tb.I, 273ff. »Denn ein für sich zu sezendes Sein ist doch nur da wo Kraft ist, so wie Kraft immer nur ist in der Thätigkeit; eine Erhaltung die also nicht zugleich das in sich schlösse, daß auch alle Thätigkeiten irgend eines endlichen Seins unter die schlechthinige Abhängigkeit von Gott gestellt sind, wäre etwas eben so leeres wie eine Schöpfung ohne Erhaltung« (aaO. 273f ). Den Gesamtausdruck für den Wechselwirkungszusammenhang sieht Schleiermacher »in der Vorstellung des nur beziehungsweise für sich gesezten und durch das allgemeine Zusammensein in seiner Vereinzelung bedingten endlichen Seins, welches nur ganz dasselbe ist mit dem, was unser Saz durch den Ausdrukk Naturzusammenhang bezeichnet« (aaO. 276). Vgl. §49,1, Tb.I, 297, wo Schleiermacher die Ursächlichkeit der Freiheit und der natürlichen Dinge als eine graduell unterschiedene versteht: »[S]o werden wir die Ursächlichkeit des Lebendigen nur als eine verminderte Freiheit ansehn können [...] weil wir nur mit Unrecht irgend etwas was unser Selbstbewußtsein erregt und also auf uns einwirkt, auf das bloß mechanisch d. h. als Durchgangspunkt wirksame zurückführen«.

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Warum muss uns dieser Gedanke des Naturzusammenhangs interessieren? Das krafttheoretische Verständnis alles Einzelnen und des Wechselwirkungszusammenhangs im Ganzen ist die Pointe von Schleiermachers Bestimmung des Endlichen, und zwar alles Endlichen, also nicht nur der natürlichen Dinge, sondern auch der mit Freiheit begabten Wesen.69 Unter dieser Bedingung der in allem endlichen Seienden gesetzten tätigen Wirkkraft kann die Allwirksamkeit Gottes mit dem Naturzusammenhang in Verbindung gebracht und dem Umfang nach mit diesem ineins gesetzt werden. »Die schlechthinige Ursächlichkeit, auf welche das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl zurükweiset, kann nur so beschrieben werden, daß sie auf der einen Seite von der innerhalb des Naturzusammenhanges enthaltenen unterschieden [i. e. weil schlechthinnig, C.A.P.], ihr also entgegengesezt, auf der andern Seite aber dem Umfange nach ihr gleichgesezt wird«.70 Denn für das Verständnis der Allmacht Gottes gilt: »In dem Begriff der göttlichen Allmacht ist so sowol dieses enthalten, daß der gesammte alle Räume und Zeiten umfassende Naturzusammenhang in der göttlichen, als ewig und allgegenwärtig aller endlichen entgegengesezten, Ursächlichkeit gegründet ist, als auch dieses, daß die göttliche Ursächlichkeit [...] in der Gesammtheit des endlichen Seins vollkommen dargestellt wird, mithin auch alles wirklich wird und geschieht, wozu es eine Ursächlichkeit in Gott giebt«.71

Denn Gott ist als reines Tätigsein zu denken, so dass, soll der Naturzusammenhang im Ganzen von ihm schlechthinnig abhängig sein, der Naturzusammenhang und alles in ihm als Wechselwirkung aufeinander wirkender Kräfte zu begreifen ist. Der Gegenbegriff zu dieser Vorstellung, den Schleiermacher angreift, ist der des Naturmechanismus, und zwar in Gestalt der deistischen Naturvorstellung und der atheistischen Weltanschauung.72 Schleiermacher hält nachdrücklich fest, dass er eine »dynamische[] Ansicht der Natur«73 auf der Basis von wirkenden Kräften vertritt. Dies wiederum sei – wie Schleiermacher mehrfach als eines seiner Interessen bei der Behandlung der Schöpfungslehre zu verstehen gibt – eine Auffassung vom Naturzusammenhang, die mit der naturwissenschaftlichen Betrachtung kompatibel ist, so dass sie das fromme Gefühl »unverwickelt lässt«74 mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft. 69 70 71 72

Vgl. §46, Zusatz, Tb.I, 271–276; vgl. ferner §46,1, Tb.I, 264 sowie §49, Tb.I, 294–299. §51, Leitsatz, Tb.I, 308f. §54, Leitsatz, Tb.I, 324. Vgl. insgesamt §49, Tb.I, 294–299. Vgl. hierzu ferner §34,2, Tb.I, 214f, wo Schleiermacher auf das Argument eingeht, dass Wunder die Wirklichkeit Gottes mehr beweisen würden als der Verweis auf den Naturzusammenhang. Dazu entgegnet er: »Vielmehr verhält es sich so, daß wir den Naturzusammenhang am meisten aufheben, wenn wir entweder einen todten Mechanismus sezen oder Zufall und Willkühr, und in beiden Fällen tritt dann auch das Gottesbewußtsein zurükk zum deutlichen Beweis, daß es nicht im umgekehrten Verhältniß mit dem Bewußtsein des Naturzusammenhanges steht« (aaO. 214). Der §47 schließt daher das Verständnis von Wundern als Unterbrechung des Naturzusammenhangs entschieden aus. 73 §41,2, Tb.I, 239. 74 Vgl. Zweites Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke, in: Kritische Gesamtausgabe, Abt.I, Bd. 10, Schriften und Entwürfe, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin/New York 1990, 351.

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Diese Kompatibilität betrifft das krafttheoretische Verständnis des Endlichen; die Rückbindung des Einzelnen in den Naturzusammenhang; die bloß graduelle Unterscheidung zwischen natürlichen Ursachen und freien Ursachen;75 die Ausblendung des Wunderbegriffs als Unterbrechung des Naturzusammenhangs76 sowie die kritische Umformung der Schöpfungslehre zugunsten der an die Ausführungen zum Naturzusammenhang anknüpfenden Erhaltungslehre.77

5. Die Lehre von der göttlichen Erhaltung des Naturzusammenhangs und die kritische Begrenzung der Schöpfungslehre Ausgangspunkt für Schleiermachers kritische Behandlung der Schöpfungslehre, insofern sie einen Anfang der Welt in der Zeit aussagen soll, ist die Tatsache, dass wir für den Gedanken eines solchen Anfangs im frommen Selbstbewusstsein keinen Anhaltspunkt haben. Wir finden uns selbst nämlich »immer nur im Fortbestehen, unser Dasein ist immer schon im Verlauf begriffen; mithin kann auch unser Selbstbewußtsein, sofern wir [...] uns nur als endliches Sein sezen, dieses nur in seinem Fortbestehen repräsentiren«.78 Oder noch strikter formuliert: »Unser Selbstbewußtsein [...] kann das endliche Sein überhaupt nur sofern dieses ein fortbestehendes ist vertreten, weil wir uns selbst nur so finden, von einem Anfang des Seins aber kein Selbstbewußtsein haben«.79 Das fromme Gefühl hat mithin an der Erhaltung ein genuines Interesse. Hingegen ist »die Frage nach dem Anfang alles endlichen Seins nicht in dem Interesse der Frömmigkeit [...] sondern in dem der Wißbegierde«80 begründet. Wir haben auf der Grundlage des frommen Gefühls daher keine Veranlassung zur Schöpfungslehre.81 Schleiermacher behandelt die Schöpfungslehre folglich überhaupt nur deshalb, weil sie zum Bestand der kirchlichen Lehrtradition gehört. Dass dies so ist, führt er in der Hauptsache auf die einseitige Gewichtung des alttestamentlichen Schöpfungsberichts zurück.82 Insofern die Schöpfungslehre in der kirchlichen Lehrtradition noch im Ge75 Vgl. die Äußerung §47,1, Tb.I, 279: »als ob die freien Ursachen nicht auch Gegenstände der göttlichen Erhaltung wären, und zwar so wie derselbe auch den Begriff der Schöpfung mit in sich schließt, in der schlechthinigen Abhängigkeit von Gott geworden und fortbestehend«. 76 Vgl. Anm. 72. 77 Vgl. §39,2, Tb.I, 229f: »daß nämlich auch die Entwikklung unseres frommen Selbstbewußtseins nicht so gefaßt werde, daß der Wißbegierige dadurch in Widerspruch gerathe mit den Principien seines Forschens auf dem Gebiet der Natur oder der Geschichte«. Schleiermacher betont nachdrücklich, insofern das Selbstbewusstsein in den Naturzusammenhang gestellt und daran die Erhaltungslehre angeknüpft werde, sei diese Intention eingeholt. Dies unterstreicht er in einem Zusatz zu §49 (298f ) noch einmal eigens. 78 §36,1, Tb.I, 219. 79 §39,1, Tb.I, 229. 80 Ebd. 81 Vgl. §40,1, Tb.I, 231. 82 Vgl. §36,2, Tb.I, 220; vgl. auch die handschriftliche Bemerkung dazu: »Eine Hauptursache ist die Schöpfungsgeschichte« (ebd.). Neutestamentlich sei für die kritisierte Gestalt der Schöpfungslehre nichts zu erheben, so Schleiermacher, vgl. §40,2, Tb.I, 232.

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brauch steht, ist sie einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, um dasjenige auszuscheiden, was durch bloße Spekulation oder durch ein naturwissenschaftliches Interesse vormaliger Zeiten bedingt, mithin aufgrund fremder Einflüsse in die kirchlichen Lehraussagen aufgenommen wurde, wobei das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als kritischer Maßstab anzulegen ist, um auszusondern, was diesem und dem in ihm mitgesetzten Gottesbegriff widerspricht.83 Der gesamte Lehrtopos wird im Ausgang von der Frömmigkeit einer gründlichen Transformation zugeführt. Ein »ganze[r] Apparat von verworfenen Gedanken«84 wird dabei ausgesondert. Schleiermachers Umbildung der Schöpfungslehre ist ein mustergültiges Beispiel für die bewahrende und zugleich fortentwickelnde Aufgabe im Blick auf den kirchlichen Lehrbestand, die er der Dogmatik im Kontext der theologischen Disziplinen zuweist.85 Der Leitsatz zu §39 hält dementsprechend fest: »Die Lehre von der Schöpfung ist vorzüglich in der Hinsicht zu entwikkeln, daß fremdartiges abgewehrt werde, [...] was mit dem reinen Ausdrukk des schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls im Widerspruch steht. Die Lehre von der Erhaltung aber vorzüglich um daran jenes Grundgefühl selbst vollkommen darzustellen.«86

Insofern nun die Schöpfungslehre die Absicht verfolgt, dass »nichts kein Raumpunkt und kein Zeitpunkt von jener Allherrschaft soll ausgenommen sein«87 und mithin Gott als allein bestimmend gedacht werden soll, ist die Absicht eine lautere, denn sie entspricht dem frommen Gefühl. Insofern die Rede von der Schöpfung »aus Nichts« das Interesse verfolgt, das göttliche Schaffen unter Ausschluss irgendeines Gott irgendwie Vorgegebenen – sei es durch die Vorstellung eines zu bildenden Stoffes, sei es aufgrund von Ideen als Ur- und Möglichkeitsbilder der Welt, sei es dadurch, dass das »Nichts« unversehens zu einem Etwas wird, aus dem Gott die Welt schafft – begreifen zu wollen, geht sie mit dem Interesse der Frömmigkeit zusammen. Es darf jedoch mit dem göttlichen Schaffen kein Anfang in der Zeit und kein Übergang in die Zeit behauptet werden, weil damit ein Wechsel in Gott behauptet würde, was gegen die Sichselbstgleichheit des göttlichen Wesens spricht, wie es im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl mitgesetzt und in der schlechthin zeitlosen Ewigkeit ausgesagt ist.88 Daher lehnt Schleiermacher auch die Rede von der bloßen Möglichkeit der Welt in Gott vor seinem eigentlichen Schaffen ab, weil es in Gott als stets wirkender Kraft den Unterschied zwischen bloß Möglichem und Wirklichem gar nicht gibt.89 Er weist vor 83 Sie soll so zum Zuge gebracht werden, dass die Frömmigkeit »keine Beantwortung derselben anerkennt, welche den Frommen mit seinem Grundgefühl in Widerspruch brächte« (§39,1, Tb.I, 229). 84 §55,2, Tb.I, 345. 85 Vgl. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, (1811/1830), hg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2003, §§203–208. 86 §39, Leitsatz,Tb.I, 228. 87 §37,1, Tb.I, 222. 88 Vgl. dazu Schleiermachers Aussage zur Ewigkeit Gottes. »Wir müssen also alle solche Erklärungen als unangemessen verwerfen, welche nur die Schranken der Zeit, nicht die Zeit selbst, für Gott aufheben, und welche den Begriff der Ewigkeit aus dem der Zeitlichkeit, dessen Gegentheil er doch ist, durch Entschränkung bilden wollen« (§52,2, Tb.I, 315). 89 Vgl. oben Anm. 40.

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allem die mit der Vorstellung der bloß möglichen Welt verbundene Auffassung der göttlichen Freiheit zurück, der zufolge durch Wahl oder freien Entschluss die Möglichkeit der Welt in ihre Wirklichkeit überführt wird, und kritisiert überhaupt alle Begriffe von göttlicher Freiheit, die nicht zugleich die Übereinstimmung von Freiheit und Notwendigkeit aussagen, als unterstufige Gottesbegriffe. »[W]ir dürfen daher in Gott nichts als nothwendig denken ohne es zugleich als frei zu sezen, und nichts als frei daß es nicht zugleich nothwendig sei. Eben so wenig aber können wir auch Gottes Wollen seiner selbst und Gottes Wollen der Welt von einander getrennt denken. Denn will er sich selbst, so will er sich auch als Schöpfer und Erhalter, so daß in dem Sich selbst wollen schon das Wollen der Welt eingeschlossen ist. Und will er die Welt, so will er in ihr auch seine ewige und allgegenwärtige Allmacht, worin also das Wollen seiner selbst eingeschlossen ist; das heißt der nothwendige Wille in dem freien und der freie in dem nothwendigen. Und offenbar entspricht in der Art, wie Gott in unserm frommen Selbstbewußtsein vorkommt, nichts diesem Gegensaz und es fehlt ihm an dogmatischem Gehalt.«90

Die besagten Vorstellungen von Gott91 und das mit ihnen verfolgte Interesse verwirft Schleiermacher nicht nur als etwas, was mit dem im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl mitgesetzten Gottesbegriff – der zeitlosen Ewigkeit des Einen und seiner stets wirkenden Allmacht – nicht übereingeht. Er behauptet auch, dass das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl von der in jenen unterstufigen Theorien verfolgten Aussage, dass Gott die Welt auch hätte nicht schaffen können, überhaupt nicht tangiert werde. Die Frage, ob ein Sein Gottes ohne Geschöpfe gedacht werden könne oder müsse, ist für das unmittelbare Selbstbewusstsein an und für sich ganz gleichgültig.92 Es ist, so Schleiermacher, nicht auszudenken, wie die »Vorstellung, daß Gott nicht ohne von ihm schlechthin abhängiges ist, auf irgend eine Weise sollte das fromme Selbstbewußtsein schwächen oder verwirren können.«93

6. Das Bewusstsein von der Kontingenz des eigenen Daseins als Moment des Endlichkeitsbewusstseins Man wird schlicht zugeben müssen, dass Schleiermachers Kritik, die er an den besagten Schöpfungsvorstellungen übt, überzeugend ist, zumindest solange, wie man sich bei dem »aus Nichts« und »im Anfang« und »durchs Wort« Schaffen Gottes nichts Anderes denken kann und denkt als die kritisierten Vorstellungen. Dies wäre der eine Zugang, 90 §54,4, Tb.I, 332f. 91 Ihnen subsumiert Schleiermacher auch jene Vorstellung von der »Herrschaft« Gottes über die Welt, die durch den souveränen Schöpfungsakt vermeintlich begründet werde, und weist sie mit einem an Hegels Herr-Knecht-Dialektik erinnernden Argument, dass damit Gott von dem Beherrschten abhängig gedacht würde, zurück (vgl. §41,2, Tb.I, 239f ). 92 Vgl. §41,2, Tb.I, 239f. 93 AaO. 240.

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der hier sozusagen gegenläufig zu Schleiermachers Argumentation unternommen werden könnte, und zwar unter Aufnahme seiner Kritik, dass nämlich für Gottes Schaffen nichts – auch nicht das Nichts – als mitbedingend gedacht werden darf, sondern rein und ursprünglich aus Gott selbst zu begreifen ist, der von ihm unterschiedenes Anderes hervorbringt und sein lässt, so dass dieses, indem es nur durch Gott ist, sozusagen auch sein durch das göttliche Schaffen ausgeschlossenes Nichtsein als Schatten mit sich führt. Der andere Zugang wäre der über das im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl, das den Maßstab aller Aussagen über Gott darstellt, Mitgesetzte. Schleiermacher hebt für seine Kritik mit der Aussage an, dass wir uns im Fortbestehen vorfinden und daher in unserem Selbstbewusstsein keine Vorstellung von einem Anfang haben, weshalb Erhaltung im Dasein die zentrale Aussage ist, die sich Schleiermacher zufolge aus dem frommen Gefühl ergibt. Er setzt mithin bei derjenigen Bestimmung von Endlichkeit ein, die das Endliche als ein bestimmt Begrenztes und der wechselnden Mannigfaltigkeit unterworfenes Daseiendes und Soseiendes begreift. Ist – so wäre hier zu entgegnen – mit dem vorfindlichen Dasein und seinem Charakter als eines solchen Daseins, das notwendig der Erhaltung bedarf, nicht zugleich auch die Frage nach dem Überhaupt-Dasein verknüpft? Und ist mit unserem Dasein mithin nicht jenes Kontingenzgefühl verbunden, das sich nicht nur auf Einzelnes mir Zufallendes bezieht, sondern auf das Nichtdurch-mich-selbst-Sein meines Daseins überhaupt, das als Endliches ein Kontingentes ist, indem es nicht notwendig, also nicht durch sich selbst ist – und darum auch ein solches ist, das im Dasein erhalten werden muss?

Jesus und das Judentum nach Schleiermachers ›Leben-Jesu‹-Vorlesung Hermann Fischer 1. Einleitung Man bewegt sich auf leicht schwankendem Boden, wenn man sich zum Thema »Jesus und das Judentum nach der ›Leben-Jesu‹-Vorlesung Schleiermachers« äußert. Schleiermacher hat die Vorlesung viermal gehalten,1 erstmals im Wintersemester 1819/20 unter der Bezeichnung »Das Leben Christi«, die drei folgenden Male, im Sommersemester 1823, im Wintersemester 1829/30 und im Sommersemester 1832, unter dem dann eingebürgerten Titel »Das Leben Jesu«. Außerdem berührt sich eine im Sommersemester 1821 gehaltene Vorlesung über »Die Leidensgeschichte nach allen vier Evangelien« thematisch mit dem 3. Hauptteil der Leben-Jesu-Vorlesung. Die bisherige Textgrundlage für Schleiermachers »Leben-Jesu«-Vorlesung in der Edition von Karl August Rütenik im Rahmen der Ausgabe »Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke« (I. Abt., Bd. 6), ohnehin erst ein Menschenalter nach Schleiermachers Tod 1864 erschienen, berücksichtigt aber lediglich die letzte Vorlesung von 1832. Selbst wenn man davon ausgehen darf, daß sich in Schleiermachers Verständnis des Lebens Jesu innerhalb von etwa 12 Jahren keine revolutionären Umbrüche vollzogen haben, könnten sich unter Würdigung des gesamten Materials doch differenzierende Einsichten ergeben. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu. Die Hauptmasse des jetzt vorliegenden Textes besteht aus kompilierten Vorlesungsnachschriften. Rütenik hat zwar die Nachschrift eines gewissen Pastors Plänsdorf aus Rarfin in Pommern zugrunde gelegt, sie aber mit anderen Vorlesungsnachschriften kombiniert und verglichen.2 Nur kurze ein1 2

Vgl. Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, bearbeitet von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond (SchlAr 11), Berlin/New York 1992, 315, 319, 326, 328. Man gewinnt keine ganz klare Vorstellung über das editorische Verfahren Rüteniks, wenn er mit Blick auf die Vorlesungsnachschrift von Plänsdorf schreibt, durch »Vereinbarung dieses Heftes mit dem des Herrn Dr. A. Schweizer in Zürich ist[,] während die Hefte von Starcke, Stappenbeck, Dr. Kalb verglichen wurden[,] die Herstellung dieser Vorträge, so weit es sich thun ließ, ermöglicht worden.« Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke (= SW), I. Abt., Bd. 6, Das Leben Jesu. Vorlesungen an der Universität zu Berlin im Jahre 1832, gehalten von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und Nachschriften seiner Zuhörer herausgegeben von K[arl] A[ugust] Rütenik, Berlin 1864, X (Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe; sonst wird sie zitiert als SW I/6. Schleiermachers eigene Notizen werden diplomatisch getreu, Texte aus den Vorlesungsnachschriften in modernisierter Schreibweise wiedergegeben).

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führende Texte zu den insgesamt 71 Vorlesungsstunden stammen von Schleiermachers eigener Hand. Diese Originaltexte enden aber mit der 59. Vorlesungsstunde. Auch für die 54.–56. Stunde fehlen diese Einleitungstexte.3 Die Materialbasis ist also nach dem augenblicklichen Editionsstand denkbar schmal. Auf 511 Seiten in der Edition von Rütenik entfallen ca. 40 Seiten auf Schleiermachers handschriftliche Vorlesungseinleitungen, weniger als 10 Prozent! Schon Rütenik selbst urteilt vorsichtig, daß Schleiermachers Bild vom Leben Jesu wohl im Großen und Ganzen klar erkennbar sei, daß aber im einzelnen, betreffe es nun die Verknüpfung oder die Ausdrucksweise, »die Authentizität nicht verbürgt werden kann« (XI). Gleichwohl ist die von Rütenik verantwortete Textgestalt nicht so schlecht, wie sie manchmal eingestuft wird. Sie bietet mit Schleiermachers eigenhändigen Einleitungstexten ein Gerüst seiner Vorstellungen. Eine neue kritische Edition der Vorlesungen mag Verfeinerungen und vielleicht auch zusätzliche Aspekte zur Entwicklungsgeschichte des konzeptionellen Zugriffs bringen, aber daß sie eine wesentliche Änderung dieses Gerüstes bewirken sollte, halte ich für wenig wahrscheinlich, zumal mit dem vorliegenden Text seine letzte Vorlesung über das Leben Jesu dokumentiert ist. Dennoch stehen die folgenden Ausführungen unter dem Vorbehalt möglicher Modifikationen, sobald die gegenwärtig noch vorhandenen Materialien zur Leben-Jesu-Vorlesung Schleiermachers im Rahmen der KGA ediert sein werden.

2. Geschichtsphilosophische Kriterien der Darstellung Schleiermachers Meisterschaft zeigt sich, wie schon in anderen Vorlesungen, so auch hier, an der Entfaltung der leitenden Gesichtspunkte für die Darstellung. Grundlegend ist dafür die Verschränkung von Spekulation und Empirie, die die Rekonstruktion aller Phänomene des kulturell-geschichtlichen Lebens leitet.4 Darüber hinaus kommen die Interpretationsprinzipien zum Zuge, die Schleiermacher in der Hermeneutik als psychologische und grammatische Auslegung einerseits, als divinatorische (prophetische) und komparative (geschichtliche) Methode andererseits entwickelt hat, ohne daß sie in der Leben-Jesu-Vorlesung förmlich erörtert würden. Ziel einer Darstellung des Lebens Jesu ist es, sich divinatorisch der inneren Einheit der Lebensentwicklung Jesu zu vergewissern. Dem nähert sich Schleiermacher in einem ersten Schritt durch die Unterscheidung von Chronik und eigentlicher Geschichte. Die Chronik reiht wahrnehmbare Einzelheiten einer zeitlichen Erscheinung aneinander, eigentliche Geschichte versucht 3

4

Hierzu zitiert der Editor Schleiermacher mit folgenden Worten: »in den nächsten Stunden habe ich nun 53–56 die Entwikkelung nach Johannes mit Einschaltung aus den andern Evangelisten nach Maßgabe des alten Heftes dargestellt« (381 Anm.). Ein solches altes Heft zur Vorlesung muß also existiert haben. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um das im Schleiermacher-Nachlaß des Archivs der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Signatur SN 69 aufbewahrte Manuskript Schleiermachers »Zum Leben Christi« (Materialsammlung 1819). Vgl. dazu u.a. Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Schleiermacherschen Theologie, Tübingen 1911. – Wilhelm Gräb, Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980.

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einen Zusammenhang in diese Aggregatzustände zu bringen. Das Einzelne als Trennbares muß in die Einheit des Untrennbaren überführt werden. Aber schon die bloße Chronik bedarf einer Idee für die Auswahl des Stoffes. Von diesem Stoff als dem äußerlich Wahrnehmbaren ist das Innere zu unterscheiden, das nicht umstandslos in den Blick gerät, sondern sich erst durch eine leitende Idee erschließt. Wohl verdankt sich diese Idee – mit Troeltsch gesprochen – den Fakten der Geschichte, ist aber nicht selbst ein Faktum der Geschichte. Überdies ist sie nicht auf die Lebensgeschichte Jesu begrenzt, sondern schließt geschichtsphilosophische Dimensionen ein, die in den Vorlesungen von 1832 nur angedeutet und nicht eigens entfaltet werden, dennoch aber den Duktus der Rekonstruktion und der Argumentation leiten. An späterer Stelle (296) wird davon gesprochen, daß Jesus mit seinem Wirken ein »neues Zeitalter«, eine »neue Weltordnung« einleitet. Für eine Lebensbeschreibung stellt sich die doppelte Aufgabe, aus historisch isolierten Einzelheiten eine Einheit als Untrennbares zu gewinnen und vom äußerlich Wahrnehmbaren zu einer inneren Sicht des nicht unmittelbar Gegebenen vorzustoßen. Das Verständnis solch einer inneren Lebenseinheit ermöglicht es, bisher noch nicht bekannte Züge oder Ereignisse des Wirkens Jesu in das gewonnene Bild zu integrieren, so daß man also »auch Resultate unter Voraussezung andrer Koeffizienten bestimmen kann«(1). »Das Innere ist in einem gewissen Sinne das sich selbst gleich bleibende, weil es zu allen verschiednen Resultaten derselbe Faktor ist; also ist es auch die Einheit zu dem Einzelnen«(5). Allerdings hat diese innere Einheit nicht den Charakter starrer Identität, da die Individualität sich in einem zeitlichen Prozeß entwickelt. Die Darstellung bedarf also einer Rekonstruktionsleistung, die die unterschiedlichen Phasen der Biographie auf das Identische hin durchsichtig macht und umgekehrt dieses Identische in seiner geschichtlichen Bewegtheit zur Anschauung bringt. Individuelles Leben ist eingebettet in einen größeren Lebenskreis und bleibt auf ihn bezogen. Das Verhältnis ist auf doppelte Weise denkbar. Entweder dominiert – mit vielen möglichen Abstufungen – das Individuum die Verhältnisse, oder es wird seinerseits von ihnen bestimmt. Für Christus gilt, daß er »absolut dominirend [ist], aber doch in seiner Receptivität auch unter der Potenz, weil er sonst weder menschlich hätte entwikkelt werden können noch auch menschlich wirken« (7). Als Einzelner gehört Christus in die damalige Zeit und in sein Volk, ist sprachlich an die Ausdrucksweise des Volkes gebunden und auch im Blick auf sein Alter bestimmten Entwicklungsprozessen unterworfen. »Wenn nicht die wahre menschliche Entwicklung in Christo angenommen würde, so würde auch nicht das wahre menschliche Leben angenommen werden können« (14). Schleiermacher findet starke Worte, um die Gefahr des Doketismus beziehungsweise des damaligen Supranaturalismus in der Christologie zu bannen, er dringt in der Nachfolge der Aufklärung »auf eine rein geschichtliche Weise« des Verstehens Christi (19). Allerdings droht auch von der entgegengesetzten (nazoräischen oder ebionitischen beziehungsweise radikal-aufklärerischen) Seite Gefahr, wenn die absolute Dominanz in Christus geleugnet wird. Es muß beides gewahrt werden, die »Ursprünglichkeit« und die »Geschichtlichkeit« Jesu. Die bestimmenden Kategorien der dogmatischen Christologie in der Glaubenslehre sind auch für das Verstehen des Lebens Jesu einschlägig und haben

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hier wie dort die kritische Funktion, die natürlichen christologischen Häresien des Doketismus und des Ebionitismus beziehungsweise Nazoräismus abzuwehren. Die Maxime für eine Rekonstruktion des Lebens Jesu lautet also: »Alles in Christo Erscheinende in seiner Einzelheit als Lebensmoment, als Tat und Handlung und so in seinem geschichtlichen Zusammenhange betrachtet muß rein menschlich aufgefaßt werden können, aber doch so, daß wir es als die Äußerung oder Wirkung des Göttlichen, welches sein Innerliches war, auffassen« (35). Erkenntnisquelle für das urbildliche Wirken Jesu ist seine Gesinnung, die sich in entsprechenden Handlungsmaximen widerspiegelt. Aber auch für diese »vorbildliche und urbildliche Wirksamkeit« Christi (16, vgl. auch 15) muß der Zusammenhang mit seinem geschichtlichen und geschichtlich rekonstruierbaren Leben gewahrt werden. Dafür sind auch die »gegnerischen Ansichten« zu berücksichtigen (21), obwohl die Misere der Quellen zu beklagen ist, die keine zusammenhängenden Materialien aus gegnerischer Perspektive enthalten (37–44).5 Mit dem Versuch einer rein geschichtlichen Darstellung des Lebens Jesu wird der Dogmatik vorgearbeitet, deren Aufgabe darin besteht, Christus »als den für alle Zeit zureichenden Grund für das Heil der Menschen« zu explizieren und »auf der andern Seite sein gänzliches Dasein auf eine vollkommen menschliche Weise« aufzufassen (34). Allerdings ist Schleiermacher sich der Schwierigkeiten voll bewußt, die einer Rekonstruktion des Lebens Jesu entgegenstehen. In Vorwegnahme der kritischen Einschätzung Martin Kählers formuliert er als Quintessenz der Bemühungen: »Es ist also wohl unleugbar, daß wir zu einer zusammenhangenden Darstellung des Lebens Jesu nicht gelangen können« (44).6

3. Grundzüge des Lebens Jesu. Die Anfänge Die Quellenlage für eine Rekonstruktion des Lebens Jesu ist außerordentlich prekär. Wir haben nur Glaubenszeugnisse, keine objektiven Dokumente, auch fehlt es an Materialien einer kritischen Sicht des Lebens und der Lehre Jesu (15). Schleiermacher eignet sich für seine Deutung wesentliche Einsichten der Aufklärung und der deutschen Neologie an7 und legt seiner Darstellung das Johannesevangelium zugrunde, das er – übrigens in 5 6

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SW I/6, 15: »Unmittelbare Dokumente der gegnerischen Auffassung haben wir fast gar nicht, aber entgegengesetzte Urtheile waren doch wie wir wissen vorhanden.« Literatur zu Schleiermachers Leben-Jesu: David Friedrich Strauss, Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacherschen Lebens Jesu, Berlin 1865. Neu herausgegeben und eingeleitet von Angelika Dörfler-Dierken und Jörg Dierken, Waltrop 2000. – Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 21913, 63–68. – Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V, Gütersloh 1954, 33–39. – Hayo Gerdes, Das Christusbild Sören Kierkegaards. Verglichen mit der Christologie Hegels und Schleiermachers, Gütersloh 1960, 18–26. – Emanuel Hirsch, Schleiermachers Christusglaube. Drei Studien, Gütersloh 1968, 53–60. – Dietz Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975, 83– 131. – Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996, 184–227. Hans-Walter Schütte, Christlicher Glaube und Altes Testament bei Friedrich Schleiermacher, in: Dietrich Rössler/Gottfried Voigt/Friedrich Wintzer (Hg.), Fides et communicatio. Festschrift

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weitgehendem Konsens mit der damaligen Zeit (Lessing, Herder, Fichte) – für historisch echt hält.8 Nach seiner Einschätzung bietet das Johannesevangelium einen zusammenhängenden Bericht über die Ereignisse, während den Synoptikern nur »Aggregate von einzelnen Erzählungen« zu entnehmen sind (38). Drei voneinander unterscheidbare Phasen hebt Schleiermacher im Leben und Wirken Jesu hervor, (1.) das Leben vor seinem öffentlichen Auftreten, (2.) seine öffentliche Wirksamkeit bis zur Gefangennahme, und schließlich (3.) die Leidenszeit bis zur Himmelfahrt. Für den ersten Zeitraum haben wir fast keine Zeugnisse. Die Nachrichten über die Geburt und die Jugendzeit bei Mt und Lk haben keinen historischen Charakter, sie könnten nach Schleiermacher allenfalls als Umbildungen aus historischen Nachrichten verstanden werden (51). Die Geburtsgeschichte, insbesondere die Erzählung von der übernatürlichen Zeugung Christi, ist für unseren Glauben belanglos. Die Einwohnung des Göttlichen in Christus kann nicht vom Fehlen der männlichen Zeugung abhängig gemacht werden. Nur als Versuch, die Sündlosigkeit Jesu zur Aussage zu bringen, läßt sich die Geschichte von der jungfräulichen Geburt theologisch würdigen (58). Ganz anders verhält es sich hingegen mit der Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel, die für Schleiermacher von herausragender Bedeutung ist. Obwohl sie sich nur bei Lk findet, hat sie nach Schleiermacher »einen so hohen Grad des Authentischen, daß ich sie mir als aus einem besondern Grunde geworden denken muß« (98). In ihr hat sich das Bewußtsein von der einzigartigen Beziehung Jesu zu Gott niedergeschlagen, die ihm später als Gotteslästerung ausgelegt wird und zu seinem Tode führt. Der (relative) Anfang antizipiert also schon das Ende, und vom Ende her wird rückblickend die innere Konsequenz des Lebensweges Jesu sichtbar. Die Bezeichnung Gottes als »Vater« in dieser Erzählung (Lk2, 49) widerspricht »dem herrschenden Typus der Frömmigkeit seines Volks« (94). Während das jüdische Volk einen politischen Messias als »Sohn Davids« erwartete, weist Jesus diese Vorstellung durch die »innerliche Weise« seines Verhältnisses zu Gott zurück (96). Er ist nicht durch die Übertragung der damals geläufigen messianischen Hoheitstitel auf seine Person zum messianischen Selbstbewußtsein gelangt, da mit diesen Titeln politische Vorstellungen verknüpft waren. Dieses Bewußtsein kann sich nur von innen gebildet haben (98). Allerdings knüpft Jesus in einer spezifischen Weise doch an die messianischen Weissagungen an, indem er die politische Dimension des Theokratie-Gedankens zurückweist, die innere Theokratie aber gelten läßt (137). Christus war »selbst in seiner Persönlichkeit die Darstellung einer Theokratie«. Er will »eine Herrschaft des göttlichen Willens von seiner Person aus« begründen, aber keine »äußerliche Herrschaft« (139).

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für Martin Doerne zum 70. Geburtstag, Göttingen 1970, 291–310, bes. 294f. Mit der Theorie von Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848), der die Kritik an der Historizität des Johannesevangeliums begründet und allein die synoptischen Evangelien für historisch zuverlässig hält, hat Schleiermacher sich ausdrücklich auseinandergesetzt. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Einleitung in das neue Testament. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen mit einer Vorrede von Friedrich Lücke hg.v. G[eorg] Wolde (SW I/8), Berlin 1845, 315–318. Zu Schleiermachers Urteilen über das Johannesevangelium vgl. aaO. 207, 215, 217–224, 243, 283, 292f., 315–344, 472.

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Nach Schleiermacher muß das »Sein Gottes in Christus« verstanden werden als »Prinzip des reinen Wollens des göttlichen Willens«, als »ein Maximum von Empfänglichkeit für die Wirksamkeit des ihm mitgeteilten Gottesbewußtseins« (101). Auch im Menschen wirkt der göttliche Geist, aber bei ihm bleibt die Sünde ein »konstantes Element«. Das Gottesbewußtsein entwickelt sich als Kampf des Geistes gegen das Fleisch, gegen das »schon gewordene Übergewicht des Sinnlichen« (105). Das aber gilt für Christus nicht. In ihm wirkt das Göttliche als ein Ursprüngliches, ist in Reinheit gegeben. Das geistige Prinzip entwickelt sich nach allen Seiten mit dieser Einwohnung des Göttlichen zum menschlichen Bewußtsein, ohne daß Sünde und Schuld dazwischen treten (105f ). Darum kann es auch keine Schranken und keinen Kampf in der Entwicklung Jesu gegeben haben. Sie vollzieht sich »von der vollkommenen Unschuld aus zu dem immer vollkommneren Bewußtsein« (105).9 Auf diese Weise läßt sich das Göttliche menschlich im Menschlichen denken (86), während die symbolischen Formeln der Trinitätslehre und der Christologie die Einheit der Persönlichkeit Jesu aufheben (102f ). Obwohl Schleiermacher der Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel einen hohen theologischen Rang zuweist, bleibt er als Historiker doch vorsichtig, kann nur unter Voraussetzung der Authentizität des Berichtes argumentieren. Da er davon aber überzeugt ist, folgert er, »daß schon in dieser Zeit das spezifische Bewußtsein in Christo entwickelt gewesen ist« (108). Es bedeutet keinen Widerspruch dazu, wenn dieses Selbstbewußtsein sich erst allmählich festigt, wie das bei jedem Menschen der Fall ist. Dieser Prozeß dokumentiert im Gegenteil, daß sich das einzigartige Selbstverständnis Jesu mit allgemein-menschlichen Lebensprozessen verknüpfen läßt, ohne die besondere Würde dieses messianischen Bewußtseins anzutasten. Diesen Sachverhalt versucht Schleiermacher im Durchgang durch die erste Lebensperiode Jesu unter Berücksichtigung der im NT berichteten oder analog erschlossenen Lebensumstände zu bewähren. Dafür sind auch seine Erziehung als Jude und das jüdische Umfeld zu berücksichtigen. Freilich muß hier aufgrund der spärlichen Quellenlage vieles hypothetisch bleiben. Wir können davon ausgehen, daß Jesus wie jeder jüdische Knabe im Gesetz erzogen worden ist. Dafür waren vor allem die Pharisäer und die Sadduzäer zuständig, aber welche Gruppe in besonderer Weise den Bildungsprozeß Jesu gefördert hat, läßt sich nicht entscheiden, da Jesus sich in seinem späteren Wirken kritisch gegen beide Richtungen wendet. Schleiermacher entnimmt den Quellen, daß keine der beiden Schulen Jesus später als Abtrünnigen diskreditiert hat (120) und schließt daraus, daß er keine förmliche rabbinische Ausbildung erfahren, sondern sich nach dem »gewöhnlichen Jugendunterricht« als Autodidakt selbst in der Schriftkunde gebildet habe (116f ). Er geht sogar noch einen Schritt weiter und vermutet, daß Jesus die alttestamentlichen Schriften in der Ur9

Zum Begriff »Unschuld« schreibt Schleiermacher, SW I/6, 105f.: »Ich glaube, daß diese Ausdrücke in ihrer Beziehung aufeinander nichts Zweideutiges haben können, nämlich in der Art, wie ich Unschuld und Bewußtsein gegenübergestellt habe, liegt dieses, daß Unschuld ein bewußtloser Zustand ist: es ist ein komparativer Begriff, die Vergleichung eines unentwickelten Bewußtseins mit einem entwickelten. Die Unschuld ist nicht nur der Schuld entgegengesetzt, sondern ebenso der Tugend und dem Verdienst entgegengesetzt. Es ist also der Zustand eines unentwickelten Bewußtseins, aber in welchem nichts von der sittlichen Forderung Differentes gesetzt ist.«

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sprache lesen konnte und auch »des Griechischen kundig« war (121). Wohl stand er unter dem Einfluß beider Gruppierungen, ohne aber den sektiererischen Zuspitzungen ihrer Lehrtraditionen zu folgen. Man darf sich diesen Prozeß der Distanzierung nach Schleiermacher aber nicht als Niederringen oder gar als Zerstörung von etwas zuvor Gegebenem vorstellen. Vielmehr mußte Jesus »von Anfang an sich von diesen Einseitigkeiten frei gehalten und nur das Materielle aufgenommen« haben (114). Andernfalls würde er sich etwas angeeignet haben, um es nachher wieder abzustoßen, und dann hätte seine Entwicklung sich als Kampf vollzogen. Demgegenüber insistiert Schleiermacher darauf, daß Jesu »intellektuelle Entwicklung ein Fortschritt ohne Irrtum« war, wie wir uns auch seine sittliche Entwicklung als »Fortschritt ohne Kampf« denken müssen (114). Allerdings bleibt Schleiermacher auch hier vorsichtig und äußert das Gesagte als seine »Überzeugung«, nach der man das eine nicht ohne das andere denken könne. Gerade durch diese Besonderheit Jesu wird er »ein Gegenstand des Glaubens« (105). Es stellt keinen Widerspruch zu dieser besonderen Würde Jesu dar, wenn man einräumen muß, daß Jesus sich damals geläufige Vorstellungen – etwa kosmologischer Natur – angeeignet habe, die durch spätere naturwissenschaftliche Einsichten korrigiert werden mußten. Selbst wenn es sich dabei um irrige Vorstellungen gehandelt hat, stellen sie nach Schleiermacher deshalb kein Problem dar, weil sie »gar nicht in den eigentlichen Kontext des Lebens hineingehören« (119), auf den Jesu Wirken und seine Verkündigung ausgerichtet waren. Der intellektuelle Fortschritt ohne Irrtum bezieht sich allein auf die religiöse Perspektive. Mit dem Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit folgt Jesus »der allgemeinen Sitte«, die für das Auftreten als Lehrer das kanonische Alter von 30 Jahren vorsah (129f ). Die Evangelien verknüpfen diesen Beginn mit der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, und in diesem Sinne ist die Taufe in der Tradition auch verstanden worden, sei es in gnostischer Weise, nach der sich der Logos erst bei der Taufe mit Jesus vereinigt habe, sei es in modern-rationalistischer Weise, nach der Jesus sich erst mit der Taufe seiner Bestimmung bewußt geworden sei (138). Schleiermacher lehnt solch eine Gewichtung der Taufe Jesu ab; sie ist nicht »der eigentliche Anfang und die göttliche Inauguration Christi« (144). Schleiermacher deutet Jesu Taufe als einen symbolischen Teil seiner Verkündigung, mit der er die Sendung des Täufers bestätigt. Danach kann das jüdische Volk nur durch Buße und die Abkehr vom Weg der Sünde Anteil am messianischen Reich gewinnen (149). Die Taufe zur Vergebung der Sünden bezieht sich nur auf das jüdische Volk, nicht aber auf Jesus selbst. Der Versuch der synoptischen Evangelien, die Taufe Jesu als Wunder zu deuten, verfehlt die Intention des Geschehens und »interessiert uns daher nicht« (151). Alles »Wunderbare bei der Taufe Christi ist durchaus nur für den Johannes geschehen« (148). Wird die Taufe Jesu als Inauguration abgelehnt, dann stellt sich die Frage, wie Jesus zu einer Vorstellung von seiner Wirksamkeit gelangt sei. Schleiermacher kann sich schwerlich denken, daß Jesus ein bestimmter Plan vorgeschwebt hat, der dann möglicherweise auch auf bestimmte Situationen hätte angepaßt werden und also Veränderungen hätte erfahren müssen, was sich »ohne Sünde oder Korruption« nicht denken läßt (129). Schleiermacher zufolge hat Jesus unmittelbar gehandelt. Seine Wirksamkeit

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war reine Selbstmitteilung. »Aus seinem Selbstbewußtsein und seiner Wahrnehmung der Sünde mußte ihm die Idee des Reichs Gottes entstehen« (130), in die er die Welt verwandeln will (133). Es ist nach Schleiermacher zu vermuten, daß Jesus nicht erst mit seiner Taufe, sondern schon vorher in diesem Sinne gewirkt hat (142), wenngleich er für sein öffentliches Auftreten erst das kanonische Alter erreicht haben mußte. Schleiermacher konzipiert sein Leben Jesu unter der Voraussetzung, daß Jesu Lehre vom Reiche Gottes zugleich Lehre über ihn als Christus sei, daß also implizite und explizite Christologie zusammengehören (245, 299). Das richtet sich kritisch gegen Reimarus und seine theologischen Gefolgsleute, selbst wenn keine Namen genannt werden. In seiner »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«10 beziehungsweise in demjenigen Teilstück, das Lessing 1778 unter dem Titel »Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger« zum Druck brachte, entwickelt und begründet Reimarus die später von A. v. Harnack und R. Bultmann erneuerte These, daß zwischen der Verkündigung und dem Leben des geschichtlichen Jesus von Nazareth (= System A) und der Botschaft seiner Jünger beziehungsweise dem apostolischen Christuszeugnis (= System B) strikt zu unterscheiden sei. Es klingt wie eine Beschreibung der Gegensatzbestimmung des Reimarus, wenn Schleiermacher schreibt, man habe »in der neueren Zeit« zwischen einer Theologie Christi und einer Theologie der Apostel unterschieden. »Eben so und ganz vollkommen analog mit dem, daß man hat sagen wollen, daß eine Lehre von Christo erst durch die Apostel gegeben sei, und daß man die ganz unterscheiden müsse von der Lehre Christi« (298f ). Für Schleiermacher hingegen gehören die Verkündigung des geschichtlichen Jesus und seine christologische Würde als Gegenstand des Glaubens zusammen.11 Gerade darin besteht für das damalige Judentum das Skandalon. Damit ist der Rahmen skizziert, in den Schleiermacher im zweiten Hauptteil seiner Vorlesung das öffentliche Wirken Jesu einzeichnet. Während dieser zweiten Lebens- und Wirkungsphase kommt es zunehmend zur Auseinandersetzung Jesu mit bestimmten religiösen Vorstellungen und mit den Autoritäten des Judentums.

4. Jesu Stellung zum Judentum in der öffentlichen Phase seiner Wirksamkeit Jesus lehrt mit dem Erreichen des kanonischen Alters auch in den Synagogen und knüpft dafür an »alttestamentliche« Texte an. Diese Anknüpfung hat allerdings einen verschie10 Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) hat bis zu seinem Tode an diesem Werk gearbeitet, es aber nicht selbst veröffentlicht. Nach seinem Tode publizierte Lessing mit stark verklausulierter Begründung von 1774-1778 aus dem Werk insgesamt sieben »Fragmente eines Ungenannten«. Erst 1972 ist die »APOLOGIE oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« vollständig von Gerhard Alexander ediert worden (Frankfurt/M.). Die von Lessing publizierten Fragmente entstammen einer früheren Fassung des Werkes. 11 »Die Theologie Christi hangt ganz genau mit seiner Christologie, d.h. mit seiner Lehre von sich selbst zusammen, und die Theologie der Apostel ist nichts andres als die Zusammenstellung dessen, was wir in unsren unvollständigen fragmentarischen Expositionen der Lehre Christi in seinen Reden doch immer schon in den Elementen finden« (299).

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denartigen Zuschnitt. Jesus kann sich auf das Alte Testament beziehen, um bestimmte Schriftaussagen im Modus der Aneignung seiner Verkündigung zugrunde zu legen, es kann ihm aber auch lediglich als Veranlassung dienen, die Besonderheit seiner neuen Botschaft vom Reiche Gottes zur Geltung zu bringen.12 Sind schon mit dieser Differenzierung von Aneignung und Veranlassung Interpretations-Schwierigkeiten verbunden, so verschärfen sie sich noch dadurch, daß man im Blick auf das Judentum unterscheiden muß zwischen dem, was es als kanonisch fixiert hat (»ursprüngliche Nationaldenkmäler«) und dem, was es im Exil durch die Begegnung mit anderen religiösen Vorstellungen rezipiert hat. Dazu zählt Schleiermacher u.a. die Vorstellung von einer Auferstehung der Toten und vom jüngsten Gericht (253). Wie schon im ersten Hauptteil der Vorlesung angedeutet, kreist die Klärung des Verhältnisses Jesu zum Alten Testament und zum Judentum um das Phänomen der Theokratie. Jesus lehnt die traditionelle Verknüpfung von Religion und Politik im Judentum ab. Dennoch vermag er an die Propheten anzuknüpfen, weil ihre Verkündigung letztlich nicht auf das Politische, sondern auf das Religiöse ausgerichtet ist (263). Wesentlich ist ihm das Geistige der Prophetie (273). Aber die üblicherweise als messianische Weissagungen gedeuteten Stellen können nicht direkt auf Jesus bezogen werden. Nur die in diesen Schriftzeugnissen sich bekundende religiöse Idee hat in der Person Jesu ihre Verwirklichung erfahren. »Erst dadurch, daß Jesus diese Überlieferung auf sich selbst anwendet, wird der ihr selbst verborgene Richtungssinn offenbar.«13 Mit dem Rückbezug Jesu auf die Prophetie sind zugleich Differenzen gesetzt, denn Jesus versteht sich nicht nur als den von den Propheten Verheißenen, sondern als den von Gott Gesandten, ohne diese Sendung und den damit verbundenen Vollmachtsanspruch aber »an ein einzelnes Faktum oder einen bestimmten Moment zu binden« (280f ). Jesus verzichtet auf jeden Ausweis seiner Legitimität, auf den die Juden dringen, und provoziert mit dieser Verweigerung ihr religiöses Empfinden. Das Besondere des Selbstbewußtseins Jesu bekundet sich für Schleiermacher in seiner doppelten Aussage, daß er seine Lehre von Gott erhalten habe und aus sich selbst nichts tun könne. »In keinem Augenblick seines Lebens [ist er] ohne das in jedem Moment mitgesetzte Gottesbewußtsein gewesen« (284). Der Begriff »Sohn Gottes« bezeichnet die einzigartige Beziehung Jesu zu Gott, während der Terminus »Menschensohn« die menschliche Seite dieser Beziehung unterstreicht.14 Wohl hat die »Bekanntschaft« mit den alttestamentlichen Schriften bei Jesus auf menschliche Weise zur Ausbildung seines Gottesbewußtseins beigetragen, aber er hat es nicht aus dem Alten Testament geschöpft (294). Insofern ist seine Beziehung auf das Alte Testament »von einem Schriftgebrauch in einem weitern Sinne« geleitet, »eine absolute Buchstäblichkeit ist hier nicht vorauszusetzen« (265). Das gilt dann auch als hermeneutischer Leitfaden für den christlichen Umgang mit dem Alten Testament. 12 »[E]s ist etwas andres, ob Christus sich eine alttestamentliche Stelle aneignet als Darstellung seines eignen Gedankens, so daß er sie adoptiert, oder ob er sie nur gebraucht als ein Anknüpfungsmittel, so daß das Eigene, was er in Verbindung und in Beziehung darauf vorträgt, ein Differentes ist« (253). 13 Gräb (s. o. Anm. 4), 113. 14 SW I/6, 288: »Sohn Gottes bezeichnet aber seine Differenz von Allen, Menschensohn seine Verbindung mit Allen.« Vgl. auch aaO 293.

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Jesu Lehre von seiner Person und seinem Beruf hängt aufs engste mit seiner Lehre von Gott zusammen und bestimmt solchermaßen auch das Verständnis des Alten und des Neuen Bundes.15 In seinem eigenen Einleitungstext zur 42. Vorlesungsstunde skizziert Schleiermacher dieses Verhältnis in dreifacher Hinsicht: a) Jesus nennt Gott seinen Vater, die Propheten beziehen Gott indirekt auf das Volk. Die alttestamentliche Vorstellung von Gott als Herr und Herrscher hat einen theokratischen Grundzug. Insofern ist Jesu Gottesvorstellung antijüdisch ausgerichtet. b) Gott ist Geist und sucht den geistigen Verkehr. Alttestamentlich wird eine bestimmte Lokalität, die Schechina, als Wohnsitz Gottes gedacht, von der seine Offenbarung ausgeht. Gegenüber dieser mehr anthropomorphen Vorstellung von einer Gebundenheit Gottes an ein Äußeres geht im Neuen Testament die göttliche Mitteilung von Christus aus. Gott liebt Christus und sendet ihn aus Liebe. Diese Liebe gilt auch denen, die den Sohn lieben. Die Vergeistigung der Beziehung zu Gott enthält eine kritische Spitze gegen die Bindung des jüdischen Kultus an äußere Elemente.16 c) Die Climax der Kritik am Judentum erblickt Schleiermacher in der Abgrenzung Jesu gegen das Vergeltungsdogma. »Am allerstärksten antijüdisch aber war die Aufhebung der Nemesis in der gänzlichen Sonderung des göttlichen Wohlgefallens (die den Sohn lieben) von der göttlichen Ordnung des äußeren Wohlergehens (Sonne über Böse und Gute). In diesen Säzen liegt der Keim zu der ganzen apostolischen Theologie« (295f ). Die Vorlesungsnachschriften bieten aufschlußreiche Erläuterungen zu diesen drei Aspekten, vor allem zum Gedanken der Nemesis. Schon die alttestamentliche Prophetie übte Kritik am vornehmlich rituell verstandenen Kultus. Diese Kritik teilt Jesus, und insofern bewegt er sich in den Bahnen der Prophetie. Allerdings binden die Propheten das Verhältnis zu Gott an die Befolgung seiner Gebote. Damit steht die Prophetie weiterhin auf dem partikularen »Standpunkt der jüdischen Theokratie« (300), und gegen diesen Partikularismus richtet sich die Polemik Jesu. In diesem Zusammenhang finden sich die schon erwähnten kurzen Ausführungen Schleiermachers zum universal ausgerichteten Wirken Jesu und dem mit ihm angebrochenen »neuen Zeitalter« und der »neuen Weltordnung«.17 In Jesu Leben und Werk, in seinem »Beruf« kommt es zu einer weltgeschichtlichen Wende, deren prinzipielle Bedeutung in den Vorlesungen von 1832 nur deshalb nicht ins Auge fällt, weil Schleiermacher sich hier wie auch in der genannten Adventspredigt von 183218 thematisch auf 15 Vgl. dazu Schleiermachers einschlägige Adventspredigt vom 23. 12. 1832 »Der Unterschied zwischen dem Wesen des neuen und des alten Bundes an ihren Stiftern dargestellt« (SW II/2, 299–313). 16 »In diesem Ausdruck Christi [scil. Gott ist Geist] aber stellt sich zu gleicher Zeit seine Polemik gegen jenes sinnliche und fleischliche Element in dem jüdischen Kultus dar, indem er diese geistige Verehrung Gottes in Gegensatz stellt gegen die an einen Ort gebundenen Anbetung Gottes« (299). 17 SW I/6, 296: »Die beiden Punkte, die Darstellung seiner Persönlichkeit und die Lehre von Gott, die Darstellung seines Gottesbewußtseins, gehören so unmittelbar zusammen, daß sie sich nicht voneinander trennen lassen, weil in einem schon Elemente des anderen enthalten sind. Auf der anderen Seite hängt aber seine Lehre von Gott zusammen mit einem andern Punkt, nämlich mit seiner Lehre von der Differenz zwischen der jüdischen Theokratie und dem durch ihn zu begründenden neuen Zeitalter, und neuen Weltordnung.« 18 S. o. Anm. 15.

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Jesu Verhältnis zum Alten Bund beziehungsweise zum Judentum konzentriert und darüber hinausgehende historische Perspektiven ausblendet. In anderen Vorlesungen wie auch in den Predigten kann Schleiermacher den Rahmen weiter spannen und das Heidentum beziehungsweise das Griechentum in die Erwägungen einbeziehen, um so die weltgeschichtliche Schlüsselstellung Jesu sichtbar zu machen. So geht er zum Beispiel in den Vorlesungen über die Kirchengeschichte – allerdings nur in einer Vorlesungsnachschrift dokumentiert – davon aus, »daß Christus der Anfang ist einer neuen Periode in der Weltgeschichte«.19 Schleiermacher ist sogar noch einen Schritt weitergegangen und hat in einigen – allerdings erläuterungsbedürftigen Formulierungen – die Gültigkeit der wissenstheoretischen Grundlagen des philosophischen Denkens und der darauf beruhenden Rekonstruktion der Möglichkeitsfelder ethischen Handelns an die Bedingungen der durch Christus vollzogenen weltgeschichtlichen Wende gebunden. In den einleitenden Paragraphen seines Manuskriptes »Dialektik 1814«, eines vorbereitenden Textes zu seiner Vorlesung über Dialektik im Wintersemester 1814/15, leitet er die Entwicklung der Philosophie als Wissenschaft »vom religiösen, durch das Christenthum vollendeten Triebe« ab und sieht hierin den wesentlichen »Unterschied zwischen der alten und neuen Zeit«.20 Wilhelm Gräb hat deshalb zu Recht von einer »christologischen Zeitalterkonstruktion« bei Schleiermacher gesprochen und sie an unterschiedlichen Texten näher verdeutlicht.21 Diese weitausgreifenden Dimensionen kommen in den Vorlesungen über das Leben Jesu von 1832 aber nicht oder doch nur sehr ansatzweise zum Zuge, bilden jedoch den Hintergrund der Argumentation. Die jüdische Theokratie wird als partikularer Standpunkt gedeutet, dem der Universalismus des jesuanischen Gottesund Selbstbewußtseins entgegensteht. Von analogem Gewicht ist die Kritik an der Vorstellung von der Nemesis, von der Vergeltung oder – mit Klaus Koch gesprochen – vom Tun-Ergehen-Zusammenhang.22 Damit greift Schleiermacher auf einen Gesichtspunkt zurück, den er bereits in der 5. Rede seiner Schrift »Über die Religion« pointiert zur Sprache gebracht hatte.23 Der Vergeltungsgedanke durchzieht nach Schleiermacher das alttestamentliche Schrifttum und besagt, »daß die Befolgung des göttlichen Willens belohnt wird und der Ungehorsam 19 Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u.a., Bd.II/6, hg.v. Simon Gerber, Berlin/New York 2006, 677. 20 Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hans-Joachim Birkner u.a., Bd.II/10, Teilband 1 u. 2, hg.v. Andreas Arndt, Berlin/New York 2002, Teilband 1, 79f. 21 Gräb (s. o. Anm. 4), 124, insgesamt 108–155. 22 Vgl. dazu u.a. Klaus Koch, Die Propheten, Bd. 1: Assyrische Zeit, Bd. 2: Babylonisch-persische Zeit, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978. 1980 (passim). 23 Zu Schleiermachers Verständnis des Alten Testamentes vgl. u. a. Hans-Walter Schütte, aaO. (s.o. Anm. 7), 291–310. Darin ist die bisher zum Thema erschienene Literatur genannt (aaO 291, Anm. 1). – Rudolf Smend, Die Kritik am Alten Testament, in: Dietz Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768-1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 106-128. – Klaus Beckmann, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002, 31-135 (1. Kapitel: Dem Alten Testament fremd um Christi willen – Friedrich Schleiermacher).

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gegen den göttlichen Willen bestraft; nämlich belohnt durch das irdische Wohlergehen und bestraft durch das irdische Übelergehen« (300). Diese ganze Vorstellungswelt hebt Jesus auf, indem er Gott als denjenigen bezeugt, der seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten, und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte. In der Vorlesungsnachschrift heißt es dazu: »Das war die bestimmteste Polemik gegen die Hauptidee des Alten Testaments in Bezug auf das zwischen Gott und den Menschen, namentlich dem jüdischen Volk, obwaltende Verhältnis« (301). Schleiermacher illustriert das bisher Ausgeführte auch noch an Jesu Stellung zum Gesetz. Er unterscheidet dabei zwei Entwicklungsstufen. Auf einer ersten kann Jesus sich noch innerhalb der religiösen Vorstellungswelt des jüdischen Volkes bewegen, auch mit manchen Aussagen zum Gesetz. Das gilt etwa für den Eingangssatz zur Bergpredigt Mt5, 17 (vgl. 312f ). Aber schon innerhalb dieser ersten Entwicklungsstufe hält Jesus sich an die ursprüngliche Fassung des Gesetzes und weist die pharisäischen Zusätze zur Thora als Korruption zurück. Bei der Erfüllung der Gebote geht es Jesus um die Gesinnung, nicht um das formale äußerliche Einhalten der Gebote (316). Das gilt besonders für die Bergpredigt, die ihrem Inhalt nach eigentlich mit Mt5, 17 nicht vereinbar ist. In einem zweiten Schritt verschärft sich Jesu Stellung zum Gesetz. Ablesbar ist das an seiner Kritik am Sabbatgebot und an den Reinheitsvorschriften. Der Umgang mit dem Sabbatgebot trägt nach Schleiermacher »schon den Charakter einer großen Autorität, deren sich Christus schon muß bewußt gewesen sein, sowie er in einzelnen Ausdrücken das Bewußtsein seiner höheren Dignität bestimmt darin ausspricht« (393). Ein ähnliches Selbstbewußtsein läßt Jesu Kritik an den Reinheitsgeboten erkennen. Aber der Bogen dieser Kritik wird nicht überspannt. Jesus löst das Reinheitsgesetz nicht kontradiktorisch auf, indem er verkündet: »Ich erlaube euch, Unreines zu essen.« Er sagt nur, daß Äußeres nicht Inneres zu verunreinigen mag. Nicht die Reinheitsvorschriften bestimmen das Verhältnis des Glaubenden zu Gott, sondern die innere Gesinnung. Faktisch ist das Gesetz damit aufgehoben, und von diesem Punkt aus entwickelt »sich die ganze Katastrophe seines irdischen Schicksals« (314). In der Verkündigung Jesu ist aber weiterhin vom »Erfüllen des Gesetzes« die Rede. Nach Schleiermachers Interpretation will Jesus damit »dasjenige aus dem Gesetz, was geistig sein sollte, aber seiner eigentlichen Bestimmung nach nur politisch sein konnte«, also das rein sittliche und religiöse Element, aus dem Gesetz herauslösen und ihm ein neues Fundament geben (317). Das Gesetz, von dem in Mt5, 17 die Rede ist, braucht nicht förmlich aufgelöst zu werden, es soll und wird von selbst »zerfallen«, zumal mit der Zerstörung des Tempels. Das sich in Christus realisierende Reich Gottes bedeutet das Ende des Gesetzes (313). Andere zweideutige Textstellen sind gemäß dieser Grundtatsache vom Ende des Gesetzes zu interpretieren. Die vollkommene Gestalt der Gemeinschaft des Reiches Gottes läßt keinen Raum mehr für eine theokratische Verfassung. Das neu verstandene Reich Gottes vermag sich mit allen politischen Gemeinschaften zu vertragen, ist keine politische Sondergemeinschaft (317). Die christliche Gemeinde hat keinen politischen Charakter und ist »eo ipso neutral gegen alle politischen Verbindungen« (319), wie auch der Verkündigung Jesu eine politische Absicht oder Richtung fremd war (397).

Jesus und das Judentum nach Schleiermachers ›Leben-Jesu‹-Vorlesung

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5. Der Tod Jesu als innere Konsequenz seines Wirkens Das Wirken Jesu und sein messianisches Selbstbewußtsein verweisen wechselseitig aufeinander. Selbst dort, wo Jesus nicht förmlich mit den Pharisäern in Streit gerät, richtet sich seine Botschaft gegen fundamentale Überzeugungen der jüdischen Religiosität. Der Prozeß Jesu und seine Verurteilung, die Schleiermacher im III. Hauptteil seiner Vorlesungen behandelt, dokumentieren sichtbar, was ihn seit frühester Zeit an Feindschaft begleitet. Sie veranlaßt den Hohenpriester zur Frage, ob er der Messias sei, und das Synhedrium zum Vorwurf der Gotteslästerung: »Er ist des Todes schuldig« (426f ). Wie in den bisherigen Reaktionen auf Jesu Verhalten gehen die verantwortlichen Juden auch beim Verhör Jesu »von der politischen Vorstellung vom Messias aus.« Da Jesus aber gerade das nicht sein wollte, fehlt es eigentlich an einem corpus delicti. Die Anklage richtet sich Schleiermacher zufolge also mehr auf die Tendenz und auf die indirekten Wirkungen Jesu als auf gerichtsfeste Anklagepunkte (431f ). Es geht um das in Jesu Verkündigung sich dokumentierende Selbstbewußtsein, das die Anklagebehörde als Gefährdung religiöser Grundüberzeugungen des Judentums einschätzt und sie zur Verurteilung und zur Auslieferung an die römische Besatzungsmacht bestimmt. So zeigt sich am Ende, was von Anfang an angelegt war. Schleiermacher hält auch für dieses Ende an seinem Interpretationsansatz fest, den er bereits für die Frühzeit Jesu entwickelt hatte. In Jesu Leben und Wirken darf ein Kampf oder eine Trübung seines Gottesbewußtseins nicht stattgefunden haben. In einer riskanten Deutung kommt dieser Aspekt auch für das Verständnis des Schreis Jesu am Kreuz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« zum Zuge. Dazu heißt es in der Vorlesungsnachschrift: »So wie ich mir das denken soll als einen Ausdruck des Selbstbewußtseins Christi, so kann ich damit nicht fertig werden; ich kann mir keinen Moment denken, wo das Verhältnis zwischen Gott und Christus alteriert gewesen wäre; es muß immer dasselbige sein, und das Einssein mit dem Vater kann niemals aufgehoben sein, aber in solchem Ausruf erscheint das durchaus aufgehoben« (451). Vielleicht zeigt sich an keiner Stelle deutlicher als hier die partielle Gewaltsamkeit einer Interpretationsperspektive, die letztlich in einer dogmatischen Grundeinsicht von der Person und Würde Jesu verwurzelt ist.

6. Zusammenfassung und Ausblick Theokratie – Nemesis – Gesetz, das sind die Schlüsselbegriffe und -vorstellungen, mit denen Schleiermacher in seinen Vorlesungen über das Leben Jesu das Verhältnis Jesu zum Judentum interpretiert. Es verbinden sich damit andere Vorstellungen wie die über die üblicherweise messianische Weissagungen genannten alttestamentlichen Zeugnisse und dann natürlich historisch-hermeneutische Einsichten über das Verhältnis der beiden Testamente zueinander. Schleiermacher hat diese Themenkomplexe auch in anderen Publikationen verhandelt, in seinen Reden »Über die Religion«, in der »Kurzen Darstellung des theologischen Studiums« und in der Glaubenslehre sowie in seinen Vor-

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lesungen (u. a. Einleitung in des neue Testament, Kirchengeschichte) und Predigten.24 Außerdem müßten für eine Gesamtwürdigung auch sein Schriftchen von 1799 »Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter«25 und sein philosemitisch grundiertes Verhältnis zu den jüdischen Freunden und Freundinnen, besonders zu Henriette Herz, bedacht werden.26 Die Vorlesungen über das Leben Jesu stellen also nur einen – wenngleich wesentlichen – Ausschnitt aus Schleiermachers Bearbeitung des Themas dar. Was bisher rekonstruiert worden ist, bedarf also der Differenzierung und der Ausgestaltung. Daß sich Schleiermachers Urteile über die historische Qualität des Johannes-Evangeliums im Verhältnis zu den Synoptikern nicht halten lassen, ist unbestritten. Nach meiner Einschätzung hat Schleiermacher mit seinen Ausführungen entscheidende Themen für das Verhältnis Jesu zum Judentum zur Sprache gebracht. Ob die Argumentationen im einzelnen stichhaltig sind, bedürfte weiterer Klärung, die jetzt aber nicht zu leisten ist. Stattdessen soll abschließend noch kurz die – freilich anachronistische – Frage gestellt und erörtert werden, ob Schleiermachers Konzeption eine Variante dessen darstellt, was in den letzten drei Jahrzehnten unter dem Stichwort »Antijudaismus« in der christlichen, besonders in der protestantischen Theologie diskutiert worden ist.27 Dafür möchte ich mich auf die Thematik des Gesetzes beziehungsweise der Thora konzentrieren, weil sich gerade an diesem Punkt – und dies auf dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse während der deutschen nationalsozialistischen Herrschaft – die Kontroverse zwischen christlicher und jüdischer Theologie entzündet hat. In einem bestimmten Strang neuerer jüdischer Theologie, repräsentiert u.a. durch Namen wie David Flusser, Pinchas Lapide oder Schalom Ben-Chorin, wird der Versuch unternommen, Jesus in das Judentum zu integrieren und seine – angeblich – antithe24 Auf Schleiermachers Adventspredigt vom 23. 12. 1832 war bereits hingewiesen (s. o. Anm. 15). 25 Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796– 1799, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 327-361. Vgl. dazu auch die instruktive historische Einführung des Editors LXXVIII–LXXXV sowie den Abdruck der beiden Schreiben »Politisch-theologische Aufgabe über die Behandlung der jüdischen Täuflinge« (1799) und [David Friedländer:] »Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion« (1799), auf die sich die »Briefe« Schleiermachers beziehen; aaO. 373–413. Vgl. dazu Kurt Nowak, Schleiermacher und die Emanzipation des Judentums am Ende des 18. Jahrhunderts in Preußen, in: Friedrich Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter (1799), mit einem Nachwort hg. v. Kurt Nowak, Berlin 1984, 67–86. 26 Vgl. u. a. Richard Crouter, Introduction, Jewish Aspirations in Protestant Prussia, in: Richard Crouter/Julie Klassen (Hg.), A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin. David Friedländer, Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Abraham Teller, Indiapolis 2004, 1– 29. 27 Vgl. dazu u. a. Bertold Klappert/Helmut Starck (Hg.), Erläuterungen zum Synodalbeschluß der Rheinischen Landessynode 1980 »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden«, Neukirchen-Vluyn, 1980. Der Beschluß selbst mit den dazugehörigen »Thesen« findet sich 264– 281. – Rolf Rendtorff u. Hans Hermann Henrix (Hg.), Die Kirche und das Judentum, Dokumente 1945–1985, Paderborn/München 1988. – Friedrich Wilhelm Marquardt, Das Bekenntnis zu Jesus dem Juden, 2 Bde., München 1990.1991 – Martin Stöhr (Hg.), Lernen in Jerusalem – Lernen mit Israel. Anstöße zur Erneuerung in Theologie und Kirche, Berlin 1993.

Jesus und das Judentum nach Schleiermachers ›Leben-Jesu‹-Vorlesung

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tische Stellung zur Thora zu relativieren. Diese Versuche haben einerseits zur Schärfung des christlichen Problembewußtseins beigetragen, andererseits aber auch Interpretationen gezeitigt, die den Texten nicht hinreichend gerecht werden oder bestehende Differenzen – auf verwegene Weise harmonisierend – mit problematischen Deutungen einschleifen. Auch das kann ich jetzt nur andeuten und nicht weiterverfolgen.28 Stattdessen möchte ich diese Versuche ihrerseits relativieren und eine jüdische JesusInterpretation in Erinnerung rufen, die noch nicht durch den Schrecken des Holocaust vorgeprägt ist. Joseph Klausner (1874–1958), dessen Großneffe Amos Oz, der früher Amos Klausner hieß und durch seinen Roman »Eine Geschichte von Liebe und Finsternis« bekannt geworden ist, hat 1922 eine umfangreiche Monographie über »Jesus von Nazareth« in hebräischer Sprache veröffentlicht. Das Werk ist dann 1930 erstmals auf deutsch erschienen und hat danach noch weitere Auflagen erlebt.29 In dieser Monogra28 Nur einige wenige Beispiele: Pinchas Lapide, Die Bergpredigt – Utopie oder Programm? (1982), 3. überarb. u. erw. Aufl., Mainz 1983, 60–62: Lapide urteilt, daß Jesus sich mit der Formel »Ich aber sage euch« im Rahmen innerjüdischer Auseinandersetzungen eines Rabbi mit einem anderen Rabbi bewegt, sich aber nicht in einen Gegensatz zur Thora stellt. Für die 3. Antithese über die Ehescheidung kann Lapide das aber nur deshalb behaupten, weil er sich für diese Antithese vor allem an die Fassung mit der Ehebruchsklausel bei Matthäus hält (vgl. 73). Die Fassung ohne diese Klausel in den Parallelstellen (Mk10, 11; Lk16, 18) kommt nur am Rande zur Sprache. Die 3. Antithese ohne Ehebruchsklausel bedeutet gegenüber der Thora eine Verschärfung, die den Charakter eines Gegensatzes hat. Sie setzt Dt24, 1 außer Kraft. Lapide hingegen behauptet (aaO. 62): »Aber auch wenn man den parallelen Versionen bei Markus (10, 11) und bei Lukas (16, 18) das Vorrecht auf jesuanische Ursprünglichkeit einräumen will, die beide auf der absoluten Unauflöslichkeit der Ehe bestehen, liegt kein Grund vor, die Entscheidung Jesu als einen Verstoß gegen die Tora zu deuten.« Wie sich das mit der Erlaubnis des Scheidebriefes in Dt.24, 1–4 verträgt, wird nicht erörtert. – Ähnlich willkürlich verfährt Lapide bei der Interpretation des Verhaltens der Jünger, die am Sabbat Ähren ausraufen und von Jesus in Schutz genommen werden (Pinchas Lapide, Er predigte in ihren Synagogen. Jüdische Evangelienauslegung, Gütersloh 21981, 56–76). Um diesen Verstoß gegen die Thora, der von allen drei Evangelisten berichtet wird (Mt12, 1–8, Mk2, 23–28, Lk6, 1–5), gesetzeskompatibel zu deuten, unterstellt Lapide in dieser Situation eine Lebensgefahr, von der im Text aber keine Rede ist. »Nur wenn die Lebensgefahr als dritter Vergleichspunkt für die Jünger Jesu genauso zwingend war wie einst für die Mitstreiter Davids, ist das Plädoyer Jesu stichhaltig und einleuchtend« (aaO. 63). Lapide bietet noch ein zweites Argument ganz anderer Art auf. Mit seinem Lehrer David Flusser meint er, daß die griechischen Übersetzer des Urberichtes, die mit den damaligen Sitten des Volkes nicht vertraut waren, um die Szene zu veranschaulichen, die Aussage vom »Abreißen der Ähren« einfach hinzugefügt haben! (aaO. 60. Dazu David Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1968, 44). – David Flusser geht in seinem Buch »Bemerkungen eines Juden zur christlichen Theologie« (München 1984) auf Jesu Stellung zum Reinheitsgebot in Mk7, 1–23 ein und schreibt, selbst dieses Verhalten sei »vom Standpunkt der jüdischen Anschauung aus völlig korrekt: Sogar die in der Bibel verbotenen Speisen machen den, der sie gegessen hat, nicht rituell unrein, und die Verdauung hebt den Unterschied zwischen rein und unrein auch für die Speisen selbst auf« (aaO. 28). Nur bietet Flusser keinen Beleg für dieses Urteil. – Schalom Ben-Chorin (Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht [1967], München 71984) deutet Jesus trotz seiner vielfältig bezeugten Auseinandersetzung mit den Pharisäern und seiner Stellung zur kultischen Reinheit als einen Pharisäer besonderer Art (19, 22) und folgert: »Ich bin also der Ansicht, daß Jesus von Nazareth, wie jeder Rabbi in Israel, verheiratet war« (105). 29 Joseph Klausner, Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre (Jerusalem 1922); deutsch: Berlin 1930, 3. erw. Aufl., Jerusalem 1952.

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phie, die den Beginn der modernen hebräischen Leben-Jesu-Forschung darstellt, vertritt Klausner auf einer breiten Materialbasis und mit Argumenten, die m.E. durch die neueren jüdischen Jesus-Interpretationen nicht überboten, sondern unterboten werden, die These, daß Jesu Lehre in ihren Grundzügen jüdisch ist, daß er aber mit seiner Kritik zugleich Einsichten und Urteile formuliert, die den Rahmen jüdischer Überzeugungen sprengen. Es sind vor allem zwei Sachverhalte, die sich einer Integration Jesu in das Judentum widersetzen. Zum einen hat Jesus sich für den Messias gehalten. Das kann das Judentum nicht akzeptieren.30 Zum anderen hebt Jesus das Zeremonialgesetz fast auf, wie sich an seiner Stellung zum Sabbat, zu den Reinheitsvorschriften und an den Antithesen zeigen läßt. Da sich die Antithesen aber nicht dem Zeremonialgesetz zuschlagen lassen, sondern zentrale ethische Themen betreffen, verschärft sich der Gegensatz Jesu zum Judentum noch einmal. In einer zusammenfassenden Passage zum Streitgespräch Jesu mit den Pharisäern über die kultische Reinheit (Mk7, 1–15) schreibt Klausner: »So hebt Jesus nicht nur das Fasten auf und die Vorschrift des ›Händewaschens‹ nach der ›Tradition der Ältesten‹ oder der ›Überlieferung‹, sondern erlaubt sogar, wenn auch nur vorsichtig und andeutungsweise, Speisen, die in der Thora Moses verboten waren. Der Bruch zwischen Jesus und den Pharisäern war damit vollzogen.«31 Genau aber müßte es heißen: »Der Bruch zwischen Jesus und der Thora war damit vollzogen.« Klausner sieht das entscheidende Problem, beschreibt es auch richtig, um dann aber zum Schluß den Gegensatz Jesu gegen die Thora doch wieder auf die Linie eines Gegensatzes Jesu gegen die Pharisäer zurückzunehmen. Trotz dieser Selbstrelativierung ringt sich Klausner zu einer Einsicht durch, die in der neueren jüdischen Jesus-Forschung nicht wieder erreicht wird. Nach deren Verständnis bestehen die in der Forschung diskutierten Differenzen gar nicht oder sie werden eingeebnet, während Klausner für die tatsächliche historische Entwicklung der Ausdifferenzierung oder gar der Gegensatzbeziehung von Judentum und Christentum plausible Gründe bereitzustellen versucht. Diese Gründe werden dann in seiner ebenfalls sehr umfänglichen Monographie »Von Jesus zu Paulus« aufgenommen und für die weitere Entwicklung des Verhältnisses von Judentum und Christentum zum Zuge gebracht.32 Liest man Schleiermachers Deutung auf dem Hintergrund dieser Interpretationen Klausners, dann läßt sie sich – trotz der Verwendung des Begriffs »antijüdisch« – schwerlich als »Antijudaismus« diskreditieren und in ein Freund-Feind-Schema pressen, sondern trägt zu einem Bewußtsein von Unterschieden bei, die im gelebten Leben ihre Vermittlung suchen müssen und finden können. Allen Ausbrüchen von Haß, Gewalt und Verbrechen in der schlimmsten Phase deutscher Geschichte zum Trotz lassen sich solche Unterschiede einhegen und in eine Kultur der Gemeinsamkeit überführen, die Schleiermacher mit seinem jüdischen Freundeskreis in beeindruckender Weise praktiziert hat. 30 AaO. 526f., 553, 559f. 31 AaO. 398. 32 Joseph Klausner, Von Jesus zu Paulus (1. Aufl. Jerusalem 1950). Nachdruck dieser Auflage übers. aus dem Hebräischen unter Mitwirkung des Verfassers von Friedrich Thieberger, Königstein/Ts. 1980.

Schleiermachers christologische Fassung der ›Absolutheit‹ des Christentums Reinhold Bernhardt Schleiermacher steht am Beginn der »Religionstheologie« des 19. Jahrhunderts, auch wenn dieser Begriff nur in anachronistischer Brechung auf ihn angewendet werden kann – wie auch die Formel von der »Absolutheit des Christentums«. Ich will seine diesbezüglichen Ansätze in den »Reden«1 und in der »Glaubenslehre«2 sichten, rekonstruieren und kritisch reflektieren – nicht zuletzt im Blick auf die aktuelle religionstheologische Debatte. Dabei perspektiviere ich Schleiermachers Deutung der Religionen im Lichte der Rezeption Ernst Troeltschs, der sie – besonders in seiner »Absolutheitsschrift« von 1902 – aufnehmen, aber auch kritisch-konstruktiv weiterführen wollte: »Auf diesem Wege muss sich, meine ich, unsere Arbeit letztlich bewegen, auch wenn die Schleiermacher’sche Position letztlich nicht das letzte Wort ist, sondern die Historie gerade auch diese Position vor noch schwierigere Probleme gestellt hat.«3 Nachdem der Religionsbegriff im Übergang von der protestantischen Orthodoxie zur Aufklärung, zum Pietismus und zur Frühromantik eine Theologisierung, Individualisierung und Universalisierung erfahren hatte, bei der seine juristische, öffentlichrechtliche Bedeutung zur Bezeichnung staats- und kirchenrechtlicher Konfessionszugehörigkeiten zurückgedrängt worden war und man ihn nunmehr zum einen auf das Gottesbewusstsein des Menschen und zum anderen als Gattungsbegriff auf die historischen Religionsgemeinschaften anwendete, wurde die Frage unausweichlich, wie die »positiven«, die historischen Religionen zu diesem allgemeinen Gottesbewusstsein und wie sie zueinander stehen. Wie verhält sich der Allgemeinbegriff, die Idee der Religion zur subjektiven Religiosität und zu den unterschiedlichen historischen Vergesellschaftungsformen des Transzendenzbewusstseins? Wie ist die Vielfalt der positiven Religionen zu deuten und wie lässt sich das Wert- bzw. Geltungsverhältnis bestimmen, in dem das Christentum zu den anderen Religionen steht? 1 2

3

Die im Folgenden im Haupttext in Klammern genannten Seitenangaben beziehen sich auf die Original-Ausgabe von 1799. Als Textgrundlage verwende ich die von Hermann Peiter hg. Studienausgabe: Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube 1821/22 (= CG1), Berlin/New York 1984; für die zweite Aufl. von 1830/31 (= CG2) die von Rolf Schäfer hg. Ausgabe von 2008. Die eingeklammerten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Editionen. Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: KGA V, Berlin/New York 1998, 110.

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Zur Beantwortung dieser Fragen nimmt Schleiermacher in der »Glaubenslehre« eine Wesensbestimmung des Christentums vor und verweist dabei in doppelter Weise auf die Geschichte: Zum einen entwickelt er eine bewusstseinstheoretischreligionsphilosophisch ansetzende Schematisierung der Stufen und Arten der Religion, die er dann auf die Entwicklung des religiösen Bewusstseins in der allgemeinen Geistesund Kulturgeschichte bezieht, woraus sich eine formale Wesensbestimmung der christlichen Religion im Sinne einer Ortsbestimmung ergibt. Zum anderen ermittelt er aus der Christentumsgeschichte als der Realisierung des mit ihrem Gründungsereignis gesetzten Ursprungsimpulses das zentrale Thema dieser Religion und gelangt so zu einer inhaltlichen Wesensbestimmung. Während Schleiermacher die erste dieser beiden Argumentationslinien als wertfreie Typologisierung versteht, will er auf der zweiten die glaubend vorausgesetzte Vollkommenheit der christlichen Religion im Sinne ihrer qualitativen Unterschiedenheit von den anderen Religionen zur Darstellung bringen. Doch bringt sich dieses Interesse auch schon im ersten Argumentationsgang zur Geltung. Wenn Schleiermacher auf diese Weise die Vorrangestellung des Christentums gegenüber den anderen Religionen herausarbeitet, so handelt es sich dabei um einen Erweis auf der Grundlage der vorausgesetzten christlichen Wahrheitsgewissheit,4 nicht um einen Beweis, der auf supranaturale Offenbarungsansprüche, a-historische Vernunftgründe oder Geschichtsspekulationen rekurriert. Dieser Erweis kann nicht andemonstriert und damit der Strittigkeit erhoben werden. Er bewegt sich im hermeneutischen Zirkel des christlichen Glaubensbewusstseins,5 will sich aber deutlich unterschieden wissen von einem dogmatischen Postulat. Die Materialgrundlage für die Wesensbestimmung ist die Geschichte als Ort der Wesensverwirklichung.6 Ernst Troeltsch stellte die Problemstellung und den von Schleiermacher zu ihrer Lösung beschrittenen Denkweg in das Licht der von ihm in seiner Absolutheitsschrift bearbeiteten Beziehung von geschichtlicher Relativität und geschichtsübergreifendkontextunabhängiger Wahrheit. Nachdem das 18. Jahrhundert die Frage nach der unbedingten Wahrheit in der Mannigfaltigkeit und Bedingtheit alles Historischen im Sinne eines »geschichtsfreien Rationalismus« beantwortet habe, versuche Schleiermacher – 4 5 6

Er spricht von der vollkommensten Gestaltung, »als welche wir im voraus das Christentum bezeichnen möchten«, CG2 §10.1 [I/81], Hervorhebung R.B. In CG1 §1.3 (I/11) verweist Schleiermacher darauf, dass die Dogmatik »doch nur dem gläubigen (Leser) seinen Glauben auseinanderlegen kann«. Siehe dazu: Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion (Beiträge zur historischen Theologie 96), Tübingen 1996. – In seiner ausgezeichneten Studie stellt Schröder allerdings einseitig die (induktive) Wesensermittlung aus der Geschichte in den Vordergrund. Schleiermacher geht aber nicht von den geschichtlichen Erscheinungsformen des frommen Selbstbewusstseins aus, sondern von dessen Struktur, aus der er eine transzendentalphilosophische Religionstheorie entwickelt. Sicher kann das Prinzip des Christentums nicht apriori bestimmt und spekulativ begründet werden, wie Schröder zu Recht feststellt, es lässt sich aber auch nicht einfach als »Hermeneutik des faktischen Christentums« entfalten (26), sondern nur im vorab konstruierten und definierten idealistischen Koordinatensystem der Bewusstseinstheorie. Die höchste Bewusstseinsform ist nicht induktiv aus der Geschichte erhoben, sondern der Bewusstseins-›analyse‹ vorausgesetzt. Es handelt sich dabei um ein Postulat der religiösen Vernunft.

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dem Deutschen Idealismus folgend –, die historische Relativität »durch eine ontologische, gerade von der Fülle der Geschichte ihren einheitlichen Lebensgrund erkennende Geschichtsspekulation« zu überwinden.7 Im Folgenden will ich die beiden Wege nachzeichnen, auf denen Schleiermacher in der »Glaubenslehre« die besondere Eigenart und damit auch die Stellung des Christentums zu den anderen, besonders den monotheistischen Religionen semitischen Ursprungs bestimmt: den typisierend-komparativen Weg der formalen Wesensbestimmung und den beim Christusereignis als der Gründung der Christentumsgeschichte ansetzenden Weg der inhaltlichen Wesensbestimmung im Gegenüber zum Wesen der anderen monotheistischen Religionen. Am Ende dieser Rekonstruktion werde ich dann einige Überlegungen zur kritischen Auseinandersetzung damit anstellen.

1. Die formale und die materiale Wesensbestimmung des Christentums a) Im Leitsatz zu §7 CG2 postuliert Schleiermacher eine Unterteilung der positiven Religionen – genauer: der »in der Geschichte hervortretenden bestimmt begrenzten frommen Gemeinschaften« in idealtypische Entwicklungsstufen und Arten. Die Arten bilden eine Quereinteilung der Stufen. Aus der Kombination von Stufe und Art ergibt sich ein Einteilungsschema, dem sich dann die positiven Religionsformen zuordnen lassen. Es handelt sich dabei – nach Schleiermachers Verständnis – um eine aus der Unterscheidung unterschiedlicher Realisierungsformen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls gewonnene deskriptiv-rekonstruktive Typisierung, die von Wahrheits- und Wertfragen noch ganz absieht. Und doch schiebt er die normative Evaluation schon in die Präparation der formalen Wesensbestimmung hinein und hält damit die beabsichtigte klare Trennung zwischen den religionsphilosophischen Prolegomena zur »Glaubenslehre« und der Entfaltung der Materialdogmatik nicht durch. Letztlich besteht das Ziel der gesamten »Glaubenslehre« darin, die »bei jedem Christen vorauszusetzende[] Überzeugung von der ausschließlichen Vortrefflichkeit des Christentums«8 durch ein methodisch fundiertes Verfahren der formalen und inhaltlichen Wesensermittlung des Christentums zu untermauern. Die Wesensermittlung geschieht also nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Darlegung des vorausgesetzten Geltungsanspruchs willen. Deutlich wird das nicht erst im dogmatischen Teil der »Glaubenslehre«, sondern schon in der religionsphilosophischen Einleitung, die diesen Teil vorbereitet und in seinem Dienst steht.9 Dass schon die religionsphilosophisch-formale Wesensbestimmung, die auf dem Weg 7 8 9

Troeltsch, KGA V, 110. CG2 §7.3 (I/63). Vgl. Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Schleiermacherschen Theologie, Erster Teil: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsphilosophie, Tübingen 1911, 111ff, mit der zugespitzten Aussage, dass, »die sogen. religionsphilosophische Fundamentierung der GlL in der großen Einleitung [. . . ] in Wirklichkeit gar nicht Fundamentierung der Dogmatik, sondern selbst schon Dogmatik [ist]« (116). Ebenso aaO. 130.

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der Ortsbestimmung der christlichen Frömmigkeit gegenüber anderen Frömmigkeitstypen vorgenommen wird, normativ grundiert ist, zeigt sich in der Unterscheidung der drei Stufen des religiösen Bewusstseins, weniger deutlich in der Unterscheidung der beiden Arten, unverkennbar aber in der Selektion der Wesensmerkmale der historischen Religionen und ihrer Zuweisung zu den Stufen und Arten. Das soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Schleiermacher geht von einer grundlegenden Anerkennung aller historischen Religionen, unabhängig von ihrer Entwicklungsstufe und Art aus, weil und insofern sie alle in der allgemeinmenschlichen Ausrichtung des Gemüts auf die Hervorbringung frommer Erregungen gründen.10 Daher besteht zwischen ihnen eine grundlegende (anthropologische) Gemeinsamkeit und Kontinuität.11 Auch die unteren Religionsstufen gründen in der Wahrheit der im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl erfassten Transzendenzbeziehung, wenn auch in rohen und unterentwickelten Formen.12 »Aufgrund der gleichermaßen erfolgenden Sättigung des allgemeinen Begriffs der Religion durch jeweils eine bestimmte Zentralanschauung sind alle bestimmten Religionen gleichwertige Gestaltungen der Religion«.13 Mit dieser Anerkennung ist überhaupt erst die Vergleichbarkeit der Religionen gegeben und damit wiederum die Möglichkeit, das Wertverhältnis – d.h. den Grad der Realisierung des Wesens bzw. der Grundidee der Religion – zwischen ihnen komparativ zu bestimmen. Diese Annahme führt Schleiermacher notwendigerweise zur strikten Zurückweisung exklusivistischer Relationierungsmodelle, die sich des Gegenüberstellungsschemas von religio vera und religiones falsae bedienen. Dass sich die christliche Gestaltung der Frömmigkeit zu den anderen Frömmigkeitsformen verhalte »wie die wahre zu den falschen« schließt er nachdrücklich aus.14 Im Blick auf innerchristliche Spaltungen hatte er in der vierten Rede die klagende rhetorische Frage aufgeworfen: »Wo ist die verschrieene wilde Bekehrungssucht zu einzelnen bestimmten Formen der Religion und wo der schreckliche Wahlspruch ›Kein Heil außer uns‹?« (187f.). Dass er diese Zurückweisung eines innerchristlich-konfessionellen Exklusivismus in gleicher Weise auch auf die Verhältnisbestimmung der Religionen zueinander anwendet, wird dann in der fünften Rede deutlich, wenn er emphatisch proklamiert, das Christentum verschmähe diesen Despotismus, der im Anspruch liegt, »als die einzige Gestalt der Religion in der Menschheit allein herrschend [zu] sein« (310). Dabei gibt Schleiermacher die Unterscheidung von wahrer und falscher Religion keineswegs auf, sondern transformiert sie – entsprechend der Verschiebung von der Wahrheits- zur Wesensfrage – zur Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem: zwischen der »ewige[n] und unendliche[n] Religion«, die den wahren Gehalt 10 Schon in der zweiten Rede hatte er die Position vertreten, in allen Religionen sei mehr oder minder vom wahren Wesen der ewigen und unendlichen Religion enthalten (247). 11 »Nach einer solchen Ahndung von etwas außer und über der Menschheit strebt alle Religion, um von dem Gemeinschaftlichen und Höheren [. . . ] ergriffen zu werden« (aaO. 105). 12 CG2 §8, Zusatz 1 (I/71f ). 13 Falk Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 70. 14 CG2 §7.3 (I/64).

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der religiösen Positivierungen ausmacht, und den »toten Schlacken«, die sich im Laufe der religionsgeschichtlichen Gerinnungsprozesse in den Religionen gebildet haben (247f.). Wenn diese Gerinnungen abgeschieden sind, tritt das eigentliche Wesen der einzelnen Religionen hervor. Die unendliche Religion – das unmittelbare Angerührtwerden vom Universum – manifestiert sich in den Grundanschauungen der positiven Religionen, verbindet sich dort aber immer auch mit Erborgtem und Fremdem (248). Der jeweiligen Grundanschauung jedoch kommt ewige Geltung zu, weil sie ein »Teil des unendlichen Ganzen ist, in dem Alles ewig sein muss« (307). Ihre geschichtliche Erscheinungsform hingegen ist historisch relativ und vergänglich. In solch ›idealistischer‹, auf die Gegenüberstellung von Wesenhaftem und historisch Ankristallisiertem bezogener Anwendung fungiert die Unterscheidung zwischen wahr und falsch zunächst als Prinzip einer immanenten Religionskritik, die nach der Vollkommenheit fragt, in der das Wesen der Religion in den Religionen realisiert ist. Der Allgemeinbegriff »Religion«, den Schleiermacher den bestimmten positiven Religionen vorangehen lässt, hat dabei – wie Falk Wagner zu Recht konstatiert – nicht die Bedeutung eines Gattungsbegriffs, sondern fungiert als Regel, die besagt: »Du kannst vom allgemeinen Begriff der Religion dann zu einer bestimmten Religion übergehen, wenn du an die Stelle der im Begriff der Religion als Leerstelle oder Variable auftretenden Anschauung eine bestimmte Anschauung treten lässt.«15 In der Einleitung zur »Glaubenslehre« arbeitet Schleiermacher das Relationsmodell von allgemeinreligiöser Transzendenzerfahrung und graduell bzw. qualitativ unterschiedlich vollkommenen Realisierungsgestalten in einem bewusstseinstheoretischen Theorierahmen aus. Den Zuständen der »Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins«16 – dem tierhaft-verworrenen, sinnlichen und frommen Bewusstsein – korrelieren die Stufen der religionsgeschichtlichen Entwicklung vom Fetischismus über den Polytheismus hin zum Monotheismus. Darin ist das in der zweiten Rede vorgestellte Schema der drei Arten, das Universum anzuschauen, aufgenommen und weiterentwickelt: als Chaos, als Vielheit ohne Einheit und als Einheit in der Vielheit (126f.). Je klarer sich das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (»von Einem Höchsten und Unendlichen«)17 vom sinnlichen Selbstbewusstsein unterscheidet, je weniger es von den Erregungen des sinnlichen Selbstbewusstseins beherrscht, damit von der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandswelt affiziert ist und sich daran bindet, je deutlicher es die Einheit der Wirklichkeit erfasst, umso höher ist die Stufe der sich daraus bildenden Religionsform. Die höchste – monotheistische – Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Selbstbewusstsein gänzlich vom Unendlichen abhängig weiß. Auf der Stufe des Monotheismus, auf der Judentum, Christentum und Islam zu stehen kommen, bedarf es nun eines weiteren Unterscheidungsmerkmals, um das Christentum als die vollkommenste Art unter den am höchsten entwickelten Religionen, als die »reinste in der Geschichte hervorgetretene Gestaltung des Monotheismus«18 auszu15 16 17 18

Falk Wagner, Was ist Religion? (siehe Anm. 13), 70. CG2 §3, Leitsatz (I/20). CG2 §8, Leitsatz (I/65). CG2 §8.4 (I/70).

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weisen.19 Zunächst blickt Schleiermacher das Judentum und den Islam in ihren empirischen Erscheinungsformen an. Das Judentum partikularisiere den Monotheismus, indem es ihn an den abrahamitischen Stamm binde und zeige darin eine Tendenz zum Fetischismus, der durch die Bindung des religiösen Bewusstseins an Endliches charakterisiert ist. Mit der Sinnlichkeit seiner Vorstellungswelt, seinem leidenschaftlichen Charakter und seiner passiven Ergebung in den Willen Gottes lasse der Islam Züge der polytheistischen Entwicklungsstufe erkennen. Im Christentum sei der Monotheismus in der Religionsgeschichte am reinsten hervorgetreten.20 Mit dieser religionsphänomenologischen Unterscheidung überschreitet Schleiermacher den Rahmen, den er sich in der Einleitung der »Glaubenslehre« für die Entfaltung einer bewusstseinstheoretisch ansetzenden Religionsphilosophie gesteckt hatte und nimmt das Resultat der inhaltlichen christologischen Wesensbestimmung vorweg. Bei dieser vergleichenden Betrachtung der Erscheinungsformen kann und will Schleiermacher nicht stehenbleiben. Er sucht den Unterschied im Wesen der drei Religionen zu lokalisieren und greift dabei wieder auf eine bewusstseinstheoretische Differenzierung zurück. Ihm zufolge ist die Lösung des schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstseins vom sinnlichen Selbstbewusstsein nicht als dessen Überwindung zu verstehen, sondern als Anzeige der Einigungsrichtung. Die Vermittlung von höherem und niederem Selbstbewusstsein muss vom höheren dominiert werden, worin man eine Entsprechung zur christologischen An- bzw. Enhypostasielehre erblicken kann. Im Selbstbewusstsein lassen sich nach Schleiermacher nun aktive (selbsttätige) und passive (empfängliche) Zustände unterscheiden. Daraus entwickelt er die Unterscheidung zwischen der ästhetischen (natürlichen) und der teleologischen (sittlichen) Art der Frömmigkeit. In der teleologischen setzt das Gottesbewusstsein bei der Einigung mit dem sinnlichen Selbstbewusstsein einen Tätigkeitsimpuls frei, der zur Umgestaltung des Gegebenen nach Maßgabe sittlicher Zwecke führt, während das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl im ästhetischen Typus einen Zustand passiver Ergebung in das Vorfindliche erregt, das als göttliche Schickung erfahren wird.21 Im Islam sieht Schleiermacher den ästhetischen Typus realisiert, im Christentum und im Judentum den teleologischen. Auf Grund des fatalistischen Charakters seines Gottesbewussteins sei im Islam das Sittliche dem Natürlichen untergeordnet. Das Judentum gehöre zwar der teleologischen Art an, habe jedoch die Vollkommenheit der christlichen Religion noch nicht erreicht, weil sein Gottesbewusstsein vom Motiv des gebietenden Willens bestimmt sei22 und nicht zur sittlichen Selbstbestimmung, sondern zur Handlungsorientierung am Schema von Lohn und Strafe anleite.23 Im Christentum hingegen ist für Schleiermacher das Moment des Teleologischen am deutlichsten ausCG2 §8.4 (I/71). CG2 §8.4 (I/70). CG2 §9.1 (I/77–80). Schon am Ende der zweiten Rede hatte Schleiermacher die Vorstellung eines gebietenden Gottes als irreligiös bezeichnet (130). 23 Siehe dazu: Berthold Klappert, Schleiermachers Verständnis von Islam, Judentum und Christentum und der Dialog zwischen Judentum, Christentum und Islam heute. Das Beispiel der ›Reden über die Religion‹ – 200 Jahre nach Schleiermacher, in: Friedrich Huber (Hg.): Reden über die Religion – 19 20 21 22

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geprägt, denn alle frommen Gemütszustände werden hier auf die Tätigkeit im Reiche Gottes bezogen – und zwar nicht durch einen heteronomen Imperativ, sondern durch den Erlösungsimpuls, der sich aus dem Gottesbewusstsein für die Motivation des Handelns ergibt. In der Beziehungsbestimmung zum Judentum ist die Polarität von Partikularität und Universalität sowie von Heteronomie und Autonomie leitend, in der Beziehungsbestimmung zum Islam diejenige von Natur und Geist. Beide sind werthaft aufgeladen. Es ist hier nicht die viel diskutierte Frage weiterzuverfolgen, ob die Hochschätzung gerade des teleologischen Typus in Spannung steht zur Bestimmung des Wesens der Religion als Affiziertwerden durch das Universum, wie es in der zweiten Rede von 1799 bestimmt wird,24 und zur Hervorhebung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls als Wesen der Religion in der »Glaubenslehre«.25 – Der Schlüssel zu ihrer Beantwortung liegt in der Aussage, dass die erlösende Tätigkeit Christi, die in reiner Empfänglichkeit angeeignet wird, zum »Taterzeugen in uns« wird.26 – Wichtiger für die hier interessierende Bestimmung der Stellung des Christentums zu den anderen Religionen ist die Frage, wie Schleiermacher die Arten der Frömmigkeitsausprägung auf der monotheistischen Stufe zueinander ins Verhältnis setzt. Auch wenn Schleiermacher die Unterscheidung des teleologischen vom ästhetischen Typus (nach dem Schema von Natur und Geist beziehungsweise sittlicher Selbstbestimmung), als wertfreie Gegenüberstellung alternativer Religionsformen verstanden wissen will, so ist doch seine Prävalierung des teleologischen unverkennbar. Und auch innerhalb der teleologischen Gattung gibt es Unterschiede in der Vollkommenheit des Gottesbewusstseins. Das wird etwa dort deutlich, wo Schleiermacher die Entwicklungsstufen und Arten der Religion mit der Entwicklung des tierischen Lebens vergleicht: »[. . . ] auch auf dem Gebiet der Natur unterscheiden wir vollkommene und unvollkommene Tiere als gleichsam verschiedene Entwicklungsstufen des tierischen Lebens, und auf jeder von diesen wieder verschiedene Gattungen, die also als Ausdruck derselben Stufe einander gleich sind; dies aber hindert nicht, dass nicht dennoch auf einer niederen Stufe die eine sich mehr der höheren nähert und in sofern vollkommener ist als die anderen. Ebenso nun kann auch das Christentum, wenn gleich mehrere Gattungen der Frömmigkeit dieselbe Stufe mit ihm einnehmen, doch vollkommener sein als irgendeine von ihnen«.27

Wenn auch in der Möglichkeitsform ausgedrückt, so kann und muss man diese Aussage als einen deutlichen Hinweis auf die Annahme einer Vorrangstellung des Christentums gegenüber den Religionen nicht nur des ästhetischen Typus, sondern auch derjenigen,

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200 Jahre nach Schleiermacher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionskritik, Neukirchen-Vluyn 2000, 116–163, besonders 145ff. Der Mensch soll seine Kraft dazu verwenden, »dass er sich ohne bestimmte Tätigkeit vom Unendlichen affizieren lasse« (Zweite Rede, 114, Hervorhebung R.B.). Ich verweise dazu auf: Andreas Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historischsystematische Studie zum Religionsbegriff Studie zum Religionsbegriff (Kierkegaard Studies, Monograph Studies 18), Berlin/New York 2008, 290–293. CG2 §100.1 (II/105). CG2 §7.3 (I/63f ).

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die sich mit ihm zusammen in der teleologischen Art befinden, deuten. Diese Vollkommenheit besteht darin, dass es das mit dem Begriff des Monotheismus Gesetzte in einer Weise realisiert, die mit der menschlichen Freiheit kompatibler ist als andere Religionen des teleologischen Typus und die – anders als die ästhetischen Religionsformen – zur sittlichen Selbstbestimmung und zur aktiven Gestaltung führt. Weil sich das höhere Selbstbewusstsein hier am klarsten vom sinnlichen, das Weltverhältnis vermittelnden Selbstbewusstsein unterscheidet, kann das Christentum als die höchstentwickelte Religion gelten. Dabei ist nicht ein historisch-›horizontaler‹, sondern ein bewusstseinstheoretisch grundierter ontologisch-›vertikaler‹ Entwicklungsbegriff vorausgesetzt. Schleiermacher versteht »Entwicklung« nicht im Sinne eines Verlaufsmodells als religionsgeschichtlichen Fortschrittsprozesses, sondern als Ent-Faltung des Wesenskerns; zum einen als Realisierung des idealen Wesens der Religion, d.h. als mehr oder weniger vollkommene Erfassung des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit, zum anderen als Realisierung des Wesenskerns des Christentums, d.h. als immer tiefere und vollkommenere Erfassung des Erlösungsbewusstseins. »Der Fortschritt in der Religion besteht für Schleiermacher in immer tieferer und wesentlicherer Verwirklichung der eigentümlichen religiösen Lebensmitte einer positiven Religionsgestalt.«28 Was Rudolf Otto in seinem Nachwort zur Ausgabe der »Reden« 1899 (19062) schreibt, das gilt auch für das Schema der Stufen und Arten in der »Glaubenslehre«: »[. . . ] wenn eine Religion an der anderen gemessen eigentlich nicht ›wahrer‹ sein kann, so kann sie doch ›würdiger, herrlicher, erhabener‹ sein als alle anderen.«29 Dass das Christentum die würdigste der Religionen auf der monotheistischen Stufe ist, ergibt sich noch klarer aus dem nun darzustellen dogmatischen Argumentationsgang, ist aber in den Wertsetzungen des religionsphilosophischen schon angelegt. b) Der zweite Argumentationsgang, auf dem Schleiermacher in der »Glaubenslehre« – nun im materialen Teil – die Vollkommenheit der christlichen Religion zu erweisen sucht, setzt an bei der Christentumsgeschichte – bei ihrem Gründungsereignis und dem zentralen Thema des davon ausgehenden spezifisch christlichen Gottesbewusstseins. Damit gelangt Schleiermacher zu einer inhaltlichen Bestimmung des Wesens dieser Religion. Während es in der religionsphilosophischen Typisierung um die Art und Weise ging, in der sich das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl im Gegenüber zum sinnlichen Selbstbewusstsein in den Bewusstseinsformationen der Religionen realisiert, geht es hier um die konkrete, durch den Stifter dieser Religion generierte und damit »positive« materiale Besonderheit des Gottesbewusstseins in der christlichen Religion. Schleiermachers methodischer Vorüberlegung zufolge besteht das Wesen einer historischen Religion im »individuelle[n] Gehalt der gesamten frommen Lebensmomente innerhalb einer religiösen Gemeinschaft, sofern derselbe abhängig ist von der Urtatsache, aus welcher die Gemeinschaft selbst als eine zusammenhängende geschichtliche 28 Klaus Eberhard Welker, Die grundsätzliche Beurteilung der Religionsgeschichte durch Schleiermacher, Leiden/Köln 1965, 132. 29 Göttingen 19062, XXXV.

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Erscheinung hervorgegangen ist«.30 In dieser Hinsicht – im Blick auf die je eigene Individualität der Religionen – stehen sie in einer radikalen Diskontinuität zueinander. Schon in der Religionstheorie, die Schleiermacher in der zweiten Rede entfaltet hatte, betonte er, dass die von der Aktivität des Universums affizierten religiösen Anschauungen selbständig und unabhängig voneinander sind.31 Sie lassen sich systematisch nicht voneinander ableiten, auch dort nicht, wo historisch-genetische Beziehungen bestehen wie zwischen Judentum, Christentum und Islam.32 Solche Beziehungen begründen daher keine Wesensverwandtschaft. Die Religionen sind grundsätzlich, prinzipiell, in ihren ideellen Ursprüngen verschieden voneinander.33 Daher muss das materiale Wesen einer jeden Religion je für sich bestimmt werden. Es ist – der »Glaubenslehre« zufolge – zum einen aus dem sie begründenden Geschichtsereignis zu erheben – im Falle des Christentums also aus der Person und dem erlösenden Wirken Jesu Christi – und zum anderen aus der jeweiligen wesenhaften Spezifikation des Typus, dem sie angehört34 – im Falle des Christentum also der telelogischen Richtung der monotheistischen Stufe. Die inhaltliche Besonderheit der christlichen Religion liegt in dieser Hinsicht im Erlösungsbewusstsein, das alle frommen Erregungen in ihr prägt. In der historischen Urtatsache besteht der äußere Grund seiner Besonderheit, während der innere in dem von ihm vermittelten Gottesbewusstsein liegt, das als Individuationsprinzip die Unterscheidung von anderen Religionsformen, die der gleichen Stufe und Art angehören, ermöglicht. Entscheidend ist nach Schleiermacher dabei die gegenseitige Bezogenheit von äußerem und innerem Grund: Das Proprium der christlichen Religion besteht in der Wesensverwirklichung, die in der Erlösung durch Jesus Christus grundgelegt ist und die das christliche Gottesbewusstsein durchgehend auf diesen Ton stimmt. »In der Person Jesu wird sich das christlich-fromme Selbstbewusstsein des eigenen Entstehungsgrundes ansichtig, indem der geschichtliche Anfangspunkt des Christentums in seinem individuellen Lebensvollzug zugleich der Begründer des Erlösungsbewusstseins als des inneren Merkmals des christlichen Bewusstseins ist«.35 Im historischen Grundfaktum der Person Jesu Christi tritt die Erlösungsidee in die Geschichte ein, die zur Zentralanschauung der christlichen Religion wird. Auch hier – bei der inhaltlichen Wesensbestimmung des spezifisch Christlichen – will Schleiermacher keinen Beweis für die Wahrheit und Notwendigkeit des Christentums führen. Er geht davon aus, »dass jeder Christ, ehe er sich irgend mit Untersuchungen dieser Art einlässt, schon die Gewissheit in sich selbst habe, dass seine Frömmigkeit 30 CG2 §10, Zusatz (I/89). 31 58, 60, 249. Aus diesem Gedanken ergibt sich für Schleiermacher eine »freundliche, einladende Duldsamkeit« gegenüber anderen Formen der Frömmigkeit (aaO. 62f ). 32 »[I]ch hasse in der Religion diese Art von historischen Beziehungen« (287). 33 Die Verschiedenheit der Religionen ergibt sich also keineswegs »ausschließlich aus den Eigentümlichkeiten und historischen Bedingungen ihres Vorkommens«, wie Arnulf von Scheliha meint (Arnulf von Scheliha, Der Islam im Kontext der christlichen Religion, Münster u. a. 2004, 18). 34 CG2 §10, Leitsatz (I/80f ). Nach CG2 §9.2 (I/78) soll die Unterscheidung der Stufen und Arten zur Wesensbestimmung des Christentums beitragen. 35 Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums (siehe Anm. 6), 66.

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keine andere Gestalt annehmen können als diese«.36 Diese normative Gewissheit liegt der Relationierung voraus, die er nun zwischen dem Judentum, dem Christentum und dem Islam vornimmt und deren Resultat damit vorhersehbar ist. Den entscheidenden Unterschied, den er zwischen der Prägung des christlichen Gottesbewusstseins und dem der anderen monotheistischen Religionsgemeinschaften markiert, besteht darin, dass deren Hauptgeschäft »das Stiften der Gemeinschaft auf bestimmte Lehre und unter bestimmter Form«37 sei. Lehre und Praxisform – darin dürfte ein Anklang an »Metaphysik und Moral« liegen, die Schleiermacher in der zweiten Rede der Religion als Anschauung und Gefühl (in »schneidendem Gegensatz«, 50) gegenüber gestellt hatte. Dort fragte er fast höhnend: »Dieses Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt und von Geboten für ein menschliches Leben [. . . ], nennt ihr Religion?« (44). In beiden Fällen, im metaphysisch-lehrhaften wie im moralisch-praktischen Missverständnis der Religion herrscht »Systemsucht« (64), die sich aktiv – im einen Fall erkennend, im anderen Fall handelnd – des Unendlichen im Endlichen zu bemächtigen versucht. Wenn man diese Systemsucht als eine Form von Gesetzlichkeit deutet und diese wiederum auf die reformatorische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zurück bezieht, dann erscheinen die anderen beiden Religionsformen, die Schleiermacher in der »Glaubenslehre« der monotheistischen Stufe zuordnet, als Gesetzesreligionen – genauso, wie Luther sie gedeutet hatte. Diese Interpretation wird zum einen dadurch bestätigt, dass Schleiermacher auch an vielen anderen Stellen in seinen Schriften Jesu Beziehung zum Judentum als Überwindung des Gesetzesprinzips bestimmt – die diesbezüglichen Beiträge zu diesem Band bieten eine Fülle von Belegen dafür – und dass er die Unterwerfung unter den unbedingten Willen Gottes als Leitmotiv des Islam diagnostiziert. Zum anderen kann diese Deutung auf §11 CG2 verweisen. Dort, wo das Wesen des Christentums als Erlösungsreligion bestimmt wird, tritt der Gattungsunterschied zwischen dem Ästhetischen und dem Teleologischen gänzlich zurück. Das Christentum wird den anderen monotheistischen Religionsgemeinschaften insgesamt gegenübergestellt. Nicht Lehren und religiöse Praxisformen konstituieren und konfigurieren nach Schleiermacher die christliche Gemeinschaft, sondern der erlösende Totaleindruck des Stifters, in dem sich die Stetigkeit und Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins mitteilt. Damit ist dieser mehr als ein bloßer Lehrer und Ordner der Gemeinschaft. Während Schleiermacher in der fünften Rede noch unterschieden hatte zwischen dem Prinzip beziehungsweise der Idee beziehungsweise dem Wesen des Christentums einerseits und Jesus Christus als der Gründerpersönlichkeit, die diese Idee geschichtlich vermittelt, andererseits, so zieht er diese Differenz in der »Glaubenslehre« nahezu vollständig ein. Während er damals noch eine exklusive Besetzung des Mittleramtes durch Jesus Christus mit der bekannten Aussage zurückgewiesen hatte, Christus habe nie behauptet, »das einzige Objekt der Anwendung seiner Idee, der einzige Mittler zu sein« (304), so stellt er nun die Einzigartigkeit Jesu Christi deutlich heraus. 36 CG2 §11.5 (I/102). 37 CG2 §11.4 (I/99).

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Auch zwischen den beiden Auflagen der »Glaubenslehre« lässt sich diese Akzentverschiebung noch einmal beobachten. Während Schleiermacher im Leitsatz zu CG1 §18 die Besonderheit der christlichen Religion darin erblickt, »dass alles einzelne in ihr auf das Bewusstsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth« bezogen wird, heißt es im Leitsatz zu CG2 §11, »dass alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung«. Während Jesus nach der ersten Fassung also das Erlösungsbewusstsein konstituiert, vollbringt er nach der zweiten Fassung die Erlösung als eine der Aneignung durch das Bewusstsein voraus liegende Wirklichkeit. Die Prädikation Jesu als Mittler wird durch die des Urhebers überboten. Dem korreliert eine Akzentverschiebung in der Relationierung von äußerem und innerem Bestimmungsgrund des Wesens des Christentums. In CG1 hatte Schleiermacher mehr Gewicht auf den inneren Wesensgrund gelegt. Das heißt, mehr als die historische Urheber-, Trägerund Mittlerschaft Jesu Christi, also seine Funktion, hatte er den Inhalt dessen, was vermittelt wird, betont: die Stetigkeit und Kräftigkeit des Gottesbewusstseins. In CG2 hebt er deutlicher hervor, dass die Einheit zwischen dem äußeren und dem inneren Wesensgrund schon in der Person Jesu Christi selbst besteht. Alle frommen Momente des christlichen Gottesbewusstseins sind damit nicht nur auf die Erlösung, sondern auf den Erlöser bezogen. In ihrer Studie zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der »Glaubenslehre« arbeitet Maureen Junker heraus, wie sich die Bedeutung der Behauptung, dass das Sein Gottes Jesu innerstes Selbst ausmache,38 verschiebt: »In der ersten Auflage ist es nur das relative Maximum des Seins Gottes, das Jesus realisiert.«39 Jesu Gottesbewusstsein unterscheidet sich von unserem Gottesbewusstsein durch seine Reinheit, Stabilität und Stärke. »Aber auch in dieser absoluten Steigerung bleibt es ein Sonderfall des allgegenwärtigen Seins Gottes, also letztlich im Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen. Die zweite Auflage kehrt das Gefälle um: Von einem Sein Gottes in einem Endlichen ist vor der Erscheinung Jesu gar nicht die Rede, sondern nur von der Allgegenwart Gottes überhaupt, die sich in der Welt als ganzer vollzieht.«40 Jesus ist der »einzig ursprüngliche Ort [. . . ] und allein der Andere, in welchem es ein eigentliches Sein Gottes giebt«.41 Im Blick auf den äußeren Bestimmungsgrund des Wesens der christlichen Religion besteht der Unterschied zwischen Judentum, Christentum und Islam darin, dass Christus mit seiner erlösenden Kraft nicht nur allen Christen, sondern allen Menschen in kategorialer Verschiedenheit gegenübersteht, wohingegen Mose und Mohammed von ihren jeweiligen Glaubensgemeinschaften nicht wesenhaft unterschieden sind, sondern lediglich aus ihnen herausgerufen und mit einem besonderen Botschaftsauftrag versehen worden sind. Während die Stifter von Judentum und Islam prinzipiell ersetzbar waren und die Botschaft, die sie zu übermitteln hatten, auch ihnen selbst galt, war Jesus Chri38 CG1 §116.3 (II/29f ); CG2 §94 (II/52–58). 39 Maureen Junker, Das Urbild des Gottesbewußtseins. Zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der »Glaubenslehre« (SchlA 8), Berlin/New York 1990, 181f. 40 AaO. 182. 41 CG2 §94.2 (II/56).

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stus aller Erlösungsbedürftigkeit enthoben.42 So konnte er den Gegensatz zwischen dem für sich seienden sinnlichen und dem auf den Konstitutionsgrund des Seins ausgerichteten höheren Selbstbewusstsein und damit die Hemmung des Gottesbewusstseins ein für allemal aufheben. Die von ihm begründete Frömmigkeitsform steht daher den anderen monotheistischen Religionen in qualitativer Unterschiedenheit gegenüber. Ernst Troeltsch diagnostiziert das Fundament für diese Begründung der »Absolutheit des Christentums« in einer ausgeprägten Christozentrik, wenn er konstatiert, Schleiermacher habe »die absolute Religion in Wahrheit auf einen Punkt beschränkt, auf die Person Jesu«.43 Diese Aussage ist zutreffend, wenn damit nicht nur auf den äußeren Bestimmungsgrund des Wesens der christlichen Religion angespielt wird: auf die einmalige und unableitbare Stiftung des Erlösungsbewusstseins und seine Wirkungsgeschichte in der davon ausgehenden Tradition. Wie gezeigt, ist für Schleiermacher der innere Grund mindestes ebenso bedeutsam: die fortwährende Bezogenheit aller religiösen Erregungen auf dieses Bewusstsein. Auch andere Religionen setzen Impulse frei, die Hemmungen des Gottesbewusstseins aufheben. Doch handelt es sich dabei um vereinzelte Elemente, die nicht die gesamte Gestimmtheit des Gottesbewusstseins prägen. Es ist nicht zuletzt die glaubende Annahme der geschenkten Erlösung durch Einwirkung von außen im Gegenüber zur selbst zu leistenden Observanz von kultischen Buß- und Reinigungsvorschriften – und damit die religionstheologische Anwendung der von der reformatorischen Rechtfertigungslehre ausgewiesenen Grunddifferenz zwischen Evangelium und Gesetz –, die den entscheidenden Unterschied zu den anderen monotheistischen Religionen und besonders zum Judentum als monotheistischer Religion der teleologischen Art ausmacht: Als geistlose Gesetzesreligionen stehen sie dem Christentum als erlösender Gnadenreligion gegenüber. Dabei führt die heterosoterische Erlösung im Christentum nicht in einen Quietismus, sondern zur Tätigkeit in dem durch die Erlösung Christi gestifteten Gottesreich. Würde man den Unterschied zwischen den monotheistischen Religionen demgegenüber auf der Ebene der Lehre und Lebensordnung lokalisieren, so wäre er als bloß quantitativer zu bestimmen, der durch die Weiterentwicklung des Judentums und des Islams aufgehoben werden könnte. Es ist nicht zuletzt die Einheit des äußeren und des inneren Wesensgrundes, die dem Christentum seine Vollkommenheit verleiht.44 Und diese Einheit sieht Schleiermacher schon in der Person Jesu selbst gegeben, dessen eigenes Gottesbewusstsein von diesem inneren Grund vollkommen bestimmt war, doch in einer von allen anderen Menschen so grundlegend unterschiedenen Weise, dass er damit auch den äußeren Grund für das Erlösungsbewusstsein der ihm Nachfolgenden legen konnte. Mit ihm kommt es zum Durchbruch einer urbildlichen Gottesbestimmtheit in der Geschichte. Im Resultat übertrifft dieser dogmatisch-christozentrische Argumentationsgang den religionsphilosophischen, der sich an der Religionsgeschichte ausgewiesen hatte. Mit ihm belegt Schleiermacher nicht nur die Höherentwicklung des Christentums, sondern 42 CG2 §11.4 (I/99f ). 43 Troeltsch, KGA V, 152. 44 CG2 §10.1 (I/81f ).

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seine qualitative Überlegenheit. Diese hat ihren Grund in der exklusiven Erlösungsvermittlung durch Jesus als dem Urbild – d.h. Urheber, Modell und Vollendungsgestalt – des Gottesbewusstseins, der sich damit eines »ausschließenden und eigenthümlichen Vorzuges vor allen Anderen erfreu[t]«.45 In der ersten Auflage der »Glaubenslehre« war noch zurückhaltender von einem »bestimme[n] und eigenthümliche[n] Vorzug«46 die Rede. Der christologischen Argumentation korreliert die offenbarungstheologische. Auch die Beziehungsbestimmung von göttlicher Mitteilung in Christus und in der außerchristlichen Religionsgeschichte ist nach dem dialektischen Modell von grundlegender Kontinuität im Blick auf die Transzendenzbeziehung und radikaler Diskontinuität im Blick auf die inhaltlichen Grundanschauungen der Religionen gedeutet. Die Kontinuität gründet in der Allgemeinheit des religiösen (Abhängigkeits-)Bewusstseins (das Schleiermacher als »ursprüngliche Offenbarung« bezeichnen kann),47 die Diskontinuität in der Individualität von Erschließungen der göttlichen Wirklichkeit, die das Woher und Woraufhin dieses Bewusstseins darstellen. Diese Anschauungen lassen sich aber miteinander vergleichen und in ein Wertverhältnis zueinander setzen, was allerdings immer nur binnenperspektivisch, d. h. im Bezugsrahmen einer bestimmen Religion, geschehen kann.48 Einerseits gilt: Wo immer sich in der Religionsgeschichte eine unableitbare, heilswirksame und gemeinschaftsbildende Innovation des höheren Selbstbewusstseins ereignet, kann von einer Offenbarung gesprochen werden, die nach christlichem Gottesbewusstsein in einer göttlichen Mitteilung gründet. Daher kann keine Glaubensweise nach Schleiermacher den Exklusivanspruch erheben, dass die sie begründende »göttliche Mitteilung reine und ganze Wahrheit sei, die anderen aber falsches enthalten«.49 Diese Möglichkeit ist dadurch ausgeschlossen, dass Gott sich nicht in seinem An-sich-Sein kundgibt, sondern sich »in seinem Verhältnis zu uns« aussagt, sich also dem Gottesbewusstsein akkomodiert, seine Mitteilung damit aber auch geschichtlich relativiert und pluralisiert. Nur indem es sich in die Empfänglichkeit des menschlichen Bewusstseins hinein vermittelt, kann es von diesem aufgefasst werden. Nur so kann sich das Übernatürliche der Menschennatur erschließen. Wo dieser weite und allgemeine Offenbarungsbegriff nun aber auf den geschichtlichen Durchbruch des Erlösungsbewusstseins in Jesus angewendet wird, verliert er andererseits diese Bedeutsamkeit wieder.50 Von Offenbarung im eigentlichen Sinn kann nunmehr nur noch im Blick auf diese prinzipielle, universale und unbedingte Aufhebung der Hemmung des Gottesbewusstseins gesprochen werden. Jesu Gottesbewusstsein ist ein »eigentliches Sein Gottes in ihm«.51 Auf diese Weise postuliert nun Schleiermacher auch offenbarungstheologisch eine qualitative Unterschiedenheit dieser von CG2 §22.2 (I/157); Hervorhebung R. B. CG1 §25.3 (I/94). CG2 §4.4 (I/40). Siehe dazu: Hans-Joachim Birkner, Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik, in: ders., Schleiermacher-Studien, Berlin/New York 1996, 108ff. 49 CG2 §10, Zusatz (I/92). 50 CG2 §13.1 (I/109). 51 CG2 §94, Leitsatz (II/52).

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allen anderen Mitteilungen Gottes, der sich nun durchaus auch als Exklusivanspruch artikulieren kann, etwa dann, wenn es in CG2 §22.2 heißt, die Teilhabe an der ungehemmten Hervorrufung des Gottesbewusstseins sei »nur durch ihn vermittelt«,52 oder in §13.1, wo Schleiermacher postuliert, nur Christus sei gesetzt, »allmählich das ganze menschliche Geschlecht höher zu beleben«.53 Der Grund für diese Exklusivbehauptung liegt in der unlösbaren Verbindung des Urbildlichen mit dem Geschichtlichen in Jesus – oder klassisch formuliert: im Gedanken der Menschwerdung Gottes als qualitativ einmaliger Inhistorisation. Das von Gott gesetzte Urbild des ungehemmten Gottesbewusstseins ist ganz den Bedingungen des Geschichtlichen unterworfen: »So musste er als geschichtliches Einzelwesen zugleich urbildlich sein, d.h. das urbildliche musste in ihm vollkommen geschichtlich werden, und jeder geschichtliche Moment desselben zugleich das urbildliche in sich tragen«.54 Darin bringt Schleiermacher die Intention der Zwei-Naturen-Lehre zur Geltung. Christliches Gottesbewusstsein nimmt für die Mitteilung Gottes in Christus schlechthinnige Vollkommenheit in Anspruch, weil es sich dabei um eine einmalige, suffiziente, unableitbare, universale und letztgültige Offenbarung handelt. Unvollkommen sind hingegen Religionsformen, die davon ausgehen, dass sich ihr Ursprungsereignis wiederholen könnte (so dass es nicht prinzipiell einmalig wäre) oder seine Kraft erst aus der weiteren geschichtlichen Entwicklung gewinnen würde (so dass es nicht genügend Kräftigkeit in sich selbst hätte) oder auf frühere Offenbarungen zurückgreift und sich als deren Fortsetzung versteht (so dass ihm keine Unableitbarkeit eignet) oder andere partikulare Offenbarungen neben sich zulässt (so dass es sich selbst partikularisieren würde – wie im Polytheismus) oder auf zukünftige Vollendungsformen verweist (so dass es auf einen Universalitäts- und Letztgültigkeitsanspruch verzichtet – wie es bei der »mosaischen Religion« der Fall ist). Der Islam erhebt jedoch einen Vollkommenheitsanspruch, obwohl sich der Koran als Fortsetzung und Vollendung der jüdisch-christlichen Offenbarungsgeschichte versteht. Diese »Anmaßung der Muhamedaner verräth daher schon für sich, dass die zum Grunde liegende Offenbarung keine ursprüngliche und ächte ist«.55 Hermann Süskind bemerkt dazu: »[. . . ] leichter kann man sich die Sache unmöglich machen. Dass der Islam den Anspruch auf Absolutheit erhebt, beweist gerade, dass dieser Anspruch falsch ist.«56 Auch hier zeigt sich wieder, wie die Darstellung des christlichen Selbstverständnisses, die sich nicht als Wahrheitsbeweis versteht, sondern von der Wahrheit der Christusoffenbarung ausgeht, mit Geltungsansprüchen verbunden ist, die zur Abwertung anderer Religionen führen.57 Kurz gesagt: SchleierCG2 §22.2 (I/157). CG2 §13.1 (I/109). Siehe auch das »allein« in §93, Leitsatz (II/41). CG2 §93, Leitsatz (II/41). CG1 §143.1 (II/203). Dieser Satz und der vorausgehende Argumentationsgang findet sich in CG2 §124 (II/293ff.) nicht mehr. 56 Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher (siehe Anm. 9), 125. 57 Süskind resümiert: »Offiziell erklärt er [Schleiermacher], sich auf die Wesensbestimmung des Christentums zu beschränken, dagegen auf die Wahrheitsbegründung zu verzichten. Unter der Hand aber gibt er dennoch auch diese Wahrheitsbegründung, durch die vergleichende Abwertung der Religionen, wie sie in 2 §8.4 mit dem Erweis des Primats des Christentums abschließt« (aaO. 139). 52 53 54 55

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macher rekurriert in seiner ›Religionstheologie‹ auf die in der christlichen Frömmigkeit enthaltenen – genauer: von ihm unterstellten – Geltungsansprüche, die er nicht kritisch rekonstruiert, sondern in ihrem Gehalt expliziert und auf andere Frömmigkeitsformen appliziert. Schleiermachers religionstheologische Bestimmung der Beziehung des Christentums zu den anderen Religionen ist nach dem dialektischen Modell von grundlegender Kontinuität und qualitativer Unterschiedenheit gebildet, das er sowohl in christologischsoteriologischer wie in offenbarungstheologischer Deklination entfaltet. Der Impuls zum erlösenden Durchbruch des reinen Gottesbewusstseins ist übergeschichtlich von Gott gesetzt. Er muss sich aber geschichtlich realisieren und konkretisieren. Mit seiner geschichtlichen Realisierung kommt er jedoch nicht in die Fremde der Gottesfinsternis, sondern in sein »Eigentum«, wie es in Joh1, 11 heißt, d.h. er trifft auf Bewusstseinsformationen, die dafür empfänglich, seiner aber auch bedürftig sind. Die außerchristlichen Religionen stellen Vergesellschaftungsformen dieses Gottesbewusstseins dar, das mit der Schöpfung universal gegeben, in der Religionsgeschichte aber in unterschiedlichen Stufen und Arten entwickelt ist. Mit Christus kam das wahre Licht in die Welt, das nach Joh1, 9 jeden Menschen erleuchtet. In ihm scheint es in unverhüllter Reinheit auf und bewirkt damit einen Qualitätssprung im Gottesbewusstsein. – Schleiermachers Bestimmung der Beziehung zwischen dem ›natürlichen‹ Gottesbewusstsein, das im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl gründet, und dem spezifisch christlichen Erlösungsbewusstsein entspricht damit der Zuordnung des Logos zur Welt nach dem Prolog des Johannesevangeliums.58 Als geschichtlich-gemeinschaftliche Ausdrucksformen des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit stehen die Religionen in einer grundlegenden Kontinuität mit dem Christentum. Das in diesem realisierte und seine gesamte Frömmigkeit prägende Erlösungsbewusstsein unterscheidet es jedoch qualitativ von ihnen – so, wie die Offenbarung Gottes als universale zu denken ist, die in Christus zur Fülle und Vollendung, damit aber auch an ihr Ende kommt. Diese Fülle stellt einen göttlichen Setzungsakt der »Einpflanzung« dar, der an frühere Formationen des Gottesbewusstseins ebenso anknüpft (was aber eben nicht heißt, dass er aus ihnen hervorgegangen wäre) wie an die Möglichkeiten der menschlichen Natur und Vernunft überhaupt – und der die geistige Kraft des Menschen und die Bestimmtheit des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit zur höchsten Entwicklungsstufe führt.59 Das natürliche Gottesbewusstsein kommt in Christus zu seiner geschichtlichen Vollendungsgestalt, die das Christentum zur Religion der Religionen erhebt. Von einer ›Absolutheit‹ des Christentums kann beim Schleiermacher der »Glaubenslehre« demnach nicht im Sinne eines ungeschichtlichen Exklusivanspruchs, der für die 58 Den Rückbezug auf die johanneische Logos-Inkarnationschristologie stellt Schleiermacher ausdrücklich her in CG2 §96.3 (II/69). Er hatte das Johannesevangelium bekanntlich für das älteste und authentischste der Evangelien gehalten. 59 CG2 §13.1 (I/110). In §93.3 (II/46) ist die Rede von einem »schöpferischen göttlichen Act, in welchem sich als einem absolut größten der Begriff des Menschen als Subject des Gottesbewußtseins vollendet«.

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christliche Religion erhoben würde, die Rede sein, wohl aber im Sinne des Anspruchs auf qualitative Vollkommenheit des Gottesbewusstseins Christi und der durch Teilhabe daran bewirkten Erlösung. Der Absolutheitsbegriff, der auf Hegels Rede von der »absoluten Religion« zurückgeht,60 wird von Schleiermacher nicht auf die Religion angewendet, wohl aber auf die Offenbarung61 und auf die »absolute[] Geisteskräftigkeit des Erlösers«.62 Bezieht man den zweiten – christozentrischen – Argumentationsgang zurück auf den ersten – religionsphilosophischen –, so lässt sich folgern: Da Christus das Wesen der Religion vollkommen erfüllt, kann die von ihm begründete Religion im dargestellten Sinn als ›absolute‹ aufgefasst werden. Ihre qualitative Unterschiedenheit von anderen Religionen ist Voraussetzung und Resultat der Wesensbestimmung Schleiermachers. Es geht Schleiermacher um die Darstellung des im christlichen Gottesbewusstsein erhobenen Anspruchs, »alle Glaubensweisen in sich aufzunehmen und aus sich selbst immer mehr Vollkommenheit und Seligkeit zu entwickeln«.63 Der Grund für diesen Anspruch liegt in der Gründung dieser Religion auf ein vollkommenes Urbild,64 in dem sich die Schöpfung vollendet.65 In diesem Sinne gilt die Feststellung Hermann Süskinds, dass im Christentum »zwar nicht die absolute Religion, aber doch ein Absolutum von Religion« gegeben sei.66 Schon in der fünften Rede bestand das Argumentationsziel bekanntlich darin, das Christentum als die höhere Potenz der Religionen zu erweisen, in der die Religion selbst als Stoff für Religion verarbeitet wird (293f.) – »[n]irgends ist die Religion so vollkommen idealisiert als im Christentum« (295). Und auch dort war diese Vollkommenheit christologisch begründet. Schleiermachers Absicht bestand darin, seine von der frühromantischen Geisteswelt geprägten Leser »zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hin[zu]führen« (237). Wenn diese Aussage auch hier noch im Sinne einer Hinwendung zu den positiven Religionen insgesamt interpretiert werden kann, so wird sein damit verbundenes Anliegen in einem Brief an Henriette Herz deutlich, in dem er schrieb, er habe mit der fünften Rede einen »Dithyramb auf Christum« verfasst.67 In gleicher Weise kann und muss die »Glaubenslehre« als eine Apologie des christlichen Glaubens 60 Siehe dazu: Reinhold Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 19932, 83–86. 61 In CG1 §116.3 (II/29) bezeichnete Schleiermacher die Erlösung in Christus als »absolute Offenbarung«. In CG2 §94.2 findet sich dieser Ausdruck nicht mehr. Der damit bezeichnete Sachverhalt wird aber noch deutlicher herausgearbeitet: die »vollkommne Einwohnung des höchsten Wesens« mache Jesu »eigenthümliches Wesen und sein innerstes Selbst« aus (II/56). Aus dieser Enhypostasie der ›göttlichen Natur‹ in Form des schlechthin kräftigen Gottesbewusstseins ergibt sich, dass »er allein alles Sein Gottes in der Welt und alle Offenbarung Gottes durch die Welt in Wahrheit vermittelt« (ebd). 62 CG2 §69.3 (I/417). 63 CG2 §93.3 (II/46). 64 Ebd. 65 Die »Formel der durch Christum vollendeten Schöpfung der menschlichen Natur« avanciert in CG2 zum Leitbegriff der Soteriologie, siehe etwa: CG2 §101.4 (II/119) und §89 (II/27–32). 66 Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher (siehe Anm. 9), 26. 67 Schleiermacher, KGA V/3, Nr. 616, 26f.

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verstanden werden. Zu Recht hatte Karl Barth konstatiert, »daß sie vielleicht zu tiefst auch mehr eine Apologetik ist«.68

2. Kritische Auseinandersetzung mit Schleiermachers religionstheologischem Ansatz Ich greife noch einmal auf die schon zitierte Aussage Ernst Troeltschs zurück und nehme nun auch ihre Fortsetzung hinzu: Schleiermacher habe »die absolute Religion in Wahrheit auf einen Punkt beschränkt, auf die Person Jesu, die er denn auch wirklich historisch-dogmatisch als ein erlösendes Urbild absoluter, unbedingter und unbegrenzter, ja nur scheinbar werdender, in Wahrheit wandelloser religiöser Erkenntnis und Kraft konstruiert hat«.69 Troeltschs Kritik lautet also, Schleiermacher habe die historische Wesensermittlung nicht konsequent durchgeführt, sondern an der entscheidenden Stelle eine offenbarungstheologische Setzung eingeführt, deren Inhalt dem Geschichtsprozess enthoben sei. Troeltsch will die historische Methode konsequenter anwenden und er erkennt, dass dadurch auch die Christusoffenbarung und damit die in dieser Offenbarung gegebene Formation des Gottesbewusstseins in den Fluss religionsgeschichtlicher Relativität hineingerissen wird. Daher ist es »nicht mehr möglich, mit Schleiermacher die Erhebung des Geistes auf die höhere Potenz einfach auf das Christentum zu beschränken und ebenso unmöglich, das Christentum – und sei es auch nur in der Person Jesu – als die absolute, alle geschichtliche Begrenztheit ausschließende Realisation des Geistes zu konstruieren.«70 Schleiermacher hatte die absolute Alleingeltung auf eine qualitative Höchstgeltung zurückgestuft. Troeltsch wird diese noch einmal zu einer historisch-relativen Höhergeltung ermäßigen, denn – so seine kurzgefasste Begründung: »Die Historie ist kein Ort für absolute Religionen und absolute Persönlichkeiten«.71 In der letzten Periode seiner Wirkungszeit wird er auch diesen Versuch, die historisch-relative Höhergeltung des Christentums zu erweisen, aufgeben. Die grundlegende Schwierigkeit des Schleiermacher’schen Begründungsverfahrens liegt in der Kombination religionsphilosophisch-bewusstseinstheoretischer, dogmatischoffenbarungstheologischer und historisch-empirischer (d. h. religions- und christentumsgeschichtlicher) Erwägungen. Die Bestimmung des Wesens der Religion erfolgt aus der Analyse des subjektiven Selbstbewusstseins, die Erhebung des Wesens des Christentums aus dem Selbstzeugnis der christlichen Gemeinde. Dazu gehört auch die Überzeugung von der »ausschließlichen Vortrefflichkeit des Christentums«,72 die dann reflexiv auf die Ebene dogmatischer Sätze gehoben wird, wobei der Offenbarungsgedanke ein68 Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 19946, 384. 69 Troeltsch, KGA V, 152. 70 Ebd. 71 Troeltsch, KGA V, 156. 72 Siehe Anm. 8.

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geführt wird. Letztlich unklar bleibt dabei jedoch, ob die Rede von Offenbarung als dogmatischer Satz Ausdruck der frommen Gemütszustände in argumentativer Rede ist oder ob sie als deren Begründungsfundament eingeführt wird, um die Geltung der behaupteten Einzigartigkeit Christi zu sichern. Handelt es sich bei dieser Behauptung um eine Entfaltung der christlichen Binnenperspektive, neben der andere Binnenperspektiven ihre je eigene Geltung beanspruchen können, oder um ein göttliches Faktum der Heilsgeschichte, das im christlichen Glaubensbewusstsein als seine Grundlegung erfasst wird, andere Glaubensweisen qualitativ überbietet und damit ihre Geltung relativiert? Nach seiner eigenen Auskunft will Schleiermacher den im Selbstverständnis des christlichen Glaubens enthaltenen Geltungsanspruch als Wesensbestimmung darstellen, aber nicht seine Wahrheit als gültig erweisen.73 Er geht von seiner Geltung innerhalb des christlichen Gottesbewusstseins aus. Andererseits ist sein apologetisches Interesse aber schon in den »Reden« ganz offensichtlich. Er nimmt es in der »Glaubenslehre« zurück, aber es bleibt auch dort als »hidden agenda« wirksam. Die systematisierende und plausibilisierende Darstellung fungiert immer auch als Geltungserweis. Troeltschs Kritik an Schleiermachers christologischer Wesensbestimmung lautet, dass sich die christliche Glaubensweise verabsolutiert, indem sie die sie begründende Urtatsache und die von dieser ausgehende besondere Prägung auf einen einmaligen Setzungsakt Gottes zurückführt und damit durch ein dogmatisches Postulat aus der Religionsgeschichte heraushebt. Auf diese Weise werde die »naive« Absolutheitserfahrung in einen »künstlichen« Absolutheitsanspruch umgewandelt, d. h. die ihr eigenen Gewissheiten würden zu »Theorien einzigartig gegründeter und legitimierter Wahrheit« erhoben.74 Für Troeltsch ist das Absolute nicht eine »historische Erscheinung oder Offenbarung, sondern nur Gott selbst in seiner unberechenbaren, den menschlichen Kleinglauben mit immer neuen Offenbarungen überraschend[n] Lebensfülle«.75 Die Konsequenz daraus für die christologische Begründung der Absolutheit des Christentums zieht er in seiner kleinen Schrift: »Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben« von 1911: Das Christentum habe in der Zentralstellung Jesu »nicht eine es von allen anderen Religionen unterscheidende und ihm allein erst die Erlösung ermöglichende Sondereigentümlichkeit«,76 sondern »das Zentrum, um das sich alle Vorbereitungen und Auswirkungen der christlich-prophetischen Gläubigkeit sammeln«.77 Die Bedeutsamkeit Jesu Christi kann nur im Blick auf ihre Integrationsfunktion für die christliche Glaubenslehre ausgesagt werden. Die Gewissheit der Einzigartigkeit des Christentums lässt sich nach Troeltsch weder durch eine dogmatische Setzung noch auch durch ein Verfahren 73 »Es will also auch das Gesagte, da es bloß aus geschichtlicher Betrachtung entstanden ist, keineswegs für eine Beweisführung von der Notwendigkeit oder auch nur von der allgemeinen Wahrheit einer solchen Gestaltung der Frömmigkeit wie das Christentum ist, gehalten sein« (CG1 §18.5 [I/68]. Im Anschluss heißt es, Dogmatik sei nur für die Christen. 74 Troeltsch, KGA V, 210ff, 6. Kapitel; Zitat: 228. 75 Troeltsch, KGA V, 229. 76 In: Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie, München/Hamburg 1969, 157. Diese Schrift wird in KGA VI erscheinen. 77 AaO. 158.

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der vergleichenden Wertermittlung aus der Religionsgeschichte begründen. Sie sei und bleibe immer Sache des Glaubens.78 Dieser Glaube und seine theologische Reflexion mag das glaubensbegründende Ereignis (wie Schleiermacher es getan hatte) auf einen Akt göttlicher Setzung zurückführen, doch bleibt auch diese Begründungsfigur Teil des Selbstverständnisses der Glaubensgemeinschaft, das wiederum Teil der allgemeinen Religionsgeschichte ist. Die von Troeltsch geforderte konsequente religionstheologische Hinwendung zu den Erscheinungsformen der Religionsgeschichte muss dazu führen, die Selbstverständnisse der anderen Religionen auch in der internen dogmatischen Selbstverständigung des Christentums ernster zu nehmen als Schleiermacher es getan hat. Wie wenig dieser – bei aller Betonung der Geschichtsbezogenheit – die Binnenperspektiven der anderen Religionen berücksichtigt hatte, zeigt sich etwa an seiner Beurteilung des Islams. Dass sich der Islam zentral über das Bekenntnis zum Glauben an die Einheit Gottes definiert, gesteht Schleiermacher in einer Randbemerkung zu,79 lässt es aber nicht als Wesensmerkmal gelten. In ähnlicher Weise spielt auch die Rückfrage nach dem Selbstverständnis des Judentums keine Rolle für seine Beurteilung dieser Religion. Schleiermachers »Theologie der Religionen« gibt sich damit als eine solche zu erkennen, in der diese Genetivverbindung als genetivus objectivus zu deuten ist. Die außerchristlichen Religionen stellen das Objekt dogmatischer Aussagen dar, ohne selbst zu Wort zu kommen. Der Grund dafür liegt in der schon von Troeltsch beklagten Unterbestimmung des Geschichtlichen, die sich auch in der schematisierenden und typisierenden Betrachtung der Religionsgeschichte zu erkennen gibt. Zutreffend stellt Theodor Holzdeppe Jørgensen fest: »Trotz der schwerwiegenderen Bedeutung, die der Geschichte in dem religionsphilosophischen Offenbarungsverständnis Schleiermachers zuerkannt wird, ist die Geschichte in ihrer Kontingenz und geschichtlichen Konkretheit nicht ernst genommen«.80 Ernst genommen wird sie in erster Linie als Realisierung von Bewusstseinsformationen und damit als Geschichtlichkeit des (christlichen) Glaubens. Demgegenüber ist die Religionstheologie in der Gegenwart als genetivus subjectivus aufzufassen und zu betreiben. In möglichst authentischer Repräsentation der eigenen Selbstexplikation der jeweiligen außerchristlichen Religionen hat sich die christliche Glaubenslehre mit ihnen auseinanderzusetzen, um ihre eigenen theologischen Themen in diesem Horizont darzustellen.81 Damit wird die Einsicht Schleiermachers zur Geltung gebracht, dass sich christliche Theologie nicht unter Absehung oder in Abwehr von außerchristlichem Gottesdenken entfalten kann, sondern nur im Bezug darauf, dass sie den interreligiösen Kontakt braucht, um sich in ihrer Spezifität selbst zu erkennen und zu verstehen.

78 Troeltsch, KGA I, 436. 79 CG2 §8.4 (I/70). 80 Theodor Holzdeppe Jørgensen, Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, Tübingen 1977, 333. 81 Siehe dazu: Reinhold Bernhardt, Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 2), Zürich 2006.

Schleiermachers Passionspredigten Martin Ohst Das Thema dieses Beitrags nimmt sich vielleicht auf den ersten Blick etwas abseitig aus. Aber das täuscht. Denn in der gesamten westlichen Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte seit dem Hochmittelalter bildet die Passionserinnerung eine der notorischen Reibungsflächen im Verhältnis von Christentum und Judentum, und so lassen sich gerade an den Passionspredigten eines Theologen immer wichtige Facetten seines Bildes vom Judentum und dessen Verhältnis zum Christentum erheben. Bevor ich auf Schleiermacher eingehe, seien mir einige Bemerkungen zum größeren historischen Rahmen meines Themas gestattet.

1. A) In der Frömmigkeit der westlichen Christenheit wurde im Hohen Mittelalter, etwa seit dem Beginn der Kreuzzüge, auf ganz neuartige Weise der Mensch Jesus entdeckt. Seine Armut und sein Leiden wurden in ihrer religiös-ethischen Vorbildlichkeit thematisiert und zugleich erheblich intensiver denn zuvor als Grund der Vergebungshoffnung und der Heilszuversicht bedacht – Anselms Satisfaktionstheorie entstand in dieser Zeit!1 Mit dieser Besinnung auf das menschliche Leben und Leiden Jesu Christi verband sich eine neue Aufmerksamkeit auf seine Zeit- und Volksgenossen, die Juden. Und das Kollektivum »die Juden« meinte eben immerfort nicht bloß die um die Zeitenwende lebenden Angehörigen des alten Bundesvolkes, sondern auch deren je gegenwärtige Nachfahren – ebenso wie ja auch »die Kirche« im mittelalterlichen Denken die Erwählten aller Zeiten und Zonen umfaßt, also mitnichten nur die jetzt auf Erden lebenden, sondern mit ihnen die vollendeten Heiligen seit Abel und die im Fegefeuer schmachtenden Seelen.2 Die Gewaltexzesse gegen die Juden am Rhein zu Beginn der Kreuzzugsbewegung sind nur verständlich im Zusammenhang dieses frömmigkeitsgeschichtlichen 1

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Vgl. Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands Bd. IV, Leipzig 61953, 98–105 im Kontrast zu Bd. II, Leipzig 61952, 793–805, sowie Ulrich Köpf, Art. Passionsfrömmigkeit, in: TRE Bd. 27, 722–764, hier 725–732. Vgl. Martin Ohst, Die Schlafende Kirche, in: H. Körner (Hg.), Stimmen aus dem Jenseits (Studia Humaniora 35), Düsseldorf 2002, 109–134.

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Neuaufbruchs und unter Berücksichtigung des mittelalterlichen Denkens in generationenübergreifenden Kollektivsubjekten.3 Seit dieser Zeit sind in der Geschichte des westlichen Christentums Passionserinnerung und das Verhältnis zum Judentum in immer neuen Konstellationen eng miteinander verbunden; ich erinnere an zwei Eckpunkte: Am Anfang der diskriminierenden kirchlichen Judengesetzgebung steht der 68. Kanon des IV. Laterankonzils (1215), der für die Juden von Gründonnerstag bis Ostersonntag Hausarrest verfügte – sie sollten daran gehindert werden, die Christen durch die Verspottung des Gekreuzigten zu beleidigen und zu provozieren.4 Und in unsern Tagen haben wir die Aufregungen erlebt, welche die Gebete für die Juden am Karfreitag im jüngst von Papst Benedikt XVI. wieder zugelassenen »tridentinischen« Meßritus verursachten. Mit dem Beginn der Kreuzzüge ereignete sich ein großer Aufschwung der Volkspredigt, die sich dann in den folgenden Jahrhunderten verstetigte und methodisch reflektiert wurde.5 Alle Volkspredigt im Mittelalter war in ihrer scheinbar unerschöpflich vielfältigen Fülle von Stoffen und Motiven im Kern Bußpredigt. Sie zeigte ihren Hörern auf, daß sie Sünder waren und was sie angesichts dieser Erkenntnis zu tun hatten: Sie sollten ihr sündhaftes Verhalten beenden und darüber hinaus den kirchlichen Anweisungen zur Rettung ihres Lebens vor unausdenklichen Fegefeuerstrafen oder gar der ewigen Verdammnis Folge leisten. Insbesondere sollten sie in sich Reue über ihren bisherigen Lebenswandel erwecken. Diese Reue werde sie dann zur heilsamen Teilnahme am Buß- und Altarsakrament qualifizieren. Und wer hinreichend disponiert zumal das Bußsakrament empfängt, der kann dann im erneuerten Gnadenstand gute, d.h. vor Gott genugtuende und verdienstliche Werke vollbringen. Der eigentlich problematische Punkt in diesem (natürlich sehr vereinfacht dargestellten!) Prozeß ist sein Anfang, die Reue. Der Mensch muß Einsicht in die Sündhaftigkeit seiner Lebensführung gewinnen, und er muß sich von seinem bisherigen Leben distanzieren. Wenn er das nicht tut, können alle die vielen massiven Gnadenverheißungen, welche die Kirche an Gottes statt ausrichtet, an ihm und für ihn nicht wirksam werden. An diesem Problempunkt setzte die mittelalterliche Volkspredigt an, auch und insbesondere die Passionspredigt.6 Sie malte ihren Hörern alle Qual und alle Pein im Erdenleben des Gottmenschen vor Augen, um deutlich zu machen, wie unausdenklich 3

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Vgl. zu diesen Zusammenhängen umfassend Hans Liebeschütz, Synagoge und Ecclesia. Religionsgeschichtliche Studien über die Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum im Hochmittelalter, hg. von Alexander Patschovsky, Heidelberg 1983. Vgl. Antonius García y García (Hg.), Constitutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum (Monumenta Iuris Canonici Series A. Corpus Glossatorum Vol. 2), Città del Vaticano 1981, 107f (can. 68). – In der Stadt Rom waren bis 1830 im Karneval Volksbelustigungen üblich, bei denen Juden grob mißhandelt wurden; vgl. Ernst Christian Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie Bd. I, Leipzig 31911, 259f Anm. 5. Für diese Zusammenhänge sei vorausverwiesen auf die Untersuchung von Ariane Czerwon, Berthold von Regensburg und die Ketzer, Diss. phil. Wuppertal 2008 (erscheint demnächst in der Reihe »Spätmittelalter und Reformation. Neue Folge« bei Mohr (Siebeck), Tübingen). Das folgende ist beispielhaft auf hohem literarisch-poetischen und theologischen Niveau ablesbar an Johannes Gersons Expositio Passionis Domini (Ders., Opera Omnia, ed. Louis Ellies Du Pin Bd. III, Antwerpen 1706 [Neudruck Hildesheim 1987] Sp. 1154–1203). Dieser Text, ursprünglich

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schwer die menschliche Sünde wiegt, die einer solchen Strafleistung bedarf, damit Gott den Sündern, die er zum Heil erwählt hat, Gnade gewähren kann. Der Affekt des Mitleids wurde planvoll geweckt und gelenkt, damit er die Verhärtungen des in Sünde verstrickten Gemüts aufbrach und den Sünder dessen innewerden ließ, daß das alles auch um seinetwillen geschehen sei.7 Er wurde also planvoll in die Erschütterung hineingeführt, und in dieser Erschütterung sollte er zu folgender Schlußfolgerung gelangen: Ich muß und kann mir die Heilsfolgen der Passion Jesu aneignen, indem ich mit allem Ernst mein bisheriges Leben bereue, feste Besserungsvorsätze fasse, derart disponiert die Sakramente empfange und mit aller mir möglichen Konsequenz ein gutes, d.h. vor Gott verdienstliches Leben führe.

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in französischer Sprache verfaßt und dann ins Lateinische übersetzt, ist keine eigentliche Predigt, sondern eine Anleitung zum meditierenden Umgang mit der Passionsgeschichte bzw. zu Predigten über sie. Durch eine psychologisch-literarische Strategie, die deutlich auf die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola vorausverweist, wird der Leser angeleitet, sich durch methodische Betätigung seiner Phantasie in das Passionsgeschehen einzuleben. Für diese Phantasiereise wird ihm die trauernde Maria als Mystagogin an die Seite gestellt: Sie ist ja ineins die Himmelskönigin, die vollmächtige Fürbitterin und die unter dem Kreuz trauernde Mutter, die in beispielhafter Weise das Leiden ihres Sohnes miterlitten und darum dessen Heilsfrüchte angeeignet hat. Weil sie das getan hat, ist sie nun Himmelskönigin und kann von demjenigen, der gern so mit dem Gekreuzigten leiden möchte, wie sie es tat, um Hilfe angefleht werden. Es handelt sich also um genau dieselbe psychologisch-poetische Konstellation, die der vielvertonten Sequenz »Stabat mater dolorosa« (vgl. in Kürze LThK2 Bd. 9, Sp. 1000f ) ihre Struktur und ihre Ausrichtung verleiht. Eine Passage der Passionsauslegung Gersons zeigt das besonders klar; vgl. Gerson Opera Bd. III (wie Anm. 6), Sp. 1156f. Er verwickelt einen zweifelnden Leser/Hörer in ein fiktives Gespräch. Er soll sich in einen Menschen hineinversetzen, der an seinem Herrn/König schwersten Verrat begangen hat. Der Herr/König kann und will um seiner Gerechtigkeit willen keine Vergebung gewähren, darum läßt er seinen unschuldigen Sohn die Strafen des Missetäters erdulden. Wirst Du nicht, so fragt Gerson, mit diesem unschuldig Gemarterten Mitleid empfinden? Der Dialogpartner springt nun aus dem Bild und wendet ein: Was nützt dem gekreuzigten Jesus mein Mitleid? Wird er dadurch fröhlicher? Hiergegen appelliert Gerson an den natürlichen Affekt. Die Antwort des Skeptikers: Wenn er nur für mich gelitten hätte, dann wäre das sicher so. Aber Jesus Christus hat doch für alle Menschen aller Zeitalter gelitten – wie soll denn gerade ich da Mitleid empfinden? Darauf erwidert Gerson, er werde ihm klar machen, daß er ganz allein die Passion Jesu verschuldet habe und deshalb nicht den geringsten Grund zu egoistischer Eifersucht habe, weil die Passion eben auch vielen anderen zugute komme. Die conclusio lautet: »Hieraus folgt klar, meine gottergebenen Hörer, warum wir alle uns aufs beste durch die Buße jenes Schmerzes zu erinnern haben. Wenn Jesus Christus sich freiwillig diese Buße, Strafe und völlige Erschöpfung auferlegt hat, dann müssen wir umso mehr all das auf uns nehmen und erleiden, um für unsere Sünden Genugtuung zu leisten und die Gerechtigkeit zu besänftigen. Niemals würde Gott eine Missetat ungesühnt lassen, und deshalb hat er alle unsere Sünden und Verstöße Christus auferlegt. Deshalb ist er, wie der Apostel bezeugt, unsere Gerechtigkeit und Erlösung (1.Kor1, 30), damit wir uns mit ihm verbinden, ihm durch den Glauben und die Gnade anhängen und seine Gebote erfüllen und vollenden, soweit es an uns ist, indem wir seinem Beispiel folgen. Und was wir nicht fertig bringen können, das wird er vollenden, bezahlen und vervollständigen« (ibd. Sp. 1157 C). Unübertrefflich deutlich wird hier, daß im (spätmittelalterlichen) Katholizismus die Satisfaktionslehre theoretisch als Ermöglichungsgrund und praktisch als Motivationsinstanz des verdienstlichen Handelns in satisfaktorischer bzw. meritorischer Absicht fungiert – und nicht etwa, wie in ihrer reformatorischen Aneignungsgestalt, als Begründung dafür, daß der Verdienstgedanke insgesamt durch das Evangelium überwunden ist!

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Die Passion Jesu Christi kam also einmal in Betracht als geschichtlich-transzendenter Ermöglichungsgrund der kirchlichen Heilsmittel und zum andern als psychologisch kalkulierte und betätigte Motivationsinstanz zu deren Inanspruchnahme.8 Im Zuge dieser psychologisch kalkulierten Benutzung wurde die Passionsgeschichte mit allerlei legendären Details angereichert.9 Mel Gibsons Verfilmung der Passion Jesu ist nicht zuletzt deshalb so widerwärtig geraten, weil sie sich großzügig aus dieser cloaca maxima der Sentimentalität und des Sadismus bedient hat. Die Funktion, die in dieser Art der Passionserinnerung den Juden zugeteilt wurde, ergibt sich aus dem Gesagten: Sie haben, so die Botschaft, in ihrer satanischen Verblendung dem Erlöser unermeßliche leibliche und seelische Qualen bereitet, sie kommen gleichsam als menschliche Folterwerkzeuge zu stehen.10 Neben den um die Zins- und Wucherproblematik gruppierten wirtschaftsethischen Predigten waren es vorwiegend die Passionspredigten, in denen im späteren Mittelalter die Juden thematisiert wurden, und zwar als abschreckende Beispiele eindeutig negativer Verhaltensweisen.11 Und wegen der Aufhebung der Generationen im Kollektivsubjekt waren eben immer auch »die Juden« der je eigenen Gegenwart mitgemeint. Die spätmittelalterliche Passionserinnerung wertet Christi Leiden als Erweis der Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Diese Gnade und Barmherzigkeit Gottes kann jedoch allein in demjenigen Menschen wirksam werden, der ihr aktiv den Weg bereitet. Und deshalb verfolgt die Passionspredigt das Ziel, ihre Hörer zu heilsrelevanten Anstrengungen zu motivieren. Die Predigt weckt und verstärkt das Mitleid mit dem Gekreuzigten, und dieses Mitleid soll dem Hörer dabei helfen, in sich die Reue über seine Sünden zu erwecken und zu steigern. Die Reue disponiert den Menschen dann zum heilsamen Empfang der Sakramente und zu nachfolgenden genugtuenden bzw. verdienstlichen Werken.

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Luthers älterer Ordensbruder Johannes von Paltz hat an den Anfang seines Erbauungsbuches »Coelifodina« eine umfangreiche Auslegung der Passionsgeschichte gestellt. An sie schließt er vierzehn Nutzanwendungen und Methoden der Passionsmeditation an. Gleich die ersten drei schlagen die Brücke zum Bußsakrament: Die Betrachtung der Passion verhilft zur wahren Reue, sie befördert die rückhaltlose Beichte, und sie ist in sich eine bedeutsame Satisfaktionsleistung; vgl. Johannes von Paltz, Werke Bd. 1, hg. von Christoph Burger u.a. (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchengen Bd. 2), Berlin/New York 1983, 98f. 9 In der kritischen Edition von Paltz’ Auslegung der Passionsgeschichte läßt sich mühelos nachvollziehen, wie und wo der Text der Evangelienharmonie durch solche Ergänzungen angereichert ist und woher diese stammen; vgl. Werke Bd. 1 (wie vorige Anm.), 7–98 passim. – Auch im neuzeitlichen Katholizismus haben noch solche Fortschreibungen der Passionsgeschichte stattgefunden und Breitenwirkung gehabt; vgl. zu den Visionen der Katharina Emmerick und deren Publikation durch Clemens v. Brentano in Kürze die Hinweise bei Köpf, Art. Passionsfrömmigkeit (wie Anm. 1), 754. 10 Vgl. z.B. Gerson, Opera Bd. III (wie Anm. 6), Sp. 1154 A, 1155 A, 1162 A, 1165 B, 1177 D– 1178A. 11 Vgl. Hans-Martin Kirn, Contemptus mundi – contemptus Judaei? Nachfolgeideale und Antijudaismus in der spätmittelalterlichen Predigtliteratur, in: Berndt Hamm/Thomas Lentes (Hg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis (SuRNR 15), Tübingen 2001, 146–187, hier besonders 156–164.

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B) Die Reformation bewegte sich in diesem Strom mittelalterlicher Passionsmemoria; große Bereiche des zuvor ausgearbeiteten Bild- und Vorstellungsmaterials blieben im lebendigen Gebrauch.12 Aber durch diese Kontinuitätsmomente darf man sich nicht den Blick dafür verstellen lassen, daß die Reformation den Strom doch in ganz neue Bahnen geleitet hat.13 Das geschichtlich einmalige Leiden Christi wurde neuartig gedeutet als immer wieder aktuell ins Heute hinein sich vergegenwärtigende Anrede, als dialektische Widerspruchseinheit von Gesetz und Evangelium. Als lebendige, sich in den Gewissen der Hörer unwiderstehlich zur Geltung bringende Stimme des Gesetzes vergegenwärtigen die Passionserzählungen im Schreckensgeschehen auf Golgatha Gottes Zorn über die Sünde. So werden die Gläubigen in das Todesgeschick Christi mit hineingezogen. Ihre eigenen, immer schon vorhandenen, von der Predigt abrufbaren Strafund Leiderfahrungen sind gleichsam in das Geschick Christi eingezeichnet. Sie erfahren von ihm her Deutung und Sinngebung. In unlöslicher Verbindung damit ist das sich als Evangelium vergegenwärtigende Passionsgeschehen das Heilsmittel selbst, ja, ist es im Glauben das Heil, denn der Glaube sieht im Leidensgeschehen des Gottessohnes »fruntlich hertz / wie voller lieb das gegen dyr ist / die ihn dazu zwingt / das er deyn gewissen / und deyn sund so schwerlich tregt«:14 Christus erleidet am Kreuz den Zorn für den vom Gesetz erschütterten Menschen, der darum im Ja des Vaters zum Sohn, das unter dem Zorn verborgen liegt, auch das verborgene Ja zu sich selbst zu vernehmen vermag. Die Passion Christi als Inbegriff des Wortes, das im Widerspiel von Gesetz und Evangelium den rechtfertigenden Heilsglauben gründet, ist also unvergleichlich viel mehr als bloß der Ermöglichungsgrund von Heilsmitteln, die von ihm zu unterscheiden wären. Erst recht ist es mehr als ein psychologisch disponibles Erziehungsmittel, das, richtig angewandt, Menschen dazu anleiten kann, in sich selber bestimmte verdienstliche Gemütsregungen und Willensentschlüsse zu erzeugen. Vielmehr greift in der sich vergegenwärtigenden Passion Christi der lebendige, schlechthin aktive und souverän sich vernehmlich machende Gott selbst nach dem Gewissen: Er läßt es durch das Gesetz seiner Verlorenheit innewerden und sagt ihm im Evangelium Vergebung, Leben und Seligkeit zu. Auch die reformatorische Passionserinnerung wertet Christi Leiden als Erweis der Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Dieser Erweis wird allerdings als sich immerfort neu in Wort und Geist selbst vollziehender und durchsetzender verstanden. Die göttliche Gnaden- und Vergebungszusage ist in ihrer Evidenz und Wirksamkeit nicht von den Aktivitäten ihrer Adressaten abhängig, sondern sie ist ihrem Wesen nach bleibend schöpferisch. Die reformatorische Passionspredigt behaftet den Menschen bei seiner Selbsterfahrung: Sie verhilft ihm deutend dazu, sich selber als in der Gottesferne bzw. unter dem 12 Vgl. Martin Elze, Das Verständnis der Passion Jesu im ausgehenden Mittelalter und bei Luther, in: H. Liebing/K. Scholder (Hg.), Geist und Geschichte der Reformation (Fschr. Hanns Rückert), Berlin 1966, 127–151. 13 Das folgende stützt sich auf Luthers »Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi« (1519), WA 2, 136ff. 14 Ibd. 140.

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Zorn Gottes lebend zu verstehen. Sie führt ihm das Leiden Christi in der Erwartung vor Augen, daß er sich gleichsam in der Gottesferne und im Leiden Christi wiederfindet und im Verborgenen Ja des Vaters zum Gekreuzigten das Ja zu sich selbst vernimmt. Mit zwingender innerer Sachnotwendigkeit wendet sich das neuartige Verständnis der Passion Christi gegen seine Vorgängergestalt mit ihrer psychologisch-seelsorgerlich genau austarierten Mischung aus Sentimentalität und Sadismus: Deren Vertreter »haben eyn mit leyden mit Christo / yhn zu clagen / und zu beweynen / als eynen unschuldigen menschen / gleych wie die weyber / die Christo von Jerusalem nach folgten / und von yhm gestrafft wurden. Sie sollten sich selb beweynen und yhre kinder«.15 Und von einem Passionsgedenken, das lange bei den Juden verweilt, gilt: »Czum ersten / Bedencken etlich das leyden Christi alßo / das sie uber die Juden tzornig werden / singen und schelten uber den armen Judas unnd lassen alßo gnug seyn / gleych wie sie gewont / andere leuth zu clagen und yhre widdersacher vordamen und vorsprechen / dz mocht wol nit Christus leyden / sondern Judas und der Jüden boßheit bedacht heyßen«.16

2. Wie ein ferner, etwas verzerrter Nachhall, aber eben doch wie ein Nachhall dieses Gründungsmanifests evangelischer Passionspredigt klingt es, wenn Schleiermacher in seiner Ordinationspredigt in der Passionszeit 179417 einleitend das religiöse bzw. theologische Interesse an der Passion Christi erörtert. Zunächst stellt er eine Perspektive vor, in der man durchaus eine Wahlverwandtschaft zum »Gesetz« erkennen kann: »Wenn wir auf die einzelnen Umstände desselben [des Leidens Jesu, M.O.] sehn, so haben wir an den göttlichen und vortrefflichen Handlungen auf der einen, und an den abscheulichen die menschliche Natur empörenden auf der andern Seite einen reichen Schaz von Belehrung, Warnung und Rührung«.18 Aber das ist nicht alles. Im Kreuzestode Jesu, so Schleiermacher, vollendet sich der gesamte Heilssinn von Jesu Wort und seiner Geschichte, und darum gilt über das eben Gesagte hinaus: »Wenn wir dann den ganzen Umfang des Heils, welches uns durch Jesum zu Theil worden ist, betrachten; wenn wir überlegen, daß wir ihm das beste, was wir haben, nämlich unsere freudige Hoffnung zu Gott und die gebesserten Gesinnungen unsers Herzens, zu danken haben: wie muß uns das aufs neue zum Lobe und Preise Gottes ermuntern«.19 15 Ibd. 136; vgl. auch WA 52, 228f (Hauspostille 1544): »Denn die weiß taug gar nichts, die man im Bapstumb gehalten hat, da die Prediger, sonder aber die München, allein sich darauff gegeben haben, wie sie es kläglich machen unnd die leut zum mitleyden unnd weynen bewegen könnten. Wer solches wol köndt, den hielte man für den besten Passion Prediger. Derhalb höret man inn solchen predigten anderst nichts, denn ein Juden geschelt, unnd wie die Junckfraw Maria geweinet, jren Son gesegnet unnd anders dergleichen thun hett«. 16 WA 2, 136. 17 SW II/7, 193–202; vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher, Göttingen 2001, 68f. 18 SW II/7, 193. 19 Ibd. 193f. Ganz ähnlich argumentiert die Landsberger Antrittspredigt vom Karfreitag 1794 (SW II/7, 205ff ), sie unterscheidet deutlich zwischen der »Liebe« und der »Abscheu«, welche die einzel-

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Das heißt so viel: In Jesu Wort und Geschick, welche miteinander im Erleiden des Kreuzestodes ihre letztgültige Beglaubigung erhalten, tut sich eine neue Möglichkeit menschlichen Sichverstehens und menschlichen Sichvollziehens im Angesicht Gottes auf. Und weil das so ist, darum können die einzelnen Züge zumal der Passionsgeschichte gelesen werden als exemplarische, ethisch orientierende idealtypische Realisationsmuster dieser religiös erneuerten Weise des Menschseins.20 Wenn man sich systematisch-typologisch das Verhältnis zum reformatorischen Impuls klarmachen will, dann ist zunächst unmittelbar deutlich, daß hier eine ganz andere gedankliche Struktur vorliegt als die Dialektik von Gesetz und Evangelium. Zieht man jedoch Luthers Unterscheidung zwischen Christus als sacramentum und exemplum, als Gabe und Beispiel21 heran, dann zeigt sich doch so etwas wie eine gewisse Wahlverwandtschaft: Allein weil Christus in Person das in die geschichtliche Menschheit neu eingestiftete geheilte und vollendete Gottesverhältnis ist, kann er bei denen, die an dem geschichtlichen Fortgang der Erlösung teilhaben, als Vorbild wirken.22 Diese in sich doppelschichtige Struktur, gemäß welcher der leidende und gekreuzigte Erlöser einmal eine neue Lebensmöglichkeit eröffnet und zum andern als Vorbild Geltung beansprucht, zieht sich kontinuierlich durch die lange Reihe23 von Schleiermachers gedruckten Passionspredigten.

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nen Episoden der Leidensgeschichte erregen (206) und deren »Früchten« (207), die jeder Christ im Glauben an und in sich trägt. Die Karfreitagspredigt von 1810 (SW II/7, 383ff ) lehnt jedes affektive Mitleid mit dem Leidenden ab: Der Tod des »Märtyrer[s]« (383), der um des höheren Gutes willen sein Leben als das geringere hingibt, manifestiert und begründet Freiheit als »die göttliche Kraft des Menschen über die Geseze des sinnlichen Lebens« (385): »Denn wie es sein Glaube an sich selbst war, in Streit gebracht mit dem niedrigen Dasein der Menschen, welcher seinen Tod nothwendig herbeiführte: so ist eben dadurch begründet worden in vielen tausenden der Glaube an ihn« (386). Es ergibt sich daraus eine ethisch-freiheitstheoretische Soteriologie: »Wolan denn, m. Fr., der, dessen Tod wir feiern, hat uns dieses hinterlassen als höchstes Vermächtniß, daß es nur durch die Kraft seines Todes etwas giebt, was uns lieber ist, als das Leben« (ibd.). Daß der Tod Jesu Christi nach dieser Predigt in diesem Sinne Heilsbedeutung hat und seine Bedeutung sich nicht bloß im moralischen Appell erschöpft, wird sehr eindrücklich herausgearbeitet von Christoph Meier-Dörken, Die Theologie der Predigten Schleiermachers (TBT 45), Berlin/New York 1988, 133–138. Vgl.z.B. Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und gewarten soll, WA10/I,1, 8– 18. Hierzu u. allgem. zu Luthers Bestimmung des Heilswerts von Christi Leiden bleibt grundlegend Erich Vogelsang, Der angefochtene Christus bei Luther (AKG 21), Berlin/Leipzig 1932, bes. 52ff. Unergiebig, weil viel zu wenig an den einzelnen Predigten als in sich selbständigen theologischen und literarischen Einheiten orientiert, sind die Ausführungen zu Schleiermachers Passionspredigten bei Wolfgang Trillhaas, Schleiermachers Predigt und das homiletische Problem (1933), Berlin/New York 21975, 56–67. Bislang unübertroffen sind Emanuel Hirschs einschlägige Arbeiten: In seiner Edition von Schleiermachers »Dogmatische[n] Predigten der Reifezeit« (s. u. Anm. 24) hat er den einzelnen Predigten Einleitungen und Sachanmerkungen beigegeben, welche diese ebenso einfühlsam und kenntnisreich in Schleiermachers Gesamtwerk und in dessen theologiegeschichtlichen Kontext einordnen. Unter dem Gesamttitel »Schleiermachers Christusglaube« (Gütersloh 1968) hat Hirsch drei Untersuchungen, die ursprünglich als Rundfunkvorträge entstanden waren, zusammengefaßt. Für das hier im Vordergrund stehende Thema ist einschlägig das Kapitel »Schleiermachers Predigt von Jesu Sterben am Kreuz« (aaO. 81–110). Von Schleiermacher sind zahlreiche Passionspredigten überliefert – außerordentlich viele jedenfalls

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Im Laufe der Zeit findet jedoch eine Verschiebung statt: Hat in den früheren Predigten der Exempel-Aspekt ganz eindeutig den Vorrang, so gewinnt im Lauf der Zeit der Aspekt der Gabe immer mehr Beachtung und Bedeutung. Das Bild der Juden, das Schleiermacher in seinen Predigten zeichnet, und dessen Funktion gestalten und wandeln sich ebenfalls im Zuge dieser Verschiebung. Das werde ich im folgenden an denjenigen Passionspredigten zeigen, die Schleiermacher in den von ihm selbst komponierten und redigierten Sammlungen publiziert hat.24 Einschlägig sind die erste Sammlung (1801), die dritte (1814), die fünfte (1826) und die siebente (1833). Die ethisch-politisch orientierten Predigten der 2. Sammlung (1808), die Hausstandspredigten (1820) und die Augustanapredigten (1831) kommen nicht in Betracht. Unberücksichtigt bleiben die Passionspredigten Schleiermachers, die als Einzeldrucke publiziert worden sind. Ich nehme diese Beschränkung einmal vor, um die Quellengrundlage überschaubar zu halten und so zumindest in Andeutungen einzelne Predigten als höchst gehaltvolle theologische Traktate und sprachliche Kunstwerke würdigen zu können. Zum andern ergeben sich auf diese Weise ganz zwanglos einige Indizien dafür, daß diese Sammlungen keineswegs bloße Zufallsprodukte sind, sondern theologisch und homiletisch jeweils ihre charakteristischen Besonderheiten aufweisen. Es eröffnet sich also exemplarisch eine Interpretationsperspektive, die, wenn ich recht sehe, bislang kaum realisiert worden ist. A) In den beiden Passionspredigten der zuerst 1801 im Druck erschienenen ersten Sammlung von Schleiermachers Predigten dominiert ganz eindeutig die Vorbildfunktion des leidenden Erlösers: Jesu Gebet im Garten Gethsemane wird von Schleiermacher lediglich als Anlaß zu einer mustergültig klaren Abhandlung über das Bittgebet benutzt.25 Der Leitsatz der Karfreitagspredigt über die markinische Sterbeszene lautet: »Darum laßt uns sterben lernen, indem wir Christus sterben sehen«.26 Für unsern Zusammenhang ist die Passage von Interesse, in der Schleiermacher über den Spott nachdenkt, den der Gekreuzigte zu erdulden hatte: Er kommt inhaltlich-konkret gar nicht zur Sprache, sondern lediglich als hervorragender Spezialfall eines immer neu sich wiederholenden aus der Perspektive einer Gegenwart, in der sich die Passionszeit im kirchlichen Protestantismus augenscheinlich zur »Fastenzeit« zurückentwickelt und die Passionsthematik, abgesehen von eher randständigen Andachten, vielerorts nur noch in den Gottesdiensten der Karwoche die Predigten beherrscht. Schleiermachers Praxis war hier anders: Er pflegte in seinen Predigten vom Sonntag Invokavit an die Passion zu bedenken – unter Rückgriff auf die alte Maxime, daß Jesu gesamter Erdenweg eine Leidenszeit war (s.u. 352 mit Anm. 29). – Schleiermachers Karfreitagspredigten sind außergewöhnlich kurz, im Druck etwa halb so lang wie die anderen. Das wird daran liegen, daß er sich angesichts der hoch frequentierten, lang sich hinziehenden Abendmahlsfeier dieses Tages kurz gefaßt hat. 24 Ich zitiere diese durchgängig nach SW II/1–2, Berlin 1834; gegebenenfalls verifiziere ich die Zitate auch nach der Auswahlausgabe von Hayo Gerdes und Emanuel Hirsch (Friedrich Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten Bd. I: Kleine Schriften und Predigten 1800–1820, hg.v. H. Gerdes, Berlin 1970 [KSP I] und Bd. III: Dogmatische Predigten der Reifezeit, hg.v. Em. Hirsch, Berlin 1969 [KSP III]). 25 SW II/1, 28–40/KSP I, 167–178. 26 SW II/1, 42/KSP I, 180.

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Erfahrungsmusters: Menschen, die Außerordentliches leisten und vollbringen, sind dem Mißverständnis und dem Neid preisgegeben, und darum gilt: »auch dies ist ein Leiden, welches wir, so lange die Dinge in der Welt sich so verhalten wie jezt, ebenfalls, wenn gleich in einem geringern Maaße, werden zu ertragen haben, und wobei uns, wie es uns auch treffe, die Fassung des Erlösers willkommen und wünschenswerth sein muß«.27 Dieser Satz ist exemplarisch: Schleiermacher reduziert psychologisch die Konflikte in der Passionsgeschichte auf ihre Grundstrukturen. So erweisen sie weit über den Einzelfall hinaus Erschließungskraft, aber ihre geschichtliche Einmaligkeit wird an den Rand gedrängt. Die Gegner Jesu werden zu Beispielgestalten ethischer Haltungen. Das, was an ihnen erörterungsbedürftig ist, hat allerdings mit ihrer historischen Identität als Juden nichts mehr zu tun. Der Leser und Hörer von Schleiermachers Predigten kann und wird sich im Geiste auf die Suche nach Individuen und Gruppen machen, die in seiner Lebenswelt jene Haltungen und Konfliktkonstellationen verkörpern. Aber mit keinem Wink und mit keiner Silbe motiviert ihn Schleiermacher dazu, sie gerade bei seinen jüdischgläubigen oder jüdischstämmigen Zeitgenossen zu suchen. – Und darum wird es kein Zufall sein, sondern reflektierte Absicht, daß Schleiermacher in diesen Predigten und in späteren ähnlich konzipierten das Wortfeld »Jude«, »jüdisch« etc. strikt meidet und stattdessen durchgängig vom »Volk« spricht oder von den »Zeitgenossen«! Auch dieses Charakteristikum, das ich an diesem sehr frühen Beispiel dargestellt habe, wird für Schleiermachers Passionspredigten charakteristisch bleiben. B) Die Dritte Sammlung, 1814 erschienen, weist gegenüber ihren beiden Vorgängerinnen zwei Besonderheiten auf: Einmal ist Schleiermacher hergebrachten dogmatischen Sprach- und Vorstellungsmustern näher als zuvor; wir haben hier in einer hohen Konzentration solche Predigten vor uns, an denen sich ablesen läßt, inwiefern Schleiermacher zu den Auslösern der Berliner Erweckungsbewegung zu zählen ist.28 Mindestens ebenso wichtig ist ein zweiter Gesichtspunkt: Seine Textverwendung hat sich erheblich gewandelt. Haben die früheren Predigten meist kurze, fast motto-ähnliche Textbezüge, so legt er hier vorwiegend längere Passagen aus den Evangelien zugrunde, und zwar bevorzugt solche, in denen Jesus Gespräche führt. Wie ein gar nicht so geheimer Roter Faden zieht sich durch diese Predigtsammlung Schleiermachers in der IV. Rede entfaltete religionsphilosophische Grundannahme, daß gelebte Religion religiöse Kommunikation ist: Die Predigten schildern und deuten in immer neuen Varianten gelungene und mißlungene Versuche der religiösen Verständigung. Die drei Passionspredigten der Sammlung gehören eng zusammen. Sie widmen sich Episoden, die nicht im engeren Sinne zur Passionsgeschichte gehören, in denen Jesus jedoch auf Mißverstand und Ablehnung gestoßen ist. Grundlegend ist dabei Schleiermachers Anknüpfung an den schon im Spätmittelalter immer wieder variierten Grundgedanken, daß Jesu gesamter Erdenweg eine Leidenszeit gewesen ist,29 konzentriert al27 SW II/1, 46/KSPI, 184. 28 Vgl. Walter Wendland, Studien zur Erweckungsbewegung in Berlin (1810–1830), in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 19/1924, 5–77 passim. 29 Vgl. Johannes Gerson, Expositio in Passionem Domini (wie oben Anm. 6), Sp. 1153 B: »In keiner Weise hatte er sich schuldig gemacht, der von Kindheit an zu leiden begann – im Elend, im Schmerz,

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lerdings auf diejenigen Leiden, die »nicht sowol die Natur den Menschen bereitet, als sie sich selbst untereinander«.30 Der hermeneutisch-homiletische Grundgedanke ist derselbe, den wir schon in der Ordinationspredigt kennengelernt haben: »Auch das wird uns Gelegenheit geben, bald ihn bewundernd zu verehren und an ihn als unser Vorbild uns anzuschließen, bald die verschiedenen Gestalten der Sünde und des Frevels, welche die Quelle seines Leidens waren, uns prüfend und warnend vorzuhalten«.31 Charakteristisch für die Eigenart der Dritten Sammlung ist, wie Schleiermacher diesen Grundgedanken noch einmal soteriologisch und ekklesiologisch unterfüttert: »Da wir nämlich auf der einen Seite als Glieder an dem gottgeweiheten Leibe der Kirche, wovon Christus das Haupt ist [Kol1, 18; M.O.], berufen und auserwählt sind, nach dem Maaße, das Gott einem jeden zugetheilt hat, uns auch zu begeben an das Werk Christi, um es weiter zu führen: so muß dann bei demselben Kriege gegen die Sünde auch derselbe Widerstand, den er erfuhr, uns begegnen, und der Schmerz Christi auch der unsrige werden; und wie er sich eben hiebei in den Tagen seines irdischen Lebens erwiesen hat, so ist er das leuchtende Vorbild uns zur Nachahmung aufgestellt«.32 Die hier angedeutete polemische Stoßrichtung wendet sich nun noch einmal nach innen: Auch die Christen, deren religiöses Bewußtsein Schleiermacher als Prediger reflektiert, sind ja selbst noch Sünder, haben also dessen gewärtig zu sein, daß sie »ihm und den seinigen Leiden derselben Art bereiten, wie er sie damals erfuhr«.33 Und deshalb »müssen dann diejenigen, welche in den Tagen seines irdischen Lebens ihm Schmerzen machten, uns vor Augen stehen als ein warnendes und schrekkendes Beispiel, damit wir nicht die Hände in den Schooß legen und in uns gewähren lassen was ihnen ähnlich ist«.34 Der ersten der hier zu besprechenden Predigten liegt Joh7, 40–53 zugrunde: Nachdem Jesu Selbstverkündigung auf dem Laubhüttenfest für Aufsehen gesorgt hat, haben ihn die Häscher des Hohen Rats nicht ergriffen und werden deswegen von ihren Vorgesetzten zur Rede gestellt: Wie haben sie sich von Jesus verblenden lassen können, wo doch die Eliten ihn geschlossen ablehnen und er per se gar nicht der Erwartete sein kann, da er doch aus Galiläa stammt? Von hier aus gewinnt Schleiermacher sein Thema und spricht »Von dem Vorurtheile des Buchstaben und dem Vorurtheile des Ansehns«. Die Schriftgelehrten und Priester haben sich auf eine bestimmte Auslegung messianischer Weissagungen borniert und sich dadurch die Sicht auf Gottes lebendiges Geschichtshandeln verstellt: »Das war das Leiden, welches dem Erlöser während seines Lebens auf Erden dieses Vorurtheil brachte; und wieviel Unheil hat es nicht zu allen Zeiten in seiner Kirche angerichtet«.35 Die für christliches Denken und Sichverstehen maßgeblichen

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im Weinen, am Hunger, am Durst, an der Kälte, in der langen, fernen Fremdlingschaft in Ägypten, in Nachtwachen und an Versuchungen, durch die Schmähungen der Gottlosen und tödliche Nachstellungen«. SW II/1, 425. Ibd. 425f. Ibd. 449. Ibd. 450. Ibd. Ibd. 429.

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»Erben« der Jerusalemer Priesteraristokraten und der pharisäischen Juridico-Theologen sind also nicht die Rabbinen, sondern die Bischöfe und Inquisitoren, die Konsistorialräte und die gutachtenden Professoren. Genauso verhält es sich mit dem Vorurteil des Ansehens. Thema ist nicht die jüdische Anerkennung oder Nichtanerkennung Jesu, sondern seine Herabsetzung durch die Zeitgenossen, die ihm den Spottnamen »Galiläer« gaben, weist in eine ganz andere Richtung: »Es kann uns nicht entgehn, meine andächtigen Freunde, wie auch jezt noch oft herrliche Wahrheiten, heilbringende Erkenntnisse auf dieselbe Weise verdächtig gemacht und in ihren Wirkungen gehemmt werden, indem man ihnen einen verächtlichen, lächerlichen oder gebrandmarkten Namen anzuhängen weiß«.36 Einen positiven Unterschied zwischen der Zeit Jesu und seiner Gegenwart lokalisiert Schleiermacher darin, »daß weltliches Ansehn und Gewalt nicht mehr auf dem Stande derer ruht, denen die höheren Einsichten in die göttliche Wahrheit anvertraut sind, und daß die Genossenschaft dieser so gestellt ist, daß von dem äußeren Glanz der Welt nur wenig Strahlen auf sie fallen«.37 Und die praktische Nutzanwendung liegt in der Sorge um die Bewahrung der »christlich kirchliche[n] Freiheit« wie der »christlich bürgerlichen Freiheit«,38 welche miteinander die Durchsetzung besserer Erkenntnis auch gegen die Kräfte des Herkommens und der Beharrung ermöglichen. – Die zweite Passionspredigt der Sammlung ist der Anfrage der Mutter der Söhne Zebedäi (Mt20, 20–28) gewidmet. Sie bezeugt, daß Jesus auch im engeren Kreise seiner Anhängerschaft mit dem Mißverständnis konfrontiert war, er werde den Seinen ihren Einsatz durch die Befriedigung ihres persönlichen Glücksverlangens und Ehrgeizes vergelten. Auch hier läßt sich Schleiermacher nicht auf Erörterungen über die unterschiedlichen Aneignungen der Messiasvorstellungen durch Jesus und/oder die ersten Christen ein. Vielmehr führt er in weit ausholenden Gedankenreihen aus, daß persönlicher Geltungswille nicht nur im engeren kirchlichen Bereich, sondern in einer christlich grundierten Kultur insgemein kein Handlungsmotiv sein kann. Alles Herrschen, Ordnen und Sichhervortun ist lediglich als selbstloser Dienst am Ganzen legitim: »Seit Christus erschienen ist und sein Reich besteht, ist uns alles nur mit ihm und durch ihn geschenkt, alles menschliche gute trägt sein Bild und seine Ueberschrift [Mk12, 16 parr], wie viele es auch noch geben mag, die das nicht anerkennen wollen; und wir können alle nichts besseres sein als Diener in seinem alles umfassenden Reich«.39 Die dritte Predigt widmet sich unter Anknüpfung an das hergebrachte Palmsonntags-Evangelium (Mt21, 10–16) dem »wankelmüthige[n] Sinn der Menschen als Quelle der Leiden des Erlösers«. Der erste Hauptteil der Predigt entwickelt zunächst die Unterscheidung zwischen der »Feindschaft« der Oberen, also der Tempelaristokratie und der Schriftgelehrten, und dem »Wankelmut« der großen Volksmenge. Jesus hat diesen Faktor unter Schmerzen deutlich und klar erkannt; er hat die ihm spontan Zujubeln36 37 38 39

Ibd. 432. Ibd. 434. Ibd. 435. Ibd. 443. – Der hier entwickelte geschichtsphilosophische Grundgedanke wird breiter ausgeführt im Schlußteil der IV. Augustanapredigt, anknüpfend an denselben biblischen Bezug, nämlich Jesu Antwort auf die Zinsgroschenfrage (SW II/2, 661–664/KSP III, 59–64).

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den zwar nicht zurückgestoßen, aber er hat auch keinerlei Hoffnungen auf sie gesetzt. In dieser nüchternen, illusionslosen Einschätzung der gegebenen Lage hat er vorbildlich gehandelt, indem er jede revolutionäre Aktion vermied: »kein offner Krieg gegen diejenigen, welche zu ihrer eigenen Verdammniß und zum Verderben des Volkes auf dem Stuhl Mosis saßen; kein Versuch, dem Reich der Wahrheit eine öffentliche äußere Gestalt zu geben und diese an die Stelle des veralteten, verstorbenen Priesterthums zu sezen«.40 Aber er war auch darin vorbildlich, daß er sich durch die Einsicht in die Unzuverlässigkeit der Volksstimmung nicht zur Misanthropie hinreißen ließ. – Die Wankelmütigen selbst unter Jesu Zeitgenossen sind ein warnendes Beispiel. Unbeschadet der Tatsache, daß der Christ durch den Beistand des Geistes festere, beständigere Entschlüsse zu fassen vermag41 als sie, bleibt er doch immer von Kleinmut und Feigheit bedroht, und darum bedarf er der Mahnung: »wo die köstlichsten Augenblikke für das Reich Gottes versäumt werden, da bricht die Zerstörung ein, da folgen, wie auch damals, auf dem Fuße die Gerichte Gottes«42 – Schleiermacher meint die Katastrophe der jüdischen Hierokratie im Jahr 70. C) Die 5. Sammlung, die erste Sammlung der Festpredigten, erschien im Druck 1826. Sie enthält fünf Passionspredigten, von denen zwei als Karfreitagspredigten ausgewiesen sind. Auch in diesen Predigten findet sich wieder die dialektische Spannung zwischen den Sichtweisen Christi als Gabe und als Beispiel, wobei jedoch der Akzent deutlich stärker als in den zuvor genannten auf der Gabe liegt. Sehr viel intensiver als in den früheren Passionspredigten vertieft sich Schleiermacher in die Texte und in die von ihnen bezeugte Leidensgeschichte selbst. Die erste für uns einschlägige Predigt der Sammlung hat zur Grundlage den matthäischen Bericht über Jesu Gefangennahme (Mt26, 55f ) und deutet diesen unter dem Titel »Der Anfang des Leidens Christi sein steigender Sieg über die Sünde«. Alles Leiden Christi war Leiden an der Sünde, und so kann auch nur dort von christlichem Märtyrertum die Rede sein, wo Menschen im Kampf gegen die Sünde leiden. Die Sünde, unter der Christus litt, war in sich wiederum doppelschichtig: Einmal war es die der Volksmenge; ihre Schuld bestand in »einer verstokkten Unempfänglichkeit und Gleichgültigkeit gegen das gute und göttliche«.43 Die »Oberen«, also die Tempelaristokraten und die Schriftgelehrten, hielten Jesus für einen politisch gefährlichen Phantasten, dessen Aktionen den Römern den Anlaß geben könnten, die letzten Reste jüdischer Autonomie zu kassieren. Daraus zogen sie nun aber nicht den Schluß, Jesus müsse im freien Diskurs widerlegt werden, sondern sie wollten ihn gewaltsam vernichten (lassen): »die eigentliche Sünde aber war die, daß sie unter einem leeren Vorwand und gegen besseres Wissen geistiges, mochten sie es nun auch für verderblich halten, nicht mit geistigen Waffen bekämpften, sondern mit fleischlichen, nur weil sie nicht wollten ans Licht kommen, damit nicht ihre bloß äußerlichen Werke ohne Herz, damit nicht ihre unreinen 40 41 42 43

SW II/1, 452. Vgl. ibd. 457. Ibd. 460. SW II/2, 106.

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Absichten gestraft würden«.44 Die Sünde der großen Menge erregt eher Mitleid, die der Führenden Zorn.45 Beide Arten der Sünde kommen nun, so Schleiermacher, auch unter Christen immer wieder vor. Unter Christen allerdings sind sie nur umso schwerer verzeihlich, weil ihnen die Entschuldigung der Unwissenheit nicht mehr zugute kommen kann. Jesus hat beide Arten der Sünde durch die unbezwingbare Ruhe und Stetigkeit seines Selbstzeugnisses ein für allemal entlarvt und damit zugleich ein unübertreffliches Vorbild des Umgangs mit der Sünde gestiftet. Die nächste Passionspredigt der Sammlung ist der Verheißung des sterbenden Jesus an den reuigen Schächer gewidmet. Schleiermacher rückt vor allem die an diese Episode sich heftende übertriebene Hochbewertung von Reue und Buße auf dem Sterbebett zurecht. Dabei malt er ein Phantasiebild vom reuigen Schächer, das wohl jeden damaligen Leser und Hörer sofort an den Kotzebue-Mörder Sand und die Folgen seiner Tat46 erinnert haben wird: »Und besonders in solchen unglükklichen Zeiten, wenn die menschlichen Verhältnisse im großen verworren sind, so daß von Recht und Unrecht die entgegengeseztesten Ansichten neben einander stehen, wie leicht entstehen da Thaten, welche die herrschende Gewalt für Verbrechen erklärt, während andere sie rühmen und bewundern«.47 Die beiden folgenden Predigten thematisieren den Tod Jesu und seine religiöse Dimension ganz ohne Seitenblicke auf die zeitgeschichtlichen Umstände und kommen für unsere Untersuchung insofern nicht in Betracht.48 Die Karfreitagspredigt »Der Tod des Erlösers das Ende aller Opfer« über Hebr8,10– 12 stimmt nun einen gegenüber den früheren Passionspredigten Schleiermachers neuen geschichtstheologischen Ton an. Zum Anknüpfungspunkt wählt er die Beobachtung, »daß der heilige Schriftsteller den Tod des Erlösers als den eigentlichen Wendepunkt ansieht, mit welchem der alte Bund zu Ende gegangen und der neue Bund Gottes mit den Menschen seinen Anfang genommen«.49 Den alttestamentlich-jüdischen Opferdienst stellt Schleiermacher hier sogleich in den Kontext der gesamten Alten Welt. »Opfer und Opferdienst« machten »sowol in den Gottesdiensten des jüdischen Volks, als auch in den mit vielem Wahn und Irrthum vermischten heiligen Gebräuchen anderer Völker das wesentliche«50 aus. 44 Ibd. 114. 45 Vgl. ibd. 120. 46 Von den Vorgängen, die die Karlsbader Beschlüsse provozierten und zur Dienstentlassung von Schleiermachers Freund und Kollegen Wilhelm Martin Leberecht de Wette führten, gibt es unübersehbar viele Darstellungen. Viel Zeitkolorit bietet Adolf Hausrath, Richard Rothe und seine Freunde Bd. I, Berlin 1902, 93–96. 102–106; die anekdotischen Züge der Darstellung sind z.T. noch gesteigert bei Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 281–283. – Zu den Vorgängen an der Berliner Universität bleibt grundlegend Max Lenz, Zur Entlassung de Wettes, in: Philotesia. Paul Kleinert zum LXX. Geburtstag dargebracht, Berlin 1907, 337–388. 47 SW II/2, 125f. 48 Die Predigt »Christi leztes Wort an seinen himmlischen Vater« über Lk23, 46 (SW II/2, 151ff ) operiert in einer Weise, die mir in Schleiermachers Werk singulär zu sein scheint, mit dem Begriff des Willens bzw. der Willenseinheit! 49 SW II/2, 162/KSPIII, 245. 50 SW II/2, 163/KSPIII, 245.

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Die Sühnopfer des Alten Bundes, und, so wird man verallgemeinern dürfen, der Alten Welt überhaupt, hatten den Zweck, bei der Gottheit Vergebung für einzelne Sündentaten zu erlangen. Sie festigten damit zugleich die Erinnerung an die Verfehlungen und konzentrierten das Verständnis von Sünde und Schuld auf die je individuelle, kontingente Einzeltat. Im unschuldigen Leiden Jesu hingegen hat sich die Sünde als Wurzel alles Bösen51 in unüberbietbarer Konzentration gezeigt; Schleiermacher führt das in bekannter Weise auf, indem er das Verhalten derer, die Jesus ans Kreuz gebracht haben, auf verallgemeinerbare, vom bestimmten geschichtlich-kulturellen Schauplatz ohne weiteres ablösbare Fehlhaltungen reduziert. In dem, was »an dem Tod des Erlösers Schuld war«, ist also der »Spiegel« gegeben, in dem alles sichtbar wird, »was die menschliche Seele verfinstert, und die Menschen von dem Wege des Heils und der Wahrheit entfernt hält«.52 Und aufgrund dieser humanen Universalisierbarkeit ist es offenkundig, daß alle Sünde im Kreuz Jesu immer schon ihrem wahren Wesen nach aufgedeckt ist, und das führt im Gegenzug zu der folgenden Feststellung: »Denn was uns noch sündliches bewege, was immer in uns dem Gehorsam gegen den Willen Gottes, von welchem er das ewige Vorbild gewesen ist, widerstrebe: wir werden es immer zurükkführen können auf etwas von dem, was den Tod des Herrn verschuldet hat, und werden also alle Sünde ansehen müssen als einen Antheil an seiner Kreuzigung«.53 Nun waren die Opfer nicht nur Akte des partikularisierenden Gedächtnisses der Sünden, sondern sie hielten auch die Sehnsucht nach einer anderen, höheren Weise des Umgangs mit Sünde und Schuld lebendig – sie wiesen also auch über sich selbst hinaus. Und Christus ist eben auch insofern das Ende aller Opfer, als im Glauben an ihn die Sündenvergebung liegt. Wie Schleiermacher hier die paulinischen Sätze über den Glauben als das Sterben und Auferstehen mit Christus ohne Rücksicht auf deren sakramentsmystischen Hintergrund anerkennungslogisch rekonstruiert und so ethisch und religiös plausibilisiert, das kann hier leider nicht eingehend vorgeführt werden. Das Resultat ist: Der Glaube versetzt den Menschen in die Lebens- und Willensgemeinschaft mit Christus, und in dieser Lebensgemeinschaft hat die Sünde keinen Platz; die faktische Sündhaftigkeit des empirischen Christenmenschen reicht an dessen maßgebliches Persönlichkeitszentrum nicht mehr heran und ist ihm deshalb in Wahrheit bloß noch äußerlich als abgestorbener Rest des Alten Menschen. Ermöglicht ist all das durch den Lebensgehorsam Jesu Christi, der seinen Kreuzestod umschließt, in ihm gipfelt und sich vollendet. Interessant und weiterführend sind an dieser Predigt zwei Einzelzüge: Einerseits wird die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu in größtmöglicher Weite in ihre religionsgeschichtlichen Bezüge eingeordnet. Zum andern wird durch die anthropologische Universalisierung des Sündenbegriffs eine Verbindung zwischen dem Kreuz Christi und seiner existentiellen Aneignung hergestellt, die, den offenkundigen Unterschieden zum Trotz, an die Glanzstücke altprotestantischer lyrischer Passionsmemoria erinnert. Das 51 Schleiermacher differenziert nach 1.Joh 2, 16 noch einmal in Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Leben und gelangt damit systematisch zu ganz ähnlichen Gedanken wie in der Predigt über das Vorurteil des Buchstabens und des Ansehens. 52 SW II/2, 166/KSPIII, 249. 53 SW II/2, 166/KSPIII, 249.

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Judentum kommt einerseits in den Blick als großartigster Repräsentant der Kult- und Opferreligionen der Alten Welt. Anderseits fungieren diejenigen, die Jesus Christus als Sünder ans Kreuz gebracht haben, als Identifikationsfiguren der Sünde, für deren Überwindung Jesus ans Kreuz gegangen ist und die diejenigen, welche sie als ihnen geltend erfahren, in sich selber erleben und bekämpfen. D) Diese Wendung zur deutlich vertieften geschichtlichen Betrachtung findet ihre Fortsetzung und Steigerung in der letzten Predigtsammlung, die Schleiermacher 1833 in den Druck gegeben hat. Viel deutlicher als in den früheren Passionspredigten steht nun Jesu Verflochtenheit in die national-religiösen Überlieferungen seines Volkes im Vordergrund. Nicht nur Jesu einmalig-geschichtlicher Rang, sondern auch seine bleibendreligiöse Bedeutung liegt eben darin, daß er sich diesen Vorgaben seines Redens und Tuns ohne Vorbehalt unterstellt hat: Genau daran lag es, daß sie zerbrachen, als sie ihn zu Tode brachten. Die erste Passionspredigt der Sammlung erwägt, »Welchen Werth es für uns habe, daß das Leiden des Erlösers vorhergesagt ist«, sie widmet sich also einer schon in der Aufklärungstheologie intensiv diskutierten Frage, die nun auch und gerade in Berlin zum Kampf- und Modethema der akademisch-theologisch sich verfestigenden Erweckungsbewegung54 wurde. Die Reflexionszitate der Evangelien bezeugen, so Schleiermacher, daß die Augenzeugen und Tradenten des Geschicks Jesu eben Juden waren und das, was sie erlebten, nach alttestamentlichen Mustern deuteten und beschrieben. Das hatte auch den Effekt, daß ihnen manche Einzelheit als überlieferungswürdig erschien, die sonst wohl ihrer Beachtung entgangen wäre. Aber die alttestamentlichen Bezugnahmen finden sich nicht nur in den Darstellungen der Geschichte Jesu, sondern auch in seiner Verkündigung. Jesus selber hat sich in die messianischen Hoffnungen und Erwartungen seines Volkes eingeordnet, allerdings auf ganz eigene Weise. Grundlegend für seine Selbstverkündigung war die Gestalt des Leidenden Messias nach Jes53, und diese Weissagung hat er in seinen eigenen Leidensankündigungen verlängert und intensiviert: Der göttliche Gesandte, der den Kampf gegen die Sünde als die Wurzel alles Bösen und allen Übels aufnimmt, steht notwendig quer zu allen letztlich sündig-partikularen, innerweltlich-eudämonistischen Gestalten der Zukunfts- und Heilserwartungen, wie sie die heilsprophetischen bzw. heilsprophetisch deutbaren Partien des AT repräsentieren. Jesus bezog sich also positiv auf eine schmale, kaum sichtbare Linie innerhalb der alttestamentlichen Zukunftserwartungen zurück, welche nicht allein die vorherrschenden jüdischen, sondern auch die heidnischen Heils- und Zukunftshoffnungen überschritt. Daß Jesus, anknüpfend an diese Linie im AT, seinen eigenen Verbrechertod voraussagte, verdeutlicht, daß seine Lebenshingabe am Kreuz das höchste Indiz der »Freiheit des Geistes« ist, »mit der er über sich und sein Leben« schaltete.55 Und gerade darin, daß sein Sieg über die Sünde sich im 54 Vgl. z.B. Johannes Bachmann, Ernst Wilhelm Hengstenberg Bd. II, Gütersloh 1879, 159–167. Nach Leopold Witte, Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholucks Bd. I, Bielefeld/Leipzig 1884, 192f, bot Tholuck zwischen dem SS 1821 und dem WS 1825/6 nicht weniger als fünf Vorlesungen zu diesem Thema an! 55 SWII/2, 396.

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Kampf und in der Niederlage ereignete, ist er das Ur- und Vorbild aller derer geworden, die ihm wahrhaft im Glauben nachfolgen. Dasselbe gedankliche Muster waltet in Schleiermachers Predigt über das Kreuzeswort Mt27, 46/Ps22, 2. Einer der Grundgedanken dieser Predigt erfreut sich ziemlich weiter Bekanntheit: Jesus hat, so Schleiermacher, keinesfalls seine ganze Verzweiflung und Anfechtung in diesen Vers hineingelegt, sondern er hat ihn lediglich pars pro toto für den ganzen Psalm zitiert und damit zu erkennen gegeben, daß er sich eben auch mit der festen Erlösungszuversicht des Psalmbeters einig wisse. Die Predigt enthält jedoch noch einige weitere Aspekte und Gedanken. Schleiermacher verweilt lange dabei, wie Jesu hier erkennbar werdender Schriftumgang bezeugt, mit welchem Grad an Selbstverständlichkeit er in den Überlieferungen seines Volkes lebte und webte – auch darin ein Vorbild!56 Aber das ist nur die eine Seite. Für Schleiermacher liegen Jesu Anknüpfung an den Psalm und der Widerspruch gegen ihn unscheidbar ineinander. Der Psalmbeter, so betont Schleiermacher, hat sich in einer Notsituation der Wohltaten Jahwes an seinem Volk erinnert, er hat aus dieser Erinnerung Kraft geschöpft und seine Notlage überwunden. Seine Heils- und Erlösungshoffnung ist dabei ganz und gar innerweltlich geblieben. Im Gegensatz dazu hatte der Gekreuzigte mit allen irdischen Hoffnungen restlos abgeschlossen. Er war sich vielmehr dessen bewußt, daß sein Sterben am Kreuz der ihm gewiesene Weg zum Vater war und als Weg zum Vater eben auch in seine Wirksamkeit hineingehörte – als »Urquell [...] alles geistigen Lebens und aller Verherrlichung Gottes in der Gemeine der gläubigen durch deren Dienst eine wie der Sand am Meere und wie der Thau in der Morgenröthe unzählbare Menge Kinder Gottes zur Herrlichkeit eingeführt wurden aus allen Geschlechtern der Heiden«.57 Jesu Kreuzestod war eben nicht bloß ein kontingent menschliches Geschick, bestimmt, ins Vergessen hinein zu verfließen, sondern die Zeitenwende schlechthin, »ein Weltalter schließend und ein neues beginnend«.58 Und hierin gründet es auch, daß Jesus einen weiteren Einzelzug des Psalms überbietend aufnimmt: Der Beter des Alten Bundes schon hat darauf verzichtet, die göttliche Rache auf seine Widersacher herabzurufen. Und Jesus? »indem er diesen Psalm nachempfand, freuete er sich der allgemeinen göttlichen Erbarmung über das ganze Geschlecht, welche durch seine damalige Gottverlassenheit besiegelt wurde, und freiwillig mit einem Herzen voll Liebe litt er für diejenigen, durch die er litt«.59 Jesus hat als treues Glied seines Volkes gelebt und gedacht. Durch seine Volksgenossen ist er dem Tode überantwortet worden und hat damit auch ihnen die Teilhabe an der Erlösung ermöglicht. Diese beiden Aspekte erörtert die nächstfolgende Predigt der Reihe. Die Predigt »Die Gesinnung, in welcher Christus seinem Leiden entgegenging« knüpft an eine Zäsur in den johanneischen Abschiedsreden (Joh14, 30f ) an und erörtert Jesu Stellung zu seinem jüdischen Volk und zu dessen religiösen und politischen Ordnungen. Die ntl. Texte, die die leitenden Bezüge hergeben, also die eigentlichen 56 57 58 59

Vgl. SWII/2, 412–416. Ibd. 408. Ibd. Ibd. 411.

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Predigttexte, sind, Gal4, 460 und Gal2, 19f.61 Von Kindesbeinen an hat Jesus das Gesetz gelernt, und er hat es in allen Bezügen gehalten, so daß er mit Recht seinen Gegnern entgegenhalten konnte, daß niemand ihn eines Gesetzesverstoßes, einer Sünde zeihen könne (Joh8,46). Auch seine Kritik in Wort und Tat galt nicht dem mosaischen Gesetz selbst, sondern den Menschensatzungen! Nach Jerusalem ging er, weil er sich an die Gesetzesvorschriften gebunden fühlte, und auch dem Zugriff seiner Häscher entzog er sich nicht, handelte es sich doch bei ihnen um die ihm von Gott gesetzte legitime Obrigkeit, der auch dann Gehorsam gebührt, wenn sie illegitim handelt. So ist er denn durch das Gesetz, das an ihm, dem Gehorsamen, kein Recht hatte, gestorben. Und die, die an ihn glauben, sind mit ihm und damit dem Gesetz gestorben (Gal2,19f ): »So wußte der Erlöser also, daß er durch das Gesez fallen müsse um die Gewalt des Gesezes zu brechen; um zu zeigen, wie wenig die wahre göttliche Gerechtigkeit aufgerichtet werden könne durch eine Ordnung, in welcher ein solcher Widerspruch möglich war zwischen dem Geist und dem Buchstaben; um dadurch zu zeigen, nun sei die Zeit des alten Bundes verflossen, und diejenige gekommen, wo Gott einen neuen machen wolle, nicht mit einem einzelnen Volk, sondern durch den, der von ihm dem ewigen Vater ausgegangen war, mit dem ganzen Geschlecht der Menschen«.62

Von hier aus erweist sich nach Schleiermacher das Recht des alttestamentlichen Gesetzes in seiner Begrenzung: Es hat zeitweilig mit Lohnverheißungen und Strafandrohungen den Monotheismus notdürftig lebendig erhalten. Als seine Erfüllung gekommen war, da verlor es seinen Zweck. »Nun konnten die, deren Herr und Meister durch die Sazungen gestorben war, sich von denselben lösen und den Anfang machen mit der lebendigen Freiheit der Kinder Gottes, bis unter dem verblendeten Volk die Verwirrung immer mehr zunahm, und endlich auch die äußere Stätte jenes alten Bundes verfiel, der Tempel zerstört wurde, und die Unmöglichkeit eintrat, daß das Gesez länger konnte beobachtet werden«.63

In ganz traditioneller Weise konstruiert Schleiermacher hier den geschichtlichmoralischen Zusammenhang zwischen dem Kreuz Jesu und der Zerstörung Jerusalems 60 Vgl. Ibd. 421f/KSPIII, 236f. 61 Vgl. SWII/2, 425/KSPIII, 239f. – Dieser Befund ist nach meinem Eindruck typisch für viele der späten Predigten Schleiermachers: Die Predigttexte im vordergründig-technischen Sinne wählt er zwar vorwiegend aus den Evangelien, aber er nimmt dann paulinische Gedanken hinzu, welche die Wahrnehmung und Auslegung des Predigttexts steuern und somit eigentlich für die Formung und Entfaltung der Gedanken bestimmend werden. 62 SWII/2, 425/KSPIII, 240. 63 SW II/2, 426/KSP III, 240. Vgl. auch SW II/2, 437: »Nicht lange nachdem der Erlöser gelitten hatte für die Sünden der Welt und seine Aufgabe auf dieser Erde vollbracht, begann, wie er es schon lange vorausgesehn und vorausgesagt hatte, das Leiden jenes ganzen Volkes für und durch dessen eigene Sünde; und die von ihm geschilderte gräuliche Verwüstung brach ein«. Texte wie Lk19, 41–44 sind eben für Schleiermacher keine bloßen von der 2./3. urchristlichen Generation fingierten vaticinia ex eventu, sondern er steht auf dem Standpunkt der traditionellen Auslegung, nach deren Sicht Jesus den ihn ablehnenden Zeitgenossen die politische Katastrophe prophezeit hat, welche dann knapp zwei Menschenalter später eintrat.

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samt dem Zweiten Tempel im Jahre 70. Indirekt fällt von hier aus Licht auf Schleiermachers oft kritisiertes und bedauertes Negativbild der jüdischen Religion seiner Gegenwart, das er 1799 erstmals in der V. Rede gezeichnet und dann nie wieder durchgreifend revidiert hat. Dieses Bild ist bestimmt durch ein zweistufiges Verfallsschema: Dessen erste Stufe ereignete sich, als die Propheten verstummten und der Kanon zum Abschluß kam, die zweite trat mit dem Ende des Tempelkultus und der Jerusalemer Hierokratie ein.64 Hier nun treten die bestimmenden Linien seines Verständnisses der jüdischen Religion etwas deutlicher hervor. Im Zentrum stehen miteinander – wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse – die politische Eigenständigkeit des jüdischen Volkes und der an den Jerusalemer Tempel gebundene Opferkult. Den Erwählungsglauben und die Thora-Frömmigkeit ordnet Schleiermacher offenkundig diesen beiden Zentralgehalten ein und unter. Ein Judentum ohne Königtum/Hierokratie und ohne Tempelkultus kann also nach seiner Sicht immer nur defizitär bzw. schattenhaft sein. Offenkundig hat er nicht wahrgenommen, daß mit dem Ende der Hierokratie und des Tempelkultus eine neue, auf ihre eigene Weise höchst lebendige und produktive Periode in der Geschichte des Judentums ihren Anfang nahm, deren Gestaltungskräfte sich schon seit dem babylonischen Exil ausgebildet hatten.65 Bevor man hier über Antijudaismus lamentiert, müßte Schleiermachers Sichtweise allerdings erst in die historiographische Landschaft seiner Zeit eingezeichnet werden. Die Karfreitagspredigt »Betrachtung der Umstände, welche die lezten Augenblikke des Erlösers begleiteten« über Lk23, 44–49 betrachtet die Prodigien, die nach den evangelischen Berichten den Tod Jesu begleiteten, und liest an ihnen ab, inwiefern sich hier am konkret-einmaligen geschichtlichen Ort »der große Wendepunkt in der Geschichte der Menschen und in der Entwikklung ihres Geistes«66 ereignete. Die dreistündige Sonnenfinsternis steht symbolisch für das allgemeine Sündenverderben und darüber hinaus auch für jene einmalige Aufgipfelung menschlicher Sündhaftigkeit, die Jesus den Kreuzestod zufügte. Ihr Ende nimmt überbietend die Erzählung vom Regenbogen am Ende der Sintfluterzählung auf: »Das sei ein Zeichen zwischen mir und euch, daß die Verfinsterung der menschlichen Seele jezt gelöst ist und vorüber«.67 Und obgleich die »Bekenner des Lichtes«68 weiterhin um des Reiches Gottes willen zu leiden haben, gilt fortan: »der Sieg des Lichts über die Finsterniß wurde erst in dem Tode des Herrn entschieden, das Reich des Lichtes gegründet, und so das Werk des Herrn vollbracht. Die nun mit ihm begraben werden in seinen Tod, die stehen auch mit ihm auf zu einem neuen Leben [cf. Röm6, 4; M.O.]; die der Finsterniß der Sünde absagen, welche den Fürsten des Lebens an das Kreuz geschlagen hat, in denen verherrlicht sich sein Leben von einer Klarheit zur andern«.69

64 65 66 67 68

Vgl. V. Rede, Erstausgabe 286–291, KGA I/2, 314–316. Vgl. nur Julius Wellhausen, Israelitische und Jüdische Geschichte, Berlin 21895, 375f. SWII/2, 445. Ibd. s. Gen9, 12–15. SWII/2, 445.

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Das Zerreißen des Vorhangs im Tempel ist ein perspektivisch differentes Sinnbild für denselben Geschichtsumbruch. Es symbolisiert nicht allein das Ende der jüdischen Hierokratie, sondern das Ende aller priesterlichen Heilsvermittlung, aller Ungleichheit im Gottesverhältnis. Positiv heißt das »Auf der andern Seite ward dadurch bezeichnet, daß es nun keine Unterschiede und Abstufungen weiter geben sollte unter denen, die Gott in seinem Sohn und durch ihn verehrten, sondern die Zeit sei gekommen, wo jeder in Christo freien Zutritt habe zu Gott [Eph2, 18], wo alle Gläubigen Priester des Höchsten [Gen14, 18] wären, alle von Gott gelehrt [Joh6, 45] und jeder des andern Diener [Mk9, 35 parr] in dem Herrn«.70 Wiederum an Paulus (Röm3, 25) anknüpfend bezeichnet Schleiermacher in antithetischer Überbietung alttestamentlicher Kultterminologie den Gekreuzigten als den »Gnadenstuhl«,71 also als das geistliche Herzstück und Zentrum des Reiches Gottes, in welchem es »keinen verborgenen Wohnsiz Gottes unter den Menschen mehr giebt«72 und deshalb nicht »irgend eine menschliche Vermittlung oder Vertretung [?] Hier ist nichts, was nur Einem gebühren könnte zu schauen! zu diesem Gnadenstuhl kann jeder hinzutreten«.73 Weil Jesus Christus durch sie gekreuzigt worden ist, haben das statutarische Gesetz und der priesterliche Kult ihre Herrschaft verloren. Die Gottentfremdung, die durch beide zwar im Bewußtsein gehalten, aber eben nicht überwunden worden war, ist aufgehoben im Glauben an Wort und Werk Jesu Christi, einem Glauben, der das Gottesbewußtsein in die Vollendungsgestalt des freien, vertrauensvollen Gehorsams hinein überführt. Weil die Weltenwende eben in diesem unlöslichen Zusammenhang von Verhängnis und Schuld stattgefunden hat, darum galt die Vergebungsbitte des sterbenden Jesus am Kreuz auch nicht etwa den römischen Legionären, die als bloße Befehlsempfänger im Status ethischer Indifferenz nicht als Subjekte zurechenbarer Schuld angesprochen werden können, sondern sie galt denen, die die Verantwortung für seinen Kreuzestod 69 Ibd. 70 Ibd. 446. 71 Ibd. – Auf Schleiermachers Verwendung dieses von Paulus christologisch allegorisierten Kultterminus in seiner letzten Karfreitagspredigt aus dem Jahre 1833 (SW II/3, 524–536) hat Johann Anselm Steiger ein waghalsiges Hypothesengebäude errichtet (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, das Alte Testament und das Alter. Zur Geschichte einer überraschenden Alterseinsicht, in: KuD 40/1997, 304–327). Nach überlangem Vorspann, der die bekannten Tatsachen und Ressentiments mit großem rhetorischem Aufwand abspult, diagnostiziert Steiger von 318 an einen Umschwung in Schleiermachers Haltung zum Alten Testament. Das ist insofern gänzlich unplausibel, als Schleiermacher auch an den von Steiger herangezogenen Stellen weiterhin das Alte Testament als Dokument einer durch Jesus Christus überwundenen Religionsstufe deutet. Das aus kitschig-verlogenen Bekehrungserzählungen bekannte Klischeebild des einstmals kühnen Kritikers, der bei herannahendem Lebensende zahm und milde wird, ist zum Verständnis von Schleiermachers Verhältnis zum Alten Testament denkbar ungeeignet. Aber auch Steigers Irrtum ist Irrtum an der Wahrheit, denn er bezeugt auf seine Weise die unleugbare Tatsache, daß Schleiermacher in seinen späten Predigten auf neue Weise die geschichtlichen Konstitutionszusammenhänge der christlichen Religion bedacht hat, was auch sein intensiver Rückgriff auf Paulus, den Ahnherrn aller Geschichtstheologie und -philosophie (s.o. Anm. 61), bezeugt. 72 SWII/2, 446. 73 Ibd. 447.

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hatten, also dem Verräter, den hierokratischen Machthabern und dem wankelmütigen Volk – das »Geheimniß der Erlösung«, so der Titel der nächstfolgenden Predigt, liegt eben in ihrem »Verhältniß zur Sünde und zur Unwissenheit«. Die Unwissenheit, um deretwillen der sterbende Jesus für die Sünder, die sein Geschick verschuldet hatten, um Vergebung bat, war verwurzelt in der allgemein-menschlichen Verkehrung des Gottesbewußtseins, welches das Göttliche gemäß den menschlichen niederen Strebungen imaginiert, statt es als deren kritischen Maßstab anzuerkennen; unverkennbar steht hier Röm1 im Hintergrund: »Ja selbst das auserwählte Volk, welches die ihm allein anvertraute Lehre immer unter sich fortgepflanzt hatte, daß nicht Gott nach irgend einem Bilde des Menschen gedacht und dargestellt werden müsse, sondern der Mensch nach dem Bilde Gottes sich gestalten: selbst dieses war derselben Verkehrtheit nicht entgangen; ebenso lieblos gegen die fremderen Brüder, ebenso streng und hart vergeltend, eben so mehr auf das äußere und scheinende haltend, als auf das innere, wie es selbst war, so dachte es sich auch seinen Gott«.74 Daß all das zutiefst sündig war, zeigte sich erst im Lichte von Wort und Geschichte Jesu. Und so markierte er, der sterbend um Vergebung für seine unwissenden Peiniger bat, das Ende jener Zeit der Unwissenheit. Sicher, der Kampf zwischen den »Freunden des guten«75 und jenen anderen, die ihre Partikularinteressen mit dem Willen Gottes identifizieren und den großen Haufen der Mitläufer auf ihre Seite zu ziehen vermögen, geht fort. Oftmals scheinen die Freunde des Guten auf der Verliererseite zu stehen, aber dann erweist sich doch der Sieg ihrer Feinde als bloß scheinbar. Diese aktualisierenden Aneignungen bezieht Schleiermacher wiederum ganz und gar auf Konflikte innerhalb der christlich bestimmten Welt und Kultur. Hier können die Feinde des Guten, anders als diejenigen, die Jesu Tod bewerkstelligten, keine Unwissenheit mehr als Entschuldigungsgrund für sich geltend machen: »Denn sie alle sind beschienen von dem Licht des Evangeliums, sie alle können sich den allgemeinen Einflüssen desselben nicht entziehen, ihnen allen ist dasselbe Maaß menschlicher Kraft und Größe aufgestellt, sie alle haben das Wort vernommen, Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren, wer es aber um seinetwillen verlieren will, der wird es in ihm finden und behalten. Keiner, welcher der Sünde dient, welcher Jesum zum zweiten Mal kreuziget, indem er sein Werk gefährdet oder sich feigherzig davon lossagt, kann sagen, er wisse nicht, was er thue: denn er weiß es wohl in den ohnfehlbar öfter wiederkehrenden Augenblikken eines helleren Bewußtseins. Der Erlöser hat diese Entschuldigung mit sich ans Kreuz genommen, und sie kann nun nicht mehr gelten für die, welche sich nach seinem Namen nennen«.76 Weil Jesus Christus durch sie gekreuzigt worden ist, haben das statutarische Gesetz und der priesterliche Kult ihre Herrschaft verloren. Die Gottentfremdung, die durch beide im Bewußtsein gehalten, aber nicht überwunden worden war, ist aufgehoben im Glauben an Wort und Werk Jesu Christi, einem Glauben, der das Gottesbewußtsein in die Vollendungsgestalt des freien, vertrauensvollen Gehorsams hinein überführt. – 74 SWII/2, 437. 75 Ibd. 438. 76 Ibd.

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Soweit dieser kurze, exemplarische Erkundungsgang durch Schleiermachers Passionspredigten, ich ende mit einigen Folgerungen.

3. Schleiermachers Passionspredigten sind von Anfang an geprägt durch zwei Betrachtungsweisen: Einmal deutet er das Kreuz Christi als Summe seiner Lebenshingabe und damit als Stiftung einer neuen Lebensmöglichkeit, als Gabe, die allem christlichen Leben als sein Ermöglichungsgrund vorgeordnet bleibt. Im Zusammenhang hiermit, aber auch in deutlicher Unterscheidung davon bringt er Haltungen und Verhaltensweisen des sterbenden Jesus auf seinem Todeswege als Normgestalten christlichen Sichdeutens und Sichverhaltens zum Zuge. Ohne damit die Unterschiede zu leugnen, läßt sich doch feststellen, daß bei Schleiermacher damit die reformatorische Unterscheidung zwischen der Betrachtung Jesu Christi als sacramentum und als exemplum auf ihre Weise fortwirkt. In allen seinen Passionspredigten finden sich jeweils beide Perspektiven. In den frühen herrscht der Beispielaspekt deutlich vor, während in den späteren der Gabeaspekt erheblich mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Art und Weise, wie Jesu jüdische Zeitgenossen und Gegenspieler in den Predigten zur Sprache kommen, ist hiervon unübersehbar gesteuert. Wo Jesu Weg ans Kreuz als Beispiel christlichen Lebens in Betracht kommt, da verblassen die einmalig-geschichtlichen Gestalten der Gegner zu überzeitlichen psychologischen Typen. Die Konfliktstrukturen, die in Jesu Leidensgehorsam und auf seinem Weg ans Kreuz erkennbar werden, transponiert Schleiermacher regelmäßig in die christliche Kulturwelt bzw. in die christliche Kirche hinein. Anders ist es in den Zusammenhängen, wo Schleiermacher das Leiden und Kreuz Christi als geschichtlich-einmaligen Ursprung christlichen Glaubens, Lebens und Denkens thematisiert. Hier skizziert er Bilder des damals zeitgenössischen Judentums. Diese sind allerdings sehr sorgfältig so gestaltet, daß sie sich gegen jede Verallgemeinerung als nationale oder religiöse Stereotypen sperren. Hieraus folgt ein drittes Charakteristikum: Das Judentum seiner eigenen Zeit kommt in Schleiermachers Passionspredigten schlechterdings nicht vor. Die Ursachen hierfür liegen in den Grundschichten von Schleiermachers Denken. Einmal ist auf Schleiermachers Auffassung von Wesen und Aufgabe der Predigt hinzuweisen: Für Schleiermacher ist die Predigt kein mit göttlicher Autorität vorgetragener allgemeiner Kommentar zur Zeit- und Weltlage, sondern zuerst und zuletzt ein Akt der religiösen Kommunikation in und mit der Gemeinde, die ihrerseits durch die gemeinsame Gestaltung des religiösen Bewußtseins konstituiert und begrenzt ist.77 Menschen, die an der Gemeinschaft des christlich-frommen Selbstbewußtseins nicht teilhaben, sind keine Teilnehmer dieses Kommunikationsgeschehens, und darum kann ihr Glauben, 77 Vgl. dazu Wilhelm Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988, 201–224.

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Denken und Verhalten auch nicht im eigentlichen Sinne Gegenstand eines der wichtigsten Akte der christlich-religiösen Kommunikation, der Predigt, sein. Die jüdischen Zeitgenossen Jesu bilden hier insofern eine Ausnahme, als sie in die bleibend maßgebliche Ursprungsgestalt und -geschichte der christlichen Religion mit hineingehören, sofern das Tun und Ergehen Jesu Christi als geschichtlicher Ursprung des die Gemeinde konstituierenden religiösen Bewußtseins ohne sie unverständlich bleiben muß. Das Judentum der Gegenwart hingegen könnte für Schleiermacher nur dann Gegenstand der Predigt werden, wenn es die Gemeindeglieder als Christen vor spezifische Fragen und Aufgaben stellte, und genau mit dieser Problemkonstellation sah sich Schleiermacher offenkundig nicht konfrontiert. In dieser Zentrierung und Begrenzung von Inhalt und Aufgabe der Predigt spiegeln sich sodann beispielhaft auch der erkenntniskritische Reflexionsgrad und die innere Differenziertheit von Schleiermachers Theologiebegriff. Die Theologie ordnet, durchdenkt und systematisiert die Inhalte des christlichfrommen Selbstbewußtseins unter den Vorgaben und Bedingungen einer bestimmten geschichtlich gegebenen kirchlichen und allgemein-kulturellen Situation – nicht mehr und nicht weniger. Über geschichtliche, auch über religionsgeschichtliche Sachverhalte kann die Theologie keine Aussagen ausbilden, welche in ihrer spezifischen Grundlage, dem christlichen Bewußtsein, verwurzelt sind und zugleich den Anspruch auf Plausibilität außerhalb des Bereiches des christlichen Bewußtseins erheben könnten. Spezifisch theologische Aussagen sind immer Sätze über Inhalte und Formationen des christlichfrommen Selbstbewußtseins und daher gültig nur für solche Menschen, die des christlich geprägten Gottesbewußtseins teilhaftig sind; für Nichtchristen haben sie lediglich die Bedeutung von Selbstzeugnissen einer Fremdreligion. So kann die Predigt, die als christlich-religiöse Rede im Gottesdienst der Gemeinde ihre Hörer in spezifischer Weise als Christen anspricht und den spezifisch christlichen Standpunkt einnimmt und reflektiert, die jüdische Religion als eine überwundene Stufe der Religionsgeschichte bezeichnen. Sie spricht damit ein Urteil aus, das auf dem Standpunkt des christlichen Bewußtseins unumgänglich ist. Aber es ist eben auch allein auf diesem Standpunkt gültig: Es wäre ja völlig absurd, wollte der Christ dem Juden anmuten, sein eigenes Judesein unter spezifisch christlichen Prämissen zu betrachten und zu beurteilen, vielmehr hat der Christ als Christ die spezifisch jüdische religiöse Selbstauslegung des Juden schlicht zu akzeptieren und zu respektieren. Anders verhält es sich jedoch, wenn die Theologie im Zuge ihrer Arbeit an der Selbstverständigung aus methodischen Gründen ihren spezifisch christlichen Standpunkt suspendiert und sich erkennend und argumentierend auf dem Gebiet des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins bewegt. Sie betrachtet dann das Christentum wie das Judentum lediglich von außen und kann christliche Überlegenheitsansprüche lediglich als Gegebenheiten konstatieren, aber weder verifizieren noch falsifizieren. Wie gewissenhaft Schleiermacher diese methodischen Restriktionen befolgt hat, läßt sich beispielhaft an der Glaubenslehre ablesen. In den religionstypologischen und -geschichtlichen Ausführungen in der Einleitung ist alles heilsgeschichtliche und eschatologische Denken absent. Für die religionsphilosophische Wesensbestimmung des

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Christentums finden geschichtstheologische Konstruktionen keine Verwendung, und so kommen Christentum und Judentum schlichtweg als Religionsindividuen derselben Art und Stufe nebeneinander zu stehen.78 Daß in dem Hervorgang des christlichen Glaubens aus seiner Mutterreligion eine Weltenwende stattgefunden hat, ist eine Aussage, die nur in der Perspektive des spezifisch christlichen Bewußtseins ihr Recht hat. In der Einleitung der Glaubenslehre, in der ja diese Perspektive ausdrücklich suspendiert ist, hat sie keinen Platz. Anders verhält es sich dann durchgängig in der materialen Dogmatik, die in wissenschaftlicher Form die Selbstauslegung der christlichen Religion in ganz spezifischer, reflektierter Standpunktbindung vollzieht. Und folgerichtig sprechen die eschatologischen Andeutungen der Glaubenslehre durchaus davon, daß das christliche Bewußtsein mit Notwendigkeit einen Zustand imaginiert, in welchem »das Christenthum über das ganze menschliche Geschlecht verbreitet ist«,79 also am Ende der Geschichte die eine, einzige Menschheitsreligion ist. Die an den christlichen Glauben selbst gebundene partikulare Perspektive der Predigt und der materialen Dogmatik vermag also keine allgemeingültigen Wahrheiten etwa über geschichtliche oder religionsgeschichtliche Sachverhalte auszuarbeiten, sondern sie kann lediglich die Deutungen explizieren, welche diese Sachverhalte im Lichte des christlichen Glaubens vorstellen. Und weil diese Deutungen Aussagen sind, die vom Standpunkt des christlich frommen Selbstbewusstseins aus entworfen werden, können sie lediglich als dessen Explikationsgestalten Geltung beanspruchen und um freie Übereinstimmung werben.80 78 Vgl. Glaubenslehre, Erstauflage (im folgenden zit. als CG1) §15, KGA I/7.1, 49–54. Daß Schleiermacher in diesem Zusammenhang behauptet, in der christlichen Religion sei der Monotheismus am reinsten ausgeprägt (CG1 §15,4, KGA I/7.1, 52), spricht nicht gegen die im Text vertretene Interpretation, denn es geht ja nur um graduelle, dem neutralen Blick von außen sich zeigende Differenzen. Daß in allen Religionen Wahrheit waltet und die Differenzen zwischen ihnen immer nur graduell sind, führt Schleiermacher CG1 §14,3, KGA I/7.1, 48, aus. Vgl. hierzu auch Wilhelm Gräb, Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Spätwerk Schleiermachers [GTA 14], Göttingen 1980, 93–97. 79 CG1 §173,1, KGA I/7.2, 313. 80 Die hier am konkreten, für Schleiermacher selbst wohl nicht eben zentralen Einzelproblem sichtbar werdenden Strukturen sind charakteristisch für die in sich differenzierte Struktur und Gestalt seines Geschichtsdenkens, wie es Wilhelm Gräb ebenso umfassend wie eingehend rekonstruiert hat; vgl. Humanität und Christentumsgeschichte (wie Anm. 78). Allgemein-humane Plausibilität beansprucht die Strukturtheorie des geschichtlichen Lebens, welche die Philosophische Ethik entfaltet. In ihr ist jedoch ausdrücklich kein Raum für die geschichtskonstitutive Kontingenz, also für das Auftreten geschichtsmächtiger Individuen. Materiales Geschichtsdenken vollzieht sich im Unterschied hierzu eben immer in den Wirkungsbereichen solcher Kontingenzen, ist also in unaufhebbarer Begrenzung seinerseits geschichtlich-standpunktbezogen, und das gilt insbesondere für den von Schleiermacher entfalteten christologischen Geschichtsbegriff, dessen Dreh- und Angelpunkt die in Jesu Wort und Weg geschehene Weltenwende ist. Diese Sichtweise der Geschichte ist nicht mehr und nicht weniger als eine Extrapolation des spezifisch christlich-frommen Bewußtseins in einer bestimmten historischen Gestalt: »Der christologische Geschichtsbegriff rekonstruiert den geschichtlichen Selbstbezug des Bewußtseins auf die Person Jesu aus dessen sich im Erlösungswerk manifestierender produktiver Geschichtsbildung. Gleichwohl bleibt seine Entfaltung selber wieder an die Reichweite der

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Das dürfte der Grund dafür sein, daß es Schleiermacher wohl nie in den Sinn gekommen wäre, im Stil protestantischer Israel-81 bzw. gar Abrahamstheologien82 oder nach der Methode katholischer Religionstheologien, die sich am Konzilsdekret »Nostra aetate«83 orientieren, gleichsam vom Standpunkt Gottes aus Global- oder Partikulartheorien der Religionsgeschichte zu entwerfen, die einerseits auf christlich-dogmatischen Grundlagen beruhen und anderseits zumindest nichts gegen den Eindruck unternehmen, als wollten sie Andersgläubigen die Mühe der Selbstdeutung abnehmen. Daß Schleiermacher offenkundig von der Kanzel über jüdisches Glauben und Leben seiner Gegenwart nichts zu sagen hatte, mag als Defizit erscheinen. Betrachtet man dieses Defizit jedoch so, wie ich es eben angedeutet habe, dann erweist es sich als erheblicher Vorzug an erkenntniskritisch wohlbegründeter spezifisch theologischer Bescheidenheit.

geschichtlichen Selbstauslegung und tätig-geschichtlichen Selbstdurchsetzung christlicher Frömmigkeit gebunden. [...] das christologische Prinzip, durch das die Totalität des Weltzusammenhanges in die Bewegung einer Geschichte versetzt wird, die vom ersten zum zweiten Adam verläuft, ist an sich selber betrachtet die Aussage darüber, daß sich das prinzipielle Faktum urbildlichen Gottesbewußtseins in dem geschichtlichen Einzelwesen der Person Jesu verwirklicht hat. Denn daraus resultiert sowohl die universale Reichweite seiner produktiven Wirksamkeit wie auch die Einschränkung darauf, daß es sich nur durch die Selbstauslegung individueller Subjekte faktisch in Geltung setzen kann« (ibd. 150). 81 Vgl. die material- und perspektivenreiche kritische Auseinandersetzung von Notger Slenczka, Jesus Christus und der Israelbund. Bemerkungen zur neueren Israel-Theologie, in: Ders., Der Tod Gottes und das Leben der Menschen, Göttingen 2003, 110–122. 82 Vgl. Berthold Klappert, Abraham eint und unterscheidet, in: RheinReden. Texte aus der Melanchthon-Akademie Köln 1, Köln 1996, 21–64. 83 LThK2 – Ergänzungsbd. II, Freiburg u.a. 1967, 488–495.

»Erwachsen« oder »kindlich«? Religionspädagogische Aspekte des Verhältnisses Christentum /Judentum bei Schleiermacher Christiane Ehrhardt Die Entdeckung in einer unveröffentlichten Nachschrift, dass Schleiermacher 14jährigen Konfirmandinnen erklärt habe, »[. . . ] als wir noch Kinder, d.h. unmündige Menschen waren, hingen wir den Gesetzen des Alten Bundes an«, provoziert die Auseinandersetzung mit den Begriffen »Kind« und »unmündig«. Dabei steht die gedankliche Verbindung von »Kind« mit den »Gesetzen des Alten Bundes« zur Debatte genau wie der pädagogische Kontext, dem diese Äußerung entstammt. Wenn Schleiermacher die Begriffe »erwachsen« und »mündig« als Gegenspieler zu »kindlich« und »unmündig« aufstellt, arbeitet er mit Metaphern, die einen menschlichen Entwicklungsstand ausdrücken. Dabei übernimmt er allein den Reifeaspekt aus den Begriffen »kindlich« und »erwachsen«. – Wie überzeugend ist diese Metaphorik, mit der eine Begrifflichkeit aus der menschlichen Entwicklung ihre Anwendung auf dem Gebiet der Religion findet, wo sie der Unterscheidung von jüdischer und christlicher Religion dient, um schließlich in einem konkreten pädagogischen Zusammenhang – in der Praxis von Schleiermachers eigenem Konfirmandenunterricht – wieder aufzutauchen? Von dieser Praxis gibt die eingangs erwähnte, noch unbekannte Nachschrift aus dem Konfirmandenunterricht, den Schleiermacher 1825/26 in einer Mädchengruppe erteilte, ein eindrückliches Bild.1 Zu gewinnen ist dabei ein Eindruck aus einer bestimmten Perspektive, denn ich habe den Text daraufhin angesehen, wie Neues und Altes Testament, christliche und jüdische Religion thematisiert werden. Aufgegriffen wird also nur ein Aspekt eines inhaltlich umfangreichen Konfirmandenjahrs. Es wird zu zeigen sein, dass dieser Aspekt allerdings von besonderer Bedeutung ist, da sich hier Unterrichtsgegenstand und religionspädagogischer Ansatz wechselseitig beeinflussen. Für das Verständnis des im Konfirmandenunterricht artikulierten Verhältnisses von jüdischer und christlicher Religion ziehe ich im zweiten Teil meines Beitrags die Reden »Über die Religion« gleichsam zu Rate. Sie sind an dieser Stelle insofern zum Ratgeber 1

Ich danke Herrn Prof. Dr. Dr. Günter Meckenstock, dass er mir diese Nachschrift ans Herz gelegt hat, die hier zum ersten Mal vorgestellt wird. Sie ist aufbewahrt in der Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Depositum 42a (Schleiermacher-Archiv), Mappe 24 (= Nachschrift Wedel). Zur eingangs zitierten Textstelle vgl. die Notiz vom 14.11.1825, 136.

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prädestiniert, da Schleiermacher – so lese ich seine Schrift – mit dem Begriffspaar »kindlich«/»erwachsen« nicht nur das Verhältnis von Judentum und Christentum in den Blick nimmt. Meine These ist, dass er vielmehr die Polarität von »kindlich« und »erwachsen« entwirft, um in der letzten Rede seinen Bildungsbegriff zu formulieren. Dass die Ausführungen »Über die Religionen« der fünften Rede nicht praktisch belanglos sind, wird das Beispiel aus dem Konfirmandenunterricht zeigen. Bietet die erhaltene Nachschrift doch den Glücksfall, dass Schleiermachers Pädagogik in der Anwendung betrachtet werden kann. Die Untersuchung seines Unterrichts schließt die kritische Distanz zu demjenigen ein, der diesen Unterricht protokolliert hat, denn Standpunkt und Interesse des Schreibers sind mit dessen Aufzeichnungen verflochten. Bevor die Perspektive des Schreibers zum Thema wird, gilt es zunächst, einen (freilich akzentuierten) Eindruck von den Konfirmandenstunden zu gewinnen, die von April 1825 bis Mai 1826 – zweimal in der Woche – die 14-jährige Jeanette Wedel besucht.

1. Konfirmandenunterricht 1825/26 1.1. »Unterhaltung über Religion« mit Schleiermacher Jeanette erlebt einen Konfirmandenunterricht, in dem nicht etwa streng nach Lehrbuch vorgegangen wird oder der Katechismus Inhalt und Methode dominiert, sondern sie nimmt an einem Unterrichtsgespräch teil, das sie in den selbstständigen Umgang mit biblischen Texten einführt. Sie lernt dabei einzelne Verse genau kennen und in ihrem Kontext verstehen und liest des Öfteren ganze Kapitel aus der Bibel, die in der Unterrichtsgruppe erörtert werden. Am Ende des Jahres wird sie das Glaubensbekenntnis gut kennen – zwar noch nicht auswendig, denn darauf kommt es ihrem Lehrer nicht an, – aber sie wird sich mit der Entstehung und den biblischen Bezügen auseinandergesetzt und nach der Bedeutung für ihr eigenes Leben gefragt haben. Gleich in der ersten Stunde heißt es: »Der Zweck unserer Unterhaltung ist, mit der Lehre Christi bekannt zu machen, die wir an die Artikel unseres Glaubensbekenntnisses anknüpfen.«2 Zu dieser allwöchentlichen Unterhaltung über Religion gehört, dass Jeanette und ihre Freundinnen dazu aufgefordert werden, die einzelnen neu eingeführten Teile und Artikel des Glaubensbekenntnisses an biblischen Aussagen zu überprüfen und umgekehrt. Dazu schlagen sie die Paulus-Briefe auf; Paulus steht deutlich im Mittelpunkt. Ihr Wissen über Paulus beziehen die Konfirmandinnen aus der Apostelgeschichte. Diesen neutestamentlichen Text zieht ihr Lehrer am häufigsten heran. Sie wissen, dass er montags und mittwochs direkt aus der Universität, wo er von 9 bis 10 Uhr schon den Studenten die Apostelgeschichte vorgetragen hat,3 zu ihnen in die Kon2 3

Nachschrift Wedel, 3. Vgl. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen (SchlA 11), Berlin/New York 1992, 321f. Im Sommersemester 1826, dessen Beginn sich mit diesem Konfirmandenkurs überschneidet, liest Schleiermacher morgens die »Briefe

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firmandenstunde kommt. Es ist daher verständlich, dass ihm im Konfirmandenkurs am Vormittag die Apostelgeschichte noch besonders vor Augen steht. In der zweiten Unterrichtsstunde lernen sie, dass die Bibel zwar aus dem Neuen und dem Alten Testament besteht, doch heißt es: »Für uns ist das Neue Testament die Hauptsache. Wegen des alten Testaments können wir unbekümmert bleiben«.4 Die Konfirmandinnen beschäftigen sich an erster Stelle mit der Frage, wie Paulus Christ geworden sei. Er fing an zu »schwanken im Judenthume«, hören sie und zu seiner Bekehrung sei er gekommen, »weil gegen das Judenthum sich Zweifel in ihm erhoben und an die Stelle trat Ueberzeugung von Christi«.5 Die Interpretation des 9. Kapitels der Apostelgeschichte zieht sich als roter Faden durch das Konfirmandenjahr. – Wer damals Christ werden wollte, der musste seine Religion verlassen, er musste überzeugt sein, das Christentum sei die »bessere« Religion.6 Juden – gleichermaßen wie Heiden – ließen sich taufen, die Geschichten des Alten Testaments lässt man dabei hinter sich: In Jeanettes Kopf ist das alles eins. Inzwischen wissen die Konfirmandinnen, dass das Glaubensbekenntnis mit dem Bekenntnis des Glaubens an Gott beginnt und dass es darum geht, das Eigentümliche dieses christlichen Bekenntnisses zu verstehen. Dazu überlegen sie, wie man sich einen Vater vorzustellen habe und thematisieren die Unterschiede in den Religionen. Während ein Christ mit »Vater« den Begriff der ersten Liebe ausdrücke, würden zwar auch die Heiden Gott den »Vater der Menschen« nennen, dennoch sei ihr Begriff des Wortes »Vater« ein anderer: »Die Heiden setzten ihre Kinder aus; da kann also nicht Liebe seyn, wie wir sie uns denken; ihr Begriff von Vater muß demnach verschieden seyn von dem unsrigen, mithin auch der Begriff von Gott. Die Juden sehen in Gott nur einen Herrscher, einen Richter, zornig und streng. Auch diese können unter Vater nicht die reine Liebe denken, da sie sich Gott sonst anders hätten denken müssen, indem sie Ihn Vater nennen. In dem Worte: Ich glaube an Gott den Vater, des christlichen Glaubensbekenntnisses liegt also das Bekenntniß, daß wir als Christen Vater und Gott anders denken müssen, wie Juden und Heiden denken.«7

Nicht ein Machtverhältnis, sondern Liebe bestimme im Christentum die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Der Unterschied zwischen einem liebenden Vater und zum Beispiel einem Dienstherrn leuchtet den Schülerinnen ein. »Die Juden und Heiden dachten sich Gott nur als Herren. Herr und Liebe braucht man nicht immer zusammen zu denken. Es gibt gute und schlechte Herren. Herr ist einer vermöge seiner Macht«.8 Die Macht erhält er sich durch Gesetze, die es unter Androhung von Strafe 4 5 6 7 8

des Paulus an die Thessalonicher und Galater«. Nachschrift Wedel, 5. Nachschrift Wedel, 14f. Vgl. Nachschrift Wedel, 13. Nachschrift Wedel, 44f. Nachschrift Wedel, 73. Inhaltlich parallel notiert sich Schleiermacher in seinem Tagebuch, was er montags in einer Konfirmandenstunde behandelt hat: »[. . . ] daß Gott uns um Christi willen liebt. Sonst wäre auch die jüdische Frömmigkeit richtiger als die christliche. Wenn sich die Juden einen König gedacht hatten der sich keiner Furcht bedient, so wäre der Unterschied nichts«. An einem

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zu befolgen gilt. »Diejenigen, welche Strafe für nothwendig halten, berufen sich auf das alte Testament: wer Menschenbluth vergießt, dessen Bluth soll wieder vergossen werden, heißt es dort. Und das nennen sie Gerechtigkeit. Es war aber nur ein Gesetz für einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand. Moses gab es einem rohen, ganz verwilderten Volke; aber es ist nicht anwendbar in dem allgemeinen Verhältniße zwischen Gott und Menschen.«9 Dass Paulus Befreiung von den Mosaischen Gesetzen lehre, besprechen sie, und dass mit dem Neuen Testament die Erlösung an die Stelle des Gesetzes tritt. Damit sind sie beim zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses angekommen und müssen zunächst einmal das Wort »Erlösung« klären. Ihr Lehrer erläutert: »Erlösen heißt befreien, die Last erleichtern oder wegnehmen, die einen drückt«. Sie versuchen zu verstehen, was es heißt: »Christus ist unser Erlöser.« Wovon kann Christus erlösen? Sie erhalten die Erklärung: »es war die Sünde, die uns belastete und von welcher Christus uns erlöste. Sünde ist die Gebote Gottes übertreten; wer dieses thut, fühlt sich unglücklich, und dieses Unglück möchte jeder gern los seyn. Das Unglück ist entweder inneres oder äußeres; das innere ist die Schuld, das Bewußtseyn, anders getan zu haben als man sollte. Das äußre Unglück ist nicht in der Erlösung begriffen.«10 Sie halten sich eine Weile dabei auf, dieses Äußere und Innere zu unterscheiden. Dem Äußeren, Weltlichen habe Christus sein geistiges Reich entgegengesetzt. Man könne Christus als einen »geistigen König« bezeichnen: »Christus sprach auch von seinem Reiche, aber nicht wie die Juden es gemeint, von einem weltlichen – sondern von einem geistigen«.11 Die Befreiung vom Gesetz durch Christus finden sie im Galaterbrief treffend beschrieben. Dort heißt es: »[. . . ] da wir Kinder waren, waren wir gefangen unter den äußerlichen Satzungen.« Ihr Lehrer definiert: »Im Allgemeinen wird unter Kind der Mensch in seiner Unmündigkeit verstanden«. So lässt sich zusammenfassen: »[. . . ] als anderen Montag hält er nach der Unterrichtsstunde fest: »Ueber den Unterschied des alten und neuen Testaments. [. . . ] Zweideutigkeit der alttestamentlichen Sittenlehre wegen Einmischung bloßer Erfahrungssäze und wegen Mangels der allgemeinen Liebe.« – Schleiermachers Konfirmandenunterricht ist nur unter Berücksichtigung seiner (unveröffentlichten) Tagebücher zu rekonstruieren: Meist hat er wenigstens die Unterrichtstermine notiert, die Namen seiner Schülerinnen und Schüler und oftmals die Berufe deren Väter. Neben Notizen wie: »Frau Eytelwein bringt ihre Tochter zum Unterricht«, oder: »H. Geh. Sekretär Meyer vom Kriegsministerio meldet zum künftigen Rel. Unterricht seine 14jährige Tochter Marie welche die Schubarthsche Schule besucht«, trägt er auch ein: »Katechisation. Ob der heilige Geist ein Anderer geworden ist im Neuen Testament als im alten.« Die inhaltlichen Eintragungen nehmen ab den späten Zwanzigerjahren auffallend zu und sind in den letzten Lebensjahren Schleiermachers bemerkenswert ausführlich. (Die Textbeispiele sind im Schleiermacher-Nachlass 442, 453 und 447 zu finden, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften). 9 Nachschrift Wedel, 174. 10 Nachschrift Wedel, 17f. 11 Nachschrift Wedel, 155. Folgende Begriffspaare zeigen sich hier (der jeweils zuerst genannte Begriff bezieht sich auf »erwachsen«, der zweite auf »kindlich«): freiheitlich/gesetzlich, lebendig/mechanisch, innerlich/äußerlich, geistig/weltlich, vernünftig/sinnlich, unvergänglich/vergänglich, neu/alt, universal/partikular, liebevoll/zornig und streng.

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wir noch Kinder waren, d.i. unmündige Menschen waren, haben wir den Gesetzen des Alten Bundes angehangen; da kam der Erlöser«.12 1.2. Ein erwachsener Schüler: Johann Heinrich Wedel Derjenige, der das aufgeschrieben hat, ist der Vater von Schleiermachers Konfirmandin Jeanette. Woche für Woche hat er über die Konfirmandenstunden eines Jahres Buch geführt, die Zusammenfassung der einzelnen Stunden mit genauem Datum versehen, in bemüht deutlicher Handschrift auf zum Teil wohl eigenhändig liniertem Papier, auf bald 300 Seiten. Seinen Namen hat der gewissenhafte Protokollant in roter Tinte auf dem Deckblatt hinterlassen: Johann Heinrich Wedel. Schleiermacher muss ihm erlaubt haben, seine Tochter regelmäßig in den Konfirmandenunterricht zu begleiten. Wedel ist Kaufmann, 53 Jahre alt. Er nimmt sich die Zeit, zweimal in der Woche mitten am Vormittag von 11 bis 12 Uhr an das apostolische Glaubensbekenntnis herangeführt, mit neutestamentlichen Texten vertraut zu werden und die beeindruckende Gestalt des bekehrten Paulus kennen zu lernen. Wedel wird sich möglichst ausführliche Notizen gemacht haben – Grundlage für seine Reinschrift, die er als ein ganz besonderes Geschenk seiner Tochter zur Konfirmation überreicht. Ist dieses Geschenk auch für die Tochter bestimmt, so gibt es doch Aufschluss darüber, was der Vater aus Schleiermachers Konfirmandenunterricht mitgenommen hat. Das glücklicherweise gut erhaltene Manuskript ist als Ergebnis dessen zu lesen, was er in diesem guten Jahr gelernt hat, dieser erwachsene Schüler, dessen erster Unterricht »in der Lehre des Christenthums« zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre zurückliegt: Der Schreiber des Manuskripts ist der zum Christentum konvertierte Isaak Hirsch Wedel, der im März 1806 die 18-jährige Hanna, Tochter des Berliner Bankiers Lekisch Simon, geheiratet hat. Das junge Ehepaar wandte sich im Jahr seiner Eheschließung mit der Absicht zur Konversion an Pfarrer Stegemann in der Berliner Jerusalemsgemeinde und wurde im Dezember 1806 getauft. Dies ist nachzulesen in den Kopien inzwischen verloren gegangener Kirchenbücher, die in den 30er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts im Interesse der berüchtigten »Reichsstelle für Sippenforschung« (so der mit dem Hakenkreuzstempel des NS-Staats versehene Aufdruck auf den Kopien) angefertigt worden sind – eine zwiespältige Freude, auf einer solchen Grundlage die Daten des Zeugen von Schleiermachers Konfirmandenunterricht im heutigen Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin recherchieren zu können. – Dort ist zu lesen: »Mit Erlaubniß eines Königlich Preußischen Ober-Consistorii, und eines hiesigen Königlichen Policey-Directoriums, ist der hiesige Kaufmann Herr Isaac Hirsch Wedel, jüdischer Abkunft, seinem Wunsche gemäß in der Lehre des Christenthums unterrichtet, und nach vollendetem Unterrichte am 7ten Siebenten December des Jahres nach Christi Geburth Eintausend Acht-Hundert und Sechs 1806 von Herrn Prediger Stegemann im Hause getauft worden, und erhielt bey der Taufe die Nahmen Johann Heinrich Wedel.«13 12 Nachschrift Wedel, 136 (zu Gal 4, 1–6). 13 Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin, 1136/1.

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Als mittlere von fünf Töchtern der Wedels ist die Geburt von Jeanette Auguste Wilhelmine am 20. Januar 1811 verzeichnet, ihre Taufe am 10. Februar desselben Jahres.14 Dass Jeanette am 6. Mai 1826 von Schleiermacher konfirmiert worden ist, wissen wir durch die Aufzeichnungen ihres Vaters. Wenn dieser von der »thätigen Liebe« spricht, mit der er seiner Tochter das besondere Konfirmationsgeschenk gefertigt habe,15 so schließt dies auch die Sprachschwierigkeiten ein, mit denen Wedel zu kämpfen hat, der im Privatleben wie im Geschäftsleben Jiddisch gesprochen haben wird. Im Unterschied zu seinen Töchtern war wohl für ihn Deutsch eine Fremdsprache. Die Transkription16 und notwendige kritische Kommentierung seines Manuskripts stellt eine große Herausforderung dar, da der Text zahlreiche Fehler unterschiedlicher Art enthält. Doch die von Wedel hinterlassene Erinnerung an »Lehr’ und Lehrer« mit dem Titel »Aus dem Religionsunterrichte des Herrn Dr. Fr Schleiermacher« bietet ein unersetzliches Beispiel für Schleiermachers erziehungstheoretische Leitfrage »Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?«,17 insofern hier der Konfirmandenunterricht, den die Tochter erhält, zugleich zum Unterricht für den Vater wird, der das, was er gelernt hat, an die Tochter weitergibt. Dass in Wedels Manuskript bestimmte Gedanken akzentuiert sind, ist dem Erkenntnisinteresse des Verfassers geschuldet, der seine eigene Konversion (und die seiner Familie) zu rechtfertigen sucht. Er möchte die Argumente, die für den Übertritt sprachen, noch einmal hören – von einer Autorität – und seine Entscheidung bestätigt wissen. Wedel steht unter einem eigenen Rechtfertigungsdruck und möchte sehen, ob seiner Tochter in diesem Unterricht etwas Gutes geschieht. Hier löst sich jemand aus der jüdischen Religion und bringt genau das pointiert zur Sprache. Dieser Blick auf den Schreiber schützt davor, die Formulierungen der Konfirmandennachschrift womöglich Schleiermacher selbst in den Mund zu legen. Er schützt davor, Schleiermachers religionspädagogische Bemühungen ohne die gebotene Distanz gegenüber deren Überlieferungszusammenhängen zu rezipieren. Vom Verlust einer solchen Distanz zeugt ein dunkler Strang der Rezeption, der die »vaterländischen Pflichten evangelischer Erzieher« in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit Schleiermacher hochzuhalten sucht: »Die Konsequenz des Schlei14 Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin, 1137/1. 15 Wedel hat seinem Geschenk folgende Widmung vorangestellt (Nachschrift Wedel, 1): »Meiner geliebten Tochter Auguste Wilhelmine Jannette. Am Tage ihrer Einsegnung den 6ten May 1826. – Heute schließt mit seinem Segen, dein würdig berühmter Lehrer, den Unterricht welchen du über den Wichtigsten Gegenstand des Lebens zu genießen das Glück gehabt. Was du in seinen Unterhaltungen gehört, findest Du in gedrängter Kürze hier wieder. Mit Sorgfalt habe ich gesammelt, und übergebe es dir mit Inniger Liebe. Es soll dir für die Lebenszeit, eine Erinnerung bleiben an Lehr’ und Lehrer, an die thätige Liebe deines Vaters an die zärtliche Liebe deiner Mutter und deiner Schwestern. An die schöne Blüthenzeit deines Lebens soll es dich erinnern und immer das Gefühl lebendig in dir erhalten, das heute am Altare dich bewegt damit der Glaube thätig sei, in deiner Liebe zu Gott zum Nächsten und zu dir selbst. Johan Heinrich Wedel.« 16 Wolfgang Virmond und Andreas Reich haben sich etwa um 1990 mit der Texterschließung befasst. 17 Friedrich Schleiermacher, Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826 (Nachschriften), in: ders., Erziehungslehre. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Carl Platz (Schleiermacher: Sämmtliche Werke III/9), Berlin 1849, 7.

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ermacherschen Standpunktes stellt auch unserer theologischen Gegenwart neu die Frage nach der Berechtigung des AT in der Konfirmandenstunde und gibt eine klare und rückhaltlose Begründung für das tatsächliche Verhalten wohl der meisten Geistlichen, die sich im Konfirmandenunterricht lediglich auf das NT stützen«. Diese Positionsbeschreibung aus dem Jahr 1934 entstammt der bis heute einzigen umfänglichen Darlegung zu Schleiermachers Religionspädagogik.18

2. Die Reden »Über die Religion« 2.1. »Kindlich« Die Parallele zu dem in der Nachschrift aus dem Konfirmandenunterricht skizzierten Begriff »Kind« im Sinne von »weniger entwickelt« und »unmündig«, daher äußerer Regeln bedürftig, ist in den Reden »Über die Religion« zu finden, wenn Schleiermacher den »schönen kindlichen Charakter« der jüdischen Religion beschreibt.19 Der entscheidende Aspekt in der Diskussion dessen, was »kindlich« oder »erwachsen« sei, ist die Abgrenzung der Religion von jeglichen moralischen Ansprüchen – insbesondere im Kontext religiöser Bildung. Das Judentum steht beispielhaft für die in den »Reden« zurückgewiesene Vermengung der Religion mit Moral und Politik. Spricht sich Schleiermacher doch gegen die künstliche Verflechtung jener Bereiche aus und betont sogar den »schneidenden Gegensaz«, in dem sich die Religion gegen Moral (und auch gegen Metaphysik) befinde.20 Mit dieser Grenzziehung entwirft er eine Hauptthese seiner »Reden« unter Aufnahme und Veränderung von Kants Überlegungen zur Religionskritik. In der Vermischung und absichtsvollen Verwechslung von Religion mit Metaphysik und Moral erblickt er die Ursache für den schlechten Zustand, in dem sich die Religion befindet, und die Ursache für das in die Irre führende Religionsverständnis der Gebildeten. Er kritisiert jeden instrumentellen Gebrauch von Religion, konkret die Auffassung von Religion als einer Stütze für Sittlichkeit. Religion sei nicht dafür da, »Recht und Ordnung in der Welt zu erhalten«.21 Sie lässt sich nicht in den Dienst von Moral und Politik nehmen. Wenn Schleiermacher bei seiner Beschreibung der Geschichte des Judentums von »Corruption« spricht, meint er damit, dass in der geschichtlichen Konstitution des Judentums Religion und Politik stets miteinander vermischt worden seien. Die Anschauung des Universums sei überlagert und somit letztlich »verschüttet« worden von politi18 Erwin Wissmann, Religionspädagogik bei Schleiermacher (SGNP 15), Gießen 1934, 172. 19 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u.a. (= KGA), Bd. I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 314. In den späteren Auflagen der »Reden« heißt es ausdrücklich: »mich reizt des Judenthums schöner kindlicher Charakter«; KGA I/12, 282. 20 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion (s.o. Anm. 19), 211. 21 AaO. 202.

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schen und moralischen Normen. Dass der »Judaismus« eine »todte Religion« sei,22 folgt für Schleiermacher notwendig aus seiner Affinität zum Politisch-Moralischen. Diese Affinität liege in der dem Judentum eigenen religiösen Anschauung begründet: »Die überall hindurchschimmernde Idee« in der jüdischen Religion sei »Vergeltung«, als Erwartung der »Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche«.23 Das einzelne Endliche, der Mensch, muss diese Reaktionen des Unendlichen als willkürliche Handlungen erleben, denen er hilflos ausgeliefert ist. Sie entziehen sich seiner Einflussnahme und seinem Verständnis. Gott wird als fernes Gegenüber erfahren, mit dem eine Versöhnung oder gar Vereinigung nicht möglich ist. Das religiöse Erleben strukturiert sich in einem Schema von »Reiz und Gegenwirkung«. Gott reagiert auf den Menschen und zwar »belohnend, strafend, züchtigend«24 (im Konfirmandenunterricht wird er als zorniger und strenger Richter beschrieben), aber es ist dem Menschen verwehrt, in eine Beziehung zu Gott zu treten, die auf wechselseitigem Austausch beruht. Im Judentum benötige der Mensch zur Kommunikation mit Gott die ethische Situation, die ihn zum Handeln herausfordert, um die göttliche Reaktion zu erfahren. Moral, Politik, Religion sind hier nach Schleiermacher noch nicht getrennt. Die Rolle, die dem Menschen in einem solch einseitigen Gespräch mit Gott zukommt, ist nicht die eines Erwachsenen, sondern sie ist Schleiermacher zufolge »höchst kindlich«.25 Sie passt zu einer überschaubaren, noch heilen Kinderwelt; sie ist »nur auf einen kleinen Schauplaz ohne Verwikelungen berechnet, wo bei einem einfachen Ganzen die natürlichen Folgen der Handlungen nicht gestört oder gehindert werden«.26 In einer komplexer werdenden Welt hat sie sich überlebt. – Schleiermacher hat hier ein seinem Ideal des aktiven, religiös mündigen Individuums zuwiderlaufendes Moment beschrieben. 2.2. Kant und Lessing (Exkurs) Schleiermachers Verständnis von »kindlich« und »erwachsen« weist Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu Kants und Lessings Begriffsverwendung auf. Auch für Kant ist ein Kind, wer »mit Satzungen, die ihm ohne sein Zuthun auferlegt wurden«, lebt.27 Mit seiner Problematisierung des statuarischen Gesetzescharakters des Judentums lehnt sich Kant an Spinoza an, der im Zuge seiner Unterscheidung von menschlichem und göttlichem Gesetz formuliert hat: »Den ersten Juden ist die Religion schriftlich als Gesetz übergeben worden, weil sie damals noch wie Kinder behandelt wurden.«28 22 23 24 25

Schleiermacher, Über die Religion (s.o. Anm. 19), 314. AaO. 315. Ebd. Ebd. Der Begriff »kindlich« wird hier noch einmal hervorgehoben – mit dem Zusatz »höchst« kindlich. 26 Ebd. 27 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg.v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. VI, Berlin 1914, 121f. 28 Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, hg.v. Günter Gawlick (ders., Sämtliche Werke, Bd. 3), Hamburg 1994, 195.

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Kant hebt – anders als Schleiermacher – die Entwicklung hervor, die der Mensch auf seinem Weg zur Mündigkeit beschreibt: »Die Hüllen, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete, müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste that, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt.«29 Im zu überwindenden Judentum kann Kant keine Religion erblicken, sondern den »Inbegriff bloß statuarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war«. Er schränkt dabei das Judentum auf einen »bloß weltlichen Staat« ein – diese Sicht ist in Schleiermachers Konfirmandenunterricht zu finden.30 Mit seiner Beschreibung des Judentums als politisch nationale Vereinigung eines Stammes, der unter »bloß politischen Gesetzen« lebte, kritisiert Kant die Verbindung von Religion und Politik. Darin folgt ihm Schleiermacher – nicht jedoch beim nächsten Schritt, der Kant zu seinem Entwurf des Christentums als »gelehrter« Religion führt: Die christliche Religion hat für Kant »den großen Vorzug vor dem Judentum, daß sie aus dem Munde des ersten Lehrers als eine nicht statuarische, sondern moralische Religion hervorgegangen vorgestellt wird und auf solche Art mit der Vernunft in die engste Verbindung« tritt.31 Eine moralische Religion ist für Schleiermacher undenkbar. Kants Auffassung: »Moral also führt unumgänglich zur Religion«32 weist Schleiermacher mit seinem Plädoyer für die Trennung von Religion und Moral entschieden zurück. Damit hebt sich Schleiermacher auch von Lessing ab, für den Religion – ähnlich wie für Kant – mit moralischen und pädagogischen Zielen verwoben ist. »Die Erziehung des Menschengeschlechts« schildert Gottes Plan zur Erziehung der Menschen – ein Gedanke, dem Schleiermacher nicht folgen kann. Dieser Erziehungsplan setzt ein bei einem rohen, verwilderten Volk (dieselben Adjektive tauchen in der Konfirmandennachschrift auf ), bei dem »Israelitischen Volk«, mit dem Gott ganz von vorne beginnen musste.33 Die Erziehungsmethoden sind dem Entwicklungsstand angepasst: »Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer moralischen Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen.«34 Als das Kind unter »Schlägen und Liebkosungen« aufgewachsen und nun »zu Jahren des Verstandes« gekommen war, stieß es der Vater auf einmal in die Fremde. »Das in die Fremde geschickte Kind sahe andere Kinder, die mehr wußten, die anständiger lebten, und fragte sich beschämt: warum weiß ich das nicht auch? warum lebe ich nicht auch so? Hätte in meines Vaters Hause man mir das nicht auch beybringen; dazu mich 29 30 31 32 33

Kant, aaO. (s.o. Anm. 27), 121. Auch Kant bemüht hier Paulus (1Kor13, 11). AaO. 125 und Nachschrift Wedel, 155. Kant, aaO. (s.o. Anm. 27), 167. AaO. 6. Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: ders., Sämtliche Werke, hg.v. Karl Lachmann/Franz Muncker, Bd. 13, Stuttgart/Leipzig 1897, 417. 34 AaO. 418.

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nicht auch anhalten sollen? Da sucht es seine Elementarbücher wieder vor, die ihm längst zum Ekel geworden, um die Schuld auf die Elementarbücher zu schieben. Aber siehe! es erkennet, daß die Schuld nicht an den Büchern liege, daß die Schuld ledig sein eigen sey, warum es nicht längst eben das wisse, eben so lebe.«35

Dieses herangewachsene Kind ist dazu befähigt, seine weitere Entwicklung selbsttätig in die Hand zu nehmen. In der Begegnung mit dem Neuen und damit Fremden ringt es um seine Identität. Dabei wirft es nicht einfach alles Alte über Bord – die Elementarbücher für Kinder sind hier das Alte Testament – sondern unterzieht die Tradition einer Überprüfung aus der neu gewonnenen Perspektive. So ergibt sich eine Kontinuität im Entwicklungsprozess. Bei Lessing verändert sich dieses ,jüdische Kind’ selbst und reift heran, während bei Kant und Schleiermacher der Reifeprozess vom Juden zum Christen führt. Lessings ,Kind’, das durch Gottes harte Schule gegangen ist und sich weiterentwickeln konnte, wird schließlich selbst zum Erzieher des Menschengeschlechts. Zwar ist auch für Lessing Christus ein »bessrer Pädagog« als Moses und das NT das gegenüber dem AT fortgeschrittene Elementarbuch, doch kann Lessing dort, wo Kant und Schleiermacher einen Gegensatz eröffnen, einen Zusammenhang im Rahmen der »nehmlichen Oekonomie des nehmlichen Gottes«36 wahrnehmen, in dem das Frühere vom Späteren bewahrheitet wird. 2.3. »Erwachsen« Von den Denkern, die – mit unterschiedlichem Akzent – eine Verhältnisbestimmung Christentum/Judentum anhand des Begriffspaars »erwachsen/kindlich« vornehmen, verwendet einzig Schleiermacher explizit den Begriff »erwachsen« (Kant spricht von vernünftig oder »gelehrt«, und bei Lessing ist das unter Schlägen und Liebkosungen aufgewachsene Kind zu »Jahren des Verstandes« gekommen). Schleiermachers Begriff »erwachsen« weist eine inhaltliche Nähe zu dem von Novalis formulierten Begriff »gebildet« auf, den dieser ähnlich wie Schleiermacher als Gegensatz zum »ältern Judaism« entfaltet. In seinem »Blüthenstaub«-Fragment, welches zu der Zeit, als Schleiermacher die »Reden« schrieb bereits ein Jahr veröffentlicht ist, entwirft Novalis bekanntlich den Mittlergedanken.37 Die Annahme eines »Gottmenschen« als Mittler zeugt Novalis zufolge von »gebildeteren« Verhältnissen. Ungebildet im Sinne von weniger entwickelt ist, wer keinen Mittler annimmt; als Beispiele dafür kann Novalis in einem Atem35 Lessing, aaO. (s.o. Anm. 33), 424. 36 AaO. 434. 37 Je weiter ein Mensch in seiner Entwicklung vorangeschritten sei, je selbstständiger er werde, desto mehr verfeinere sich die Qualität des mit der Gottheit verbindenden »Mittelglieds« (»Fetische, Gestirne, Thiere, Helden, Götzen, Götter, Ein Gottmensch«); vgl. Novalis, Blüthenstaub, in: Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg.v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. II/I, Stuttgart 1981, 443. – Einen Hinweis auf die Parallele bei Schleiermacher zu Novalis in Bezug auf den Mittlergedanken gibt Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 1986, 166, 129–134.

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zug Aberglauben, Götzendienst und den »ältern Judaismus« anführen. Die »gebildeten Menschen« wählten Novalis zufolge »ziemlich gleiche Mittelglieder«, wohingegen der »Ungebildete« sich dabei durch den Zufall bestimmen lasse. – Auch Schleiermachers »der erwachsenen Menschheit würdiger[e]« Religion ist über den Mittler Christus definiert, der als kritischer Gegenpol zur jüdischen Position hervortritt. Doch nicht nur der Mittlergedanke allein, sondern ebenso das von Novalis in diesem Kontext formulierte Begriffspaar »gebildet«/»ungebildet« könnte Schleiermachers Konzeption von »erwachsen« im Gegensatz zu »kindlich« inspiriert haben. Was versteht Schleiermacher unter »erwachsen«, wenn er in seinen »Reden« davon spricht, dass die christliche Religion »der erwachsenen Menschheit würdiger« sei?38 Erwachsen ist, wer gleichsam von einer höheren Warte aus den eigenen Standpunkt zu reflektieren vermag. So schaue das Christentum »in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte« an.39 In diesem Zusammenhang kann deutlich werden, wie Schleiermacher dazu kommt, das Christentum als eine »höhere Potenz« der Religion zu bezeichnen. Wir hatten gesehen, dass die jüdische Religion nach seiner Auffassung die Beziehung Mensch – Universum unter dem Gesichtspunkt der Vergeltung begründet. Diesem stellt das Christentum denjenigen der Erlösung entgegen. Als Erlösungsreligion sieht das Christentum den Menschen in seiner Beziehung zum Universum unter dem Gesichtspunkt der Erlösung, wobei Erlösung auf höherer Stufe steht als Vergeltung. Die höher stehende Anschauung des Christentums wird von Schleiermacher auch so ausgemacht, dass sie nach seiner Auffassung nicht erst die Beziehung Mensch – Universum konstituiert, sondern diese übergreift und reflektiert. Das Christentum macht demnach die Religion selbst zum Gegenstand seiner Anschauung; insofern es damit »die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet«, ist es »gleichsam eine höhere Potenz derselben«.40 Die der christlichen Anschauung immanente Reflexionsfähigkeit ermöglicht eine permanente Überprüfung der Lebendigkeit der Religion. Nichts soll bei dieser »beständigen Sichtung« geschont werden: »auch das Liebste und Theuerste nicht, nichts soll je träge bei Seite gelegt werden, auch das nicht was am allgemeinsten anerkannt ist«. So vermag es das Christentum vor allem, »jede falsche Moral, jede schlechte Religion, jede unglükliche Vermischung von beiden« schonungslos zu entlarven.41 Das heißt, dass der »erwachsene« Charakter einer Religion sich insbesondere an ihrer Fähigkeit zur Enttarnung einer jeglichen Vermengung von Religion und Moral und Politik zeigt. Der klare Trennschnitt, der hier Moral, Politik und Religion voneinander scheidet, legt gleichsam bloß, dass die Zeiten vorbei sind, in denen es der ethischen Situation bedurfte, um eine göttliche Reaktion zu erfahren, der man sich kindlich hilflos ausgeliefert sah. Erwachsen geworden, sieht sich das religiöse Individuum nicht länger einem fernen Gott gegenübergestellt, dessen Züchtigungen es über sich ergehen lassen muss, sondern es ist dazu befähigt, ein Gespräch mit Gott aufzunehmen, das auf wechselseitigem Aus38 39 40 41

Schleiermacher, Über die Religion (s.o. Anm. 19), 316. AaO. 317. Ebd. AaO. 318f.

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tausch beruht. Es vermag »die Stimme der Gottheit zu hören und ihr zu antworten«.42 – Der (in einer Religion) Erwachsene ist frei, die Gesetze zu reflektieren, die in der Kindheit unhinterfragbar sind.

3. Erziehung zu religiöser Mündigkeit 3.1. Unterricht ohne Bevormundung Der dritte Teil dieses Beitrags entwirft eine Synthese aus Schleiermachers soeben skizzierten Gedanken »Über die Religion« und seiner Pädagogik, wie sie in der Anwendung in seinem eigenen Konfirmandenunterricht zu beobachten ist – auch wenn dabei nicht alles ›glatt‹ aufgeht, wie zum Schluss zu sehen sein wird. Dass hier Theologie und Pädagogik miteinander ins Gespräch zu bringen sind, ergibt sich bereits aus den Begriffen »kindlich« und »erwachsen«, die Schnittpunkte bilden, in denen sich beide Bereiche begegnen. Das Praktische greift dabei auf die Reflexion über und umgekehrt. Wenn Schleiermacher seinen Konfirmandinnen die Definition anbietet »Im Allgemeinen wird unter Kind der Mensch in seiner Unmündigkeit verstanden«,43 also die Begriffe »Kind« und »unmündig« einander zuordnet, so müssen dementsprechend auch die Begriffe »erwachsen« und »mündig« aufeinander bezogen werden. Während der erste Teil dieses Beitrags einen akzentuierten Ausschnitt aus Jeanette Wedels Konfirmandenstunden präsentierte, gilt es nun, den religionspädagogischen Ansatz zu beleuchten, der hinter diesem Unterrichtsgeschehen steht. Dazu gehe ich der Frage nach: Welche Wirkung zeigt Schleiermachers Auffassung von »erwachsen« und »mündig« in seinem Konfirmandenunterricht? Schleiermacher kommt es darauf an, den Konfirmandinnen möglichst wenig Fertiges vorzugeben, um das Selbstdenken seiner Schülerinnen zu wecken und zu entwickeln. Das in den Mittelpunkt gestellte Glaubensbekenntnis erhält mitnichten Gesetzescharakter, sondern wird immer wieder aufs Neue kritisch überprüft, mit biblischen Texten kontrastiert und soll am Ende des Unterrichts gekannt und verstanden, nicht jedoch auswendig gelernt worden sein. Erklärtes Ziel ist die »Einsicht«, die die Schülerinnen erlangen sollen. Sorgfältig unterscheidet Schleiermacher »Einsicht« als »Gewissheit durch den Verstand« von »Erfahrung« als »Gewissheit durch die Sinne« und zieht die Grenze zum Glauben, dessen Unverfügbarkeit er betont.44 42 Vgl. aaO. 228: »von diesem Augenblik an wurde er [Adam] fähig die Stimme der Gottheit zu hören und ihr zu antworten, und die frevelhafteste Übertretung ihrer Geseze schloß ihn von nun an nicht mehr aus von dem Umgange mit dem ewigen Wesen.« 43 Nachschrift Wedel, 136. 44 Vgl. Nachschrift Wedel, 3. Schleiermacher rekurriert hier auf sein im Zuge der preußischen Schulreform entworfenes Gutachten (1810), in welchem er mit der »Einsicht« ein Merkmal entwickelte, das eine Aufgabenbeschreibung für den Religionsunterricht bereithielt. Im Unterschied zu seinen Kollegen in der Kultusbehörde hielt er nicht die Bildung der Gesinnung für vordringlich, sondern die Vermittlung von »Einsicht in die Religionssachen«. Das Gutachten in Schleiermachers Handschrift trägt die Überschrift: »Soll auf den gelehrten Schulen ein besonderer Religionsunterricht ertheilt wer-

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Ist der den Konfirmandenunterricht Erteilende daran interessiert, bei den Heranwachsenden Einsicht zu erzielen, so hat dies Konsequenzen für das Lehrer-SchülerVerhältnis, für Unterrichtsform, -methode und -gegenstand. Gleich zu Beginn der dritten Konfirmandenstunde heißt es: »So ist doch das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler bei uns anders als zwischen den Missionaren und den Heiden, die bekehrt werden sollen; und die Methode, die Religion zu lehren, muss sehr verschieden davon sein.«45 Es wird klargestellt, dass »Gewalt« und »Überredung« keinen Platz im Konfirmandenunterricht haben, hingegen der »eigene Wille« der Konfirmandinnen zu berücksichtigen sei. Nicht gezwungen, sondern »mit Überlegung« und »freiwillig« sollen sie sich auf die Einsegnung vorbereiten. Zwar hat der Lehrer bestimmte Grenzen in seinem Unterricht vorzugeben, doch »innerhalb derselben muss der Geist sich frei bewegen«.46 Daraus folgt, dass der Unterricht nichts Mechanisches und Starres annehmen darf. Es gibt kein Abfragen und kein Auswendiglernen. Hier kommt Schleiermachers Kritik an der bestehenden kirchlichen Praxis des Katechismusunterrichts zum Ausdruck. Während er das apostolische Glaubensbekenntnis erarbeiten lässt, stand sonst üblicherweise der Katechismus als Lernstoff, der memoriert werden musste, im Zentrum der Unterweisung. Unterrichtsgegenstand, Methode und zu erzielendes Lernergebnis waren miteinander verwoben und unumstößlich festgelegt. Dies begreift Schleiermacher als schädlichen Zwang für die Lernenden und für den Lehrenden. Dem Ziel, einen »Gedankenerzeugungsprozeß« anzuleiten, statt mit Auswendiglernen einen »eingebildeten Schaz« anzusammeln,47 kann am besten im Unterrichtsgespräch Rechnung getragen werden. Dazu gehört, dass sich der für die Gesprächsführung Verantwortliche merkt, wenn eine Schülerin nicht mehr zu Wort kommen konnte, etwa weil die Unterrichtszeit überschritten ist. Nimmt er sie als Gesprächspartnerin ernst, erteilt er ihr gleich in der nächsten Stunde das Wort, damit ihre Überlegungen nicht verloren gehen. So hat sich Schleiermacher beispielsweise als Gedächtnisstütze für die nächste Stunde seines Konfirmandenunterrichts im Tagebuch notiert: »Eugenie hat noch etwas über das Gericht zu sagen.«48 Er schreibt sich auch auf, wenn er in einer Stunde das eigentliche Thema verlässt, weil aktuelle Lebensfragen den Vorrang genießen: »Mit den Katechumeninnen über das Stehlen gesprochen.«49 Es wird deutlich, dass Schleiermacher nicht die alte katechetische Form der Gesprächsführung interessiert, die Kontrollfragen zur Sicherung der Kenntnisse stellt und im Grunde nur ein Abfragen ist, sondern ein echtes Unterrichtsgespräch. Diese Auf-

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den?« (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, I. HA, Rep. 76 alt, Abt. X, Nr. 18, Bl. 28r–29r). Nachschrift Wedel, 7. AaO. 9. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 (Sämmtliche Werke I/13) 380f. Schleiermacher-Nachlass 444, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Schleiermacher-Nachlass 450, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Schleiermacher hat zuvor in seinem Tagebuch festgehalten, dass er einen Vater zum Gespräch bestellen musste, dessen Kind gestohlen hat.

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fassung korrespondiert mit der entschiedenen Ablehnung jeglicher »prüfenden Gesprächsform«, die in den Passagen zur religiösen Bildung im Rahmen der Vorlesungen zur Praktischen Theologie formuliert ist.50 Mit seiner Kritik an der »prüfenden Gesprächsform« grenzt sich Schleiermacher zugleich von einem überzogenen Frageverfahren ab, wie es ihm in der Praxis und Theorie der Aufklärungspädagogik begegnet, die nach der sokratischen Methode zu verfahren sucht. Er befürchtet, dass die religiöse Selbstständigkeit der Heranwachsenden unter dieser Methode zu leiden habe und setzt sich für das »ursprünglich lebendige« Gespräch im Unterricht ein.51 Dass die Konfirmandinnen religiöse Selbstständigkeit erlangen, ist erklärtes Ziel des Konfirmandenunterrichts, genau wie sie dazu befähigt werden sollen, mit Verständnis am Gottesdienst teilzunehmen. Die Begriffe »Selbstständigkeit« und »Kultusfähigkeit« verweisen aufeinander und explizieren gemeinsam die Zielsetzung des Unterrichts in der Kirchengemeinde. Sie korrespondieren mit den beiden Gesichtspunkten der Erziehung wie sie Schleiermacher in seinen Pädagogik-Vorlesungen entwickelt hat, dem Herausbilden der persönlichen Eigentümlichkeit und dem Hineinbilden in die großen Gemeinschaften des Lebens,52 also mit der Dialektik von Individualität und Universalität. Zur Entwicklung der Selbstständigkeit gehört maßgeblich die »Uebung in der Reflexion«. Dieser Aspekt, den, wie wir gehört haben, Schleiermacher in seinen »Reden« als zentrales Merkmal eines erwachsenen Umgangs mit Religion hervorhebt, spielt auch im Konfirmandenunterricht eine entscheidende Rolle. In diesem erwachsenen Umgang mit Religion soll, so heißt es in den »Reden«, »nichts je träge bei Seite gelegt werden, auch 50 Vgl. Schleiermacher, Praktische Theologie (s.o. Anm. 47), 365; zur Kritik an der sokratischen Methode vgl. 779, 371. 51 Im Widerspruch zu dieser erziehungstheoretischen Position steht die Interpretation von Wolfgang Virmond, der die Aufzeichnungen Auguste Kunzmanns nicht als kunstvoll komponierten Text liest, mit dem die Autorin ihre Erinnerungen an die weit zurückliegende Konfirmandenzeit in das klassische Frage-Antwort-Schema des Katechismus(unterrichts) bringt. Virmonds Edition erkennt hier nicht das Vorbild der einschlägigen Katechismen, sondern begreift deren Frage-Antwort-Struktur gleichsam als natürlichen Dialog. So bekommt Schleiermacher die Rolle zugewiesen, »bohrende« (und eine feststehende Antwort implizierende) Fragen zu stellen. Folgt man dieser Rollenverteilung der Edition, so wissen die Schülerinnen auf geheimnisvolle Weise immer schon, was ihr Lehrer hören will, und geben brav die theologisch exakte Antwort, selbst bei neuen und schwierigen Unterrichtsthemen. – Aufschlussreich ist jedoch, dass die Autorin komplexere theologische Themen nicht in das mühevolle Frage-Antwort-Schema zu bringen weiß; ihr fiktiver Dialog verstummt zu fortgeschrittener Unterrichtstunde, um dem Erzählfluss über viele Seiten ungebrochenen Lauf zu lassen (706– 718). Die Edition bemerkt zwar an dieser Stelle, dass keine Schülerin der Welt eine solch ausschweifende ›Antwort‹ zu geben vermag, doch erkennt sie in diesen Passagen nicht den eigenständigen Wert einer individuellen Erinnerung an Schleiermachers Konfirmandenunterricht, sondern ordnet die Ausführungen kurzum Schleiermacher selbst zu: »Offenbar Schleiermachers eigne Antwort« (706). Wolfgang Virmond, Schleiermachers Konfirmandenunterricht. Nebst einer bislang unbekannten Nachschrift, in: Andreas Arndt/Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.), Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006 (SchlA 22), Berlin/New York 2008, 653–746. 52 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21, hg.v. Christiane Ehrhardt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 2008, u.a. 8., 13. Stunde, 81–84, 99–102.

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das nicht was am allgemeinsten anerkannt ist«.53 So werden im Konfirmandenunterricht die einzelnen Passagen des Glaubensbekenntnisses mit biblischen Texten konfrontiert, die die Schülerinnen zunächst einmal lesen und verstehen lernen, bevor sie beides – Glaubensbekenntnis und Bibel – wechselseitig prüfend aufeinander beziehen. Dabei ermuntert sie ihr Lehrer: »Wir müssen nun beides in Beziehung auf uns betrachten.«54 Die Erziehung zur Selbstständigkeit richtet sich demnach nicht nur darauf, das Verständnis für das Wort zu öffnen, sondern zugleich auf die Befähigung der jungen Menschen, die eigene Lebensführung zu reflektieren und zu dieser sowie zu den Formen des menschlichen Zusammenlebens Stellung nehmen zu können. Das Urteilsvermögen der Einzelnen in Fragen des Glaubens und des Lebens soll sich entwickeln. Dies sind die Gesichtspunkte, die Schleiermachers Begriff der religiösen Mündigkeit ausmachen. Schleiermacher macht hier keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen. Dies spiegelt sich auch in seiner Theorie der Erziehung wider, wenn er dafür eintritt, dass den Mädchen – unabhängig von Alter und Stand – in der Kirchengemeinde die gleiche religiöse Erziehung zusteht wie den Jungen. Bekanntlich gilt ein solcher Gleichheitsgrundsatz bei Schleiermacher nicht für den Bereich der öffentlichen Erziehung in der (weiterführenden) Schule.55 In besonderer Weise hebt Schleiermacher den Prozesscharakter der durch Erziehung und Bildung zu befördernden Mündigkeit hervor und betont die Offenheit und Unabschließbarkeit des religiösen Bildungsprozesses. Der Erzieher kann seinen Zöglingen nicht vorgeben, wie deren religiöse Mündigkeit auszusehen hat, noch letztlich darüber urteilen, inwieweit sie erreicht ist. Er kann es den heranwachsenden Mädchen und Jungen nicht abnehmen, dass sie ihre Beziehung zu Gott selbst entdecken und gestalten und in ihrem Handeln erproben. Der Lehrer im Konfirmandenunterricht wird die Selbsttätigkeit seiner Schützlinge »hervorzulocken« und »zu leiten« wissen, doch »wenn der Mensch mündig wird, dann hört die pädagogische Einwirkung auf; d.h. wenn die jüngere Generation, auf selbständige Weise zur Erfüllung der sittlichen Aufgabe mitwirkend, der älteren Generation gleichsteht.«56 Ausdrücklich distanziert sich Schleiermacher von einer Verkürzung der pädagogischen Mündigkeit auf eine rechtlich fixierte Mündigkeitserklärung im Sinne der Volljährigkeit. Wenn er stattdessen in seinen PädagogikVorlesungen den Endpunkt der Erziehung als einen »allmählich verschwindende[n]« charakterisiert, so gilt das für die zeitliche Verlaufsstruktur der Erziehung insgesamt. Dem Ende der Erziehung und dem Mündig-geworden-Sein geht voraus, dass der junge Mensch sich peu à peu Mündigkeiten angeeignet und dass sein Erzieher ihm das ermöglicht hat. Religion und Politik sowie Religion und Moral hält Schleiermacher hier sorgfältig auseinander. Dementsprechend geht er in seinem Konfirmandenunterricht von Folgendem aus: »jede Ansicht, als ob man das Religiöse [. . . ] zu guten Zwecken benutzen 53 54 55 56

S.o. Anm. 41. Nachschrift Wedel, 218. Vgl. Schleiermacher, Pädagogik 1820/21 (s.o. Anm. 52), z.B. 91ff., 188, 214. Schleiermacher, Pädagogik 1826 (s.o. Anm. 17), 18.

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könne, [. . . ] ist ganz verkehrt.«57 Dieser Ansatz spiegelt einen weiteren zentralen Aspekt von dem in den »Reden« gestalteten Entwurf des der erwachsenen Menschheit würdigen Christentums: die Fähigkeit, jede Vermengung von Religion und Moral zu durchschauen und zurückzuweisen. Schleiermachers erziehungstheoretische Position, wie sie in seinem Konfirmandenunterricht zum Ausdruck kommt, gründet sich nicht auf Moral oder Politik und auch nicht auf Religion, sondern auf die pädagogische Erfahrung des Mündigkeitsproblems. 3.2. Schluss Es hat sich ein Bildungsbegriff gezeigt, in dessen Zentrum die Selbstständigkeit und Urteilsfähigkeit der Heranwachsenden steht; dieser Bildungsbegriff gewinnt sein Profil vor dem Horizont von Schleiermachers Bestimmung von »kindlich« und »erwachsen«. Doch ist hierbei nicht zu vergessen, dass ich gleichsam Schleiermacher sich selbst zur Hilfe kommen lasse, wenn ich die Begriffe »unmündig« und »mündig« akzentuiere, die in seinem »kindlich« und »erwachsen« freilich anklingen. Wäre es ohne diesen Akzent doch bedeutend schwieriger, die pädagogischen Aspekte von Begriffen in den Blick zu nehmen, die zunächst lediglich einen Stand menschlicher Reife beschreiben. Die Grenzen von Schleiermachers Metaphorik seien hier abschließend thematisiert: Nimmt man die Bilder ernst, müsste eigentlich das Kind einmal zum Erwachsenen werden und der Erwachsene einmal Kind gewesen sein. Aber Schleiermacher denkt sowohl im Kontext seiner »Reden« als auch im Konfirmandenunterricht (dem Berichterstatter dieses Unterrichts zufolge) anders, nämlich in Gegensätzen. Der kindliche Charakter des Judentums und der erwachsene des Christentums stehen in einem antithetischen Verhältnis zueinander: Es scheint, als bliebe das Kind ein Kind und als sei der Erwachsene schon immer erwachsen. An eine Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen ist nicht gedacht. Richtet sich das Augenmerk auf das Begriffspaar »kindlich/erwachsen« und zwar auf das Verhältnis, in dem die beiden Begriffe bei Schleiermacher zueinander stehen, wird deutlich, dass er hier eine hierarchische Verhältnisbestimmung entwirft. Diese befindet sich im Widerstreit mit bestimmten Aspekten, die die Interpretation des einzelnen Begriffs – besonders des Begriffs »erwachsen« – erbracht hat. So konnten wir beispielsweise sehen, dass Schleiermacher mit seiner Abgrenzung von der sokratischen Methode die Kritik an einer Rollenverteilung formuliert, bei der der Eine schon weiß, welches die Lösung ist, um den Anderen (mit gezielten Fragen) zu einem feststehenden Ergebnis zu dirigieren. Nun ist es allerdings genau diese kritisierte ungleiche Rollenverteilung, die uns in dem Begriffspaar »kindlich/erwachsen« wiederbegegnet: Der Erwachsene ist dem Kind überlegen. Von einem höheren Standpunkt aus vermag er die Weichen für das Gespräch zu stellen. Der Dialog findet nicht auf Augenhöhe statt – dahinter steht schon eine Idee der Belehrung. Ein solcher Dialog wird dem Anderen nicht gerecht. Können wir in der religiösen Bildung Schleiermachers Paradigma von »kindlich« und »erwachsen« heute noch folgen? Wie soll sich das Verhältnis der Religionen ent57 Diese Position hat Schleiermacher in seinem Kapitel über religiöse Erziehung in der PädagogikVorlesung 1820/21 beschrieben; Schleiermacher, Pädagogik 1820/21 (s.o. Anm. 52), 261.

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wickeln? Am Ende dieses Beitrags ist es angebracht, die offenen Enden zu benennen, gleichsam die beiden Stränge wieder voneinander zu trennen, deren Schnittpunkte ich gezeigt habe, wenn sich in Schleiermachers Bestimmung von »kindlich« und »erwachsen« Pädagogik und Theologie die Hand reichen sowie Praxis und Reflexion miteinander verbunden sind. Das hier dargelegte Modell des Konfirmandenunterrichts ist sichtlich nicht dazu geeignet, die Religionen miteinander ins Gespräch zu bringen. Andererseits bringt es ein Verständnis von religiöser Mündigkeit zum Ausdruck, das in gegenwärtigen Diskussionen etwa um die Frage »Sind Religionen gefährlich?«58 von aktueller Bedeutung ist. Ein Verständnis, das einem kindlich naiven Fundamentalismus in einer jeden Religion entgegenhält, dass das eigene freie Denken ein Urteil verlangt, dass Erwachsenwerden in einer Religion nicht blinde Gläubigkeit bedeuten kann.

58 Rolf Schieder, Sind Religionen gefährlich?, Berlin 2008.

Christentum und Judentum in Schleiermachers Vorlesungen über die Kirchengeschichte Simon Gerber »Das Christenthum steht zwar in einem besonderen Zusammenhange mit dem Judenthum; was aber sein geschichtliches Dasein und seine Abzwekkung betrifft, so verhält es sich zum Judenthum und Heidenthum gleich.«

So lautet in Schleiermachers Glaubenslehre ein Leitsatz unter den Lehnsätzen aus der Apologetik, die als Vorüberlegung zur Dogmatik den Ort bestimmen sollen, den das Christentum in der Geschichte der Religionen und Religionsgemeinschaften hat.1 Innerhalb der Religionsgeschichte stellt das Christentum nicht einfach eine Fortsetzung der alttestamentlich-jüdischen Religion dar; auch wenn Christus im jüdischen Monotheismus verwurzelt ist, ist das, was mit ihm beginnt, dem Judentum gegenüber genauso etwas Neues wie gegenüber dem heidnischen Polytheismus und dem griechischphilosophischen Gottglauben. Nun ist aber in Schleiermachers Organismus der theologischen Wissenschaft die Dogmatik nicht die einzige, ja nicht einmal die oberste Disziplin, die Wesen und Wirklichkeit des Christentums und der christlichen Gemeinschaft zum Gegenstand hat. Eine Kirche ist für Schleiermacher eine Gemeinschaft von Menschen, die auf der Grundlage eines gemeinsamen religiösen Gefühls zusammentreten, um auf geordnete Weise aufeinander zu wirken,2 im Falle der christlichen Kirche auf Grundlage des Glaubens an den Erlöser Christus.3 Die christliche Kirche beschreiben die historisch-theologischen Disziplinen, jede auf ihre Weise und aus ihrer Perspektive. Neben der Dogmatik als systematisch zusammenhängender Darstellung der christlichen Glaubenssätze, wie sie in einer bestimmten Kirchengemeinschaft zu einer bestimmten Zeit anerkannt sind, stehen die kirchliche Statistik, die den gesellschaftlichen Zustand des gegenwärtigen Christentums 1

2

3

Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, 2 Bde., Berlin 21830/31. §12, Leitsatz, in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner/Hermann Fischer u.a. (im Folgenden KGA abgekürzt), Bd. I/13, 1, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, 102. Vgl. Schleiermacher, Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 4. Stunde, in: KGA II/6, hg.v. Simon Gerber, Berlin/New York 2006, 12f.; ders., Ethik 1812/13, Güterlehre, Vollkommene ethische Formen, §196–209, in: Ders., Werke. Auswahl, hg.v. Otto Braun/Johannes Bauer, Bd. 2, hg.v. Otto Braun (PhB 137), Leipzig 1913, 359–361; ders., Der christliche Glaube2 §6, 2–4, KGA I/13,1, 54–58. Schleiermacher, Der christliche Glaube2 §11, KGA I/13,1, 93–102.

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in den Staaten der Erde beschreibt, und die Auslegung des Neuen Testaments, derjenigen Urkunde, die für alles Spätere die unhintergehbare Norm ist, weil das christliche Prinzip hier, an seinem Ursprung, seinen reinen und unvermischten Ausdruck gefunden hat.4 Und schließlich gibt es das alles verbindende Mittelstück, die »historische Theologie im engeren Sinn«, die Kirchengeschichte. Sie betrachtet die Ausbreitung, Entwicklung und Ausdifferenzierung der christlichen Gemeinschaft und Gemeinschaften durch die Zeiten5 und zeigt so das Christentum als eine lebendige, wirkungsvolle Kraft in der Geschichte der Menschheit.

1. Die Grundlagen der Kirchengeschichte hat Schleiermacher in der theologischen Enzyklopädie gelegt, außerdem in einer einstündigen Vorlesung seiner Hallenser Zeit. Hier geht es um den Ort, den die Kirchengeschichte als Wissenschaft innerhalb der Theologie und der Geschichtskunde einnimmt, um die inhaltliche Teilung ihres Gegenstandes und um Fragen der wissenschaftlichen Praxis.6 In den 1820er Jahren hat Schleierma4

5 6

Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, Berlin 21830, §81, 84, 95–98, 195, in: KGA I/6, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998, 357f., 362–364, 393f. – Unter der dogmatischen Theologie ist hier die Sittenlehre (theologische Ethik) inbegriffen, vgl. aaO. §223– 231, KGA I/6, 404–407; ferner zur Vereinigung und Trennung beider dogmatischen Disziplinen ders., Christliche Sitte 1809/10, §1–27, in: Ders., Sämmtliche Werke (im Folgenden SW abgekürzt), Bd. I/12, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin 1843, Beilage, 3–9; ders., Christliche Sitte 1822/23, in: SW I/12, 2–24; ders., Der christliche Glaube2, §26, KGA I/13,1, 173–175. Vgl. dazu auch Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre (TBT 8), Berlin-West 1964, 66–72. Schleiermacher, Kurze Darstellung2, §82, KGA I/6, 357. Als »historische Theologie im engeren Sinn« bezeichnet Schleiermacher die Kirchengeschichte in der Überschrift vor §149, KGA I/6, 380. Die Vorlesung von 1806 gehört neben Schleiermachers Brouillon zur Ethik 1805/06, in: Schleiermacher, Werke. Auswahl, Bd. 2, (s.o. Anm. 2), 73–239, zu den frühesten Dokumenten des Schleiermacherschen Systems. In ihr leitet Schleiermacher die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin direkt aus der philosophisch-ethischen Güterlehre ab: Die Kirchengeschichte beschreibt das Symbolisieren unter dem Charakter der Individualität, tut das aber nicht wie die Ethik systematisch, sondern historisch-empirisch; sie ist also soviel wie historische Religionssoziologie. Religionssoziologie und Christentumsgeschichte fallen aber deshalb zusammen, weil erst im Christentum die Religionsgemeinschaft oder Kirche als eigene, vom Staat unabhängige ethische Form hervorgetreten sei. Vgl. Schleiermacher, Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 3.–4. Stunde, KGA II/6, 11–13; zum Verhältnis zwischen Ethik und Geschichte vgl. Schleiermacher, Ethik. Letzte Bearbeitung der Einleitung (vermutlich 1816/17), §108, in: Ders., Werke. Auswahl, Bd. 2, 549; ders., Kurze Darstellung2, §35, KGA I/6, 339. Demgegenüber leitet die theologische Enzyklopädie die Kirchengeschichte als wissenschaftliche Disziplin erst aus dem kirchenleitenden Interesse der Theologie als positiver Wissenschaft und der Notwendigkeit kirchengeschichtlicher Kenntnisse für die Amtsführung ab, vgl. aaO. §1–5, 26, 70, 79f., 82, KGA I/6, 325–328, 335f., 353f., 356f.; sie stellt die Kirchengeschichte also vom latent christlichen Standpunkt der philosophischen Ethik auf einen explizit christlichen Standpunkt. – Vgl. über den Ort, den Schleiermacher der Kirchengeschichte in der Wissenschaft und unter den theologischen Disziplinen zuweist, auch Theodor Jørgensen, Schleiermacher som kirkehistoriker, in: Dansk teologisk tidskrift 31 (1968), 178–214; Simon Gerber, Geschichte und Kirchengeschichte bei Schleiermacher, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschich-

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cher dann in Berlin zwei Überblicksvorlesungen oder Kompendien über die Kirchenund Dogmengeschichte gelesen. Um ein solches Unternehmen durchzuführen, mußte er sich unter anderem eine umfangreiche Materialsammlung mit Exzerpten und Aphorismen anlegen, im Manuskript über 200 Seiten. Hauptquelle der Exzerpte ist die vielbändige Christliche Kirchengeschichte des aus Österreich stammenden Wittenberger Historikers Johann Matthias Schröckh (1733–1808),7 ein in seiner ungeheuren Breite geradezu formloses Werk; Schröckh verbindet einen immensen Sammelfleiß mit einem fast völligen Mangel an geistiger Durchdringung und Verarbeitung. Andere Quellen sind die kirchengeschichtlichen Arbeiten des berühmten Hallenser Neologen Johann Salomo Semler (1725–1791), meist nur knappe, fast unzusammenhängend nebeneinanderstehende Bemerkungen, aber mit ihrer historischen Kritik für alles Weitere wegweisend, und die Kirchengeschichte des strengen Rationalisten Heinrich Philipp Konrad Henke in Helmstedt (1752–1809).8 Besonders für die alte Kirchengeschichte hat Schleiermacher aber auch die Quellen selbst studiert: die Kirchengeschichte Eusebs von Cäsarea und die Werke Tertullians, Clemens’ von Alexandrien, Origenes’ und anderer.9 Warum nahm Schleiermacher als renommierter Gelehrter von über 50 Jahren all diese Mühe für eine Disziplin auf sich, in der er es doch nie mehr auch nur annähernd so weit bringen würde wie etwa sein Berliner Kollege und weiland Hallenser Schüler August Neander? Schleiermacher sagt selbst, Zweck seiner Vorlesung sei es nicht, den gelehrten Darstellungen der Kirchenhistoriker Konkurrenz zu machen; vielmehr wolle er den Studenten eine innere Geschichte des Christentums präsentieren, eine Geschichte, in der es weniger um die einzelnen facta gehe als um die in der Geschichte wirksamen Kräfte und Ideen. So stelle sein Kolleg eine Anleitung dar, anhand deren die Studenten selbst kompetent würden, Quellen und Sekundärliteratur zu studieren; und dafür eigne sich der mündliche Vortrag auch viel besser als dicke Bücher, weil man sich mündlich freimütiger ausdrücke als schriftlich.10 Die wirksame Kraft schlechthin in der Kirchengeschichte ist aber für Schleiermacher das Christentum selbst, das von Christus ausgegangene christliche Prinzip; die Kirchengeschichte beschreibt, wie dieses Prinzip sich te 17 (2010), 34–55. Johann Matthias Schröckh, Christliche Kirchengeschichte, 35 Bde., Leipzig 1 u. 21772–1803; ders./Heinrich Gottlieb Tzschirner, Christliche Kirchengeschichte seit der Reformation, 10 Bde., Leipzig 1804–1812. 8 Johann Salomo Semler, Historiae ecclesiasticae selecta capita cum epitome canonum excerptis dogmaticis et tabulis chronologicis, 3 Bde., Halle 1767–1769; ders., Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte, 3 Bde., Halle 1773–1778; Heinrich Philipp Konrad Henke/Johann Severin Vater, Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche nach der Zeitfolge, 9 Bde., Braunschweig 1–4 1800–23. 9 Euseb von Cäsarea, Historia ecclesiastica und Vita Constantini, hg.v. Henri de Valois, Mainz 1672; ders., Kirchen-Geschichte und Leben Constantins, übersetzt von Friedrich Andreas Stroth, 2 Bde., Quedlinburg 1777; Quintus Septimius Florens Tertullian, Opera, hg.v. Johann Salomo Semler, 6 Bde., Halle 1770–1776; Clemens von Alexandrien, Opera, hg.v. John Potter, Venedig 1757; Origenes, Opera, hg.v. Charles Delarue OSB und Charles Vincent Delarue OSB, 4 Bde., Paris 1733–1759. Vgl. auch die Zusammenstellung in: KGA II/6, 788–794. 10 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, Skizze der Einleitung; 1.Stunde, in: KGA II/6 (s. o. Anm. 2), 21f. 469–471; ders., Kirchengeschichte 1825/26, in: KGA II/6, 674, 677. 7

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unter Gestalt der christlichen Kirche verwirklicht.11 Und hier setzt Schleiermacher sich scharf von den Kirchengeschichtlern der Aufklärung und des Rationalismus ab, denen er material ja viel verdankte: Diese folgten der sogenannte pragmatischen Methode und fragten bloß nach immanenten Ursachen und Wirkungen für die geschichtliche Entwicklung wie etwa der Gunst und Ungunst der Bischöfe am kaiserlichen Hof oder den persönlichen Ambitionen, Sym- und Antipathien der Protagonisten. Damit verlören sie aber die Mitte der Geschichte aus den Augen; am Ende komme nicht eine von einer Idee getragene, diese verwirklichende und offenbarende Geschichte heraus, sondern ein Durcheinander von Wirkungen und Gegenwirkungen.12 Abgesehen davon sei in der christlichen Kirche und ihrer Geschichte auch nur demjenigen eine dauerhafte Subsistenz und Wirksamkeit beschieden, das wirklich aus dem christlichen Prinzip und Geist hervorgegangen sei. Alles andere stelle nicht das wirksame Prinzip in der Geschichte dar, sondern das leidende Prinzip, die Materie, das »Fleisch«, also dasjenige, das der christliche Geist ergreife, innerlich durchdringe und zu seinem Organ bilde; wo es doch als eigenes Prinzip neben dem christlichen wirke, da könne es die Erscheinung der Kirche zwar trüben, aber nur vorübergehend.13

2. Wenn Schleiermacher also das Christentum als Kirchengeschichte beschreibt, als Geschichte der Wirksamkeit des christlichen Prinzips in der Welt und als Entwicklung der Gemeinschaften unter dem christlichen Prinzip: wie stellt sich dabei das Judentum dar? 11 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde, KGA II/6, 22, 474. 12 Schleiermacher, Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 1.–2. Stunde, KGA II/6, 9f.; ders., Kirchengeschichte 1821/22, Skizze der Einleitung; 1.–2. Stunde, KGA II/6, 21f., 471 f.; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 126, 669f., 674; ders., Theologische Enzyklopädie 1831/32, Nachschrift David Friedrich Strauß, hg.v. Walter Sachs (SchlA 4), Berlin-West/New York 1987, 69; 167f. (§65.179) – Der Begriff der pragmatischen Geschichte geht auf Polybios zurück (Historiae I, 2, 8; 35, 9 u.ö.). Im 18. Jahrhundert verstand man darunter eine Geschichte, die die Forschung nach Ursachen, Motiven und Wirkungen (also nach der kausalen Verknüpfung der Ereignisse unter Verzicht auf übernatürliche Erklärungen) verband mit der Frage, welche praktisch-moralische Lehren die Gegenwart aus der Geschichte ziehen könne. Schleiermachers Auseinandersetzung mit der Pragmatik bezieht sich auf das Erste. Im späteren 18. Jahrhundert meinte man unter Kants Einfluß mit Pragmatik auch eine teleologische Sicht der Geschichte, die nach dem inneren Gehalt, dem notwendigen Zusammenhang und dem Ziel des Geschichtlichen fragt; diese Auffasung nähert sich derjenigen Schleiermachers. Vgl. Wilhelm Bauer, Einführung in das Studium der Geschichte, Tübingen 21928, 151f; Manfred Hahn, Art. »Geschichte, pragmatische«, in: HWP 3, Basel 1974, 401f; Gudrun Kühne-Bertram, Art. »Pragmatisch«, in: HWP 7, Basel 1989, 1241–1244, hier 1243. Zur pragmatischen Kirchengeschichtschreibung vgl. Schröckh (s.o. Anm. 7), Bd. 1, Leipzig 21772, 186–188, 268–293; Karl Völker, Die Kirchengeschichtsschreibung der Aufklärung, Tübingen 1921, 23–36; Walter Nigg: Die Kirchengeschichtsschreibung, München 1934, 138–141. 13 Schleiermacher, Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 6.–7. und 11. Stunde, KGA II/6, 14– 16, 18; ders., Christliche Sitte 1822/23, in: SW I/12, 43–45, 126, 293f; ders., Kurze Darstellung2, §34, 54, 160, 167, 173, 179, KGA I/6, 339, 346, 383, 385–387, 389; ders., Der christliche Glaube2, §152, 155, KGA I/13,2, 440–443, 448–450; ders., Theologische Enzyklopädie 1831/32, (s.o. Anm. 12), 37, 153f, 158, 167f. (§34, 160, 167, 179).

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Zunächst: Das Judentum ist in Schleiermachers Kirchengeschichte von der zweiten Periode an, also etwa seit 300, kein sehr großes Thema. Wo es aber vorkommt, da geht es oft um christliche Feindschaft und Intoleranz gegen das Judentum. Aus der zweiten Periode der Kirchengeschichte, dem Zeitraum zwischen Konstantin und Karl dem Großen, notiert Schleiermacher, daß Ehen zwischen Christen und Juden staatlich verboten wurden, daß Juden aber das Halten christlicher Sklaven erlaubt war, daß Johannes Chrysostomus antijüdische Predigten hielt und daß Ambrosius Kaiser Theodosius den Großen davon abhielt, die Zerstörung einer Synagoge in Callinicum durch den christlichen Mob zu ahnden.14 In den germanischen Reichen in Frankreich und Spanien wurden die Juden bald verfolgt oder zwangsbekehrt, bald toleriert. Isidor von Sevilla mißbilligt die Zwangschristianisierung im Westgotenreich, befürwortet es aber, Juden ihre Kinder zu nehmen, um sie im Christentum zu erziehen, »was doch nur ein Erlaß [das heißt eine Linderung] der Gewalt war, nicht Aufhebung ihres Prinzips«. Papst Gregor der Große ist gegen die Juden in Italien duldsam; er versucht, jüdische Pächter des kirchlichen Grundbesitzes durch den versprochenen Erlaß des Pachtzinses zur Taufe zu bewegen, und hofft, daß selbst bei denen, die dieses Angebot nicht aus Glaubensüberzeugung annehmen, doch die nächste Generation wirklich christlich wird. Den Ikonenkult der Christen verspotten die Juden (Schleiermacher findet offenbar: nicht ganz zu unrecht) als Abgötterei.15 Die dritte Periode der Kirchengeschichte, die von etwa 800 bis etwa 1500 reicht, sieht die Juden im arabischen Spanien und im fränkischen Reich zunächst in hohem Ansehen. Die Kreuzfahrer unter Walter Habenichts und Peter dem Einsiedler – Schleiermacher charakterisiert sie knapp als »Gesindel« – ermorden auf ihrem Weg viele Juden. Der wissenschaftliche Aufschwung seit 1100 ergreift auch die Juden; unter ihnen entsteht, als Parallelphänomen zur lateinisch-christlichen Frühscholastik, die rabbinische Gelehrsamkeit mit Männern wie Raschi, Kimchi und Maimonides. Im 14. Jahrhundert kommt es zu heftigen Judenverfolgungen. Um 1500 schreitet die Inquisition in Spanien gegen Moslems und Juden vor, ebenso wie in Frankreich und Italien gegen Ketzer und in Deutschland und Holland gegen Hexen.16 Wenn Schleiermacher über Glaubenszwang und Schikanen von Christen gegen Juden berichtet, und zwar im Ton scharfer Mißbilligung,17 so steht er mit der aufgeklärtpragmatischen Kirchengeschichtschreibung, aus der seine Kenntnisse kommen, in voller 14 Schleiermacher, Kollektaneen 300; 306, in: KGA II/6 (s. o. Anm. 2), 207f. 15 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 59. Stunde, KGA II/6, 534; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 139, und ders., SW I/11, hg.v. Eduard Bonnell, Berlin 1840, 367f., 371; ders., Kollektaneen 471; 537; 550; 570; 588; 1143, KGA II/6, 244. 262. 265. 268. 277. 428. Vgl. zu Gregors Projekt auch Schleiermachers Bemerkung: »Aber die Römische Kirche glaubt schon immer etwas zu haben, wenn sie nur etwas Äußeres hat von dem Grundsatz aus: daß man nicht wissen kann, was dadurch mit der Zeit wird« (Schleiermacher, Kirchliche Statistik 1827, 15. Stunde, in: KGA II/16, hg.v. Simon Gerber, Berlin/New York 2005, 243). 16 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 85. und 91. Stunde, KGA II/6, 608. 625; ders., Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, 481. 545; ders., Kollektaneen 626; 710; 754; 810, KGA II/6, 288. 324. 337. 351. 17 Vgl. auch Schleiermacher, Kirchliche Statistik 1827, 20. Stunde, KGA II/16, 259f.; ders., Katholische Kirche 45, KGA II/16, 72f.

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Übereinstimmung auch der Beurteilung. Semler schreibt in seinen Zenturien vom fünften Jahrhundert an fast jedes Mal von Verleumdungen, Gewalttaten und bürgerlichen Zwangsmaßnahmen gegen die Juden, auch von Übertritten zum Christentum aus Opportunismus,18 gelegentlich schließlich auch von richterlicher Fairneß und Schutzmaßnahmen des christlichen Klerus zugunsten der Juden.19 Noch reicheres Material darüber findet sich bei Schröckh.20 Um ein waches, selbstkritisches Auge für die mancherlei judenfeindlichen Garstigkeiten in der Geschichte der christlichen Kirche zu haben, bedurfte es keiner »Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden«21 und keiner »Theologie nach Auschwitz«.22 Über eine geschichtstheoretische Einordnung des Phänomens Judenfeindschaft sagt Schleiermachers Kirchengeschichte nichts Spezielles. Nach seinem Grundsatz, daß die Mißbildungen und Rückschritte in der Entwicklung der Kirche immer aus dem Menschen, insofern er vom christlichen Geist noch nicht voll durchdrungen ist, kommen, bei neubekehrten Individuen und Völkern insbesondere aus ihrem unchristlichen Vor18 Semler, Versuch (s.o. Anm. 8), Bd. 1, Halle 1773, 93f. 154–156. 211f. 245f. 286. 376. 470–482. 587. 591–593. 651–653; ders., Versuch, Bd. 2, Halle 1774, 19. 61–63. 19 Semler, Versuch, Bd. 1, 155f. 286. 482f. 591f.; ders., Versuch, Bd. 2, 61. 20 Vgl. das Register: Schröckh (s.o. Anm. 7), Bd. 35, Leipzig 1803, 202f. Schröckh ist im Vergleich mit Semler noch mehr Polyhistor und weniger kritischer Historiker; doch wo er Berichte z.B. über jüdische Untaten an Hostien und Christenkindern zitiert und auf ihren Wahrheitsgehalt prüft, kommt auch er zu einem negativen Ergebnis. – Vgl. auch Henke/Vater: Allgemeine Geschichte (s.o. Anm. 8), Bd. 9, Braunschweig 1823, 567, bei dem das Thema eine geringere Rolle spielt. 21 So der programmatische Beschluß der rheinischen Landessynode vom 11.1.1980 (Handreichung für Mitglieder der Landessynode, der Kreissynoden und der Presbyterien in der Evangelischen Kirche im Rheinland 39, Mülheim [1980], 9–11, auch abgedruckt in: Günther Bernd Ginzel (Hg.), Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen [Tacheles: Zur Sache 1], Heidelberg 1980, 402–407), in dem es u.a. heißt, die Kirche sei »durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen«; gemeint ist offenbar der Sinaibund. Knapp und treffend dazu noch immer die Erwägungen der Bonner und Münsteraner Theologieprofessoren (epd-Dokumentation 1980, Nr. 42, 14–17). 22 Vgl. z. B. Bertold Klappert, Die Juden in einer christlichen Theologie nach Auschwitz, in: Ginzel (s.o. Anm. 21), 481–512, wo es u.a. heißt: »Christliche Theologie nach Auschwitz ist darin auf das Judentum als den Zeugen der messianisch-apokalyptischen Hoffnung angewiesen, daß sie sich lösen muß von einem sterilen Christozentrismus oder Christomonismus [. . . ]. Nur der gekreuzigte und der in Auschwitz mitleidende und vernichtete Gott kann helfen. Es liegt an der Sache selbst, daß wir hier nicht mehr von mitgebrachten Vorstellungen über Gott, sondern nur noch von den jüdischen Zeugen Gottes in Auschwitz herkommen können« (495. 498). Das ist sicher mit brennendem Herzen gesprochen, steht aber in genauem Gegensatz zur ersten Barmer These: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes [scil. Jesus Christus] auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen« (Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Bd. 2. Das Jahr 1934, Göttingen 1935, 93). Tatsächlich ist »Christomonismus« eben das, was Paul Althaus der Barmer Erklärung vorgeworfen hat, vgl. Paul Althaus, Die christliche Wahrheit, Bd. 1, Gütersloh 21949, 68–73; Ernst Wolf, Barmen (BEvTh 27), München 21970, 94–103. Freilich wollte Althaus geltend machen, daß Christus der Offenbarer des Evangeliums, aber nicht des Gesetzes und der Ordnungen sei, während es Klappert eher um eine Ergänzung der Heilsoffenbarung Christi in der Geschichte geht.

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leben,23 müßten Gewalt und Zwang gegen Andersgläubige Erscheinungsformen der fleischlichen Laster sein, die mit der intensiven Steigerung des Christentums in den Menschen aber allmählich aufhören. Als besondere Ursache sieht Schleiermacher vielleicht eine Verwirrung der ethischen Formen24 (also etwa das, was die Confessio Augustana das »Ineinanderwerfen und Mengen der zwei Regimenter« nennt),25 das heißt den Versuch, religiöse Fragen und Differenzen mit Mitteln und Sanktionen des Staates zu bereinigen.

3. Kehren wir nach diesem Streifzug durch die zweite und dritte Periode der Kirchengeschichte wieder an den Anfang zurück, zu Schleiermachers Vorhaben, eine von einer Idee getragene Geschichte zu erzählen! Macht so eine Idee den Historiker nicht befangen? Ziemlich zu Beginn des ersten Kompemdiums von 1821/22 legt Schleiermacher dar, daß jede Geschichte mindestens latent immer schon von der Anschauung des Betrachters bestimmt sei. Eine neutrale, wirklich unvoreingenommene Geschichte gebe es gar nicht; auch sei es unmöglich, die Geschichte zunächst unparteiisch und unbefangen zu betrachten und sich erst dann anhand der objektiven Tatsachen seinen Standpunkt zu wählen. Diese Abhängigkeit der Geschichte von der subjektiven Sicht des Anschauenden, seinen Sympathien und Antipathien angesichts des Gegenstandes, sei bei der Kirchengeschichte noch stärker als bei einer politischen Geschichte gegeben. Man müsse also bei einer Darstellung der Kirchengeschichte immer zuerst den Standpunkt des Darstellenden kennenlernen, und im Gegensatz zu vielen anderen wolle er, Schleiermacher, damit auch gar nicht hinter dem Berg halten. Sein Glaubensbekenntnis sei: 1) Christus sei nicht ein Fortsetzer außerchristlicher Anfänge im Judentum oder im Heidentum, auch kein Reformator des Judentums; das Christentum fange erst mit dem an, was in Christus als Ursprüngliches gesetzt gewesen sei. Daraus folge 2), daß dieses Ursprüngliche in Christus etwas Göttliches, eine neue Offenbarung sei, dazu bestimmt, zum Eigentum der ganzen Menschheit zu werden.26 Wir sind also inhaltlich wieder bei dem anfangs zitierten Leitsatz aus der Glaubenslehre von der Selbständigkeit der christlichen Religion auch gegenüber dem Judentum angelangt; nur gilt das hier interessanterweise nicht als wissenschaftlicher Satz aus der religionsphilosophischen Apologetik,27 sondern als Glaubenssatz. Die Vorlesung wurde in zeitlicher Nähe zur ersten Auflage der Glaubenslehre und zur Dialektik von 1822 gehal23 Vgl. Schleiermacher, Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 5. Stunde, KGA II/6, 13; ders., Kirchengeschichte 1821/22, 3. Stunde, KGA II/6, 22f. 474–476; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 682; ders., Christliche Sitte 1826/27, SW I/12, 209; ders., Der christliche Glaube2, §148, KGA I/13,2, 427–430; ders., Theologische Enzyklopädie 1831/32, §83, (s.o. Anm. 12), 86f. 24 Vgl. dazu Schleiermacher, Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 6.–7. Stunde, KGA II/6, 14–16. 25 Confessio Augustana XXVIII,12, in: BSLK, Göttingen 81979, 122. 26 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde, KGA II/6, 22. 471–474. 27 Vgl. Schleiermacher, Kurze Darstellung2 §21. 24. 39. 43–46, KGA I/6, 334f. 340f. 342f.

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ten, die die Eigenständigkeit des christlichen Glaubens und der Religion überhaupt gegenüber dem philosophischen System und der Wissenschaft betonen.28 Vielleicht geht es Schleiermacher hier also darum, die Kirchengeschichte als theologische Disziplin im kirchenleitenden Interesse auf ein allein kirchlich-religiöses Fundament zu stellen. – Das zweite Kompendium wiederholt das »Glaubensbekenntnis« inhaltlich; Schleiermacher sagt, daß er »weniger als andere Theologen das Christenthum für eine Fortsezung des Judenthums« halte.29 In jüngerer Zeit haben Klaus Beckmann und noch mehr Matthias Wolfes Schleiermacher für seine scharfe Grenzziehung zwischen Altem Testament und Judentum einerseits, Christus und dem Christentum andererseits kritisiert, die mit einer Abwertung von ersterem einhergehe.30 Für Wolfes ist Schleiermachers ungünstige Beurteilung der alttestamentlich-jüdischen Religion gar mitverantwortlich für das Versagen der evangelischen Kirchen vor dem mörderischen Judenhaß des 20. Jahrhunderts.31 Auch nehme Schleiermachers Christusbild gänzlich unhistorische Züge an.32 Beckmann konstatiert, daß Schleiermacher zwar kein Anhänger der sogenannte Substitutionstheorie sei, wonach Israel (beziehungsweise das Judentum) als Gottesvolk durch die Kirche abgelöst worden sei, daß er aber die besonders in seiner reformierten Konfession gepflegte Vorstellung von einem das biblische Israel und die Kirche umfassenden Gottesvolk nicht teile.33 Allerdings basiert die von Beckmann als antijudaistisch gescholtene Substitu28 Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2 Bde., Berlin 1821/22, §1,4; 2,2; 31,1; 38, in: KGA I/7,1, hg.v. Hermann Peiter, Berlin-West/New York 1980, 12. 15f. 109–112. 127f.; ders., Dialektik 1822, 50.–51. Stunde, in: KGA II/10,1, hg.v. Andreas Arndt, Berlin/New York 2002, 265–267, und Bd. II/10,2, Berlin/New York 2002, 565–571; vgl. auch ders., Christliche Sitte 1822/23, SW I/12, 30f. 75. 87–93. 29 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 673. 679. Vgl. dazu auch die Beiträge von Jan Rohls und Notger Slenczka in diesem Band. 30 Klaus Beckmann, Die fremde Wurzel (FKDG 85), Göttingen 2002, 34–103. 312–323; Matthias Wolfes, Schleiermacher und das Judentum. Aspekte der antijudaistischen Motivgeschichte im deutschen Kulturprotestantismus, in: Aschkenas 14 (2004), 485–510; ders., Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, Bd. 2 (AKG 85,2), Berlin/New York 2004, 360–390; ders., Schleiermacher and Judaism. On the Relationship Between Protestant Theology and Emancipation Politics in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Century, in: Hans Dierkes/Terrence N. Tice/Wolfgang Virmond (Hg.), Schleiermacher, Romanticism, and the Critical Arts. A Festschrift in Honor of Hermann Patsch (New Athenaeum/Neues Athenaeum 8), Lewiston/Queenston/Lampeter 2007/08, 305–326. 31 Wolfes, Schleiermacher und das Judentum, 488f.; ders., Öffentlichkeit, Bd. 2, 326–329; ders., Schleiermacher and Judaism, 307; ähnlich auch schon Hans-Joachim Iwand: Die Kirche und die Juden, in: JK 12 (1951), 105f. – Das einzig Wahre dazu hatte Schleiermacher schon 1799 wenigstens grundsätzlich gesagt, daß nämlich die Frage der Toleranz in Staat und Gesellschaft und die nach der religiös-dogmatischen Wahrheit grundsätzlich nicht miteinander vermengt werden dürften; vgl. [Schleiermacher,] Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter, Berlin 1799, 11–19, in: KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin-West/New York 1984, 334–338. Vgl. dazu auch den Beitrag von Hans-Martin Kirn in diesem Band. 32 Wolfes, Schleiermacher und das Judentum, 502; ders., Schleiermacher and Judaism, 319. 33 Beckmann, aaO., 99. 102f.

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tionstheorie34 ja gerade auf der Vorstellung einer unmittelbaren Kontinuität zwischen dem biblischen Israel und der christlichen Kirche und auf der direkten Parallelisierung zwischen Sinaibund und Evangelium.35 Für Schleiermacher ist das Judentum nicht bloß eine Vorform oder mißratene Nebenform des Christentums; er hat es als eine auch gegenüber dem Christentum eigenständige Gestalt der monotheistischen Religion ernstgenommen. Ob seine Charakterisierung des Judentums diesem tatsächlich gerecht wird,36 ist freilich eine andere Frage. Das gilt aber zum Beispiel auch für seine Beurteilung der Ostkirchen.37 Worum geht es Schleiermacher also bei seinem Glaubensbekenntnis, das er der Kirchengeschichte zugrundelegt? Es ist die Alleinmittlerschaft Christi, seine Einzigartigkeit als Stifter des neuen menschlichen Gesamtlebens. Wenn von einer göttlichen »Offenbarung« in Christus die Rede ist, meint das freilich nichts Übernatürliches, von Gott unmittelbar und außer dem Kausalzusammenhang der Natur Gewirktes, unfehlbar Wahres. Offenbarung ist nach der Glaubenslehre vielmehr so etwas wie religiöse Spontaneität oder Kreativität, also etwas, was so nicht aus der gegenseitigen Einwirkung der Menschen aufeinander abgeleitet werden kann; in diesem Sinne kann auch der Ursprung anderer Religionen Offenbarung genannt werden.38 Schleiermachers Glaubensbekennt34 Eine Art Substitutionstheorie gegenüber Israel hatte auch schon das frühe Judentum, vgl. Hos 1,7 (als Glosse zu 1,6); Ps 78,67f.; 2Chr13,4–11. 35 Vgl. zu dem Problem auch Werner Wiesner, Art. »Bund V. Alter und neuer Bund, dogmatisch«, in: RGG3 1, Tübingen 1957, 1521–1523. Bei Paulus entspricht der positiven Willenskundgebung Gottes an Israel in der Tora auf Seiten der anderen Völker eben nicht das Evangelium, sondern die Selbstoffenbarung Gottes durch die Schöpfung; das Evangelium ist gegenüber beiden das Neue (Röm1, 14–3, 30). Daß im Übrigen aus dem positiven Anknüpfen an die alttestamentlichisraelitische und jüdische Tradition nicht unbedingt auch eine günstige Beurteilung des Judentums folgt, zeigt schon das Matthäusevangelium. 36 Vgl. besonders die vieldiskutierte Passage: [Schleiermacher,] Über die Religion, Berlin 1799, 286– 291, in: KGA I/2, 314–316; dazu auch Arnulf von Schelihas Beitrag in diesem Band. Daß hier indessen der Gott des Judentums als maschineller Schicksalsverwalter erscheine und der Freiheitsbegriff aufgelöst werde (so Wolfes, Schleiermacher und das Judentum, 505; ders., Schleiermacher and Judaism, 321), stimmt nicht; Schleiermacher bestimmt das Verhältnis zwischen Mensch und Gott nach jüdischem Verständnis ja gerade als beständigen Dialog von freier Tat des Endlichen und »Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche«. Das Wesen des Judentums ist für Schleiermacher danach also der Glaube an den Tun-Ergehens-Zusammenhang, wie er sich im Alten Testament besonders in den deuteronomistischen Passagen der Bücher Dtn bis 2Kön und Jer und in 1–2Chr äußert, im neuen Testament etwa in der Frage der Jünger über den Blindgeborenen (Joh 9,2). 37 Vgl. Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 59. Stunde, KGA II/6, 536; ders., Kirchliche Statistik 1827, 5. und 16. Stunde, KGA II/16, 204f. 244; ders., Kirchliche Statistik 1833/34, 5. und 9.–10. Stunde, KGA II/16, 476–478. 487f.; dazu auch Simon Gerber, Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), 183–214, hier 187f.; ders., Kirchliche Statistik als Soziologie des Christentums, in: Andreas Arndt/Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.), Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006 (SchlA 22), Berlin/New York 2008, 443–457, hier 449–451. 38 Schleiermacher, Der christliche Glaube1, §19, 2f., KGA I/7,1, 72–77. Vgl. auch [ders.,] Über die Religion, 287, KGA I/2, 314: »ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Nothwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich«. In

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nis meint also keinen exklusiven, übernatürlichen Offenbarungscharakter der christlichen Religion, sondern zweierlei: die religiöse Originalität und die Universalität Christi und damit auch der durch ihn gestifteten, auf ihm gründenden Glaubensgemeinschaft. Christus ist kein Lehrer natürlicher Tugend und Weisheit, auch kein Verbesserer einer schon vorhandenen Religion. Mit ihm beginnt vielmehr etwas Neues, und dieses Neue, das nur in ihm und durch seine Mittlerschaft da ist, bezieht sich auf alles Bisherige in gleicher Weise; darum ist es keine Substitutierung des Judentums, jedenfalls nicht mehr als irgend einer anderen Religion. Schleiermacher ist auch der Meinung, daß eine Kirchengeschichte, die nicht auf einem solchen christlich-religiösen Fundament steht, eine Absurdität wäre: Für einen Verächter der Religion ist das Christentum gar kein positives Element der Weltgeschichte, sondern ein ethischer Irrtum, der verschwinden muß; ein rein negative Idee kann aber nicht Gegenstand der Geschichte, der positiven Weltentwicklung sein. Nimmt man das Christentum wiederum nicht wie er, Schleiermacher, als etwas Neues, sondern als Fortsetzung etwas schon Vorhandenen wie des Judentums, dann ist seine Geschichte eben kein eigener organischer Abschnitt der Weltentgeschichte, sondern nur ein mehr oder weniger willkürlich vorgenommener Ausschnitt aus einer übergeordneten Geschichte.39 Kirchengeschichte (und historische Theologie insgesamt) zu betreiben ist bei Schleiermacher also nichts anderes als den Glaubenssatz von der religiösen Originalität und Alleinmittlerschaft Christi auf der Grundlage der philosophisch-ethischen Kulturtheorie historisch zu explizieren.

4. Wie sieht nun Schleiermachers historische Konstruktion der Neuheit und Originalität Christi und seiner Gemeinschaft gegenüber allem Bisherigen aus? Zunächst: Schleiermacher leugnet nicht die nationale und kulturelle Verwurzelung Christi und des frühen Christentums im Judentum; auch, sagt er, hätte Christus nicht ebensogut in einem polytheistischen wie im jüdisch-monotheistischen Kontext auftreten können.40 Das zweite Kompendium wirft sogar einen Blick auf das Judentum dieser Zeit: Von den jüdischen Gruppen seien die elitären Sadduzäer (deren Arroganz sich schon darin äußere, daß diesem Sinne hat nicht nur Schleiermachers Christusbild unhistorische Züge (s.o. Anm. 32), sondern sein Bild jedes Religionsstifters und jedes Anfangs in der Reliigonsgeschichte. 39 Schleiermacher, Einleitung in die Kirchengeschichte 1806, 4. Stunde, KGA II/6, 12; ders., Ethik 1812/13, Einleitung, §47, in: ders., Werke. Auswahl, Bd. 2 (s.o. Anm. 2), 250; ders., Kirchengeschichte 1821/22, 2. Stunde, KGA II/6, 22. 471f.; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 125f. 670f. 678f.; ders., Kurze Darstellung2, §78–80, KGA I/6, 356f. 40 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 673; ders., Christliche Sitte 1826/27, in: SW I/12 (s. o. Anm. 4), 292f.; ders., Der christliche Glaube2, §12,1f.; 132,3, KGA I/13,1, 103– 105, und Bd. I/132, 340f.; ders., Theologische Enzyklopädie 1831/32, §83, (s. o. Anm. 12), 86; ders., Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §9, in: SW I/8, hg.v. Georg Wolde, Berlin 1845, 26f; ders., Das Leben Jesu 1832, 2. und 43. Stunde, in: SW I/6, hg.v. Karl August Rütenik, Berlin 1864, 12f. 305. Vgl. dazu auch den Hermann Fischers Beitrag in diesem Band.

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ihnen die bei den einfachen Gläubigen immer entscheidende Frage nach der äußeren Lebensführung völlig gleichgültig gewesen sei) und die ganz konventikehaften Essener klein und unbedeutend gewesen; die (schon zu Schleiermachers Zeit beliebte) These von einem besonderen Zusammenhang Christi mit den Essenern sei haltlos. Vor allem die Pharisäer seien es gewesen, unter denen Christus und die Apostel Anhänger gefunden hätten. In der jüdisch-apokalyptischen Literatur findet Schleiermacher schon eine frühe Form der kabbalistischen Vorstellung von der Himmelfahrt und Wiederkehr der Seele Adams in Henoch, Mose, Elia und dem Messias. Die Apostel hätten sich nun in ihrer Predigt nicht in erster Linie auf die Auferstehung und Himmelfahrt Christi berufen, denn hätten sie das getan, dann hätten sie unfehlbar alle kabbalistischen Juden davon überzeugt, daß Christus der erwartete Wiedergänger sei. Der Hauptanknüpfungspunkt für die Apostel seien vielmehr die im Volk lebendigen messianischen Hoffnungen gewesen; diese mußten freilich erst vom Grobsinnlichen gereinigt werden, gaben aber dem Christentum einen ersten Standpunkt in der geschichtlichen Wirklichkeit.41 Die Urgemeinde lebt und webt noch ganz im Judentum, nimmt am jüdischen Kultus teil und hat daneben ihren eigenen Kultus am Sonntag. Die jüdische Umwelt nimmt sie als eine messianische Privatsynagoge neben anderen wahr. Wer zu ihr stößt, bedarf noch nicht einmal einer besonderen Unterweisung; ihr einziges Proprium gegenüber dem sonstigen Judentum ist das Bekenntnis zu Christus. Die hohepriesterliche Obrigkeit schreitet zwar gelegentlich gegen die Urgemeinde ein, aber nur, weil diese ihr Todesurteil über Christus kompromittiert; ansonsten stehen Glaube und Praxis der Urgemeinde mit keinem jüdischen Dogma in Widerspruch. Selbst die gesetzes- und tempelkritische Rede des Stephanus (Apg 7,8–53) bewegt sich für Schleiermacher noch im Rahmen der jüdischen Hoffnung, daß der Messias die beschwerlichen Gesetzesvorschriften aufheben werde.42 Wann und aus welchem Anlaß kommt es nun zum Bruch und zur Exkommunikation der Christen aus der jüdischen Synagoge? Danach fragt Schleiermacher nicht, sondern er weist darauf hin, daß es den Christen selbst allmählich selbst zum Bewußtsein kommt, daß das Christentum seinem Wesen nach etwas dem Judentum gegenüber Neues und Eigenes ist. Anlaß dazu ist die Aufnahme zunächst von Samaritern und Proselyten, dann von Heiden in die Gemeinde und die Frage, ob von ihnen allen das Halten des jüdischen Gesetzes verlangt werden müsse oder nicht.43 Zum liberalen Gegengewicht gegen das streng jüdische Jerusalem wird Antiochia; aber auch die antiochenische Freisinnigkeit wurzelt im Judentum, nämlich im hellenistischen Judentum, das es von jeher mit dem Gesetz weniger genau nahm als das palästinische. Mit der Philippika des 41 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 703f. Der christliche Chiliasmus ist für Schleiermacher – wie auch für Confessio Augustana XVII, 5, in: BSLK8, (s.o. Anm. 25), 72 – unkritisch rezeptierter jüdischer Messianismus (Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 14. und 23. Stunde, KGA II/6, 36. 56; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 127. 131. 716f.; ders., Kollektaneen 42; 126; 128; 138, KGA II/6, 151. 168f. 171). 42 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 9.–10. Stunde, KGA II/6, 27f. 491–493. 43 Vgl. Schleiermacher, Christliche Sitte 1822/23, SW I/12, 181: »So lange das Christenthum allein unter den Juden bestand, konnte die Frage gar nicht entstehen, ob die Verbindlichkeit des mosaischen Gesezes fortdaure, oder nicht.«

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Paulus gegen Petrus und Barnabas (Gal2, 14–21) beginnt die notwendige Emanzipation des Christentums von dem geistig-kulturellen Zusammenhang, innerhalb dessen es seine erste Gestalt angenommen hat: Die Befolgung des Gesetzes habe auch für den Judenchristen keinen religiösen Wert mehr, sie mache »kein Verhältniß mehr [. . . ] zwischen Gott und ihm«, sondern gehöre lediglich zu seiner nationalen Identität.44 Für Schleiermacher ist klar, daß in diesem Zwiespalt Paulus recht hat und seinem Konzept die Zukunft gehört. Dennoch versucht er, auch der anderen Seite gerecht zu werden: Beiden ging es, wie er in der christlichen Sittenlehre ausführt, darum, das ursprüngliche Christentum zu bewahren. Die Judaisten »gingen von der Idee aus, daß das Christenthum im Judenthume entstanden, und also nur eine Modification desselben sei. [. . . ] Folglich bedürfe es der Wiederherstellung, nämlich der Rükkbildung zu der Vorstellung, das mosaische Gesez sei für alle Christen ohne Unterschied verbindlich.«

Paulus hingegen sah die Selbständigkeit des Christentums vom Judentum als ursprünglich an, nur sei sie dadurch in Vergessenheit geraten oder noch nicht zum Bewußtsein gekommen, daß zunächst eben alle Christen Juden gewesen seien und als solche das Gesetz gehalten hätten.45 Letzten Endes sei es aber gut gewesen, daß beide Seiten ein Abkommen gefunden hätten, das beide Auffassungen ohne wechselseitige Verdammung nebeneinander bestehen ließ (hier denkt Schleiermacher an die Abkommen Gal2, 1–10; Apg15, 1–35). Eine einseitige Durchsetzung der liberalen Position Pauli nach Art der späteren Konzile mit ihren Mehrheitsbeschlüssen und Anathemata gegen die Unterlegenen hätte den Gemeingeist des palästinischen Judenchristentums vergewaltigt und die Kirche gespalten. So aber konnte Paulus mit seiner gesetzesfreien Heidenmission fortfahren und die Basis dafür schaffen, daß seine bessere Einsicht allmählich zum Gemeingut der ganzen Kirche werden konnte.46 Es gehört zu den Grundgegebenheiten der Kirchengeschichte, daß sich der christliche Geist, je nach der individuellen, sprachlich-kulturellen und nationalen Verschiedenheit seiner Organe, in immer neuen Gestalten verwirklicht;47 Christentum, das hatte Paulus erkannt, gibt es nicht nur im Kontext der jüdischen Kultur.

44 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 10.–11. Stunde, KGA II/6, 28–30. 493–496. 45 Schleiermacher, Christliche Sitte 1822/23, SW I/12, 180f. 46 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 11. Stunde, KGA II/6, 30. 496f. Vgl. ders., Der christliche Glaube2, §150,1, KGA I/13,2, 435f., wonach die Urkirche nur wegen des damals noch kräftigen gemeinschaftbildenden Prinzips nicht in eine juden- und eine heidenchristliche Partialkirche zerfiel. 47 Schleiermacher, Christliche Sitte 1809/10, §148, SW I/12, Beilage, 50f.; ders., Kirchengeschichte 1821/22, 3.–4. Stunde, KGA II/6 22f. 474–479; ders., Christliche Sitte 1822/23, SW I/12, Beilage, 155, und Bd. I/12, 57–64. 135. 304f. 567f. 574; ders., Christliche Sitte 1824/25, in: SW I/12, 64; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 682–686; ders., Christliche Sitte 1826/27, SW I/12, 419; ders., Kirchliche Statistik 1833/34, 2. Stunde, KGA II/16, 468f.

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5. Die Unsicherheit der christlichen Kirche über ihren Ort in der Religionsgeschichte, aber auch in der menschlichen Kulturwelt überhaupt, dauert aber noch die ganze Periode bis zu Konstantin an. Sie äußert sich nicht nur in einer gelegentlich aufbrechenden Totalopposition gegen Staat und Gesellschaft,48 sondern auch in judaisierenden und ethnisierenden Überfremdungen des genuin Christlichen. Eine Extravaganz ins Jüdische stellt die ebionitisch-nazoräische Häresie dar, die Christus ganz in die israelitisch-jüdische Geschichte einordnet und zu einem bloßen Propheten degradiert. Diese Hairesis sei nichts anderes als die palästinische Urgemeinde, die im Jüdischen Krieg zwischen die Fronten geriet, ins Ostjordanland floh und so den Zusammenhang mit der Ökumene verlor. Von allen Entwicklungen abgeschnitten, erstarrte sie in ihrem Judentum. Als profiliertesten Vertreter dieser Richtung nennt Schleiermacher den (meist als Gnostiker geltenden) Kerinth mit seiner für das Judenchristentum charakteristischen Neigung zum Natürlichen statt Wunderbaren und zur Buchstäblichkeit statt Geistigkeit: Kerinth erklärt die fortdauernde Befolgung des jüdischen Gesetzes für notwendig und glaubt nicht an eine übernatürliche Erzeugung Jesu. Er deutet die Taufe Jesu adoptianisch, er bestreitet, daß der Logos im Fleisch gelitten habe (Christus sei durch den Logos inspiriert nach Analogie der Propheten, also könne dieser ihn wieder verlassen, und da der jüdische Opferkult damals ja noch fortdauerte, kommt dem Tod Christi für Kerinth wohl ohnehin keine Heilsbedeutung zu), und er erwartet ein irdisches tausendjähriges Reich (er vertritt also eine diesseitige Eschatologie und ein buchstäbliches Verständnis der biblischen Verheißungen, wobei Christi Auferstehung mit seiner kommenden sichtbaren Wiederkehr identifiziert wird).49 Immerhin urteilte Origenes milde über dieses Judenchristentum: Es sei eine Dürftigkeit, aber keine eigentliche Irrlehre.50 Dem Ebionitismus oder Nazoräertum als Überfremdung des Christentums durch das Jüdische entspricht auf heidnisch-hellenischer Seite der Gnostizismus: »Gnostisches Grenzvermischung gegen das Heidenthum[,] die Nazaräer gegen das Judenthum«,

schreibt Schleiermacher.51 Daß der Extravaganz ins Jüdische eine ebensolche ins Heidnische entspreche, ist aber nicht erst aus dem Phänomen des Gnostizismus abgeleitet; es 48 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 129. 696. 715f. 723; ders., Kollektaneum 976, KGA II/6, 391. 49 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 14.–15. Stunde, KGA II/6, 35–38; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 130f. 706–708; ders., Kollektaneen 119; 126; 128, KGA II/6, 167– 169. Daß Kerinth, wie Theodoret (Haereticarum fabularum compendium II, 3, in: MPG 83, Paris 1864, 389) behauptet, die Welt – typisch gnostisch, aber ganz unjüdisch – nicht für Gottes Werk gehalten habe, hält Schleiermacher für unzutreffend (Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, 104f.; ders., Kollektaneum 126, KGA II/6, 168). 50 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, 79f.; ders., Kollektaneum 74, KGA II/6, 157 (nach Origenes, Commentarii in Matthaeum XVI, 12, in: GCS 40 [Origenes X], hg.v. Ernst Benz/Erich Klostermann, Leipzig 1935, 511–513). 51 Schleiermacher, Kollektaneum 1, KGA II/6, 143; vgl. ders., Kirchengeschichte 1821/22, 15., 19. und 25. Stunde, KGA II/6, 38. 47. 62; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 127;

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folgt schon daraus, daß Judentum und hellenisches Heidentum eben die beiden geistigen Mächte der Welt sind, in die das Christentum eintrat, auf die es wirkte, in der es Gestalt annahm und in der es sich behaupten mußte.52

ders., Kollektaneum 20, KGA II/6, 147. Die häresiologische Windrose der Glaubenslehre sieht die ebionitisch-pelagianische Ketzerei als mehr judaisierend, die doketisch-manichäisch als hellenisierend an (Schleiermacher, Der christliche Glaube2, §22, KGA I/13,1, 155–160). 52 Schleiermacher kann dem Ebionitismus auch die polytheistische Deutung der Göttlichkeit Christi als ethnisierende Ketzerei gegenüberstellen (Schleiermacher, Kollektaneum 45, KGA II/6, 152; vgl. auch ders., Notizen zur Trinitätslehre, in: KGA II/6, 757f. 765; ders., Über den Gegensaz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität, in: Theologische Zeitschrift 3 [1822], 295–408, hier 296–301, in: KGA I/10, hg.v. Hans-Friedrich Traulsen/Martin Ohst, Berlin/New York 1990, 226–228) und andererseits zugeben, daß der Gnostizismus nicht nur im hellenischen Heidentum, sondern auch im Judentum verwurzelt ist (Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde, KGA II/6, 46). – Bei manchen Phänomenen ist Schleiermacher sich auch nicht sicher, ob er sie mehr auf der jüdischen oder der heidnischen Seite einordnen soll: Den von Euseb gelegentlich benutzten frühchristlichen Schriftsteller Hegesipp ordnet er zunächst unter den häretischen Judenchristen ein, d. h. unter denen, die die Einzigartigkeit Christi und die Neuheit des Christentums gegenüber dem Alten Testament nicht voll erfaßt hätten (Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 14. Stunde, KGA II/6, 36; ders., Kollektaneum 25, KGA II/6, 147f.). Das zweite kirchengeschichtliche Kompendium macht Hegesipp dann anhand eines nicht bei Euseb, sondern in der Bibliothek des Photius überlieferten Fragments vom Judaisten zu einem Gegner des Chiliasmus und einer unreflektierten und unkritischen Rezeption des Alten Testaments in der christlichen Kirche (Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 131. 716f.). Tatsächlich gibt die Stelle (aus den Quaestiones disputatae des Monophysiten und Tritheisten Stephan Gobar bei Photius, Bibliotheca codex 232, in: ders., Bibliothèque, Bd. 5, hg. v. René Henry, Paris 1967, 70) dies aber gar nicht her: Hegesipp argumentiert dort mit Matth13, 16 gegen Jes64, 3; 1Kor2, 9 dafür, daß die Heilsgüter nicht unsichtbar und unhörbar, sondern sichtbar und hörbar seien. Nach Schleiermacher berief Hegesipp sich aber gegen den Chiliasmus auf Joh 20,29. – Die schroffe, asketische Abwertung der Materie bei den auf Tatian den Assyrer zurückgehenden Enkratiten wiederum hält Schleiermacher zunächst für übertriebenen Antijudaismus (Schleiermacher, Kollektaneum 27, KGA II/6, 148). Dann jedoch kommt er zur genau entgegengesetzten Einordnung des Phänomens: Tatians Strenge sei eine »modificirte jüdische Ansicht«. Die Verteufelung der Materie finde sich zwar auch im Gnostizismus, erkläre sich aber bei Tatian daraus, daß der Satan nach alttestamentlich-jüdischer Lehre die Menschen mit der Materie betrogen und zu Fall gebracht habe. Fleisch und Alkohol, die Tatian verbot, übten von allen Nahrungsmitteln die stärkste Gewalt auf den Menschen aus, und das Fleisch lasse sich darüber hinaus nicht genau vom Blut trennen, in dem nach jüdischer Vorstellung die Seele als Prinzip der Lebendigkeit lokalisiert wird. Das enkratitische Eheverbot erscheine bei dem großen Wert, den das Judentum auf Nachkommenschaft legt, zwar als ganz unjüdisch, doch auch dies lasse sich mit einer judaisierenden Tendenz vereinbaren, denn das Interesse an der Vermehrung des Volkes durch Fortpflanzung gehöre nur zur nationalen Seite des Judentums, nicht zur eigentlichen Religion der Juden (Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 21. Stunde, KGA II/6, 51f.). Offenbar hält Schleiermacher Gesetzlichkeit in äußerlichen Dingen für etwas genuin Jüdisches, dem hellenisch-gnostischen Prinzip der äußerlichen Beliebigkeit Entgegenstehendes. Im zweiten Kompendium revidiert Schleiermacher diese Deutung wieder: Tatians Feindschaft gegen die Materie sei gnostisch und stelle einen Gegensatz gegen das Judaisierende dar (Schleiermacher, Glosse zu Kirchengeschichte 1821/22, 21. Stunde, KGA II/6, 51 Fußtext; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 132, und SW I/11, 132f.; ders., Kollektaneum 960, KGA II/6, 387).

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Über die Gnosis hat Schleiermacher eigene Quellenforschungen angestellt53 und zu dem Problem, wie die verschiedenen gnostischen Gruppen und Phänomene sinnvoll erfaßt und einander zugeordnet werden können, eigenständige Lösungsvorschläge beigesteuert.54 Er betrachtet den Gnostizismus als ein Ineinander von wissenschaftlichphilosophischen, mythologischen und religiösen Elementen: Spekulative Kosmologie, Dualismus zwischen Geist und Materie, Doketismus, Theodizee und Soteriologie vereinigen sich zu einer philosophisch-theologischen Weltanschauung, in der die Schöpfung der materiellen Welt und die Erlösung in genauem Gegensatz gegeneinander stehen. Die beginnende rechtgläubige Theologie seit etwa 200 antwortet auf diese Extravaganzen mit zwei Dogmen: der göttlichen Monarchie und der Logos-Christologie. Das erste richtet sich besonders gegen die Gnosis: Es setzt der Abwertung der Schöpfung und des Alten Testaments entgegen, daß alle göttlichen Offenbarungen und Heilsveranstaltungen aus einer gemeinsamen Quelle kämen. Gegen die Ebioniten ist vor allem das zweite Dogma gerichtet, die Logos-Christologie. Sie wehrt die unbeschränkte Gleichsetzung des Erlösers mit den zu Erlösenden ab, die Herabsetzung Christi zu einem bloßen Menschen (dafür war der Begriff des Logos geeigneter als der noch weniger eindeutige Begriff des Gottessohns). Die dogmatische Literatur bis zu Origenes beruht auf eben diesen beiden Sätzen.55 Am Ende der Periode sind die beiden Sätze christliches Allgemeingut. Das Christentum ist sich seiner Besonderheit gegenüber dem Judentum, der heidnischen Mythologie und der hellenischen Metaphysik bewußt geworden, und so kommen Vermischungen mit diesen geistigen Größen von nun an nicht mehr vor.56

6. Hat damit das Judenchristentum aufgehört? Nicht ganz. Es lebt fort, im Katholizismus. Damit ist hier nicht die Idee der Papstmonarchie gemeint, sondern das Bewußtsein der Einheit der Kirche mit sich selbst, wie es im zweiten Jahrhundert allmählich hervordringt.57 Die Idee des Katholischen meint nicht nur die Einheit der Kirche im Raum, 53 Schleiermacher, Kollektaneen 23f.; 30; 49–54; 67; 76–87; 107; 110–139; 163, KGA II/6, 147. 149. 153. 156. 158–160. 163–172. 177. 54 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 18. Stunde, KGA II/6, 46. 55 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 19., 25. und 32. Stunde, KGA II/6, 47f. 62. 79. 56 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 6. Stunde, KGA II/6, 25. 484; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 694f. – In der kirchlichen Statistik indessen deutet Schleiermacher das Christentum der Abessinier als ein erstarrtes, vom Judentum innerlich noch nicht richtig abgelöstes Christentum; Indiz dafür sind ihm die zahlreichen jüdischen Gebräuche in dieser Kirche: Beschneidung, Reinheits- und Reinigungsgesetze, Vielehe der Herrscher und das Aufstellen einer Nachbildung der Bundeslade im sakralen Raum; vgl. Schleiermacher, Kirchliche Statistik 1827, 8. Stunde, KGA II/16, 216f.; ders., Kirchliche Statistik 1833/34, 8. Stunde, KGA II/16, 485f.; ders., Semitischer Zweig 6; 13; 17, in: KGA II/16, 20. 24. 26. 57 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 717.

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die Ökumene, sondern auch in der Zeit.58 Daher rechnet der Katholizismus nicht damit, daß sich die Kirche im Laufe ihrer Geschichte fortentwickle.59 Und umgekehrt dehnt er die Einheit der Kirche auch in die Vergangenheit aus, in die Vorgeschichte des Christentums, und hält Altes und Neues Testament ohne Unterschied für eins. Auch in die evangelischen Bekenntnisschriften ist diese Vorstellung eingegangen, nämlich als Lehre von der wahren Kirche von Anbeginn der Menschheit an.60 Im Unterschied zum Ebionitismus wird hier freilich nicht Christus ins Alte Testament eingegliedert, sondern umgekehrt das Alte Testament in die Kirchengeschichte. Wenn Cerdo, Marcion und später die Manichäer demgegenüber die Einheit und Einerleiheit der Heilsgeschichte bestreiten, so ist das für Schleiermacher angesichts ihrer Weltverneinung zwar nicht die volle Wahrheit, aber doch auch wieder eine verständliche, sogar sympathische Reaktion gegen eine unkritische Rezeption des Alten Testaments, ein Wachhalten des Bewußtsein, daß das Christentum als etwas Neues in die Welt kommt.61 So versucht Schleiermacher, zwischen beiden Einseitigkeiten, der monistisch-katholischen und der dualistisch-gnostischen, zu vermitteln: Cerdo als gemäßigter Dualist und etwa Justin der Märtyrer als Vertreter des frühen Katholizismus, beide wirksam in der Mitte des zweiten Jahrhunderts, hätten sich wohl darauf verständigen können, daß die Vorstellungen des Neuen Testaments im Alten latitierten, also schon vorhanden seien, aber eben nur verborgen, so daß man sowohl von heilsgeschichtlicher Kontinuität sprechen könne als auch von Umbruch und Neuanfang; doch dazu fehlte es an der nötigen Kommunikation zwischen Cerdos Heimat Syrien und Justins Heimat Samarien.62 Und in der Glaubenslehre läßt Schleiermacher die Annahme »einer einzigen Kirche Gottes von Anbeginn des Menschengeschlechtes bis zum Ende desselben« insoweit gelten, als sie nicht die Eigenständigkeit des Christentums gegenüber der Religion des Alten Testaments nivelliert, sondern ausspricht, daß die Wirksamkeit Christi und die Kirche als ihr Gegenstand keine Teilung leiden, weder durch nationale 58 Vgl. den klassischen Ausspruch des Vinzenz von Lerinum, Commonitorium 2, 3 (hg.v. Reginald Stewart Moxon, Cambridge 1915, 10): Wir müssen das als katholisch bewahren, was überall, immer und von allen geglaubt wurde. 59 Vgl. Schleiermacher, Christliche Sitte 1822/23, SW I/12, 72. 123. 384. 60 Schleiermacher, Der christliche Glaube2, §156,1, KGA I/13,2, 450–453. Schleiermacher hält diese Lehre ausdrücklich nicht für ein reformiert-föderaltheologisches Proprium. 61 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 16. und 18. Stunde, KGA II/6, 39. 45f.; ders., Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 131. 716f., und SW I/11, 286; ders., Kollektaneen 24; 30; 115f.; 1052, KGA II/6, 147. 149. 166. 408; ders., Einleitung ins Neue Testament 1831/32, §18, in: SW I/8, 64. Auch der Monarchianer Sabell wird gelobt, weil er die Theophanien des Alten Testaments nicht einfach mit dem in Christus fleischgewordenen Logos identifiziert wie die Athanasianer; Schleiermacher, Über den Gegensaz (s.o. Anm. 52), 399f., KGA I/10, 299f. 62 Schleiermacher, Kirchengeschichte 1825/26, KGA II/6, 717. Vgl. ders., Christliche Sitte 1826/27, SW I/12, 292f.: »Es ist ein Schwanken in der Theologie zwischen der Auffassung des Christenthums als eines ganz eigenthümlichen und zwischen der Auffassung desselben als einer reinen Entwikkelung der alttestamentlichen Offenbarung. Keines von beiden kann ganz geleugnet werden [. . . ]. Das von der Person Christi ausgehende eigenthümliche ist aber das wesentliche, alles übrige nur conditio sine qua non.«

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oder kulturelle Schranken noch durch die Zeiten. Christus und sein Werk beziehen sich unbeschränkt auf alles Menschliche, auch auf die vorchristliche Vergangenheit.63 Und so kann Schleiermacher zustimmend den frühchristlichen Theologen Clemens von Alexandrien zitieren: »Gott hat den Juden das Gesez gegeben und den Griechen die Philosophie. Aus beiden werden Christen.«64

63 Schleiermacher, Der christliche Glaube2, §12,3, KGA I/13,1, 105f; vgl. §156,3, KGA I/13,2, 454f. Vgl. Beckmann, aaO. (s.o. Anm. 30), 70f. 64 Schleiermacher, Kollektaneum 48, KGA II/6, 152, nach Clemens von Alexandrien, Stromata VI, 5, §41,6–42,3, in: GCS 52 (Clemens II), hg.v. Otto Stählin/Ludwig Früchtel/Ursula Treu, Berlin-Ost 41985, 452f; vgl. Schleiermacher, Kirchengeschichte 1821/22, 16. Stunde, KGA II/6, 39 Fußtext; ders., Kirchengeschichte 1825/26, SW I/11, 160. Vgl. auch ders., Der christliche Glaube2, §12,3, KGA I/13,1, 105 (hier wird Clemens, Stromata VI, 17, §159,9, in: GCS 524, 514, zitiert); ders., Theologische Enzyklopädie 1831/32, §46 (s.o. Anm. 12), 53.

III. Profile zwischen Romantik und Klassischer Moderne

Warum konvertieren? Anmerkungen zur Taufe der Dorothea Veit und Schleiermachers Haltung dazu Andreas Kubik Am 16. April des Jahres 1808 trat Dorothea Schlegel, geborene Brendel Mendelssohn, geschiedene Veit, gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedrich Schlegel vom evangelischen zum katholischen Christentum über. Am gleichen Tag wurde auch die katholische Eheschließung vorgenommen: Das so genannte paulinische Privileg nach 1.Kor 7, 15 ermöglichte die Auflösung ihrer einst jüdisch geschlossenen Ehe; die protestantische Ehe von 1804 zählte nach dem katholischen Kirchenrecht ohnehin nicht. Für Dorothea Schlegel markierte dieser Tag das Ende eines längeren Wegs: Im katholischen Glauben, dem sie die gut dreißig Jahren ihres restlichen Lebens angehörte, fühlte sie sich fortan sehr zu Hause und konnte mit tiefer Befriedigung die katholischen Taufen weiterer Familienangehöriger, vor allem ihrer Söhne, mit ansehen.1 An Deutungsversuchen dieser Spielart einer ›romantischen Konversion‹2 fehlt es nicht. Am gängigsten sind Erklärungsversuche kompensationspsychologischer Art: In ihrer Pariser, vor allem aber Kölner Zeit sei sie zunehmend vereinsamt, und folglich habe sich die Religion als Ersatz für den früheren geselligen und geistreichen Umgang angeboten3 – so, als sei einerseits Religion immer sogleich verfügbar, wenn sich jemand einsam fühlt, und so, als hätte andererseits Dorothea Schlegel vorher keine Religion gehabt. Andere wollen hingegen im gemeinsamen Übertritt des Ehepaars Schlegel zum Katholizismus nur die konsequente Entfaltung derjenigen Keime sehen, welche bereits in den Berliner Jahren, also 1797–1799, angelegt waren.4 Demnach wäre der eigentliche Motor Friedrich Schlegel gewesen, seine Gattin wäre ihm einmal mehr geistig gefolgt, 1

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Die bekannteste Biographie – hier und da etwas divinatorisch – stammt von Carola Stern, »Ich möchte mir Flügel wünschen«. Das Leben der Dorothea Schlegel, Reinbek 1990. Hinzuzuziehen ist in jedem Fall Heike Frank, ». . . die Disharmonie, die mit mir geboren ward, und mich nie verlassen wird. . . «. Das Leben der Brendel /Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel (1764-1839), Frankfurt am Main u.a. 1988. Zum Thema immer noch Benno von Wiese, Novalis und die romantischen Konvertiten, Halle 1929. Vgl. Heike Frank, aaO. 157–205. Vgl. Rudolf Unger, Einleitung, in: Ders. (Hg.): Briefe von Dorothea und Friedrich Schlegel an die Familie Paulus, Berlin 1913 (ND Liechtenstein 1968), XV–XVI.

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wie sie es nach dieser Deutung immer zu tun pflegte.5 In beiden Fällen wird aber nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass es sich hierbei – wie Hermann Patsch es einmal ausgedrückt hat – um das »Ergebnis eines inneren Weges«6 handelt, welcher in seinem Eigenrecht zu würdigen und auch für sich darzustellen wäre. Ihn nachzuzeichnen kann hier die Aufgabe nicht sein und würde auch den Rahmen bei weitem sprengen. Denn diese Nachzeichnung erforderte umfangreiche Einlassungen auf die Frömmigkeits- und Theologiegeschichte um 1800. Viererlei wäre mindestens zu beachten: Erstens die religiöse ›Luft‹ im Hause Mendelssohn und im Berliner Reformjudentum insgesamt, aus welchem ihr erster Ehemann Simon Veit stammte. Zweitens das religionsphilosophische Denken der Frühromantik,7 das Dorothea Schlegel8 – damals noch Veit mit Nachnamen – nicht nur rezipierte, sondern an dem sie teilnahm und das sie mit vorantrieb. Drittens – und dies ist eine Spur, welcher die bisherige Forschung noch gar nicht nachgegangen ist – ihren intensiven Austausch mit der Familie Paulus in Jena und später in Würzburg. Gut bekannt ist freilich, dass die Ehefrau Caroline des Theologen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus eine Zeit lang zu den besten Freundinnen Dorothea Schlegels zählt. Doch wäre auch mit einem Austausch zwischen ihr und Paulus selbst9 zu rechnen, schließt sie ihn doch ausdrücklich ein, als sie einmal schreibt, die Familie Paulus nähme »mit vieler Freundschaft sich in weltlichen und geistlichen Dingen unsrer an«.10 Und viertens wäre die Pariser Zeit (1802–1804) ausführlicher zu beleuchten, zum einen hinsichtlich der Rolle, welche die Begegnung mit den dortigen katholischen Kunstschätzen spielte, zum anderen hinsichtlich der Begegnung mit den Kölner Katholiken und zeitweiligen Hausgenossen Sulpiz und Melchior Boisserée sowie 5

In die Richtung einer schon frühzeitig angelegten Neigung zum Katholizismus scheint auch ein Brief Dorothea Veits an Auguste Böhmer, die Tochter von Caroline Schlegel, vom Juni 1800 zu passen: »Die Bilder und die katholischen Gesänge haben mich so gerührt, daß ich mir vorgenommen habe, wenn ich eine Christin werde, so muß es durchaus katholisch seyn.« (Friedrich Schlegel, Höhepunkt und Zerfall der romantischen Schule (1799–1802), hg.v. Hermann Patsch, Paderborn 2009 [Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 25; im Folgenden zitiert als KSFA 25], 115.) Allerdings ist diese Auskunft nur schwer mit den anderen Äußerungen dieser Zeit zu vermitteln, sodass es eher unwahrscheinlich ist, dass sie ernst gemeint ist. 6 Hermann Patsch, »Als ob Spinoza sich wollte taufen lassen«. Biographisches und Rechtsgeschichtliches zur Taufe und Trauung Rahel Levins, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1991, 149– 178, 150. 7 Vgl. dazu Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006 (BhTh 135), 293–376. 8 Die Sitte in der Romantik-Forschung, die Frauen nur mit dem Vornamen anzusprechen, ist zum wenigsten sehr fragwürdig. 9 Zu Paulus vgl. die freilich gänzlich überholungsbedürftige Biographie von Karl-Alexander von Reichlin-Meldegg, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und seine Zeit, Bd. 1 (1761–1810), Stuttgart 1853. Eher literarisch interessant ist Ute Schönwitz, Er ist mein Gegner von jeher. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Warmbronn 2001. Paulus war zu jener Zeit der führende Spinoza-Philologe in Deutschland und bedeutend in der rationalistischen Bibelexegese. 10 KSFA 25, 134. Vielleicht etwas übertrieben, aber gewiss auch nicht aus der Luft gegriffen ist ihr Hinweis gegenüber Paulus, sie habe mit niemandem über ihre Herzensangelegenheiten »so ausführlich als mit Ihnen und Ihrer Frau gesprochen« (KSFA 25, 281).

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Johann Baptist Bertram. Bei alledem wären neben den zahlreichen Briefen endlich auch ihre anderen Werke – allem voran ihr Roman und ihre Übersetzungen aus dem Französischen, aber auch die Rezensionen und Aufsätze – verstärkt heranzuziehen.11 Es ist mehr als verwunderlich, dass es bis heute keine eigene Ausgabe der Schriften Dorothea Schlegels gibt. Dass diese und auch nur zum Teil in der Friedrich-Schlegel-Gesamtausgabe erscheinen, ist freilich im Lichte ihres Lebens, das sie selbst – kaum weniger reich an geistigen Gaben – zu einem Großteil in den Dienst ihres Mannes gestellt hat, wiederum irgendwie auch von einer traurigen Folgerichtigkeit. Die folgenden Ausführungen verstehen sich allenfalls als Baustein zu einer solchen Gesamtdarstellung der religiösen Entwicklung Dorothea Schlegels. Sie haben dabei auch weniger dieses religiöse Entwicklungsinteresse selbst im Blick, sondern kommen auf dies anlässlich der Frage zu sprechen, warum die Tochter des aufgeklärten Juden Moses Mendelssohn sich zur Konversion zum Christentum entschloss. Sie konzentrieren sich also auf die Vorgeschichte der protestantischen Taufe, welche sie am 6. April 1804 in Paris empfing. Die Konversion zum Katholizismus liegt hier außerhalb des Interesses – nicht weil dieser Schritt biographisch weniger einschneidend gewesen oder aus heutiger Sicht weniger deutungsbedürftig wäre. Im Gegenteil!12 Sie muss hier aber außen vor bleiben, da es sich dabei um die Konversion einer evangelischen Christin zum katholischen Glauben handelt, bei welcher die Tatsache, dass sie in jüdischem Glauben erzogen wurde, nach Auskunft der Quellen religiös keine Rolle mehr spielt.

1. Historische Hintergrundinformation Im August 1797 lernt Dorothea Veit im Berliner Salon der Henriette Herz den jungen Friedrich Schlegel kennen. Aufgrund der zwischen den beiden entstehende Beziehung wagt die Ehefrau des rechtschaffenen Kaufmanns Simon Veit einen für damalige Verhältnisse beinahe ungeheuren Schritt: Sie veranlasst die Scheidung von ihrem ungeliebten Ehemann (der sich übrigens im Verlauf der Trennung und weit darüber hinaus extrem fair gegenüber allen Beteiligten verhält) und lebt in ›wilder Ehe‹ mit dem sieben Jahre jüngeren Schlegel zusammen. Die Ehe zwischen Dorothea und Simon Veit wird am 11. Januar 1799 vom Berliner Rabbinatsgericht aufgelöst. Die Scheidungsvereinbarungen sehen vor, dass Dorothea von ihrem Ex-Mann eine kleine jährliche Versorgungssumme erhält – in den nächsten Jahren das einzige feste Einkommen des Paares – und dass der jüngere Sohn Philipp zunächst bei der Mutter bleiben soll. Beides waren Zugeständnisse, zu denen der geschiedene Mann an sich nicht verpflichtet war. Das letztere ist allerdings auf folgenreiche Weise bedingt: Sollte sich die Geschiedene nämlich erneut 11 Zu Dorothea Veit-Schlegel als Schriftstellerin vgl. den Überblick bei Barbara Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 2000, 112–149. 12 Die Frage, warum zwei der gewiss klügsten, liberalsten und gebildetsten Menschen ihrer Zeit sich einer vermeintlich reaktionären religiösen Haltung anschlossen, hat in der Forschung noch längst nicht das Augenmerk bekommen, das sie sachlich verdient.

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verheiraten oder aber die Religion wechseln, so müsse der gemeinsame Sohn wieder zu seinem Vater zurück.13 Damit gerät Dorothea Veit in ein jahrelang anhaltendes Dilemma. Eine Heirat mit Friedrich Schlegel würde den Verlust ihres Sohnes bedeuten. Nun ist das Thema Heirat für das Skandalpaar an sich nicht vordringlich, obwohl beinahe der gesamte Freundeskreis auf die »bürgerliche Verbindung« – wie es beispielsweise Novalis ausdrückte14 – dringt. Eine Eheschließung wäre den Karriereaussichten Schlegels in der Tat auch eher zuträglich. Auch den Alltag würde die Legalisierung erleichtern: Abgesehen vom Klatsch geht es dabei auch um so handfeste Dinge wie den Bezug eines gemeinsamen Zimmers auf Reisen oder den Abschluss von Mietverträgen. Aber trotzdem setzen sich die Bedenken Dorotheas erst einmal durch. Sie hat beim Verfechter des romantischen Liebesideals, Friedrich Schlegel, auch keinen großen Widerstand zu gewärtigen. Das Nachdenken über die Heirat schließt nun aber mit Notwendigkeit die Bereitschaft zur Taufe mit ein. Das ergibt sich aus der geltenden Rechtslage.15 Das allgemeine preußische Landrecht von 1794 sieht die religiöse Mischehe nicht vor. Und in der Tat finden sich in den Erörterungen der Briefe von 1800 und 1801 stets pro und contra zur Heirat wie auch zur Taufe – wobei sich gegen letztere lediglich das Argument findet, sie wolle ihrer Mutter, der Witwe Fromet Mendelssohn, nicht noch zusätzlichen Kummer bereiten. Doch schließlich überwiegen die Gründe für die Vermählung; spätestens mit dem Umzug nach Paris im Sommer 1802 ist sie vorgesehen. Lediglich äußere Gründe verhindern eine schnellere Eheschließung. In Paris wird Dorothea Veit stets als »Madame Schlegel« angesprochen; Taufe und Heirat ratifizieren tatsächlich nur, was in den Augen der Welt längst geschehen ist. So viel aus dem Briefwechsel zu ersehen ist, spielen religiöse Gründe beim Entschluss zur Taufe unmittelbar keine Rolle. Zwar legt Dorothea Veit am 21.1.1802 in einem Brief an Schleiermacher eine Art protestantisches Glaubensbekenntnis ab: »[I]m Herzen bin ich ganz, so viel ich aus der Bibel verstehen kann, Protestantinn« (KGA V/6, 211). Aber da ist der Entschluss zur Heirat längst gefallen, und sie beeilt sich überdies auch sogleich hinzuzufügen: »das öffentliche Bekenntniß davon halte ich nach meinem Glauben gar nicht für nöthig, denn so gar in diesem öffentlichen Bekennen, liegt mir eine Katholische Ostentation[,] Herrschsucht und Eitelkeit« (Ebd.). Wäre es nicht wegen der Ehe, so hielte sie eine öffentliche Konversion für überflüssig. Will man so etwas wie eine religiöse Position aus den weiteren, sehr schmalen Auskünften heraus destillieren, so kann man in etwa folgendes festhalten: Erstens, Dorothea Veit hat sich aus der Religiosität ihres Elternhauses, die mit Abstrichen auch noch während ihres Lebens 13 Die entscheidenden Passagen des Scheidebriefs sind übersetzt abgedruckt bei Carola Stern, aaO. (s. o. Anm. 1), 99. Eine wissenschaftliche Edition dieses wichtigen Dokuments wäre sehr wünschenswert. 14 Brief an Caroline Schlegel vom 20.1.1799, zit. nach: Novalis, Werke. Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg.v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 1 (1979), ND Darmstadt 1999, 685. 15 Zu den rechtsgeschichtlichen Hintergründen informiert ausführlich Hermann Patsch, Rahel Levin (s. o. Anm. 6), 152–172.

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an der Seite von Simon Veit gelebt wurde,16 herausgelöst: Mit »dem alten Judentum, das ich sehr verabscheue« (ebd.), will sie religiös nichts mehr zu tun haben. Gemeint ist, worauf das Adjektiv ›alt‹ hinweist, das Judentum als orthodoxe Frömmigkeitspraxis – Moses Mendelssohn hat bekanntlich das Zeremonialgesetz keineswegs für einen überflüssigen Zusatz zum reinen ›Wesen‹ des Judentums gehalten. Dass sie das Judentum nicht in Bausch und Bogen ablehnt, zeigt sich nicht nur an dieser Differenzierung. Einen versteckten Hinweis gibt uns noch ein anderer Brief an Schleiermacher. Hatte dieser gemutmaßt, Dorothea habe vielleicht einen verklausulierten, christlich imprägnierten Witz nicht verstanden, so antwortet sie ihm: »Denken Sie ich sey so stock Jüdin?« (KSFA 25, 311). Bei dieser Replik handelt es sich vermutlich um eine Anspielung auf Lessings »Nathan den Weisen«,17 wo Nathan, vom Sultan zum öffentlichen Bekenntnis aufgefordert, in III/6 bei sich überlegt: »So ganz Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht. Und ganz und gar nicht Jude, geht noch minder.«

Mit dem Judentum des fiktiven Weisen würde sie sich offensichtlich identifizieren können. Nimmt man noch ihre des öfteren geäußerte Hochachtung vor dem Werk und der Person Goethes hinzu, den sie auch schon mal – ironisch zwar, aber doch auch mit Ehrfurcht – als »Gottvater« bezeichnet, so erscheint es als stimmig, dass sie ihren Protestantismus, zu dem sie sich in jenem Brief an Schleiermacher vom 21.11.1802 bekennt, als »die Religion Jesu [. . . ] und die Religion der Bildung« (KGA V/6, 211) näher bestimmt. Es ist die Religion der Gebildeten, in der man sich einig weiß, ohne viel Worte darum machen zu müssen. Irgendeine Frömmigkeitspraxis – sieht man von gelegentlicher Bibellektüre ab – ist aus dieser Zeit nicht bekannt, ganz im Gegensatz zu ihrer Zeit in Köln. Somit ergibt sich hinsichtlich des Motivs der Taufe der Befund, dass dieses mehr oder weniger gänzlich in dem Wunsch zur Heirat besteht. In dieser Hinsicht fügt sich die Konversion Dorothea Schlegels zum Christentum ein in eine Vielzahl von Judentaufen, die aus der Religion äußerlichen Gründen zum Zwecke der Beseitigung rechtlicher Nachteile vollzogen wurden. Die krasse rechtliche Diskriminierung der Juden und die Verweigerung in diesem Fall Preußens, eine vollständige Ausdifferenzierung von Religion und Recht vorzunehmen, nötigte immer wieder Juden unter zum Teil schwierigsten persönlichen Bedingungen und familiärer Zerstörung zum Glaubenswechsel.18 16 Einen gewissen Eindruck vermittelt Moses Mendelssohn, Selbstzeugnisse. Ein Plädoyer für Gewissensfreiheit und Toleranz, hg.v. Martin Pfeideler, Tübingen 1979, 82. 17 Laut Auskunft von Rahel Levin hat »den Lessing [. . . ] doch jeder Jude.« (zit. nach Hannah Lotte Lund, Der jüdische Salon als Ort der Emanzipation? Die Berliner Salons um 1800 und die bürgerliche Verbesserung, in: Julius H. Schoeps et al. (Hg.), Moses Mendelssohn, die Aufklärung und die Anfänge des deutsch-jüdischen Bürgertums, Hamburg 2006, 149–170, hier 153.) 18 Grundsätzlich zu diesem wichtigen Thema vgl. Guido Kisch, Judentaufen. Eine historischbiographisch-psychologisch-soziologische Studie besonders für Berlin und Königsberg, Berlin 1973. Speziell zum Thema aus der Perspektive der jüdischen Salons vgl. Deborah Hertz, Die jüdischen Salons im alten Berlin 1780–1806 (Originaltitel: Jewish High Society in Old Regime Berlin [1988]), München 1991, 209–244.

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2. Die Konversion Dorothea Veits aus der Perspektive Schleiermachers In dieses zwar prägnante, aber wiederum nicht sehr originelle Bild, lassen sich dann aber doch noch einige Facetten einzeichnen, wenn man den Vorgang noch einmal aus der Perspektive Schleiermachers betrachtet. Doch bevor wir darauf zu sprechen kommen, noch einige Worte zum Verhältnis Schleiermachers zu Dorothea Veit insgesamt. Der junge Krankenhauspfarrer begegnet ihr im Herbst 1797 bereits als Freundin von Friedrich Schlegel, seinem späteren Mitbewohner. Schleiermacher ist nicht nur einer der wenigen, die permanent Bescheid wissen, sondern begegnet ihr obendrein – für einen protestantischen Pastor damals höchst ungewöhnlich – ohne Vorurteile und ohne Missbilligung. Er wird zum engsten Vertrauten des Paares und obendrein für Dorothea ein echter Seelsorger – im präzisen Sinn von Schleiermachers Lehre von der Seelsorge als Hilfe zur religiösen Eigenständigkeit.19 Sie bekennt ihm in Erinnerung an ein solches Gespräch: »Es war das Erstemal daß ich mir bestimmt bewußt war was ich wollte, und was ich thun müßte« (KGA V/6, 359). Seine Schriften liest sie stets mit großer Aufmerksamkeit.20 Hinzu kommt, dass Schleiermacher auch große praktische Solidarität mit den Freunden beweist: Oft ist er in Geldangelegenheiten des finanziell stets klammen Paares unterwegs, leiht, beschwichtigt Gläubiger, verkauft Möbel, ja spielt sogar Lotto für sie.21 Während der Annäherung der Schlegels an den Katholizismus kühlt das Verhältnis dann beiderseits ab; der eigentliche Grund dafür dürfte aber weniger in religiösen Streitigkeiten zu suchen sein als vielmehr in dem die Freundschaft sehr belastenden Hin und Her Schlegels in Sachen der geplanten gemeinsamen Plato-Übersetzung, die Schleiermacher dann schließlich allein durchführte.22 Während ihrer Jenaer Zeit ist Schleiermacher jedoch einer der engsten Vertrauten und der bevorzugte Briefpartner Dorothea Veits, bis hin zu der zwischenzeitlichen Überlegung, dass er doch Taufe und Trauung vornehmen solle (vgl. KSFA 25, 94). Wie steht nun Schleiermacher zur Frage der Konversion Dorothea Veits? Da sie kurz vor ihrem Tod beinahe sämtliche in ihrem Besitz befindlichen Briefe vernichtet hat, kann seine Haltung nur aus ihren Briefen an ihn, die sich erhalten haben, erschlossen werden. Aus ihnen geht aber deutlich genug hervor, dass er ihr sehr zur Taufe und zur Trauung zugeraten hat, ja noch mehr, dass er ihre Bedenken versucht hat zu entkräften, wobei die Gründe, die er anführt, von ihr leider nicht referiert werden.23 Dieser 19 Leicht zugänglich ist der aussagekräftige Auszug zum Thema aus Schleiermachers Vorlesungen zur Praktischen Theologie bei Friedrich Wintzer (Hg.), Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, München 1988, 3–17. Vgl. auch Hans Martin Dober, Seelsorge bei Luther, Schleiermacher und nach Freud, Leipzig 2008. 20 Neben den »Reden« und den »Monologen« lobt sie besonders seinen Predigtband von 1801 sowie natürlich seine »Vertrauten Briefe über Schlegels Lucinde«. Wichtig für ihr Verhältnis zum Judentum ist auch ihre Reaktion auf seine Rezension von Johann Jakob Engel, Der Philosoph für die Welt, Bd. 3 (abgedruckt in: KGA I/3, 225–234), Brief an Schleiermacher vom 22.6.1800 (KSFA 25, 163). Die Nachweise sind leicht auffindbar über die Register von KSFA 25 (s. o. Anm. 5). 21 Vgl. Hermann Patsch, Einleitung zu KSFA 25, XLIII–XLV. LXX–LXXV. 22 Vgl. auch hierzu die gegenüber Schlegel sehr gerechten Ausführungen von Hermann Patsch, aaO. LVI–XLVIII und die Kommentare zu den einschlägigen Briefen. 23 Vgl. hierzu insbes. den Brief Schleiermachers an Dorothea Veit vom 11.4.1800, KSFA 25, 93–95.

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Umstand scheint weder für den protestantischen Geistlichen, der ein weiteres Glied am Leib Christi zu gewinnen hofft, noch für den Freund, der das volle Liebesglück des schwierigen Paares erhofft, verwunderlich zu sein. Schaut man jedoch genauer hin, so kehrt sich diese Einschätzung nachgerade um. Denn vergleicht man die Empfehlung Schleiermachers mit seinen Ausführungen zum Thema Konversion in seinen veröffentlichten Schriften, so ergibt sich – zumindest scheinbar – eine tiefe Diskrepanz: Von seiner theologischen Position her scheint die Empfehlung zur Taufe höchst inkonsequent, ja geradezu widersprüchlich zu sein, indem die Konversion aus politischen Gründen für ein Ding der religiösen Unmöglichkeit erklärt wird. Diese Position Schleiermachers gilt es nunmehr etwas genauer zu beleuchten. Zwei Schriften sind hier unmittelbar einschlägig: zum einen die »Reden über die Religion«, zum anderen die »Briefe« zur Frage der Judenemanzipation, die beide in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstanden sind.

3. Schleiermachers Stellung zur Konversion überhaupt in den Schriften von 1799 Beginnen wir mit der Religionsschrift. Die »Reden« äußern sich zur Frage des Religionswechsels nicht ausdrücklich. Zwar wird »das Bestreben Proselyten zu machen aus den Ungläubigen«,24 als tief im Wesen der Religion liegend behauptet. Doch bezieht sich diese Bestimmung lediglich auf die Differenz in der Intensität des religiösen Sinns überhaupt und nicht auf den Unterschied zwischen irgendwelchen positiven Religionen. »Ungläubige« im Sinne der »Reden« sind immer nur diejenigen, deren religiöser Sinn sich nicht entwickelt hat und die darum aus der wechselseitigen Mitteilung religiöser Anschauung herausfallen müssen. Mit diesem Umstand gibt sich das religiöse Bewusstsein nicht zufrieden und sucht, auch in denen »einen antwortenden, verwandten Ton« (135) zu erwecken. Ein anderes Erregungsmittel aber als seine eigene freie Selbstdarstellung kennt es nicht, und alle anderen Mittel und Wege der Mission – wenn es man so nennen möchte – lehnt es strikt ab: »[N]ie werden wir versuchen unsere Religion aufzudringen« (136).25 Der Grund dafür liegt schlicht in dem Umstand, dass das religiöse Bewusstsein bei Konversionen, die aus anderen denn aus tief innerlichen religiösen Gründen stattfinden, nicht das bekommt, was es sucht: ein verwandtes Gemüt, mit dem es zusammenstimmen kann. Es betröge sich also gleichsam selbst, wollte es auf ›Bekehrung‹ aus anderen Motiven hinwirken. Vollends ist der Wechsel zwischen zwei verschiedenen positiven Religionen von dieser Religionstheorie her nicht vorgesehen. Denn die Verschiedenheit der Religionen ist kein an sich überwindenswerter Zustand, und es lassen sich auch von Haus aus keine Wertunterschiede zwischen verschiedenen Religionen ausmachen. Das religiöse Be24 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: KGA I/2, hg.v. Günter Meckenstock, hier zitiert nach der am Rande mitgegebenen Originalpaginierung, 134. Seitenzahlen im Text beziehen sich bis auf Weiteres auf die »Reden«. 25 Vgl. dazu auch die explizite Thematisierung der Mission in der vierten Rede (187–190).

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wusstsein selbst ist darauf aus, Anschauungen, die es selbst nicht von sich kennt, bei anderen anzuschauen, und steht so mit diesen in einem Verhältnis der wechselseitigen »Ergänzung« (179). Der religiöse Pluralismus liegt – zumindest theoretisch – im Wesen der Religion selbst verankert, insofern diese stets nur in Endlichem das Unendliche zu schauen vermag.26 Eine Konversion im Sinne eines Religionswechsels könnte auf diese Weise also überhaupt nur gedacht werden, wenn der einzelne Mensch auf freie Weise bei sich feststellt, von einer anderen Zentralanschauung dauerhaft stärker affiziert zu werden als von seiner bisherigen; ein Vorgang, der aufgrund der tiefen Verwobenheit von Individualität und gewählter Zentralanschauung nur einen Grenzpunkt – und somit in der Wirklichkeit: die absolute Ausnahme– des religiös Möglichen darstellt. Nun mag man mutmaßen, dass dem romantischen Überschwang der »Reden« gewissermaßen die reelle Bodenhaftung fehlt. Aber diese Sicht der Dinge wird in den »Briefen« über die Judenemanzipation vollständig bestätigt. Diese kleine Schrift – unmittelbar im Anschluss an die »Reden« auf Bitten von Markus und Henriette Herz entstanden27 – reagiert auf David Friedländers »Sendschreiben jüdischer Hausväter«, welches die Annahme eines dogmatisch ermäßigten Christentums zum Erwerb der vollständigen Bürgerrechte für aufgeklärte Juden für akzeptabel erklärte. Schleiermacher vermutet sofort, dass es sich hierbei lediglich um einen Vorschlag der Verzweiflung handelt, welcher eigentlich nur auf das Unhaltbare der jetzigen Situation hinweisen will: dass sich nämlich permanent Juden zur Konversion aus politischen Gründen genötigt sähen. Diesen Vorgang beobachtet auch Schleiermacher als das derzeit »gewöhnliche«28 Verfahren. Drei Grundgedanken sind für unseren Fragekreis unmittelbar einschlägig. Erstens, Schleiermacher hält das Junktim von Taufe und Erwerbung der Bürgerrechte für vernunftwidrig: »Die Vernunft fordert, daß Alle Bürger sein sollen, aber sie weiß nichts davon, daß Alle Christen sein müßen« (335). Eine neue Gesetzgebung in Sachen der Judenemanzipation ist für ihn eine vordringliche politische Aufgabe, die gegenwärtige Regelung ein kapitaler staatlicher Fehler. Zweitens, ein Übertritt emanzipierter Juden zum Christentum wäre für die christliche Kirche kein Gewinn, sondern ein Schaden, insofern die bleibende jüdische Religiosität der politischen Konvertenten einem innerlichen Annehmen des Christentums entgegenstehen würde. Die Kirche kann aber von ihrem Grundanliegen her kein Interesse haben, dass ihre Mitglieder sich aus einer an26 Vgl. Christof Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/New York 2006 (TBT 135). Gegen die Deutung Schleiermachers als religiösem Pluralisten hat jüngst Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Bd. 2, Berlin/New York 2004 (AzKG 85), 330, vehement und mit guten Gründen Einspruch erhoben. Ist Schleiermacher gerade gegenüber dem konkreten Judentum seiner Zeit weit davon entfernt, von diesem als einer gleichberechtigten ›Anschauung des Universums‹ zu sprechen, so muss doch festgehalten werden, dass sein eigenes Konzept theoretisch weiter reicht als er es praktisch ausreizt. 27 Vgl. die historische Einführung von Günter Meckenstock zu KGA I/2, LXXXII. 28 Friedrich Schleiermacher, Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter (1799), hier zitiert nach dem Abdruck in KGA I/2, 334. Seitenzahlen im Text beziehen sich im Folgenden auf diese Edition.

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deren als religiöser Motivation zusammenfinden. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gleich darauf hingewiesen, dass Schleiermacher im Prinzip »auch den größten Theil der Christen aus der Kirche heraus« (351) wünscht. In den »Briefen« vertritt Schleiermacher also die gleiche pietistisch eingefärbte Ekklesiologie, für welche bereits die vierte »Rede« einstand. Unmittelbarer Anwendungsfall dieser Überlegung ist der Hinweis, dass sich die Kirche vor allem mit der Praxis, vor der Eheschließung mit Menschen jüdischen Glaubens die Taufe zu verlangen, ins eigene Fleisch schneidet.29 Die Eheschließung darf nicht vom Taufschein abhängig gemacht werden. Drittens schließlich, Schleiermacher hält den innerlichen Nachvollzug eines Wechsels der Religion, der aus äußeren Gründe vollzogen wird, für ein Ding der Unmöglichkeit: »Es ist unmöglich, daß Jemand, der Eine Religion wirklich gehabt hat, eine andere annehmen sollte« (347). Seine Skepsis gegen die Konversion, die uns oben bei den »Reden« bereits begegnet war, kehrt hier in gleicher Weise wieder.30 Fasst man den religionspolitischen Gehalt der »Briefe« zusammen, so zeigt sich Schleiermacher hier als engagierter Verfechter der Ausdifferenzierung von Religion und Recht, wie in den »Reden« als der von Religion und Moral. Religion kann unter den Bedingungen grundrechtlicher Freiheit faktisch nur eine Teilrolle sein, welche andere Lebensbereiche – Teilnahme am politischen Leben, Eheschließung – nicht tangieren darf. Dass Schleiermacher die Forderung nach bürgerlicher Emanzipation der Juden nicht energischer vorgetragen hat, sondern sie seinerseits wieder an bestimmte Bedingungen geknüpft wissen will,31 ist in der Rückschau freilich mindestens als tiefe Zweideutigkeit zu werten.32 29 »[E]s steht doch wahrlich nirgends in den heiligen Büchern geschrieben, daß es unchristlich und von Religionswegen verboten sei, vielmehr ist die Praxis der ersten Kirche sowol als aller neuen Kirchen, die jetzt unter den Heiden gestiftet werden, von der in unsern christlichen Staaten ganz unterschieden« (349). 30 Vgl. zu diesem Problemkreis auch die Beiträge von Arnulf von Scheliha und Hans-Martin Kirn in diesem Band. 31 Es sind diese 1. die Unterordnung des Zeremonialgesetzes unter die staatlichen Gesetze, 2. die öffentliche Absage an eine politische Spielart des Messiasglaubens, 3. die Bildung einer Art ›Körperschaft öffentlichen Rechts‹ für das reformwillige Judentum, um für den Staat einen verlässlichen Gesprächspartner zu haben. Matthias Wolfes (s. o. Anm. 27) wendet ein, diese Bedingungen ließen »die Wahrung der Identität jüdischer Religion kaum noch zu« (338). Dieser Einwand unternimmt allerdings eine fragwürdige Ontologisierung seines Begriffs vom Judentum. Von christlicher Warte aus jüdische Identitätskriterien festschreiben zu wollen, dürfte immer ungünstig sein. Das eigentliche Problem von Schleiermachers Position besteht darin, dass er es die Juden nicht selbst regeln lassen will, wie sie sich angesichts der angestrebten staatlichen Rechte und Pflichten zu ihrer religiösen Traditionen verhalten wollen – wie er es als Christ natürlich ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt. – Die genannten Korrekturen an Wolfes tangieren im Übrigen die wissenschaftliche Bedeutung dieser bislang gewichtigsten Darstellung von Schleiermachers Verhältnis zum Judentum in keiner Weise. 32 Für einen Gesamtüberblick über Schleiermachers Haltung zum Judentum und zum Alten Testament vgl. auch Klaus Beckmann, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002. Beckmanns materialreiche Arbeit macht ebenso wie Wolfes zu Recht auf zahlreiche Ambivalenzen in Schleiermachers Haltung aufmerksam. Allerdings wird ihr Wert ein wenig dadurch geschmälert, dass für ihn die religiöse Abwertung des Judentums stets durch die Klassifizierung des Alten Testaments als eines nicht-christlichen Buchs be-

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4. Mögliche Gründe für Schleiermachers Befürwortung von Dorothea Veits Taufe Damit können wir unseren Seitenblick auf Schleiermachers Veröffentlichungen abschließen und wieder unser eigentliches Thema aufnehmen. Wie deutlich geworden sein dürfte, ist Schleiermacher ein Gegner jeder politisch motivierten Konversion und hält die eigentlich religiöse Konversion für einen seltenen Ausnahmefall. Wenn wir uns nun die Überlegungen von Dorothea Veit um 1800 noch einmal vor Augen führen, so lässt sich Folgendes festhalten: Ihre primäre Motivation zur Konversion war mit Sicherheit politischer Natur, und zu einem Christentum im Sinne der fünften »Rede« hat sie sich um 1800 ebenfalls nicht bekennen wollen. Für ihre eigene religiöse Überzeugung, sofern sie sich erkennen lässt, wäre im Reformjudentum durchaus Platz gewesen. Damit stellt sich die Frage verschärft: Aus welchen Gründen befürwortete Schleiermacher die Taufe der Dorothea Veit? Ich denke, diese Frage erlaubt zwei Antwortvermutungen, eine freundliche und eine weniger freundliche. Beginnen wir mit der weniger freundlichen. Dass Veit in ihren Briefen kaum auf Religion zu sprechen kommt, bedeutet auch, dass Schleiermacher das Thema nicht angesprochen hat. Ein besonderes Interesse an ihrer jüdischen Identität scheint er nicht gehabt zu haben.33 Im Sinne seiner in den »Reden« geäußerten Überzeugung, es beim zeitgenössischen Judentum mit einer »todte[n] Religion« (Reden 286) zu tun zu haben, wäre also ihre Apostasie kein großer Schade. Diese Lesart läge in etwa auf der Linie des Lehrsatzes in der späteren »Glaubenslehre«, dass in weltgeschichtlicher Perspektive ohnehin alle Religion dazu bestimmt sei, letztlich in das Christentum überzugehen.34 Das gewisse Engagement für die Judenemanzipation hätte folglich rein politische Gründe, als religiöse Größe eigenen Rechts zählte das Judentum nicht. Die freundlichere Lesart konzentriert sich ganz auf den Einzelfall der Dorothea Veit und basiert auf individualitätstheoretischen Überlegungen.35 Sie kommt mit der andedingt ist. Aber die »manifeste Bindung des Christusgeschehens und des Glaubens der frühen Kirche an die israelitische Glaubensgeschichte« (53) ist leider kein hinreichendes Remedium gegen religiösen oder politischen Antijudaismus – wie beinahe die gesamte Kirchengeschichte beweist. Für den Stellenwert des Alten Testaments im christlichen Kanon mag man ja eintreten, aber die Warnung vor dem andernfalls drohenden Antijudaismus taugt als Argument dafür nicht. 33 Es spricht sehr viel für die Interpretation von Matthias Wolfes, aaO. (s. o. Anm. 27), dass Schleiermacher gegenüber dem gelebten Judentum seiner Zeit eine »tiefgreifende Fremdheitserfahrung« (327) niemals ablegen konnte. Schlimmer aber war natürlich noch, dass er sich zu seiner eigenen Fremdheitserfahrung nicht noch einmal reflektiert verhalten konnte, wie sein offen antijudaistisches Vorgehen im berüchtigten ›Fall Brogi‹ (vgl. dazu Wolfes, aaO. 352–360) bezeugt. 34 In seiner Erwählungslehre erklärt Schleiermacher die Allversöhnungslehre als Implikat des christlichen Selbstbewusstseins, insofern »ein unauflöslicher Mißklang« zurückbliebe, »wenn wir uns unter Voraussetzung einer Fortdauer nach dem Tode einen Teil des menschlichen Geschlechtes von dieser Gemeinschaft gänzlich ausgeschlossen denken sollen« (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), Bd. 2, hg.Martin Redeker, Berlin/New York 1999, §118, 223f. Es gehört nach Schleiermacher zum christlichen Bewusstsein die Vorstellung dazu, dass schließlich alle Menschen in die durch Christus vermittelte Gemeinschaft mit Gott aufgenommen werden. 35 So weit man weiß, hat Schleiermacher selbst keine Juden getauft. Das früher verbreitete Fehlurteil,

Warum konvertieren?

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ren darin überein, dass Veit nach dem Urteil Schleiermachers im Sinne seiner »Briefe« über die Judenemanzipation dem Judentum innerlich niemals wirklich angehört hat. Damit traf er gewiss auch ihre Selbsteinschätzung um 1800. Im Sinne Schleiermachers kann nun Religion sich nur mit dem innersten Wesen eines Menschen verbinden, mit dem, was jemand selbst als seine eigene unverrechenbare Individualität ansieht.36 Das Prinzip der Individualität ist nach Schleiermacher nun die Wahl und der Ausdruck seiner selbst im Hinblick auf die je eigene Kombination der Eigenschaften, die das Menschsein überhaupt ausmachen können: »[E]s ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit alles, was aus ihrem Schoße hervorgehen kann.«37

Dorothea Veit hatte als diese Selbstdarstellung ihr Sein als liebendes Gegenüber in der Beziehung mit Friedrich Schlegel gewählt, welcher nach ihrer gemeinsamen Beziehungsethik der Sache nach auf jeden Fall die Ehe intendierte bzw., wie es in Friedrich Schlegels »Lucinde« ausgedrückt ist: »Es ist Ehe«38 (Hvhg. A.K.), ganz unabhängig davon, ob äußerliche Beglaubigungen und Bestätigungen stattgefunden haben. Die Beziehung zu Friedrich Schlegel, mit der sie ihre materielle Sicherheit und ihre Wohlanständigkeit in der Augen der Welt aufgeopfert hatte, war mithin zum ›Zentralpunkt‹ von Dorotheas Individualität geworden – wie ihre weitere Biographie beweist. Diese Form von Selbstbestimmung und Selbstwahl war in Schleiermachers Augen vor allem anderen zu würdigen. Ihr waren alle anderen etwaigen Bedenken unterzuordnen. Gegenüber der konkreten Selbstwahl dieser Frau – einer Wahl, an welcher Schleiermacher nichts Unmoralisches entdecken konnte – erschienen alle anderen Erwägungen prinzipieller Natur merkwürdig abstrakt. Ja noch mehr: Die Selbstbestimmung zu je dieser Individualität hat selbst, wenn man so will, eine religiöse Dimension, denn mit ihr betritt man »das heilige Gebiet der Freiheit«39 . Diese religiöse Dimension aber konnte von Schleiermacher – und später dann auch von Veit selbst – als christliche identifiziert werden.

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Rahel Levin sei von ihm getauft worden, ist inzwischen widerlegt; vgl. Hermann Patsch, Rahel Levin (s. o. wie Anm. 6). Zur Ethik der Individualität bei Schleiermacher vgl. Ulrich Barth, Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291–327. Die systematische Schwierigkeit besteht in der genauen Verhältnisbestimmung des Religionsbegriffs der »Reden« und des Individualitätsgedankens der »Monologen« – ein bis heute in der Schleiermacher-Forschung nur sehr selten aufgegriffenes, geschweige denn gelöstes Problem. Friedrich Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), in: KGA I/3, hg.v. Günter Meckenstock und Hermann Fischer, Berlin/New York 1988, 18. Seitenangaben im Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. Friedrich Schlegel, Lucinde. Ein Roman (1799), München21993, 15. Die Stelle lautet im Zusammenhang (aus der »Dithyrambischen Phantasie über die schönste Situation«): »Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder Deine Liebe; beide sind sich gleich und vollkommen eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unsrer Geister, nicht bloß für das, was wir diese oder jene Welt nennen, sondern für die wahre, unteilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Sein und Leben.« Friedrich Schleiermacher, Monologen (s. o. Anm. 39), 13.

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Wenn diese Lesart richtig ist, so könnte daraus noch zweierlei des Weiteren folgen. Zum Einen wäre Schleiermachers Begriff einer ›positiven Religion‹ noch einmal neu zu bedenken. Darunter wäre dann nicht nur die existierende große Gesamtorganisation einer bestimmten religiösen Richtung zu verstehen. ›Positiv‹ wäre dann vielmehr zunächst einmal die Religion, die konkret in einem Menschen vorkommt. Und in der Tat hatte Schleiermachers Vorwurf an die so genannte natürliche Religion ja auch genau darin bestanden, dass sie eigentlich »die Negation alles Positiven und Charakteristischen«40 bedeutet. Wenn auch Dorothea Veit nach dem objektivierbaren Bestand ihrer religiösen Überzeugungen um 1800 dieser ›natürlichen Religion‹ nahe stehend erscheint, so macht doch ihre Individualität und das Vorkommen ihrer Religion in ihrer Selbstbestimmung ihre Religiosität zu einer positiven im Sinne Schleiermachers. Zum anderen würde folgen, dass die Frage der äußerlichen Religionszugehörigkeit im Denken Schleiermachers eine gehörige Relativierung erfährt. Das würde dann bedeuten, dass der Furor der Positivität in den »Reden« gleichsam als Substrat ein freundliches Geltenlassen jedes Menschen gleich welcher äußerer Religionszugehörigkeit mitführt41 – ein Erbe der Aufklärung, welche die »Reden« also keineswegs bloß zu überwinden angetreten sind.

Schluss Der Lebensweg Dorothea Veits ist uns deswegen so interessant, weil sich in ihm drei entscheidende Diskurse um 1800 überlagern und biographisch verdichten: die bürgerliche Emanzipation der Juden, das Streben nach weiblicher religiöser und literarischer Selbstbestimmung und die Frage nach dem religiösen Verhältnis von Protestantismus und Katholizismus. In der Erwägung ihrer Entscheidung zur Taufe zeigt sich, dass ein Thema in jedem dieser Diskurse berührt ist: nämlich die Möglichkeit, in Freiheit das tun zu können, was man will, was auch immer andere davon halten mögen. Diese Freiheit hat Dorothea Veit gewählt, und sie war stets bereit, die Konsequenzen dieser Freiheit zu tragen. Von Seiten des ›christlichen Staates‹ und der christlichen Diskursmächte wurde sie dabei in mehrfacher Hinsicht behindert und diskriminiert. Heute stehen wir wieder in der Gefahr – vor allem im Hinblick auf den Islam –, die Entfaltung religiösen Lebens durch allerlei Vorbehalte und Einschränkungen zu behindern und religiösen Subjekten die Art und Weise vorzuschreiben, wie sie ihre Religion mit den Gesetzen des Landes und den Gepflogenheiten der allgemeinen Kultur in Beziehung zu setzen haben. Für die Einsicht, dass dies ein Holzweg ist, dafür unter anderem steht die Geschichte der Konversion der Dorothea Veit. 40 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion (s. o. Anm. 25), 277. 41 In diese Richtung zielen auch Äußerungen im Brief an die Schwester vom 26.10.1798: »Daß übrigens die [scil. Henriette] Herz eine Jüdin ist, schien anfangs gar keinen nachtheiligen Eindruk auf Dich zu machen, und ich glaubte Du seist mit mir überzeugt daß wo es auf Freundschaft ankommt, wo man ein dem seinigen ähnlich organisirtes Gemüth gefunden hat man über solche Umstände hinwegsehn dürfe und müße« (KGA V/2, 419). Es ist allerdings nochmals zu betonen, dass dies praktisch für Schleiermacher eben auch nur in freundschaftlichen Beziehungen galt.

Wandlungen in Hegels Bild des Judentums Andreas Arndt Hegels Bestimmung des Judentums als ›Religion der Erhabenheit‹ gehört seinen Berliner Vorlesungen zur Religionsphilosophie seit 1821 an. Hegels Sicht auf das Judentum ist indessen vor allem anhand der Jugendschriften und besonders der Frankfurter Aufzeichnungen zum Geist des Christentums erörtert worden.1 Was Hegel dort geschrieben hat, gilt Vielen nicht nur als anstößig, sondern als Ausdruck eines tief verwurzelten Antisemitismus in seinem Denken. Emanuel Lévinas etwa zog folgende Bilanz: »Ein im System – ebenso kann man sagen: im Absoluten – begründeter Antisemitismus«.2 Angesichts solcher Urteile lässt sich über Hegels spätere Bestimmung des Judentums nicht ohne Blick auf die Jugendschriften sprechen. Ein entwicklungsgeschichtlicher Blick ist aber auch deshalb notwendig, weil sich ja – anders als Lévinas dies suggeriert – der Rahmen der Thematisierung des Judentums und damit zugleich auch die Bewertung des Judentums selbst bis zu den Berliner Vorlesungen mehrfach und tiefgreifend ändert.3 Ich beginne mit einem kurzen Blick auf die frühen, bis zur Berner Zeit (1795/96) abgefassten Studien, in denen die Auseinandersetzung mit Kants Ethikotheologie im Vordergrund steht (1). Im zweiten Teil meines Vortrags werde ich dann auf den Entwurf über den Geist des Christentums eingehen (2), um dann auf die religionsphilosophischen Vorlesungen der Berliner Zeit (3) und schließlich viertens auf Hegels Auffassung zur rechtlichen und politischen Stellung der Juden (4) zu sprechen zu kommen.

1. Der frühe Hegel hat versucht, das Christentum im Sinne der Kantischen Ethikotheologie als Morallehre zu interpretieren, und gefragt, ob es sich als eine in der Vernunft 1

2 3

Eine kritische Edition, die für Bd. 2 der Werke (Hamburg 1968ff.; Sigle: GW) vorgesehen ist, liegt noch nicht vor; es werden folgende Ausgaben herangezogen: Hegel, Jugendschriften, hg.v. Herman Nohl, Tübingen 1907 (Sigle: N); Hegel, Werke, Bd. 1: Frühe Schriften, Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M 1971 (Sigle: HW 1); Hegel, »Geist des Christentums«. Schriften 1796–1800. Mit bislang unveröffentlichten Texten hg. und eingeleitet von Werner Hammacher, Frankfurt/M u. a. 1978 (Sigle: Ha). Emanuel Lévinas, Freiheit – Versuch über das Judentum, Frankfurt/M 1992, 178. Lévinas bezieht sich auf die Darstellung von Bernard Bourgeois, à Francfort ou Judaisme, Christianisme, Hégelianisme, Paris 1970, der insgesamt die Entwicklungslinien zum späteren System herausstreicht.

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gegründete Volksreligion reformulieren lasse, die zur gesellschaftlichen Macht werden könnte.4 Das Studium der Kantischen Religionsschrift und der Kritik der praktischen Vernunft führt dann zu einer Übernahme des Gedankens einer in der Vernunft begründeten Pflicht. Von Kant übernimmt Hegel dabei aber auch die Auffassung, dass – wie Kant es formuliert – die »Annäherung des Reichs Gottes« der »allmählige Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens« sei.5 Hierin liegt schon für Kant die Ablehnung aller statuarischen, nur auf Offenbarung, Autorität und Kultus beruhenden Religion begründet, zu der für ihn auch das Judentum gehört, obwohl es nach Kant auf ein politisches, nicht auf ein ethisches Gemeinwesen abzielt und daher strenggenommen keine Religion ist.6 Der Vorzug des Christentums vor dem Judentum bestehe, so Kant, darin, dass es »aus dem Munde des ersten Lehrers als eine nicht statuarische, sondern moralische Religion hervorgegangen, vorgestellt wird«.7 Ähnlich interpretiert Hegel »den tugendhaften Menschen Jesus« als »Ideal[] der Tugend«,8 der jedoch nur eine Privatreligion »für die Bildung einzeler [sic!] Menschen«9 gelehrt habe. Hiervon zu unterscheiden sei »die Praktik und Theorie der christlichen Religion«, in welche auch »die verkehrten und unmoralischen Begriffe der Juden von dem Zorn, der Partheilichkeit, des Hasses gegen andre Völker, der Intoleranz ihres Jehova« übergegangen seien.10 Nach dieser Auffassung hat die Verwurzelung Christi im Judentum zur Deformation seiner Lehre bei den Nachfolgern geführt. Die Grundlage für Hegels erste Charakteristik des Judentums wird in den Aufzeichnungen zum Leben Jesu (1795)11 noch einmal zu bewähren versucht. In einer forcierten Exegese will Hegel die ursprüngliche Lehre Christi als reine Tugendlehre interpretieren, die in der Folge Deformationen unterworfen gewesen sei, scheitert hiermit aber. Die sogenannte Positivitätsschrift (1795/96) zieht hieraus die Konsequenzen. Demnach weise die Lehre Christi selbst Elemente einer positiven Religion auf,12 die im »System der Kirche« herrschend seien, das notwendig die »Rechte einer jeden Fähigkeit des mensch4

Vgl. Hermann Timm, Fallhöhe des Geistes. Das religiöse Denken des jungen Hegel, Frankfurt/M 1979; Thomas M. Schmidt, Anerkennung und absolute Religion. Formierung der Gesellschaftstheorie und Genese der spekulativen Religionsphilosophie in Hegels Frühschriften, Stuttgart/Bad Cannstatt, 1997 – Die Lehren einer Volksreligion, so fordert Hegel, müssen erstens »auf der allgemeinen Vernunft gegründet seyn. II. Phantasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen III. sie muß so beschaffen seyn, daß sich alle Bedürfnisse des Lebens – die öffentlichen StaatsHandlungen daran anschliessen« (GW 1, 103). 5 Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Berlin 1902ff. (Sigle AA), Bd. 6, 115. 6 AaO. 126. 7 AaO. 167. 8 GW 1, 149. 9 AaO. 129. 10 AaO. 121. – Vgl. AA 6, 126, wonach das Judentum »das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft ausschloß, als ein besonders vom Jehova für sich auserwähltes Volk, welches alle andere Völker anfeindete, und dafür von jedem angefeindet wurde.« – Zum Verhältnis Hegels zur Sicht der Aufklärung auf das Judentum vgl. Hans Liebeschütz, Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967, 1–42. 11 GW 1, 205–278. 12 Manche Worte seien »nur in dem Munde eines Lehrers einer positiven Religion nicht in dem Munde eines Tugendlehrers möglich« (GW 1, 297).

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lichen Geistes, besonders der ersten unter ihnen, der Vernunft«, verkennt.13 Auch Kants Postulatenlehre gilt jetzt als Ankerpunkt einer positiven, vernunftfeindlichen Orthodoxie; in ihr fordere die Vernunft »ein fremdes Wesen, dem die Herrschaft über die Natur beiwohne, die sie izt vermist«, wohingegen die Vernunft »nur durch Entfernung eben dieses sich aufdringenden Fremden – nicht durch eine Anbildung desselben vollendet werden kann«.14 Die positive Religion bis hin zu ihrer depotenzierten Gestalt in der Kantischen Postulatenlehre erscheint hier als Selbstentfremdung der menschlichen Vernunft. So wird der Aufstieg der christlichen Religion jetzt auch daraus erklärt, dass sie »den Bedürfnissen der Zeit angemessen« war bzw. »aus der die Menschen dasjenige formen, sich an das hängen konnten, was ihr Bedürfnis heischte«.15 Die Dialektik von irdischer Ohnmacht und religiöser Projektion erläutert Hegel dabei anhand der jüdischen Hoffnungen auf einen Messias: »erst unterjocht von fremden Nationen im Gefühl ihrer Ohnmacht und Schwäche sehen wir sie nach einem solchen Troste in ihren heiligen Büchern graben«.16 Dies gilt dann auch wieder für das jüdische Volk nach den Aufständen gegen Rom und dem Verlust Judäas: »Der zerstreute Überrest der Juden hat zwar die Idee seines Staates nicht verlaßen, aber ist damit nie mehr zum Panier eignen Muthes sondern wieder nur zur Fahne einer trägen Messiashofnung zurükgekehrt«.17 Nach dieser Auffassung ist nicht das Judentum Ursache von Deformationen im Christentum, sondern beide – Judentum und Christentum – sind Ausdruck einer entfremdeten Wirklichkeit.

2. Auch Hegels zweite Charakteristik des Judentums ist nur vorläufig. In der Frankfurter Zeit dominieren starke und ohne Zweifel »nicht entschuldbare«18 antijudaische Wendungen, die – und insoweit hat Lévinas recht – durch philosophische Auseinandersetzungen und Positionen überdeterminiert sind, die in der Gestalt des jüdischen Geistes verdichtet werden.19 Da ist zunächst die Auseinandersetzung mit Kant, dessen Auffassung des Sittengesetzes mit dem Gesetzesdenken des Judentums in Verbindung gebracht wird.20 Da ist zweitens die Figur der Entgegensetzung oder der Entfremdung, 13 GW 1, 349. 14 GW 1, 358. – Was Hegel hier formuliert, weist, wie Walter Jaeschke betont hat, erstaunliche Parallelen zur späteren Religionskritik Feuerbachs auf; vgl. Handbuch, Stuttgart 2003, 72. 15 GW 1, 370f. 16 AaO. 371. 17 AaO. 372. 18 Jaeschke, Handbuch, aaO. (Anm. 14), 89. 19 Vgl. Kurt Appel, Entsprechung im Wider-Spruch. Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff der politischen Theologie des jungen Hegel, Münster 2003, 20f. (»Hegels Denken in Gestalten und die Gestalt des Juden«). 20 Vgl. Thomas Baumeister, frühe Kritik an Kants Ethik, Heidelberg 1976; Dirk Meyfeld, Das ›jüdische Prinzip der Entgegensetzung‹. Antisemitismus und Kantkritik in Hegels Geist des Christentums, in: Jahrbuch 2006, hg.v. Andreas Arndt u. a., Berlin 2006, 40–45.

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die aus der vereinigungsphilosophischen Konzeption der Frankfurter Zeit21 in das Judentum projiziert wird: die Entgegensetzung oder Reflexion, die der unentwickelten Einheit entgegensteht, soll in eine vollendete Einheit überführt werden, die Einheit und Trennung vereinigt. Und schließlich ist drittens das zu dieser Zeit aktuelle politische Problem der staatlichen Organisation eines Volkes zu nennen, in dem sich das Schicksal der Juden mit dem der Deutschen überlagert: wie die Juden nach der Zerstreuung aus dem Heiligen Land keinen Staat haben, so ist Deutschland, wie Hegel 1799 notiert, »gar kein Staat mehr«.22 Ich werde auf diesen dritten Aspekt nicht weiter eingehen und komme zunächst zur Überblendung von Judentum und Kantianismus. Im Unterschied zu den früheren Entwürfen, in denen Jesus als – wenn auch zum Teil inkonsequenter – Kantischer Tugendlehrer auftrat, wird er nun zum Verkünder einer Botschaft stilisiert, die mit der Positivität des Glaubens zugleich das jüdische Gesetz und das Kantische Sittengesetz überwindet: »Der völligen Knechtschaft unter dem Gesetze eines fremden Herrn setzte Jesus nicht eine teilweise Knechtschaft unter einem eigenen Gesetze, den Selbstzwang der Kantischen Tugend entgegen, sondern Tugenden ohne Herrschaft und ohne Unterwerfung, Modifikationen der Liebe«.23 Der »über Moralität erhabene Geist Jesu« setze dem Sollen »ein Sein, eine Modifikation des Lebens« entgegen;24 dieses bestehe darin, Gesetz und Neigung zur Übereinstimmung zu bringen und dadurch das Gesetz zu erfüllen. In Anspielung an Matthäus 5, 17 bezeichnet Hegel diese Übereinstimmung als Erfüllung (pleroma) des Gesetzes. In ihr ist die Entgegensetzung des objektiven, allgemeinen Gesetzes gegen das besondere Subjekt verschwunden; sie ist »Leben, und als Beziehung Verschiedener, Liebe«.25 Das Auftreten Jesu fällt nach Hegel in eine Zeit der »Gärung der mannigfachen Elemente des jüdischen Schicksals«, wobei Jesus als Angehöriger des jüdischen Volkes »nicht nur einen Teil des jüdischen Schicksals« bekämpft, sondern sich »dem Ganzen« entgegenstellt26 und damit »aus der ganzen Existenz seines Volkes« heraustritt.27 Für Hegel tritt er damit nicht nur dem objektiven jüdischen Gesetzesdenken entgegen, sondern auch dem aus der Autonomie des Ich entsprungenen Sittengesetz Kantischer Prägung. Judaismus und Kantianismus werden ineinandergespiegelt, aber gleichwohl unterschieden. Die »Wurzel des Judentums« sei »das Objektive, d. h. der Dienst, die Knechtschaft 21 Vgl. Dieter Henrich, Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus, in: Hölderlin-Jahrbuch 14, 1965/66, 73–96; ders., Hegel und Hölderlin, in: Ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/M. 1971, 9–40; Christoph Jamme, »Ein ungelehrtes Buch«. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800, Bonn 1983; Dieter Henrich, Der Weg des spekulativen Idealismus. Ein Résumé und eine Aufgabe, in: Zwillings Nachlaß. Eine Rekonstruktion, hg.v. Dieter Henrich und Christoph Jamme, Bonn 1986, 77–96; Yoichi Kubo, Weg zur Metaphysik. Entstehung und Entwicklung der Vereinigungsphilosophie beim frühen Hegel, München 2000. 22 GW 5, 6. 23 Ha 459; N 293. 24 AaO. 426; N 266. 25 AaO. 428; N 268. 26 HW 1, 317. 27 AaO. 319.

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eines Fremden«;28 Moralität hingegen sei »in der jüdischen Religion [. . . ] unmöglich, weil keine Freiheit darin war, sondern durchgängige Herrschaft«.29 Moralität im Sinne des Kantischen Sittengesetzes hingegen setzt zwar Freiheit voraus, unterwirft die Subjekte aber wiederum einer anderen Form der Herrschaft: »Das Gesetz ist zwar subjektiv, ein Gesetz des Menschen, aber ein Gesetz, das anderen in ihm Vorhandenen widerspricht, ein Gesetz, das herrscht; es gebietet nur«.30 Befolgt werden soll es aus Achtung, aber damit widerspricht die Triebfeder des moralischen Handelns sowohl der Freiheit als auch der Allgemeinheit, denn in der Achtung vor dem moralischen Gesetz wird dieses – wie in jedem Herrschaftsverhältnis – als ein besonderes den Subjekten entgegengesetzt. Jüdisches Gesetz und Sittengesetz werden somit von Hegel überblendet, aber nicht zur Deckung gebracht. Dabei scheint die Unfähigkeit der Juden zur Freiheit sie von dem lebendigen Band der Liebe und des Glaubens in jeder Hinsicht auszuschließen, denn dieses ist, wie Hegel schreibt, »in Rücksicht auf Herrschaft betrachtet die höchste Freiheit [. . . ], ein Zustand, der das unbegreiflichste Gegenteil des jüdischen Geistes ist.«31 Tatsächlich betont Hegel immer wieder mit Formulierungen, die antijüdische Stereotypen aufrufen, den knechtischen Geist des Judentums, das statt Befreiung nur Rückkehr unter das Joch seines Gottes sucht, von dem es »durch und durch abhängig«32 ist, so dass auch der »Trieb nach Unabhängigkeit« bei den Juden nicht der Trieb nach Freiheit, sondern immer nur der »Trieb nach Abhängigkeit von etwas Eigenem« sei.33 Aus dieser Knechtschaft erwächst dann die mitunter auch mit »satanischer Abscheulichkeit« vollzogene Entgegensetzung der Juden gegen und Absonderung von den anderen Völkern, denn in ihrem »eifersüchtigen Gotte« liege »die entsetzliche Forderung [. . . ], daß er allein und diese Nation die einzige sei, die einen Gott habe«.34 Dieser Gott wird schließlich mit der Shakespearschen Lady Macbeth gleichgesetzt, die ihren Gatten zum Mord treibt: »Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der [. . . ] sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienst alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermorden [. . . ] mußte.«35 Vor dem Hintergrund der systematische Konstruktion sind solche schwer erträglichen Formulierungen eigentlich nicht zu rechtfertigen, denn hier ist das Judentum vielmehr durch ein mehrstufiges Aufhebungsverhältnis mit dem von Hegel erstrebten Zustand der Liebe und des Glaubens vermittelt: »Gesinnung« – also Moral – »hebt die [. . . ] Objektivität der Gebote auf; Liebe die Schranken der Gesinnung, Religion die Schranken der Liebe«.36 Auch, wenn wir hier kategorial noch nicht das spätere Konzept der Aufhebung als Negation der Negation unterstellen dürfen, so fordert das pleromaKonzept doch die Erfüllung des Gesetzes in seiner Aufhebung, was jede abstrakte Ne28 29 30 31 32 33 34 35 36

AaO. 298. AaO. 99. AaO. 301. AaO. 357. AaO. 288. AaO. 294. AaO. 280. AaO. 297. AaO. 302.

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gation ausschließt.37 Diese Figur geht auf die sogenannte »Vereinigungsphilosophie« zurück, die Hegel nach seiner Übersiedlung nach Frankfurt von Hölderlin übernimmt. Sie setzt der Reflexion oder Trennung eine ursprüngliche Einheit voraus, die aus der Trennung heraus wiederhergestellt werden müsse. In der zweiten Fassung des Fragments welchem Zwekke denn (1798) heißt es von der wiederhergestellten, vollendeten Einigkeit, in ihr sei »auch der Reflexion Genüge geleistet worden [. . . ]; der unentwickelten Einheit stand die Möglichkeit der Reflexion, der Trennung gegenüber; in dieser ist die Einigkeit und Trennung vereinigt, ein Lebendiges, das sich selbst entgegengesetzt worden war, aber diese Entgegensetzung nicht absolut machte«.38 Vorgestellt wird hier ein »Harmonischentgegengesetztes« im Sinne Hölderlins,39 in dem die Entgegensetzung im Geiste eines ästhetischen Platonismus40 versöhnt ist. Und so kann und muss auch das jüdische Volk sein Schicksal, dem es einen »schäbigen, niederträchtigen, lausigen Zustand« verdankt, »durch den Geist der Schönheit aussöhnen und so durch die Versöhnung aufheben«.41 Vor dem vereinigungsphilosophischen Hintergrund wird deutlich, dass Hegel das Judentum als Kontrastfolie zur wiederherzustellenden Einheit konstruiert und dabei offensichtlich antijudaische Stereotype zur Verstärkung des Kontrastes benutzt. In seiner Weltgeschichte der Entfremdung und Aufhebung der Entfremdung beschränkt sich der Frankfurter Hegel weitgehend auf die biblische Geschichte des Alten und des Neuen Testamentes, wobei im Hintergrund das Schönheitsideal der griechischen Antike irrlichtert, ohne in diesem Modell historisch fixierbar zu sein. In dieser Geschichte steht das Judentum für den »Verlust des Naturzustandes«, also der ursprünglichen Einheit.42 Infolge der Sintflut, die hier als historisches Faktum genommen wird, versuchten die Juden, »die Ausbrüche der nun feindlichen Natur« dadurch zu beherrschen, dass sie selbst sich einer stärkeren Macht – dem alttestamentarischen Gott – anvertrauten und unterwarfen.43 Wie in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung schlägt Naturbeherrschung in Beherrschung der Menschen um, womit eine Versöhnung der Menschen mit der Natur und untereinander verfehlt wird. Die Geschichte Noahs parallelisiert Hegel mit derjenigen Nimrods, wie sie bei Josephus erzählt wird: »beide schlossen mit dem Feinde einen Frieden der Not und verewigten so die Feindschaft; keiner versöhnte sich mit ihm, nicht wie ein schöneres Paar, Deukalion und Pyrrha nach ihrer Flut es taten, die Menschen wieder zur Freundschaft mit der Welt, zur Natur einluden«.44 Das Unhaltbare dieser Konstruktionen liegt auf der Hand. Hegels Bild des Juden37 Vgl. aaO. 324. 38 Christoph Jamme, Hegels Frankfurter Fragment ›welchem Zwekke denn‹, in: Hegel-Studien 17 (1982), 14. 39 Friedrich Hölderlin, Werke. Große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, Stuttgart 1943ff., Bd. 5,1, 248. 40 Vgl. Klaus Düsing, Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel, in: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, hg.v. Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Stuttgart 1981, 101–117. 41 HW 1, 292. 42 AaO. 274. 43 AaO. 275. 44 AaO. 276.

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tums in der Frankfurter Zeit fügt sich einem vereinigungsphilosophischen Schematismus ein, dem – vor jedem Verständnis des Judentums – Hegels Interesse wohl vor allem galt. Dabei folgen Hegels Invektiven gegen das Judentum jedoch gerade nicht aus diesem Schematismus, sondern machen sich unreflektierte Vorurteile zueigen. Gerade der Schematismus, nach dem der Trennung Genüge geleistet und die Versöhnung nicht nur der Entgegengesetzten, sondern auch mit der Entgegensetzung erstrebt werden soll, hätte eigentlich ein anderes Bild des Judentums verlangt. Wenn, wie Hegel schreibt, der »unendliche Geist nicht Raum im Kerker einer Judenseele« haben kann,45 dann muss auch die Versöhnung scheitern. Hegel, so muss man hier feststellen, hat die systematische Konsequenz seines Gedankens dumpfen Vorurteilen geopfert.

3. Hegels Antijudaismus der Frankfurter Zeit beruht indessen offenbar nicht auf festsitzenden Vorurteilen. Er unterscheidet sich nicht nur von den früheren, sondern vor allem auch von den späteren Texten, in denen sich derartiges gar nicht mehr findet. Über die Gründe hierfür lässt sich nur spekulieren. Im Zusammenhang mit der (nur sekundär durch Rosenkranz überlieferten) Jenaer Naturrechtsvorlesung kommt Hegel erstmals wieder auf das Judentum zurück, das er, zusammen mit der römischen Religion, zwischen Naturreligion und schöne Mythologie einerseits und das Christentum andererseits stellt; das jüdische Volk wird hier als das »verworfenste der Völker« bezeichnet, in dem gerade darum die Vernunft wieder erscheinen musste, »weil in ihm der Schmerz am tiefsten und sein Aussprechen eine der ganzen Welt verständliche Wahrheit haben mußte«.46 Christus erscheint hier als Religionsstifter, der dem jüdischen Schicksal eine Stimme verleiht. Im Religionskapitel der Phänomenologie des Geistes steht das Judentum dann am Beginn der Darlegungen als Naturreligion des »Lichtwesens«, wie Walter Jaeschke nachgewiesen hat47 – ein Ausdruck, der Motive Herders aufnimmt, die sich auch noch in den ersten Berliner Vorlesungen finden – ; hier wird das Judentum auch zuerst mit dem Terminus »Erhabenheit« in Verbindung gebracht.48 Die weitere Entwicklung geht offenbar von zwei Problemkreisen aus: von der rechtsphilosophischen Thematik, also der Frage nach der rechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Stellung der Juden einerseits, und von der religionsphilosophischen Thematik, also der Frage nach dem Ort der jüdischen Religion in der Geschichte der Religionen andererseits. Soweit ich sehen kann, stimmen die Bezugnahmen in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte und der Kunst im Wesentlichen mit den religionsphilosophischen Darlegungen überein und scheinen von diesen abzuhängen.49 45 AaO. 381. 46 GW 5, 461. 47 Walter Jaeschke, Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 214–15. 48 GW 9, 371. 49 Eine genauere Darlegung ist aufgrund des jetzigen Editionsstandes, der eine entwicklungsgeschichtli-

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Während hinsichtlich der rechtsphilosophischen Thematik, auf die ich zum Schluss zurückkommen werde, Hegels Position feststeht – Juden sind Menschen und als solche Personen, denen alle Rechte zukommen – , ergeben die Manuskripte Hegels und die studentischen Vorlesungsnachschriften zur Religionsphilosophie hinsichtlich der Stellung des Judentums in der Religionsgeschichte kein einheitliches Bild.50 In dem zur ersten Vorlesung 1821 entstandenen Manuskript unternimmt Hegel den Versuch, die Religionen nach der Abfolge der reinen Gedankenbestimmungen in der Wissenschaft der Logik zu ordnen. Die Religionen der Erhabenheit und Schönheit, also Judentum und griechische Religion, werden dem Wesen und nicht mehr dem Sein, wie die unmittelbare Religion (Naturreligion), zugeordnet. Der jüdische Monotheismus bezeichnet genau diese Differenz: Gott ist Einer und damit »subjektive Einheit mit sich« und »in sich selbst bestimmt«,51 d. h. Gott ist Individuum und in sich reflektiert und damit nicht mehr die abstrakte Einheit des Seins.52 Zu seinen Eigenschaften gehören jetzt Güte und Gerechtigkeit.53 Hieraus folgt im Gegenzug auch, dass die Verehrer dieses Gottes an sich Freiheit und Selbstbewusstsein haben, auch wenn Hegel es im Rahmen der jüdischen Religion als Knechtschaft bestimmt.54 Nun ist es keineswegs so, dass das veränderte Bild der jüdischen Religion, das sich hier abzeichnet, sich einer logischen oder einer sonstigen Konstruktion verdankt. Vielmehr variiert die Ordnung der bestimmten, also der nichtchristlichen Religionen in den folgenden Kollegien, ohne dass sich eine neue logische Zuordnung oder gar eine Revision der Wissenschaft der Logik ergeben hätte.55 Zwar trennt sich Hegel – wie sollte er es auch – nie vollständig von einer Orientierung der Religionsgeschichte an der logischen Begriffsform, die expliziten Zuordnungen werden jedoch immer vager. Auch die (alternative) Strukturierung der Religionsgeschichte nach Gottesbeweisen, die bereits im Manuskript 1821 angedeutet ist, aber erst im zweiten Kolleg 1824 zum organisierenden Prinzip gemacht wird, trägt nicht weiter. Im ersten Kolleg etwa wird die jüdische Religion dem kosmologischen Beweis zugeordnet (der aber zugleich und vorzüglich den Naturreligionen angehört), während Hegel in der Vorlesung 1824 mit der jüdischen Religion an seinem eigenen Konstruktionsprinzip scheitert: der Begriff des Einen Gottes, so gesteht er hier, sei »eigentlich nicht geeignet«, um zu einem Gottesbeweis zu kommen.56 Und schließlich ist nicht einmal die Gliederung des Abschnitts über die bestimmte Religion und damit die Stellung des Judentums in der systematischen Abfolge

50

51 52 53 54 55 56

che Betrachtung beider Disziplinen ebenso wenig zulässt wie eine Überprüfung der bisherigen Kompilationen, nicht möglich. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Ausgabe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hg.v. Walter Jaeschke (Hegel: Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bde. 3, 4a, 4b, 5, Hamburg 1983–1985 (im Folgenden zitiert mit der Sigle Vn und Angabe der Bandzahl). Vn 4a, 34. Vgl. aaO. 35. Vgl. aaO. 44. Vgl. aaO. 60f. Vgl. Jaeschke, Die Vernunft (Anm. 47), Kap. III, hier besonders 276ff. Vn 4a, 294.

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der Religionen konstant. Im Hegelschen Manuskript bildet die Religion der Erhabenheit zusammen mit der griechischen Religion den Mittelteil zwischen der unmittelbaren Religion und der Religion der Zweckmäßigkeit (hier: der römischen und der natürlichen Religion der Aufklärung). Im Kolleg 1824 hingegen, das nur eine Zweigliederung vornimmt, gehört sie – zusammen mit der griechischen und römischen Religion – zu den Religionen der geistigen Individualität, während die dritte Vorlesung 1827 im wesentlichen zu der Gliederung des Manuskripts von 1821 zurückkehrt, nun aber die jüdische auf die griechische Religion folgen lässt. In der Vorlesung von 1831 dagegen, die nur in den von David Friedrich Strauss gefertigten Auszügen aus einer Nachschrift überliefert ist, erscheint die jüdische Religion zusammen mit der persischen als »Religion des Guten«, gefolgt u. a. von der ägyptischen Religion und dann der griechischen und römischen Religion, die hier eigene Stufen bilden. Hieran wird der in hohem Maße experimentelle Charakter der Vorlesungen über die Philosophie der Religion deutlich, in denen Hegel in immer neuen Anläufen die empirische Basis ständig erweitert. Das neue Bild der jüdischen Religion, das im Einzelnen immer wieder anders akzentuiert wird, muss somit als Folge nicht einer logischen oder sonstigen Konstruktion, sondern einer vertieften Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte und Tradition angesehen werden. Sowenig die jüdische Religion einer streng begrifflichen Ordnung der bestimmten Religionen einzuordnen ist, sowenig ist sie selbst eindeutig begrifflich bestimmt. Die Ausdrücke »Erhabenheit« und »erhaben«, die Hegel zumindest in den ersten drei Vorlesungen als Titel für die jüdische Religion verwendet, sind ja keineswegs so festgelegt, wie man meinen könnte, wenn man – was nahe zu liegen scheint – Kants Bestimmung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft assoziiert. In dem Manuskript von 1821 erläutert Hegel, es handle sich beim Judentum nicht um die »Erhabenheit des Maßlosen, das zugleich, um sich zu gestalten [. . . ] nur des unmittelbar Vorhandenen – Individuen, Tiere usf. – bedienen kann und ihrer fratzenhaften Verzerrungen, sondern die Erhabenheit, die fertig ist mit diesen Existenzen und Weisen der Existenz und sie nur als Schein ausspricht«.57 In der ersten Bedeutung kommt die Erhabenheit nach demselben Manuskript der unmittelbaren Religion in Gestalt der »morgenländischen« und »indischen« Religion zu; das »Erhabene« ist hier »das Aufspreizen der endlichen Gestaltung, Gedanken, Erscheinung zum Punkt, wo sie ihre Grenze überschreitet, ihr Maß, und schwebt zwischen Auflösung der Gestalt und Gestalt«.58 In der zweiten Bedeutung handelt es sich um eine Erhabenheit, die in einem Selbstbewusstsein liegt, das über den Schein der sinnlichen Existenz hinaus ist. Eine Parallelstelle zu dieser Unterscheidung findet sich bereits in der ersten Auflage der Seinslogik in der ersten Anmerkung zum unendlichen Progress;59 hier bezieht Hegel sich – wenn auch zum Teil mit vorgeblichen Zitaten, in denen Kant mit Fichte amalgamiert wird – auf den berühmten Schluss der Kritik der praktischen Vernunft, in dem Kant Bewunderung und Ehrfurcht für den gestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir bedenkt und in diesem Zusammenhang auch beiläufig von der 57 AaO. 33. 58 AaO. 15. 59 GW 11, 143–145.

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»Erhabenheit des Gegenstandes« spricht.60 Das Zweite, so Kant, »fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat« und »hebt meinen Werth, als einer Intelligenz«, das Erste dagegen »vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit«.61 In der Wissenschaft der Logik heißt es von der zweiten Unendlichkeit in einer als Kant-Zitat ausgegebenen Passage, dass »das Individuum auf sein unsichtbares Ich zurückgeht und die absolute Freiheit seines Willens als ein reines Ich allen Schrecken des Schicksals und der Tyrannei entgegenstellt [. . . ] Welten über Welten in Trümmer zusammenstürzen läßt und einsam sich als sich selbst gleich erkennt.«62 Es scheint mir plausibel zu sein, dass Hegels Gebrauch des Ausdrucks »Erhabenheit« in dem Manuskript zur Religionsphilosophie sich vor allem an seiner in der Seinslogik dargelegten Lesart des Schlusses der Kritik der praktischen Vernunft und weniger an der Kritik der Urteilskraft orientiert. Wenn das so ist, dann liegt hier wiederum eine Überblendung der jüdischen Religion und des Kantischen Sittengesetzes vor, diesmal jedoch mit einem anderen Akzent und daher auch Resultat. Betont wird nicht so sehr der Gesetzescharakter des Sittengesetzes, sondern sein Ursprung in der Autonomie der praktischen Vernunft; die jüdische Religion erweist sich somit als Moment der Freiheitsgeschichte, also des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit. Sie ist überhaupt, wie Hegel in seinem Manuskript sagt, »Religion des Gedankens«63 und damit auf dem Weg zur begrifflichen Selbsterfassung des Geistes. Die Herrschaft des Einen Gottes ist die Macht des Negativen gegen das unmittelbare Sein: »Die Erhabenheit hat daher ihre Darstellung und Ausdruck an der Natur und Welt, so daß diese als werdend und vergehend in jener Macht vorgestellt« werden.64 Diese Macht ist absolute Negativität als Selbstzweck, für die – wie die Geschichte Hiobs zeige – nur »absolute Unterwerfung« gilt und der Güte und Gerechtigkeit nur Momente ihres Prozesses als Macht sind.65 Im Kultus der Religion der Erhabenheit bringt das Selbstbewusstsein der Individuen seine Identität mit der Macht hervor;66 in ihm werden Unterwerfung und Knechtschaft praktiziert, aber »Knechtschaft ist Selbstbewußtsein – Reflexion in sich – Freiheit, aber ohne Inhalt in sich selbst«.67 Hierin konvergiert das Selbstbewusstsein der Knechte mit der Bestimmungslosigkeit der Macht. Die Vorlesung von 1824 identifiziert dann die absolute Macht mit der Weisheit, aber auch diese Macht bleibt abstrakt und realisiert sich daher nur als abstrakter, d. h. einzelner Zweck in der Familie als der ersten, natürlichen Allgemeinheit; die jüdische Religion ist somit »patriarchalische Religion«68 und ausschließlich auf den beschränkten Zweck eines aus der Erweiterung der Familie hervorgegangenen Volkes gerichtet. Beson60 61 62 63 64 65 66 67 68

KpV 290. AaO. 289f. GW 11, 144. Vn 4a, 41. AaO. 42. AaO. 45. Vgl. aaO. 58. AaO. 60. AaO. 324.

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ders betont Hegel dann den Schöpfungsgedanken,69 der etwas anderes sei als das bloße Hervorgehen aus einer Seinsmacht und den bleibenden Charakter der Subjektivität des Herrn unterstreiche. Güte und Gerechtigkeit Gottes erscheinen jetzt als Erhalt und Untergehen der Dinge nicht durch blinde Notwendigkeit, sondern durch die Weisheit der Macht. In dem Gedanken der Schöpfung liege ferner der Gedanke der Äußerlichkeit der Welt gegen die Innerlichkeit des Geistes, d. h. Gottes.70 »Die Erhabenheit«, so bestimmt sie Hegel, »ist die Idee, die sich äußert [. . . ], aber so, daß sie in diesem Erscheinen an der Realität zugleich sich auch zeigt als erhaben über dieses Erscheinen«.71 Die religiöse Gesinnung lebt dementsprechend in der Furcht des Herrn als einer absoluten Macht, jedoch sei dies, so Hegel in polemischer Wendung gegen Schleiermacher, kein Gefühl der Abhängigkeit, denn in der Furcht des Herrn sei der Knecht von nichts Bestimmten mehr abhängig und insofern frei.72 Aus dieser Dialektik von absoluter Herrschaft und Knechtschaft erwachsen für die Individuen Zuversicht, Glaube und letztendlich Versöhnung. Der Abstand zur Charakteristik des Judentums in der Frankfurter Zeit könnte kaum größer sein. Die Vorlesung 1827 folgt im Wesentlichen der vorhergehenden, betont nun aber gegenüber den griechischen Göttern, die der Besonderheit verhaftet bleiben, die Allgemeinheit des jüdischen Gottes, der »allgemeine und reine Subjektivität« sei;73 sie ist für Hegel »wesentlich denkend« und als Denken »nur für das Denken«.74 Im Hinblick auf die Menschen wird der Zweck Gottes jetzt ausdrücklich in die Sittlichkeit gesetzt: »Der wesentliche Zweck ist [. . . ] Sittlichkeit, Rechtlichkeit, daß der Mensch als solcher in dem, was er tut, das Gesetzliche, das Rechte vor Augen habe«.75 Das sittliche und natürliche Dasein der Menschen werde unter Gesetze gestellt, die aber nicht den Charakter blinder Notwendigkeit hätten, wie in der griechischen Religion.76 Hieraus ergäben sich Glaube und Zuversicht als das Bewusstsein der »Harmonie zwischen Macht und Weisheit«.77 Mit diesem neuen Gedanken ist das Verhältnis der Individuen zu Gott auch nicht mehr das der Knechte zum Herrn, sondern »Innerlichwerden des Geistes«, d. h. der göttlichen Weisheit: »Der Mensch soll Recht tun; das ist das absolute Gebot, und dieses Rechttun hat seinen Sitz in seinem Willen«.78 Die vernünftige Willensbestimmung aber ist, wie Hegel immer wieder einschärft, der Grund der Freiheit. Hegels Auffassung des Judentums, so ist diesem kurzen Streifzug durch die ersten drei quellenmäßig gut belegten Fassungen des Kollegs, auf die ich mich hier beschränken möchte, zu entnehmen, lässt die Stereotypen, denen die Frankfurter Texte noch erlagen, immer mehr hinter sich. Ob dieser Versuch, die jüdische Religion der Freiheitsgeschich69 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Vgl. aaO. 325ff. AaO. 330. AaO. 332. AaO. 344. AaO. 562. AaO. 563. AaO. 572. AaO. 572. AaO. 573. AaO. 574.

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te im Hegelschen Sinne zu vindizieren, den Besonderheiten dieser Religion gerecht wird, ist hier nicht weiter zu erörtern. Ich wende mich stattdessen zum Abschluss noch kurz der rechtsphilosophischen Problematik zu.

4. Die Frage nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden hat Hegel im Sinne seines Begriffs der Geschichte als Freiheitsgeschichte beantwortet. In seinen Vorlesungen über die Rechtsphilosophie heißt es, das »Prinzip der neuern Welt überhaupt« sei »Freiheit der Subjektivität«, weshalb alle Staatsverfassungen einseitige seien, »die das Prinzip der freien Subjektivität nicht in sich zu ertragen vermögen und einer ausgebildeten Vernunft nicht zu entsprechen wissen.«79 Dem entspricht, was Hegel im §124 der Grundlinien der Philosophie des Rechts hat drucken lassen: »Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit.«80 Eine wesentliche rechtliche Konsequenz hieraus ist der Gedanke der Gleichheit der Menschen als Personen: »Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist, – dies Bewußtsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, – nur dann mangelhaft, wenn es etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen.«81 Hiermit ist Mensch-Sein als eine rechtliche Bestimmung ausgesprochen; es ist – wie Hegel im Blick auf die bürgerliche Stellung der Juden ausdrücklich bemerkt – mehr als »eine flache, abstrakte Qualität«.82 Sofern aber der Begriff der Person Grundlage des Rechts ist, ist damit zugleich das Recht überhaupt seinem Begriff nach als Menschenrecht gesetzt,83 dem gegenüber Unterscheidungen wie Jude oder Nichtjude keine Rolle spielen dürfen. Jude zu sein heißt dann nur noch: Angehöriger einer Religion sein, die selbst den Gedanken der Freiheit in sich trägt. Hierin unterscheidet sich Hegel wohl von den meisten seiner Zeitgenossen, auch den akademischen. Schleiermacher hat sich zu einer solchen Position nicht durchringen können, ganz zu schweigen von geschworenen Antisemiten wie Jakob Friedrich Fries, über den auf diesem Kongress wohl ebenso hätte gesprochen werden sollen wie über Friedrich Karl von Savigny, dessen Antisemitismus sich direkt gegen Hegels Schüler Eduard Gans wandte.84 Savigny erwirkte eine als »lex Gans« unrühmlich bekannt gewordene Kabinettsordre vom 18. August 1822, die ausdrücklich und namentlich Gans’ 79 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg.v. Hermann Klenner, Berlin 1981, 318, §273, Zusatz. 80 AaO. 150, §124, Erläuterung. 81 AaO. 241, §209, Erläuterung. 82 AaO. 300, §270, Erläuterung. 83 Vgl. Andreas Arndt, Problem der Menschenrechte bei Hegel und Marx, in: Menschenrechte: Rechte und Pflichten in Ost und West, hg.v. Konrad Wegmann u. a., Münster 2001, 213–236. 84 Vgl. Norbert Waszek, Gans (1797–1839): Hegelianer – Jude – Europäer. Texte und Dokumente, Frankfurt/M u. a. 1991, 16ff.

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Anstellung als Professor an der juristischen Fakultät verbot. Erst nach seiner Taufe konnte Gans 1826, noch immer gegen den erbitterten Widerstand Savignys, seine Anstellung durchsetzen. Gegen derlei hatte Hegel bereits in den Grundlinien der Philosophie des Rechts folgende Einsicht gesetzt: dass Juden »zuallererst Menschen sind und dass dies nicht nur eine flache, abstrakte Qualität ist«; das Zugeständnis bürgerlicher Rechte könne durch »das Selbstgefühl, als rechtliche Personen in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten«, auch dazu beitragen, die den Juden vorgeworfene Absonderung aufzuheben, während deren Verweigerung sie befestigt hätte: »Die den Juden vorgeworfene Trennung hätte sich vielmehr erhalten und wäre dem ausschließenden Staate mit Recht zur Schuld und Vorwurf geworden; denn er hätte damit sein Prinzip, die objektive Institution und deren Macht verkannt«.85 Unrecht hatte Hegel darin, die letzte Aussage konjunktivisch zu formulieren. Mit der »lex Gans« war die Gleichstellungspolitik in Preußen faktisch aufgegeben worden, und es kamen in der Folge mehr und mehr jene Mächte zum Zuge, die die Objektivität des Staates nicht nur verkannten, sondern sie gegenüber den Juden ausdrücklich beseitigen wollten.

85 Hegel, Grundlinien (Anm. 79), 300; §270, Anm. zur Erläuterung.

Das Bild des Judentums bei David Friedrich Strauß Martin Laube 1. Um David Friedrich Strauß ist es still geworden. Daran hat nicht einmal die Wiederkehr seines 200. Geburtstages im vergangenen Jahr etwas ändern können. In den Feuilletons wurde das Gedenkjahr zwar pflichtschuldig, aber merklich uninspiriert abgearbeitet, und die akademische Zunft selbst überging den Geburtstag nahezu ausnahmslos mit Schweigen.1 Zu abgegriffen scheint die Floskel vom tragisch umwehten Bankrotteur nicht nur der biblischen Geschichte, sondern des Christentums überhaupt, und zu unabänderlich das allgemeine Urteil, in Strauß – trotz allen spekulativen Rettungszaubers – letztlich nur einen destruktiv-zersetzenden Geist am Werke sehen zu müssen. Indes belegt ein Blick in das Meisterwerk der Glaubenslehre 2 rasch die unabgegoltene Aktualität des Strauß’schen Denkens. Drei exemplarische Hinweise mögen an dieser Stelle genügen. 1. Strauß arbeitet gegen die glättende Lesart der theologischen Althegelianer die ›zweischneidige‹3 Pointe der Hegelschen Religionsphilosophie heraus und spitzt sie nochmals zu: Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Be1 2

3

Die Ausnahme von der Regel bildet Werner Zager (Hg.), Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben? David Friedrich Strauß als Theologe und Philosoph, Neukirchen-Vluyn 2008. Vgl. David Friedrich Strauss, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt, 2 Bde., Tübingen 1840/41. – Emanuel Hirsch urteilt zu Recht, dass dieses Werk »noch heute neben Schleiermachers Glaubenslehre für jeden Systematiker von Fach Gegenstand angelegentlichen Studiums sein sollte« (Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5, Gütersloh 31964, 493). Vgl. zu diesem Begriff Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, 473. Jaeschke wendet sich damit gegen das berühmte Diktum Karl Löwiths von der vermeintlichen ›Zweideutigkeit‹ der Hegelschen Religionsphilosophie (vgl. Löwith, Hegels Aufhebung der christlichen Religion, in: Klaus Oehler, Richard Schaeffer (Hg.), Einsichten. FS Gerhard Krüger, Frankfurt a.M. 1962, 156–203): Hegels Verhältnis zur Religion sei durchaus eindeutig, aber zweischneidig, insofern die Affirmation des religiösen Inhalts mit einer Kritik der vorstellungsgebundenen Form einhergehe. – Einen präzisen Überblick über das Verhältnis von Hegel und Strauß gibt auch Jan Rohls, Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff. Hegels These und die Theologie der Jungehegelianer, in: Ingolf U. Dalferth/Hans-Peter Grosshans (Hg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten theologischen und philosophischen Aufgabe, Tübingen 2006, 17–51.

Das Bild des Judentums bei David Friedrich Strauß

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griff könne nicht als Rechtfertigung der Religion, sondern müsse vielmehr als deren Ende begriffen werden.4 In der Tat ist für Hegel die Affirmation des religiösen Inhalts durch eine Kritik der Form vermittelt. Indem die Philosophie den gemeinsamen Inhalt aus der inadäquaten Form der Vorstellung in die adäquate Form des Begriffs überführt, löst sie zugleich die Religion als höchste Gestalt des Geistes ab. Allerdings geht Strauß über Hegel noch einen Schritt hinaus. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechten legt er erstens die Form der Vorstellung einseitig auf ihren sinnlich-gegenständlichen Charakter fest5 und erklärt zweitens, dass dieses Ungenügen die Geltung des Inhalts nicht unberührt lassen könne.6 Indem er so die Differenz von Vorstellung und Begriff zu einem Gegensatz verfestigt, gerät er freilich in die Gefahr, die bei Hegel von der religiösen Vorstellung selbst legitimierte Aufhebung ihres Inhalts in eine bloß äußerliche Ersetzung der Religion zu verkehren. Während Hegels Aufhebung der Vorstellung in den Begriff als Realisierung eines dem Christentum eigenen Gehalts und mithin als Etappe innerhalb der Christentumsgeschichte selbst begriffen werden kann, wird bei Strauß notorisch unklar, ob der von ihm geforderte Übergang vom religiösen zum modernen Bewusstsein als eine durch Kritik vermittelte Fortbildung oder aber ›postreligiöse‹ Absage an das Christentum verstanden werden muss. Das damit gestellte Problem hat auch unabhängig vom spekulativ-idealistischen Denkrahmen Bestand. Alla breve formuliert: Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um das Verhältnis von Glauben und Wissen7 hinterlässt Strauß der Theologie zumindest das kritische Bewusstsein dafür, die eigene Frage nach der Vernunft der Religion vom postsäkularen Programm einer »rettende[n] Übersetzung«8 ihrer angeblich »kognitiv unannehmbare[n] Zumutung[en]«9 zu unterscheiden. 2. In der Debatte um die dogmatische Bedeutung der geschichtlichen Person Jesu ist die Theologie über den von Strauß erreichten Problemstand bisher nicht entscheidend hinausgekommen. Indem Strauß die biblischen Überlieferungen konsequent als mythische Deutungen statt historische Berichte auffasst, lenkt er die Aufmerksamkeit auf die offenkundige Differenz zwischen der geschichtlichen Person Jesu einerseits und dem nachösterlichen Glauben an Christus andererseits. Seither wird die christologische Schlüsselfrage darin gesehen, ob und in welcher Weise die nachösterlich entstandenen Würdeprädikate einen Anhalt im Leben und Selbstverständnis Jesu haben. Strauß ist 4

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6 7 8 9

Vgl. David Friedrich Strauss, Allgemeines Verhältniß der Hegelschen Philosophie zur theologischen Kritik, in: Ders., Streitschriften zur Vertheidigung meiner Schrift über das Leben Jesu und zur Charakteristik der gegenwärtigen Theologie, Drittes Heft, Tübingen 1837, 57–75. Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982, 449–456. Strauß parallelisiert die Vorstellung der sinnlichen Gewissheit und unterschlägt damit deren produktivkonstruktives Moment. Vgl. Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 1, §2, 12f. Vgl. dazu vor allem Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, hg.v. Florian Schuller, Freiburg i.Br. 2005. Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, 106–118, 116. Jürgen Habermas, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in: AaO. 216–257, 252.

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nun keineswegs daran gelegen, solche historischen Kontinuitätslinien zu leugnen – im Gegenteil: Er zieht aus den mythischen Evangelienberichten durchaus historische Rückschlüsse auf das Leben Jesu und versucht auch zu zeigen, warum die mythischen Deutungen gerade an das Leben Jesu geheftet werden.10 Der springende Punkt liegt vielmehr darin, dass er diese Frage nach dem Übergang von Jesus zu Christus für theologisch belanglos erklärt. Das Christentum gründe sich nicht auf die Person Jesu, sondern auf die Idee der Versöhnung von Göttlichem und Menschlichem, welche in ihrem mythischen Anfangsstadium an eine geschichtliche Person gebunden vorgestellt werde. Im Durchgang durch die historische und dogmatische Kritik habe die Theologie diese Rückbindung zu kappen, weil sie dem Gehalt der Idee nicht gerecht werde. Das bedeutet: Die Person Jesu gilt Strauß zwar als »Anlaß«,11 nicht aber als Urheber und schon gar nicht als Inhalt des Christentums. Im Hintergrund steht die Überzeugung, dass eine sachgerechte Entfaltung des christlichen Versöhnungsgedankens nur auf dem Wege einer konsequent enthistorisierenden Deindividualisierung der Christologie zu gewinnen sei: »Zur Idee im Faktum, zur Gattung im Individuum, will unsre Zeit in der Christologie geführt sein: eine Dogmatik, welche im Locus von Christo bei ihm als Individuum stehen bleibt, ist keine Dogmatik, sondern eine Predigt«.12 Die weitreichenden Folgen dieses Manövers werden darin sichtbar, dass die christologische Arbeit bis heute im Schatten der Alternative von Entpositivierung ihres Gegenstands einerseits oder Entdogmatisierung ihrer Bestände andererseits steht. Die allmählich einsetzende christologische Rezeption der third quest legt davon ein beredtes Zeugnis ab. 3. Strauß sieht die Geschichte des Christentums durch den Antagonismus zweier widerstreitender Prinzipien bestimmt. Auf der einen Seite stehe »der innere Lebenspunkt des Christenthums«,13 der christliche Grundgedanke der Versöhnung. Er wird von Strauß – in getreuem Anschluss an Hegel – spekulativ gefasst und als Bewusstwerdung der im Geist realisierten Einheit von Gott und Mensch expliziert.14 Auf der anderen Seite jedoch sei im Christentum zugleich eine Traditionslinie wirksam, welche gerade die abgründige Differenz von Gott und Welt einschärfe. Dem monistischen Versöhnungsgedanken trete so ein dualistisches Erlösungsmotiv gegenüber. Liege der Akzent dort auf einer spekulativen Immanenz des Göttlichen, so hier auf einer supranaturalistisch gefassten Transzendenz Gottes; folgerichtig werde dem präsentischen Modell der Erhebung zum Unendlichen die Orientierung an einer konsequent futurischen Eschatologie entgegengesetzt. Strauß formuliert damit eine typologische Alternative im 10 Vgl. etwa David Friedrich Strauss, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835/36, Bd. 1, §12, 71–73; sowie ders., Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 2, §59, 76–84. 11 Strauss, Das Leben Jesu (s. o. Anm. 10), Bd. 2, §147, 735. 12 AaO. Bd. 2, §147, 738. 13 AaO. Bd. 2, §141, 695. 14 Vgl. Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 1, §3, 25f: »Die Grundidee des Christenthums ist die der Versöhnung, d. h. der Aufhebung des Hüben und Drüben der Intellectualwelt und der Sinnenwelt, die Erkenntniss des Menschen als an sich geistigen und göttlichen, und die Verwirklichung dieses Ansich durch freie Aufhebung der Natürlichkeit, das Bewusstsein und die werkthätige Herausgestaltung des Himmels auf Erden; es heisst darum die offenbare Religion, weil in ihm der Geist zum Bewusstsein seines wahren Wesens gelangt ist«.

Das Bild des Judentums bei David Friedrich Strauß

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Christentumsverständnis, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst hat. Sie ist gerade ihrer scharfen Zuspitzung wegen geeignet, die Konsequenzen deutlich zu benennen, welche mit dem Syndrom der Theismuskrise für die theologische Arbeit verbunden sind. Darüber hinaus jedoch enthält sie nicht nur den Schlüssel für die spekulative Geschichtskonstruktion, von der die Strauß’sche Theologie geleitet ist, sondern bietet zugleich einen Ansatzpunkt, um sich auch der Frage nach seinem Verständnis des Judentums zuwenden zu können. Strauß folgt Hegel in dem Grundsatz, das Absolute wesentlich als Resultat aufzufassen: »Nichts, die Religion so wenig wie die Wissenschaft, ist in seinem Anfange vollendet; das erste Auftreten eines Princips ist vielmehr erst seine Unmittelbarkeit, sein noch formloser, unentwickelter, in Vergleichung mit der folgenden Entfaltung unvollkommener Zustand«.15 Dieser Grundsatz erlaubt es, den Antagonismus von monistischem Versöhnungsgedanken und dualistischem Differenzprinzip als Triebkraft einer geschichtlichen Entwicklungsdynamik des Christentums zu begreifen. So fänden sich im Neuen Testament nur erste und noch unvollkommene Versuche, die christliche Idee der Einheit von Gott und Mensch zur Darstellung zu bringen. Zwar sei den Evangelien zufolge Gott wahrhaft als Mensch erschienen – so dass das Christentum von Anbeginn als eine neue Stufe in der Religionsgeschichte zu gelten habe16 – ; aber »zwischen Christo und den Gläubigen blieb der Unterschied eines ursprünglichen göttlichen Wesens und blosser Theilnahme am Göttlichen; und die Verklärung der Gläubigen nach dem Bilde Christi, die Durchdringung der Wirklichkeit mit der Idee, schwand aus dem Diesseits in ein Jenseits hinüber«.17 Indem sich das urchristliche Bewusstsein die Versöhnung als in der Person Jesu geschehen vorstelle, halte es sie zugleich in der Distanz eines fernen Ereignisses fest. In der Christentumsgeschichte komme es nun zwar zu immer neuen Anläufen, das Defizit des urchristlichen Versöhnungsbewusstseins zu überwinden. Doch blieben sie alle letztlich erfolglos: Das Christentum finde keinen Weg, seinen Versöhnungsgedanken zum Vollbegriff der Einheit von Göttlichem und Menschlichem fortzubilden. Gerade hier liegt die von Hegel abweichende kritische Pointe des Strauß’schen Ansatzes: In einem knappen Durchgang durch die »Hauptepochen der Entwicklung des Christenthums«18 weist er nach, dass jeder Versuch, dem Gedanken der gottmenschlichen Einheit eine neue Fassung zu geben, zugleich ein Erstarken des gegenläufigen Differenzbewusstseins nach sich zieht.19 Das gilt für die Reformation, welche gegen den Katholizismus auftritt und ins Luthertum mündet, ebenso wie für das Scheitern der verschiedenen innerprotestantischen Versuche, die Reformation zu vollenden. Das kirchliche Christentum, so lautet das Fazit, bleibe durch einen Widerstreit von vorgestellter Versöhnung und erfahrener Entfremdung geprägt. Auf seinem Boden gelinge es nicht, diesen Widerstreit aufzulösen; die entscheidenden Impulse dazu kämen vielmehr aus der 15 AaO. Bd. 1, §14, 177. – Zu Hegels Grundsatz vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1999, XXIII. 16 Vgl. Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 1, §3, 35. 17 AaO. Bd. 1, §3, 36f. 18 AaO. Bd. 1, §4, 37. 19 Vgl. Graf (s. o. Anm. 5), 460f.

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Philosophie – namentlich der Philosophie Spinozas. Hier verortet Strauß den zentralen Wendepunkt in der christlichen Entwicklungsgeschichte: Spinoza habe dem bis dahin supranaturalistisch überdeckten »Princip der Immanenz«20 erstmals eine konsequente und konsistente Fassung gegeben, wenn dieses auch erst nach Kants Destruktion des Leibniz-Wolffischen Theismus in Gestalt der »Schelling-Hegel’sche[n] Philosophie«21 zu seiner vollen Entfaltung gelangt sei. Spinoza gilt für Strauß als Schlüsselgestalt für die Klärung des Verhältnisses von christlichem Bewusstsein und moderner Welt. Mithin findet seine eigene Unentschlossenheit in dieser Frage gerade in der geistesgeschichtlichen Einordnung Spinozas ihren Niederschlag. So erklärt er im Vorwort zu den friedlichen Blättern aus dem Jahre 1839, dass Spinozas Philosophie als legitime Folgegestalt eines über seine kirchlichen Grenzen hinausgewachsenen Christentums begriffen werden könne. Im spinozistischen Immanenzprinzip – welches mit naturalistischen oder materialistischen Ansätzen nichts gemein habe22 – sei die dualistische Entfremdung überwunden und der christliche Versöhnungsgedanke zu seiner vollgültigen Verwirklichung gelangt. Insofern erweise sich die moderne Weltanschauung gar »christlicher als die urchristliche selbst«.23 Ein Jahr später, im ersten Band der Glaubenslehre von 1840, ist davon keine Rede mehr. Stattdessen macht Strauß nun den »ersten Rausch der Begeisterung«24 dafür verantwortlich, einen Ausgleich von Glauben und Wissen dort vorgespiegelt zu haben, »wo ein tieferer Riss als je gemacht worden war«.25 Mit Spinoza, Schelling und Hegel habe der philosophische Pantheismus den christlichen Theismus abgelöst, und es sei völlig offen, »ob diese neue, speculative Wahrheit dieselbe mit der alten kirchlichen sei, oder ihr fremd und entgegengesetzt, oder ob ein Mittleres zwischen beiden stattfinde«.26

2. Damit ist der Rahmen aufgespannt, um nun auch das Verständnis des Judentums bei Strauß in den Blick nehmen zu können. Denn in dem Antagonismus von monistischer Versöhnung und dualistischer Entfremdung ist bereits die Rolle vorgebildet, wel20 David Friedrich Strauss, Zwei friedliche Blätter. Vermehrter und verbesserter Abdruck der beiden Aufsätze: Ueber Justinus Kerner, und: Ueber Vergängliches und Bleibendes im Christenthum, Altona 1839, XXVI. 21 Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 1, §5, 65. 22 Vgl. Strauss, Zwei friedliche Blätter (s. o. Anm. 20), XXVf. 23 AaO. XXXIII. – Vgl. auch aaO. XXXI: Strauß zufolge »hat sich die göttliche Energie des Christenthums darin bethätigt, daß es nicht in seiner ersten Gestalt verblieben, sondern in gesundem Wuchse aus ihr herausgetreten, und zu höheren Gestaltungen fortgeschritten ist. Der kleine Sauerteig des Göttlichen, zuerst nur in einiges wenige Endliche gelegt, hat nach und nach die ganze Masse durchdrungen: [. . . ] statt Eines Gottmenschen schauen wir in allem wahrhaft Menschlichen das Göttliche an«. 24 Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 1, §5, 66. 25 Ebd. 26 AaO. Bd. 1, §6, 71f.

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che Strauß dem Judentum zuweist. Es steht bei ihm repräsentativ für das der christlichen Vereinigung von Gott und Mensch strikt zuwiderlaufende Motiv, gerade die Entfremdung des Endlichen vom Unendlichen auf Dauer zu stellen. Die von Strauß konstruierte Entwicklungsgeschichte des Christentums gewinnt so die Züge eines spannungsreichen Dramas, in dessen Verlauf das Christentum immer wieder neu versucht, das ihm von seinen jüdischen Ursprüngen her eingeschriebene dualistisch-supranaturalistische Erbe abzuschütteln. Vor allem in den mythisch geprägten Evangelien habe das Christentum »noch sehr auffallend den Geschmack von dem Boden seiner Entstehung, dem Judenthum, der sich erst in der weiteren Strömung über andere geschichtliche Gebiete hin nach und nach verlieren muss«.27 Die Geschichte des Christentums wird von Strauß als Geschichte einer fortwährenden Emanzipation vom Judentum inszeniert. Was daher auf den ersten Blick als ›Kampf‹ des Christentums mit der modernen Wissenschaft erscheint, stellt sich bei genauerem Hinsehen als ein Ringen von jüdischem Theismus und philosophischem Pantheismus über die Vorherrschaft im Christentum dar. Das bedeutet freilich im Umkehrschluss: In dem Maße, in dem das Drama in eine Tragödie umschlägt und das Christentum an seiner Emanzipationsaufgabe scheitert, fällt es für Strauß ins Judentum zurück. Die epochale Wende in der Entwicklungsgeschichte des Geistes wird dann »nicht mehr durch den christlichen Glauben, sondern durch die spekulative Philosophie herbeigeführt«.28 Dieser Rückfall hat zugleich eine weitreichende inhaltliche Pointe. Das Schicksal des Christentums entscheidet sich für Strauß auf dem Feld der Christologie. In Aufnahme und Fortbildung der jüdischen Messiasvorstellungen bilde die Alte Kirche zwar die Idee der Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem aus, beschränke diese aber zugleich auf die Person Jesu und lasse sie damit als »Ausnahme von der Regel«29 erscheinen. Die Grundspannung zwischen Transzendenz und Immanenz finde mithin hier ihren exemplarischen Niederschlag: In der Lehre von Christus werde »das Diesseitigwerden des Göttlichen«30 gedacht – aber noch »unter Voraussetzung seiner Jenseitigkeit«.31 Folglich lautet die Gretchenfrage, ob und wie es gelingen kann, diese Halbherzigkeit zu überwinden. Strauß sieht dazu nur eine Möglichkeit: Die Christologie müsse die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur vom Ausnahmefall zum Regelfall erklären. Das bedeutet, die geschichtliche Rückbindung an die Person Jesu zu kappen, um die Realisierung der gottmenschlichen Einheit entschränken und auf die gesamte Menschheit ausdehnen zu können. Strauß fordert also den Übergang zu einer ›Christologie ohne Jesus‹, wenn das Christentum seine jüdischen Rückstände abstreifen und die Idee der gottmenschlichen Einheit konsequent umsetzen will. Nun ließe sich an Strauß durchaus die kritische Rückfrage richten, ob nicht gerade er eine konsequente Umsetzung dieser Idee verfehlt, indem er auf der Ebene der un27 AaO. Bd. 1, §14, 177. 28 Vgl. Dietz Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975, 300. 29 Strauss, Zwei friedliche Blätter (s. o. Anm. 20), XX. 30 AaO. XXI. 31 Ebd.

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endlichen Gattung stehen bleibt, statt ein endliches Individuum als Ort der Präsenz des Absoluten zu denken.32 Im vorliegenden Zusammenhang jedoch interessiert vorrangig die Schlussfolgerung, welche sich aus Straußens Forderung für das Verhältnis von Judentum und Christentum ergibt. Denn diese Schlussfolgerung fällt bei näherem Hinsehen zweischneidig aus. Erst durch einen Verzicht auf die Person Jesu, erklärt Strauß, könne es dem Christentum gelingen, seine Emanzipation vom Judentum zu vollenden. Ein solcher Verzicht aber, fährt er sogleich fort, sei nur um den Preis einer Selbstaufgabe des Christentums möglich: »[D]ie christliche Religion war von jeher und ist ihrem innersten Wesen nach mit Nichten [. . . ] ablösbar von dem gemeinten Wesen ihres Stifters [. . . ]; oder vielmehr ist es schon ein falscher Ausdruck, Christum nur als den Stifter der christlichen Religion zu betrachten, da er doch ebenso sehr, ja weit mehr noch, ihr Gegenstand ist«.33 Wer sich der Rückbindung an diesen Gegenstand entschlage, fügt Strauß treffend hinzu, »der mag wohl noch Gründe haben, sich einen Christen zu nennen, aber Grund hat er keinen mehr dazu«.34

Das Verhältnis von Judentum und Christentum erhält damit eine höchst ungewöhnliche Fassung: Der Glaube an Jesus Christus führt das Christentum nicht über das Judentum hinaus, sondern hält es vielmehr in dessen Grenzen fest. Mag dieser Glaube auch gemeinhin als der entscheidende Differenzpunkt zwischen beiden Religionen betrachtet werden, behauptet Strauß nun strikt das Gegenteil: Die Bindung an die Person Jesu markiert nicht den gelungenen Übergang zum Christentum, sondern den gescheiterten Abschied vom Judentum. Diese zunächst aus dem spekulativen Gesamtgefälle der Strauß’schen Geschichtskonstruktion erhobene Deutungsperspektive gilt es nun im Durchgang durch einzelne Stationen des Strauß’schen Denkens zu bewähren.35 Dabei ist jedoch ein Umstand zu beachten, der im Hintergrund der bisherigen Ausführungen bereits zu erkennen war. Strauß hat am Judentum kein eigenes konstruktives Interesse. Ja mehr noch: Anders als etwa sein Lehrer Hegel oder der von ihm zum Widerpart erkorene Schleiermacher verzichtet Strauß auf die Ausarbeitung einer allgemeinen Religionstheorie oder einer Theorie der Religionsgeschichte – sei diese nun geistphilosophisch angesetzt wie bei 32 Vgl. Graf (s. o. Anm. 5), 581f. – Strauß erweist sich damit überraschenderweise als Anhänger der reformierten Formel finitum non capax infiniti. 33 Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 2, §64, 174. 34 AaO. Bd. 2, §64, 175. 35 Straußens Sicht des Judentums ist bisher weitgehend unbearbeitet geblieben. Eine Ausnahme bildet lediglich die verdienstvolle Studie von Klaus Beckmann, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002. Neben Schleiermacher, Nitzsch, Neander, Hengstenberg und Hofmann widmet Beckmann auch Strauß ein eigenes Kapitel (vgl. aaO. 197–239). Trotz einer Vielzahl weiterführender Beobachtungen findet die Arbeit ihre Grenze darin, dass sie vornehmlich am Aufweis einer »antijudaistische[n] Tendenz« (237) des Strauß’schen Denkens interessiert ist. Diese Fragestellung greift insofern zu kurz, als sie dessen antijüdische Äußerungen im Zusammenhang der Judenemanzipation faktisch zum Deutungsschlüssel auch für seine Auffassung des antiken Judentums erklärt. Damit wird aber gerade der Blick für die spezifische Funktion verstellt, die Strauß dem Judentum in seiner spekulativen Rekonstruktion der Christentumsgeschichte zuweist.

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Hegel oder in den Rahmen einer geschichtlichen Wesensbestimmung des Christentums eingebettet wie bei Schleiermacher.36 Wohl bestimmt er die Religion insgesamt als eine – noch unvollkommene – Selbstbewusstseinsform des Geistes37 und lässt in seiner Frühzeit durchaus religionsgeschichtliche Ansätze erkennen.38 Doch bereits zu Beginn der 1830er Jahre ist dieser Horizont zugunsten einer Konzentration auf das Christentum abgeblendet.39 Folgerichtig nimmt Strauß daher auch das Judentum nur mehr in seiner Funktion für das Christentum in den Blick. Das Judentum ist für ihn als historischer Wurzelboden und zu überwindendes Erbe des Christentums von Interesse – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das bedeutet: Straußens Aufmerksamkeit gilt vor allem dem antiken Judentum und auch diesem nur insoweit, als es für ein Verständnis des Auftretens Jesu und der Anfänge des Christentums unverzichtbar ist. Weder findet sich eine über gängige Stereotype hinausgehende allgemeine Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum, noch zeigt Strauß ein selbständiges Interesse an Geschichte und Eigenart der jüdischen Religion. Zu diesem Befund gibt es eine bemerkenswerte Ausnahme: Nach der Revolution von 1848 bewirbt sich Strauß um ein Mandat für die Frankfurter Nationalversammlung. Seine Kandidatur bleibt zwar erfolglos; doch während dieses »politische[n] Intermezzo[s]«40 äußert er sich auch zur zeitgenössischen Debatte um die Judenemanzipation. Damit ist der weitere Gang der Erörterung vorgezeichnet. Im nächsten Schritt wird zunächst Straußens Deutung des antiken Judentums eingehender darzustellen sein (3.). Der Schwerpunkt liegt hier auf seinen beiden Hauptwerken – dem Leben Jesu und der Glaubenslehre.41 Anschließend soll der Blick auf die politischen Stellungnahmen zur 36 Es gehört zu den auffälligen Merkmalen des Strauß’schen Denkens, dass er keine nennenswerten Anstrengungen unternimmt, um sein Programm einer spekulativen Dogmatik religionstheoretisch zu fundieren; vgl. Graf (s. o. Anm. 5), 449f. 37 Vgl. etwa Straußens Interpretation der einschlägigen Passagen aus Hegels Phänomenologie in seinem Brief an Christian Märklin vom 19./20. Februar 1831; in: Jörg F. Sandberger, David Friedrich Strauß als theologischer Hegelianer. Mit unveröffentlichten Briefen, Göttingen 1972, 172–181, 176. 38 Vgl. aaO. 178f. – Vor allem Straußens Dissertation über die Allversöhnungslehre aus dem Jahre 1831 zeichnet sich durch eine religionsgeschichtliche Bearbeitung ihres Themas aus; vgl. ders., Die Lehre von der Wiederbringung aller Dinge in ihrer religionsgeschichtlichen Entwicklung, in: Gotthold Müller, Identität und Immanenz. Zur Genese der Theologie von David Friedrich Strauß. Eine theologie- und philosophiegeschichtliche Studie, Zürich 1968, 49–82. Ihre religionsgeschichtlichen Partien bieten dann allerdings im Wesentlichen nur eine »paraphrasierte Wiedergabe der entsprechenden Passagen in F. Chr. Baurs Symbolik und Mythologie«; Sandberger (s. o. Anm. 37), 49. 39 Vgl. David Friedrich Strauss, Rez. Karl Rosenkranz, Encyclopädie der theologischen Wissenschaften, in: JwK 6 (1832), 729–748; wieder in: Ders., Charakteristiken und Kritiken, 213–234. 40 Beckmann (s. o. Anm. 35), 220. 41 Es wäre eine lohnende Aufgabe, Straußens Judentumsverständnis auch in seine Spätzeit hinein zu verfolgen und vor dem Hintergrund des dort vollzogenen Abschieds vom Christentum neu zu justieren. Das kann hier nicht ausführlich geleistet werden; dennoch zeichnen sich folgende Grundlinien ab: In seinem zweiten Leben Jesu verlagert Strauß den Akzent auf die ethisch-moralische Seite der Religion. Das Judentum wird nun als äußerliche Gesetzesreligion bestimmt. Durch seine religiöshumane »Liebesstimmung« (ders., Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet, 2 Bde., Bonn 9 1895, 262) eröffne Jesus dann den Übergang zur geistig-sittlichen Stufe des Christentums: »Un-

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Frage der Judenemanzipation ausgeweitet werden (4.). Die entscheidende Frage lautet dann, ob und in welcher Weise sich zwischen theologischer Geschichtsdeutung und politischer Zeitgenossenschaft Verbindungslinien aufweisen lassen.

entbehrlich, aber auch unverlierbar, bleibt uns von dem Christenthum dasjenige, wodurch es die Menschheit aus der sinnlichen Religion der Griechen auf der einen Seite, der jüdischen Gesetzesreligion auf der andern, herausgehoben hat; also nach jener Seite hin der Glaube, daß es eine geistige und sittliche Macht ist, welche die Welt beherrscht, nach dieser die Einsicht, daß der Dienst dieser Macht, in den wir uns zu stellen haben, wie sie selbst, nur ein geistiger und sittlicher, ein Dienst des Herzens und der Gesinnung, sein kann« (aaO. XXVI). Allerdings sei das Christentum noch nicht zu seiner vollgültigen Wahrheit gelangt; dazu müsse es vielmehr den kirchlichen »Wunderwahn« (aaO. XXVII) überwinden: »So lange das Christenthum als etwas der Menschheit von außen her Gegebenes, Christus als ein vom Himmel Gekommener, seine Kirche als eine Anstalt zur Entsündigung der Menschen durch sein Blut betrachtet wird, ist die Geistesreligion selbst ungeistig, das Christenthum jüdisch gefasst. Erst wenn erkannt wird, daß im Christenthum die Menschheit, nur ihrer selbst tiefer als bis dahin sich bewußt geworden, daß Jesus nur derjenige Mensch ist, in welchem dieses tiefere Bewusstsein zuerst als sein ganzes Leben und Wesen bestimmende Macht aufgegangen ist, daß Entsündigung eben nur im Eingehen in diese Gesinnung, ihrer Aufnahme gleichsam in das eigene Blut zu finden ist, erst dann ist das Christenthum wirklich christlich verstanden« (ebd.). Während Strauß hier noch daran festhält, die modern-geistige Humanitätsreligion als den wahren Kern des Christentums ausweisen zu können, ist in seinem Spätwerk Der alte und der neue Glaube davon keine Rede mehr. Nun gibt Strauß mit dem Christentum auch der Religion überhaupt den Abschied: »[W]ir betrachten die Welt nicht mehr als das Werk einer absolut vernünftigen und guten Persönlichkeit, wohl aber als die Werkstätte des Vernünftigen und Guten. Sie ist uns nicht mehr angelegt von einer höchsten Vernunft, aber angelegt auf die höchste Vernunft« (ders., Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß, Bonn 121895, 94). Diese neue Weltanschauung habe den Boden der religiösen Tradition verlassen und sei gleichwohl geeignet, »das Gebäude eines wahrhaft menschlichen, d. h. sittlichen und dadurch glückseligen Lebens darauf zu gründen« (aaO. 7). In der Folge betont Strauß die bleibende Bindung des kirchlichen Christentums an seine jüdischen Wurzeln; sie wird »auffallend aggressiv als polemisches Instrument gegen das Christentum ein[gesetzt]«; Beckmann (s. o. Anm. 35), 231. Im Mittelpunkt steht dabei der dualistische Supranaturalismus des Judentums, den das Christentum fortgeführt habe – wenn auch an die Stelle des strafenden Herr-Gotts der liebende Gott-Vater getreten sei. Hier mache sich die Verkündigung Jesu bemerkbar: Er nahm »aus der Religion seines Volkes nicht nur den einigen Gott, sondern auch das Gesetz herüber. Nur, wie er das letztere geistiger auslegte und von den traditionellen Zuthaten gereinigt wissen sollte, so bildete er, was die Vorstellung von Gott betrifft, an einzelne Andeutungen im Alten Testament anknüpfend, den strengen Herrn in einen liebenden und verzeihenden Vater um, und gab dadurch dem religiösen Verhalten des Menschen eine im Judenthum bis dahin unbekannte Freiheit und Heiterkeit« (aaO. 39f.). Jesus habe dem Christentum damit zwar die Idee der Humanität eingepflanzt; dessen vollgültige Realisierung setze jedoch die Überwindung des theistischen Dualismus voraus. Erst der modernen Philosophie sei es gelungen, aus dem Schatten der jüdisch-christlichen Tradition herauszutreten und mit einem konsequenten Monismus den Idealen von Humanität und Freiheit eine konsistente Fassung zu geben. – Zum späten Strauß vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Gelungene Bürgertheologie? ›Der alte und der neue Glaube‹ von David Friedrich Strauß, in: Ulrich Köpf (Hg.), Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler, Sigmaringen 1994, 227–244.

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3. In einem Brief an seinen Freund Christian Märklin aus dem Jahre 1831 behandelt Strauß auch die Frage eines geeigneten Gliederungsschemas für die Religionsgeschichte. Schleiermachers Kombination von Stufen- und Typentheorie sei gekünstelt, und Hegel werde dem Judentum nicht gerecht.42 Dann fährt er fort: »Für meinen Privatgebrauch ist mir die Einteilung die liebste, die aber nur die gröbsten Umrisse gibt: 1. Das Göttliche ungeschieden vom Natürlichen – heidnische Religionen; 2. abstrakt geschieden – jüdische Religion; 3. ohne Vermischung wieder vereinigt [. . . ] – christliche Religion«.43 Strauß verknüpft so das spätantike Dreierschema von Heiden, Juden und Christen mit der spekulativen Trias von unmittelbarer Einheit, abstrakter Differenz und vermittelter Versöhnung. An dem damit abgesteckten Rahmen hält er zeit seines Lebens fest: Das Judentum ist für Strauß erstens die Religion der Differenz und Entzweiung, und als solche steht sie zweitens zwischen den anderen nichtchristlichen Religionen und dem Christentum. Eine erste Ausführung dieser Sichtweise bietet die im gleichen Jahr entstandene Dissertation über die Allversöhnungslehre.44 Strauß stellt das Judentum hier vor allem der griechischen Religion gegenüber. Beide hätten zunächst keinerlei eschatologische Erwartungen ausgebildet. Doch während die griechische Religion in der gegenwärtigen Erfahrung des Schönen ihre Erfüllung finde und deshalb keiner Vorstellung eines zukünftigen Lebens bedürfe, bleibe das Judentum durch seine strikte Bindung an das göttliche Gesetz auf die diesseitige Welt beschränkt. Wohl sei das jüdische Volk den geforderten Gehorsam zumeist schuldig geblieben, und so hätte der »herbe Widerspruch«45 zwischen göttlichem Willen und menschlichem Tun erst recht auf den Gedanken eines zukünftigen Ausgleichs führen müssen. Doch dem Judentum eigne zugleich ein »abstracte[r] Verstand«, welcher »den schroffsten Gegensaz ertragen kann, ja festhält«.46 Statt den Blick über die irdische Gegenwart hinaus in die Zukunft zu richten, habe es sich daher mit dem Talionsschema zufrieden gegeben und die Moral auf einem »blos rechtlichen Standpunkte«47 festgehalten. Anders als die griechische Religion, welche im ästhetischen Erlebnis den Menschen mit Gott vereine, lege das Judentum den Akzent mithin gerade auf den Gegensatz von Gott und Mensch. Folgerichtig sei ihm in seiner ursprünglichen Gestalt jedwede Messiashoffnung fremd. Sie komme vielmehr erst im Zuge der Not »spätere[r] Zeiten« auf; zudem gehe das Judentum hier »schon über sich selbst hinaus und dem Christenthum entgegen?«48 42 Vgl. David Friedrich Strauss, Brief an Christian Märklin vom 19./20. Februar 1831, 178f. 43 AaO. 179. 44 Vgl. Friedrich David Strauss, Die Lehre von der Wiederbringung aller Dinge in ihrer religionsgeschichtlichen Entwicklung, in: Gotthold Müller, Identität und Immanenz. Zur Genese der Theologie von David Friedrich Strauß. Eine theologie- und philosophiegeschichtliche Studie, Zürich 1968, 49–82. 45 Strauss, Die Lehre von der Wiederbringung aller Dinge (s. o. Anm. 44), 57. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd.

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In den folgenden Jahren verlagert sich Straußens Interesse auf eine genauere Aufschlüsselung dieses Übergangs. Zur Vorbereitung werden die Grundlinien der bisherigen Deutung zu einer weitergespannten Entwicklungsgeschichte des Judentums ausgezogen. Eine knappe Zusammenfassung findet sich in der Einleitung der Glaubenslehre. Der »alte Hebraismus«49 habe zwar »das Göttliche dem Menschlichen [. . . ] in scharfer Trennung gegenübergestellt«,50 sei dabei aber selbst den Schranken des Diesseits verhaftet geblieben. Denn ihm habe die Vorstellung eines zukünftigen Jenseits zunächst gefehlt. Auch die Messiashoffnung sei erst späteren Datums und entwickelt worden, als es geboten schien, den Drangsalen der Gegenwart die Erwartung einer besseren Zukunft entgegenzusetzen.51 Anfänglich hätte sich diese Hoffnung auf einen Menschen bezogen; erst im Buch Daniel sei dann die Wende erfolgt: Nun habe die Messiasgestalt übernatürliche Züge angenommen und sei – vor dem Hintergrund einer »herrlich[] aufgegangene[n] himmlische[n] Welt«52 – als ein »höheres, von der himmlischen Umgebung Gottes ausgehendes Wesen«53 gefasst worden. Auf diesem Stand der Entwicklung lässt Strauß das Judentum mit dem griechischen Denken in Kontakt kommen. Namentlich in Alexandria sei »[d]er jüdische Himmel [. . . ] mit der platonischen Idealwelt« verschmolzen: »Die Engel wurden zu Ideen, die Ideen zu Engel«.54 In der Folge habe ein Prozess der Vergeistigung des Judentums eingesetzt. Er führte jedoch nicht zur Aufhebung des Gegensatzes von Diesseits und Jenseits, sondern läutete lediglich dessen Umkehrung ein. Für die Zeit Jesu leitet Strauß daraus die Unterscheidung zweier Traditionsstränge ab, die einander weitgehend neutralisiert hätten: Auf der einen Seite stehe der »gesunde[] Realismus der althebräischen Religion und Sitte«, auf der anderen Seite der »krankhafte Spiritualismus«55 des alexandrinischen Judentums, dessen Einfluss sich vor allem bei den Essenern bemerkbar gemacht habe. Damit ist der Boden bereitet, um nun das Auftreten Jesu und die Entstehung des Christentums selbst in den Blick zu nehmen. Der ersten Aufgabe widmet sich Strauß in seinem Leben Jesu, die zweite leitet über auf die Glaubenslehre. Beide Aufgaben verbindet er mit einem dezidierten Interesse. So ist ihm zunächst daran gelegen, Jesus nicht nur in den Rahmen des zeitgenössischen Judentums hineinzustellen, sondern ihn darin geradezu aufgehen zu lassen.56 Nur auf den ersten Augenschein bemüht er sich darum, hinter den mythischen Evangelienberichten die historischen Konturen der Person Jesu sichtbar werden zu lassen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch schnell, dass Strauß an der Person Jesu selbst gar nicht interessiert ist, sondern nur dessen unspektakuläre ›Begreiflichkeit‹ aufzuweisen sucht. 49 Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 1, §3, 31. 50 Ebd. 51 Zur Entstehung der Messiaserwartung vgl. näherhin aaO. Bd. 1, §3, 32f; sowie aaO. Bd. 2, §59, 77–81. 52 Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 1, §3, 32. 53 Ebd. 54 AaO. Bd. 1, §3, 33. 55 Ebd. 56 Vgl. Lange (s. o. Anm. 28), 271–279.

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Exemplarisch dafür steht erstens der Umgang mit den Reden Jesu.57 Strauß hält sie – in ihrer synoptischen Fassung – im Wesentlichen für echt, »weil sie so ganz im Geist und Ton damaliger rabbinischer Dialektik gehalten sind«.58 Die inhaltliche Analyse bleibt dann jedoch erstaunlich oberflächlich und beschränkt sich lediglich darauf, Jesus – im Stil der Aufklärung – als ethischen Lehrer vorzustellen.59 Es unterbleibt mithin jeglicher Versuch, aus dem überlieferten Textbestand ein individuelles Bild der Verkündigung Jesu zu gewinnen. Nicht anders verfährt Strauß zweitens in der Frage von Jesu Messiasbewusstsein. Dieses gilt ihm zwar als »unbestreitbare Thatsache«.60 Bemerkenswert ist jedoch die Begründung: Andernfalls bliebe der Übergang zur christlichen Verkündigung nach Jesu Tod historisch unverständlich.61 Strauß nutzt die unterstellte Historizität des Messiasbewusstseins also gerade nicht, um daraus Rückschlüsse auf die besondere Eigenart des Wirkens Jesu zu ziehen. Statt dessen bemüht er sich vor allem darum, Jesu messianisches Selbstbewusstsein »im Rahmen des geschichtlich Begreiflichen und Wahrscheinlichen«62 zu halten. Auf derselben Linie liegt schließlich drittens die gegen Schleiermacher gerichtete kritische Pointe der mythischen Evangelien-Interpretation überhaupt. Strauß erklärt Jesu messianisches Selbstbewusstsein zwar zum historischen Anknüpfungspunkt für den Übergang zum Christentum. Doch erst die mythenschaffende Phantasie der Urgemeinde mache aus dem jüdischen Messias den inkarnierten Gottessohn.63 Methodisch zeigt sich Strauß daher an der historischen Rückfrage hinter den Mythos nur insoweit interessiert, als sie im Gegenzug die schöpferische Produktivität der urchristlichen Mythenbildung zutage treten lässt: »Nicht der Eindruck, den Jesus auf die Jünger gemacht hat, steht im Vordergrund, sondern allein die von Jesu Person [. . . ] weitgehend unabhängige produktive Kraft der Idee bzw. die mythenschaffende Überlieferung der Gemeinde«.64 Inhaltlich verlagert Strauß so den entscheidenden Impuls zur Entstehung des Christentums von der Person Jesu auf die Schar seiner Jünger. Er ersetzt die Produktivität des Schleiermacherschen Urbildes durch die Phantasie der mythenschaffenden Gemeinde.65 Jesus selbst erscheint infolgedessen nur mehr als »gescheiterter jüdischer Messiasprätendent«, der lediglich »der zufällige [. . . ] Anlaß für die Entstehung des christlichen Glaubens sein konnte«.66 Strauß betreibt diese Einebnung Jesu ins Judentum, um dem Christentum dessen Bindung an die Person Jesu als mangelnde Emanzipation von seinen jüdischen Wurzeln vorhalten zu können. Hier liegt das andere Interesse, das Strauß mit seiner Darstellung 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. aaO. 275f. Strauss, Das Leben Jesu (s. o. Anm. 10), Bd. 1, §75, 619. Die Pointe liegt in der Sublimierung der Gesetzes- zur Gesinnungsethik; vgl. aaO. Bd. 1, §63, 495f. AaO. Bd. 1, §58, 469. Vgl. ebd. Lange (s. o. Anm. 28), 273. Vgl. aaO. 271. – Vgl. auch Strauss., Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 2, §59, 76– 84. 64 Lange (s. o. Anm. 28), 277; vgl. auch aaO. 262, 298. 65 Vgl. aaO. 299. 66 Ebd.

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verfolgt. Den entscheidenden Angelpunkt bildet der sogenannte »Osterbruch«.67 So stellt Strauß unmissverständlich fest: »Die Wurzel des Glaubens an Jesum war die Überzeugung von seiner Auferstehung. Der Getödtete, schien es, wenn auch noch so groß einst im Leben, könne der Messias nicht gewesen sein: die wundervolle Wiederbelebung bewies um so stärker, daß er es war«.68 Strauß führt die Botschaft von der Auferstehung auf das »psychologische Bedürfnis«69 der Jünger zurück, den Widerspruch zwischen Jesu Messianität und dem Schicksal seines Kreuzestodes aufzulösen. Schrittweise hätten sie – unter Rückgriff auf biblische Deutungsmuster – Tod und Erhöhung in den Messiasgedanken aufgenommen und so den Rahmen geschaffen für individuelle Erfahrungen des gegenwärtig wirksamen Christus, die sich bei einzelnen gar zu »wirklichen Vision[en]«70 gesteigert hätten. Die Verkündigung der Auferstehung Jesu markiert für Strauß mithin die Geburtsstunde des Christentums. Allerdings liege in dieser Geburtsstunde zugleich sein Geburtsfehler beschlossen. Denn die Nötigung, Jesu Messianität mit seinem Tode auszugleichen, habe gleich Anfangs bewirkt, »dass seine Anhänger mehr Nachdruck auf die Person als auf die Sache, auf das Factum als auf die Idee, legten«.71 Wohl hätten die frühen Christen es vermocht, mit ihrer Neufassung des »Messiasdrama[s]«72 die Grenzen der jüdischen ›Differenzreligion‹ zu sprengen und an ihre Stelle die Idee einer Vereinigung von Gott und Mensch zu setzen. Das verpflichtende Bekenntnis zur Auferstehung Jesu konterkariere diesen Schritt jedoch zugleich. Durch den Mangel an apriorischer Evidenz und geschichtlicher Erweisbarkeit verwandle sich das Bekenntnis in einen willkürlichen, letztlich nur auf Gehorsam gegründeten Entschluss – »womit dem Christenthum eine nicht minder bedenkliche Schranke gesetzt wurde, als [. . . ] in dem judaistischen Particularismus durch die paulinische Richtung überwunden worden war«.73 Strauß macht also die historische Entstehungssituation des Christentums sowohl für seine Größe als auch seine Grenze verantwortlich. Die durch den Tod Jesu gestellte Aufgabe, den Messiasgedanken inhaltlich umzubilden, führt einerseits zum Durchbruch der christlichen Versöhnungsidee, zwingt diese aber andererseits in die mythische Verkleidung einer geschichtlichen Einzelgestalt. So sehr die jüdische Messiaserwartung den Anstoß gibt für den Übergang zum Christentum, so sehr verhindert sie zugleich, dass das Christentum die ihm eigene Wahrheit angemessen zur Geltung zu bringen vermag. Anders formuliert: Der gegenständliche Vorstellungscharakter der jüdischen Messiastradition ist zwar hinreichend flexibel, um im Blick auf die eine Person Jesu die Ausbildung des Gedankens gottmenschlicher Einheit zu ermöglichen; im Gegenzug jedoch wirkt er zugleich als Sperriegel, um die entschränkende Verallgemeinerung der so nur partiku67 68 69 70 71 72 73

Gerd Theissen, Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 488. Strauss, Das Leben Jesu (s. o. Anm. 10), Bd. 2, §141, 689. AaO. Bd. 2, §136, 659. AaO. Bd. 2, §136, 660. Strauss, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 1, §4, 37. AaO. Bd. 2, §59, 83. AaO. Bd. 1, §4, 37.

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lar gefassten Versöhnungsidee zu unterbinden. Gerade die geschichtliche Positivität des Christentums wird damit zum Träger des jüdischen Entfremdungsmotivs. Nachdem Strauß zunächst die Person Jesu im Judentum hatte aufgehen lassen, fällt nun auch der Glaube an ihn ins Judentum zurück. In der Folge erscheint das Christentum insgesamt als eine überwundene Gestalt der Geistesgeschichte. Die entscheidende Wende wird nicht mehr durch das Christentum, sondern durch die idealistische Philosophie herbeigeführt. Hier vollzieht sich der Übergang von der Vorstellung in den Begriff – und zwar so, dass »für die wirkliche Geschichte, an welcher die[] im Laufe der religiösen Entwicklung der Menschheit allmählig herangereifte Idee [. . . ] Veranlassung nahm, in’s Bewusstsein hervorzutreten, keine Art von wesentlicher Wichtigkeit im modernen Bewusstsein übrig bleib[t]«.74 Kurz gefasst: Dem Christentum gelingt es nicht, seine jüdischen Wurzeln abzuschneiden; die moderne Welt hat daher keine andere Wahl, als mit dem Judentum auch das Christentum hinter sich zu lassen.

4. Die skizzierte Verhältnisbestimmung von Christentum und Moderne lässt es wenig überraschend erscheinen, dass Strauß in seiner Glaubenslehre nachdrücklich für eine strikte Trennung von Staat und Kirche eintritt. Allerdings finde mit ihr zugleich ein reformatorisches Anliegen seine endliche Erfüllung: »Nachdem man in der protestantischen Welt seit dreihundert Jahren den Kirchenstaat als ein Unding abgeschafft, dagegen aber Staatskirchen eingeführt hat, wäre es nun doch wohl nicht mehr zu frühe, wenn man zur Einsicht käme, dass [. . . ] Pferde mit Fischschwänzen und Fische mit Pferdsköpfen gleicherweise monstra sind«.75 Der Staat habe nach der Religion seiner Bürger, »wofern sie nur ihren bürgerlichen Pflichten nachkommen, nicht weiter zu fragen«.76 Mit seiner Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche zielt Strauß also weniger auf die Selbständigkeit der Kirche als vielmehr auf die religiöse Neutralität des Staates. In einer Anmerkung verweist er dabei auch auf die zeitgenössische Debatte um die rechtliche Gleichstellung der Juden. So lehnten die Liberalen den Begriff einer Staatskirche oder eines christlichen Staates gerade deshalb ab, »um einem billigen Judengesetze Raum zu machen«.77 Damit ist die Linie vorgezeichnet, der Strauß folgt, als er – nach einer längeren Schaffenspause – nicht nur seine publizistische Tätigkeit wieder aufnimmt,78 sondern auch politische Ambitionen entwickelt. Im Frühjahr des Jahres 1848 bewirbt er sich im 74 AaO. Bd. 2, §72, 336. 75 AaO. Bd. 2, §99, 620f. – Strauß spielt hier auf eine Stelle im Roman Reiseschatten von Justinus Kerner an; vgl. ders., Reiseschatten von dem Schattenspieler Lux (1811), in: Ders., Werke, Bd. 1, Berlin 1914, 114. 76 Strauß, Die christliche Glaubenslehre (s. o. Anm. 2), Bd. 2, §99, 614. 77 AaO. Bd. 2, §99, 621 Anm. 14. 78 Zu Straußens publizistischer Tätigkeit vgl. die exemplarische Studie von Wolfram Kinzig, Kaiser, König, Ketzer. Zur Intention und Rezeption der »Julian«-Schrift von David Friedrich Strauß, in: ZNThG 4 (1997), 1–38.

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Wahlkreis Ludwigsburg um ein Mandat für die Frankfurter Nationalversammlung.79 Während des Wahlkampfes hält Strauß zwischen dem 17. und 28. April sechs Reden, in denen er sein politisches Programm skizziert und auch auf die Frage der rechtlichen Gleichstellung der Juden eingeht.80 Anders als seine theologische Arbeit zunächst vermuten lässt, zählt Strauß keineswegs zu den radikalen Befürwortern der demokratischen Revolution.81 »Fortschritt ohne Umsturz«,82 lautet sein Wahlspruch. Insofern lässt er sich zwar dem zeitgenössischen Liberalismus zuordnen; mit seinen Vorstellungen von einer konstitutionellen Monarchie und einem starken Nationalstaat unter preußischer Führung gehört er jedoch dessen ›rechtem‹ Flügel an. Dem großen Ziel der nationalen Einheit sollen auch alle religiösen und weltanschaulichen Differenzen untergeordnet werden: »[A]uf dem Altare des Einen Vaterlandes wollen wir nicht nur unsere provinziellen Sonderinteressen [. . . ] opfern, sondern ebenso auch den alten religiösen Hader, der unserem Vaterlande seit drei Jahrhunderten schon so manche Wunden geschlagen hat: alle wollen wir, Christ und Jude, Katholik und Protestant, Lichtfreund und Philosoph, einmüthig zum großen Werke zusammen wirken«.83 In diesen Zusammenhang passt Strauß nicht nur seine Forderung nach einer strikten Trennung von Staat und Kirche ein;84 darüber hinaus spricht er sich nun auch rückhaltlos für die rechtliche Gleichstellung der Juden aus: »Um seiner Religion willen soll Keiner eines bürgerlichen Rechts verlustig gehen. Jude wie Christ soll, wenn er unbescholten ist, in der Gemeinde stimmen, soll, wenn ihn das Vertrauen seiner Mitbürger dazu beruft, nicht nur Gemeinderath und Ortsvorstand, sondern auch Abgeordneter und wenn er seine Tüchtigkeit nachweist, Staatsbeamter jeder Art werden können. Auch die beschränkenden Ausnahmegesetze gegen Wucher und Schacher sollen nicht ausschließlich gegen Juden, sondern nur gegen gewisse Erwerbsarten, treibe sie nun Christ oder Jude, gerichtet sein«.85

In seinen Wahlreden präsentiert sich Strauß mithin als entschiedener Befürworter des liberalen Emanzipationsideals. Abseits des Wahlkampfs jedoch veröffentlicht er zeitgleich ein Memorandum unter dem Titel Judenverfolgung und Judenemancipation,86 das auf79 Einen Überblick über die Hintergründe und den Verlauf dieser – letztlich gescheiterten – Kandidatur geben Adolf Hausrath, David Friedrich Strauß und die Theologie seiner Zeit, 2 Bde., Heidelberg 1876/78, Bd. 2, 107–148; sowie Theobald Ziegler, David Friedrich Strauß, 2 Bde., Straßburg 1908, Bd. 2, 426–437. 80 Vgl. David Friedrich Strauss, Sechs theologisch-politische Volksreden (1848), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Bonn 1876, 237–272. – Zum Folgenden vgl. auch die Darstellung von Klaus Beckmann (s. o. Anm. 35), 220–229. 81 So hat im Anschluss an Arnold Ruge, vgl. Ruge., Rez. David Friedrich Strauß, Zwei friedliche Blätter (1839), in: HJ 2 (1839), 985–988, 993–1004, vor allem Friedrich Wilhelm Graf den Versuch unternommen, Straußens Christologie als ein theologisch verschlüsseltes Emanzipationsprogramm zu rekonstruieren und auf seine politischen Obertöne durchsichtig zu machen; vgl. Graf (s. o. Anm. 5), 588–591. 82 Strauss, Sechs theologisch-politische Volksreden (s. o. Anm. 80), 266. 83 AaO. 265. 84 Vgl. aaO. 253. 85 AaO. 266. 86 Vgl. David Friedrich Strauss, Judenverfolgung und Judenemancipation, in: Jahrbücher der Gegen-

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fallend andere Akzente setzt. Den Ausgangspunkt bilden die antijüdischen Ausschreitungen und Übergriffe, welche kurz zuvor die ländlichen Gebiete Württembergs erschüttert hatten.87 Sie stehen in einem frappanten Gegensatz zur allgemeinen Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Juden. Strauß konstatiert: »Zu derselben Zeit [. . . ], in welcher von der einen Seite ein vielstimmiges Vertrauensvotum für die Juden abgegeben wird, sehen wir von der andern ein thatsächliches Misstrauen gegen sie eingelegt«.88 Dieser Umstand nötige dazu, das »humane[] Zeitvorurtheil«89 der allgemeinen Judenemanzipation einer kritischen Prüfung zu unterziehen.90 So sei an der religiösen Neutralität des Staates zwar nicht zu rütteln; insofern dürfe die Religion selbst kein Hindernis darstellen, um den Juden »die volle Theilnahme an den bürgerlichen Rechten des Volks zu gewähren, als dessen Glieder sie leben«.91 Die Frage sei jedoch, ob sie diesem Volke wirklich zugehörten oder überhaupt zugehören wollten. Damit greift Strauß auf das klassische Klischee der ethnisch-nationalen Sonderung zurück: Die Juden bildeten einen »Separatorganismus«, sie lebten als »Volk im Volke«, und dieses »Festhalten [. . . ] an ihrer nationalen Besonderheit« lasse es als politische Weisheit erscheinen, »ihnen die staatsbürgerlichen Rechte nur mit bestimmten Einschränkungen zu gewähren«.92 Entsprechend lautet Straußens eigene Empfehlung, zunächst für eine »Auflockerung der enggeschlossenen jüdischen Nationalität«93 zu sorgen. Das könne nur durch eine allmähliche »Racenvermischung« gelingen; folglich müsse der Staat vorrangig die Mischehe zwischen Juden und Christen gestatten: »Das Erste also, was wir den Juden gewähren, sei das connubium, und nur in dem Maaße, als dieses seine verschmelzende und annähernde Wirkung [. . . ] äußert [. . . ], lasse man die übrigen Schranken allmählig fallen«. Allein auf dem Wege einer solchen Verschmelzung ließen sich dann auch »einige der nationalen Fehler [. . . ] heilen, durch welche die Juden unserer bürgerlichen Gesellwart 30 (1848), 117–119. 87 Einen Überblick über diese Ausschreitungen gibt Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt a.M. 1993. 88 Strauss, Judenverfolgung und Judenemancipation (s. o. Anm. 86), 117. – In der Tat gehört es zu den eigentümlichen Widersprüchen der Revolution von 1848, dass die allgemeine Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Juden mit einer besonderen Welle antijüdischer Gewalt einherging. Letztere kann zwar nicht aus dem revolutionären Gesamtzusammenhang herausgelöst werden, verdankt sich aber dennoch tiefsitzenden antijüdischen Affekten, »die neben den traditionellen religiösen und wirtschaftlichen Motiven insbesondere aus der lokal-bürgerlichen Gleichstellung der Juden erwuchsen«; Michael Brenner, Zwischen Revolution und rechtlicher Gleichstellung, in: Ders. u. a. (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: 1780–1871, München 1996, 287–325, 289. 89 AaO. 118. 90 Strauß beklagt ausdrücklich den moralischen Druck, welcher durch die »sogenannte öffentliche Meinung« (ebd.) im Blick auf die Frage der Judenemanzipation ausgeübt werde: »Läugne das göttliche Recht der Obrigkeit, ja läugne selbst die Gottheit Christi: man wird es vielleicht nicht billigen, doch immerhin dich noch gelten lassen; aber sprich dich gegen die Emancipation der Juden oder gegen die Abschaffung der Todesstrafe aus: und du darfst sicher sein, daß man dir als einem mittelalterlichen Barbaren den Rücken kehrt« (ebd.). 91 Ebd. 92 Ebd. 93 AaO. 119 – Die folgenden Zitate alle ebd.

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schaft bis jetzt besonders zur Last fallen«. Strauß nennt zum einen die notorische »Scheu vor schwerer Körperarbeit«, welche die Juden ihr Leben »nach Art jener lästigen Schmarotzerthiere« fristen lasse, »die auf der Haut und im Pelz der größeren hausen«. Zum anderen verweist er auf ihren »Mangel an Ehrgefühl«, vermöge dessen sie ihre nichtjüdischen Geschäftspartner »immer wieder übervortheilen«. Hinter der Fassade einer liberalen Emanzipationsrhetorik scheint so bei Strauß mit einem Mal das ganze Arsenal der zeitgenössisch gängigen antijüdischen Stereotypen und Klischees hindurch. Mag er auch vorderhand für eine Emanzipation der Juden eintreten, so versteht er bei genauerem Hinsehen darunter doch die Auflösung des Judentums in die bürgerliche Gesellschaft. Die Emanzipation des Judentums läuft für Strauß letztlich auf eine Emanzipation vom Judentum hinaus. Sie ist vollendet, wenn das Judentum selbst zum Verschwinden gebracht ist. Mit dieser Auffassung steht Strauß freilich keineswegs allein; die eigentümliche Verschränkung von Emanzipationsrhetorik und antijüdischem Ressentiment lässt vielmehr eine überraschende Nähe zu Bruno Bauers und Karl Marx’ Beschäftigung mit der sogenannten ›Judenfrage‹ zutage treten.94 Deren beider Pointe besteht darin, die Emanzipationsforderung über das Judentum hinaus auf das Christentum und die Religion überhaupt auszudehnen: »Die Emancipationsfrage ist eine allgemeine Frage, die Frage unsrer Zeit überhaupt. Nicht nur die Juden, sondern auch wir wollen emancipirt seyn«.95 Dazu gelte es, ein einziges Mittel anzuwenden: »Dieses Eine Mittel heißt: vollständiger Unglaube an die Unfreiheit und Glaube an die Freiheit und Menschlichkeit«.96 Zwar hat sich Strauß einer politischen Ausdeutung dieser Emanzipationsforderung verschlossen; dennoch liegt sie ganz auf der Linie seiner spekulativen Entwicklungsgeschichte des Geistes. Damit eröffnet sich abschließend die Möglichkeit, einen großen Bogen zu schlagen und Straußens Äußerungen zur Judenemanzipation – wenn auch ohne ihren antijüdischen Begleittöne – in die Gesamtanlage seines Denkens einzubetten. Es hatte sich bereits gezeigt, dass Strauß die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Moderne als die entscheidende Herausforderung des gegenwärtigen Zeitalters betrachtet. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob das moderne Freiheitsbewusstsein als Realisierungsgestalt des Christlichen gedeutet oder aber als ›postreligiöse‹ Absage an das Christentum begriffen werden müsse. Diesen Kampf gibt Strauß schließlich für das Christentum verloren – und zwar deshalb, weil es dem Christentum nicht gelingt, seine jüdischen Wurzeln abzuschütteln und das im Versöhnungsgedanken beschlossene Freiheitsbewusstsein konsequent auszubilden. Die Vorboten der Niederlage durchziehen bereits die Glaubenslehre, wenn auch die förmliche Kapitulation erst im alten und neuen Glauben erfolgt. Der Entwicklungsprozess des Geistes, so lautet nun das Eingeständnis, führt über das Stadium des christlichen Glaubens hinaus: Die moderne Emanzipationsbewegung ist recht verstanden eine Bewegung der Emanzipation vom Christentum und damit der Religion überhaupt. 94 Vgl. Bruno Bauer, Die Judenfrage, Braunschweig 1843; sowie Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Ders., Arnold Ruge (Hg.), Deutsch-französische Jahrbücher, Paris 1844, 182–214; wieder in: Ders., Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, 347–377. 95 Bauer (s. o. Anm. 94), 61. 96 AaO. 61f.

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In diese Sicht fügt sich schließlich auch Straußens Deutung der Judenemanzipation ein. Sie erscheint nun als ein Moment innerhalb des übergreifenden geschichtlichen Entwicklungsprozesses, der den Geist über die Bewusstseinsform der Religion hinaustreibt. Entsprechend beschließt Strauß sein Memorandum zur Judenemanzipation mit einem Ausblick in jene Zukunft, da die überkommenen Gestaltungen von Judentum und Christentum zu lediglich privaten Vorlieben herabgesunken sein werden: »In der Frühlingsluft vollständiger Religionsfreiheit werden die beiden großen Eisschemel, welche der Strom der Zeit bis zu uns noch so ziemlich unversehrt herabgeführt hat – die katholische und die protestantische Kirche – in eine Vielheit von Sekten zerbröckeln; in dem bunten Gedränge von Ganz- und Halbgläubigen, Trinitariern und Unitariern, Theisten, Pantheisten und Atheisten, Tag-, Nacht- und Dämmerungsfaltern, wird der Jude nicht mehr als ein so ganz besonderer Vogel auffallen; die lichtfreundliche christliche Familie wird sich der gebildeten jüdischen bald näher fühlen, als der christlichen Pietistenfamilie; man wird Gesinnung, Bildung, als das Wesentliche, als den Grundstoff, betrachten lernen, zu welchem sich die zufällig angestammte Religionsform nur etwa als die Färbung verhalten wird«.97

97 Strauss, Judenverfolgung und Judenemancipation (s. o. Anm. 86), 119.

Oratorium und Theologie Mendelssohn, Schubring und Schleiermacher Jan Rohls Felix Mendelssohn, der Enkel des berühmten jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn, wird 1816 in der Berliner Jerusalem-Kirche getauft und 1825 in der reformierten Parochialkirche konfirmiert. Als Vorbereitung auf die Konfirmation verfasst er ein persönliches Bekenntnis, das in Christus den mit göttlichen Kräften ausgestatteten Erlöser und Versöhner der sündigen Menschheit erblickt, dessen Lehre durch sein Vorbild bekräftigt wird.1 Mendelssohn glaubt zudem, dass das Christentum die beste aller Religionen sei, und an der Ernsthaftigkeit seines Glaubens lässt sich kaum zweifeln.2 Der zeitgenössisch gefärbte christliche Glaube Mendelssohns findet seinen Ausdruck nicht zuletzt in seinen Oratorien, deren Libretti er unter anderem mit Hilfe seines Freundes Julius Schubring erstellt. Der am 2. Juli 1806 in Dessau geborene Schubring hatte evangelische Theologie in Leipzig und Berlin studiert. Während des Studiums, das er 1828 mit den kirchlichen Examina abschließt, hört er in der preußischen Hauptstadt Schleiermacher, zu dessen »Dialektik«-Vorlesung er eine Nachschrift liefert und dessen Kinder er auch unterrichtet, bevor er im Frühjahr 1830 als Kollaborator an das Gymnasium seiner Heimatstadt geht. Zwei Jahre später wird er zweiter Geistlicher an der Kirche St. Georg, erhält 1837 seine Beförderung auf die erste Pfarrstelle und ist von 1870 an für zehn Jahre Mitglied des Herzoglich Anhaltischen Konsistoriums. Zu seinem fünfzigsten Dienstjubiläum 1880 wird er zum Oberkonsistorialrat ernannt und von der Universität Halle zum theologischen Doktor ehrenhalber promoviert. 1883 pensioniert, scheidet er fünf Jahre später aus dem Konsistorium aus und verstirbt am 14. Dezember 1889. Die Bekanntschaft mit Mendelssohn reicht zurück in Schubrings Berliner Studienzeit. 1825 lernen sich der Komponist und der Theologe kennen, und von da an ist Schubring häufig Gast bei den musikalischen Matineen, die vierzehntäglich im Hause Mendelssohn stattfinden. Hier trifft er auch Karl Klingemann, der später den ersten Entwurf zum »Elias« anfertigen wird und der damals beim Hannöverschen Gesandten in Mendelssohns Haus wohnt. Zu den Gästen zählen auch der gerade aus Rom zurückgekehrte Maler Wilhelm Hensel, der dann Felix’ Schwester Fanny heiraten wird, Varnha1

2

M. Staehelin, Der frühreife Felix Mendelssohn Bartholdy. Bemerkungen zu seinem ›Konfirmationsbekenntnis‹, in: Mendelssohn Studien, Bd. 16, hg.v. H.-G. Klein u. Chr. Schulte, Hannover 2009, 28f. AaO. 31.

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gen, Wilhelm von Humboldt sowie die Antipoden Schleiermacher und Hengstenberg. Auf einer Reise in den Süden Deutschlands begegnet Mendelssohn in Heidelberg dem Rechtswissenschaftler Friedrich Justus Thibaut, der zugleich Leiter des dortigen Singvereins ist und mit seiner Schrift »Über die Reinheit der Tonkunst« die Grundlage für die Erneuerung Kirchenmusik aus dem Geist der Epoche von Palestrina bis Händel geschaffen hat.3 In Frankfurt hört er dann den für seine Bach- und Händelaufführungen berühmten Cäcilienverein. Das Interesse des Komponisten vor allem an Johann Sebastian Bach kulminiert schließlich in der denkwürdigen Aufführung der nach ihrer Uraufführung 1729 nie wieder aufgeführten »Matthäuspassion« am 11. März 1829 in Zelters Berliner Singakademie. Durch seine Bearbeitung interpretiert er Bachs Musik aus dem Geist der Romantik neu, und durch die Aufführung im Konzertsaal löst er die Passion aus ihrer liturgischen Funktion und reiht sie in die Aufführungspraxis der Oratorien Händels ein. Zugleich bedeutet die Wiederaufführung der Matthäuspassion den Beginn von Mendelssohns eigenem Oratorienschaffen.

1. »Paulus« Als Schubring seine erste Stelle in Dessau antritt, schreibt er am 3. Juli 1830, kurz nachdem ihn Mendelssohn besucht hatte: »Was kann ich z. B. von meinem künftigen Berufe als Prediger für Wundererfolg erwarten? Für einen großen Gelehrten bin ich nicht geschaffen, bin auch nicht in Büchern fleißig genug. Ich habe also nichts weiter zu thun, mein Leben lang, als Liebe zu wecken, so viel ich kann, durch das Wort Gottes.«4 Mit dieser sicher treffenden Selbsteinschätzung verbindet sich bei Schubring eine ganz bestimmte Vorstellung vom Glauben, den er auch bei den bevorzugten Komponisten wiederentdeckt. Denn »friedlich sollen wir werden im Glauben, daß das Wahre und Gute doch zuletzt den Sieg behalten muß. Mit diesem Sinne hat Bach in der Musik gewaltet, der manche Kämpfe und Dissonanzen durchgearbeitet hat, der aber immer alles zu einem friedlichen und ruhigen Ende führt. Beethoven hat wol in seiner Sehnsucht nicht immer den Frieden gefunden, aber er ist in diesem Streben so menschlich und herrlich, daß ich ihn darum so lieb habe.«5 Von diesem Verständnis des christlichen Glaubens aus rät Schubring Mendelssohn auch, als dieser über seelische Verstimmungen klagt, »solche Verstimmungen durch das Neue Testament zu überwinden. Noch wichtiger – nur weiß ich nicht, wie Du jetzt drüber denkst – ist was ich nicht leicht gegen irgendwen heraussage – das Gebet. Nicht bloß eine – wie Du früher einmal äußertest – freudig erhobene Stimmung, sondern eine absichtliche und ausdrückliche Wendung des Herzens und der Gedanken zu Gott, die auch eine gewisse Zeit ausschließlich einnimmt. Das ist freilich nicht idealistisch. Aber wir Menschen brauchen dergleichen besondere Impulse. [. . . ] Ich halte es 3 4 5

M. Geck, Von Beethoven bis Mahler. Die Musik des deutschen Idealismus, Stuttgart/Weimar 1993, 269. Julius Schubring (Hg.), Briefwechsel zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und Julius Schubring, zugleich ein Beitrag zur Geschichte und Theorie des Oratoriums, Leipzig 1892, 6. AaO. 7.

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aus demselben Zwecke für nothwendig, in die Kirche zu gehen, um das kirchlich-religiöse Element immer wieder zu beleben und aufzufrischen. Mir ist das Gebet leider auch nicht tägliches Brot; aber so oft ich dazu komme, fühle ich mich selig.«6

Als er über München und Wien nach Italien reist, unterrichtet Mendelssohn am 18. November 1830 Schubring über seine kompositorischen Aktivitäten. In Rom fertigt er nicht nur auf Wunsch der Fürstin von Anhalt-Dessau Kopien alter italienischer Kirchenmusik an. Er komponiert auch selbst Kirchenmusik und hebt besonders einen Choral nach dem Luthertext »Mitten wir im Leben sind vom Tod umfangen« hervor. Im selben Brief mokiert er sich über eine Predigt in der deutschen Gemeinde, die ihn Schleiermacher schätzen lässt, so dass er sich geradezu als »Anhänger von Schleiermacher« bezeichnen kann. Denn »ich hörte einen Prediger, der predigte so ganz abscheulich und sehr jämmerlich, daß ich doch finde, es schön in jetziger Zeit, so ruhig und klar zu sprechen, wie Schl. es thut«.7 Bedenkt man, dass Tholuck von Mai 1828 bis April 1829 preußischer Gesandtschaftsprediger in Rom war und zieht man Mendelssohns religiöse Tendenz in Betracht, so dürfte es sich um eine Predigt im Geiste der Erweckungstheologie gehandelt haben. Mehrfach ist er bei Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen, dem preußischen Gesandten beim Heiligen Stuhl, zu Gast, wo er Mitglieder der päpstlichen Kapelle mit Musik von Palestrina hört. Nach seiner Rückkehr nach Berlin teilt Mendelssohn Schubring am 25. August 1832 mit, dass er in Italien »eine Menge Kirchenmusiken, meist auf Luthersche Texte, und einen Psalm« komponiert habe.8 Auch berichtet er von seinem Plan, ein Händelsches Oratorium aufzuführen. Im selben Brief spricht er dann zum ersten Mal von einem eigenen Oratorium: »gegen den Winter denke ich ein Oratorium zu componiren, und zwar den Paulus, damit es im Frühling fertig ist«.9 Damit beginnt die Zusammenarbeit zwischen Mendelssohn und Schubring. Denn Schubring interessiert sich für das Kompositionsprojekt, und Mendelssohn erhofft sich von ihm Unterstützung bei der Auswahl von passenden Bibelstellen und Chorälen. Dazu lässt er ihm die bisherigen Vorarbeiten zukommen: »ich schicke Dir alle Stellen, die bis jetzt vorgeschlagen (nicht angenommen) sind. Ich selbst will mich erst mit dem Texte beschäftigen, wenn er fertig da liegt, damit ich ganz frisch und mit vollen Kräften an die Musik gehen kann. [. . . ] Am meisten, glaube ich, könntest Du der Sache nützen, wenn Du die Choräle aus dem Gesangbuch vorschlügst, zugleich mit den Stellen, wo sie stehen sollen, das könnte keiner besser als Du, weil Du auch die Melodien im Kopfe hast. Ich wünschte in diesem Punct die Anordnung ganz in der Art der Bachschen Passion.«10

Damit ist zugleich der Maßstab benannt, an dem sich das Oratorium »Paulus« im Aufbau orientieren soll. Mendelssohn unterbreitet Schubring im selben Brief den Plan des Oratoriums, an dem er zwar keine wesentlichen Änderungen mehr wünscht. Aber »alles 6 7 8 9 10

AaO. 8. AaO. 15. AaO. 19. AaO. 20. AaO. 22.

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Einzelne ist bis jetzt blos zur Auswahl zusammengestellt, an Arien und Choräle noch fast gar nicht gedacht, ebenso wenig an Schluß- und Anfangs-Chor«.11 Dem dreiteiligen Plan liegt die lukanische Apostelgeschichte zugrunde. Der erste Teil beginnt mit der Gefangennahme des Stephanus und endet mit dessen Steinigung. Der zweite Teil ist der Bekehrung des Paulus gewidmet, während der dritte Teil die Trauer des Apostels über die Ungläubigkeit der Juden und seine Hinwendung zu den Heiden zum Thema hat. Die Stellen aus der Apostelgeschichte werden ergänzt durch wenige andere Bibelstellen. So setzt sich etwa die Predigt an die Heiden aus Eph2, 8. 19; 1, 3 und Phil2, 15– 18 zusammen. Den mitternächtlichen Lobpreis Gottes durch Paulus und Silas stellt sich Mendelssohn als Duett auf der Textgrundlage von 2Kor4, 8–10 und Röm8, 35 vor. Aber er gesteht, dass, was die Durchführung des Oratorienplans im einzelnen angeht, vieles noch im Dunkeln liegt. Auch die Verteilung der Stimmen lässt zu wünschen übrig, zumal bislang keine Frauenstimme vorkommt.12 Am 23. Januar 1833 lässt Schubring Mendelssohn den Entwurf des ersten Teils, also der Stephanusszene, zukommen, bereits nach Nummern gegliedert. Am Anfang steht, so wie Mendelssohn es wünschte, ein Chor der Christen, wobei Schubring als Textgrundlage Ps46, 2–4 – »Gott ist unsre Zuversicht und Stärke« – oder Ps23, 1–4 –»Der Herr ist mein Hirte« – vorschlägt, letztere Stelle übrigens mit der Begründung, dass Christus sich Joh10, 14 als den guten Hirten bezeichnet. Im Anschluss an die als Rezitativ gehaltene Gefangennahme des Stephanus durch die Juden Act6, 8–13 singt der Sopran 2Kor3, 7f.: »Wenn aber schon das Amt, das den Tod bringt und das mit Buchstaben in Stein gehauen war, Herrlichkeit hatte, so dass die Israeliten das Angesicht des Mose nicht ansehen konnten wegen der Herrlichkeit auf seinem Angesicht, die doch aufhörte, wie sollte nicht viel mehr das Amt, das den Geist gibt, Herrlichkeit haben?« Damit wird die Überlegenheit des Geistes über den Buchstaben des Gesetzes herausgestellt. Als Rezitativ folgt darauf eine auf Act7, 2. 51 reduzierte Predigt des Stephanus: »Liebe Brüder und Väter, hört zu. Der Gott der Herrlichkeit erschien unserm Vater Abraham, als er noch in Mesopotamien war, ehe er in Haran wohnte. Ihr Halsstarrigen, mit verstockten Herzen und tauben Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem heiligen Geist, wie eure Väter, so auch ihr.« Darauf reagiert der Chor der Juden mit einem Bekenntnis zu dem Gott der Väter und der Verfluchung seiner Gegner: »Verflucht werden alle sein, die Gott verachten; verdammt werden alle sein, die ihn lästern; gesegnet werden alle sein, die dich bauen« (Tob13, 15). Rezitativisch wird dann von der Vision des Stephanus berichtet: »Er aber, voll heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes« (Act7, 55). Schubring wollte hier einen Choral anschließen, war aber mit »Es glänzet der Christen inwendiges Leben« nicht zufrieden. Als Arioso sollte die Vertonung von 1Thess4, 16 und Joh5, 29 folgen: »Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen. [. . . ] Und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.« 11 AaO. 23. 12 AaO. 25.

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Als Rezitativ schließt sich Act7, 56 an: »Und Stephanus sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.« Darauf reagiert der Chor der Juden mit dem »Weg, weg mit dem« (Joh19, 15) aus der johanneischen Darstellung der Verurteilung Jesu. Dem der Szene beiwohnenden Saulus legt Schubring die nun auf die Christen bezogenen Verse Ps83, 14f. in den Mund: »Mein Gott, mache sie wie verwehende Blätter, wie Spreu vor dem Winde. Wie ein Feuer den Wald verbrennt und wie eine Flamme die Berge versengt, so verfolge sie mit deinem Sturm«. Auf das Rezitativ »Sie stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn« (Act7, 58) lässt Schubring Ps31, 6 »In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott« als Arie singen, gefolgt vom Choral »Dir, Herr, dir will ich mich ergeben«. An das rezitativische »Sie steinigten Stephanus; der rief den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf« (Act7, 59) schließt sich als Arie an Ps90, 2. 5. 12f. »Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst. Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Herr, kehre dich doch endlich wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig«. Der erste Teil des Oratoriums endet mit dem Choral »Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod«.13

Vergleicht man Schubrings Vorlage mit Mendelssohns Plan, so fällt auf, dass sie – einmal abgesehen davon, dass sie ja nur den ersten Teil, die Stephanusszene, bearbeitet – die Bibelverse aus der Apostelgeschichte kürzt und andere Bibelstellen ergänzend heranzieht. Zwar bedankt sich Mendelssohn bei Schubring für dessen Arbeit und bittet ihn um die Fertigstellung des Librettos. In der Zwischenzeit schaltet er aber, wohl weil er mit Schubrings Vorlage nicht zufrieden war, Adolf Bernhard Marx ein. Gleichwohl dürfte der Entwurf, den er schließlich Schubring mit der Bitte um Bemerkungen zusandte, im wesentlichen auf ihn selbst zurückgehen. Nachdem er ihm am 27. März 1833 mitgeteilt hatte, dass Marx den Text fertiggestellt und seine Vorschläge benutzt habe, wenngleich es noch viele Einzelheiten zu ergänzen gebe, konfrontiert er Schubring am 6. September mit vier Fragen. Das ihm zugesandte Libretto, zu dem der Dessauer Pfarrer dann Randbemerkungen machte, befindet sich in der Sammlung Mendelssohnscher Briefe in Oxford. Die erste Frage bezieht sich auf die Form des Oratoriums. Statt wie Bach mit einem personifizierten Erzähler zu arbeiten, entscheidet sich Mendelssohn für eine Mischung von dramatischer und erzählender Vorstellung, die ihm als das Natürlichste erscheint. Die zweite Frage richtet sich an den Theologen Schubring, ob er nämlich meine, »daß kein Hauptzug in der Geschichte und den Thatsachen sowie im Charakter und den Lehren des Paulus ausgelassen oder falsch angegeben sei«.14 Drittens möchte Mendelssohn wissen, ob die Dreiteilung des Oratoriums der Zweiteilung vorzuziehen sei, wie er selbst meint, wenngleich er sich der Schwierigkeiten bewusst ist. Denn er erklärt: »am besten gefielen mir eigentlich drei, vor der Reise nach Damaskus, und nach der Taufe, um ihn als Heiden, Bekehrten und Apostel darzustellen, aber das scheint unmöglich, 13 AaO. 26–33. 14 AaO. 41.

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weil der erste gar zu unförmlich kurz und der dritte lang würde, zwei wären praktischer, wo dann der erste bis nach der Taufe ginge«.15 Die vierte Frage schließlich bezieht sich auf die Choralstücke. Denn obwohl Marx und andere ihm vom Choral abgeraten hätten, sei er selbst der Meinung, »in jedem Oratorium aus dem Neuen Testamente müsse er von Natur sein«.16 Mendelssohns Entwurf des Librettos, das die Anregungen von Schubring und Marx verarbeitet, gliedert die Handlung in folgende Szenen: Steinigung des Stephanus, Bekehrung und Taufe des Paulus, Verfolgung des Apostels durch die Juden, Heilung des Lahmen und Vergötterung der Apostel durch die Heiden, Aufruhr des Goldschmieds Demetrius, Paulus im Kerker und Abschied des Apostels von der Gemeinde in Ephesus. In seinem Antwortbrief vom 5. Oktober 1833 drückt Schubring sein grundsätzliches Einverständnis mit dem Entwurf aus. Vor allem das offene Ende entspricht in seinen Augen der biblischen Vorlage. Er schreibt: »Der Plan im Ganzen hat auch mit dem ins Unbestimmte auslaufenden Ende meine volle Zustimmung. Das Ende ging nicht anders; die Bibel berichtet nichts über Paulus Tod. Und wenn auch nach den übereinstimmenden Zeugnissen der Kirchenväter die Kirche seine Enthauptung in Rom annimmt, so ist doch der historische Boden ungewiß und die Phantasie müßte zu viel ergänzen.«17 Damit beantwortet Schubring die zweite Frage nach der Vollständigkeit der Darstellung des Paulus positiv. Was die dritte Frage nach der Einteilung des Oratoriums betrifft, so plädiert er für eine Zweiteilung, da bei einer Dreiteilung der erste Teil, der von Stephanus handelt, mit Paulus nur am Rande zu tun hat, und der zweite Teil mit der Bekehrung des Paulus nur einen zeitlichen Augenblick und keine geschichtliche Sequenz darstellen würde. Den ersten Teil möchte Schubring mit der Bekehrung enden lassen. Die vierte Frage nach der Verwendung des Chorals bejaht er, wenngleich er den Unterschied zur Bedeutung des Chorals in Bachs Passionen herausstellt. »Den Choral an und für sich kann man so, wie er in der Passion angebracht ist, wohl nicht gebrauchen. Denn von der Leidensgeschichte Jesu gibt es einen andern, viel nothwendigeren Rückblick in das eigene Herz und in das christliche Gemeindebewußtsein (wozu der Choral doch wesentliche Form ist), als von der Geschichte irgend eines andern, auch des wichtigsten Apostels.«18 Schubring hält den Choral in seiner ursprünglichen liturgischen Bedeutung im protestantischen Gottesdienst als Ausdruck des Bewusstseins der gläubigen Gemeinde zwar in einer Passion für angemessen, da der Glaube das Leiden des Erlösers zum Gegenstand hat. Doch da der Glaube sich nicht auf einen Apostel richtet, ist der Choral in dieser ursprünglichen liturgischen Funktion im Paulus-Oratorium in seinen Augen fehl am Platz. Schubring sieht aber durchaus eine Verwendungsmöglichkeit für den Choral im »Paulus«. Er könnte als Ausdruck des Glaubensbewusstseins der Christen der frühen Gemeinde eine dramatische Funktion übernehmen. Er »hätte nichts dagegen, wenn fast alle Chöre der Christen etwas Choralmäßiges bekämen. Doch nach den Gemüthsbewegungen in den verschiedenen Lagen auch verschieden. Das muß aber na15 16 17 18

Ebd. AaO. 42. AaO. 49f. AaO. 50.

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türlich überall durchschimmern, daß der Glaube bei allen damals kräftig und lebendig war«.19 Schubring greift hier auf die Terminologie Schleiermachers zurück, wenn er die Chöre der Christen gerade deshalb die Form von Chorälen geben will, weil sie der Ausdruck der Kräftigkeit der Frömmigkeit oder des Gottesbewusstseins der ersten Christen sein sollen. Das Oratorium hat für ihn zwar anders als Bachs Passionen keine liturgische Funktion, wohl aber eine kirchliche Bedeutung, zumal die Predigten des Paulus das enthalten sollen, was er als biblische »Kernsprüche« bezeichnet.20 Auch vom Schlusschor, mit dem das Oratorium enden soll, wünscht er sich einen Kernspruch gesungen, und zwar Hebr13, 7f.: »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit«.21 Schubring unterlässt es auch nicht, Mendelssohn auf die theologische Bedeutung des Paulus hinzuweisen. Denn im Mittelpunkt von dessen Theologie stehe der Glaube, dass Christus das Ende des Gesetzes sei. »Diese Wahrheit macht einen wesentlichen Bestandtheil der paulinischen Lehre aus, daß der Mensch nicht durch Erfüllung des Gesetzes selig werde, sondern allein durch den Glauben. Und hier sagt er sich gerade von den Juden los.«22 Diese Ablösung vom Judentum ist bei Paulus die Bekehrung zu Christus. Eine solche grundlegende Umkehr vermisst er übrigens in Goethes Tragödie »Faust«, deren zweiter Teil kurz zuvor postum erschienen war: »das Ende ist mir philosophisch oder theologisch total zuwider. Das bloße Altwerden oder das sogenannte Streben – (wobei nicht gefragt wird, wonach?) – ist doch eine gar zu matte Sühne für alle die schrecklichen Verirrungen. Dann müßte es doch einmal mit Gewalt kommen – wie etwa dem Saulus auf dem Wege nach Damaskus«.23 Solche rein theologischen Reflexionen bleiben im Briefwechsel zwar im Hintergrund. Doch wo sie vorkommen, geben sie zugleich ein anschauliches Bild von Mendelssohns eigener Frömmigkeit. Als er seine Stelle in Düsseldorf antritt, sieht er sich mit der rheinischen Erweckung konfrontiert, die ihn ebenso abstößt wie die Predigt, die er seinerzeit in Rom gehört hatte. Am 15. Juli 1834 schreibt er: »man ist hier von fatalen Exemplaren umgeben, Predigern, die jede Freude sich und anderen versalzen, trockenen, prosaischen Hofmeistern, die ein Concert für Sünde, einen Spaziergang für zerstreuend und verderblich, ein Theater aber für den Schwefelpfuhl, und den ganzen Frühling mit Baumblüthen und schönem Wetter für ein Moderloch ausgeben. Du wirst ja von der Elberfelder Art gehört haben. Aber es nimmt sich in der Nähe noch schlimmer aus und kann einen ordentlich peinlich machen. Das Böseste ist der Hochmuth, mit dem solche Leute die andern ansehen«.24

Schubring klärt Mendelssohn darüber auf, dass es sich bei den Elberfelder Theologen um Pietisten handle. Auch wenn er selbst den Theaterbesuch für die Mehrheit der Menschen für schädlich hält, bittet er seinen Briefpartner, ihn deshalb nicht als Pietisten zu 19 20 21 22 23 24

AaO. 51. AaO. 53. AaO. 61. AaO. 63. AaO. 66. AaO. 68.

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betrachten.25 Schubring distanziert sich somit ausdrücklich vom Neupietismus der Erweckungsbewegung. Auch sein einstiger Studienort Berlin ist ihm seit Schleiermachers Tod verleidet: »Seitdem Du weg bist, Schleiermacher todt«, schreibt er an Mendelssohn, »kann ich mirs nicht mehr heimisch denken«.26 Es sind weniger theologische Reflexionen, die den Briefwechsel zwischen dem Dessauer Pfarrer und dem Komponisten beherrschen, denn Kompositionspläne. Die Pausen zwischen den einzelnen Briefen sind ungewöhnlich lang. So reagiert Mendelssohn erst zehn Monate später auf Schubrings Korrekturen an seinem Entwurf des »Paulus«Librettos. Am 15. Juli 1834 schreibt er: »Deine Notizen zum Paulus waren prächtig; ich habe sie alle ohne Ausnahme gebraucht«.27 Am 6. August teilt er ihm mit, dass der erste Teil des Oratoriums fertig sei.28 Aber erst am 6. Januar 1837 sendet er den fertigen »Paulus« mit Dank für seine Mitwirkung an Schubring.29 Der Anteil Schubrings an der Endfassung des Librettos ist allerdings relativ gering. Auf ihn geht aber unter anderem der Eingangschor der frühen Christen zurück, der auf die Ouvertüre folgt, die mit dem Motiv des Chorals »Wachet auf, ruft uns die Stimme« bereits auf das zentrale Ereignis, die Bekehrung des Paulus, hinweist. Dem Chor liegt das Bekenntnis der Jünger zu dem einen Gott und seinem Christus aus Act4, 24–26. 29 zugrunde. Beschlossen wird die Eröffnung des ersten Teils mit dem Choral »Allein Gott in der Höh sei Ehr«, 1523 gedichtet und komponiert von Nikolaus Decius. Darauf folgt die Steinigung des Stephanus, wobei Mendelssohn die von Schubring arg gekürzte Predigt des Stephanus wieder erweitert. An die Stelle der nach dem Vorwurf der Gotteslästerung erfolgenden eschatologischen Vision in Schubrings Gegenentwurf tritt die Sopranarie »Jerusalem! Jerusalem! die du tötest die Propheten! Die du steinigest die zu dir gesandt« (Mt23, 37). Ursprünglich hatte Mendelssohn diese Worte Paulus als Reaktion auf den Widerstand der Juden in den Mund gelegt. Doch hatte Schubring das als anmaßend empfunden, da es sich schließlich um Worte Jesu handle.30 Auf den Tod des Stephanus lässt Mendelssohn auf Anraten Schubrings den Choral »Dir Herr, will ich mich ergeben« aus dem 1641 entstandenen Lied »Wer nur den lieben Gott lässt walten« von Georg Neumark folgen. Nach der Steinigung des Stephanus, an der Saulus sein Wohlgefallen hat, wird der Bekehrungsszene die Christenverfolgung des späteren Apostels vorgeschaltet. In sie werden auch in abgewandelter Form jene Psalmworte integriert, die Schubring Saulus bereits beim Tod des Stephanus in den Mund gelegt hatte. Die Stimme Christi beim Damaskusereignis wird durch einen Frauenchor, der von Bläserakkorden in hoher Lage begleitet wird, wiedergegeben. Neu gegenüber dem Schubring zugesandten Entwurf ist der Chor »Mache dich auf, werde Licht«. Am 6. August 1834 schreibt Mendelssohn an den Theologen: »Unmittelbar nach den Worten des Herrn bei der Bekehrung habe ich einen großen Chor: ›mache dich auf, werde Licht‹ u. s. w. Jes 60, 1–2 eintreten lassen, 25 26 27 28 29 30

AaO. 76f. AaO. 82. AaO. 68. AaO. 79. AaO. 108. AaO. 48.

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den ich bis jetzt für den besten Moment im ersten Theil halte«.31 Auf den Chor folgt – auch dies Mendelssohns eigene Idee – Philipp Nicolais 1599 komponierter Choral »Wachet auf, ruft uns die Stimme«. Er nimmt die Lichtmotivik des vorangegangenen Chores auf und bezieht sie auf die Gläubigen der Gemeinde. Wie schon zuvor legt Mendelssohn dem folgenden Gebet des Paulus, einer Baritonarie, Psalmworte zugrunde. Es handelt sich um Verse aus Ps 51 »Gott, sei mir gnädig, nach deiner Güte«. Die Bekehrungsszene schließt mit einem Chor auf den Text Röm11, 33. 36, einem Lobgesang auf die Weisheit Gottes, wie ihn bereits der erste Plan zum Oratorium vorsah. Den zweiten Teil des Oratoriums leitet Mendelssohn ein mit Versen aus der Johannesapokalypse, die zur Heidenmission des Apostels hinüberführen: »Der Erdkreis ist nun des Herrn und seines Christ. Denn alle Heiden werden kommen und anbeten vor dir. Denn deine Herrlichkeit ist offenbar geworden« (Off11, 15;15, 4). Auf diese Eröffnung des zweiten Teils folgt die Aussendung von Paulus und Barnabas. An deren Duett nach dem Vers 2Kor5, 20 »So sind wir nun Botschafter an Christi Statt« schließt sich in Anlehnung an Schubrings Hinweis und Händels »Messias« der Chor mit Röm10, 15. 18 an: »Wie lieblich sind die Boten, die den Frieden verkündigen« Die Predigt der Apostel stößt auf den Widerstand der Juden, die sich auf Jes43, 11 berufen: »So spricht der Herr: ich bin der Herr und ist außer mir kein Heiland«. Dem Protest der Juden schließt sich der von Schubring empfohlene und als Gebet gedachte Choral »O Jesu Christe, wahres Licht, / erleuchte, die dich kennen nicht« an, 1630 verfasst von Johann Heermann und gesungen nach einer Nürnberger Melodie von 1676. Die Ablehnung durch die Juden begründet die Heidenmission der Apostel, an deren Beginn deren Wirken in Lystra steht. Die Lystraszene gehört bereits zum ursprünglichen Plan.32 In seinem Entwurf wurde von Mendelssohn vor allem die aufgrund eines Heilungswunders erfolgende Apotheose der Apostel durch die heidnische Priesterschaft ausgeschmückt. Auf Schubrings Kritik hin erfuhr der Chor, der aus lauter nichtbiblischen Versen besteht und wahrscheinlich auf Marx zurückgeht, eine radikale Kürzung. Er besteht jetzt aus den beiden Zeilen »Seid uns gnädig hohe Götter! / seht herab auf unser Opfer«. Die sich daran anschließende Kritik der Apostel am heidnischen Götzendienst, die Jer10, 14f. aufgreift, mündet in die Arie des Paulus auf den Text von 1Kor3, 16: »Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid?« Gott wohnt nicht in den mit Menschhänden gemachten Tempeln, sondern: »unser Gott ist im Himmel, / er schaffet Alles, was er will«. Diesen letzten Vers Ps115, 3 greift dann der Chor auf, der in den Lutherchoral »Wir glauben all an einen Gott« mündet. Dem nun folgenden Sturm der Juden und Heiden mit dem Aufruf zur Steinigung und der Zusage des göttlichen Beistands folgt eine Tenorkavatine, die sich aus Off2, 10 und Jer1, 8 zusammensetzt: »Sei getreu bis in den Tod, / so will ich dir die Krone des Lebens geben. / Fürchte dich nicht, ich bin bei dir«. Danach nimmt Paulus Abschied von der ephesinischen Gemeinde und deren betrübten Ältesten, um sich nach Jerusalem zu begeben, bereit, um Christi willen zu sterben. Der Ausblick schließlich knüpft an diese Todesbereitschaft an, wenn er im Rezitativ Phil2, 17 mit 2Tim4, 7f. verbindet: »Und wenn er gleich geopfert wird / über dem Opfer unsers Glaubens, / so 31 AaO. 79. 32 AaO. 24.

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hat er einen guten Kampf gekämpft, / er hat den Lauf vollendet, er hat Glauben gehalten; / hinfort ist ihm beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, / die ihm der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter geben wird.« Das Oratorium endet mit dem Chor, der aus Ps103 singt: »Lobe den Herrn, meine Seele«. Gerade der Schlussteil weicht am stärksten von dem ersten Plan Mendelssohns ab, ohne dass Schubring für diese Veränderung verantwortlich wäre. So wie sich ja überhaupt Schubrings Beitrag zu der endgültigen Gestalt des »Paulus« in engen Grenzen hält.

2. »Elias« Die zuletzt genannte Tatsache hielt Mendelssohn nicht davon ab, Schubring erneut zu Rate zu ziehen, als er daran ging, einen neuen Oratorienstoff zu bearbeiten. Zwischenzeitlich war Schubring von Friedrich Schneider um das Libretto zu einem Oratorium gebeten worden, das den Sieg des Christentums über die Welt behandeln sollte. An Mendelssohn schreibt er leicht verzweifelt: »Ich weiß wirklich nicht recht, was er sich darunter denkt, nachdem er schon ein Weltgericht geschrieben! [. . . ] Allenfalls könnte ich mir dazu die Ostergeschichte denken. Aber die Geschichte ist zu kurz und gäbe nur Stoff zu einer Cantate her.«33 Ein Jahr später reagiert Schubring auf Schneiders Bitte um einen »Carfreitagstext« mit der Klage: »ich fühle zu sehr, daß mir das Talent zum Schaffen ganz und gar abgeht«.34 Wenige Monate später teilt Schubring Mendelssohn mit, er habe ein Oratorium mit dem Titel »Bonifacius, der Apostel der Deutschen« skizziert. Der Plan sieht folgendermaßen aus: »I. Theil, soll aus 2 Scenen bestehen: 1. Das Erwachen seiner Idee im Kloster. Dazu Mönchschor, überhaupt christliche Chöre; Engelstimme, die ihn ermuntert (in der Geschichte ein Traum), bis zu Chor, der ihn abziehen läßt. 2. Einweihung zur Mission durch den Pabst. Diese Scene soll in der Kirche spielen und die Orgel dabei sein. (Also Kirchengehalt). Bonifacius Gelübde, des Pabstes Segen; Chöre der Gemeinde. II. Theil, die Ausführung. Heidnischer Gottesdienst in Deutschland, Druiden. – Bonifacius Reise und Gebet der christlichen Gemeinde. – B. die Heiden herzurufend, Predigt von Christo – haut die große heilige Eiche des Donnergottes um. Pflanzt das Kreuz auf. Weissagung von der deutschen Kirche. (Dazwischen Eifer der Heiden.) – Pause. – Neue Reise zu den Friesen; B. alt; Bekehrungen, Feindschaft. – B. erschlagen. Trauer. Triumph der Sache.«35

In die neuen Oratoriumspläne Mendelssohns wird Schubring allerdings nicht sofort eingeweiht. Nachdem der »Paulus« am 22. Mai 1836 während des Rheinischen Musikfestes in Düsseldorf uraufgeführt worden war, wandte sich der Komponist am 12. August brieflich an den mit ihm befreundeten Karl Klingemann, der in der hannöverschen Kanzlei in London als Legationsrat tätig war, mit der Bitte um den Text zu einem neuen Oratorium. Er ermahnt in ironischem Ton den vom »Paulus« begeisterten Klingemann: 33 AaO. 71. 34 AaO. 90. 35 AaO. 106.

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»wenn Du die Gedanken, die Du dem alten schenkst, lieber auf einen Elias, oder Petrus oder meinethalben Og zu Basan verwenden wolltest«.36 Ernsthaft zieht Mendelssohn natürlich nur Elias und Petrus als mögliche Stoffe in Erwägung, allerdings mit einer deutlichen Präferenz für Elias. Als Klingemann darauf nicht reagiert, wendet er sich am 18. Februar 1837 nochmals an ihn: »Mach mir in den nächsten Wochen einen Text zu einem biblischen Oratorium, das ich im Laufe des Sommers komponieren könnte. Ich sagte Dir schon damals 2 Stoffe, die mir beide gleich lieb waren, Petrus und Elias. Am liebsten wäre mirs, Du nähmest den Elias, teiltest die Geschichte in zwei oder drei Teile, und schriebst es hin mit Chören und Arien, die Du entweder selbst dichtetest in Prosa oder Versen, oder aus den Psalmen und Propheten zusammenstelltest, aber mit recht dicken, starken, vollen Chören.«37

Mendelssohn schätzt Klingemann als Übersetzer der Oratorien Händels und stellt es ihm bei der Konzeption des »Elias« frei, ob er ihn wie den »Judas Maccabäus« dramatisch oder episch oder aber aus beiden gemischt einrichtet. Auch dürfe Klingemann, wenn ihm keiner der beiden vorgeschlagenen gefalle, durchaus einen anderen Stoff wählen. »Aber ich glaube Elias und Himmelfahrt am Ende wäre das Schönste.«38 Was die Bibelstellen angeht, so verweist er ihn auf Jer60ff., Jes40, die Klagelieder Jeremias und die Psalmen. Klingemann antwortet wenige Tage später auf Mendelssohns Brief mit den Worten: »so bin ich Dein Mann für den Elias«.39 Er verspricht ihm den ersten Teil in vier Wochen. Den ersten Chor fügt er bereits bei: »Herr, sieh herab auf unsre Not, / Auf böse Zeit und Sterben, / Herr, wende ab was uns bedroht, / Lass uns nicht ganz verderben«.40 Allerdings kann Klingemann sein Versprechen nicht einlösen, und Mendelssohn muss ihn wiederholt ermahnen und drängen, einen gemeinsam in London ausgearbeiteten Plan durch Hinzufügung passender Bibelverse umzusetzen. Als Klingemann aufgrund der Auflösung der hannöverschen Kanzlei, die durch die Auflösung der Personalunion von Großbritannien und Hannover nach dem Tode Wilhelms IV. notwendig wird, nicht mehr zur Arbeit am Libretto kommt, schickt er Mendelssohn am 19. Juli 1838 den Entwurf zurück. In der Zwischenzeit hatte Mendelssohn allerdings völlig unabhängig von dem mit Klingemann verfolgten »Elias«-Projekt Kontakt zu Schubring aufgenommen und ihm am 14. Juli 1837 sein »Petrus«-Projekt vorgestellt. Er dachte demnach, als sich Klingemann für den »Elias«-Stoff entschieden hatte, nicht daran, den gleichfalls anvisierten »Petrus«-Stoff fallen zu lassen, sondern wollte Schubring als Librettisten dafür gewinnen. Von dem »Elias«-Projekt teilte er diesem vorerst nichts mit. Die Wahl des »Petrus«-Stoffs begründet er zunächst pragmatisch: »Mehrere äußere Gründe sprechen dafür, zum Stoff den Petrus zu wählen, – namentlich 36 Karl Klingemann (Hg.), Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London, Essen 1909, 204. 37 AaO. 211. 38 Ebd. 39 AaO. 212. 40 Ebd.

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die Bestimmung für das Düsseldorfer Musikfest zu Pfingsten, und die bedeutende Stelle, die das Pfingstfest in diesem Stoffe einnehmen würde. Zu diesen äußeren Gründen rechne ich auch, daß ich gern (in Verbindung mit einem größeren Plan für ein späteres Oratorium) die beiden Hauptbekenner und -Stützen der christlichen Kirche in Oratorien einander gegenüberstehen, also zu meinem Paulus noch einen Petrus hätte.«41

Als inneren Grund für die Wahl des Petrus nennt Mendelssohn die Ausgießung des Heiligen Geistes, die den Mittelpunkt des Oratoriums bilden soll und bei der Petrus die Hauptrolle zufällt. Allerdings fragt er bei seinem theologischen Freund an, »ob die Stelle, die Petrus in der Bibel einnimmt, abgesehen von der Würde, die er in der katholischen und protestantischen Kirche, als Märtyrer, oder erster Papst u. s. w. hat, ob also das, was von ihm in der Bibel steht – allein, und an und für sich bedeutend genug ist, um ein symbolisches Oratorium darauf zu gründen.«42 Es geht Mendelssohn also um das, was er als symbolisches Oratorium bezeichnet und vom historischen Oratorium abgrenzt. Der »Paulus« ist ein historisches Oratorium, das die Geschichte der Wandlung vom Christenverfolger Saulus zum Heidenapostel Paulus darstellt. Der Petrusstoff eignet sich Mendelssohn zufolge hingegen nicht für ein historisches Oratorium. »Bei einer historischen Behandlung müßte Christus in der ersten Zeit von Petri Wirken erscheinen, und wo Er erscheint, kann Petrus nicht das Hauptinteresse in Anspruch nehmen. Ich meine also, es müßte symbolisch sein, – es möchten darin auch vielleicht alle historischen Punkte vorkommen, der Verrath und die Reue, die Schlüssel des Himmels, die ihm Christus übergiebt, seine Predigt beim Pfingstfest – aber alles das nicht historisch, sondern prophetisch, wenn ich mich so ausdrücken darf – im größeren Zusammenhang.«43

Mendelssohn denkt an ein zweiteiliges, Schubring an ein dreiteiliges Werk. Doch aus beider Aufteilung ergibt sich keinerlei Unterschied zu einem dem »Paulus« durchaus analogen historischen Oratorium. Erst als sich zeigt, dass es sich mit Klingemann nicht verwirklichen lässt, weiht Mendelssohn Schubring in das »Elias«-Projekt ein. Zu dessen Gunsten gibt er den Plan des »Petrus«-Oratoriums auf. Bei einem Besuch in Leipzig übergibt Mendelssohn Schubring Klingemanns Plan zur weiteren Bearbeitung. Der Plan selbst ist zwar nicht erhalten, aber aus Schubrings Änderungsvorschlägen zum ersten Teil lässt er sich zumindest umrisshaft rekonstruieren. Er enthielt die Erzählung von den Raben, die Episode mit der Witwe, eine Szene mit König Ahab, der Königin Isebel, Höflingen und Baalsdienern, die sich über Elias, den Regenfluch und die Dürre beklagen. Die Erzählung von den Raben und die Witwenepisode erscheinen Schubring aber unpassend für das geplante Oratorium, zumal die Witwenszene als Zwiegespräch gestaltet werden müsste, was zwar zu einer Oper, nicht aber zu einem Oratorium passe. Beide Szenen werden von Schubring gestrichen. An den Beginn stellt er eine Ouvertüre, »die den Jammer der Hungersnoth verbreitet«.44 Darauf sollte ein Rezitativ folgen, unter anderem mit Jer8, 20: »Die 41 42 43 44

J. Schubring (Anm.4), 109. AaO. 110. Ebd. AaO. 126.

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Ernte ist vergangen, der Sommer ist dahin, und uns ist keine Hilfe gekommen«. Eine Arie mit Jer9, 1 hätte sich angeschlossen: »Ach dass ich Wasser genug hätte in meinem Haupte und meine Augen Tränenquellen wären«. Daraufhin wäre der Chor eingefallen mit Kgl5, 19f.: »Aber du, Herr, der du ewiglich bleibest von Geschlecht zu Geschlecht, warum willst du uns so ganz vergessen?« Danach wäre Elia vor Ahab erschienen mit den Worten: »So wahr der Herr, der Gott Israels, lebt, vor dem ich stehe: es soll diese Jahre weder Tau noch Regen kommen, ich sage es denn« (1Kön17, 1). Doch schon an dieser Stelle tauchen bei Schubring Probleme auf. Er schreibt an Mendelssohn: »Es will mir zu Ahabs ferneren Worten und zu dem Chor seiner Hofleute, welcher darin einstimmen soll, kein biblisches Wort einfallen«.45 Anschließend wäre Obadja aufgetreten mit einer warnenden Arie und der Bitte um Bekehrung, woraufhin Isebel Verwünschungen ausgestoßen hätte. In einem Duett hätten anschließend Ahab und die Königin ihrer Freude am Baalsdienst Ausdruck verliehen. Dem wäre die Auseinandersetzung Elias mit den Baalspriestern gefolgt. Allerdings ist Schubring mit dem Ganzen nicht zufrieden. Am 1. November 1838 bemängelt er, »daß die Sache zu objektiv wird – ein interessantes, auch ergreifendes Bild, aber wenig erquicklich für das Herz des Zuhörers. Alle Verwünschungen, – die Opferscenen und der Regen – vorher Jesabel u. s. w., alles ist nicht so, daß es uns heutzutage von Herzen kommen könnte, daher so, daß es auch nicht zu Herzen geht.«46 Im »Paulus« gebe es immerhin erbauliche Arien, die im bisherigen Libretto des »Elias« fehlten. Schubring erblickt den Mangel des »Elias«-Textbuchs in der vorherrschenden Dramatik und er rät Mendelssohn: »Du müßtest Dich also vorher genau besinnen, ob Du Dich diesmal der Kirchenmusik (d. h. der erquicklichen) mehr abwenden willst und ein Tongemälde schaffen – nach Art wie die Blocksberg-Cantate. Sonst müßten wir noch neuen Fleiß anwenden, um das Dramatische herunterzudrücken und das Kirchliche zu heben«.47 Vor allem zum Schluss hin möchte Schubring die kirchliche Bedeutung des Oratoriums dadurch unterstreichen, dass ein Bogen vom Alten zum Neuen Testament geschlagen wird. »Da kann nur die rein religiöse Empfindung darüber kommen, z. B. am Schluß die Bedeutung, die Elias für den neuen Bund hat als Vorläufer des Messias«.48 Mendelssohn selbst wollte aber mit dem »Elias« gar kein dem »Paulus« vergleichbares Oratorium schreiben, das sich an dem Vorbild der Bachschen Passionen orientierte. Vielmehr schwebte ihm ein dramatisches Oratorium zu einem alttestamentlichen Stoff vor, vergleichbar etwa Händels »Saul«. Der Eliasstoff faszinierte ihn gerade wegen seines dramatischen Potentials. »Es ist mir aber darum recht ums Dramatische zu thun«.49 Daher merkt er zu Schubrings Entwurf und seinem Beharren auf Bibelworten, die zu Herzen gehen, auch kritisch an, »daß ich das dramatische Element noch prägnanter, bestimmter hier und da hervortreten sehen möchte. [. . . ] in der Darstellung hätte ich’s gern so lebendig als möglich«.50 Den Elias denkt er sich als »einen rechten durch 45 46 47 48 49 50

AaO. 127. AaO. 139. Ebd. AaO. 139f. AaO. 135. AaO. 136.

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und durch Propheten [. . . ], wie wir ihn etwa heut zu Tage wieder brauchen könnten, stark, eifrig, auch wohl bös und zornig und finster, im Gegensatz zum Hofgesindel und Volksgesindel, und fast zur ganzen Welt im Gegensatz, und doch getragen von Engelsflügeln«.51 Doch gerade die Frage des Dramatischen bleibt zwischen Mendelssohn und Schubring strittig und führt schließlich zum vorläufigen Abbruch des »Elias«-Projekts. Schubring denkt an erhebende oder – wie er sich ausdrückt – erquickliche Kirchenmusik. Deshalb sucht er nach einem Übergang von den eher dramatischen Anfangsszenen zu einem erhebenden Schluss mit einem Ausblick auf das Neue Testament. So möchte er die Theophanie, »die Erscheinung Gottes im sanften Säuseln«, dazu einsetzen, »dass Elia zur Sanftmuth vermahnt wird und dadurch der Übergang kommt zu seiner Verklärung, nämlich die Andeutung des neuen Bundes, wo ja Elias als Vorläufer und Genosse Christi auf dem Berg der Verklärung große Bedeutung hat«.52 Die in enge Beziehung zur neutestamentlichen Verklärung Jesu gerückte Theophanie soll zur Himmelfahrt Elias überleiten. »In solchem Entzücken – prophetischen Schauen – sollte er dann gen Himmel fahren und ein Lob Gottes das Ganze beschließen.«53 Allerdings sieht Schubring deutlich, dass er damit von dem Handlungsstrang der Eliaserzählung abweicht. Denn auf die Theophanie folgt ja in der Erzählung keineswegs eine Wandlung Elias zum Sanftmütigen, sondern der Prophet lässt hier Feuer vom Himmel fallen. Bei der Theophanieszene wollte Schubring einen Engel »Elias! Wer bis ans Ende beharrt, der wird selig werden« (Mt24, 13) oder eine ähnliche neutestamentliche Stelle singen lassen. Die Seligpreisung »Selig sind die Sanftmütigen« sollte dann zum neuen Bund überleiten, »wo Elias zuletzt Christum schaut und gen Himmel fährt«.54 Im Gegensatz zu Schubring, der ein erhebendes Oratorium wünscht, insistiert Mendelssohn auf der dramatischen Gestaltung. Es soll die anschauliche Welt des Alten Testaments dargestellt werden, und »bei einem solchen Gegenstand wie Elias, eigentlich wie jedem aus dem alten Testament, außer etwa dem Moses, muß das Dramatische vorwalten, wie mir scheint – die Leute lebendig redend und handelnd eingeführt werden«.55 Zwar will auch Mendelssohn nicht auf das von Schubring gewünschte erhebende Moment verzichten, aber »das Beschauliche, Rührende [. . . ] müßte etwa alles durch den Mund und die Stimmung der handelnden Personen auf uns übergehen«.56 Dass Schubring mit dem Übergang von der Theophanie zur Verklärung von dem biblischen Erzählduktus abweicht, stört Mendelssohn nicht weiter, sondern »der Zusammenhang vom sanften Säuseln zu der Verklärung und zum Schluß scheint mir zu unserem Zwecke sogar nothwendig und sehr schön«.57 Zu diesem Zeitpunkt scheint Mendelssohn den von Schubring anvisierten neutestamentlichen Schluss also noch zu akzeptieren. 51 52 53 54 55 56 57

AaO. 135. AaO. 141. Ebd. AaO. 146. AaO. 147 Ebd. AaO. 148.

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Wie Mendelssohn selbst arbeitet auch Schubring weiter an dem Libretto. Doch der Dessauer Theologe gesteht schon bald, dass er mit der Arbeit nicht recht vorankomme. Vor allem die Verklärungsszene bereitet ihm Probleme. »Ich hielt an einem Punkte, wo der Herr selbst zu Elias reden sollte – oder konnte. Nun dachte ich, kommt Elias zu Christus auf den Berg der Verklärung (Matth.17), so kann auch Christus zu Elias kommen und ihn verklären; konnte ihm von ferne zeigen die Ströme des Friedens, die über das himmlische Canaan hinfließen. Diese drei Personen, Er, Elias und der Engelchor konnten hinlänglich sein, in gehöriger dramatischer Abwechselung die Erde zum Himmel zu verklären, bis Elias hinweggenommen wird.«58

Auf Seiten sowohl Mendelssohns als auch Schubrings scheint die Arbeit am »Elias« bald darauf zum Erliegen zu kommen, da Schubring am 17. Januar 1840 fragt: »Wie ists denn aber mit dem Elias geworden, hast Du ihn ganz und gar bei Seite gelegt? Ich finde es eigentlich Schade, da manche hübsche Sachen darin waren, und die schlechten hättest Du doch wohl noch ersetzen können.«59 In den folgenden Briefen ist aber vom »Elias« nirgends mehr die Rede. Erst ein äußerer Anlass führte Mendelssohn dazu, das Projekt wieder in Angriff zu nehmen. Im Sommer 1845 kündigte ihm der Leiter des Birmingham Music Festival, Joseph Moore, an, dass man ihm einen Auftrag für das kommende Musikfest erteilen werde. Als Moore ihm die Vertonung eines Librettos »Rachel in Ramah«, verfasst von einem Reverend John Webb, vorschlug, teilte der Komponist ihm mit, dass er bereits einen anderen Stoff bearbeite. Gemeint war natürlich der »Elias«, den er aus pragmatischen Gründen jetzt wieder in Angriff nahm. In diesem Zusammenhang wandte er sich erneut an Schubring, dem er am 16. Dezember 1845 den von ihm berarbeiteten Text des »Elias« mit den Worten zusandte: »Ich bitte Dich, hilf mir tüchtig daran, und schick ihn mir mit recht vielen Bemerkungen am Rande (d. h. Bibelstellen und dergleichen) recht bald wieder.«60 Denn woran es dem Libretto bislang mangelt, sind in Mendelssohns Augen »die allgemein gültigen, allgemein eindringlichen Betrachtungen und Worte«.61 Probleme bereitet ihm aber vor allem der Schluss des Oratoriums. Mit Schubring ist Mendelssohn sich darin einig, dass gegen Ende das Dramatische zugunsten des Erhebenden zurücktreten müsse. »Die letzten Nummern, dächte ich, sollten auch die Niedrigkeit Gottes zu Gemüthe führen – woran es sonst im Oratorium mangelt«. Bewirkt werden solle dies durch die Theophanie. Doch wie der Schluss nach der Theophanie sich gestalten sollte, darüber ist Mendelssohn sich nicht im Klaren. »Zur biblischen Geschichte gehört Elisa als Nachfolger nothwendig; wir sehen da, wie der prophetische Gottesgeist sich durch Offenbarungen Gottes von einem Geschlecht zum andern fortsetzt. Aber das Oratorium muß sich abrunden.«62 Was Mendelssohn dann als Schluss vorschlägt, ist völlig vage. Er wolle »die besondere Bedeutung, die Elia in der Schrift hat, als Schlußverklärung zufügen (siehe Maleachi4, 5. 6 [die letzten Worte 58 59 60 61 62

AaO. 149. AaO. 154. AaO 204. AaO. 205. AaO 213.

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des Alten Testaments] vergleiche 3, 1 – Was nachher Matth.11, 14 auf Johannes gedeutet wird und der Anfang des Evangeliums heißt Marc.1, 2. Sodann siehe Matth.17, 3 (Vers 1–13) – Welches letztere als Vision das Oratorium beschließen müßte).«63 Maleachi4, 5f – oder in alternativer Zählung Mal3, 23f. – lautet: »Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern, auf dass ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage.« Die gleichfalls herangezogene Stelle Mal3, 1 lautet im ersten Teil: »Siehe, ich will meinen Boten senden, der vor mir her den Weg bereiten soll.« In Mt11, 14 identifiziert Jesus den Täufer mit dem wiederkehrenden Elias von Mal3, 23f, und Mk1, 2 zitiert Mal3, 1, wobei der hier angekündigte Bote gleichfalls mit dem Täufer identifiziert wird. Mt17, 3 heißt es im Zusammenhang der Verklärung Jesu: »Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit Jesus«. Mendelssohn gewinnt durch die neutestamentliche Identifikation des zu Umkehr und Buße aufrufenden Täufers mit dem wiederkommenden Elias den Schlüssel zu seiner Deutung der alttestamentlichen Eliasgestalt. »Hieraus ergibt sich mir die Hauptbedeutung des Elias, nämlich daß er der Inbegriff der Bußpredigt ist; Moses, der Gesetzprediger; und in Gegenwart von Mose und Elia geschieht Christi Verklärung als dessen, der Gesetz und Bußpredigt nicht allein im höchsten Sinne in sich aufnimmt, sondern der auch die Gnade des Evangeliums dazu gibt, auf daß diejenigen, welche durch jener Predigt geschlagen sind, geheilt werden.«64 Vom Täufer her wird Elia so als Bußprediger verstanden und in das theologische Raster von Gesetz und Evangelium eingeordnet. Diejenigen, die durch die Verkündigung des Gesetzes und die Aufforderung zur Umkehr in die Verzweiflung getrieben werden, werden durch die Gnadenzusage des Evangeliums erlöst. Die neutestamentliche Deutung Elias als eines Bußprediger sieht Mendelssohn aber auch im Alten Testament bezeugt, nämlich in Sir48, 1, wo es heißt: »Der Prophet Elia brach hervor wie ein Feuer, und sein Wort brannte wie eine Fackel.« Der Entwurf des Schlusses, den Mendelssohn an Schubring sandte, sah folgendermaßen aus. Er beginnt mit Ex34, 6: »Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue«, gefolgt von einem Rezitativ auf Hebr4, 9: »Es ist also noch Ruhe vorhanden für das Volk Gottes«, der Arie auf Joh10, 14: »Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich« und dem Chor mit Ps23. Der Schluss zeugt somit von einem Wandel des Gottesbildes. Aus dem zornigen wird der gnädige Gott, was christologisch untermauert wird. Im Anschluss an diesen Eingang leitet ein Rezitativ mit den Worten aus 1Kön2, 1 – »Da aber der Herr Elia im Wetter gen Himmel holen wollte« – zu dem gemeinsam von Elia und dem Chor gesungenen Lutherchoral »Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gottes Wille« über. In den Chor hinein singt dann Elisa: »Mein Vater, mein Vater«, woraufhin der Chor fortfährt mit den Worten: »Die Erde bebte und ward bewegt in den Grundvesten«.65 Danach beginnt eine Stimme Mt13, 43 – »Dort werden die Gerechten leuchten« – zu singen, und nach und nach fallen immer mehr Stimmen ein. Es folgt als Rezitativ der Buß63 Ebd. 64 AaO. 213f. 65 AaO. 214.

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ruf des Täufers Mt3, 2: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen«, verbunden mit Jes40, 3. 5: »In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen«. Was dann folgt, ist ein Terzett, gesungen von den bei der Verklärung anwesenden Jüngern Petrus, Jakobus und dessen Bruder Johannes, also den beiden Zebedaiden, dem ausschließlich neutestamentliche Stellen zugrunde liegen: »Und das Wort ward Fleisch« (Joh1, 14), »Und er wurde verklärt vor ihnen« (Mt17, 2), »Und siehe, zwei Männer redeten mit ihm; das waren Mose und Elia« (Lk9, 30) und »Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge« (2Petr1, 18). Dann ertönt die Stimme des Herrn, wobei als Text zwei Alternativen vorgeschlagen werden, entweder Off3, 21 – »Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen« – oder Off21, 4 – »Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen«. Der Schlusschor singt daraufhin eine Verbindung von Off12, 10 und Off11, 15: »Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes und seines Christ geworden, und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit«. Von diesem Entwurf rückt Mendelssohn allerdings in den kommenden Monaten ab. Vor allem stört ihn das Terzett. Er hält es für »zu historisch und zu sehr aus der Haltung des (alttestamentlichen) Ganzen entfernt«.66 An seiner Stelle möchte er einen Chor, und überhaupt plant er jetzt am Schluss »Feier-Chöre«.67 Mendelssohn plädiert also für eine Streichung der Verklärungsszene, die die mit der Himmelfahrt endende Eliageschichte mit den Evangelien, also Altes und Neues Testament miteinander verbindet. Wenngleich er sich selbst der Bedeutung Elias als des im Täufer wiederkehrenden Bußpredigers, der somit auf Christus vorausweist, bewusst ist, scheint ihm die Integration der Verklärung Jesu in das Oratorium dessen alttestamentlichen Rahmen zu sprengen. Daher tritt er für ein rein alttestamentliches Oratorium im Sinne Händels ein. Schubring hingegen besteht auf einem neutestamentlichen Schluss. In dem letzten Brief an Mendelssohn vom 15. Juni 1846 schreibt er: »Ich erkenne jetzt mit der bestimmtesten Klarheit, daß das Oratorium keinen anderen als neutestamentlichen Schluß haben darf, indem sowohl das Alte Testament (Maleachi) als auch das Neue Testament dies zu bestimmt fordert. Elias muß den alten Bund zum neuen verklären helfen, das ist seine große geschichtliche Bedeutung. Mag Händel in seinen alttestamentlichen Oratorien sich auf dem engen Gebiet allein bewegen – Leute wie Saul u. s. w. sind auch nichts weiter – bei dem Elias und bei Dir, zu unserer Zeit, muß es anders sein.«68

Mendelssohn hat sich nicht an die theologischen Vorgaben Schubrings gehalten. Von den zahlreichen neutestamentlichen Bibelstellen, die Schubring dem Komponisten vorgeschlagen hatte, gehen nur zwei ins endgültige Libretto ein. Bei der Theophanie auf dem Horeb singt der Chor Mt24, 13: »Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig«, und am Ende der Himmelfahrtsszene liegt der Tenorarie Mt13, 43 zugrunde: »Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich«. Alle sonstigen 66 AaO. 221. 67 Ebd. 68 AaO. 222.

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neutestamentlichen Stellen sind gestrichen. Dasselbe gilt für die Verklärungsszene mit den Worten aus der Johannesoffenbarung. Das bedeutet nun aber nicht etwa, dass Mendelssohn jeden Bezug des Eliasstoffs zum Neuen Testament aufgegeben hätte. Vielmehr schließt das Oratorium, indem auf ein Rezitativ auf das vom Komponisten immer schon favorisierte Ende des Alten Testaments Mal3, 23f. ein Chor mit Quartett folgt, der außer der Doxologie Ps8, 2 nur Texte aus Jesaja enthält, die in diesem Kontext als messianische Weissagungen auf Christus hin gelesen werden müssen. Am Anfang steht Jes41, 25: »Aber einer erwacht von Mitternacht, und er kommt vom Aufgang der Sonne, der wird den Namen des Herrn predigen und über die Gewaltigen gehen«. Es folgen Jes42, 1: »Das ist sein Knecht, sein Auserwählter, ab welchem seine Seele Wohlgefallen hat«, Jes11, 2: »Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rats und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn« und Jes55, 1. 3: »Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt zum Wasser, kommt her zu ihm! Und neigt euer Ohr, und kommt zu ihm, so wird eure Seele leben.« Der Schlusschor singt dann Jes58, 8: »Alsdann wird euer Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und eure Besserung wird schnell wachsen, und die Herrlichkeit des Herrn wird euch zu sich nehmen.« Mendelssohn weicht also nicht etwa deshalb von seinem ursprünglichen Entwurf mit der Verklärungsszene ab, weil er den neutestamentlichen Bezug streichen möchte. Das wäre auch merkwürdig angesichts der Tatsache, dass sich ihm die Bedeutung der Eliasgestalt von der Bußpredigt des Täufers und dessen Hinweis auf Christus her erschlossen hatte. Was ihn an der Verklärungsszene störte, war nicht der christologische Bezug, sondern die Tatsache, dass hier am Schluss eines Oratoriums, das einer alttestamentlichen Gestalt gewidmet ist, eine neutestamentliche Szene aus den Evangelien angehängt wird. Den christologischen Bezug meinte Mendelssohn auch ohne einen derartigen Ausgriff auf die Evangelien rein inneralttestamentlich durch die messianischen Weissagungen aus dem Jesajabuch herstellen zu können. Mendelssohn berücksichtigt somit durchaus Schubrings theologisches Anliegen, einen Bezug zum Neuen Testament und zu Christus herzustellen, allerdings ohne den Rahmen des Alten Testaments zu überschreiten.

3. Schleiermacher und die messianischen Weissagungen Indem sowohl Mendelssohn als auch Schubring die Gestalt des Elias als Vorläufer Christi deuten, wobei der christologische Bezug beim Komponisten durch die messianischen Weissagungen unterstrichen wird, teilen sie nicht die damals verbreitete Kritik am traditionellen Umgang mit den alttestamentlichen Weissagungen und an der Gültigkeit des Alten Testament auch für die christliche Gemeinde. Damit weicht Schubring aber auch entschieden von seinem theologischen Lehrer Schleiermacher ab, der dem Alten Testament ja die normative Dignität für die Kirche abspricht. Schubring und Mendelssohn erweisen sich in dieser Hinsicht als durchaus konservativ. Ziehen sie schon im »Paulus« alttestamentliche Verse heran, so deuten sie im »Elias« den alttestamentlichen Propheten

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als Vorläufer Christi. Mit dieser Sichtweise schließen sie sich theologisch nicht Schleiermacher, sondern eher jener Richtung an, die sich gegen dessen Abwertung des Alten Testaments wendet. Auf diese gegensätzliche Beurteilung des Alten Testaments soll im Folgenden etwas ausführlicher eingegangen werden. Bereits in der »Kurzen Darstellung des theologischen Studiums« von 1811 hatte Schleiermacher erklärt: »Den jüdischen Kodex mit in den Kanon ziehen, heißt, das Christentum als eine Fortsetzung des Judentums ansehn, und streitet gegen die Idee des Kanon.«69 Grundsätzlich hat sich an dieser Position auch in der zweiten Auflage der theologischen Enzyklopädie von 1830 nichts geändert. Vielmehr geht er hier von der Annahme aus, dass wohl bald allgemein werde, dass »der jüdische Kodex keine normale Darstellung eigentümlich christlicher Glaubenssätze enthalte«.70 Gerade weil dem aber so sei, sei es auch nicht erforderlich, den altkirchlichen Brauch aufzugeben, der das Alte Testament mit dem Neuen zu einem Ganzen vereinigt. Doch letztlich können die alttestamentlichen Bücher nicht mehr sein als »das allgemeinste Hilfsbuch zum Verständnis des Neuen Testamentes«.71 In der Erstauflage der Dogmatik »Der christliche Glaube« von 1821/22 findet sich zum Lehrstück »Von der heiligen Schrift« der Zusatz: »Die alttestamentischen Schriften verdanken ihr Aufgenommensein in unsern Kanon theils den Berufungen der neutestamentischen auf sie, theils dem geschichtlichen Zusammenhang des christlichen Gottesdienstes mit der jüdischen Synagoge, ohne daß sie deshalb die normale Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen Schriften theilen.«72 Dass er diesen Satz als Zusatz anhängt, begründet Schleiermacher damit, dass er nicht der herrschenden Vorstellung und Behandlungsweise entspreche und daher noch nicht als kirchlicher Lehrsatz, das heißt als Ausdruck des Gemeindebewusstsein, geltend gemacht werden könne. Allerdings erwartet er seine allmähliche dogmatische Anerkennung, zumal »er ein sehr unmittelbarer Ausdruk einer sehr allgemeinen christlichen Empfindungs- und Handlungsweise ist. Denn wir dürfen nur fragen, was für ein Gebrauch in der nichttheologischen christlichen Welt vom alten Testament gemacht wird im Vergleich mit dem neuen, um den Unterschied, den der fromme Sinn der Christen macht, anzuerkennen, daß er nämlich die erbauliche normale Kraft, welche doch die ursprüngliche ist, dem alten Testament nicht zuerkennt«.73

Sogar unter den edelsten Psalmen finde sich kaum einer, der nicht etwas enthalte, was sich die christliche Frömmigkeit nicht als ihren reinsten Ausdruck aneignen könne. Daher fordert Schleiermacher auch den völligen Verzicht auf den traditionellen Beweis christlicher Lehrsätze durch alttestamentliche Bibelstellen, zumal dieses Verfahren 69 F.D.E. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg.v. H. Scholz, Darmstadt 1977, 47 Anm. 2. 70 AaO. 47. 71 AaO. 56. 72 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt« (1821/22), Teilband 2, hg.v. H. Peiter, Berlin/New York 1980, 236. 73 AaO. 237.

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»der christlichen Hermeneutik zum Nachtheil gereicht«.74 Die alttestamentlichen Stellen konnten aber nur deshalb als Beweis christlicher Lehrsätze dienen, weil sie als von Gott inspiriert galten. Schleiermacher sieht eine durchgängige Eingebung der alttestamentlichen Schriften auch nicht durch das Neue Testament begründet. »Denn auf den innern Antrieb des Geistes werden nur die Weissagungen bezogen und zwar nur die messianischen«.75 Während er das Gesetz, das die Geschichtsbücher und mehrheitlich auch die Propheten bestimmt, nicht auf denselben Geist zurückführt, möchte er den messianischen Weissagungen ihr Recht nicht absprechen. Aber »wie sie das Evangelium sind vor dem Evangelium, so gehören sie auch dem Geist an vor dem Geist, d. h. den vorandeutenden Regungen desselben ehe er über alles Fleisch ausgegossen und als Gemeingeist der christlichen Kirche organisirt war«.76 Weil aber im Neuen Testament Christus und die Apostel sich auf das Alte Testament als eine göttliche Autorität berufen, ist es trotz der Ungleichheit der Schriften des alten und des neuen Bundes zu deren äußerer Verknüpfung und damit scheinbaren Gleichsetzung gekommen. Zwar sind es nur die prophetischen Schriften und die Psalmen, welche neutestamentlich als göttlich autorisiert ausgegeben werden. Da sie aber Teil einer größeren jüdischen Schriftensammlung sind, ist das ganze Alte Testament in den christlichen Kanon mit aufgenommen worden. »Doch ist auch die Praxis nicht zu verwerfen, sondern für den gemeinen Gebrauch vielmehr vorzuziehen, daß man dem neuen Testament nur die Psalmen und die messianischen Weissagungen als Anhang beifügt«.77 Schleiermacher lehnt somit auch den traditionellen Weissagungsbeweis ab. Denn die Weissagungen der jüdischen Propheten würden für das Christentum nur Beweiskraft haben, wenn man die Inspiriertheit der Propheten voraussetzen könnte. In diesem Fall würde aber »das Christenthum schon eine frühere Offenbarungsformation als Grundlage unter sich« haben.78 Der Einwand dagegen lautet bei Schleiermacher: »Allein theils können wir nicht unseren festeren Glauben an das Christenthum auf unsern unstreitig minder kräftigen an das Judenthum gründen wollen; theils auch kann niemals befriedigend nachgewiesen werden, daß jene Profeten Christus, so wie er wirklich gewesen, und das Christenthum, so wie es sich wirklich entwikkelt hat, vorhergesagt haben, und somit verschwindet in dieser Hinsicht der bestimmte Unterschied zwischen Weissagung und unbestimmter Ahndung.«79

Von daher bestimmt Schleiermacher auch das Wahrheitsmoment des alten Weissagungsbeweises. Denn die eigentliche Bedeutung der messianischen Weissagung besteht für ihn darin, »daß sich, angeregt durch frühere wenngleich an sich unzureichende Offenbarungen, auch die Sehnsucht nach Erlösung hie und da auf eine unverkennbare Art werde ausgesprochen haben«.80 Die wahre Beweiskraft der Weissagung soll also darin liegen, 74 75 76 77 78 79 80

Ebd. Ebd. AaO. 237f. AaO. 238. Ders., Der christliche Glaube, Teilband 1, hg.v. H. Peiter, Berlin/New York 1980, 84. Ebd. AaO. 85.

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dass sich in ihr ein »Hinstreben der menschlichen Natur nach dem Christenthum« ausdrückt.81 Die Ausdrücke eines solchen Hinstrebens sind aber – wie die frühchristlichen Apologeten richtig sahen – nicht auf das Judentum beschränkt, sondern finden sich ebenso im paganen Bereich. Das bedeutet aber für Schleiermacher zugleich, dass die dem Christentum vorangehenden frommen Gemeinschaften nur als etwas Vorläufiges angesehen werden können. Wenn die Weissagungen jedoch nurmehr Ausdruck einer Erlösungsbedürftigkeit sind, dann fällt die für den alten Weissagungsbeweis notwendige genaue Übereinstimmung zwischen Weissagung und Erfüllung dahin, »und aus diesem Gesichtspunkt kann man den Eifer Weissagungen aufzufinden, welche sich auf zufällige Nebenumstände in der Geschichte Christi beziehen, kaum anders als für einen Mißgriff erklären«.82 Schleiermacher steht mit seiner Preisgabe der traditionellen Deutung der messianischen Weissagungen nicht allein. Bereits der Hallenser Kantianer Johann Heinrich Tieftrunk bestreitet in seiner 1791 erschienenen »Censur des christlichen protestantischen Lehrbegriffs nach den Principien der Religionskritik« grundsätzlich die Beweiskraft der prophetischen Weissagungen. Wie die Wundererzählungen lassen sich in seinen Augen auch die vermeintlichen Weissagungen nicht auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüfen. Er ist überzeugt, »daß es auch nicht eine einzige unter ihnen gibt, von deren Realität wir uns jetzt hinlänglich überzeugen könnten«.83 Tieftrunk betrachtet die Weissagungen der jüdischen Propheten nicht als wirkliche Vorhersagen künftiger Ereignisse, sondern als ein übliches antikes Stilmittel. »Es war Sitte des Alterthums, in dichterischer Sprache und weissagendem Tone zu reden. Es war der Politik und Menschenkenntniß sehr angemessen, alles im Namen der Götter, des Jehova der Aegyptier, des Jehova der Juden, zu verkündigen oder zu thun. Denn nur dadurch fand man Eingang bei einem für das kalte Räsonnement noch unempfänglichen Volke.«84 Doch nicht nur die prophetischen Weissagungen spielen für Tieftrunk keine Rolle mehr. Das Alte Testament als ganzes hat ihm zufolge für die Christen um der Religion willen keine Bedeutung mehr. Unsere Religionslehren entnehmen wir nicht dem Alten Testament, dessen Schriften uns vielmehr nur deshalb nötig sind, »um uns die Lehrmethode und den Vortrag Christi und seiner Apostel zu erklären und die Winke zu verstehen, welche er im alten Testamente als auf sich deutend betrachtet wissen will«.85 So erhofften die Juden einen Messias, und Jesus greift diese Idee etwa in Joh5, 39 auf, um den Juden zu verstehen zu geben, dass er derjenige sei, den sie erhofften. Diese Interpretation der Aufnahme der Messiasidee durch Jesus macht deutlich, dass Tieftrunk die messianischen Weissagungen gar nicht als auf Christus gerichtete, von Gott inspirierte Weissagungen begreift. Vielmehr werden sie von Jesus und den Aposteln im Rahmen ihrer Akkommodation an die jüdische 81 Ebd. 82 AaO. 86. 83 J.H. Tieftrunk, Censur des christlichen protestantischen Lehrbegriffs nach den Principien der Religionskritik, 1. Teil, 2. Aufl., Berlin 1796, 318. 84 AaO. 319. 85 AaO. 240.

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Vorstellungswelt so gedeutet. Im Rationalismus spielen die messianischen Weissagungen als Beweise für die Messianität Jesu in der Folgezeit keine Rolle mehr. Selbst ein bibelorientierter, moderater Rationalist wie der Gothaer Generalsuperintendent Karl Gottlieb Bretschneider gibt in seinem 1814 erschienenen »Handbuch der Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche« ihre orthodoxe Interpretation preis. »Ehemals betrachtete man sie als von Gott selbst zur Charakterisirung des Messias besonders ausgestellte Vorhersagungen, und man ging dabei von den Vorstellungen aus: Gott habe beschlossen, dem gefallenen menschlichen Geschlechte durch einen außerordentlichen Gesandten (Messias) wieder zu helfen, und, theils um die Hoffnungen der Menschen auf Begnadigung zu beleben, theils aber und hauptsächlich, um in der Person dieses Gesandten nicht zu irren, in den früheren Offenbarungen des A. T., durch die Propheten, die Person des Messias und seine Schicksale auf das Genaueste vorhersagen und ankündigen lassen.«86

Im Rahmen einer sogenannten prophetischen Theologie schloss man dann, dass Jesus der Messias sein müsse, weil auf ihn alle in den messianischen Weissagungen erwähnten Eigenschaften zuträfen. Doch handelt es sich dabei Bretschneider zufolge um einen Zirkelschluss. »Zwar verließen sich die ältern Theologen allein auf das N. T., und behaupteten, daß alle Stellen des alten Testaments, welche Jesus und die Apostel als Weissagungen anführen, auch Weissagungen seyn müßten; denn sie, als göttliche Gesandte, müßten das A. T. am richtigsten auslegen können. Da jedoch aus den Weissag. erst bewiesen werden soll, daß Jesus göttlicher Gesandter war; so darf man den Beweis, daß es Weissag. gebe, nicht aus Jesu göttl. Ansehen führen, ohne einen Zirkel zu machen.«87

Bretschneider selbst ist der Meinung, dass zum einen die Stellen, die man für Weissagungen hält, zumeist nichtmessianisch gedeutet werden können, und dass sich zum anderen ihre messianische Deutung durch die neutestamentlichen Autoren der Akkommodation an die jüdische Leserschaft verdankt. Auch zweifelt Bretschneider nicht daran, dass Jesus selbst alttestamentliche Stellen als Weissagungen auf ihn gedeutet habe. Zudem finde sich im Alten Testament tatsächlich die Ankündigung eines großen Gottgesandten aus dem Stamme Davids, der als Stifter einer neuen religiösen Ökonomie vorgestellt werde. Daher habe man dem alten Weissagungsbeweis in jüngster Zeit eine neue Deutung verliehen, die Bretschneider selbst auch teilt. »Ohne sich auf die Deutung jedes einzelnen Umstandes in den Weissag. oder den im N. T. angeführten Stellen des A. T. einzulassen, hat man mehr auf das Ganze gesehen: daß nämlich durch Veranstaltung der göttl. Vorsehung die Erwartung eines außerordentlichen göttlichen Gesandten bei den Juden erregt, bis auf einen gewissen Grad ausgebildet, und dieses Volk dadurch vorbereitet worden sey, Jesum als göttlichen Gesandten anzuerkennen und willig aufzunehmen«.88 86 K.G. Bretschneider, Handbuch der Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. 1, 2. Aufl., Leipzig 1822, 167f. 87 AaO. 169. 88 AaO. 173.

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Die sogenannten messianischen Weissagungen sind somit für Bretschneider nicht mehr als »eine allgemeine von der Vorsehung getroffene Einleitung auf die Entstehung des Christenthums unter dem jüdischen Volke«.89 Schleiermacher bewegt sich mit seiner Ablehnung der normativen Bedeutung des Alten Testaments und der Kritik an der traditionellen Deutung der messianischen Weissagungen somit ganz im Rahmen des zeitgenössischen Rationalismus. Er begegnet daher auch dem damaligen Wiederaufleben der traditionellen Deutung der Weissagungen mit Ablehnung. Im zweiten Sendschreiben an Lücke von 1829 heißt es: »Einige unserer Theologen, der würdige Steudel an der Spitze, thun zwar redlich das ihrige; aber ich fürchte, daß mit feinen Distinctionen nicht viel auszurichten seyn wird in der Sache; und auch unser Freund Sack, der diesem Gegenstande einen so großen Raum gegönnt hat in seiner Apologetik, und ihn mit so vieler Liebe und Treue bearbeitet, wird doch, fürchte ich, nicht für gar lange Zeit gearbeitet haben.«90 Tatsächlich grenzt sich der Tübinger Supranaturalist Steudel in seiner 1828 erschienenen Abhandlung »Die Frage über die Ausführbarkeit einer Annäherung zwischen der rationalistischen und supranaturalistischen Ansicht, mit besonderer Rücksicht auf den Standpunkt der Schleiermacherschen Glaubenslehre« von Schleiermachers Deutung der alttestamentlichen Weissagungen entschieden ab. Folgt man Steudel, so wird »die messianische Idee [. . . ] von den frühesten Zeiten an im A. T. ausgesprochen, bildet sich durch den Lauf der Zeiten hindurch immer allseitiger aus, wird auch in den Zeiten, welche gegen die jemals zu hoffende Verwirklichung derselben am entschiedensten zu zeugen schienen, mit aller Stärke und Innigkeit festgehalten, und hat sich dann im Christenthume und in dessen Stifter aufs herrlichste verwirklicht«.91 Karl Heinrich Sack, der sich für sein Unternehmen einer »Christlichen Apologetik« ausdrücklich auf ihn beruft, setzt sich in seiner Deutung der Weissagungen 1829 von Schleiermacher ab und vertritt einen dezidiert suprarationalistischen Standpunkt. Zwar wendet er sich gleichfalls gegen die orthodoxe Ansicht, »nach welcher aller Werth der Weissagung auf der Erfüllung in dem äußeren Leben des Heilandes beruht«.92 Denn dadurch würde die Weissagung zu einem bloßen Vorherwissen dessen, was später geschieht. Aber Schleiermacher kritisiert er, »weil die Weissagung hier nicht als aus wahrhaftiger Offenbarungserleuchtung stammend angesehen wird«.93 Damit werde jedoch ihr eigentlicher Wert gar nicht erkannt. Schleiermachers Zugeständnis, dass man auf dem Boden des christlichen Glaubens die sogenannten Weissagungen als subjektiven Ausdruck der Erlösungssehnsucht verstehen dürfe, ist Sack zuwenig. Denn seiner eigenen Meinung nach »ist die Weissagung die aus Offenbarung hervorgehende Bezeugung des Heils, und zwar eine geisterfüllte, die höchsten Begriffe versinnlichende Rede«.94 Die Weissagungen dienen ebenso wie die typologischen Vorbilder des Alten 89 AaO. 167. 90 F.D.E. Schleiermacher, Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke, Zweites Sendschreiben, in: KGA 10, 353. 91 AaO. 353, Anm. zu 1f. 92 Karl Heinrich Sack, Christliche Apologetik 1829, 212. 93 AaO. 213. 94 AaO. 214.

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Testaments vor ihrer Erfüllung in Christus zur Erweckung frommer Hoffnung auf das Heil. Wie sehr Schleiermacher die Kritik an dieser traditionellen Deutung der messianischen Weissagungen am Herzen lag, belegt die Tatsache, dass er in seinem »Zweiten Sendschreiben« ausführlich auf sie eingeht. »Hoffen Sie«, fragt er Lücke, »daß die bisherige Behandlung der messianischen Weissagungen und nun gar der Vorbilder noch lange Zeit Glauben finden wird unter denen, in welchen sich eine gesunde und lebendige Anschauung geschichtlicher Dinge gebildet hat? Wenn ich die Zeichen der Zeit recht verstehe, kann ich es nicht glauben.«95 Den Glauben »an eine bis zu einem gewissen Zeitpuncte fortgesetzte besondere Eingebung oder Offenbarung Gottes in dem jüdischen Volk« hält er angesichts der historischen Kritik für keinem mehr zumutbar.96 Daher vertritt er die These, »daß der Glaube an die Offenbarung Gottes in Christo von jenem Glauben auf keine Weise irgend abhängig ist«.97 Zu dieser These ist Schleiermacher nicht erst im Laufe der Zeit gelangt, sondern er hat sie schon immer vertreten. »Diese Ueberzeugung, daß das lebendige Christenthum in seinem Fortgange gar keines Stützpunctes aus dem Judenthum bedürfe, ist in mir so alt, als mein religiöses Bewußtseyn überhaupt. Für ein freudiges Werk kann ich dieses Bestreben, Christum aus den Weissagungen zu beweisen, niemals erklären, und es thut mir leid, daß sich noch immer so viel würdige Männer damit abquälen.«98 Zumeist sei dies nur erklärlich aus einer Anhänglichkeit an das unvollkommene Wesen des alten Bundes und seiner Urkunden, die wir, die wir doch im Besitz eines vollkommeneren Bundes sind, aufgeben sollten. Die Kritik an den messianischen Weissagungen und am Alten Testament, die Schleiermacher in seinem zweiten Sendschreiben an Lücke übt, stieß aber selbst im Lager der Freunde Schleiermachers auf Widerspruch. So fragte der frühere Berliner Kollege Friedrich Bleek, der 1829 nach Bonn gewechselt war, brieflich an, warum man denn nicht noch jetzt am Alten Testament seine Freude haben dürfe.99 In seiner Antwort stellt Schleiermacher jedoch klar, dass seine Abwertung des Alten Testaments nur aus dogmatischen Gründen erfolgt sei. »Sobald man es als eine religiöse Geschmackssache gelten läßt habe ich ja gar nichts dawider; aber der dogmatischen Adhibition des alten Testaments verdanken wir doch entsetzlich viel übles in unserer Theologie.«100 Gegenüber Sack räumt Schleiermacher ein, dass er den Begriff des messianischen Vorbilds zwar zulasse, ihn aber nicht auf das Alte Testament beschränke. Er möchte ihn vielmehr verstanden wissen im Sinne von Hebr10, 1: »Das Gesetz hat nur einen Schatten von den zukünftigen Gütern, nicht das Wesen der Güter selbst.« »Alle Institutionen, welche aus demselben Bedürfniß zu begreifen sind, zu dessen wahrer Befriedigung die Erlösung eingesezt ist, sind mir solche [. . . ] Vorbilder, heidnische nicht minder als jüdische.«101 Messianische Vorbilder sind somit für Schleiermacher nur deutliche Zeugnisse 95 F.D.E. Schleiermacher (Anm. 90), 352f. 96 AaO. 353. 97 Ebd. 98 AaO. 354. 99 KGA I,10, LXXVIf. 100 F.D.E. Schleiermacher, Briefe, Bd. 4, 396. 101 AaO. 403.

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der Erlösungsbedürftigkeit, die sich wie im Judentum so auch im Heidentum finden. Der schärfste Angriff auf Schleiermachers Behandlung der messianischen Weissagungen kam jedoch aus der eigenen Fakultät. Denn im Dezember 1829 erschien in der »Evangelischen Kirchen-Zeitung« ein ausführlicher Beitrag von Ernst Wilhelm Hengstenberg, betitelt »Ueber Schleiermacher. (Auch ein Sendschreiben.)«. Hengstenberg, erst kurz zuvor als Nachfolger de Wettes zum ordentlichen Professor für alt- und neutestamentliche Exegese ernannt und Haupt der Neoorthodoxie, verteidigte in ihm unter anderem den Glauben an die Göttlichkeit des Alten Testaments, der auf dem Glauben an Christus den Gekreuzigten gründe.102 Kurz darauf, im Januar 1830, legte Hengstenberg mit dem Artikel »Ueber Dr. Schleiermacher’s Behauptung der Unkräftigkeit und Entbehrlichkeit der messianischen Weissagungen« noch einmal nach. Bereits in seinen Lizentiatenthesen von 1825 hatte er ein spezifisch christliches Verständnis des Alten Testaments gefordert. So erklärte die erste These ganz steil: »Um das Alte Testament zu verstehen, genügt nicht die Philologie; es ist ein Gemüt erforderlich, dem die Herrlichkeit Christi aufgegangen ist«. These 4 lautet: »Die Messiasidee im Alten Testament ist keine menschliche Erfindung, sondern wahrhaftig von Gott; diese Idee ist bei allem Propheten aller Zeiten eine und dieselbe, obschon ihr bei den einzelnen mehr oder weniger von menschlicher Schwäche anhaftet«.103 In seinem Werk »Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten« kann Hengstenberg daher 1829 erklären: »Der Hauptzweck der Messianischen Weissagung aber war der, auf Christus also vorzubereiten, daß er aus der Vergleichung der Weissagung mit der Erfüllung als solcher erkannt werden konnte«.104 Gegenüber allen, die den von den Propheten geweissagten Messias mit einer irdischen Herrschergestalt identifizieren, hält Hengstenberg fest: »Zu dieser Ansicht können sich aber nur diejenigen bekennen, denen das Ansehen unseres Herrn, dessen heiliger Mund nicht lügen und nicht irren kann, und seiner Apostel nichts gilt, die durch ihn über den Sinn der Weissagungen des A[lten] B[undes] belehrt und durch denselben Geist in alle Wahrheit geführt wurden, der aus den Propheten redete«.105 Schleiermacher hält aber auch in der zweiten, überarbeiteten Auflage seiner »Glaubenslehre«, die 1830/31 erscheint, an seiner Kritik der traditionellen Auffassung der messianischen Weissagungen, wie sie von Hengstenberg restauriert wird, fest. Zwar ist er sich durchaus der Vorliebe bewusst, »sich als Ausdruck für das fromme Selbstbewußtsein alttestamentarischer Sprüche zu bedienen«.106 Das sei aber – wie er kritisch anmerkt – »fast immer mit einer gesetzlichen Denkweise oder einem unfreien Buchstabendienst verbunden«.107 Selbst die edelsten Psalmen enthielten doch immer etwas, was 102 EKZ 1829, Nr. 99, 785ff. 103 Johannes Bachmann, Ernst Wilhelm Hengstenberg. Sein Leben und Wirken nach gedruckten und ungedruckten Quellen, Bd. 1, Gütersloh 1876, 333. 104 E.W. Hengstenberg, Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten, Bd. I/1, Berlin 1829, 18. 105 AaO. 254. 106 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg.v. Martin Redeker, Bd. 2., 7. Aufl., Berlin 1960, 306. 107 Ebd.

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die christliche Frömmigkeit sich nicht als ihren eigenen Ausdruck aneignen könne, »so daß man sich erst durch unbewußtes Zusetzen und Abnehmen selbst täuschen muß, wenn man meint, aus den Propheten und Psalmen eine christliche Lehre von Gott zusammensetzen zu können«.108 Auch wenn man in der traditionellen Theologie fast alle christlichen Glaubenssätze mit alttestamentlichen Stellen zu belegen versucht hat, »zeigt die Geschichte der christlichen Theologie deutlich genug, wie sehr dieses Bestreben, unsern christlichen Glauben im alten Testament zu finden, teils unserer Anwendung der Auslegungskunst zum Nachteil gereicht hat, teils auch die die weitere Ausbildung der Lehre und den Streit über die näheren Bestimmungen derselben mit unnützen Verwicklungen überhäuft«.109 Schleiermacher fordert daher, dass man die alttestamentlichen Beweise für spezifisch christliche Glaubenslehren ganz aufgibt. Wenn man trotz des Verlustes ihrer normativen Dignität die alttestamentlichen Schriften, auf die Christus und die Apostel sich berufen haben, gleichwohl noch aufbewahrt, so geschieht dies ausschließlich aus geschichtlicher Treue und um der Vollständigkeit willen. Allerdings meint Schleiermacher, dass es dem richtigen Verständnis des Verhältnisses von Neuem und Altem Testament angemessener wäre, »wenn das alte Testament als Anhang dem neuen folgte, da die jetzige Stellung nicht undeutlich die Forderung aufstellt, daß man sich erst durch das ganze A. T. durcharbeiten müsse, um auf richtigem Wege zum Neuen zu gelangen«.110 Schleiermachers Verständnis des Alten Testament schließt es aus, es zusammen mit dem Neuen Testament als eine Einheit zu lesen, die den Übergang vom alten zum neuen Bund dokumentiert, wobei der Übergang bereits im Alten Testament geweissagt wird. Das Schema von Weissagung und Erfüllung lehnt er ab, da er mit Paulus das Gesetz für abrogiert und damit auch die Geschichtsbücher und die Propheten für christlich unbedeutend erklärt, da sie sich in erster Linie auf das Gesetz beziehen. Selbst die messianischen Weissagungen, die sich bei den Propheten finden, sind für Schleiermacher nur der Ausdruck von dem »Bewußtsein der Erlösungsbedürftigkeit [. . . ] sich als Ahndung einer mehr inneren und geistigen Gottesherrschaft aussprechend«.111 Der Glaube, der uns Anteil an der christlichen Gemeinschaft verleiht, ist aber nicht eher in einem einzelnen Menschen, bis in ihm durch einen von Christus empfangenen Eindruck eine reale »Ahndung« von der Aufhebung des Zustandes der Erlösungsbedürftigkeit vorhanden ist. Die messianischen Weissagungen konnten nur für die Juden eine Bedeutung haben, da sie sie auf Jesus als Erlöser anwandten.112 Aber ein allgemeiner Beweis dessen, dass Jesus von Nazareth der Erlöser ist, lässt sich mit den messianischen Weissagungen nicht führen. »Zumal wenn wir bedenken, [. . . ] daß sich [. . . ] niemals wird nachweisen lassen, daß jene Propheten Christum, wie er wirklich gewesen ist, und noch weniger das Messianische Reich, so wie es sich wirklich als Christentum entwickelt hat, vorhergesehen haben: so muß wohl 108 Ebd. 109 AaO. 307. 110 AaO. 308. 111 AaO. 306. 112 AaO. Bd. 1, 7. Aufl., Berlin 1960, 97. 101.

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zugegeben werden, daß ein Erweis Christi als Erlösers aus den Weissagungen unmöglich ist, und besonders muß der Eifer, zu diesem Zweck Weissagungen oder Vorbilder aufzufinden, welche sich auf zufällige Nebenumstände in der Geschichte Christi beziehen, nur als ein Mißgriff erscheinen.«113

Aber auch wenn Schleiermacher ihren Gebrauch als Beweismittel ablehnt, spricht er den messianischen Weissagungen doch nicht jede Bedeutung für die Glieder der christlichen Gemeinde ab, in denen der Glaube an den Erlöser bereits vorhanden ist. Es ist »die eigentliche allerdings auch stärkende und bestätigende Bedeutung der messianischen Weissagungen, wo auch in wie dunkle Ahnung verhüllt sie vorkommen, daß sie uns ein Hinstreben der menschlichen Natur nach dem Christentum entdecken, und daß sie zugleich als das Bekenntnis der Besten und Begeistertsten aus den frühern frommen Gemeinschaften aussprechen, daß diese nur als vorläufige und vorübergehende Anstalten anzusehen sind«.114 Das bedeutet aber, dass die christliche Gemeinde die messianischen Weissagungen des Alten Testaments durchaus als Ausdruck der Sehnsucht nach Erlösung interpretieren darf. Damit verlieren die messianischen Weissagungen aber ihre ursprüngliche Funktion, die sie von der alten Kirche an besaßen, von Gott inspirierte Beweisstellen für die Erlösung durch Christus zu sein. Allerdings gingen selbst ihm nahestehende Alttestamentler wie Umbreit und Bleek nicht ganz so weit wie Schleiermacher selbst.115 Es sind vielmehr die theologischen Hegelianer, die seiner eher rationalistischen Haltung Beifall zollen. So heißt es in der 1840 erschienenen »Christlichen Glaubenslehre« von Strauß: »Die wirklich messianischen Weissagungen des A. T. hingegen lauten theils unbestimmt auf eine Erhebung des israelitischen Staates zu neuer Blüthe, der Nation zu reinerer und freierer Religiosität, und der hebräischen Religion zu ausgebreiteter Anerkennung unter allen Völkern [. . . ]; theils, wenn sie sich auf die Entwerfung eines Messiasbildes einlassen, ist diess entweder so deutlich als das eines theokratischen Herrschers, der kriegerisch oder friedlich, ein goldenes Zeitalter herbeiführen werde, zu erkennen [. . . ], oder so sehr in’s Uebermenschliche hineingebildet [. . . ], dass die Identität desselben mit Jesus sich nicht erweisen lässt.«116

Strauß beruft sich dabei auf Schleiermachers »Glaubenslehre«, der er auch die Schlussfolgerung entlehnt: »Was also übrig bleibt, ist nur das in den hervorragendsten Geistern der jüdischen Nation in den erhöhtesten Momenten lebende Vorgefühl der einstigen weiteren Verbreitung der Jehovareligion, und innerhalb derselben das Bedürfniss nach einem freieren, mehr innerlichen und positiven Verhältniss des Menschen zu Gott: ein Vorgefühl und ein Bedürfniss, auf welches der Begriff der Weissagung nur sehr uneigentlich 113 AaO. 102. 114 AaO. 102f. 115 Vgl. F.W.G. Umbreit, Vorwort zu christologischen Beiträgen mit besonderer Beziehung auf die Herrn Dr. Schleiermacher, Dr. Hengstenberg, Dr. Sack und Dr. Steudel, in: ThStK 3 (1830), 3–24; F. Bleek, Einige Bemerkungen über die dogmatische Benutzung alttestamentlicher Aussprüche im neuen Testamente und deren normative Bedeutung für den christlichen Ausleger, mit besonderer Berücksichtigung auf Hebr.1, 5–13, in: ThStK 8 (1835), 441–461. 116 D.Fr.Strauss, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, Bd. 1, 1840, Nachdruck Frankfurt/M. 1984, 221f.

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angewendet werden kann«.117 Ferdinand Christian Baur kann daher in seinen »Vorlesungen über die christliche Dogmengeschichte«, die 1867 postum erschien, erklären: »Nur fanatische Eiferer für die alte Orthodoxie, wie Hengstenberg mit seinem Anhang, und beschränkte und inconsequente Schleiermacherianer, wie Sack, Nitzsch u. a., welchen die Schleiermacher’sche Theologie nur zur Folie ihres streng kirchlichen Glaubens dient, geben sich die vergebliche Mühe, den Weissagungsbeweis mit modernen Phrasen aufrecht zu erhalten.«118

Schluss Man tut Schubring gewiss nicht Unrecht, wenn man ihn theologisch zu jenen beschränkten und inkonsequenten Schleiermacherianern rechnet, von denen Baur spricht, der sich in Bezug auf die messianischen Weissagungen implizit zu den konsequenten Schleirmacherianern zählt. Dass der »Elias« und damit das Alte Testament über sich hinausweist auf den mit Christus identischen Messias, das war eine Überzeugung, die Mendelssohn mit Schubring teilte. Beide hätten sich für ihre Position unter anderem auf Sack berufen können, der in seiner »Christlichen Apologetik« Mal3, 21 als Weissagung des neuen Bundes deutet und an jene Interpretation der Stelle erinnert, in der der erste Engel auf Johannes den Täufer und der zweite auf Christus gedeutet wird. Die Verbindung des ersten Engels mit dem Täufer legt sich vor allem deshalb nahe, weil in Mal3,23 Elias genannt wird und der Täufer ja als Elias redivivus verstanden wird. Sack findet es erstaunlich, »daß der letzte Prophet, nachdem er die Befolgung des Gesetzes eingeschärft, welches bis zur bestimmten Zeit noch festzuhalten war, damit schließt, die Zukunft Christi und den als Vorläufer zu verheißen, der das nun erlöschende Prophetenamt in dem größten Zeitpunkt der Offenbarung wieder erneuern sollte«.119 Von dem christologischen Ende des »Elias« her legt es sich nahe, dass Mendelssohn an der Christusgestalt selbst Interesse haben musste. Auch in diesem Fall ist der Briefwechsel mit Schubring aufschlussreich. Am 19. Februar 1840 schreibt Schubring an den Komponisten: »Weißt Du übrigens, mir geht seit einiger Zeit im Kopf herum, daß es doch für das Hauptfest – Ostern – noch nichts Rechtes gibt. Ramler und Zelter soll ja nicht viel werth sein. Mir ist vor kurzem die Idee wieder recht lebhaft geworden, als ich im apokryphischen Evangelium des Nicodemus die wirklich poetische Schilderung der Höllenfahrt Christi las«.120 Mendelssohn hatte Schubring zuvor von einer Komposition für das Buchdruckerfest berichtet, die Johannes den Täufer, den Namenspatron Gutenbergs, des Erfinders des Buchdrucks, zum Gegenstand haben sollte. Schubring dachte dabei den Plan für ein neues Oratorium und schlug drei Teile vor: »Was die ›Erde‹ betrifft, so könnte mit der Herrlichkeit der Schöpfung angefangen werden. Ps.19, Ps.104 (V. 24) und dergleichen; dann die Sünde eintreten und als Störung einiger glücklicher 117 AaO. 222. 118 F.Chr. Baur, Vorlesungen über die christliche Dogmengeschichte, Bd. 3, Leipzig 1867, 397f. 119 Sack (Anm. 92), 307. 120 Schubring (Anm. 4), 156f.

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Verhältnisse behandelt werden –; dann die Erlösung durch Christum, Beseligung auf Erden; schlösse mit einem Aufruf zum Glauben und Warnung vor der Hölle.«121 Entgegen der Annahme Schubrings plante Mendelssohn aber gar kein Johannes-Oratorium, sondern er spricht in seinem Antwortbrief von »einer recht großen schwungvollen Hymne auf den Vorausverkündiger, sein Leiden und Tod, und die Erfüllung«.122 Am Schluss wünscht er sich einen Chor: »nach dem Tode des Johannes und seiner Bestattung auf Christus hinweisend und damit schließend«.123 Als Schubring ihm einen Plan mit entsprechenden Bibelstellen zusendet, sagt dieser Mendelssohn allerdings nicht zu. Dagegen zeigt er sich äußerst interessiert an dem ihm bis dahin offenbar unbekannten Nikodemusevangelium, das er in einem weiteren geplanten Oratorium verarbeiten möchte. »Ein sehr wichtiges Wort hast Du mir mit Deinem apokryphischen Nicodemus geschrieben, und mit seiner Höllenfahrt – ich glaube, das führt mich geraden Wegs zur Vollendung meiner Idee, über Himmel und Hölle ein großes Werk zu componieren, und das wird der Pfeiler sein, nach dem ich mich schon lange umgesehen habe. Wo kann ich diesen Nicodemus denn [. . . ] lesen?«124 Als Schubring ihm darauf nicht antwortet, hakt Mendelssohn zwar noch einmal nach, doch dann ist von dem neuen Oratoriumsplan nicht mehr die Rede. Zwar lässt sich Mendelssohn 1842 von Otto Jahn, der einen Aufsatz über den »Paulus« publiziert hatte, das Libretto zu einem »Christus«-Oratorium des Komponisten Georg Christian Apel zusenden. Aber erst zwei Jahre später nimmt er mit Bunsen in Berlin Kontakt auf, um mit ihm ein Libretto für das große Werk über Himmel und Hölle zu planen. Bunsen greift dabei auf eigene frühere Entwürfe zurück. Soviel geht jedenfalls aus einem Brief Bunsens an den Komponisten hervor. Auch ist von einer Auferstehungsszene und Worten Jesu am Kreuz die Rede.125 Das legt die Vermutung nahe, dass das geplante Oratorium, das im Tagebuch Königin Victorias als »Erde, Hölle und Himmel« bezeichnet wird, Christus zur Hauptfigur hat.126 Wenn man berücksichtigt, dass Bunsens Libretto die Kreuzigung und Auferstehung Jesu enthält, Mendelssohn am Nikodemusevangelium wegen der Höllenfahrt Christi interessiert ist und er am »Elias« vor allem die Himmelfahrt schätz, dann legt es sich nahe, dass das neue Oratorium vom Erdenwirken, der Höllenfahrt und der Himmelfahrt Jesu handeln soll.127 Fragmentarisch ausgeführt wird allerdings nur der erste Teil, der Bibelstellen zur Geburt und zum Tod Christi und Choräle von Philipp Nicolai und Paul Gerhardt zusammenstellt. Die Bibelstellen stammen bis auf eine – Num24, 17 »Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen« – aus dem Neuen Testament. Doch durch diese eine Stelle wird die Geburt Jesu als Erfüllung der Weissagung des alttestamentlichen Sehers Bileam gedeutet, was durch den folgenden Choral »Wie schön leuchtet der Morgenstern« noch unterstrichen wird. 121 AaO. 158f. 122 AaO. 160. 123 AaO. 161. 124 Ebd. 125 Raphael Graf von Hoensbroech, Felix Mendelsssohn Bartholdys unvollendetes Oratorium Christus, Kassel 2006, 133. 126 AaO. 143ff. 127 AaO.147f.

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Damit zeigt sich noch einmal mehr, wie sehr Mendelssohn, nicht anders als Schubring, von der Zusammengehörigkeit der beiden Testamente überzeugt ist.

Jesus und das Alte Testament in sprachphilosophischer Perspektive Joachim Ringleben Das menschliche Gottesverhältnis war im Judentum gänzlich durch das Wort der h. Schrift bestimmt. So wuchs auch Jesus unter diesen Bedingungen auf; er lebte, lernte und betete in der Sprache seiner Väter und in der Sprache der h. Schrift. Wer also Jesus in seinem exklusiv besonderen Gottesverhältnis systematisch begreifen will, kann auch dies nicht tun, ohne sein Verhältnis zum Alten Testament, und das heißt zur Sprache der Väter, als dafür konstitutiv zu berücksichtigen.

1. Spuren im Neuen Testament Das ist zunächst kurz durch einige exemplarische Hinweise auf Spuren der JesusÜberlieferung zu konkretisieren, in denen sich sein besonderes Verhältnis zur h. Schrift seiner Väter zeigt. Diese können hier nicht genauer exegisiert werden, sondern dienen nur der Vorbereitung meiner systematischen Überlegungen, die sich dann anschließen.1 Jesus ist auch als vollmächtiger Schriftausleger wirksam gewesen. Seine Lehre ist zwar in der Lektüre des AT (d. h. vor allem tora und Propheten) begründet, hat aber für seine Zuhörer ein verstörend neuartiges und eigenes Profil gehabt. Mk1, 22 wird berichtet: »Und sie gerieten außer sich über seine Lehre: denn er lehrte sie als einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten«. Solche Besonderheit im Umgang mit den heiligen Texten ist für ihn charakteristisch gewesen, denn derartige Reaktionen werden häufig überliefert. Seine Schriftauslegung wird ausdrücklich als »neue Lehre« (Mk1, 27) gekennzeichnet, und sie war es in unableitbar origineller Weise nach Inhalt und Form. Ein Reflex dessen findet sich noch bei Joh: »Noch nie hat ein Mensch so geredet« (7, 46). Hier war mehr und anderes zu hören als die traditionelle Schriftauslegung: »Denn in Vollmacht erging sein Wort« (Lk4, 32). Diese selbständige Aneignung der h. Schrift durch Jesus spiegelt sich Lk4, 16ff – eine Szene, die Lk in Nazareth ansiedelt (cf. auch Mt13, 53–58 sowie Mk6, 1–6a). Der Evangelist stellt es so dar, daß Jesus nach der synagogalen Prophetenlesung durch ihn bezüglich der »evangelischen« Verheißungen Jes61, 1f das ungeheure Wort sagt: »Heute 1

Zur Einzelauslegung und zu den systematischen Thesen cf. mein Buch: Jesus. Ein Versuch zu begreifen, Tübingen 2009.

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ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt« (Lk4, 21). Lukas hat damit Jesu Verhältnis zum AT aus seiner Mitte heraus begriffen, denn das hier Formulierte ist der Inbegriff von Jesu Reich-Gottes-Verkündigung und seiner eigenen Rolle in der kommenden, d. h. mit ihm nahegekommenen Basileia. Er hat sich tatsächlich als leibhaftige Erfüllung der atl. Verheißungen gewußt (cf. Mt5, 17; Mk14, 49; Joh19, 28 u. ö.). Hierfür ist auch zu berücksichtigen, daß schon Jesu Taufe nur als ein eminent sprachliches Ereignis zu begreifen ist, bei dem er aus dem Zuspruch: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen« (Mk1, 11parr) sein eigentliches Selbstverständnis gewann und sich von diesem Wort, das von weither kommt, als Person bleibend begründet wußte. Aus diesen Worten der ebenso himmlischen wie geschichtlich vorbereiteten Stimme kam er sich als der entgegen, der er sein sollte und hinfort war. Ebenso ist auch die Szene der Versuchung ganz aus der Problematik der Aneignung dieser seiner besonderen Existenz gestaltet und dies im Ergreifen zentraler atl. Motive (cf. Mt4, 1–11; Lk4, 1–13), aus denen er sein Selbstbewußtsein bezieht und die Orientierung über sein Verhältnis zu seinem himmlischen Vater. Weiterhin sind die Antithesen der Bergpredigt für Jesu Verhältnis zum AT von kaum zu überschätzender Bedeutung. Das betrifft – vor ihrer inhaltlichen Gewichtung – schon ihre sprachliche Form als solche. In der stereotypen Opposition: »Zu den Alten ist gesagt worden – Ich aber sage Euch« (Mt5, 21ff ) und dem Jesu Gottesgewißheit artikulierenden »Amen« in diesen Zusammenhängen bringt sich Jesu Selbstverständnis auf unübersehbare Weise zum Ausdruck. Hier ist besonders gut zu sehen, wie eigenständig und betont Jeus »Ich« sagt (bzw. sagen kann) und dabei – in Anknüpfung und Widerspruch – zugleich die Schrift seiner Väter vollmächtig und neu auslegt, ja »erfüllt« (cf. 5, 17b). Allein am Sabbat-Wort (Mk2, 23–28parr) ließe sich das auch demonstrieren. Sein λεγω ΄ ὑμῖν schließt ein ἐγω΄ ἐιμι notwendig ein (cf. Joh6, 35; 8, 12; 9, 5; 10, 7. 12 u. ö.) Alle solche Selbstaussagen enthaltenden Bezüge zur Schrift – völlig neu im Umgang mit der Überlieferung – lassen sich nur im Kontext von Jesu sein Auftreten bestimmender Aussage verstehen: »Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen« (Mk1, 15) – man muß immer verstehen: mit mir und in mir. Bei dieser Zusammenfassung von Jesu Verkündigung überhaupt ist zweierlei zu bedenken. 1. Das Erfülltsein der Zeit in Jesu Kairos ist nur zu begreifen (und wird auch von ihm begriffen) vor dem Hintergrund einer langen Geschichte des wirkenden Gotteswortes, die im AT überliefert worden ist und die Jesus als auf ihn selber zielend gedeutet hat. 2. Der Begriff und die Sache der βασιλε΄ια τοῦ θεοῦ spricht sich ihm aus der Geschichte seines Volkes als der Geschichte Gottes zu und bezeichnet für ihn die sachliche Mitte und treibende Kraft seines Wirkens, und er wußte sich in die geschichtsträchtige Wirklichkeit mit seiner Person spezifisch einbegriffen. Darum kann man sagen: er »beurteilte seine Gegenwart und die Geschichte, auf die er zurückblickte« so, »dass er sie mit den durch die Gottesherrschaft geschulten Augen beobachtete«.2 Gottes eigenes schöpferisches Wort kommt aus seinem Werden im Kairos Jesu zu sich, wie es z. B. 4Esr9, 5f formuliert war: 2

J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 125.

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»Denn wie alles, was in der Welt geschehen ist, einen verborgenen Anfang hat im Wort, aber ein offenkundiges Ende, so sind auch des Höchsten Zeiten: ihr Anfang im Wort und Vorzeichen, ihr Ende aber in Taten und Wundern«.3 Das ist der Sache nach der Logos, in dem Jesus existierte und sich selber verstand. Hierbei ist freilich immer mit zu berücksichtigen, daß Jesu Lesen und Hören auf die Stimme seines Gottes in der Schrift nur eine Dimension (wiewohl die wichtigste) in seinem Vernehmen der Wirklichkeit war; von der Taufe her begegnete ihm dessen Reden zu ihm in jeder menschlichen Begegnung – z. B. der mit Joh.d. T. oder auch mit seinen Gegnern, den Heilung Suchenden, den Jüngern usw. – sowie auch aus der in besonderer Weise zu ihm sprechenden Natur (als Schöpfungswirklichkeit; cf. »Gleichnisse«!).4 DiesekurzenErinnerungen müssen jetzt genügen;wir wenden uns denSachfragen zu.

2. Sprachliche Aneignung Jesu Vollmacht überhaupt und insbesondere die seiner Schriftauslegung ist, wie wir gesehen haben, durch eine einzigartige Sprachkompetenz charakterisiert.5 Jeder, der mit Jesus zu tun bekam, wurde damit konfrontiert und von ihm mit in den »Kontext« seines Lebens und Webens in der h. Schrift hineingezogen. Zugleich war Jesu Umgang mit der Schrift selber sprachschöpferisch und schöpferisch durch Sprache, das eine z. B. in den Gleichnissen, das andere etwa bei den Heilungen. Exegetisch kommt das darin zur Erscheinung, daß Jesu im Gleichnis realisierte Metaphern als der sprachliche Reflex dessen zu begreifen sind – mit H. Weder geredet –, »daß die Neuheit des Gottesreiches alles bisher Dagewesene (auch sprachlich Dagewesene) zum Alten macht«.6 Dies Neue konnte aber nur unter der Voraussetzung als wahr erfahren werden, daß in den Texten des AT selber sich eine Tendenz oder treibende Sinnproblematik abzeichnet, die auf solche Einlösung bzw. Erfüllung in dem Menschen Jesus hin qualifiziert offen ist, wenn sie sich auch nur unter Bezug auf Gott als Autor dieser Wortgeschichte und eindeutig erst im Rückblick, eben von der Erfüllung aus, wahrnehmen läßt. Nur wenn in der h. Schrift ein über sich hinausweisendes Sprachgeschehen auszumachen ist, kann mit Sinn gesagt werden, daß der Text in einer menschlichen Person sich vollendet habe. Zu dieser Selbsttranszendenz als einer für religiöse Rede überhaupt charakteristischen ließen sich sprachtheoretische Einsichten bemühen, wie sie sich (unter vielen anderen) bei Emanuel Hirsch, Eberhard Jüngel und B. Casper finden.7 Liegt nun der Schrift des ATs von Gott her eine Tendenz zugrunde, die als auf Jesus zielend gelesen werden kann – wie es die Christenheit von Anfang an tat –, so gelingt 3 4 5 6 7

Übersetzung H. Gunkel. Cf. Ringleben, Jesus (s. o. Anm. 1), Kap. 11: »Das Buch der Natur« (336ff ). Zu diesem und dem folgenden Abschnitt 3. cf. Ringleben, Jesus (s. o. Anm. 1), Kap. 6: »Der Exeget der Vatersprache« (226ff ). H. Weder, Die Gleichnisse Jesus als Metaphern, Göttingen 19904, 134. Cf. für Philo und den Hebr. M. Karrer, Der Brief an die Hebräer (Kapitel 1, 1–5, 10), Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar zum Neuen Testament 20/1, Gütersloh 2002, 79.

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das so zugleich nur, weil umgekehrt das, was Jesus zu dem macht, der er ist, in ihr selber schon irgendwie vorkommt. Daher war die Urkirche früh der Auffassung: die Schrift selbst zeugt von Jesus (Joh5, 39). Sollte das aber mehr sein als eine theologische Theorie über das Verhältnis des AT zu Jesus, so mußte auch Jesus selber sein Verhältnis zum AT prinzipiell in diesem Sinne aufgefaßt haben. D. h. er mußte in der Schrift etwas ausgesagt finden, daß er wesentlich mit sich zusammenbringen konnte, um von daher sein Selbstverständnis zu profilieren. Dafür nun scheint alles zu sprechen, was wir von Jesu Verhältnis zur Schrift wissen: nämlich, daß er sich aus der h. Schrift seiner Väter selbst entgegenkam. Dafür wurde vorhin Lk4, 21 angeführt; und Jesus hat sich überhaupt immer wieder auf die h. Schriften berufen, weil er darin die Stimme seines himmlischen Vaters vernahm (cf. Mk1, 11; 2, 25f; 9, 7; 12, 26; Lk22, 37 – gemäß Ps103, 20; cf. Joh5, 46; 7, 38; 10, 35b). Möglicherweise ist auch Mt11, 27 doch historisch: »Alles ist mir von meinem Vater übergeben«;8 und z. B. aus Ps40,7f konnte er sich sogar ausdrücklich entgegenkommen, d. h. lesen, daß dies alles ihm zugedacht sei, was dann der Hebr. auch realisiert hat (10, 7). So war er als die »Erfüllung« anzusprechen: »Amen, ich sage euch, daß viele Propheten und Gerechte begehrten zu sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und zu hören, was ihr hört, und hörten es nicht« (Mt13, 17par). Das Neue, das mit ihm in Israel aufbrach, war nicht unvermittelt da, sondern für es als Neues ist das Sichabstoßen von der Überlieferung konstitutiv, die doch gerade dahin geführt hat. Der Erfüllung Bringende hebt alle Vermittlungen, von denen er sich zugleich unterscheidet, in sich hinein auf. Läßt sich über ihn, der selber nicht mehr Schriftliches verfaßt hat, alles Wesentliche schon im AT finden und ist er dessen lebendige Erfüllung, so verkörpert er sozusagen die Person gewordene Summe der Schrift und ist als ihr existierender Begriff (Logos) immer uneinholbar mehr als alles geschrieben Dastehende. Man darf also sagen: Jesus ist auch in dem Sinne »das Wort« (Joh1), daß er jeden ins AT zurückverweist, in dem er selber gründet und das er uns eröffnet und »verklärt« (Luther). Denn als Wort kam er in sein Eigentum (Joh1, 11), und das Wort Gottes im AT war eben dies sein »Eigentum«. In der Schrift seiner Väter war er »in dem, was meines Vaters ist« (Lk2, 29). Leben vom Worte Gottes (Mt4, 4; Joh4, 34), das war das wahre Zuhause diese Obdachlosen (Mt8, 20), und indem er den λογος ΄ τοῦ θεοῦ, in dem er wohnt, in den λογος ΄ τῆς βασιλε΄ιας übersetzt (Mt13, 19), macht er ihn zum Haus allen Seins (Joh14, 2 u. 23). Er selber ist das Wort, das aus den Wörtern des AT zu sich kommt, und so das letztgültige Wort Gottes (cf. Hebr1, 1f!). Er ist, was er ist, nur als Hörer von Gottes Wort an ihn (Joh6, 45; 8, 26; 15, 15 u. ö.). Und als wahrer Leser der Schrift ist er, mit Novalis gesprochen, der »erweiterte Autor«.9 Mit seinem eigenen schöpferischen Weitersprechen bringt er seinerseits das AT vollmächtig zum Sprechen. Luther hat Jesus daher mit einer geistreichen Formulierung den »Vocalis« genannt.10 Denn durch ihn sei die hebräisch gleichsam nur in stummen Kon8 Cf. dazu Ringleben, Jesus (s. o. Anm. 1), 272ff. 9 Schriften, Zweiter Band, hg. v. R. Samuel u. a., Darmstadt 1965, 470. 10 WA 48, 701, 21 (Tischrede Nr. 7140). Cf. auch S. Kierkegaard, Stadien auf des Lebens Weg (Gesammelte Werke/Hirsch), 15 Abt., 101.

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sonanten verfaßte Sprache des AT (der heilige Text) »sprechend« gemacht worden, und genau dies hat sich im NT niedergeschlagen. Jesus »erfüllt« also die Sprache seiner Väter durch sein persönliches Gottesverhältnis als der Sohn sprachlich, indem er im Anhalt an ihrem Wort sich selber sich verständlich macht und es für die Seinen wirklich zum Sprechen bringt. Jesu sich Hineinhören, Hineinbeten und -sprechen in die Sprache der Väter war für ihn das Empfangen des Wortes seines himmlischen Vaters, worin er sich selber (mit seiner Bestimmung) empfing. Dieser unbestreitbare Sachverhalt, daß Jesus, indem er die religiöse Sprache der Väter individuell und persönlich sich zueigen gemacht hat, auch Gott ganz neu zur Sprache gebracht hat (wie z. B. in den Gleichnissen), ist nun als spezifisch sprachlicher Vorgang zu begreifen. Gilt von der Sprache überhaupt mit Wittgenstein, daß sich in ihr Erwartung und Erfüllung berühren,11 so läßt sich Jesu sprachliches Verfahren mit dem AT durch eine Grundeinsicht Humboldts genauer verständlich machen. Sie lautet: »Durch denselben Act, vermöge er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein«.12 Eben dies läßt sich an Jesus beobachten: indem er seine eigene Sprache aus sich heraus spricht, spricht er sich in die Sprache des AT ein – und umgekehrt. Sein Sichhineinsprechen in die Sprache Israels war sein (hörendes) Einbezogenwerden in die Sprache des Logos vom Anfang. Man kann dafür auch sagen: sein Reden war – als Weitersprechen der Rede des AT – ein schöpferisches Übersetzen der Gottessprache in eine wahrhaft menschliche Sprache. Damit ist man bei Hamanns sprachtheologischer Einsicht: »Reden ist Übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache«.13 Wenn es richtig ist, daß Jesus selber redend zurückwirkte auf die Sprache der Väter, durch die er selber bedingt war, so ist er systematisch zu begreifen als diese existierende sprachliche Dialektik in Person. Wie gesagt, gehorchen auch die Antithesen der Bergpredigt einer Antithetik von Anknüpfung und Abstoßung im Verhältnis Jesu zum AT. Indem Jesus das AT kreativ weiterspricht – es vollmächtig im Horizont der nahen Gottesherrschaft auslegend –, bringt er Gott selber zu hier und jetzt erfahrbarer Anwesenheit, so daß dieser selbst zu reden beginnt, wenn Jesus redet. Er stellt damit Gott, seinen himmlischen Vater, dem Gott seiner Väter gegenüber – dem Gott in der Schrift (als einer logisch vergangenen Größe)14 den Gott, der mit ihm da ist. Aber dies Weitersprechen ist kein Wegweisen der Hörer von der h. Schrift, sondern vielmehr gerade ein sie nur noch tiefer in die Schrift Hineinweisen. Entsprechend muß auch Jesu eigenes Sohnesbewußtsein als wesentlich sprachlich vermittelt gedacht gedacht werden, nämlich als sich artikulierend im Prozeß seiner sprachlichen Auseinandersetzung mit dem AT – gemäß der zitierten Einsicht Humboldts –, und sein biographisches, von Lk reflektiertes »Zunehmen an Alter und Weisheit bei Gott und den Menschen« (Lk2, 52; cf. Kol2, 3) ist wohl als ein solches logoshaftes Lesen und Sprechen zu deuten. 11 12 13 14

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §445. Gesammelte Schriften (A. Leitzmann, Akademie-Ausgabe), Bd.VII, 60 (Vorrede zum Kawi-Werk). Sämtliche Werke (Nadler), Zweiter Band (1950), 199, 4f. Cf. Ringleben, Jesus (s. o. Anm. 1), 150f und 163.

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Von der Sprache her läßt sich der dialektische Zusammenhang begreifen, daß unbeschadet von Jesu Verwurzelung in der atl.-jüdischen Tradition »doch in ihm und durch ihn in Bezug auf Gott Ursprüngliches aufgebrochen« ist.15 Dies besagt auch: der Ursprung, die Arché, geht bei ihm schöpferisch mit. Jesus wurde seine Muttersprache zur Sprache seines Vaters im Himmel, an der er sich vom überlieferten Wort Gottes her selber empfing, und so wurde er aus dessen »Wort der Wahrheit« wesentlich gezeugt – gemäß Jak1, 18 (Taufe!). Eben dies war die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß bei ihm und durch ihn selbst die Vatersprache sich in die Sprache des Sohnes übersetzte.16 Denn indem er die Vatersprache selbständig weiterspricht – ihren überlieferten, aber über sich hinausweisenden Wortlaut konstruktiv aufnehmend und mit neuem Sinn begabend –, wird sie zur Sohnessprache, d. h. derjenigen Sprache, in deren Sprechen er als der Sohn ist bzw. sein Sohn-Sein (für sich und für andere) sprachlich wahrnimmt. In diesem Horizont konnte er daher zu Recht als der »Erbe« schlechthin aufgefaßt werden (cf. im Gleichnis Mt21, 38 und ausdrücklich Hebr1, 2b). Der Satz bei Joh: »Das Heil kommt von den Juden« (4, 22c) muß im spannungsvollen Verhältnis der Dialektik begriffen werden, daß das Heil von dem Gottesvolk herkommt und dort seinen Weg begonnen hat, aber jetzt mit dem »geborenen Juden« (Luther) da ist, der nicht ohne diese Herkunft zu verstehen, aber durchaus nicht nur aus dieser abzuleiten ist. Jesus ist als »Erbe« und mit seiner Sohnessprache τελος ΄ , d. h. Erfüllung und Ende der zu ihm führenden Gottesgeschichte. Das Wort des AT – in ihm wurde es Fleisch (Joh1, 14), und Gottes Weg bis zu ihm übersetzt sich in ihn, der selber »der Weg und die Wahrheit« ist (Joh14, 6). Die Fleischwerdung des atl. Gotteswortes hat der Hebr. übrigens ganz direkt auf die leibliche Herkunft Jesu bzw. auf das geschichtliche Werden seines individuellen Leibes bezogen. Jesus sagt dort, Ps40, 7–9 auf sich selber beziehend: »einen Leib hast du mir geschaffen. [. . . ] Siehe, ich komme – im Buch steht von mir geschrieben –, daß ich tue, Gott, deinen Willen« (Hebr10, 5–7). Dem läßt sich ein realer Sinn abgewinnen, wenn man 1. bedenkt, daß wir alle in unserem Leib unsere Vergangenheit mit uns tragen und 2. daß es einen sachlichen, d. h. sprachphilosophischen, Zusammenhang zwischen Sprache und Zeugung gibt, was sich im NT mannigfach widerspiegelt und insbes. von Luther aufgenommen worden ist (hier aber nicht ausgebreitet werden kann).17 Der Sohn und Erbe ist Jesus also so, daß von ihm im Blick auf sein überkommenes Judentum gilt: »Ich bin das alles und bin das alles doch gerade nicht«.18 Diese Dialektik ist wiederum in einem sprachlichen Kontext zu rekonstruieren; dafür soll noch einmal beispielhaft Humboldt bemüht werden. Es geht um den Zusammenhang der beiden einander entgegengesetzten Ansichten, »dass die Sprache der Seele 15 Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. II, 1979, 455. 16 Gottes Geist hat sich in die Schrift des AT »übersetzt«, und Jesus, der als der Logos selber der Geist ist (2Kor3, 17), »übersetzt« das geschriebene Wort Gottes in seine eigenen Worte. Cf. dazu S. Kierkegaard, Vier Erbauliche Reden 1844 (Gesammelte Werke/Hirsch), 13. Abt. (1964), 35 (»Der Pfahl im Fleisch«). 17 Cf. dazu vom Verf., Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her, Tübingen 2010, Kap. 7 (2. u. 3). 18 Ebeling (s. o. Anm. 15), 470.

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fremd und ihr angehörend, von ihr unabhängig und abhängig ist«, deren Verbindung gerade »die Eigenthümlichkeit ihres Wesens« ausmacht.19 Im sprachlichen Realisieren dieser Dialektik von Abhängigkeit vom AT und spontanem Weitersprechen in eigener Ver-antwortung hat Jesus den »in der Schrift [. . . ] schlummernden Gedanken dem Geiste erweckbar«20 gemacht – mit der Autorität des Sohnes, der das AT sich aneignend auslegt.

3. Der Exeget der Vatersprache Mit dieser auffälligen johanneischen Formulierung möchte ich hier das bisher geschilderte Wechselverhältnis zwischen Jesus und der Sprache der h. Schrift noch einmal als Ganzes in den Blick nehmen. Im Joh. wird bekanntlich am Ende des Prologs gesagt: den unsichtbaren Gott habe nur einer »exegesiert«, nämlich der Sohn (Joh1, 18b). Der Ausdruck ἐξηγησατο ΄ (V.: enarravit, bei Luther: »verkündigt«) meint unmittelbar, daß Jesus den unsichtbaren Vater im Himmel für uns »ausgelegt« oder daß er »von ihm Kunde« gebracht hat (W. Bauer). Die Wiedergabe mit »exegesiert« ist nur systematisch zu rechtfertigen. Vom Auferstandenen, der die Schrift den Seinen öffnet, wird Lk24, 27 das Wort διερμηνευειν ΄ gebraucht. Aber auch bei Joh ist mit ἐξηγησατο ΄ unzweifelhaft die sprachliche Dimension mitgemeint. Denn von v. 19 an beginnt ja das Evangelium selber, in dem die Reden Jesu über den Vater, also die Logoi des Logos, eine entscheidende Rolle spielen. Jesus als Exeget der Vatersprache meint den »in Vollmacht Lehrenden«, wie er bei den Synoptikern vorkommt (Mk1, 22 u.ö.). Er hat – auch bei Joh – in seiner Verkündigung die h. Schrift Israels ausgelegt (cf. z. B. 5, 46f; 6, 32. 45. 49f u. ö.), und so eben auch den unsichtbaren Gott. Das schließt die Annahme ein, daß der wahre Gott auch in den sichtbaren und lesbaren Schriften Israels in irgendeiner Weise noch verborgen (»unsichtbar«) geblieben und erst in Jesu Person und eigenständiger Lektüre und Auslegung der Schrift, also sprachlich, zu vollendeter, offenbarer Gegenwart gebracht worden sei. Erst Jesus – der »hörende« Sohn (Joh12, 49f ) – hat den unsichtbaren Gott selber hörbar ans Licht gebracht, und so ihn durch sein Wort-Handeln erfahrbar gemacht. Der Exeget der Vatersprache zieht Gott unmittelbar ins Leben – als Leben in Gottes Wort. Der Exeget des unsichtbaren Gottes bringt – gemäß der oben erwähnten Dialektik von Sicheinspinnen in die Sprache durch ihr Herausspinnen im eigenen Sprechen – auch grundsätzlich Neues über Gott zur Sprache, und dies eben in produktiver Anknüpfung an schon Gesagtes bzw. Geschriebenes. Denn nur mit der Sprache kann gegen sie oder über sie hinaus weitergesprochen werden. Jesu »Exegese« bedeutet, gegebene Sprache neu sprechend zu machen. Dies, indem er in der Sprache seiner Väter das Wort seines himmlischen Vaters an ihn (d. h. sich selber) vernimmt. Und indem Jesus dabei sich selber identifizierte (wie oben gesagt), schloß seine sprachliche Auseinandersetzung 19 Humboldt (s. o. Anm. 12), Bd. VI, 181. 20 Ebd.

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mit dem AT auch in sich, daß sein wesentliches Selbstbewußtsein für ihn sprachlich vermittelt und verfaßt war. So gewann er als Exeget der Vatersprache den Logos, in dem er für sich existierte.

4. Jesu Jünger und das AT So konnte auch die Urgemeinde das Neue des Christusereignisses mit der Sprache des AT artikulieren. Und eben dies Verfahren der christlichen Aneignung des AT hat sie denn auch auf Jesus selber zurückgeführt. Wie Jesus selbst, fand auch sie, daß Gott im AT immer schon im Blick auf den kommenden Jesus geredet habe. Daß Jesus zum Schlüssel für ein endgültiges Verständnis des AT werden konnte, daß Jesus also der Ort ist, wo das zuvor Geschriebene »geschieht«, d. h. ins wirkliche Dasein tritt, und daß er insofern das »fleischgewordene« Wort Gottes ist, hat sie auf ihn selber und sein sprachlich vermitteltes Selbstverständnis zurückgeführt. Darum hat es einen tiefen und grundsätzlichen Sinn, daß nach Lk24, 27ff der Auferstandene selber es ist, der den Seinen die Augen über den verborgenen Sinn des AT öffnet. Darin liegt zum Einen, daß, wer und was Jesus ist, nur im Horizont der Schrift wahrgenommen und verstanden werden kann – dies freilich erst im Lichte der Ostererfahrung. Seine »Faktizität« ist nichts ohne die »Bedeutung«, die ihm vom AT her zukommt. Zum andern aber ist es entscheidend, daß gerade (und erst) der Auferstandene sich in der Emausperikope als die intentionale »Fülle« der Schrift zu erkennen gibt. Denn der Auferweckte ist an sich der letzte Sinn der Schrift, weil Auferwecktsein heißt, Sinn der Schrift zu sein. Eben von daher begreift sich die neue Literaturgattung »Evangelium« und ist ihr Verfahren im Bezugnehmen auf das AT theologisch ermöglicht bzw. legitimiert. So begründet sich hier das NT durch sich selber für sich selber. Indes ist diese geschichtlich vermittelte Einheit von Buchstabe und Geist der h. Schrift des ATs nur von ihrer Erfüllung aus wahrnehmbar; d. h. erst, nachdem es geschehen ist (Faktum), ist auch einzusehen, daß es geschehen »mußte« (δεῖ = Bedeutung). Was das für das bewegte Verhältnis von Altem und Neuem Testament besagt, soll zum Schluss mit Gedanken von E. Rosenstock-Huessy angedeutet werden. Er schreibt bezüglich des Mt-Evangeliums: »Indem Matthäus dieses Evangelium schrieb, formte er die Bibel seiner Zeit zum Alten Testament um. Im Vorgang seines Schreibens wurde die Bibel Israels zum Alten Testament [. . . ] eine Vollendung, deren er sich nicht bewußt wurde, bis sie geschafft war.« Es geht um die »Tatsache, daß im ersten Evangelium sich ein Mann selbst aus Israel herausschreibt, indem er über Jesus schreibt«. Dies ist ein »Wandel in der Welt der Sprache«.21 Diese Überlegungen Rosenstock-Huessys handeln faktisch von einem Werden der h. Schrift zu sich. Darin läßt sich die Dialektik von Anknüpfung und Abstoßung ins Neue wiedererkennen, die für Jesus schon aufgezeigt wurde. 21 Die Sprache des Menschengeschlechts, 2. Bd., 1964, 820f und 822.

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Rosenstock-Huessy fährt darum fort: »In diesem Satz [Mt28, 20b], der von der gesamten zukünftigen Geschichte als von der jüdischen Bibel geschieden zu sprechen wagt, ist das Evangelium zum Evangelium im Vollsinne geworden, weil nun erst die Vergangenheit zur Vergangenheit und die Bibel zum Alten Testament werden«.22 Dies Werden des Evangeliums zu sich bedeutet mithin, daß seit der Auferstehung Jesu Christi das Bibelbuch des atl. Gottesvolkes in Gestalt von zwei Büchern – und nicht etwa nur zwei verschiedenen »Auslegungen« desselben Textes! – existiert: als Bibel Israels und als das Alte Testament der Christenheit. Darin ist Jesu eigenes Verhältnis zum AT erfüllt. Jesus Christus hat das AT endgültig »an sich gezogen« (E. Schaeder).

22 AaO. 822f.

Søren Kierkegaard liest Hiob Eine Studie zu Kierkegaards Umgang mit dem Alten Testament Matthias Wilke Kierkegaard und das Alte Testament: Liest man die Pseudonymen Schriften, die unter eigenem Namen herausgegeben »Erbaulichen Reden« und die Tagebücher Søren Kierkegaards, nachdem man sich zuvor ein profundes Bibelkundewissen angeeignet hat, so stößt man in nahezu allen seinen Schriften aller Werkphasen auf zahlreiche alttestamentliche Anspielungen und Zitate.1 Sieht man aber auf die Wirkungsgeschichte der Werke Kierkegaards, so sind es vor allem drei Schriften, die die Diskussion um »Kierkegaard und das Alte Testament« geprägt haben: »Furcht und Zittern« von Johannes de Silentio, in der Abrahams Bindung Isaaks problematisiert wird, »Die Wiederholung« von Constantin Constantius, in der Hiob zum Tröster eines Verzagten wird, beide Schriften sind aus dem Jahre 1843, und »Der Begriff Angst« von Vigilius Haufniensis, erschienen 1844. Vor allem an »Furcht und Zittern« schließt sich in der Vergangenheit auch eine intensive jüdische Rezeption Kierkegaards an, worauf Tilmann Beyrich in seinen Werken hingewiesen hat.2 1

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Einen Überblick über die von Kierkegaard zitierten Bibelstellen bietet der Registerband der deutschen Ausgabe der Gesammelten Werke Kierkegaards. Dieser Ausgabe von Hirsch, Gerdes und Junghans folgt auch die Übersetzung der Kierkegaard-Zitate in vorliegender Studie; vgl. Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke. Übersetzt und hg.v. Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, 36 Abteilungen in 26 Bänden und Registerbd., Düsseldorf/Köln 1950–1969 [GW 1]. Die Stellenangaben im Text und in den Fußnoten erfolgen unter Angabe der [römischen] Band- und [arabischen] Seitenzahl der ersten dänischen Ausgabe der »Samlede Værker«, die in den GW 1 am Rand mitgeführt werden; vgl. Søren Kierkegaards Samlede Værker, hg.v. Anders B. Drachmann, Johan L. Heiberg und Hans O. Lange, Bde. I–XIV, Kopenhagen 1901–1906. Zur dänischen Werkausgabe hat Parkov einen Zitate wie Anspielungen umfassenden Bibelindex herausgegeben; vgl. Peter Parkov, Bibelen i Søren Kierkegaards »Samlede Værker«, Kopenhagen 1983. Ein Register, das zudem nach biblischen Zitaten, Nachzeichnungen biblischer Charaktere und impliziten Anspielungen auf biblische Worte gegliedert ist, bieten Paul S. Minear/Paul S. Morimoto, Kierkegaard and the Bible. An Index, Princeton/New Jersey 1953, 15–34. Eine Auswertung speziell der alttestamentlichen Bezüge in ihrer Relevanz für die jeweilige Schrift hat Engelke vorgelegt; vgl. Matthias Engelke, Kierkegaard und das Alte Testament. Zum Einfluß der alttestamentarischen Bücher auf Kierkegaards Gesamtwerk (Arbeiten zur Theologiegeschichte 3), Rheinbach 1998. Engelke bietet auch einen Überblick zur Forschungsgeschichte (vgl. aaO. 15–26). Vgl. Tilman Beyrich, Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard (Kierkegaard Studies. Monograph Series 6), Berlin/New York 2001, 271–308; ders., »Kann ein Jude Trost finden in Kierkegaards Abraham?« Jüdische Kierkegaard-Lektüren: Buber, Fackenheim, Levinas, in: Jud. 57 (2001),

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Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass »Furcht und Zittern« zwar aufschlussreich ist für die Genese des Glaubensbegriffs, den Kierkegaard und seine Pseudonyme in ihren Schriften mitführen, jedoch ist das Werk wenig aussagekräftig für Kierkegaards spezifische Sicht auf das Alte Testament.3 Ähnlich verhält es sich mit »Der Begriff Angst«. In dieser Studie finden sich, bezogen auf das ?uvre Kierkegaards, die umfassendsten zum Sündenfall (Gen3), jedoch ist der Schrift die Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde so klar vorgegeben, dass wir aus ihr letztlich mehr über Kierkegaards Verhältnis zu Schleiermacher und zur zeitgenössischen Dogmatik erfahren als über den Wert, den er dem Alten Testament beimisst.4 Deutlicher zeichnet sich Kierkegaards Zugang zum Alten Testament in einigen Passagen der Schrift »Die Wiederholung« ab. Vor allem die Briefe, die der namenlose Freund dem Verfasserpseudonym, Constantin Constantius, schreibt, lassen sowohl auf Kierkegaards Hermeneutik des Alten Testaments schließen als auch auf seine Exegese des Buches Hiob.5 Von ihnen werden unsere Überlegungen im Folgenden ausgehen. Um aber zu verstehen, mit welcher Intention Kierkegaard Hiob und das Alte Testament liest, werfen wir zuvor einen Blick auf Kierkegaards theologische Entwicklung. Kierkegaard und das Alte Testament – und Schleiermacher: Emanuel Hirsch hat im fünften Band der »Geschichte der neuern evangelischen Theologie« Kierkegaard das Prädikat verliehen, er sei »in seiner Generation der einzige echte Schüler Schleiermachers«.6 Hirsch begründet seine Zusammenschau der beiden Denker unter anderem mit dem Hinweis, Kierkegaard hielte ebenso wie Schleiermacher »das Alte Testament nicht für ein christliches Buch«.7 Zwar erweist sich Hirschs These im Hinblick auf Kierkegaard als zu wenig aussagekräftig, wie wir sehen werden, jedoch ist der Hinweis weiterführend: Kierkegaard beginnt seine Stellung zum Alten Testament zu klären, nachdem er Schleiermachers Glaubenslehre studiert hat.8 3

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20–40. »Furcht und Zittern« ist weniger eine Abhandlung über Gen22 als vielmehr eine Auseinandersetzung mit der neutestamentlichen These, Abraham sei der Vater im Glauben – so auch Beyrich, Glauben (s. o. Anm. 2), 275f.; Walter Dietz, Sören Kierkegaard. Existenz und Freiheit (Athenäums Monografien: Philosophie 267), Frankfurt a. M. 1993, 240. Zu Kierkegaards Exegese von Gen2 und 3 im Aufriss von »Der Begriff Angst« vgl. Matthias Wilke, Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs. Eine Studie über die Voraussetzungen der Kommunikation christlicher Wahrheit (HUTh 49), Tübingen 2005, 337–361. Zur Hiob-Rezeption Kierkegaards vgl. Dietz (s. o. Anm. 3), 238–252; Dorothea Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständnis (Kierkegaard Studies. Monograph Series 3), Berlin/New York 1998, 80–89; Hans-Peter Müller, Welt als ›Wiederholung‹. Sören Kierkegaards Novelle als Beitrag zur Hiob-Interpretation, in: Rainer Albertz u. a. (Hg.), Werden und Wirken des Alten Testaments. Festschrift für Claus Westermann zum 70. Geburtstag, Göttingen 1980, 355–372; Walter Strolz, Die Hiob-Interpretation bei Kant, Kierkegaard und Bloch, in: Kairos 23 (1981), Heft 1–2, 75–87. Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5 (1954), in: ders., Gesammelte Werke, hg.v. Hans-Martin Müller u. a., vol. 9, hg.v. Albrecht Beutel, Waltrop 2000, 454. Ebd. Vgl. auch Emanuel Hirsch, Kierkegaard-Studien 1–3, 1930–1933 (SASW 29, 31, 32, 36), Gesamtausgabe in 2 Bänden, Gütersloh 1933, in: ders., Gesammelte Werke, Bde. 11–12, hg.v. Hans Mar-

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In Kierkegaards Besitz befanden sich neben den Platon-Übersetzungen die Glaubenslehre, die Dialektik, Predigten Schleiermachers und die »Reden über die Religion«.9 Aus Kierkegaards Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass er als 21jähriger, im Frühjahr 1834, Schleiermachers Glaubenslehre unter Anleitung von Hans Lassen Martensen durchgearbeitet hat. Thematisch haben Kierkegaard zu dieser Zeit, wie auch Martensen bezeugt,10 zwar besonders Schleiermachers Gedanken zur Prädestinationslehre interessiert, jedoch verknüpft er sie bereits im Sommer 1834 in einer Notiz mit der Frage nach dem Verhältnis Judentum – Christentum.11 Kierkegaard versucht in dieser frühen Notiz, die Prädestinationslehre als Nachklang alttestamentlich-jüdischer Vorstellungen im Neuen Testament zu verstehen. Es ist ein Versuch, denn wie stark Kierkegaards Gedanken zu dieser Zeit noch im Fluss sind, zeigt sich daran, dass er noch Jahre später, als er sich 1841 auf einer Reise nach Berlin befindet, in sein Tagebuch einträgt: »Es ist eine große Frage, in welchem Sinne man das jüdische Volk das erwählte nennt; es war vielmehr ein Opfer, welches die ganze Menschheit heischte; es mußte den Schmerz des tin Müller, Bd. 12, Waltrop 2006, 469f. (die Seitenzählung folgt der in der Werkausgabe in eckigen Klammern angegebenen Zählung der Erstausgabe). Eine umfassende Untersuchung des Verhältnisses Kierkegaard – Schleiermacher bietet Andreas Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff (Kierkegaard Studies. Monograph Series 18), Berlin/New York 2008. Bereits 1941 hat Dollinger Hirschs These über Kierkegaards Ablehnung des Alten Testamentes deutlich widersprochen. Dollinger ist zwar nicht frei von der rassistischen Terminologie seiner Zeit, hält jedoch im Hinblick auf das Alte Testament hellsichtig fest: »Gerade die mit Hilfe Kierkegaards das Alte Testament abschaffen wollen, müßten sich vor der Verabsolutierung menschlicher Werte sehr warnen lassen«; Robert Dollinger, Sören Kierkegaard und das Alte Testament, in: JK 9 (1941), 188–197, hier: 196. Wie entscheidend das Kierkegaard-Bild der deutschen Theologie durch Hirschs Kierkegaard-Rezeption geprägt worden ist, zeigt die Stellungnahme von Kraus zu Hirschs Buch »Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums« (1936). Kraus sieht in dem von Hirsch entfalteten Ansatz »einen reformatorisch-existenzialdialektisch-dualistischen Mischling«; Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn (1956) 31982, 431, wobei er (den beiden Zitaten aus Kierkegaards Tagebüchern folgend, die Hirsch seinem Buch voranstellt) das Dualistische von Kierkegaard mit getragen sieht. 9 Vgl. Niels Thulstrup, Søren Kierkegaards Bibliotek. En Bibliografi, Kopenhagen 1957, Nr. 238– 242. 258. 271. 769. 1158–1163. 10 Vgl. den entsprechenden Hinweis von Gerdes in: Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke. Die Tagebücher, ausgewählt, neugeordnet und übersetzt von Hayo Gerdes, Bde. 1–5, Düsseldorf/Köln 1962–1974, Bd. 1, 358 (Anm. 57). Die deutsche Ausgabe der Tagebücher wird im Folgenden zitiert als T 1–5. Bei Kierkegaards Tagebucheintragungen wird als Quelle jeweils die Stelle aus der dänischen Ausgabe vorangestellt, vgl. Søren Kierkegaards Papirer, Bde. I-XI, hg.v. Peter Andreas Heiberg, Victor Kuhr og Einer Torsting, Kopenhagen 1909–1948 [Pap. I–XI]. Sie findet sich am Rand der deutschen Ausgabe. Wo es keine deutsche Übersetzung gibt, wird nur die Stelle in der dänischen Ausgabe angegeben. 11 Vgl. Pap. I A 4/T 1, 33f. Die Tagebucheintragungen werden zur Ergänzung der Werkinterpretation herangezogen. Für sie gilt entsprechend, was Peterson für die »Erbauliche[n] Reden« in ihrem Verhältnis zu den pseudonymen Werken festgehalten hat, »that Kierkegaard’s use of Scripture did not substantially differ whether he was using a pseudonym or not«; Elaine Peterson, Kierkegaard’s exegetical methodology, in: Studies in Religion. Sciences Religieuses 19/3, Canada 1990, 351–359, hier: 355.

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Gesetzes und der Sünde durchgehen wie kein anderes Volk. Es war das auserwählte, im gleichen Sinne wie die Dichter usw. es oft sind, d.h. es sind die Unglücklichsten« (Pap. III A 193/T 1, 275).12

In Kierkegaards Tagebüchern finden sich von 1834 bis 1855 zahlreiche Notizen zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Altem und Neuem Testament. In ihnen eine klare Linie der Gedankenführung zu erkennen – und sei es auch nur im Hinblick auf das Alte Testament – erscheint unmöglich. In den meisten Eintragungen setzt Kierkegaard Altes Testament und Judentum gleich, in einer frühen Notiz scheint er jedoch zwischen »Mosaismus und Judentum« (Pap. I A 48/T 1, 43) zu differenzieren. Auch finden sich durchgehend neben systematischen Reflexionen viele recht launige Bemerkungen, selten auch antisemitische Klischees.13 Deutlich ist, dass sich schon früh das Thema der Erwählung mit der Frage nach dem Sinn von Leiden verknüpft. Die Auserwählten sind die Unglücklichsten – diese Verbindung wird für Kierkegaard ein Leben lang der Schlüssel zur Bestimmung des Verhältnisses von Judentum und Christentum bleiben. Schleiermachers Glaubenslehre ist einer der Anstöße für Kierkegaard gewesen, nach dem Spezifikum des alttestamentlich-jüdischen Glaubens zu fragen. Befördert wird dieses Interesse durch seine philosophischen und literarischen Studien. Kierkegaard beschäftigt sich bereits um 1834 intensiv mit der Gestalt des Dr. Faustus, liest zahlreiche Abhandlungen über Ahasver, die Sage vom ewigen Juden, und arbeitet sich in die Religionsphilosophie seiner Zeit ein: unter anderem hört und liest er Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philipp Konrad Marheineke, Johann Karl Friedrich Rosenkranz und Georg Wilhelm Friedrich Hegel.14 So gewinnt sein Interesse an der Frage nach dem Leiden des/der Auserwählten Kontur. Es ist nicht der Anspruch des vorliegenden Beitrags, dem Thema »Kierkegaard und das Alte Testament« in seinen vielen Facetten gleichermaßen gerecht zu werden. Vor allem das größere Thema, »Kierkegaard und sein Bild vom Judentum«, kann nur gestreift werden.15 Die folgenden vier Thesen erörtern die Schwerpunkte und den Aufbau der Untersuchung: 12 Beyrich, Glaube (s. o. Anm. 2), 283, bemerkt zu dieser Notiz: »Gibt nicht in der Tat gerade Kierkegaards Theologie einigen Anlaß dazu, diese ›große Frage‹, von der er hier redet, offenzuhalten...? [. . . ] Und könnte man im Anschluß an dieses Zitat nicht auch fragen, ob der Zusammenhang zwischen der Dichterexistenz und dem ›Jüdischen‹ mehr ist als eine bloß abseitige Erwägung?« Beyrich weist im Folgenden auf ähnliche Stellungnahmen bei Marina Zwetajewa, Paul Celan und Jaques Derrida hin und deutet damit an, auf welchen Wegen es sich lohnt, Kierkegaards Jugendgedanken heute weiter zu denken. 13 Einen repräsentativen Einblick vermitteln die von Engelke angeführten Äußerungen Kierkegaards zum Judentum; vgl. Engelke (s. o. Anm. 1), 189–193. 14 Zu Kierkegaards intensiver Beschäftigung mit der Gestalt des Ahasver vgl. Hirsch, KierkegaardStudien (s. o. Anm. 8), 105–115. 15 Vgl. Bruce H. Kirmmse, Kierkegaard, Jews, and Judaism, in: Kierkegaardiana 17, hg.v. Joakim Garff u. a., Kopenhagen 1994, 83–97. Sowie die nach Abgabe vorliegender Ausarbeitung erschienene detailreiche Studie von Peter Tudvad, Stadier på antisemitismens vej. Søren Kierkegaard og jøderne, København 2010.

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1. Die Hermeneutik: Kierkegaard liest die Bücher des Alten Testaments unter der hermeneutischen Prämisse, sie seien Glaubenszeugnisse bestimmter alttestamentlicher Gestalten. Ihre Frömmigkeit arbeitet er zu religionsphänomenologischen Typen aus, mit denen seine pseudonymen Verfasser experimentieren. Einen prinzipiellen Unterschied in der Lesart alttestamentlicher und pagan-dichterischer Texte setzt Kierkegaard nicht voraus. 2. Die Krise der Weisheit: Gleich Schleiermacher sind für Kierkegaard vor allem die Gestalten des Alten Testaments von Interesse, die seiner Meinung nach mit dem Nationalbewusstsein des Judentums nur lose verbunden sind.16 Seine Auseinandersetzung mit Hiob und Salomo setzt jeweils an dem Punkt an, an dem sie sich dem Allgemeinen entziehen beziehungsweise widersetzen. In der Krise des (alttestamentlichen) Weisen sieht Kierkegaard ein die religiösen Deutungsparadigmen läuterndes Durchgangsstadium auf dem Weg zur christlichen Religiosität. 3. Der Glaube Hiobs: Die Intensität der Glaubensbewegung aber, wie sie sich unter anderem an Hi1, 20f. ablesen lässt, bestimmt Kierkegaard als Grundlage auch der christlichen Religiosität. 4. Das Gottesbild Kierkegaards: Kierkegaard setzt seiner Lektüre der alttestamentlichen Schriften ein geprägtes Bild von Gott voraus. Gott ist in seinen Augen der Richter, er ist allmächtig und er ist die Liebe. Was sich für Kierkegaard im Übergang vom Alten zum Neuen Testament ändert, ist das Verhältnis des Glaubenden zum Leiden. Indem er Hiob, Paulus und Jesus zueinander in Beziehung setzt, schlüsselt er seine Antwort auf die Prädestinationsfrage auf: zu jeder Zeit ist das Leiden neu als Zeichen des Erwähltseins zu deuten.

1. Kierkegaards Hermeneutik Seine hermeneutische Maxime wird Kierkegaard bereits durch die pietistische Erziehung von seinem Vater nahe gelegt.17 Es handelt sich dabei weniger um eine alttestamentliche als um eine die gesamte Bibel betreffende Leseanweisung. Die Bücher der Bibel sind keine Schriften, die man wie ein Beobachter mit Abstand zur Kenntnis nimmt, sondern sie sind zu lesen, wie Kierkegaard später sagen wird, wie ein Liebesbrief: mit Leidenschaft, einprägsamem Blick und in der Gewissheit, dass das, was da geschrieben steht, dem Leser gilt.18 16 Zu Schleiermacher vgl. Rudolf Smend, Die Kritik am Alten Testament, in: Dietz Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 106– 128, hier: 115f. 17 Ein guter Überblick über die Stellung der Bibel und des Alten Testaments in den Katechismen, mit denen Kierkegaard in seiner Jugend in Berührung gekommen ist, findet sich bei Engelke (s. o. Anm. 1), 29–59. 18 Vgl. XII 315–337 (Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen). Kierkegaard greift hier neben dem Bild des Liebesbriefes auf die Metapher des Spiegels zurück. Zur Hermeneutik Kierkegaards vgl. auch

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Bestätigt findet Kierkegaard diese Art zu lesen im Alten Testament selbst, in der Redeweise des Propheten Nathan. »Du bist der Mann«, sagt Nathan und König David versteht und handelt entsprechend. Wie eine Klammer legen sich die Tagebucheintragungen zu IISam12, 7 um Kierkegaards Gesamtwerk.19 Bereits in einer frühen Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1837 führt er diese Stelle an20 und auch in einer seiner letzten Schriften, »Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen« (1851), rekurriert er auf sie: »Aber glaubst Du denn nicht, dass David schon zuvor von selber sehr wohl wußte, wie abscheulich es ist, einem Weibe den Mann erschlagen zu lassen, um es zu ehelichen; glaubst du nicht, daß David, der große Dichter, leicht imstande gewesen wäre, selber... dies darzustellen? [. . . ] Und doch, doch, doch bedurfte es eines Außenstehenden, der zu ihm sagte: Du« (XII 327).

Den Außenstehenden, der dem Leser hilft, die Erzählungen der Bibel auf sich zu beziehen, konstruiert Kierkegaard in vielen seiner Werke in der Form literarischer Personen: in dem Mann, der zu Beginn von »Furcht und Zittern« den Leser an seinen Stimmungen zu Gen22 teilhaben lässt, oder in dem namenlosen Freund, der in »Die Wiederholung« Hiob für sich entdeckt. Von Beginn an aber tritt neben die literarischen Außenstehenden Kierkegaard selbst, der in seinen »Erbauliche[n] und Christliche[n] Reden« seinen Leser als »Du« anredet, sich zugleich jedoch so weit als Person zurück nimmt, dass der Leser/Hörer sich vermittelt durch den biblischen Text von Gott selbst angeredet erfährt.21 Die damit grob umrissene Leseanweisung klingt im herkömmlichen Sinne pietistisch biblizistisch. Doch drängt Kierkegaard keinesfalls in einen dogmatischen Biblizismus zurück. Die Behauptung, die Worte der Bibel seien das gedruckte Wort Gottes, wird Johannes Climacus in »Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift« als »feige[n] Versuch« bezeichnen, »alle Verantwortung von sich zu schieben – gerade so, als ob man keine Verantwortung dafür hätte, auf welche Weise man eine Bibelstelle für Peterson (s. o. Anm. 11); J. Pedersen, Kierkegaard’s View of Scripture, in: Niels Thulstrup/Marie M. Thulstrup (Hg.), The Sources and Depths of Faith in Kierkegaard (BiKier 2), Kopenhagen 1978, 27–57; Matthias Wilke, Der Gelehrte, der Dichter und – die Bibel. Religiöse Kommunikationsstrukturen in Johann Gottlieb Fichtes »Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten« und Søren Kierkegaards »Tagebuch des Verführers«, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34, Nr. 2 (2002), 47–62, hier: 54–61. 19 IISam12, 7 kann zu Recht als einer der »Kristallisationspunkte« gelten, »an denen sich Denken und Lebenshaltung Kierkegaards herausgebildet haben«; Engelke (s. o. Anm. 1), 84f. Weitere Stellen, an denen Kierkegaard auf IISam12, 7 rekurriert, sind: II 5 (Entweder/Oder); IX 18. 96 (Der Liebe Tun); XII 327; Pap. II A 57/GW 1, 30. Abteilung, 137 (Erstlingsschriften); Pap. X 4 A 283, S. 152; Pap. X 4 A 284; Pap. X 6 B 2, S. 10. 20 Vgl. Pap. II A 57/GW 1, 30. Abteilung, 137. Diese Stelle liegt als Journal AA 45a in einer Neuübersetzung vor; vgl. Deutsche Søren Kierkegaard Edition. Band 1: Journale und Aufzeichnungen. Journal AA, BB, CC, DD, hg.v. Hermann Deuser und Richard Purkarthofer, Berlin/New York 2005, 54. 21 Vgl. dazu Albrecht Haizmann, Indirekte Homiletik. Kierkegaards Predigtlehre in seinen Reden, Leipzig 2006, 114–130.

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sich gewinnt« (VII 525).22 Den Leser durch objektive Setzungen zu entlasten, ist gerade nicht Kierkegaards Anliegen. Um die existenzbezogene Leseanweisung richtig einordnen zu können, ist ein weiterer Hinweis unentbehrlich. Spätestens seit Kierkegaard 1841–42 in Berlin die Dogmatik-Vorlesung des Hegelianers Marheineke gehört hat, ist er auf die humanistische Parallele zur Samuel-Stelle bei Horaz aufmerksam. Dessen »mutato nomine de te narratur fabula«, das Marheineke als Zitat auf Kant zurückführt,23 wird von Kierkegaard am Ende seiner 1845 erschienen Schrift »Stadien auf des Lebens Weg« aufgegriffen.24 Der Bezug auf Horaz ist insofern bemerkenswert, als dass er darauf hinweist, dass Kierkegaard nicht an einer explizit biblischen Hermeneutik gelegen ist. Das Gelesene auf sich und seine Existenz zu beziehen, gilt für alle Schriften, da sind die biblischen Bücher keine Gattung sui generis.25 Die Differenz zwischen paganen, alttestamentlichen oder neutestamentlichen Schriften beruht auf der Entscheidung des Lesenden, welche Vollmacht er dem jeweiligen Text zuspricht – und erst an diesem Punkt hebt Kierkegaard die Schriften der Apostel von allen übrigen ab.26 Einen qualitativen Unterschied zwischen heidnischen und alttestamentlichen Schriften setzt er jedoch nicht. Ehe wir uns Kierkegaards Hiob-Exegese zuwenden, müssen wir noch der alttestamentlichen Wissenschaft gedenken. Matthias Engelke hat in seiner Monographie zu »Kierkegaard und das Alte Testament« bemerkt: Da sowohl die Orthodoxie als auch der Grundvigianismus die historisch-kritische Methode ablehnten, konnte man Anfang des 19. Jahrhunderts in Kopenhagen gut Theologie studieren, ohne sich mit ihr tiefer auseinander setzen zu müssen.27 Kierkegaard hat jedoch die historische Bibelkritik keinesfalls ignoriert. Er attackiert sie hart und hat doch einige ihrer Fragen unausgewiesen aufgenommen und auf seine Weise beantwortet.28 22 So auch VI 294f. (Stadien auf des Lebens Weg). Der Schreiber kommt an dieser Stelle zu dem Schluss, Gott spreche zu dem Menschen, indem er ihn selbst gebrauche, »um durch ihn ihm zu sagen, was er ihm sagen will« (VI 295); vgl. dazu bereits III 303 (Drei erbauliche Reden 1843). 23 Von Kierkegaard in Pap. III C 26 Latein zitiert; vgl. Søren Kierkegaard Skrifter, Bind 19: Notesbøgerne 1–15, hg.v. Søren Kierkegaard Forskningscenteret, Kopenhagen 2001, 260. Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg.v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 6, Berlin 1907, 42. 24 Vgl. VI 444. 25 Die prinzipielle Differenz in der Lesehaltung wird Johannes Climacus in »Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift« ausführen, indem er zwischen der subjektiven und der objektiven Reflexion unterscheidet, vgl. VII 159f. (sowie VII 223f. im Hinblick auf »Die Wiederholung«). 26 Im Verhältnis zum Evangelium sieht Kierkegaard die Subjektivität noch einmal stärker in der Verantwortung als im Verhältnis zu einer Parabel, wie sie Nathan erzählt. Das Evangelium spreche nicht »zu dem einen Menschen über den anderen Menschen« (IX 18), sondern es habe selbst die Vollmacht, den Einzelnen »direkt« anzusprechen. Die Klammer, dass diese Vollmacht den Schriften des Neuen Testaments von dem Lesenden allererst zugesprochen werden muss, thematisiert Kierkegaard in seinen späteren »Christliche[n] Reden« meist nicht mehr. Die Frage, welche Vollmacht den Evangelien und den Briefen zukommt, behandelt Kierkegaard, indem er sich die Gestalt eines Apostels zu erklären versucht; vgl. Wilke, Kierkegaard-Rezeption (s. o. Anm. 4), 389–401, v.a. 392–395. 27 Vgl. Engelke (s. o. Anm. 1), 66. 28 Zur Polemik gegen die rein auf ein Approximationswissen abzielenden Wissenschaften vgl. VII 12– 23.

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Dazu ein Beispiel. Kierkegaard besaß an exegetischer Literatur unter anderem die historisch-kritische »Einleitung in die Bibel« (41833) von Wilhelm Martin Lebrecht de Wette. Er hat zudem wohl auch dessen Artikel über Hiob zur Kenntnis genommen, den de Wette 1831 in »Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste« veröffentlicht hat.29 De Wette spricht sich in beiden Schriften, wenn auch zögerlich, dafür aus, dass die Person und die Handlung des Hiob-Buches erdichtet sind.30 Doch nicht allein das, sondern vor allem de Wettes positive Charakterisierung des Buches Hiob klingt bei Kierkegaard nach. De Wette sieht in Hiob ein »Lehrgedicht«, in dem die Idee der Vergeltungslehre expliziert wird.31 Bei Kierkegaard beziehungsweise bei dem »namenlosen Freund« klingt das dann so: »Was bedeutet denn die Lage Philoktets, wenn man sie mit der Hiobs vergleicht, in welcher die Idee in ständiger Bewegung ist. [. . . ] Ist Hiob eine dichterische Gestalt, hat es nie einen Mann gegeben, der so gesprochen, so mache ich seine Worte zu den meinen und nehme die Verantwortung auf mich. Mehr vermag ich nicht; denn wer hätte solch eine Beredsamkeit wie Hiob oder wäre imstande, an dem Gesagten etwas zu verbessern« (III 239).

Der namenlose Leser des Hiob-Buches übernimmt, gemäß Kierkegaards hermeneutischer Maxime, Verantwortung für die Weise, wie er Hiob für sich gewinnt, und wehrt sich explizit dagegen, in den vorliegenden Text literarkritisch einzugreifen. In der Einschätzung des Charakters der Schrift ist er mit de Wette aber einig: sie steht an der Grenze zur Poesie. Solche Bezüge auf die damalige Exegese bleiben bei Kierkegaard schemenhaft. Prinzipiell ordnet er die historisch-kritische Fragestellung seiner Weise »holistischer Exegese« unter.32 Kierkegaard hat, nach eigener Aussage, täglich im Alten Testament gelesen33 und verfügte über ein dementsprechend großes Repertoire an alttestamentlichen Zitaten. Die Auswahl der Stellen, die in seine Schriften aufgenommen werden, nimmt er aus rein thematischen (nicht aus formalen) Gründen vor. Zudem ist sein Umgang mit den Zitaten sehr frei. 29 Vgl. Thulstrup (s. o. Anm. 9), Nr. 80. 1311–1363; Wilhelm Martin Lebrecht de Wette, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testamentes, Berlin (1817) 61845; ders., Art. »Hiob«, in: AEWK 8, (Leipzig 1831) Graz 1978, 290–298. 30 Vgl. de Wette, Hiob, 295: »Manche unter den Neueren nehmen an, der Dichter habe einen geschichtlichen Stoff benutzt; Hiob habe wirklich gelebt und diesen Glückswechsel erfahren: das kann seyn und nicht seyn; aber daß Alles, auch die vorausgesetzten Thatsachen der Dichtung angehören, möchte wohl überwiegend wahrscheinlich seyn.« 31 Vgl. de Wette, Hiob, 291. 296. Über den Endredaktor schreibt de Wette kritisch, »und er, der Idee nicht mächtig, bildete aus dem überlieferten Stoffe dieses unzusammenstimmende Ganze« (aaO. 295). Bestimmte Kapitel aus Hiobs Rede herauszulösen, weil sie nicht zum Duktus oder in die Gesamtanlage passen, wie es de Wette, Johann Gottfried Eichhorn oder Friedrich Wilhelm Carl Umbreit bereits damals getan haben, lehnt Kierkegaard ab; vgl. III 239 und IV 9f. (Vier erbauliche Reden 1843). 32 Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts wird Kierkegaard auch im Bereich der anglo-amerikanischen Forschung als eine Alternative zur historisch-kritischen Exegese entdeckt; vgl. Minear/Morimoto (s. o. Anm. 1), 11f.; Timothy H. Polk, The biblical Kierkegaard. Reading by the Rule of Faith, Georgia 1997). 33 Vgl. Pap. X 4 A 195/T 3, 304 (1851).

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Dazu ein weiteres Beispiel. In ISam15, 22b heißt es: »Siehe, Gehorsam ist besser als Opfer«.34 Dieser Halbvers wird von Kierkegaard häufig angeführt, (soweit ich sehe) nie als inner-alttestamentliche Religionskritik gelesen, nur einmal, in »Entweder/Oder«, religionsgeschichtlich aufgenommen (und auf die Mystik bezogen), dafür aber in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf eine ethisch-religiöse Aussage über den Gehorsam verkürzt.35 Kierkegaards Wahrnehmung alttestamentlicher Frömmigkeit wird durch seine subjektive Lesart prädisponiert, darin zeigt sich ihre Stärke und ihre Grenze. Nur an wenigen Stellen wird erkennbar, dass ihm der Text auch zum Korrektiv wird.36

2. Die Krise der Weisheit: Hiob, Salomo und der Tun-Ergehen-Zusammenhang (T-E-Z) Für Kierkegaard ist vor allem die Krise der alttestamentlichen Weisheit der Schlüssel zum Alten Testament. Es ist auffällig, dass Kierkegaard im Unterschied zu seinen theologischen Lehrern in seinen Schriften häufig auf den Prediger Salomo, die Sprüche Salomos und Hiob rekurriert. Mose hingegen ist für ihn als Auserwählter nicht interessant, David und Salomo kommen vor allem als Dichter und Weise in den Blick, Themen wie Königtum, Landnahme, Exodus oder Noahbund spielen keine Rolle.37 Die Reflexionen zu Hiob, den Sprüchen Salomos oder zu Abraham (letzterer allerdings primär in der Ausnahmesituation von Gen 22) ziehen sich hingegen durch sein gesamtes Werk. Kierkegaard fasst die Krise der alttestamentlichen Weisheit nicht als eine literarische Bewegung auf, sondern als Ausdruck der Krise der alttestamentlichen Weisen. Er zeichnet den Weisen, heiße er Hiob oder Salomo, als einzelnen Denker, der im Konflikt steht mit dem religiösen System seiner Zeit. Exemplarisch veranschaulichen lässt sich der Konflikt von Ausnahme und System am Buch Hiob. Die Hiob-Rahmenerzählung gibt das Paradigma des Allgemeinen vor: Leiden ist eine einstweilige Prüfung und dem Gerechten wird es letztlich gut gehen. Die Dialoge zwischen Hiob und seinen Freunden hingegen zeigen Hiob als Ausnahmegestalt: Er ist der Gerechte und beharrt darauf, unschuldig zu leiden. In »Die Wiederholung« konzentriert sich die Auseinandersetzung mit Hiob auf den streitenden Hiob der Dialoge. Noch im gleichen Jahr aber, ebenfalls 1843, verfasst Kierkegaard eine Erbauli34 Die Übersetzung folgt hier und im Folgenden dem Text der revidierten Lutherbibel von 1984 (vgl. Die Bibel. Nach der Übersetzung von Martin Luther. Mit Apokryphen, Stuttgart 1985). 35 Vgl. die Aufnahme von ISam15, 22 in II 218f., VI 162f. und VIII 165 (Erbauliche Reden in verschiedenem Geist). Aussagekräftig sind ferner XIII 558f. (Die Schriften über sich selbst) und Pap. VIII 1 A 540, 247 /T 2, 206f. Die beiden letzten Notizen zeigen, dass Kierkegaard sich als Einzelner in der Pflicht sah, die Kategorie des Einzelnen stark zu machen. 36 Kierkegaard hebt z.B. hervor, dass die Widersprüche in der Bibel nicht auszuräumen sind. Sie seien notwendig, um den Lesenden wach zu machen. Vgl. dazu die Zusammenfassung bei Engelke (s. o. Anm. 1), 177–179. 37 Als paradigmatisch für diesen Sachverhalt kann die Darstellung Moses in V92–94. 190f. (Vier erbauliche Reden 1844) gelten. Mose wird von Kierkegaard beschrieben als ein ganz Gott ergebener Prophet, denn Mose erkennt, dass er von sich aus nichts zu tun vermag.

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che Rede zu Hi1, 20f, in der die Gewichtung zwischen Rahmenerzählung und Dialogen sich umkehrt. Ein entsprechendes Bild zeigt sich in den späteren Schriften zu Hiob. Auch in ihnen ist vor allem vom Glauben Hiobs als Ausdrucksgestalt des Allgemeinen die Rede. Worin mag der Grund für diese Verschiebung der Gewichtung liegen? Es wird den Kierkegaard-Lesern von der Forschung immer wieder nahe gelegt, dass primär biographische Gründe dazu führen, dass sich Kierkegaard zuerst mit dem klagenden Hiob, bereits wenig später jedoch mit dem glaubensstarken Hiob beschäftigt. Daran angeschlossen wird weiterhin die These, dass Kierkegaard 1843 mit seiner Abkehr vom Hiob der Dialoge auch sein Verhältnis zum Alten Testament beendet.38 Man muss jedoch Kierkegaards Biographie nicht kennen, um die Denkbewegung in seinen Schriften nachvollziehen zu können. Im Folgenden erarbeiten wir uns einen primär systematischen Einblick in seine Einschätzung alttestamentlicher Frömmigkeit. Dabei wird die uns leitende Frage sein, auf welche Weise Kierkegaard den Hiob der Rahmenerzählung und/oder den der Dialoge in den Duktus der jeweiligen Schrift einbezieht. Im Zuge dieses Durchgangs wird sich zeigen lassen, inwiefern Kierkegaards Zugang zu Hiob sich 1843 wandelt, und dieses Jahr doch nicht das Ende seiner Auseinandersetzung mit dem Alten Testament markiert.39 Kierkegaards erste Schrift über Hiob, »Die Wiederholung«, ist ihrem Untertitel zufolge keine exegetische Abhandlung, sondern ein »Versuch in der experimentierenden Psychologie« (III 171). Das Experiment wird von zwei Männern bestritten, dem beobachtenden Experimentator, Constantin Constantius, und einem unglücklich verliebten Mann, der namenlos bleibt. Hiob begegnen wir ein erstes Mal im zweiten Teil des Buches, der überwiegend aus einer Reihe von Briefen des Namenlosen besteht. Dieser namenlose Freund wird uns von Constantius im Vorausgehenden vorgestellt als das personifizierte unglückliche Bewusstsein, oder auch der Prototyp eines Melancholikers.40 38 Ein Beispiel für die Verschlingung von biographischer und systematischer Interpretation von Kierkegaards Verhältnis zum Alten Testament bietet in dem Teil der älteren deutschen KierkegaardForschung, der sich von Hirsch herleitet, Hayo Gerdes, Das Christusverständnis des jungen Kierkegaard. Ein Beitrag zur Erläuterung des Paradox-Gedankens, Itzehoe 1962, 29–36. Trotz all seiner Kritik an Hirsch und Gerdes fällt auch Engelke an entscheidender Stelle in eine biographische Engführung zurück; vgl. Engelke (s. o. Anm. 1), 88f. 39 Wie intensiv sich Kierkegaard auch nach 1843 mit dem Alten Testament beschäftigt hat, zeigt neben den im Weiteren behandelten Texten zu Hiob die »Gelegenheitsrede« von 1847. Sie bietet inhaltlich eine Auseinandersetzung mit der Ethik Kants – und eine erneute Auseinandersetzung mit dem Prediger Salomo. Kierkegaard arbeitet, indem er wiederholt Verse aus dem Prediger zitiert, die Spannung heraus, die dem biblischen Text sein Gepräge gibt. Das Schwanken des Predigers zwischen resignativem Skeptizismus (Koh3, 9) und bejahter Gottergebenheit (Koh3, 11) erklärt Kierkegaard damit, dass der erste Vers aus dem Munde des greisen, der optimistischere zweite Vers aber aus dem Munde des weisen Salomo stamme (vgl. VIII 122). In der Anmerkung zu dem Zitat aus Koh3, 11 weist Gerdes darauf hin, dass Kierkegaard in seiner Übersetzung von dem Text der dänischen Kirchenbibel abweicht und eventuell einer an der Universität Kopenhagen vertretenen Lesart folgt; vgl. GW 1, 18. Abteilung, 365 (Anm. 8). An dieser und ähnlichen Stellen zeigen sich deutlich Spuren von Kierkegaards Beschäftigung mit dem Alten Testament, die aus seiner Studienzeit bis in sein Spätwerk führen. Der Befund widerlegt die These Hirschs, solche Spuren gäbe es nicht; vgl. Hirsch, Kierkegaard-Studien (s. o. Anm. 8), 460. 40 Erste Gedanken zu Hiob finden sich in einem Exzerpt Kierkegaards zu einem Aufsatz von Karl Ro-

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Er liebt eine junge Frau, muss jedoch bereits nach kurzer Zeit entdecken, dass die junge Frau für ihn allein »der Anlaß« (III 179) gewesen ist, die Liebe in ihm zum Klingen zu bringen. Nun ist er wieder sich selbst genug und meint sich von der Frau trennen zu müssen. Unter diesem Zustand aber leidet er, denn er ist sich sicher und darüber verärgert, dass er »unschuldig an ihrem Unglück schuldig wurde« (ebd.).41 In dieser Gemütslage greift der namenlose Freund zum Buch Hiob. Bereits auf den ersten Blick entdeckt er, dass das Allgemeine der Rahmenhandlung für ihn uninteressant ist. Um Trost zu finden in seinem Leiden vertieft er sich in die Dialoge.42 Er sieht sich zu diesem Zeitpunkt als jemand, der aufbegehrt gegen die Allgemeinplätze weltlicher Weisheit. Er will nicht akzeptieren, dass die Menschen Gott verteidigen, will nicht akzeptieren, dass die verbeamteten Kanzeltröster nur Hi1, 21 predigen. Deshalb ruft er Hiob zu: »Hiob! Wiederhole es alles, was du gesagt, du gewaltiger Fürsprech, welcher vor den Richterstuhl des Allerhöchsten unerschrocken hintritt gleich einem brüllenden Leu« (III 232).

Etwas nüchterner ausgedrückt kann man sagen, der namenlose Leidende sucht Hiob als seinen Anwalt. Hiob soll ihm helfen, seine Klage vor den »Richterstuhl des Allerhöchsten« zu bringen. Der Namenlose will, dass sich Gottes Rechtfertigung wiederhole, wie sie Hiob heraufbeschworen hat. »Erheb Klage«, ruft er Hiob zu, »der Herr hat keine Furcht, er vermag es sehr wohl sich zu verteidigen« (ebd.). Unter dieser Annahme beginnt er mit dem Hiobbuch in der Hand Gott herauszufordern. Seine Briefe sind mit zahlreichen Zitaten und Anspielungen aus dem biblischen Buch durchsetzt und geben auf diese Weise Zeugnis davon, wie sich der namenlose Freund (und Kierkegaard als sein Dichter mit ihm) durch die Hiobdialoge durcharbeitet. Dazu ein Beispiel: Schon in seiner ersten Klage, Hi3, verflucht Hiob den Tag seiner Geburt. In seiner ersten Antwort an Elifas (Hi6f.) zerbricht er zudem geprägte Vorstellungen. Motive, die in der Tradition der Psalmen als Symbole für Gottes Fürsorge, Erlösung und Schutz standen: die Schöpfung, der Morgen und Gottes Angesicht, interpretiert Hiob als Ausdruck dafür, dass er von Gott verfolgt wird. Ein Mensch zu sein wird in Ps8 noch als Zeichen des Auserwähltseins gepriesen, für Hiob verkehrt es sich zum Fluch: »[D]ie Pfeile des Allmächtigen stecken in mir; mein Geist muß ihr Gift trinken, und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet. [. . . ] Ißt man Fades, ohne es zu salzen, oder hat Eiweiß Wohlgeschmack? Meine Seele sträubt sich, es anzurühren« (Hi6, 4. 6–7a); »Was ist der Mensch, daß du ihn groß achtest und dich um ihn bekümmerst? Jeden Morgen suchst du ihn heim und prüfst ihn alle Stunden. Warum blickst du nicht einmal von mir weg ...?« (Hi7, 17–19a) »Mich ekelt mein Leben an« (Hi10, 1). senkranz in Pap. II A 92, S. 57f. Vgl. dazu Karl Rosenkranz, Eine Parallele zur Religionsphilosophie, in: Zeitschrift für spekulative Theologie, Bd. II/1, Berlin 1837, 1–31. In »Entweder/Oder« wird Hiob erwähnt als »Sorgens Patriarch« (I 201: »Patriarch der Sorge/der Trauer«, Übersetzung M.W.). Mit der Charakterisierung des Namenlosen in »Die Wiederholung« als Melancholiker schließt Constantius an die Überlegungen aus »Entweder/Oder« an (vgl. III 175–179). 41 Vgl. auch III 220. 42 Vgl. III 231f. Zur Ablehnung von Hi1, 21 vgl. auch III 243f.

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Ebenso nah am Rand der Verzweiflung beginnt der Brief, den der Namenlose am 11. Oktober schreibt. Bilder und Worte aus Hiob kehren in freier Aneignung wieder: »Mein Leben ist bis zum Äußersten gebracht; es ekelt mich des Daseins [Tilværelse], welches unschmackhaft ist, ohne Salz und Sinn. Wäre ich gleich hungriger als Pierrot, ich möchte dennoch nicht die Erklärungen fressen, welche die Menschen anbieten. Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. [. . . ] Wer bin ich? [. . . ] ›Schuld‹ – was will das heißen? Ist das Hexerei?« (III 234).

Der namenlose Freund hält sich in seinen Briefen an den Duktus seiner literarischen Vorlage. Dennoch ist bereits aus dem letzten Zitat unschwer herauszulesen, dass er sich in seinem Leiden stärker gegen sich selbst wendet. Er weiß nicht mehr, was Schuld eigentlich bedeutet. Er verliert die Möglichkeit, sich zu verstehen. Ein weiteres Zitat verdeutlicht diese aufbrechende Differenz: »Mein Verstand steht stille, oder richtiger, ich gehe seiner verlustig?... Alles, was in meinem Wesen enthalten ist, schreit auf in Widerspruch zu sich selbst. Wie ist es zugegangen, daß ich schuldig ward? Oder bin ich etwa nicht schuldig? Warum werd ich dann so genannt in allen Zungen?« (III 235).

Der namenlose Freund gerät in Zwiespalt mit sich selbst. Die Begriffe, die ihm vorgegeben sind, sich zu verstehen, greifen nicht mehr.43 Hiob, der unschuldig Leidende, leidet an Akzidenzien, wie die Krankheit oder der Tod seines Viehs. Er versteht nicht, warum Gott das zulässt, aber er versteht sich selbst. Aus der Perspektive des namenlosen Freundes betrachtet verkörpert Hiob nur den Typ ästhetisch-dialektischen Leidens. Die existentielle Bewegung hingegen, die der Freund durchlebt, kann beschrieben werden als dialektisch-verinnerlichtes Leiden. In dem Moment, in dem er es in Betracht zieht, schuldig zu leiden, setzt er sich mittelbar in ein Verhältnis zu dem, was ihm widerfährt. Mit den Worten der »Abschließende[n] unwissenschaftliche[n] Nachschrift« gesprochen lautet die Differenz, die hier in »Die Wiederholung« zwischen Hiob und dem namenlosen Freund kenntlich wird: »daß Leiden die direkte Reaktion eines abstoßenden Verhältnisses ist; Schuldbewußtsein [aber] die abstoßende Reaktion eines abstoßenden Verhältnisses« (VII 465). Entscheidend für Kierkegaards Hiobbild ist, dass er in dem Hiob der Dialoge noch nicht den entscheidenden Ausdruck des leidenden Religiösen sieht. Dieser ist erst mit der zunehmenden Verinnerlichung gegeben, dem Schuldbewusstsein.44 Nun haben aber bereits seine Freunde Hiob immer wieder dazu gedrängt, seine Schuld einzugestehen. Wird nicht durch das Schuldbewusstsein der T-E-Z erneut in seiner Geltung eingesetzt? Verlassen wir an dieser Stelle »Die Wiederholung«. Tiefer als gezeigt dringt Kierkegaard mit dieser Schrift nicht in die Frömmigkeit des Alten Testaments ein.45 Das 43 Er begehrt gegen diese Frage auf, kommt aber doch wieder auf sie zurück und fragt nach der Möglichkeit der Reue (vgl. III 236). 44 In seinem Brief vom 15. November ahnt der Namenlose bereits die Differenz zwischen ihm und dem Gerechten und geht wieder in Distanz zu Hiob (vgl. III 240). 45 Im Brief vom 14. Dezember durchdenkt der Namenlose der Sache nach die weiteren Dialoge, auch

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Thema des T-E-Z hat ihn jedoch auch weiterhin beschäftigt, und er hat es nicht nur anhand der Hiob-Gestalt, sondern auch in Auseinandersetzung mit Salomo expliziert. Die wohl aussagekräftigste Skizze Salomos findet sich in »Stadien auf des Lebens Weg«. Frater Taciturnus, der Autor, setzt sich in einem »psychologischen Experiment«, das er zu einer »Leidensgeschichte« ausbaut, ebenfalls mit der Frage »Schuldig? – NichtSchuldig?« (VI 176) auseinander. In dieser Leidensgeschichte findet sich eine Notiz mit der Überschrift: »Salomos Traum« (VI 236). Geschildert wird in ihr in geraffter Form Salomos Verzweiflung an den Gewissensqualen seines Vaters David.46 Salomo sieht in seinem Vater einen von Gott auserwählten, gerechten Mann. Eines Nachts aber, als Salomo zufällig bei seinem Vater ist, hört er, wie David aus Verzweiflung und Reue über seine Schuld aufschreit. Nun meint Salomo zu wissen, was all der alten Weisheit widerstreitet, dass man ein Gottloser werden müsse, um Gottes Auserwählter zu sein.47 Salomos Verstand, so wird in den »Stadien« weiter erzählt, sei nun »zermalt« (VI 237). Denn wie sollte er es innerhalb des ihm bekannten religiösen Deutungsparadigmas denken können, dass David trotz seines bleibenden Schuldbewusstseins von Gott gesegnet sei? Der T-E-Z bietet ein Erklärungsmuster für Leiden. Leiden kann Strafe Gottes sein. Begangene Schuld versucht der Glaubende deshalb durch Opfer zu kompensieren.48 Erneutes Wohlergehen ist das Zeichen für vergebene Schuld. Ein bleibendes Schuldbewusstsein aber wie in Davids Traum muss Salomo bei einem Auserwählten nachhaltig irritieren. Es wird geschildert, Salomo sei durch dieses Erlebnis zum Weisen und Denker und zum Prediger geworden, aber ein Beter, ein Glaubender sei er nicht geworden. Und so war »Zwiespalt gesetzt in sein Wesen« (VI 237).49 Mit dieser Geschichte gibt Kierkegaard eine biographisch-psychologische Erklärung für den Skeptizismus in den Salomo zugeschriebenen alttestamentlichen Schriften und markiert zudem eine gegenüber den Hiob-Dialogen neue Tiefe in der alttestamentlichen Weisheit. Der T-E-Z konnte trotz eingestandener Schuld nicht wieder eingesetzt werden.50

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die Elihu-Reden werden summarisch erwähnt (vgl. III 242), ehe er auf die Rahmenhandlung und deren Lösung zu sprechen kommt: eine Prüfung. Die sachliche Spannung, die zwischen der Rahmenerzählung und den Dialogen im Hiobbuch besteht, hat Kierkegaard in der uns vorliegenden Fassung von »Die Wiederholung« unaufgelöst abgebildet. Auch in seiner Schrift bleibt es unklar, ob die Wiederholung sich auf das Äußere bezieht (Hi42) oder ob sie darin gesehen werden kann, dass Hiob Gott dazu bringt, sich zu offenbaren und ihm damit Recht zu geben in seiner Klage – und ihm doch Unrecht zu geben in seinem Anliegen, ein Gott gleichwertiger Partner zu sein (vgl. III 245). Der Dichter dieses Stücks lässt Salomo (gemäß IISam12, 25) bei Nathan aufgewachsen sein. Durch den Bezug auf Nathan ahnt der Leser, unter welcher Schuld David leidet. Vgl. VI 236f. Es wird geschildert, dass Salomo träumt, David sei von Gott dazu verdammt zu herrschen. Das, was wie ein Segen aussieht, sei Gottes heimliche Strafe. Der explizierte Gedanke klingt bereits in einer Rede von 1843 an (vgl. III 302). Siehe dazu die Skizze von Judentum und Heidentum in »Der Begriff Angst« (vgl. IV 372f.). In der »Gelegenheitsrede«, der ersten der »Erbauliche[n] Reden in verschiedenem Geist« (1847), schildert Kierkegaard eindrücklich Salomos traurige Weisheit (vgl. VIII 120–122). Bereits in »Die Wiederholung« streift der Namenlose die Tiefe dieses Gedankens. Er sieht, dass die Kategorie der Prüfung sehr wohl in den absoluten Skeptizismus münden kann, wird sie auf das gesamte Dasein ausgeweitet, hält dem aber entgegen, sie sei ja nur zeitweilig anzuwenden (vgl. III

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Die Zusammenschau von Salomo und Hiob verdeutlicht die wesentlichen Nuancen innerhalb der pathetischen Religiosität. Theoretisch dargelegt hat sie Johannes Climacus 1846 in »Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift«. Er bezeichnet die pathetische Religiosität in Abgrenzung zur christlichen Religiosität als Religiosität A. Er kennzeichnet sie (dem Zeitgeist folgend) als teleologische Religiosität und denkt sie zudem dreifach gestuft.51 Der »anfängliche Ausdruck« liegt darin, dass der existierende Denker seiner Existenz religiösen Stil gibt, indem er sich mit Leidenschaft auf das eine, absolute Telos (Gott) ausrichtet. Der »wesentliche Ausdruck« ist das Pathos des Leidens, wie es der namenlose Freund an Hiob nacherlebt hat. Der »entscheidende Ausdruck« aber liegt in der Annahme des Leidens als Schuld. Ebenso wie die späte alttestamentliche Weisheit birgt die Religiosität A auf ihrer äußersten Stufe die Gefahr, in einen an sich selbst verzweifelnden Skeptizismus zu münden. Von diesen drei Formen der pathetisch-dialektischen Religiosität zu unterscheiden ist die paradox-dialektische Religiosität, die christliche Religiosität B. Wie sich aus ihrer Sicht die Stufen der Leidensreligiosität darstellen, wird deutlich, wenn wir der HiobRezeption Kierkegaards bis in die »Erbauliche[n] und Christliche[n] Reden« hinein folgen.

3. Der Glaube Hiobs Am Ende des Jahres 1843 greift Kierkegaard in der ersten von »Vier erbauliche[n] Reden« seine Auseinandersetzung mit Hiob wieder auf. Nun jedoch legt er seiner Rede den zuvor abgelehnten Vers Hi1, 21 zugrund: »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt« (IV 9). Es geht in dieser Rede wie in Hi1–2 nicht um das Thema Schuld, sondern um die Aufrichtigkeit gegen sich selbst. Sie, so Kierkegaard, könne der Leser/der Glaubende von Hiob lernen.52 Kierkegaard veranschaulicht am Glauben Hiobs prototypisch die anfängliche Bewegung der Leidensreligiosität, die Verinnerlichung des Verhältnisses zum Absoluten. Die Hiob-Idee der Dialoge wird nicht wieder aufgegriffen. Die Motivation, im Buch Hiob zu lesen, ist aber die gleiche geblieben, nämlich Trost zu suchen bei Hiob. Unabhängig von Recht und Schuld tröstet Hiob, weil der Gedanke an Gott seine Existenz so prägt, dass er ihn auch im Entsetzlichen nicht loslässt.53 244). Anhand der Notiz in Pap. XI A 301 (1849) ist ersichtlich, dass für Kierkegaard auch nach 1843 der T-E-Z der Schlüssel zum Alten Testament bleibt. Kierkegaard zitiert Ps37, 25 mit dem Hinweis: »Alle menschliche, auch jüdische Religiosität gipfelt in dem Wort Salomos (oder Davids): ›Ich bin jung gewesen und alt worden, und habe noch nie gesehen den Gerechten verlassen von Gott‹« (T 3, 223). 51 Vgl. zum Folgenden VII 335–484. Climacus beschreibt die tiefste Gestalt der Leidensreligiosität mit den Worten: »Das ewige Sicherinnern der Schuld ist der höchste Ausdruck für das Verhältnis des Schuldbewußtseins zu einer ewigen Seligkeit« (VII 458; i.O. m. Herv.). 52 Kierkegaard beschreibt Hiobs Wort an dieser Stelle mit ästhetischen Kategorien. Hiob ist ein »Vorbild«, er »lockt mit seinem herrlichen Beispiel« und spricht an mit seinem »schönen Wort« (IV 12). 53 Vgl. IV 22f. Es zeichnet Hiob aus, so Kierkegaard, dass er »sein Leben als eine Anleitung für je-

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Kierkegaard geht mit dieser Rede im Dezember 1843 noch einmal zur Grundlage der Religiosität Hiobs zurück. Das ist der sachliche Grund für die Abkehr von dem Rebellen Hiob. In einem Nebensatz deutet er aber auch die bereits erkannte Grenze an, die jeder Verinnerlichung immanent ist. Der Einzelne bleibt unvertretbar bei sich selbst.54 Der 1843 nur angedeutete Stellvertretungsgedanke wird von Kierkegaard nicht mehr ausgehend vom Alten Testament dargelegt werden, obwohl das möglich wäre,55 sondern anhand der Evangelien. Das geschieht 1847 in der dritten Abteilung der »Erbauliche[n] Reden in verschiedenem Geist«, die überschrieben ist: »Das Evangelium der Leiden. Christliche Reden« (VIII 299). Der vierten dieser programmatisch christlichen Reden liegt Lk23, 41 zugrunde, der Ausspruch des Schächers am Kreuz: »Wir empfahen, was unsre Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes getan« (VIII 349).56 Von Beginn an finden sich in dieser Rede zahlreiche Zitate aus Hiob, den Sprüchen und dem Prediger Salomo. Kierkegaard greift mit ihr, Lukas 23 folgend, die Frage nach dem T-E-Z wieder auf und stellt die Verbindung her zum stellvertretenden Leiden Christi. Der Sache nach führt er seinen Leser erneut die Bewegung der Verinnerlichung, bis in den entscheidenden Ausdruck des Leidens als Schuld hinein. Entscheidender aber als diese Bewegung ist das Forum, vor dem sie sich vollzieht: Gott ist der Richter, Gott ist allmächtig, Gott ist die Liebe – und Jesus Christus leidet unschuldig.57 Entsprechend dieser Voraussetzungen gilt für den Menschen Hiob: »Also Hiob leidet, menschlich gesprochen, unschuldig [. . . ] Dennoch hat Hiob ständig wider Gott unrecht. Gottes Gedanken sind ewig höher als eines Menschen Gedanken, und deshalb ist jede menschliche Vorstellung von Glück und Unglück [. . . ] ein unrichtiger Gedanke« (VIII 366).

Unter dem Druck des Gedankens der absoluten qualitativen Differenz wird Hiobs Klage auf ihn selbst zurückgewendet.58 Seine Begriffe und Vorstellungen vom Leben erweisen sich als falsch. Unverkennbar ist hier die Anspielung auf die Gottesreden in Hiob 38– 42, nur dass Gott bei Kierkegaard nicht direkt spricht. Der Sache nach aber sehen wir

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den Menschen [...], seine Tat als Aufmunterung für die Versuchten« (IV 9) hinterlassen hat. Hiob wird von Kierkegaard (gemäß Jak5, 11) als Paradigma des unerschütterlich religiösen Menschen gezeichnet. Vgl. auch Emanuel Hirsch, Geschichtliche Einleitung zur siebten, achten und neunten Abteilung, in: GW 1, 7.–9. Abteilung, IX. Vgl. IV 10. Der Gedanke des stellvertretenden Leidens findet sich z.B. im vierten Gottesknechtslied, Jes52, 13– 53, 12, angedeutet. In »Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift« greift Johannes Climacus zwar auf Jes53, 2–4 zurück, deutet die Stelle aber nicht inner-alttestamentlich, sondern als Prophezeiung auf Christus, der den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit geworden sei; vgl. VII 521f; so auch XII 62 (Einübung im Christentum). Überschrieben ist die Rede: »IV. Das Frohmachende darin, daß ein Mensch im Verhältnis zu Gott stets schuldig leidet« (VIII 301). Vgl. VIII 350–352. Vgl. Jes55, 8f. In Anspielung auf das christliche Verständnis von Sünde formuliert Kierkegaard in seiner Rede weiter, der Mensch sei nicht partiell schuldig, sondern »wesentlich und unbedingt schuldig« (VIII 367), lebe also in einer »Grundschuld« (ebd.).

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den Hiob aus Hi42, 5f. vor uns, der bekennt: »... nun hat mein Auge dich [scil. Gott] gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche«. Hiob hat die Differenz zwischen ihm und Gott so verinnerlicht, dass er sich schuldig spricht. Was im Hiobbuch allein durch eine verbale Demonstration der Allmacht des Schöpfers erreicht wird, deutet Kierkegaard durch den Aufbau seiner Rede als gedankliche Begegnung Hiobs mit dem Gekreuzigten um. Im Vergleich zu ihm erkennt jeder, auch Hiob, seine Differenz und wird zum bekennenden Sünder.59 Im Vergleich zu Jesus Christus leidet jeder Mensch vor Gott schuldig. Er ist der eine Unschuldige, der stellvertretend für alle ein einziges Mal die Gottverlassenheit durchlitten hat. In seinem Leiden liegt für alle anderen Menschen der Trost, dass sie, weil sie schuldig leiden, nicht die Gottverlassenheit erleiden, die er erlitt.60 Gott ist der Richter, er ist allmächtig und er ist die Liebe. Es ist nicht das Gottesbild, das sich für Kierkegaard im Übergang von der Religiosität A zur Religiosität B geändert hat. Auch bleibt die Bewegung der Verinnerlichung die notwendige Voraussetzung, um überhaupt auf den Gedanken der Stellvertretung aufmerksam zu werden.61 Der entscheidende Unterschied liegt in der Offenbarung Gottes im leidenden Gerechten. Er setzt durch sein Leiden den neuen Maßstabstab zur Bestimmung von Leiden. Was als Gedanke noch Salomo zermalmte, ist nun als geschichtliche Tatsache vorausgesetzt: der von Gott Verlassene ist Gottes Auserwählter. Die Kreuzigung des Verstandes erweist sich hier nicht als prinzipieller Rückschluss aus dem unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch, sondern als christologisch begründet.

4. Das Gottesbild Kierkegaards: Gottes Verborgenheit und seine Offenbarung Der namenlose Freund in »Die Wiederholung« erwähnt in seinem Brief vom 11. Oktober ein Religionslehrbuch, aus dem er mehrere Zitate beifügt. Bei dem Buch handelt es sich um das »Laerebog i den Evangelisk-christelige Religion, indrettet til Brug i de 59 Vgl. VIII 367–369. Bereits in »Stadien auf des Lebens Weg« wird kritisiert, dass Gott direkt mit Hiob redet (vgl. VI 294f.). In der Rede von 1847 zeichnet Kierkegaard, ohne sich von Hiob zu verabschieden, den folgenden Gedankengang als Selbstgespräch des Geprüften vor Gott (vgl. VIII 366f.). Schon vor der Erwähnung Hiobs hat der Leser den verzweifelten Ruf von Ps22, 2 aus dem Munde Jesu gehört, so dass ihm dieses Bild des einen leidenden Gerechten vor Augen steht (vgl. VIII 363). Eindrucksvoll schildert die Rede die Kreuzesszene aus Lk23. Kierkegaard lässt den Räuber zum Prediger des Evangeliums werden und beschreibt unter Aufnahme von Mk15, 34, wie Jesus zum von Gott Verlassenen wird, an dem der Räuber zur Erkenntnis der Barmherzigkeit Gottes gelangt. (Zur Versöhnung durch den leidenden Christus vgl. auch Pap. VIII A 83/T 2, 95). 60 Auch Luther hat Jesus als Verdammten beschrieben, der in seiner Verdammnis für uns ein Bild der Gnade ist; vgl. D. Martin Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2, Weimar 1884, 691, 12–21. 61 Vgl. VII 485f. Zur Struktur des im christlichen Sinne Erbaulichen vgl. Joachim Ringleben, Aneignung. Die Spekulative Theologie Søren Kierkegaards (TBT 40), Berlin/New York 1983, 85–95.

Kierkegaards Umgang mit dem Alten Testament

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danske Skoler« (1791), herausgegeben von Nicolai Edinger Balle (1744–1816).62 Kierkegaard selbst zeigt sich von diesem Lehrbuch beeinflusst und bleibt dem von Balle explizierten Gottesbild in all seinen Schriften verbunden. Balle rekurriert zum Beleg von Gottes Allmacht und Unveränderlichkeit vor allem auf das Gottesbild der Psalmen, Kierkegaard greift zudem an mehreren Stellen auf Ex33, 20 zurück. Gott antwortet Mose, der ihn bittet, sich in seiner Herrlichkeit zu offenbaren: »Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht« (Ex33, 20). Mose wird im Kontext als Gottes Auserwählter beschrieben. Gottes Angesicht bleibt aber gerade dem Auserwählten verborgen. In den »Philosophischen Brocken« (1844) schreibt Johannes Climacus unter Anspielung auf Ex33, 20: »Es war ein Volk, welches sich gut auf das Göttliche verstand; dies Volk meinte, den Gott sehen bringe den Tod.« An dieser Stelle wechselt Climacus die Perspektive und fährt fort, das Problem aus Gottes Sicht, psychologisch-spekulativ zu erörtern: »Wer faßt diesen Widerspruch im Leide: sich nicht offenbaren ist ja der Liebe Tod, und sich offenbaren ist der Geliebten Tod. O, der Menschen Sinn giert gar oft nach Macht und Gewalt, und da ihre Gedanken fort und fort darnach trachten, als ob mit deren Erlangen alles klar geworden wäre, ahnen sie nicht, daß nicht bloß Freude im Himmel ist, sondern auch Leid« (IV 198).63

In diesem »dichterische[n] Versuch« (IV 192), wie das zweite Kapitel der »Philosophische[n] Brocken« überschrieben ist, leidet Gott mit, weil er liebt. Der Gedanke zeigt, wie eng für Kierkegaard Allmacht, Liebe und Leiden in seinem Gottesbild verbunden sind. Er sieht die Spannung, die zwischen Gottes Allmacht und seiner Liebe gerade im Angesicht des Leides besteht, führt sie aber auf eine falsche Vorstellung von Macht zurück, ohne den Gedanken hier weiter auszuführen.64 Auch das Bild des leidenden Gottes ist nicht mehr und nicht weniger als ein dichterischer Versuch. Bereits vor Herausgabe von »Philosophische Brocken« macht Kierkegaard in einer Erbaulichen Rede im Anschluss an »Die Wiederholung« deutlich, dass jedes Bild von Gott »uneigentlich und unwirklich« (III 313; Übersetzung M.W.) sei. Was bleibt ist die Vorstellung der Liebe Gottes als allmächtig. Diese Allmacht denkt Kierkegaard sogar bis zum Äußersten gesteigert.65 Entsprechend erregen auch die Gott satanisierenden 62 Vgl. III 237f.; sowie Thulstrup (s. o. Anm. 9), Nr. 183. Zur Rezeption Balles durch Kierkegaard vgl. Engelke (s. o. Anm. 1), 43–49. Balles Lehrbuch wird von Kierkegaard häufig in seinen Werken erwähnt, vgl. u. a. II 238–243 und VI 414. Balle war Professor in Kopenhagen und von 1783–1808 Bischof von Sjælland. Er galt als ein entschiedener Gegner des Rationalismus. 63 Der Kommentar Hirschs, es sei für Kierkegaards Stellung zum Alten Testament seit 1843 bezeichnend, in welch abständiger Weise er sich hier auf Ex33 beziehe, entbehrt der Grundlage; vgl. GW 1, 10. Abteilung, 173 (Anm. 68). 64 1847 schreibt Kierkegaard in »Erbauliche Reden in verschiedenem Geist«, Gottes Allmacht und Heiligkeit bedeuten nicht, dass er der Stärkste sei, sondern »daß niemand dahin kommen kann, mit ihm zu streiten« (VIII 368). 65 So schreibt er 1852: »Alles das, was eine ältere Frömmigkeit (z.B. Luther) mit Hilfe des Teufels erklärte, dass es der Teufel war, der die Leiden sandte, erkläre ich mit Hilfe von Gottes Majestät« (Pap. X 5 A 39, S. 42; Übersetzung M.W.). Auch die Nachdichtung des Schicksals Nebukadnezars, wie sie sich in »Stadien auf des Lebens Weg« findet, veranschaulicht die Vorstellung von Gottes

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Tendenzen in Hiobs Reden bei ihm keinen erkennbaren Anstoß. Alles Leiden ist Leiden an dem Verhältnis zur absoluten Liebe. Anderes zu denken, lehnt Kierkegaard ab.66 Kierkegaard kommt über sein Gottesbild zu einer differenzierten Zusammenschau beider Testamente. Sowohl den Allmächtigen als auch den liebenden Vatergott setzt er seiner Lektüre der biblischen Schriften voraus. Selbst die Rachepsalmen, um ein prägnantes Beispiel zu wählen, lehnt Kierkegaard nicht aufgrund des in ihnen gezeichneten Gottesbildes ab, sondern allein aufgrund der Frömmigkeitsbewegung. Sie sei nicht christlich, weil sich der Beter nicht in das Leiden füge.67 Der inneren Dynamik, die in die Psalmen oder auch das Buch Hiob gerade durch das Ringen um das rechte Gottesbild eingetragen wird, hat Kierkegaard durch die einseitige Betonung der Bewegung der Aneignung (Verinnerlichung) enge Grenzen gesetzt. Der namenlose Freund in »Die Wiederholung«, Salomo in »Stadien auf des Lebens Weg« und Kierkegaard in den »Erbauliche[n] Reden« ringen mit dem Leiden an der Schuld, der Kierkegaard in den »Christliche[n] Reden« ringt mit dem Leiden an Gott – Gott aber ist als der Unveränderliche vorausgesetzt.68 Der Gedanke, Gott leide, wird zwar im dichterischen Versuch zugelassen, aber Kierkegaard versucht nicht, ihn theologisch einzuholen. Gott leiden zu sehen ist für ihn wie Gottes Angesicht zu sehen – ein Tabu.

5. Zusammenfassung und Ausblick Mit der Unveränderlichkeit des in Freiheit liebenden Gottes stehen wir am Ende von Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Krise der alttestamentlichen Weisheit. Wir haben diese Auseinandersetzung bis ins Jahr 1847 verfolgt. Es ist deutlich geworden, wie Kierkegaard in verschiedenen Zusammenhängen verschiedene Partien des Hiobbuches herausgreift und so auf seine Weise die Vielschichtigkeit der Theologien alttestamentlicher Weisheit nachvollzieht. Das Alte Testament handelt für ihn nicht von Christus, insofern ist das Alte Testament für Kierkegaard kein christliches Buch. Die alttestamentlichen Weisen ermöglichen aber allererst durch den Stil ihrer Religiosität das Christwerden. Allmacht (vgl. VI 336–339). 66 Weil Gott als Liebe gedacht wird, scheiden auch solche Erklärungen aus, die im Leiden eine Strafe für begangene Schuld sehen (vgl. III 241f, VII 472 und VIII 368). 67 Denn »der Christ weiß ja, daß das Christsein Leiden ist [. . . ]. Höchstens setzt man das Wort hinzu: Ist es möglich, daß ich verschont bliebe; aber dieser Gedanke bekommt keine Macht« (Pap. IX A 416/T 3, 112). Kierkegaard sieht in seinen späteren Schriften das freiwillige Leiden als Spezifikum des Christseins (vgl. X 181, »Christliche Reden«). Er scheint so fixiert darauf, das Christentum als Ärgernis zu erweisen, dass er die Differenz zwischen dem innerlichen Leiden an der Gottesbeziehung (an der Trennung vom Absoluten, an Schuld und Sünde) und dem physischen und moralischen Leiden (an Krankheit, Unrecht oder gesellschaftlicher Verachtung) oftmals nicht mehr berücksichtigt (vgl. Pap. X 4 A 573; Pap. X 5 A 39 u. a.). Zu den Fluchworten im Alten Testament vgl. auch I 127f. 68 Am 18. Mai 1851 hielt Kierkegaard in der Citadell-Kirche in Kopenhagen eine Rede zu Jak1, 17–21, die er 1855 unter dem Titel »Gottes Unveränderlichkeit. Eine Rede« (XIV 277–294) veröffentlicht hat.

Kierkegaards Umgang mit dem Alten Testament

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Kierkegaard hat mit der in sich gestuften Charakterisierung der alttestamentlichen Frömmigkeit als Leidensreligiosität ein religionsphänomenologisches Paradigma entworfen, das für das Neue Testament ebenso anschlussfähig ist wie für den jüdischchristlichen Dialog, weil es prinzipiell ohne Wertungen auskommt.69 Kierkegaard selbst bekommt das Alte Testament zwar nur in Ausschnitten in den Blick, sein Ansatz ist aber für eine differenziertere Wahrnehmung der Phänomene offen. Die Einsichten, die Kierkegaard auf diese Weise in die Theologien des Hiobbuches gewinnt, entsprechen historisch-kritischen Erkenntnissen, damals wie heute. An der Integration historischkritischer Exegese in das religionsphänomenologische Paradigma Kierkegaards lohnt es sich weiter zu arbeiten. Kierkegaards gestufte Charakterisierung wird von ihm selbst nach 1847 jedoch zunehmend ins Plakative vergröbert und wertend gebraucht. Er greift die ihm bereits von Lessing und Schleiermacher her bekannten Zuordnungen auf von »kindlich-sinnlich« zum Judentum und »erwachsen-geistig« zum Christentum und reißt Sinnlichkeit und Geist, irdisches und ewiges Leben bis zur Diastase auseinander.70 Die Differenz zwischen Heidentum und Judentum wird eingezogen, was bleibt ist die Entgegensetzung »nicht-christlich (Heidentum/Judentum) – christlich«.71 Seiner Typologie folgend wendet er sich nun gegen das Judentum im Christentum und damit gegen das Christentum, das nicht merkt, dass es eigentlich lebt, als lebe es noch unter der ungebrochenen Geltung des T-E-Z.72 Mit der undifferenzierten Polemik hat Kierkegaard seinen Umgang mit dem Alten Testament in Verruf gebracht. Aufs Ganze gesehen zu Unrecht.

69 Bereits Rosenkranz charakterisiert das Judentum in seiner Entwicklung als »in diesem Prozeß für alle Zeiten die typische Geschichte des religiösen Bewußtseins, wie es sich zum Christentum hinbewegt«; Rosenkranz (s. o. Anm. 40), 15. 70 In Pap. X 4 A 572, S. 390 bezeichnet Kierkegaard die alttestamentliche Vorstellung der »Prüfung« als »Barnlighedens Kategorie« (ebd.), also als Kategorie der Kindheit. Das Christentum sei im Vergleich zum Judentum erwachsen geworden. Gott der Vater bestimme sich nun als Geist und werde strenger. Er greife nicht mehr beständig prüfend in das Leben des Glaubenden ein, sondern verweise ihn auf das Endgericht. Kierkegaard geht wie Lessing von einem Entwicklungszusammenhang zwischen alttestamentlich-jüdischer und christlicher Frömmigkeit aus. In seinen späten Notizen findet sich die Behauptung, dass Christus von einer Jungfrau geboren wurde, heiße im Grunde genommen, »das ganze Alte Testament zu negieren oder ihm die Kraft zu nehmen« (Pap. XI 1 A 142; Übersetzung M.W.). An anderer Stelle schreibt er den Juden plakativ die Rolle zu, seit Christi Geburt ein dauerhaft im Untergang befindliches Volk sein und bleiben zu müssen (vgl. Pap. IX A 249/T 3, 62f.). 71 Vgl. Kirmmse (s. o. Anm. 15), 89–93. »Judaism is identified with everything Kierkegaard finds despicable in the established Christian religiosity of Golden Age Denmark« (aaO. 88). 72 Unter Anspielung auf Ps1, 3 und das Schicksal Nebukadnezars hält Kierkegaard 1848 in einer Tagebuchaufzeichnung zum Verhältnis von Judentum und Christentum fest, aus der Perspektive des Judentums wäre Jesus von Nazareth der aller Verachtetste (vgl. Pap. IX A 424/T 3, 113). Auch die berechtigte Kritik an Kierkegaards Ausarbeitung des »Skandalon« zu einem Prinzip, wie sie Marquardt formuliert, trifft vor allem die späte Polemik Kierkegaards gegen »das Jüdische« in der bestehenden Christenheit; vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd. 1, München 1990, 175–177.

Die religionskonstruktive Funktion der Bezugnahme auf das Judentum bei Ferdinand Christian Baur und Albrecht Ritschl Folkart Wittekind I. Ferdinand Christian Baur 1. Judentum und Religionsverständnis in der Geschichte der Versöhnungslehre (1838) In der Einleitung zu seiner frühen Geschichte der Versöhnungslehre von 18381 entwirft Baur2 ein historisches Bild des Verhältnisses von Christentum und Judentum, das konstruktiv gesehen auf der Idee eines allgemeinen Religionsbegriffs beruht. Genauer: Die Entwicklung vom Judentum zum Christentum wird eingezeichnet in ein allgemeines Bild der Religionsgeschichte, das selbst gemäß der Realisierung des Begriffs Religion konstruiert wird. Religion nämlich, so Baur, ist Bewusstsein der Einheit des Menschen mit Gott. Diese Einheit aber wird in der Entwicklung der Religionsgeschichte erst hergestellt. Das wiederum geht nur so, dass erstens zwischen der Religion nach ihrem idealen Verständnis und den verschiedenen wirklichen geschichtlichen Religionen unterschieden wird3 und zweitens die Beziehung zwischen den Religionen und der Religion so gesehen wird, dass die Religionen bestimmte Momente des Begriffs der Religion darstellen und idealtypisch realisieren. Nur in dieser Funktionalisierung der einzelnen Religionen wird eine religionsgeschichtliche Entwicklungsgeschichtsschreibung nach dem Begriff des Selbstverhältnisses des Geistes als einer logischen Abfolge in der realen Geschichte überhaupt plausibel. Allerdings kann man kritisieren, dass gerade die eigentlich 1

2

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Ferdinand Christian Baur, Die christliche Lehre von der Versöhnung und ihre geschichtliche Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1838, darauf beziehen sich die folgenden Seitenzahlen im Text. Zu Baur vgl.: Klaus Scholder, Art. Baur, Ferdinand Christian, in: TRE 5, Berlin/New York 1980, 352–359; Wolfgang Geiger, Spekulation und Kritik. Die Geschichtstheologie Ferdinand Christian Baurs, München 1964 (in seinem Vorwort schreibt Geiger: »Es fehlte bislang immer noch an einer Gesamtdarstellung Baurs« – ein Urteil, das bis heute zutrifft); Franz Courth, Das Wesen des Christentums in der Liberalen Theologie, dargestellt am Werk Fr. Schleiermachers, Ferd. Chr. Baurs und A. Ritschls, Frankfurt am Main u. a., 1977, 218–333. Vgl.: »alles was die verschiedenen Religionen als wesentlich verschiedene Hauptformen der Religion von einander unterscheidet, und in ein bestimmtes Verhältnis zueinander setzt«; Baur, Versöhnungslehre (wie Anm. 1), 1f.

Die Bezugnahme auf das Judentum bei Baur und Ritschl

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angezielte Einheit der Religion in ihrem vollkommenen Begriff auf der Ebene der einzelnen Religionen dann nur fragmentarisch zum Ausdruck kommt und so aber für die geschichtlichen Religionen selbst eigentlich gar nicht sichtbar werden kann. Die Einheit der Religionsentwicklungsgeschichte kommt in der realen Geschichte überhaupt nicht eigens vor, sondern erscheint nur in der konstruktiven Deutung des (christlichen) Geschichtsphilosophen.4 Das Christentum allerdings hat nun in dieser Geschichte eine Sonderstellung, insofern es den ganzen und vollkommenen Begriff der Religion repräsentiert, bzw. diese Funktion vom religionstheoretisch motivierten Geschichtsphilosophen zugeschrieben bekommt. Die Folge dieser Konstruktion hin zu einer religionstheoretisch erfüllten Religionsgeschichte ist, dass die Geschichte des Christentums selbst und insbesondere des christlichen Dogmas, die anhand der Versöhnungslehre dargestellt wird, deshalb nicht eine wirkliche Entwicklungsgeschichte wie die vorchristliche Religionsgeschichte darstellt, sondern nur noch eine ideale begriffliche Analyse der im Entstehen des Christentums bereits als gegeben behaupteten Elemente des wahren Glaubens sein kann. Die Geschichte des Christentums ist also als begriffliche Klärung des bereits realisierten Begriffs der Religion zu verstehen. Die Geschichte der Religionen außerhalb des Christentums und zu ihm hin dagegen ist eine Geschichte noch defizienter Erscheinungsformen der Religion. Den Bruch zwischen beiden Betrachtungsweisen bildet die historische Entstehung des Christentums, in der sich (jedenfalls für den spekulativen Betrachter der Geschichte) der vollkommene Typus von Religion strukturell realisiert. Damit kann das Judentum aber nur noch der Vorgeschichte des Christentums zugewiesen werden. Für die innere Wesensbestimmung der christlichen Religion kann es nur Elemente beitragen, nicht aber die Realisierung des vollkommenen Religionsbegriffs erklären. Wie sieht nun die Gesamtgeschichte der Religionen hin zum Christentum in der Versöhnungslehre von 1838 aus? Dies ist nur vom Ziel her zu bestimmen: Religion als vollkommene Religion stellt die Einheit des Menschen mit Gott dar, und zwar im Durchgang durch die Trennung von Mensch und Gott einerseits (für deren Aufhebung steht der Begriff Versöhnung) und im Durchgang durch die Differenz des Sündenbewusstseins und des Gnadenbewusstseins andererseits (dafür steht in Aufnahme der Schleiermacherschen Terminologie die Erlösung). Der ersten geschichtlichen Religionsform, nämlich der Naturreligion, fehlt ein eigentliches Verständnis der Versöhnung, weil hier nicht ein entschiedener Gegensatz zu Gott aufgehoben werden muß, der in der Verantwortung des Menschen für das Böse besteht. Vielmehr heißt Einswerdung mit Gott auf dieser Stufe nur »Hingabe des ganzen Wesens an das allumfassende Eine« (3). Die zweite geschichtliche Religionsform ist der Polytheismus personal aufgefasster Göttergestalten. Hier ist das Göttliche nicht mehr Natur, sondern Person, aber die Idee einer Einheit mit diesen Göttern besteht nur in deren Verehrung und Anschauung, wodurch es zu einer bloß äußerlichen Einheit kommen kann. Die dritte Form der Religion dann ist die jüdische: Deren Monotheismus verbindet sich in Baurs Interpretation mit der freien 4

Zur Hermeneutik von Baurs Geschichtskonstruktion vgl. Christian Senkel, Christentumstheorie und Geschichtskonstruktion, in: Klaus Tanner (Hg.), Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung, Leipzig 2008, 35–54.

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Anerkennung der Personalität Gottes und der sittlichen Personalität des Menschen. Allerdings fehlt dem jüdischen Religionsverständnis das individuelle Gottesverhältnis der christlichen Religion, die Einheit mit Gott ist nicht für jeden unmittelbar, sondern für jeden nur vermittelt über das dem Volk gegebene, zugleich sittliche und bürgerliche Gesetz erreichbar. Erfüllung des Gesetzes im legalistischen Sinne setzt den Einzelnen in ein gelungenes Verhältnis zum Volksgesetz, und die Moralität der Gesetzeserfüllung setzt ihn in ein gelungenes Verhältnis zur göttlichen, geoffenbarten Seite des Volksgesetzes. Für beide Seiten ist eine Versöhnung, also Einheit von Gott und Mensch im eigentlichen Sinn nicht denkbar. Das Gesetz sprengt als Mittlerinstanz einerseits den Gedanken der Einheit von Gott und Mensch, andererseits vertieft es als moralisches Gesetz bloß die Stärke der Schulderfahrung. Hier nimmt Baur Hegels Kantkritik auf und überträgt sie auf den Gedanken der Erlösung als eines Geschehensmomentes des religiösen Prozesses. Das Judentum wird also in doppelter Weise als Gesetzesreligion interpretiert. Das Gesetz vermittelt das Gottesverhältnis des Menschen, es vermittelt aber zugleich auch das Verhältnis von Schuld und Gnade im personalen Selbstverhältnis. Im zweiten Sinne – also der Selbstwahrnehmung des Menschen als Person – ist ein enger Zusammenhang von Judentum und Christentum feststellbar, insofern das Judentum, gedeutet mit Hilfe des kantischen Sittengesetzes, zu einer notwendigen Vertiefung des Schuldbewusstseins im Zentrum der Selbstwahrnehmung des Menschen führt. Es ist so bereits verinnerlichtes Gewissen. Das Judentum hat zugleich mit diesem vertieften Sündenbewusstsein bereits eine Ahnung von der aus ihm herausführenden Versöhnung gehabt und sie prophetisch ausgesprochen. Dem Judentum fehlt in dieser Hinsicht nur noch der letzte Schritt, also die Realisierung der Versöhnung durch die Kreuzigung des Gottessohnes. Allerdings, im Hinblick auf das direkte Verhältnis von Gott und Mensch bleibt die jüdische Gesetzesreligion auf der Stufe des heidnischen Polytheismus stehen. Der Opfergedanke und seine Ausführung bedingt sowohl im Heidentum als auch noch verstärkt im Judentum eine rein äußerliche Fassung des religiösen Verhältnisses von Gott und Mensch. Während also eine vertiefte Innerlichkeit der Gewissenserfahrung das Selbstbild des Menschen prägt, bleibt Gott als ein objektives Gegenüber dieser Innerlichkeit in seiner äußerlichen Transzendenz bestehen. Das Christentum kann auf dem dargelegten Hintergrund in doppelter Weise als neue, vollkommene Religion gegenüber dem Judentum interpretiert werden. Zunächst: Das Christentum entwickelt neu eine rein innerliche Idee auch des Verhältnisses von Gott und Mensch. In diesem Verhältnis wird sich der Geist seiner selbst bewusst, das individuelle Bewusstsein seiner Funktion am Ort des allgemeinen Bewusstseins. Es bedarf deshalb das personale Gottesverhältnis keines Vermittlers, weil hier Geist auf Geist trifft. Zweitens: Das Christentum entwirft eine auf wirklicher Gnadenmitteilung beruhende Idee der Erlösung. Das in seiner Tiefe erfahrene Schuldbewusstsein wird in der Person des Erlösers real überwunden. Für Baur hängt an der Realität des Gottmenschen in der Geschichte die Überlegenheit des Christentums als der vollkommenen Religion gegenüber allen vorherigen Religionen. Der Supranaturalismus seiner frühen Religions- und Offenbarungsauffassung wird also im historischen Programm unmittelbar zum Realisierungsgedanken als einer geschichtlichen Differenz der verschiedenen Religionen umge-

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wandelt. Jesus Christus ist der Versöhner, als der er sich ankündigt. Das macht gerade seinen wesentlichen Unterschied gegenüber früheren religiösen Versöhnungsideen aus.5 Dies wiederum hängt mit einer entscheidenden Korrektur des Schleiermacherschen Religionsbegriffs im Ganzen zusammen, die Baur zur Erläuterung des von ihm vorausgesetzten Versöhnungsbegriffs vornimmt. Erlösung als Mitteilung der Unsündlichkeit an den Menschen kann mit Schleiermachers Theologie verstanden werden. Aber Versöhnung ist nicht bloß der Nichtvollzug der dem Menschen verhängten Strafe für die Sünden. Baur benutzt die Unentlastbarkeit von begangener Schuld zur kompletten Lossagung von Schleiermachers Begriff der Religion als einer Form bloß innerlichen Selbstverhältnisses. »Es ist bei dieser [an Schleiermachers Erlösungsverständnis orientierten] Bestimmung des Unterschieds [von Erlösung und Versöhnung] der Standpunct nur auf der Seite des Menschen genommen, und das Verhältnis der beiden Begriffe ist vielmehr das umgekehrte. Wenn auch der Mensch von der Herrschaft und Macht der Sünde befreit und aus dem Zustand der Sündhaftigkeit in den Zustand einer Unsündlichkeit und Vollkommenheit versetzt ist [. . . ], so folgt hieraus keinesfalls unmittelbar, dass er auch der Schuld der früher in ihm herrschenden Sünde enthoben ist. [. . . ] es entsteht nun erst die Frage, wie der aus dem Zustand der Sünde herausgetretene Mensch sich auch seiner Befreiung von der Schuld der Sünde bewusst seyn könne? Da die Aufhebung der Sündenschuld nur als ein göttlicher Act gedacht werden kann, so kann der Grund ihrer Möglichkeit nur in einer Idee Gottes nachgewiesen werden. [. . . ] [Es] bezieht sich der Begriff der Versöhnung auf die die Realität der Erlösung selbst erst begründende, sozusagen, metaphysische Frage: wie sich aus der Idee Gottes die Möglichkeit der Aufhebung der mit der Sünde, ihrer Natur nach, verbundenen Schuld begreifen läßt« (7).

Die Idee der Versöhnung erfordert also den Ausgang von einer geistphilosophisch neu gedachten Realität Gottes.6 Wahre Versöhnung hat ihren Ursprung rein in einem der Innerlichkeit des Menschen gegenüberstehenden, transzendenten Akteur. Die Unmöglichkeit der Selbsterlösung und der Fiktionsverdacht gegenüber der bloß vom Menschen ge5

6

Mit dieser aus dem Supranaturalismus umgeformten Realisierungsvorstellung stellt sich Baurs (frühe) Christologie dar in einer charakteristischen Mittelstellung zwischen der spekulativen Christologie Strauss’ und der personalen Christologie der Schleiermacherschüler und Vermittlungstheologen. (Mehlhausen hat in seiner Studie zu Baurs Christologie diesen Aspekt ausblenden müssen. Es ist allerdings zwischen der Problematik des Verhältnisses von Individuum und Idee und der anderen Problematik der Realisierung einer Idee (wie die der Versöhnung) in der Geschichte zu unterscheiden. Vgl. Joachim Mehlhausen, Spekulative Christologie. Ferdinand Christian Baur im Gespräch mit David Friedrich Strauß und Julius Schaller, in: ders., Vestigia Verbi. Aufsätze zur Geschichte der evangelischen Theologie, Tübingen 1999, 221–246; zuerst in: Ulrich Köpf (Hg.), Historischkritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler, Sigmaringen 1994, 119–140.) Ritschls Anknüpfung an und Abkehr von Baur ist auch ein Versuch, dieses Programm überzeugender zu gestalten, indem es in die reflexive Form des Gemeinde- und Stiftungsbewusstseins überführt wird. Baur bleibt also auch nach seiner Übernahme der hegelischen Geistphilosophie seiner alten supranaturalen Kritik an Schleiermacher treu. Vgl. Baurs lateinisches Tübinger Osterprogramm von 1827, dazu sowie zur Diskussion mit Schleiermacher Courth, (wie Anm. 2), 218f. Die supranaturale Gottesvorstellung wird in die Objektivität des Geistes nach hegelschem Verständnis transformiert.

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machten Versöhnungsbehauptung sind Baurs gewissenstheoretische Begründungen für die Notwendigkeit Gottes als eines starken Anderen in der Religion. Baur ist sich bewusst, dass er damit den neuzeitlichen Zusammenhang der Schleiermacherschen Theologie grundlegend reformiert. Inhaltlich zeigt sich dies darin, dass er, entgegen Schleiermachers Abstinenz gegenüber einer religiösen, christologischen Deutung von Passion und Kreuz, das Kreuz zum Ausgangspunkt der Versöhnungslehre macht. Damit nimmt er natürlich auf Anselms Versöhnungstheorie Bezug und erklärt sie zu einer bleibenden Grundlage des christlichen Selbstverständnisses. Damit stellt er sich sowohl gegen die Aufklärung als auch gegen Schleiermacher, der an dieser Stelle wie so oft der aufklärerischen Kritik inhaltlich folgt. »Das hier entwickelte Verhältnis jener beiden Begriffe [muß sich] in der Person des Gottmenschen zu erkennen geben. Es spricht sich dies in der eigenthümlichen Bedeutung aus, die der Tod Jesu in dem allgemeinen Bewußtseyn der Christen erhalten hat, sofern er als die, der Aufnahme des Einzelnen in die vom Erlöser gestiftete Lebensgemeinschaft vorangehende, objektive Thatsache anerkannt ist, durch welche der Mensch an sich mit Gott versöhnt ist. [. . . ] Tod Jesu in seiner reinen Objectivität aufgefasst ist, als das Erste, schlechthin Gegebene, das der Glaube schon zu seiner Voraussetzung haben muß [. . . ]« (7f ). Zusammengefaßt: »Die Versöhnung muß an sich vollbracht seyn, als die Tilgung der auf Jedem lastenden Gesammtschuld, wenn der Einzelne ein wahrhaft beseligendes Bewußtseyn der göttlichen Gnade gewinnen soll« (8).

Das Fazit dieser Erörterung des Schleiermacherschen Erlösungsverständnisses lautet also, dass Schleiermachers Anlage des Religionsbegriffs als ganze defizient ist. Denn sie verzichtet gerade darauf, die objektiven Grundlagen der Erlösung, wie sie im Bewusstsein geschieht, in einem realen Geschehen im Leben des Erlösers zu identifizieren. Das Handeln Gottes im Erlöser entzieht sich für Schleiermacher dem menschlichen Verstehen. Diese moderne Restriktion will Baur wieder aufheben. Dafür steht eine Neuaufnahme der anselmschen Satisfaktionstheorie im Sinne eines geistphilosophischen Geschichtsverständnisses. Das geschichtliche Ereignis des Kreuzes wird zum Konstruktionspunkt der Differenz der Religionsbegriffe (nämlich zwischen Schleiermacher und Baur), es ist zugleich der historische Trennungspunkt von Judentum und Christentum. 2. Religionsverständnis und Religionsgeschichte in der Geschichte des Christentums Geht man zu Baurs späterer Schrift7 über das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten von 1853 über (die als Gipfel und Zusammenfassung seiner historischen Forschungen gilt), so zeigt sich im Blick auf den Zusammenhang von Judentum, Christentum und religiöses Prinzip ein ganz anderes Bild.8 7

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Ferdinand Christian Baur, Das Christentum und die christliche Kirche der ersten drei Jahrhunderte, 1853 (18683, darauf beziehen sich die Seitenangaben im folgenden); Neuedition mit einer Einführung von Ulrich Wickert in: Ferdinand Christian Baur, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hg. von Klaus Scholder, Bd. 3, Stuttgart/Bad Cannstatt 1966. Zur Frage der Entwicklung Baurs vgl.: Harris Horton, The Tubingian School, Oxford 1975; Wolfgang Geiger, Spekulation und Kritik. Die Geschichtstheologie Ferdinand Christian Baurs, München

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2.1. Religionsgeschichte, Christentum und Geistesgeschichte Zunächst: Der Ausgangspunkt der Betrachtung ist nicht die Konstruktion des Religionsbegriffs, sondern die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung der Kirche. Diese Frage stellt den Wunderursprung des Christentums in den weltgeschichtlichen Zusammenhang. Denn Baur erklärt, wie immer es auch mit dem Wunder eines Eingreifens Gottes in die Geschichte bestellt sein mag, entscheidend sei die Erfassung und das Begreifen dieses Wunders im geistesgeschichtlichen Kontext. Deshalb erfordert nun schon die Bestimmung des Wesens des Christentums selbst einen weit ausgreifenderen Einblick in die allgemeine Geistesgeschichte. Der geistphilosophische Rahmen der Geschichtsschreibung wird damit selbst bereits nur im Kontext eines historischen Erfassens der Kulturgeschichte leitend. Jedes Eingreifen Gottes in die Geschichte, sei es die objektive Ermöglichung von Versöhnung, sei es die Inkarnation, die Heilsfunktion des Kreuzes oder die Auferstehung, ist nicht als Tatsache zu behaupten. An allen diesen Punkten trifft Baur über das Faktum als solches keine Aussagen mehr, sondern erklärt nur das Bewusstsein der Menschen von einem solchen Ereignis zum Gegenstand der Geschichtsschreibung. Der von ihm selbst früher unterstellte Fiktionalitätscharakter der Behauptungen scheint ihm nun historisch hinnehmbarer als eine objektive Aussage über Gottes Wirken in der Geschichte. Mit der Frage nach der Einbettung der Entstehung des Christentums in den allgemeinen geistigen Rahmen der hellenistisch-römischen Welt akzeptiert Baur gleichsam Schleiermachers Beschränkung der Ursprungsfrage auf die Selbstkonstruktion des Gemeindebewusstseins, verlangt aber für dieses selbst eine historische Sicht seines eigenen Entstehens in der Weltgeschichte. Entsprechend ist auch die allgemeine Tendenz des Universalismus, an die das Christentum religiös anknüpft, kein speziell religiöser Begriff wie der der Versöhnung von Gott und Mensch, sondern ein auf das Selbstbewusstsein des Geistes zu beziehender. Die historische Tendenz zum Universalismus zeigt sich in der römischen Weltherrschaft politisch, juristisch und organisatorisch, sie zeigt sich zugleich als Komplement zum offenen Handel in der mittelmeerisch-vorderorientalischen Zivilisation durch die Verbreitung griechischer Bildung im allgemeinen Bewusstsein der hellenistischen Vielvölkergesellschaft. Und in diesem Gesamtkomplex universalistischer Tendenzen geschieht dann sogar eine entsprechende Prägung des Judentums, das eigentlich aufgrund des engen Konnexes von Nationalbewusstsein und Religionsidentität sich von der Welt der anderen prinzipiell abzusetzen bemüht ist. Der Hellenismus der jüdischen Welt im Bereich der Bildung und Philosophie sowie die Unterstellung unter die römische Verwaltung sind die entscheidenden historischen Bezugspunkte für die Entstehung des Christentums als einer neuen Religion innerhalb des Judentums. Das Christentum ist so im Ursprung eine Anwendung universaler Ideen des Geistes auf die Religion des Judentums und dessen dadurch von außen katalysatorisch bewirkte innere Transformierung als Religion. 1964; Eginhard P. Meijering, F.C. Baur als Patristiker. Die Bedeutung seiner Geschichtsphilosophie und Quellenforschung, Amsterdam 1986, dort eine kurze Zusammenfassung der Diskussion 53f.

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Baur stellt damit die Frage nach der allgemeinen Rezeptionsfähigkeit des Christentums in der antiken Welt als Grundfrage nach der Möglichkeit seiner Ausbreitung und Konsolidierung als Kirche. Mit dieser rezeptionsgeschichtlichen Frage verbindet er die im engeren Sinne religionsgeschichtliche Entwicklung vom Heidentum und Judentum hin zum Christentum mit der Frage nach dem Wesen des Christentums. Die verbindende Behauptung besteht aber darin, dass nicht ein allgemeines religiöses Bedürfnis den Übertritt zum Christentum rechtfertigen könne (dann hätte sich jeder religiös suchende Mensch ja auch irgendeiner anderen Religion anschließen können), sondern dass das Christentum als Religion gerade den Begriff und das Ziel der religiösen Entwicklung für den damaligen Zeitgenossen darstellen musste. Damit verbindet Baur also methodisch die Identitätsfrage mit der weltgeschichtlichen Genese und koppelt den allgemeinen Religionsbegriff als viel zu weit davon ab. »Unstreitig wurzelt auch das Christenthum, wie jede andere Religion in demselben ursprünglichen Grunde alles religiösen Lebens, so lange man aber das Christenthum nur darauf zurückführt, bleibt man noch zu sehr in dem weiten unbestimmten Kreise der subjectiven Beziehungen [d.h. des Menschen in abstrakter Weise, als zeitlose Anthropologie] stehen. Die Frage ist nicht, welche eigenthümliche Gemüthsverfassung bei den Einen oder den Andern die Ursache ihres Uebertritts zum Christenthum war, was sie in ihren individuellen Verhältnissen für den Inhalt desselben mehr oder weniger empfänglich machte, sondern nur, wie sich das Christenthum, objectiv betrachtet, zu allem demjenigen verhielt, was die religiöse Weltentwicklung bis auf jene Zeit hin nicht blos ihrer negativen, sondern auch ihrer positiven Seite nach war. [. . . ] [Es] muss die religiöse und geistige Weltentwicklung überhaupt in einer innern objektiven [sic] Beziehung auch zu allem demjenigen stehen, was nicht blos den universellen, sondern auch den absoluten Charakter des Christentums ausmacht« (7f ).

Baur formuliert Entwicklungsschritte von subjektiver zu objektiver Religionsauffassung und anschließend zu einer absoluten Religion. Der ehemalige Gegensatz gegen Schleiermacher bleibt in dem ersten Entwicklungsschritt sprachlich bestehen, als subjektives religiöses Bedürfnis gegenüber dem objektiven weltgeschichtlichen Gehalt. Aus dem neuen Begriff von Objektivität hat Baur aber jede supranaturale transzendente göttliche Realisierungsvorstellung entfernt, er bezieht sich jetzt nur mehr auf den weltgeschichtlich sich realisierenden Geist im allgemeinen. Der Überschritt allerdings zum Christentum verbindet diese universelle Entwicklung eng mit dem Überschritt zur absoluten Religion, die das Christentum ist. Damit ist wiederum der alte Gedanke aufgenommen, dass das Christentum die Tendenz der weltgeschichtlichen Entwicklung vollkommen realisiert. Allerdings erscheint diese Realisierung nun als folgerichtiger Schritt der Geschichte selbst, nicht als Folge eines göttlichen Eingreifens. Das heißt: Das Wesen des Christentums soll es sein, den Universalismus der historischen Tendenz zu seinem religiösen Gehalt selbst zu machen. Gerade das erklärt erst die Durchsetzungskraft des Christentums in der Antike, nicht aber im engeren Sinne auf bestimmte religiöse Gehalte bezogene Offenbarungs-, Besonderheits- oder Absolutheitsmerkmale. Der behauptete und gesuchte Zusammenhang der Geistesgeschichte wird zum methodischen Argument, um die ehemaligen supranaturalen christologischen und theologischen Alleinstellungs-

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ansprüche des Christentums elegant zu begraben, zugleich aber an der historischen Absolutheitsbehauptung für das Christentum festzuhalten. Nicht als Religion ist also das Christentum absolut, hier unterscheidet es sich inhaltlich kaum von den anderen Religionen der spätantiken Welt. Auch ist es nicht deshalb die absolute Religion, weil es einer anthropologischen Bestimmung der Religion als einer nur im individuellen Subjekt vorkommenden besonderen Form des Gefühls o. ä. gehorcht und sie erfüllt. Sondern absolut als Religion ist es, weil es das Wesen des Geistes für diesen selbst auf dem Höhepunkt der Universalisierungstendenzen zeitgebunden in die Form der Religion fasst. Dies nennt Baur die objektive Erfassung der Geschichte: »Eine übernatürliche Offenbarung wollte ja jede Religion sein, an Anstalten zur Versöhnung des Menschen mit Gott fehlte es auch zuvor schon nicht [sc. Realität der Versöhnung ist hier überhaupt kein Kriterium mehr für die christliche Religion], und die Gemeinschaft des Menschen mit Gott dachte man sich auch schon durch Wesen vermittelt, welche im Allgemeinen dieselbe Bestimmung hatten, wie der Sohn Gottes im christlichen Sinne [sc. auch die Stiftung durch Jesus Christus ist nicht das religiöse Alleinstellungsmerkmal]. [. . . ] Es ist mit einem Worte nur der geistige Charakter des Christenthums überhaupt, auf welchen wir in dieser allgemeinen Betrachtung zurückgehen können, dass es von allem blos Äusserlichen, Sinnlichen, Materiellen weit freier ist als irgend eine andere Religion, tiefer als jede andere in der innersten Substanz des menschlichen Wesens und in den Principien des sittlichen Bewusstseins begründet ist, dass es, wie es selbst von sich sagt, keine andere Gottesverehrung kennt, als die im Geist und in der Wahrheit« (8f ).

Schon hier wäre also zu sagen, dass die Religionsgeschichte zur Selbstaufhebung der Religion in die reflexive Selbsterfassung des universalen Wesens des Geistes drängt, und der Gottesgedanke das Bild ist für diesen allgemeinen als den absoluten Geist. 2.2. Die Entwicklung der Religion im Judentum und Hellenismus Entscheidend für den religionsgeschichtlichen Entwicklungsrahmen ist nun aber, dass Baur damit die Entstehung des Christentums gegenüber dem früheren Versuch in der Versöhnungslehre neu verortet. Die griechische Geistes- und Philosophiegeschichte ist jetzt der Entdeckungs- und Entstehungszusammenhang der christlichen Religion, jedenfalls was ihren eigentlichen geisthaften Wesenskern betrifft. Hier ist der Fortschritt der Geschichtswissenschaft deutlich bemerkbar. Denn Baur schreibt als notwendige Vorgeschichte des Christentums eine differenzierte kleine Philosophiegeschichte von Sokrates bis Cicero, vom Platonismus über den Epikureismus bis zur Stoa, zur Skepsis und zum Eklektizismus, endend mit dem Neuplatonismus als einer philosophischen Religion parallel zum Christentum. Als deren Kern, auf dem das Christentum als Religion dann aufbaut, erscheint der Begriff des Gewissens, den Sokrates findet und der dann in der folgenden Philosophie mit Selbsterkenntnis- und Innerlichkeitsstrukturen, Sündenbewußtsein und Erlösungsverlangen, kurz mit Verantwortung und Individualisierung durch Verantwortung aufgeladen wird. Erkenntnistheorie und Ontologie bei Platon und Aristoteles werden durch Ethik und praktische Anthropologie abgelöst. Zwar sieht Baur im Freiheitsbewusstsein der Philosophie durchaus ein inhaltliches Gegenmoment

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zur christlichen Religion, aber indem er diesen Freiheitsbegriff verinnerlicht, schreibt er ihm schon in der späteren Philosophie einen notwendigen Bezug zum Religionsbegriff zu. Freiheit des Geistes ist die Verhältnisbestimmung von individuellem und allgemeinem Geist. Indem die philosophisch in Anspruch genommene Natur des Geistes als normativer, allgemeiner Geist gedeutet wird, kann Baur Naturphilosophie und Offenbarungsreligion in engste Beziehung setzen. Dafür steht der Neuplatonismus als eine parallele philosophische Erscheinung zur Religion des Christentums. So ergibt sich im Durchgang durch die philosophischen Bestrebungen, dass das Christentum an den Gang der hellenistischen Geistesgeschichte unmittelbar anknüpft, indem es die dort erarbeiteten Anschauungen des Menschen von sich selbst in religiöser Fassung in sich integriert. Der Entstehungspunkt des Christentums ist derjenige »Punkt, auf welchem in der heidnischen Welt das sittliche Bewusstsein sich schon in seiner tieferen Bedeutung aufgeschlossen hatte und das Geistigste und praktisch Wichtigste, was die griechische Philosophie als Resultat der ganzen Reihe ihrer ethischen Bestrebungen aus sich hervorgebracht hatte, der wesentliche Inhalt des allgemeinen Zeitbewusstseins geworden war. Es stand als allgemein anerkannte Wahrheit fest, dass der Mensch ein sittliches, unter eine bestimmte sittliche Lebensaufgabe gestelltes Subjekt sei« (16). Damit hat Baur die Verinnerlichung des Selbstverständnisses des Menschen, die er in seiner frühen Versöhnungslehre noch der jüdischen Religion zugeschrieben hatte, nun in den Kontext der antiken, durch die griechische Philosophie bestimmten und in den hellenistischen Philosophenschulen weiterlebenden Denktraditionen und damit in ein allgemeines kulturelles, nicht religiös bestimmtes Umfeld eingeordnet, auch wenn die begriffliche Durchdringung dieser Innerlichkeit weiterhin an religiöse Selbstwahrnehmungen gebunden bleibt, wie die geschichtliche Parallelisierung von Neuplatonismus und Christentum zeigt. Der Anknüpfung an die Anthropologie der griechischen Philosophie steht die Anknüpfung an den rein geistigen, monotheistischen Gottesbegriff des Judentums gegenüber. Religiös gesehen ist das Christentum eine Fortsetzung des jüdischen Glaubens an den einen, überweltlichen und übernatürlichen Gott: »[. . . ] der Gott des Alten Testaments ist auch der Gott des Neuen [. . . ]« (17). Gleichwohl schreibt Baur zur genauen historischen Beschreibung des Punktes, an dem das Christentum die jüdische Religion fortsetzt, eine kleine Religionsgeschichte des Judentums zwischen der Entdeckung des Monotheismus im Alten Testament und den Essenern als einer geistesgeschichtlich dem Christentum verwandten Strömung. Denn es gilt, den theokratischen, also dem jüdischen Volk verhafteten, und den anthropomorphen Anteildes jüdischenGottesbildes zu vergeistigen. Entscheidender Durchgangspunkt für diesen Prozeß ist die Hellenisierung des Judentums, die in der alexandrinischen Religionsphilosophie Philos gipfelt. Hier ist es bereits zu einer gewaltigen »Umgestaltung des Judentums« (18) unter dem Eindruck des Universalismus des Geistes gekommen. Die historische Kontinuität zur Religion des Judentums ist nur durch gewaltsame allegorische Schriftauslegung zu halten, doch unter der Hand entstand so eine »ganz neue Form des Judentums« (19), deren wesentlicher religiöser Gehalt in der vergeistigten, also geistphilosophischen universalen Fassung des Gottesbegriffs besteht. Die Essener und verwandte Gruppen zeigen für Baur, dass diese

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neue Fassung des Gottesbegriffs nicht nur philosophische Konstruktion war, sondern tief in die religiöse Lebensanschauung des Volkes eingewandert ist und die Religion des Judentums zur Zeit Jesu geprägt hat. Damit stehen die Essener bei Baur gegen die »Satzungen des pharisäischen Judentums [und gegen] die Äußerlichkeiten des levitischen Tempelkultes«; die – in einer das Gesetz als Satzung auffassenden Religion zwangsweise auftretende – Objektivierung Gottes wird bei ihnen bereits aufgehoben: »ihre Religiösität hatte einen geistigeren und innerlicheren Charakter und eine durchaus praktische Richtung.« Entscheidend ist für diese Form der Religiosität die Abkehr von der Welt, die asketische Grundhaltung und die Sorge um das Heil der Seele. Dies ist die »allgemeine Grundrichtung einer vom Äussern in das Innere gekehrten Religiosität« (21). 2.3. Das Christentum in der religionsgeschichtlichen Entwicklung Als Ergebnis der geistesgeschichtlichen Durchforschung der Vorgeschichte zeigt sich: »[Das Christentum] enthält nichts, was nicht auch durch eine ihm vorangehende Reihe von Ursachen und Wirkungen bedingt wäre, nichts, was nicht längst auf verschiedenen Wegen vorbereitet und der Stufe der Entwicklung entgegengeführt worden ist, auf welcher es uns im Christentum erscheint, nichts, was nicht, sei es in dieser oder jener Form, auch zuvor schon als ein Resultat des vernünftigen Denkens, als ein Bedürfnis des menschlichen Herzens, als eine Forderung des sittlichen Bewusstseins sich geltend gemacht hätte« (22).

Die damit erkennbare Grundtendenz, den Anfang des Christentums aus jeglicher Offenbarungs- und Wunderkategorie herauszunehmen und in die geschichtliche Entwicklung einzubetten, zeigt sich dann auch bei der folgenden Analyse des Grundprinzips des Christentums. Zunächst methodisch: Hier geht es schon bei Baur um die Frage, was das Grundprinzip des Christentums enthält, die aus den evangelischen Quellen erkennbare Verkündigung des historischen Jesus, oder die inkarnations- und versöhnungstheologischen Behauptungen der Christologie. Baur benutzt die aufkommende literarkritische Forschung, um die (wie man später gesagt hätte) kerygmatischen Anteile der Evangelien von den historischen Sachverhalten zu trennen. Hier hat er geradezu divinatorisch das Spruchgut der Logienquelle zum Ausgangspunkt der Darstellung der Verkündigung Jesu gemacht und damit viele Jahrzehnte neutestamentlicher Forschung vorweggenommen.9 Das Prinzip der Verkündigung Jesu, wie es Baur nun besonders in der Bergpredigt ausgedrückt sieht, besteht in der sittlich-religiösen Ansprache der Hörer, nicht in der lehrhaften Darstellung christologischer Offenbarungsbestände. 9

Darauf hat gegen ein kleinliches Hinweisen auf Fehler Baurs in der Einzelkritik besonders Hirsch in seiner würdigenden Gesamtdarstellung Baurs den Akzent gelegt: Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie Bd. 5, 518–553, 541. Ein solcher inhaltlicher Nachweis ist sehr viel sinnvoller als die globale Vereinnahmung (oder Ablehnung) Baurs und der Tübinger Schule als Begründung einer historischen Geschichtsauffassung in der Theologie. Zur Debatte vgl. – außer den bereits Genannten – Peter G. Hodgson, The Formation of Historical Theology. A Study of Ferdinand Christian Baur, New York 1966; Hans Rollmann, From Baur to Wrede: The quest for a historical method, in: Studies in Religion 17, 1988, 443–454, sowie Ulrich Köpf, Ferdinand Christian Baur als Begründer einer konsequent historischen Theologie, in: ZThK 89, 1992, 440–461.

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»[Es] machen auch in unserem griechischen Matthäusevangelium die Lehrvorträge und Reden Jesu, wie vor allem schon an der die ganze öffentliche Wirksamkeit Jesu so bedeutungsvoll eröffnenden Bergrede zu sehen ist, so sehr den überwiegenden Inhalt, die eigentliche Substanz des Evangeliums aus, dass wir daraus mit Recht schließen können, welches Gewicht von Anfang an darauf gelegt wurde, das Leben und die ganze Erscheinung Jesu unter diesem Gesichtspunkt aufzufassen. Und der Inhalt dieser Aussprüche und Reden ist nicht zunächst das, was eine andere ihrem ganzen Charakter nach als wesentlich verschieden erscheinende Darstellung zu prinzipiellen Voraussetzungen auch der Lehre macht, die Person Jesu selbst und ihre übermenschliche Würde, sondern das menschlich Nahe, das das sittlich religiöse Bewusstsein unmittelbar Ansprechende, die einfache Antwort auf die zuerst sich aufdringende Frage, wie der Mensch gesinnt sein muss, und was er zu tun hat, um in das Reich Gottes zu kommen« (25).

Baur sagt sich hier deutlich von seinem eigenen frühen Festhalten an der chalcedonensischen Zweinaturenchristologie los und verlagert ihren wahren Gehalt in eine ethische Soteriologie. Sodann: wie beschreibt Baur den wesentlichen Gehalt des Christentums von der gegebenen Lehre und Verkündigung Jesu aus? Das erste Element ist das des reinen Bewusstseins des Geistes. Religiöse Innerlichkeit ist das Selbstbewusstsein des Menschen, von seiner Substanz her nichts anderes als eben allgemeiner Geist zu sein. Damit wird Erlösung realisiert, weil der allgemeine Geist die Einheit der Gegensätze, die Überwindung der Bindung des Geistes an weltlichen Gehalt darstellt. Das Streben nach dieser Einheit des Geistes, das sich im religiösen Erlösungsbedürfnis ausspricht, ist dabei bereits Unterpfand für das gegebene Bewusstsein dieser Einheit. Dadurch wird die Religion selbst für die Bewußtseinsgeschichte des Geistes funktionalisiert. »All jene Makarismen, so verschieden sie lauten, sind immer nur ein anderer Ausdruck für dieselbe ursprüngliche Grundanschauung und Grundstimmung des christlichen Bewusstseins. Es ist das den Gegensatz von Sünde und Gnade an sich schon in sich begreifende, aber noch unentwickelte reine Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit, das als solches auch schon alle Realität der Erlösung in sich hat. Je unmittelbarer alle Gegensätze noch in ihrer Einheit zusammen gehalten sind, umso inhaltsreicher und kräftiger ist dieses ursprüngliche Bewusstsein, es ist nicht bloß das intensivste Selbstbewusstsein, sondern auch das übergreifendste Weltbewusstsein [. . . ]« (27).

Das zweite Element ist die Erneuerung und Radikalisierung der universalen Sittlichkeit. Gebotserfüllung ist allein eine Probe auf die moralische Gesinnung, nicht legalistische Erfüllung des Inhalts des Gebotes. Damit setzt sich Jesus prinzipiell von der pharisäischen Religion ab, gerade indem und obwohl er sich inhaltlich, nämlich im unbedingten Festhalten am Gesetz, nicht von ihr unterscheidet. Das dritte Element stellt das Fundament der moralischen Gesinnung im Bewusstsein dar. Hier handelt es sich um die Universalisierungsforderung des kategorischen Imperativs, wie sie das Doppelgebot der Liebe ausdrückt, das Baur aber wiederum in dem Vermögen des individuellen Geistes begründet sieht, sich selbst in das Allgemeine aufzuheben.

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»Ist sich der Christ seines absoluten Standpunkts bewusst, so muss er auch im Stande sein, von sich, seinem eigenen Ich zu abstrahieren, und sich mit allen anderen so Eins zu wissen, dass er jeden als ein mit ihm selbst gleichberechtigtes Subjekt betrachtet [. . . ]. Liebt man den Nächsten, wie sich selbst, so muss man auch alles Egoistische, Subjektive, Partikuläre fallen lassen, über die Vielheit der einzelnen Subjekte, deren jedes dasselbe ist, was wir sind, stellt sich von selbst die Objektivität des Allgemeinen, in welchem alles Partikuläre und Subjektive aufgehoben ist, und dieses Allgemeine ist die Form des Handelns, vermöge welcher man gegen andre dasselbe tut, was man wünscht, dass andere gegen uns tun. Das sittlich Gute ist somit das, was für alle gleich recht und gut ist, oder für alle das gleiche Objekt ihres Handelns sein kann. [. . . ] [Das christliche Bewusstsein fordert,] das individuelle Ich zum allgemeinen, zum Ich der ganzen, in allen einzelnen Individuen mit sich selbst identischen Menschheit aufzuheben.«

Dieses aber, so das vierte Element, führt zu einer religiösen Deutung der sittlichen Funktion des Geistes, weil diese allgemeine Menschheit als Inhalt des Geistes mit dem Gottesgedanken identisch ist. In der reinen Sittlichkeit begibt sich der Einzelne seines eigenen Willens und gibt sich dem Willen Gottes hin. Darin liegt dann das Prinzip der Versöhnung, insofern Gott Sünde und Schuld vergeben muß, damit der Einzelne sich seinem Willen unterstellen kann. Und das fünfte Element ist die geisthafte Begründung einer Kirche, die aus den zum allgemeinen Geist bekehrten und den Willen Gottes in der Welt realisierenden Menschen besteht. Damit wird der theokratische Begriff des Judentums zu dem der universalen moralischen Kirche umgewandelt. Damit ist das Wesen des Christentums bestimmt. Es besteht in einer Strukturbeschreibung des in der Idee des allgemeinen universalen Geistes begründeten moralischen Selbstbewusstseins des Einzelnen (Einheitsbewußtsein, moralisches Bewusstsein, individuelles Erlösungsstreben bzw. Selbstaufhebung, religiöses Gottesbewusstsein, universales Menschheitsbewusstsein bzw. Kirche). Jesu Verkündigung bringt damit die Tendenzen der griechischen Philosophiegeschichte und der jüdischen Religionsgeschichte auf einen einheitlichen Begriff. »Das Christentum ist, so betrachtet, in den ursprünglichsten Elementen seines Wesens eine rein sittliche Religion, sein höchster eigentümlichster Vorzug ist eben dies, dass es einen durchaus sittlichen, in dem sittlichen Bewusstsein des Menschen wurzelnden Charakter an sich trägt. [. . . ] [G]ewiß ist doch, dass das rein sittliche, von welchem es ausging, die unwandelbare substantielle Grundlage geblieben ist, welcher es nie entrückt werden konnte, ohne seinen wahrsten und eigentlichen Charakter zu verleugnen, auf welchem man daher auch immer wieder aus allen Verirrungen eines überspannten Dogmatismus zurückgehen musste. [. . . ] Was gleich anfangs in seiner prinzipiellen Bedeutung erscheint, unter allen Veränderungen sich gleich bleibt, und den Grund seiner Wahrheit in sich selbst hat, kann auch nur für das eigentlich Substantielle gehalten werden« (35).

Die Bedeutung des Ursprungs als Norm der weiteren Entwicklung und als Kritikmoment in Phasen der (dogmatischen) Abirrung ergibt sich also hier als Weiterführung und Transformation der früheren Auffassung, dass die christliche Religion die absolute Realisierung des Religionsbegriffs sei und deshalb jede weitere Geschichte des Christentums nur eine Klärung des einmal realisierten Begriffs der vollkommenen Religion sein könne.

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Rational-aufklärerisch erscheint die hegelianisierende Aussage, dass diese geschichtliche Erscheinung des ursprünglichen Christentums deshalb normativ bleibe, weil es seine Wahrheit in sich selbst habe. 2.4. Geschichtliche Institutionalisierung der Religion Jesu im Christentum Jesu Lehre gibt damit das eigentliche Wesen des Christentums als Religion an. Seine Lehre steht auf der Höhe der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Altertums. Jesus wird damit zum Philosophen und Weisen, der in seiner Person und Bedeutung zwischen Sokrates und Philo von Alexandrien anzusiedeln ist. Damit aber stellt sich die Frage, wie aus der Lehre Jesu die weltumspannende Bewegung des Christentums und die politisch organisierte Kirche werden konnte. Es ist nun die Idee Baurs in dieser Darstellung, die Christologie nicht in die Wesensbeschreibung der Religion hineinzuziehen, wie es ja Schleiermacher in der inhaltlichen religiösen Funktion des Stifters geradezu zum unterscheidenden Merkmal des Christentums gegenüber den anderen monotheistischen Religionen gemacht hat. Dagegen zieht Baur die gesamte Christologie in die geschichtliche Durchsetzung und Realisierung des Christentums hinein. Die Christologie enthält also gegenüber dem beschriebenen sittlich-religiösen Kern des Christentums nichts inhaltlich neues, sondern sie ermöglicht und beschreibt nur, wie und dass der Gottesglaube Jesu zur weltbeherrschenden Religion werden konnte. Nur diese geschichtliche Verbreitung der erkannten religiösen Wahrheit »ist der Ort, wo Christentum und Judentum so eng ineinander eingreifen, dass das Erstere nur aus seinem Zusammenhang mit dem Letzteren begriffen werden kann« (36). Das äußerliche Organisationsprinzip des Christentums beerbt nicht die soziale Form der Philosophenschulen, sondern die theokratisch volksbezogene geschichtliche Größe des Judentums. Das Mittelglied für diese geschichtsbezogene Anknüpfung der Kirche an die jüdische Nation stellt die Messiasidee dar. »Hätte mit Einem Worte nicht die nationalste Idee des Judentums, die Messiasidee, mit der Person Jesu sich so identifiziert, dass man in ihm die Erfüllung der alten Verheißung, den zum Heile des Volks erschienenen Messias anschaute, wie hätte der Glaube an ihn zu einer weltgeschichtlichen Macht von solcher Bedeutung werden können« (36). Selbstverständlich schaltet Baur an dieser Stelle jede offenbarungstheologische Messianologie als geschichtlich unerheblich aus. »Auf dem Standpunkt der kritischen Betrachtung kann man nur fragen, wie in ihm [sc. Jesus] selbst die Messianität seiner Bestimmung zu einer feststehenden Tatsache seines Bewusstseins wurde« (37). Das heißt, das messianische Selbstbewusstsein Jesu ist der geschichtliche Ausgangspunkt (nicht der religiöse Wesensort) der christlichen Kirche. Jesu Einzug in Jerusalem ist in dieser Sicht die Herausforderung an das jüdische Volk, seine Messianität anzuerkennen, sein Tod die Absage an die jüdische Identität, Kontinuität und Organisation des Christentums. Damit wird der Anknüpfungspunkt, nämlich das messianische Selbstverständnis Jesu, in ein neues geschichtlich-korporales Verständnis transformiert. Dies geschieht durch den Auferstehungsglauben der Jünger. Auch hier leugnet Baur nun entgegen der frühen Konzeption die geschichtliche Bedeutsamkeit eines ›Faktums‹ Auferstehung. Der Auf-

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erstehungsglaube ist vielmehr die Überführung des jüdischen Messiasglaubens in einen neuen geschichtlichen Zusammenhang, der nicht mehr an theokratisch-volksbezogenen Vorgaben hängt. Der Glaube an die Auferstehung des Messias bedeutet also einerseits eine formale Anknüpfung an die Realisierungsgestalt von Religion im jüdischen Volk, andererseits eine inhaltliche Überwindung der geschichtlich-politischen Konnotationen der Messiasidee. Damit heißt Auferstehungsglaube die Erkenntnis der Jünger, dass auch die wahre Religion ihrer geschichtlichen Realisierung bedarf und dass sie zu ihrer geschichtlichen Realisierung gemeinschaftlich organisiert werden muß. »Was die Auferstehung an sich ist, liegt außerhalb des Kreises der geschichtlichen Untersuchung. Die geschichtliche Betrachtung hat sich nur daran zu halten, dass für den Glauben der Jünger die Auferstehung Jesu zur festesten und unumstößlichsten Gewissheit geworden ist. In diesem Glauben hat erst das Christentum den festen Grund seiner geschichtlichen Entwicklung gewonnen. Was für die Geschichte die notwendige Voraussetzung für alles Folgende ist, ist nicht sowohl das Faktische der Auferstehung Jesu selbst als vielmehr der Glaube an dasselbe« (39f ).

Doch auch diese notwendige Voraussetzung des Glaubens an die Auferstehung des Messias muß noch transformiert werden, um die kulturprägende Funktion des Christentums zu ermöglichen. Denn die eschatologischen Bestandteile der Messiasvorstellung müssen abgestoßen bzw. die Weltherrschaft Christi muß kulturgeschichtlich gedacht werden. Dieser Prozeß aber ist genau das Grundmovens der kirchlichen Entwicklung, die Baur für die nächsten drei Jahrhunderte darstellt. Die offenbarungstheologischen Bestandteile der Christologie werden also in dieser Theorie umgeformt zum kirchenorganisatorischen Programm einer kulturprogressiven Realisierung der Sittlichkeit in der Welt. Damit wird die faktische Realität der jüdischen Stammesreligion umgeformt in die geschichtliche Realität des sich selbst wissenden Geistes im Ganzen einer weltumspannenden Kultur. Die Auferstehung des Messias ist das religiöse Sinnbild für die Entgrenzung der Religion zum menschheitsumspannenden Selbstbewusstsein des Geistes, die christliche Kirche ihre organisatorisch-geschichtliche Fassung.

II. Albrecht Ritschl 1. Einleitung Gegenüber der klaren Anlage und Darstellung, die Baurs historische Theologie auszeichnet, ist Ritschls theologische Schriftstellerei eher umständlich zu nennen. Das betrifft insbesondere das Verhältnis von Christentum und Judentum, das inhaltlich gesehen zu den Hauptthemen von Ritschls Theologie zu zählen ist, das aber als eigenständiges Thema von ihm nirgends behandelt wird.10 Vielmehr ist die nie genau dargestellte 10 Auch in der Sekundärliteratur fehlt eine eigene monographische Darstellung von Ritschls Urchristentumsgeschichtsschreibung und seiner Einschätzung des religionsgeschichtlichen Prozesses der Entstehung des Christentums, obwohl das Thema für Ritschls eigene Entwicklung zentral ist, wie

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Unterscheidung des wahren prophetischen Sinns der alttestamentlichen Bundesvolkreligion von der insbesondere von den Pharisäern verfälschten Religion des Judentums einer der hintergründigen Operationen Ritschls, mit denen er sein eigenes Verständnis des (protestantischen) Christentums als der wahren (vollkommenen) Religion stützt. Der Bezug Jesu und des Urchristentums auf das Alte Testament ist deshalb nicht (bloß) als historische Ablösung und Entwicklung, sondern zugleich als verwickelte Identitätsund Wesensbestimmung des Christentums sowie als philosophische Religionstheorie interpretierbar. Es ist unklar, ob Ritschl diese Funktionen in seinen Texten selbst immer angemessen hat auseinanderhalten wollen. Meine Darstellung Ritschls im folgenden soll verschiedene Theoriekomponenten aufzeigen, in denen der Bezug auf das Alte Testament eine Rolle spielt. Eine Darstellung der Entwicklung von Ritschls Religionstheorie und ihrer Themen durch sein Werk bleibt Desiderat.11 Erst auf ihrem Hintergrund wäre die innere Logik der verschiedenen Bezüge zu erkennen, für die das Verhältnis von Judentum und Christentum steht. Ich stütze mich deshalb im folgenden wesentlich auf Texte Ritschls aus dem Umkreis der Veröffentlichung von »Rechtfertigung und Versöhnung«. Für die inhaltliche Durchführung wäre eine Analyse der einzelnen Themenkreise des zweiten Bandes dieses Werkes, der bekanntlich eine biblische Theologie (als systematische Theologie) enthält, notwendig. Auch dies muß einer ausführlichen Darstellung überlassen bleiben. Einleitend seien einige Themenkomplexe genannt, die für die Interpretation von Ritschls Texten über das Verhältnis von Christentum und Judentum leitend sein können. Es gibt einen historiographischen Bezug auf das AT, insofern die Geschichtsschreibung des Urchristentums gegenüber der Gegensatzkonstruktion der Tübinger Schule geöffnet wird und der Bezug auf die alttestamentliche Religion als Kritik an einer positiven Entwicklungskonstruktion hin zur katholischen Kirche verwendet wird. Es gibt einen hermeneutischen Bezug auf das AT, insofern das reformatorische Schriftprinzip von Ritschl erneuert wird, als Maßstab für die theologische Lektüre der Schrift aber bewusst die Lektüre des Neuen Testaments vom Alten Testament her eingeführt wird. Nur so kann die biblische Theologie ein falsches Religionsverständnis korrigieren, das die katholische Kirche installiert hat. Es gibt einen religionstheoretischen Bezug auf das AT, insofern die von den Propheten erreichte Trennung von Religion und Sittlichkeit von Jesus und dem Urchristentum fortgeführt, von dem Heidenchristentum aber wieder aufgegeben wird. Es gibt einen geistphilosophischen Bezug auf das AT, insofern erst das AT eine Vorstellung von Gott als dem weltunabhängigen und weltschöpferischen, insofern weltdie doppelte Bearbeitung der »Entstehung der altkatholischen Kirche« von 1850 und 1857 zeigt. Vgl. die Darstellungen der historiographischen Entwicklung im Kontext der Tübinger Schule sowie Courth (s. o. Anm. 2), 334–488 und Eginhard P. Meijering, Theologische Urteile über die Dogmengeschichte. Ritschls Einfluß auf von Harnack, Leiden 1978. Ulrich Köpf hat Ritschl aus dem Zusammenhang der Tübinger Schule verbannt, vgl. ders., Art. Tübinger Schulen, in: TRE 34, Berlin/New York 2002, 165–171, 169. 11 Vgl. immer noch Otto Ritschl, Albrecht Ritschls Leben, 2 Bde., Freiburg 1892 und 1896.

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überlegenen Geist istalliert hat, die zentraler Bestand des Christentums bleibt. Ritschl kann diese Offenbarung eines reinen Gottesverständnisses auch als Merkmal der vollkommenen Religion ausdrücken, insofern sind Reinigung der Gottesidee und wahres Religionsverständnis gleichsinnig. Es gibt einen ekklesiologisch-soziologischen Bezug auf das AT, insofern Gemeindestiftung und Bundesvolkgedanke historisch eng zusammengehören. An diesem Gedanken hängt die Ritschl auszeichnende Idee seiner Theologie, die die Wesensgeschichtsschreibung der Baurschule weiterführt. Hier geht es um die Realisierung der Religion in der Geschichte, die ein Bestandteil der geisthaften Offenbarung selbst sein soll. Es gibt einen soteriologischen Bezug auf das AT, insofern die Gemeindestiftung zugleich die Vorgängigkeit des Versöhnungshandelns Gottes in der Geschichte verdeutlicht. Diese soteriologische Betonung der geschehenen Versöhnung, der unaufhebbaren Zuwendung Gottes zu seinem Volk verdeutlicht zum einen die strikte Ausdifferenzierung von Religion und Ethik, schlägt also die Verbindung zum religionstheoretischen Programm. Zum anderen kann der soteriologische Bezug auf die vorgängige Versöhnung aber auch geschichtsphilosophisch gelesen werden, weil Gottes Offenbarung für die humane Unableitbarkeit des Freiheitsbewusstseins (und insofern für die Kontingenz der Entwicklung des Geistes in der Geschichte) steht. Gegenüber der Entwicklungskonstruktion als Grundlage der Religionsgeschichtsschreibung, wie sie Baur nach Aufgabe seines supranaturalen Versöhnungskonzepts ausbildet, setzt Ritschl also zwei notwendige Gedanken: Zum einen ist der Bezug auf das AT beherrscht durch die Ermöglichung einer kritischen Ausscheidung der katholischmittelalterlichen Tradition aus der Wesenbestimmung des Christentums. Die scheinbar unhistorische übergreifende kritische Anknüpfung des Protestantismus an das durch das Religionsverständnis des Alten Testaments geprägte Urchristentum ist der notwendige Bezugspunkt einer gegenwartsmaßgeblichen Neuformulierung des Religionsverständnisses. Zum zweiten konzentriert sich die direkte Anknüpfung von (Ur-)Christentums und Judentum auf den Gemeindegedanken. Allerdings saugt dieser Gemeindegedanke in Ritschl Darstellung viele Nebenideen mit auf, die von der Religionstheorie bis zum Offenbarungsverständnis reichen. Anders gesagt: Ritschl hat die dem Alten und Neuen Testament gemeinsame Idee einer auf göttlicher Offenbarung aufbauenden Gemeinde in seiner Theologie benutzt, um identitäts- und wesensbezogene, religionstheoretische und geschichtsphilosophische Probleme materialdogmatisch zu verschlüsseln. 2. Religionsbegriff und Gemeinde In seinem »Unterricht in der christlichen Religion« von 1875 formuliert Albrecht Ritschl als methodische Maxime: »Das Verständnis des Christentums wird nur dann dem Anspruch desselben auf Vollkommenheit gerecht werden, wenn es vom Standpunkte der christlichen Gemeinde aus unternommen wird. – Weil aber im Laufe der Geschichte derselbe mannigfach verschoben und der Gesichtskreis der Gemeinde durch fremde Einflüsse getrübt worden ist, so gilt als Grundsatz der evangelischen Kirche, dass man die

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christliche Lehre allein aus der Heiligen Schrift schöpfe.«12 Diese Reformulierung des reformatischen Schriftprinzips ist nicht verbalinspiratorisch oder dogmatisch gemeint, sondern bezieht sich, wie der Satz deutlich formuliert, auf die hermeneutische Gewinnung des Standpunkts der Gemeinde.13 Das Schriftprinzip, so wie Ritschl es handhabt, ist ein Erkenntnismittel für den reinen Religionsbegriff. Als ein solches religionstheoretisches Kriterium aber hängt das reformatorische Schriftprinzip in Ritschls Sicht eng mit dem historischen Kriterium zusammen, dass das Neue Testament nur vom Alten Testament her gelesen werden darf. Beide Maximen haben eine gleiche apologetische Tendenz, nämlich die Abweisung von Religionsverständnissen, die andere Aspekte unter das Gottesverständnis mischen, Gott mit Elementen des Rechts, der Politik oder des Kultes verbinden. Sowohl das im apostolischen Zusammenhang formulierende Neue Testament als auch die Lektüre des Neuen Testaments ausschließlich vom Religionsverständnis des Alten Testaments her garantieren ein rein geisthaftes Gottesverständnis. Dieses rein geisthafte Gottesverständnis steht aber in Ritschls Fassung für die Selbständigkeit der Religion gegenüber Welt und Kultur, es ist die Beschreibungsgröße für die reine Religion selbst (und nicht, wie bei Baur, für den allgemeinen, Individualität aufhebenden Einheitsgeist). Diese religionstheoretische Funktion der Bezugnahme auf das Alte Testament ergibt sich bereits aus den methodischen Überlegungen, die Ritschl für seine biblische Theologie anstellt. Gegen die Addition verschiedener Tendenzen innerhalb der geschichtlichen Entwicklung des Christentums, wie sie Baur zum Zwecke der geschichtlichen Erklärung vornimmt, stellt Ritschl den dogmatischen Sinn und Zweck einer biblischen Theologie. »Indessen hat es die Absicht der Verwendung dieses Stoffes für den systematischen Zweck mit sich gebracht, dass in seiner Darstellung die individuellen Unterschiede gegen die übereinstimmende Richtung der Schriftsteller zurückgestellt worden sind.«14 Das heißt, das Hauptaugenmerk einer biblischen Theologie besteht für Ritschl in der systematischen Gewinnung eines einheitlichen Religionsbegriffs. Die Theologie rekonstruiert den in der religiösen Selbstexpressivität der Schriftsteller dargestellten inneren Kern der Religion, nicht aber die gedanklichen Mittel, mit denen die einzelnen jeweils diesen inneren Kern darstellen. So ist denn entscheidend, dass »die religiöse Rede [sc. und nicht die Theologie] die Grundform der Gedankenbildung« (22) abgibt. 12 Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion. Studienausgabe nach der 1. Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der 2. und 3. Auflage, eingeleitet und herausgegeben von Christine Axt-Piscalar, Tübingen 2002, (§3) 10. 13 Zu Ritschls Reformulierung des Schriftprinzips vgl. Folkart Wittekind, Ritschls geschichtsphilosophische Deutung der Reformation der Kirche, in: Christian Danz/Rochus Leonhardt (Hg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/New York 2008, 201–233, 204–214. 14 Albrecht Ritschl, Selbstanzeige »Rechtfertigung und Versöhnung II+III« (1874), in: Albrecht Ritschl, Kleine Schriften, ausgewählt, eingeleitet und mit einer Bibliographie der Sekundärliteratur zu Albrecht Ritschl neu herausgegeben von Frank Hofmann, Waltrop 1999, 28–40, 29. Die entsprechenden Formulierungen in dem angezeigten Werk: Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Zweiter Band: Der biblische Stoff der Lehre, (1874), Bonn 18822, 23 (Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im folgenden auf diesen Band).

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Diese religiöse Rede bestimmt Ritschl näher als »aus dem Bewußtsein der religiösen Gemeinschaft heraus« (ebd.) geschehend. Denn nur dieses Bewusstsein der religiösen Gemeinschaft garantiert, dass es sich um reine Darstellung des gegenwärtigen Heilshandelns Gottes in der Geschichte, nämlich in der Entstehung des Glaubens im Einzelnen handelt: »Eine andre Probe für den religiösen und nicht theologischen Charakter der apostolischen Vorstellungsreihen bietet der oft verkannte Umstand, dass die herrschende Vorstellung von Christus auf die Merkmale seines gegenwärtigen Zustandes, auf die Erhöhung zu Gott und auf die Herrschaft über die Gemeinde und die Welt sich richtet« (22). Religiöse Aussagen sind also rein präsentisch-soteriologisch, Spekulationen über transzendente Bedingungen dieses Heils sind methodisch falsch. Die Christologie wird von Ritschl damit deutlich in die historische Selbstbeschreibung des entstandenen Glaubens eingezogen, sie ist eine darstellerische Funktion des Kirchenbewusstseins, das selbst wesentlich für die geschichtliche Wirklichkeit des Glaubens steht. Der einheitliche Religionsbegriff der biblischen Theologie wird von Ritschl nicht als Endziel einer einfachen Weiterentwicklung in der Religionsgeschichte angesehen. Auch die Einheit ergibt sich vielmehr aus der spezifischen Qualität der zugrundeliegenden religiösen Lebensanschauung des Urchristentums. Die biblische Theologie konstruiert vielmehr eine bewusst andere, kritisch gegen gleichzeitige und spätere religiöse Lebensanschauungen gerichtete Religion. Die Abzielung Gottes auf die Gründung seiner Gemeinde in der Geschichte – so lautet Ritschls inhaltliche Umformulierung jedes (auch des christologischen) Offenbarungsbegriffs – ist damit selbst Ausdrucksform eines neuen Religionsverständnisses. Dieses wahre Verständnis der in der christlichen Gemeinde und ihrem Stifter bereits gegebenen wahren Religion sieht Ritschl in der Reformation begründet, allerdings mit der Einschränkung, dass es überhaupt erst als Sinn der Reformation theologisch dargestellt werden müsse.15 Ritschl glaubt sich berechtigt, sowohl gegen die Hegelianer und die Tübinger Schule auf der einen16 als auch gegen die konservativen und konfessionellen Theologen auf der anderen Seite, aber auch gegen Schleiermacher ein ganz neues, der christlichen Religion angemessenes Verständnis der Gottesbeziehung gewonnen zu haben, weil »das beiderseitige Kirchentum hinter dem religiösen Erwerb und hinter dem spezifischen Maßstab der Reformation Luthers zurückgeblieben ist. Wenn daraus nun das gleichartige Urteil über den Wert der gegenwärtigen Repristinationen in Theologie und Kirchentum notwendig folgt, so will ich um der Gerechtigkeit willen hinzufügen, dass auch die freisinnige Richtung auf jenen Gebieten uns zu nichts weniger anzuleiten vermag, als zum Rückgang 15 »Luther hat Andeutungen einer systematischen Umarbeitung der ›Glaubensartikel‹ gemacht, um sie in Einklang mit der Anlage der ›Lehre von den Wohltaten Christi‹ zu setzen. Diese Aufgabe ist jedoch von ihm nicht gelöst worden; und kirchen- wie staatspolitische Gründe hielten ihn wie sein Nachfolger bei der möglichst unveränderten Reproduction der Lehren von Christi Person und von der Trinität fest« (18). 16 Vgl. dazu Folkart Wittekind, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916), Tübingen 2000, 18–43.

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auf den Mittelpunkt der Reformation. [. . . ] Mitverschuldet ist die heillose Lage der heutigen Theologie gerade auf diesem Punkt durch Schleiermachers Begriff von der Religion.«17

Der hohe Anspruch, den Ritschl hier für sein Religionsverständnis formuliert, hängt aber nun genau an jener Lektüremaxime, »das N.T. aus dem alten zu erklären«.18 Methodisch hängt mit der dogmatischen Lektüre von Altem und Neuem Testament auch die Aufhebung der Tendenzanalyse der Tübinger Schule zusammen. Denn Ritschl meint nachweisen zu können, dass mit der Abzweckung von Religion auf die Gemeinde ein fundamentales Gemeinsames benannt ist, demgegenüber gerade die Sünden- und Rechtfertigungslehre des Paulus, wie sie üblicherweise dargestellt wird, bloß eine individuelle Sonderlehre ist, die historisch insbesondere mit der pharisäischen Herkunft des paulinischen Denkens zusammenhängt. »[. . . ] so ergibt sich einmal im Widerspruch mit der ›Kritik‹ die christliche Ursprünglichkeit der Gedankenkreise des Jakobus, Petrus und Johannes, dann erscheint, im Widerspruch mit den bisherigen Ansichten, die starke Nachwirkung des Pharisäismus, überhaupt der individuellen Erfahrungen des Paulus in seinen Aufstellungen über das mosaische Gesetz [. . . ] «.19 Daraus wiederum folgt, dass auch Ritschls Anknüpfung an das Alte Testament nicht einer dogmatischen Auffassung des Textes anhängt, sondern in sich historisch gebrochen ist. Jesu Bild Gottes als des Vaters unterscheidet sich, wie Ritschl kritisch anmerkt, von den zeitgenössischen jüdischen Religionsentwicklungen bei pharisäischen und sadduzäischen Gruppen. Auch in Ritschls Bezugsnahme auf das Alte Testament entscheidet also die systematische Konstruktion eines reinen Religionsbegriffs über die Wertigkeit der historischen Traditionen. Kritisch könnte man anmerken, dass Ritschl mit seiner religionstheoretischen Konstruktion der Identität des Christentums mittels seiner Bezugnahme auf das Alte Testament auch noch den wahren Sinn der alttestamentlichen Religion zu definieren beansprucht. 3. Geschichtliche Realisierung als funktionales Äquivalent der Gemeindestiftung Damit fragt sich nun, welchen Sinn die entscheidende methodische Maxime hat, dass das Neue Testament vom Alten Testament her zu lesen sei. Sie ist im Kontext einer von Ritschl zusammengeführten doppelten Problemstellung zu lesen, einerseits der Frage nach der historischen Identität des Christentums, andererseits der Frage nach der Wesen der Religion. Dass diese Zusammenführung in der Problemstellung einer hegelisch argumentierenden Religionsgeschichte enthalten ist, hat der Blick auf Baurs Konstruktion des Christentums zwischen universaler und absoluter Religion ergeben. Ritschls Einwand gegen Baur besteht – jedenfalls auf geschichts- und religionsphilosophischer Ebene, nicht auf der des geschichtlichen Ablaufs – darin, dass die Konstruktionsvernunft des Geschichtsbetrachters an die Geschichte zurückzugeben ist, weil nur aus der Geschichte heraus Absolutheitsansprüche geltend gemacht werden können. Damit wird dann auch religiös das Wissen des Einzelnen um seinen Ort in der Religionsgeschichte 17 Ritschl, Selbstanzeige RuV II+III (s. o. Anm. 14), 36f. 18 Ritschl, Selbstanzeige RuV II+III (s. o. Anm. 14), 30. 19 Ritschl, Selbstanzeige RuV II+III (s. o. Anm. 14), 31.

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(also in Ritschl Formulierung seine Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde) zum Ort der Identität der christlichen Religion als der absoluten Religion. Ritschl verlagert damit bewusst die allgemeine anthropologische Religionsdefinition in eine geschichtsphilosophische Selbstbeschreibung des religiösen Akteurs. Der Kontext der Fragestellung wird in der Einleitung zum zweiten Band von »Rechtfertigung und Versöhnung« hermeneutisch bestimmt: »Unter welcher Form der Erkenntniß, nach welchem Maßstabe der Auslegung aber wird der Inhalt der inspirierten Bücher zur Norm der positiven Theologie?« (5). Die reformatorische Schriftbindung der Theologie wird also von Ritschl einem allgemeinen Maßstab unterworfen. Dieser Maßstab ist das ›objektive‹ Wesen des Christentums, nämlich »daß das Christentum als allgemeine geistige Bewegung allgemeingiltig erkannt werde« (9). In dieser Allgemeingültigkeit ist aber nicht mehr die individuelle religiöse Erfahrung leitend, sondern Theologie ist gerade die Abstraktion in Richtung auf den Glauben der Christenheit. Jede Erfahrungstheologie scheidet Ritschl aus, weil hier nicht der »Stoff der systematischen Theologie [. . . ] aus der geschichtlichen Quelle und in objectiver Gestalt nachgewiesen« (7) wird. Diese Abstraktion aber ist nicht bloß Verallgemeinerung, wie Ritschl in einem letzten Punkt ausführt. Vielmehr untersteht auch die zusammengeführte Erfahrung aller Christen einer kritischen Norm, nämlich der »Anknüpfung an die geschichtliche Person Christi und ihre Regelung durch dieselbe« (8). Erst in dieser Anknüpfung ist nämlich die Identität der christlichen Religion für das Bewusstsein des Glaubenden da. In diesem Identitätsbewusstsein liegt dann doch ein Teil jener theologischen Erkenntnis, die Ritschl von der religiösen Praxis trennen will. Denn der Christ weiß, dass er seine religiösen Erfahrungen »als christliche Erfahrungen und [. . . ] als gleichartige [. . . ]macht« (9). Ritschl benutzt das christliche Identitätsbewusstsein und die geschichtliche Wesensabstraktion in seiner Bestimmung, um Allgemeingültigkeit als Kriterium einzuführen und damit die Selbstbestimmung des Christentums einem allgemeinen Religionsbegriff zu unterstellen. Allerdings baut er in diesen allgemeinen Religionsbegriff das Wissen um die geschichtliche Identität der religiösen Erfahrung mit ein und unterscheidet sich damit von der rein moralisch-abstrakten Definition von Religion, wie sie bei Baur am Ende – in der Unterscheidung von Religionsbegriff und geschichtlicher Realisierungsgestalt – doch wieder durchschlägt. Methodisch führt Ritschl diese Erweiterung der Religion in Richtung auf ein geschichtliches Selbstbewusstsein der Beteiligten anhand der Frage durch, was denn nun die kanonischen Schriften, auf die allein sich die Theologie stützen soll, von anderen christlichen Schriften unterscheidet. An dieser Stelle entscheidet er sich gegen eine personalinspiratorische Hermeneutik und für eine religionsgeschichtliche Einordnung des Urchristentums. »Deshalb kommt es darauf an, wenn überhaupt der Abstand ihres [sc. der kanonischen Schriften] Wertes von dem aller übrigen christlichen Gedankenbildung oder Literatur festgehalten werden soll, einen andern Weg, [sc. nämlich] den der geschichtlichen Beurtheilung einzuschlagen« (11). Zudem gilt die Normativität der Schrift nicht für ihre geschichtlichen Gehalte und Besonderheiten, sondern nur für »die dogmatische Theologie und [. . . ] die obersten Normen des christlichen Lebens« (12). Es handelt sich also um die Zuschreibung eines richtigen und wahren Religionsbegriffs

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bzw. dessen philosophischen Kerns, die Ritschl für die »im Neuen Testament dargestellte Anfangsgestalt des Christenthums« (12) vornimmt. Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass die Besonderheit an Ritschls Bestimmung des hermeneutischen Maßstabs des Schriftprinzips darin besteht, dass er die geschichtliche Anfangsgestalt des Christentums mit dessen Wesen und dieses mit einem wahren Religionsbegriff verbindet. Dabei ergänzt Ritschl allerdings diesen allgemeinen Religionsbegriff durch das Moment des geschichtlichen Bewusstseins. Genau für dieses geschichtliche Bewusstsein, für die Realisierung als Moment des Religionsbegriffs wird im folgenden die Beziehung auf das Alte Testament stehen. Die von Baur aus dem Religionsbegriff ausgelagerte Frage nach der Realisierungsgestalt der Religion wird von Ritschl in den Religionsbegriff selbst aufgenommen, wobei er allerdings Baurs Idee, genau hierin die Verbindung von AT und NT zu sehen, aufnimmt. Dabei formt Ritschl allerdings Baurs Aufnahme der Messiasidee zum selbstbezüglichen Stiftungsgedanken der Gemeinde um. 4. Religionsbegriff und Urchristentumsgeschichtsschreibung Bevor der religionstheoretische Sinn der Verknüpfung von Wesensfrage der Religion und Geschichtsbewusstsein des Juden- und Christentums geklärt werden kann, muß der Hinweis auf den Inhalt dieser Anknüpfung an das Alte Testament aufgenommen werden, den Ritschl mit Bezug auf seine überarbeitete Geschichte der altkatholischen Kirche anbringt.20 Bekanntlich markiert diese 1857 in zweiter Auflage erschienene Schrift Ritschls seine Abkehr von der Tendenzkritik der Tübinger Schule, auch wenn eine genauere Untersuchung der Differenz beider Auflagen aussteht.21 Ritschl bezieht sich auf seine in dieser Schrift vorgenommene Neueinschätzung des Heidenchristentums. Baur hatte eine Lehrentwicklung hin zur katholischen Kirche in der Weise konstruiert, dass von Paulus ausgehend das Judenchristentum einen Gegensatz zu diesem darstellt, und das Heidenchristentum auf einer neuen Stufe zu Paulus zurückführt. Damit sind Stufen der inneren Klärung des Begriffs der Religion im Christentum angezeigt. Dagegen hat Ritschl die Beschreibung der Größen aus einer Entwicklungskonstruktion herausgenommen und als eigene geschichtliche Gestalten religiöser Deutung und Lebensauffassung nebeneinandergestellt. Dies betont er bereits in seiner Einleitung in den dem Heidenchristentum gewidmeten Teil des Buches. »Das Gegentheil des jüdischen Christenthums in der Epoche von der Apostelzeit bis zur Ausschließung der jüdischen Christen aus der Kirche ist das Heidenchristenthum, und nicht der Paulinismus. Einer Lebensgestalt, wie das jüdische Christenthum ist, steht in jener Zeit nicht blos eine Doktrin, sondern eine andere Lebensgestalt gegenüber.«22 Gegen die lehrbezogenen Entwicklungsmodelle betont Ritschl: »Die Verhandlungen über diese Periode der christlichen Kirche haben deßhalb noch nicht eine Verständigung herbeigeführt, und die Frage nach der Abstammung der altkatholischen Kirche ist deßhalb noch 20 Albrecht Ritschl, Die Entstehung der altkatholischen Kirche. Eine kirchen- und dogmengeschichtliche Monographie, 2. durchgängig neu ausgearbeitete Auflage, Bonn 1857. 21 Vgl. Otto Ritschl (s. o. Anm. 11), Bd 1, 286–294. 22 Ritschl, Entstehung (s. o. Anm. 20), 271.

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nicht erledigt, weil die entgegengesetzten Ansichten sich um das in sich verkehrte Problem drehten, ob die katholische Kirche auf der Grundlage des Judenchristenthums oder auf der des Paulinismus sich entwickelt habe.«23 Dieses ›verkehrte Problem‹ einer Herleitung will Ritschl mit seiner Rede von den verschiedenen Lebensgestalten begraben. So kommt er zu der dogmenhistorischen Leitfigur, dass die aus den Schriften der Heidenchristen erkennbare »bestimmte historisch-dogmatische Doktrin« als Darstellungsmittel dafür dienen muß, wie »das Heidenchristenthum sowohl dem Judenchristenthum mit positivem Selbstbewußtsein sich gegenüberstellt, als auch seine Abweichung von den Ansichten Christi und der Apostel ausprägt.«24 Das positive Selbstbewusstsein zeichnet das Heidenchristentum als eine eigene Form der Religion aus, und zwar auch gegenüber dem paulinischen Urchristentum. Damit zeichnet Ritschl wieder in die Entwicklungskonstruktion ein kritisches Element ein, das eine auch grundsätzlich negative Bewertung mancher geschichtlicher Erscheinungsformen des Christentums erlaubt. Er macht darauf aufmerksam, dass die Entwicklungskonstruktion Gegensätze glättet, um alle Formen zu Durchgangsstufen der Selbsterkenntnis des Begriffs zu machen. Dagegen ist das Eigenrecht jeder Lebensgestalt sowie auch die grundsätzliche Kritikmöglichkeit an ihr zu betonen.25 An Clemens stellt Ritschl die gemeinte eigene Lebensauffassung des Heidenchristentums dar, die sich für ihn sogar dann zeigt, wenn die Bekenntnisformeln des Paulus, aber auch der anderen urchristlichen Autoren oberflächlich gesehen reproduziert werden. So ist für die Christologie herauszustellen, dass der Sinn von Jesu Auftreten und Tod einem ganz anderen Religionsverständnis folgt als bei Jesus selbst und seinen Jüngern: Es »drängt sich auch bei Clemens eine Deutung des Todes Christi hervor, welche so gewiß unapostolisch ist, als sie von jeder [!] Ahnung des ursprünglichen Sinnes verlassen ist. [. . . ] Namentlich mangelt dem Clemens die Einsicht, dass der Gläubige nur auf Grund der Auferstehung Christi ein neues Lebensprincip in sich trägt, aus welchem sich die Nothwendigkeit des sittlichen Wandels ergibt.«26 Christi Tod, so Ritschls für die Aufweisung des Unterschieds von Urchristentum und Heidenchristentum paradigmatische Clemensdeutung, rege »nur als Beispiel der Demuth und als Beweis der göttlichen Liebe die Sinnesänderung an [. . . ], und [begründe] dadurch also nicht, wie die Apostel denken, ein neues Verhältniß der Menschen zu Gott [. . . ], sondern [habe nur] ein neues Verhalten der Menschen zu Gott veranlaßt«.27 Diese auf die Heilsfunktion Chri23 Ebd. 24 AaO. 274. 25 Vgl. dazu die Ausführungen zur kritischen Funktion des Wesensbegriffs bei Ernst Troeltsch, Was heißt »Wesen des Christentums« (1903), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 2 (19222), Neudruck Aalen 1962, 386–451, 401–411. Troeltsch nennt hier (405) Baur und Harnack als Vertreter einer linearen (»bloß vorübergehende, relative, die Entwicklung bloß vorwärtstreibende Gegensätze«) Entwicklungsgeschichtsschreibung und fordert dagegen die Anerkennung »auch innerliche[r] und absolute[r] Gegensätze« bis hin zur »Scheidung des dem Wesen Entsprechenden und des Wesenswidrigen« (407), wie Ritschl es mit seiner Unterscheidung von Urchristentum und katholischer Kirche (die auch Troeltsch inhaltlich aufnimmt) bereits durchgeführt hat. 26 Ritschl, Entstehung (s. o. Anm. 20), 280f. 27 AaO. 281.

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sti bezogenen Missverständnisse sind für Ritschl, und das ist entscheidend, nicht bloß im engeren Sinne dogmatisch-christologische Verständnisprobleme, sondern weisen auf ein grundsätzlich geändertes Religionsverständnis hin: »Der Grund dieser Erscheinung ist nicht die überwiegende Aufmerksamkeit auf die Regelung und Ordnung des sittlichen Verhaltens im Einzelnen, welche nur als mitwirkende Bedingung anzusehen ist; sondern die Unfähigkeit des Heiden, der richtigen alttestamentlichen Voraussetzungen der apostolischen Grundideen sich zu bemächtigen.«28 Die Abweichung des Heidenchristentums von Paulus ist also nicht nur eine rein zeitlich bedingte und den gesellschaftlichen Umständen geschuldete Größe, sie ist aber auch nicht ein notwendiges Durchgangselement zur Realisierung des Christentums in der lateinisch-römischen Kirche und Kultur, sondern sie ist eine Abweichung vom religiösen Sinn der Religion selbst. Das Heidenchristentum, auf dem dann die Kirche aufbaut, ist eine christlich gesehen häretische Realisierung von Religion. Dagegen steht das Urchristentum mit der alttestamentlichen Religion zusammen, insofern es die Religion als in der Geschichte gegebenes Geschenk Gottes an sein Volk, also als geschichtliche Ermöglichung von Glauben, als Versöhnung seiner Gemeinde auffasst. Ritschl fasst in seiner geschichtlichen Untersuchung den Gegensatz folgendermaßen zusammen: »Hiemit ist in materieller und formeller Hinsicht das Gegentheil von der paulinischen Formel [sc. von der Glaubensgerechtigkeit] der ausgesprochen; und dasselbe [also die Abweichung von Paulus bei gleichzeitiger Anknüpfung an seine Formeln] erhellt aus der Art, wie die Sündenvergebung von der Erfüllung der göttlichen Gebote abhängig gemacht wird. Die Anschauung des Paulus von der Gerechtigkeit durch den Glauben beruht auf der gedankenmäßigen Unterscheidung (nicht thatsächlichen Trennung) der religiösen Centralfunktion von der sittlichen Funktion im Einzelnen. Die [. . . ] Abweichung des Clemens von Paulus hat ihn dahin geführt, daß er den Glaubensgehorsam und den Werkgehorsam nicht zu unterscheiden vermag [!]; und deßhalb der imputierten Gerechtigkeit, welche er eigentlich meint, die durch Werke hervorgebrachte unterschiebt.«29

Clemens benutzt also die paulinischen Formeln, schiebt ihnen aber einen anderen Sinn unter, der von Ritschl als Nachweis einer grundlegenden Abweichung im Religionsverständnis überhaupt gesehen wird. Die Trennung von Religion und Ethik, die die fundamentale Idee der Propheten und ihrer Heilsverkündigung an das Volk Israel gebildet hat und die von Jesus in die Idee der gegenwärtigen Heilszusage Gottes in der durch ihn (Jesus) geschehenden Stiftung der Gemeinde überführt wird, ist von der katholischen Kirche und der in ihr maßgeblichen Theologie wieder vergessen worden. Deshalb ist die katholische Kirche eine Mischung aus ethischer Erziehungsinstitution und sakramentaler Gnadenanstalt, aber keine wahrhaft und ausschließlich religiöse Größe. Es lässt sich also zusammenfassen, dass Ritschl in der 2.Auflage der Entstehung der altkatholischen Kirche ein neues Modell über die Religionsgeschichte legt, das nicht 28 AaO. 282; auf diesen Satz verweist Ritschl in ders., Rechtfertigung II (s. o. Anm. 14), 14; Hvh. im Orig. 29 Ritschl, Entstehung (s. o. Anm. 29), 283f.

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eine logische Entwicklungskonstruktion des Religionsbegriffs bietet, sondern nach der kritischen Differenz zwischen der Unterscheidungsfähigkeit von Religion und Ethik und ihrer bleibenden Vermischung aufgebaut ist. Das Urchristentum steht hier mit dem Alten Testament dem Heidenchristentum und den zeitgenössischen Varianten des Judentums, aus dem sich dann auch das Judenchristentum entwickelt, gegenüber. Die damit in die jüdische Religion selbst religionstheoretisch eingezogene Trennung hat Ritschl in der literarischen Verteidigung seiner Ideen in dem 2.Band von »Rechtfertigung und Versöhnung« klar markiert: »Hiegegen bemerke ich [. . . ], daß man nicht geeignet ist, in dieser Sache mitzusprechen, wenn man nicht den Unterschied zwischen der prophetischen Gestalt der Religion des Alten Testaments und dem Judenthum kennt, aus welchem folgt, daß wenn der Ideenkreis des Neuen Testaments mit jener Gestalt [sc. der Religion der Propheten] in Continuität steht, das pharisäische und das essenische Judenchristenthum [!] eben nicht zum Verständniß des Paulus disponirt ist« (15 Anm.). Baurs hellenistische Umformungsthese für das essenische Judentum in Richtung auf den universalen Geist wird von Ritschl zurückgenommen. Dagegen setzt Ritschl das verallgemeinernde Beharren auf einmal gegebenen Identitäten sowie die gegenseitige Kritik von unterschiedlichen Religionsformen. Die Entwicklung des zivilen Kulturgeistes kann in Ritschls Selbständigkeitstheorie für die Religion gleichsam windschief zu der eigentlichen religiösen Entwicklung verlaufen. 5. Geschichtsbewußtsein als Kennzeichen des wahren Religionsbegriffs Ritschl kann den Bezug des Urchristentums auf das Alte Testament in zwei verschiedenen Theorierelationen entfalten kann, nämlich einer religionstheoretischen im engeren Sinn, in der es um die Unterscheidung von Religion und Ethik geht, und einer religionssoziologischen, in der es um Gottes Verhältnis zu seinem Bundesvolk bzw. um die Stiftung der Gemeinde geht. Beide Gedanken sind nun dadurch miteinander verknüpft, dass sie die Realisierungsdimension einer Idee mit in diese Idee aufnehmen. Einerseits denkt Ritschl die Passivität der religiösen Erfahrung, also ihren Offenbarungscharakter, als geschichtliches Sichereignen von Glauben. Die reine Religion unterscheidet sich gerade darin von der Sittlichkeit, dass sie nur Gabe und Offenbarung ist, nicht menschliche Tätigkeit. Andererseits ist im christlichen Gemeindegedanken die Stiftung durch Jesus Christus immer mitgedacht. Die Gemeinde unterscheidet sich prinzipiell von jeder natürlichen Gemeinschaft, das einzige, was sie mit dieser gemeinsam hat, ist ihre – wenn auch unsichtbare – Realität in der Geschichte Die reale Existenz des Gottesglaubens in der Geschichte, als ein geschichtliches, aber nicht durch geschichtliches Handeln des Menschen bewirktes Ereignis, verbindet sowohl die individuelle Erkenntnis der Nichtmoralität von Religion als auch die Einbindung jeder individuellen Religion in das Gegebensein der religiösen Gemeinschaft. Ritschl überführt damit die spekulative Religionsgeschichte in eine kulturhistorische Bewusstseinsgeschichte. Die Kontingenzen dieser Bewusstseinsgeschichte gilt es ernst zu nehmen. Gemeindebewusstsein ist geradezu der religiöse Ausweis des Wissens um die Kontingenz wirklicher Fortschritte in der Gesamtlage menschlicher Selbstdeutungen. Freiheitsbewusstsein, so meint Ritschl, ist

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nicht eine logische Entwicklung der Geschichte, sondern eine brüchige und zufällige Errungenschaft einer bestimmten (aber ebenso kontingenten) menschlichen Gemeinschaft in der Geschichte. Wenn die Christen sich als diese Gemeinschaft selbst verstehen und so Freiheit geschichtlich realisiert sein lassen, kann dies geschichtlich nur als ein Geschenk Gottes aufgefasst werden. Freiheitsbewusstsein als Forderung an den Einzelnen zu formulieren, geht überhaupt nur innerhalb dieser Gemeinschaft, und auch in ihr darf die grundsätzliche Unableitbarkeit von angemessener freier Selbstdeutung des Menschen nicht vergessen werden, wenn nicht ein oberflächliches und falsches Verständnis dieser Freiheit sich einstellen soll. Die geschichtliche Kontingenz ist in Ritschls Verständnis der Religionsgeschichte der eigentliche Ort religiöser Selbstdeutung. Ein anthropologischer Religionsbegriff, der Gottesverehrung als notwendiges Bestandteil menschlicher Geistigkeit oder Psyche auffasst, kann diesen geschichtlichen Charakter der Selbstdeutung im Innersten des Menschen gar nicht angemessen formulieren. Aus diesem Grunde ist die geschichtlich gedeutete Bindung Gottes an sein Volk bzw. die ebenso geschichtlich verstandene Stiftung der Gemeinde das eigentliche Fundament der Trennung von Ethik und Religion. Das Zuvorkommen von Gottes Offenbarung in der Zusage an seine geschichtliche Gemeinde ist damit das unmittelbare Komplement der Passivität religiöser Erfahrung im Einzelnen; und da diese in ihrem Kern eigentlich nicht bewusstseinstheoretisch fassbar ist, wird das Eingebundensein des einzelnen Glaubenden in die Gemeinde als geschichtliche Größe zum Ausweis der richtigen Religionsauffassung. Die Anerkennung des Bundesverhältnisses zwischen Gott und seinem Volk entspricht der Ausgrenzung des ethischen Selbstverhältnisses aus dem religiösen Gottesbezug, der ein nicht durch eigenes Tun hergestelltes neues Selbstverhältnis, nämlich Freiheitsbewusstsein, umfasst. 6. Die Entstehung von Geschichtsbewußtsein in der Geschichte In einem nächsten Punkt ist zu beschreiben, wie Ritschl in seiner biblischen Theologie des zweiten Bandes von »Rechtfertigung und Versöhnung« die beschriebene Bezugnahme Jesu und des Urchristentums auf die alttestamentliche Religion inhaltlich füllt. Das kann hier nur exemplarisch und verkürzt geschehen.30 Was unterscheidet bereits die alttestamentliche Religion von allen anderen Religionen der Antike, und wie hat das Christentum auf diese entscheidende Differenz aufgebaut und sie weitergeführt? Ritschl hat insbesondere seit seiner Abhandlung über den Zorn Gottes von 1859 diesen Unterschied immer wieder über die Idee des Bundesvolks dargestellt. Dies ist der Hintergrund für den zweiten Band von »Rechtfertigung und Versöhnung«, der die Sünden- und Heilslehre des Neuen Testaments im durchgehenden Bezug auf die alttestamentliche religiöse Offenbarungsfunktion des Volkes Israel entwickelt. 30 In der Zusammenfassung (Selbstanzeige RV II+III, s. o. Anm. 14, 30) benennt Ritschl folgende Punkte: »Um dieses [sc. eine zusammenhängende biblische Theologie] zu erreichen hat mir nun in hervorragender Weise das Verfahren gedient, das N.T. aus dem alten zu erklären. Ich habe diese Methode speciell angewendet auf die Attribute Gottes, auf die Begriffe der Sündenvergebung, der menschlichen Gerechtigkeit, des Opfers.«

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Erstens: Entgegen der Baurschen Trennung von sittlicher Lehre Jesu und kirchengründender Messiasvorstellung weist Ritschl an Jesu Sündenverständnis und in seiner Verkündigung den Zusammenhang von Gemeindegründung und Vergebung nach. Der Hintergrund besteht in dem Gegensatz der pharisäischen Sündenvergebungsvorstellung zu ihrer religiösen Verwendung bei den Propheten. »Nun gehört die Sündenvergebung in dem prophetischen Entwurfe der Zukunftshoffnung nicht [. . . ] zu den Functionen, in welchen die Herrschaft Gottes sich an dem Volke bewährt, welches in Gehorsam sich derselben unterwirft und anschmiegt, [sondern] zu der Vorbereitung in dem Gerichte, der Scheidung zwischen den unwürdigen und den würdigen Genossen des Bundesvolkes. Das Gericht und die Aufrichtung der Herrschaft Gottes war von den Propheten stets als wunderbares Eingreifen Gottes in die Geschichte vorgestellt worden« (35).

Der Pharisäismus hat aus der prophetischen Gerichtsankündigung eine ethische Drohung gemacht und damit zum Gehorsam aufgerufen. Doch eigentlich meinten die Propheten mit dem Gericht das gnadenbringende und wirkliche Eingreifen Gottes in die Geschichte jenseits aller menschlichen Absichten und Taten. Genauso ruft auch Jesus nicht zur Sinnesänderung als Leistung auf, sondern beschreibt bereits seine eigene Wirklichkeit, nämlich das in seiner Person geschehende Stiften der Gemeinde, im Sinne der Sündenvergebung. Diese Stiftung der Gemeinde ist ein geschichtliches kontingentes Ereignis. Zweitens: Auch die Ereignisse des Todes und der Auferstehung Jesu sind nicht unabhängig von seiner Lehre zu betrachten. Das ergibt sich aus Ritschls Interpretation der Opfervorstellung im Alten und Neuen Testament: Es wird »endlich keinem Zweifel ausgesetzt sein, daß die alttestamentliche Ansicht vom Opfer den Maßstab für den Sinn jener Combination [sc. von Tod und Opfer im NT] abgibt. Das entspricht der Gemeinschaft der beiden Religionsstufen. Und zwar schließt die specielle Vergleichung des Todes Christi mit solchen Opfern, welche innerhalb der Bundesgemeinschaft Gottes mit dem erwählten Volke stehen, von vornherein jede Vermuthung aus, als ob eine aufklärende Beziehung zwischen dem Sinne des Todes Christi und dem allgemeinen menschlichen oder dem heidnischen Begriffe vom Opfer zu entdecken wäre« (163, Hv.i.O.).

Damit ist klar ausgesprochen, dass Judentum und Christentum gemeinsam als Offenbarungsreligionen gegen eine rationale oder anthropologische Religionskonstruktion stehen. Zugleich schließt Ritschl mit Blick auf die katholische Theologie aus dem Begriff des Opfers jeden Gedanken an Wiedergutmachung und christologische Stellvertretung aus. Biblisch-theologisch soll nicht der Mensch etwas opfern, wie in jedem humanen Opferbegriff gemeint, es muß auch nicht Gott durch eine Leistung des Menschen versöhnt werden. Vielmehr steht bereits der alttestamentliche Typus des Bundesopfers bloß für einen Bekenntnisakt, mit dem das Volk Israel seine Zugehörigkeit zu Gott beteuert. Entsprechend ist auch die versöhnende, die christologische Komponente des Todes Jesu als theologisches Ausdrucksmittel für die durch Gottes Offenbarung in der Geschichte bewirkte Stiftung der Gemeinde zu verstehen.

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Zusammenfassend dazu ist zu bemerken, dass bei der Bundesvolkvorstellung, an die die von Jesus gestiftete Gemeinde formal anknüpft, nicht der soziologische Aspekt im Vordergrund steht, sondern die Offenbarungsqualität, also die geschichtsbezogene Komponente. Gott bindet sich in seinem Verhältnis zum Menschen ausschließlich an seine eigene Durchsetzung in der Geschichte. Religion als menschliches Gottesverhältnis ist ein rein geistiges und ausschließlich selbstbezügliches Geschehen, es ist an keine Voraussetzungen, Mittel oder Zwecke gebunden. Bundesverheißung wie Gemeindestiftung sind nicht Forderungen und Taten des menschlichen Religionssubjekts, sondern sind Weise der in der Geschichte sich ereignenden freien Zuwendung Gottes zu seinem Volk. Die Religion, die damit gemeint ist, also die Religion des Alten und des Neuen Testaments, zeichnet sich dadurch aus, dass sie der Ort ist, an dem Geschichtsbewusstsein in der Geschichte entsteht. Der religiöse Charakter benennt die Kontingenz religionsgeschichtlicher Entwicklungsstufen, die den menschlichen Akt und damit das vom Menschen beeinflusste Geschehen überwinden und zu einem übergeschichtlichen Geschichtsverständnis durchstoßen. In dem Bekenntnis zum geschichtlichen Handeln Gottes reflektiert also jene ›gemeinsame‹ höchste Religionsstufe von prophetischem Judentum und (Ur- bzw. protestantischem) Christentum die Entstehung von Geschichtsbewusstsein in der Geschichte. Die Entwicklungsstufen, über die Geschichtsbewußtsein entsteht und über die das Christentum an das Alte Testament anknüpft, fasst Ritschl so zusammen: »Denn wenn man die Gesammtanschauung der christlichen Religion authentisch feststellen soll, so muß man sich klarmachen, daß die Thatsache, also auch der Gedanke der Gemeinde in ihr anders bedingt ist, als in allen Volksreligionen. In diesen ist die Gemeinde gegeben. In den heidnischen Religionen ferner verhält sie sich zu dem Glauben oder Cultus nur als das Subject. In der hebräischen Religion ist die natürlich gegebene Gemeinde zugleich auch das Object ihrer Umbildung zum Träger der Gottesherrschaft. In der christlichen Religion aber ist die Gemeinde immer nur demgemäß, daß sie durch die geistige Umbildung der natürlichen Menschen erzeugt wird; sie muss immer in erster Linie als Zweck gedacht werden, ehe sie als Thatsache nachgewiesen werden kann.«31

Das heißt: Die Weiterentwicklung der jüdischen Volksreligion zum reinen Monotheismus hat die Idee einer von Gott im Bekehrungsakt gestifteten wahren Gemeinde hervorgebracht. Damit unterscheidet der Gedanke einer geschichtlichen Realisierung der Religion im Akte der Zuwendung des Menschen zu Gott die alttestamentliche Religion von jeder volksgebundenen oder anthropologisch-heidnischen Religionsauffassung. Nicht der Mensch oder eine bestimmte gegebene Menschengruppe hat Religion, sondern wahrer Glaube ist das, was die geschichtliche Trägerinstanz der Religion erst im eigentlichen, göttlichen Sinne herstellt. Das Christentum, wie Jesus es wollte, hat genau diese Tendenz im Judentum beerbt und vereinseitigt, sie also von anderen Beimischungen gereinigt. Die christliche Gemeinde in Ritschls Interpretation des Zusammenhangs von Altem und Neuem Testament hat keinen anderen historischen Grund mehr als die Bekehrung ihrer Glieder zum Gottesglauben. Offenbarung ist das Äquivalent zur hi31 Ritschl, Selbstanzeige RV II+III (s. o. Anm. 14), 32f.

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storischen Realisierung der geisthaften Glaubensgehalte. Die Gemeinde steht also als Chiffre für die im Gehalt des Glaubens selbst ausgesprochene historische Bewusstheit des Glaubens. Glaube ist Freiheitsbewusstsein, und zwar nicht in abstrakter Form, sondern als Grundlage des menschlichen Lebens in der Geschichte. 7. Ritschls »Unterricht in der christlichen Religion« als Zusammenfassung Es stellt sich im Durchgang durch die Theoriekomponenten der Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum heraus, dass überall da, wo das Gemeindebewußtsein und geschichtliche Realisierung im Christentum angesprochen sind, der Zusammenhang mit dem Judentum mitgemeint ist. Geht man mit diesem Ergebnis noch einmal an Ritschls »Unterricht in der christlichen Religion« von 187532 heran, so zeigt sich, dass der geschichtskonstruktive Zusammenhang von prophetischer und jesuanischer Religion viel bestimmender ist, als der einschlägige (und oben schon zitierte) Paragraph 7 vermuten lässt. Bereits im ersten Paragraph, der für die Prolegomena die Funktion der religionstheoretischen Lehnsätze aus Schleiermachers Glaubenslehre übernimmt, wird die Bestimmung des Religionsbegriffs von der »Anerkennung des Trägers dieser Offenbarung« (§1, 9) abhängig gemacht. Dahinter steckt die im Alten Testament ansetzende Überwindung einer natürlichen Kultusgemeinde hin zu einer rein religiösen Versammlung, die gleichbedeutend ist mit der geschichtlichen Begründung des Glaubens. Die Funktion dieses Paragraphen besteht denn auch darin, die Bestimmung des wahren Religionsbegriffs aus einer anthropologisch verfassten Religionstheorie heraus- und in die inhaltliche Beschreibung des christlichen Glaubensbewußtseins hineinzuverlegen. Dies ist dann konsequent, wenn die Gemeinde nicht ein Fall von religiösem Bewusstsein überhaupt ist, sondern religiöses Bewußtsein durch die Bestimmung des eigenen geschichtlichen Ortes im Kontext der Religionsentwicklung mitbestimmt wird. Die – mittels der Gemeinde – geschichtsbewusste Religion des Alten und Neuen Testaments ist überhaupt erst der Ort, an dem Gott als Gründer der Gemeinde und Herr der Bewußtseinsgeschichte richtig gedeutet (und das heißt: als reiner Geist verstanden) wird. Religionstheorie und Geschichtsbewusstsein werden also von Ritschl zusammengeführt, und das heißt für die Dogmatik, dass nur durch die christologische Beschreibung der Stiftung der christlichen Gemeinde überhaupt der Religionsbegriff angemessen bestimmt werden kann. Entsprechend kann auch in Paragraph 2 die Absolutheit des Christentums nicht durch Vergleich mit anderen Religionen, sondern nur durch die selbstreflexive Beschreibung des Stiftungsaktes in Jesus Christus gewonnen werden. Damit weist auch die Bestimmung der Vollkommenheit der christlichen Religion in die dogmatische Durchführung hinein. Genauso ist es schließlich mit dem Paragraphen 3, der die klassische Erörterung des Theologiebegriffs ersetzt. Denn Theologie ist nicht dogmatische Lehrsatzwissenschaft, sondern Beschreibung des Selbstverständnisses der Gemeinde als einer rein religiösen Gemeinschaft in der Geschichte, als Stiftung Gottes. Denn mit der zusammengehörenden Beschreibung des Stiftungsgeschehens einerseits und des aneig32 Darauf (s. o. Anm. 12) beziehen sich die folgenden Paragraph- und Seitenangaben.

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nenden Gestiftetseinsbewußtseins andererseits ist das Selbstbewusstsein des christlichen Glaubens hinreichend beschrieben. Diese geschichtsreflexive Umdeutung des anthropologischen Religionsbegriffs wird in die kanonischen Schriften des Alten und Neuen Testaments zurückgeführt, wodurch das reformatorische Schriftprinzip sich als gleichbedeutend mit Ritschls Religionsverständnis erweist. Damit wird der Reich-Gottes-Begriff zum Leitbegriff der dogmatischen Selbstbesinnung der Gemeinde. Denn in ihm sind die Gottesidee und die Idee einer Realisierung Gottes im Glauben gleichermaßen enthalten. Genau diese Realisierungsfunktion führt Ritschl im schon zitierten Paragraphen 7 auf den gemeinsamen religiösen Hintergrund von AT und NT zurück und setzt beide Religionen so gleich: Das Weltverhältnis Gottes ist der geheime Sinn der Gottesvorstellung selbst. Die heidnischen Religionen können aber diesen Realisierungsgedanken gar nicht klar fassen, weil für sie Gott immer schon ein Bestandteil der Welt ist. Insofern wird die biblische Idee »der freien Weltschöpfung durch Gott« (§7, 16) zum Erkennungszeichen des angemessenen Realisierungsgedankens. Der Unterschied von Judentum und Christentum besteht vor diesem Hintergrund nur darin, dass Gottes Realisierung im Alten Testament noch »politische und zeremonielle Bedingungen« (§7, 17) enthält, während das Christentum dann versteht, dass Gottes Realisierung in der Welt ein rein religiöser Gedanke ist. Das bedeutet, Gott wird ausschließlich im Glauben des Einzelnen im Kontext der durch Offenbarung gestifteten Gemeinde weltlich wirklich. Ist die Realisierung so ein immanenter Bestandteil des Gottesgedankens selbst, erklärt sich, warum die ethische Vervollkommnung der Menschen in der Geschichte in Paragraph 10 ebenfalls ausschließlich an die Religion gekoppelt wird. Damit knüpft Ritschl an die religionsgeschichtlichen Ergebnisse Baurs an, nach denen die zentralen Gehalte der christlichen Religion sowohl im Judentum (religiös) als auch in der hellenistischen Philosophie (ethisch)33 bereits erkannt und bekannt waren. Nur die Religion bietet den Kontext zur Realisierung ethischer Ideen, weil »ein besonderer Beweg- oder Verpflichtungsgrund mit der Erkenntnis des allgemeinen Grundsatzes verbunden wird« (§10, 20). Es geht hier nicht um Subsumptions- oder Anwendungsprobleme von Regeln auf Fälle, sondern um die geschichtliche Wirklichkeit sittlichen Verhaltens. Die Verbindung von Judentum und Griechentum in der christlichen Religion wird also von Ritschl gegen Baur dahin bestimmt, dass der Realisierungsgedanke der jüdischen Gottesvorstellung mittels des Reich-Gottes-Gedankens auf den abstrakten ethischen Gedanken der hellenistischen Philosophie übertragen wird und dadurch erst der universale Realisierungsanspruch der christlichen Religion zustandekommt. Wahre Humanität ist religiös fundiert, weil nur die geschichtlich gegebene Religion auch die Realisierung dieser Humanität in der Geschichte will und zugleich begründet. Auf beides und damit die Kritik und Überwindung der Baurschen Aufteilung von Humanität und ihrer Verwirklichung im Christentum bezieht sich schließlich fundamental die Christologie. Denn Paragraph 19 führt aus: »Nun ist aber auch die besondere Tatsache der Gemeinde, welche sich zu der Verwirklichung 33 Vgl. dazu oben 513ff.

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jener allgemeinen Aufgabe als des Reiches Gottes bestimmt, nicht naturgemäß gegeben, sondern dieselbe ist in ihrer Art immer nur als positive Stiftung Christi begreiflich. Deshalb ist es zum Verständnis des Daseins dieser Gemeinde und für unsere richtige Teilnahme an derselben notwendig, das bleibende Verhältnis anzuerkennen und zu verstehen, welches zwischen der Gemeinde des Reiches Gottes und ihrem Stifter Jesus Christus obwaltet« (§19, 33).

Die Idee einer Stiftung der Gemeinde in der Geschichte ist dabei wieder dem Alten Testament und dem Christentum gemeinsam. Jesus unterscheidet seine Stiftung nur insofern von dem Bundesvolkgedanken des Alten Testaments, als er die Realisierung von allen weltlichen Vorgaben löst und ausschließlich an den Glauben selbst bindet. Darauf weist bereits der die Reich-Gottes-Idee einführende Paragraph anmerkungsweise hin: Christus beruft die Jünger, damit sie »in dieselbe Gemeinschaft mit Gott eintreten, die er selbst behauptet; gemäß dieser Bestimmung unterscheidet er sie, die Söhne Gottes, als eigentümliche Religionsgemeinde von der israelitischen Gemeinde der Knechte Gottes.« (§5, 14) Die Christologie ist also die reflexive Stiftungsbeschreibung der christlichen Gemeinde, und ihr Sinn ist, dass die Gemeinde sich als zur Realisierung des Reiches Gottes bestimmt erkennt. Daß die vollkommene Religion die Realisierung der Humanität darstellt, ist also selbst bereits ein geschichtlich sich ereignendes Datum. In ihm entsteht überhaupt erst geschichtlich die vollkommene Religion, die das Christentum in seiner Selbstdeutung ist. Die Christologie beschreibt infolgedessen die Unableitbarkeit desjenigen Gedankens, dass die Religion ihrem Skopus nicht bloß in dem reinen Gottesgedanken hat, sondern als Religion zugleich das Bewusstsein seiner notwendigen Realisierung in der Welt umfasst. In Jesu Stiftung der Gemeinde entsteht also reflexives religiöses Geschichtsbewußtsein. Aus der damit Baur gegenüber versuchten Einlagerung der methodischen Konstruktionsprinzipien der Geschichte durch den Geschichtsschreiber (bzw. die untergründige Annahme einer quasi auktorialen Entwicklung des allgemeinen Geistes in der Geschichte) in den Verlauf der Geschichte selbst und die Aufladung des Religionsverständnisses durch dieses reflexive Geschichtsbewusstsein im Glauben entsteht der eigenartige Befund, dass Ritschl inhaltlich viele Elemente von Baurs Religionsgeschichtsschreibung und seiner ausgeführten Theorie zur Entwicklung des Christentums aus dem Judentum aufnimmt, dabei aber der Meinung ist, etwas ganz anderes zu beschreiben als Baur und sich so von seiner Methodik sowie seinem Geschichts-, Religions- und Individualitätsverständnis lossagt.

Mittler zwischen Gott und Mensch Hermann Cohens Auseinandersetzung mit Schleiermacher Helmut Holzhey Von Martin Rade zur Rede gestellt, antwortete Hermann Cohen im Januar 1913, nunmehr aus Berlin, seinem früheren Marburger Kollegen: »Ich habe mich mißverständlich ausgedrückt, wenn Sie meinen[,] Schleiermachers Religion sei mir nicht sympathisch. Da müßte ich ja eben so unverständig wie undankbar sein. In seinem Gefühl, in dem Luthers Glaube sich erneuert, ist er methodischer als sonstwo. Ich nehme nur unhistorisches Ärgerniß an seinen Inkonsequenzen [...]. Aber die Fortdauer seiner Wirksamkeit verdankt er der Ablenkung von den Urkunden auf das Bewußtsein. Und was hat er Alles an Freimut geleistet. Es wird die Zeit kommen, wo vom Mittler nicht mehr die Rede sein wird! Steht das auch in der 1. Ausgabe? Wie konnte er aber, der das Johannes Ev. festhält, sagen: Niemals habe Christus gesagt, der einzige Mittler zu sein? Es ist aber immer ein Zeichen unklarer Religion, wenn man dem Pantheismus nicht entgehen kann. Der ist der Aberwitz des Menschengeistes [...].«1

In dieser Briefstelle sind – mit Ausnahme der moralphilosophischen Bezugnahmen auf die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre 2 und der Hinweise auf die Vorlesungen über die Ästhetik3 – alle Themen genannt, die Cohen in seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher angeschnitten hat: das religiöse Bewusstsein beziehungsweise das religiöse Gefühl; das Problem des Mittlers zwischen Gott und Mensch; der Pantheismus. Dass er die Reden Über die Religion (in der 4. Auflage von 1831) gelesen hat, ist durch ein Exzerpt bezeugt;4 weiterhin bezieht er sich an verschiedenen Orten auf Schleiermachers Glaubenslehre (Der christliche Glaube).5 Man hat allerdings, mindestens auf den 1 2

3 4 5

Zitiert nach Helmut Holzhey, Cohen und Natorp, Band 2: Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Basel/Stuttgart 1986, 424f. Vgl. Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik (21910), in: Werke, hg. von Helmut Holzhey und Hartwig Wiedebach, Bd. 2, Hildesheim 2001, passim; Religion und Sittlichkeit (1907), in: Kleinere Schriften IV (Werke, Bd. 15), Hildesheim 2009, 92. Vgl. Hermann Cohen, Kants Begründung der Ästhetik (1889), Werke, Bd. 3, Hildesheim 2009, 347, 426. Hermann Cohen, Reflexionen und Notizen (Werke, Suppl. 1), hg. von Hartwig Wiedebach, Hildesheim 2003, 137–141. Vgl. Hermann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie (1915), zit. BR; Werke, Bd. 10, Hildesheim 1996, 95 (»Gefühl [...] einer absoluten Abhängigkeit«); Reflexionen und Notizen, 60 (Gebet); Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum (1915), in: Kleinere

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ersten Blick, den Eindruck, dass diese Bezugnahmen bloß oberflächliche und schlagwortartige Reminiszenzen sind. Cohen geht trotz Exzerpt nie genauer auf den Text ein; er verfolgt vielmehr seine eigenen Problemstellungen und grenzt sich dabei dann und wann auch von Schleiermacher ab, wo es ihm zur Klärung dienlich erscheint. Das historische und systematische Verständnis Schleiermachers wird kaum gefördert, Licht fällt höchstens auf ein Segment seiner Wirkungsgeschichte. Inhaltlich führt die Rezeption Schleiermachers durch Cohen, soweit sie erkennbar wird, jedoch wie von selbst auf das Kongressthema »Christentum und Judentum«. Dazu leistet Cohen mit seinem Werk in der Tat einen wesentlichen Beitrag. Doch habe ich bei dessen Interpretation mit einer anderen, einer methodischen Schwierigkeit zu kämpfen. Ich suche das exemplarisch an Cohens Opus postumum Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums zu verdeutlichen. Unsereiner, nicht jüdischen Glaubens (um mich dieses protestantischen Ausdrucks zu bedienen), ehemaliger evangelischer Theologe, als Philosoph zuerst und für lange Zeit mit der Kantinterpretation Cohens und seinem eigenständigen System der Philosophie befasst, sieht sich prima facie zugleich einbezogen und ausgeschlossen, wenn er sich an die Lektüre der Religion der Vernunft macht: einbezogen in ein Nachdenken über Religion, insbesondere jüdische Religion, das diese ganz der unter uns recht und schlecht verteilten allgemeinen Menschenvernunft anheimstellt – ausgeschlossen mit der Fixierung dieses Nachdenkens auf die literarischen Quellen des Judentums als seinen »Nationalgeist«.6 Ist der philosophischen Vernunft nicht die »Ursprünglichkeit« unwiederbringlich verwehrt, die Cohen in der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, an dieser »Urquelle«,7 findet, wenn sie sich nicht aus dieser Quelle speist? Muss ihr nicht zuletzt die Religion der Vernunft, diese eigentliche Religion, verschlossen bleiben, weil sie ohne genuinen Zugang zu deren Fundament ist? Dieses Problem stellt sich natürlich ebenso für den philosophischen Zugang zum Christentum, ja zu jeder Religion, wenn dieser ohne religiöse Erfahrung oder Praxis gesucht wird – ähnlich wie der Theoretiker der Psychoanalyse davon behelligt ist, dass er keine eigene Analyse gemacht hat – beziehungsweise wenn die religiöse Verwurzelung aus methodischen Gründen ausgeblendet werden soll. Ich lege diesen methodischen Vorbehalt zur Seite und widme mich nun im vertrauten akademischen Stil der Auseinandersetzung Cohens mit Schleiermacher.

6 7

Schriften V (Werke, Bd. 16), Hildesheim 1997, 412f. (»Schleiermacher selbst ging bis zum Äußersten in seiner schwärmerischen Huldigung für Spinoza, so lange er die Reden über die Religion gegen ihre Verächter schrieb, in denen es keine Verbindung zu seiner Glaubenslehre geben dürfte.«). Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 2Frankfurt a.M. 1929, 28. »[W]enn im Judentum der Begriff der Quelle für die Religion der Vernunft einen besonderen Sinn und eine eigentümliche Methodik enthielte [...], so bildet die Quelle ja nicht eine Absperrung gegen andere religiöse Denkmäler, sondern sie wird zu einer Urquelle für andere Quellen, die ihrerseits immerhin auch für die Religion der Vernunft als Quellen in ungeschwächter Anerkennung bestehen bleiben« (9f.).

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1. Der Mittler zwischen Mensch und Gott Die Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch, wie sie in der christlichen Rede vom Mittler gegeben wird, schließt immer schon eine Stellungnahme zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament und damit von Judentum und Christentum ein. In einem Aufsatz von 1900 rügt Cohen denn auch, unter Berufung auf Albrecht Ritschl,8 Schleiermachers »Missverhältnis zum Alten Testament«, wie er es in dem Urteil demonstriere, »dass es dem Judentum an der Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen fehle«,9 damit aber auch an einer Erlösungslehre.10 Diese Kritik Cohens an Schleiermacher steht im Kontext von Ausführungen zum Begriff der Nächstenliebe in den beiden Testamenten – Ausführungen, die darauf zielen, die Bedeutungsdifferenz von Nächstenliebe in Judentum und Christentum herauszuschälen. Wer ist dein Nächster? Nachdem Cohen gezeigt hat, dass das Gebot der Nächstenliebe im Alten Testament (gemäß Jes66) auf den »Fremdling-Beisass« und damit auf den Noachiden und weiter auf den »Frommen der Völker der Welt«, also den Menschen überhaupt ausgedehnt worden ist,11 sieht er mit der christlichen Erlösungslehre, repräsentiert durch Joh14, 6 »Niemand kommt zum Vater denn durch mich«, erneut eine »Schwierigkeit« in »den wahrhaften, aufrichtigen Begriff des Nächsten« gebracht. Die »Erlösung ist bei freiester Auffassung des Glaubens, als der eigenen sittlichen Arbeit der Rechtfertigung, unauflöslich doch mit, sei es der Person, sei es der Idee des Sohnes, als des Mittlers, verbunden«, auch wenn dieser »in idealster Auffassung« mit der »Selbstvermittlung der Sittlichkeit« gleichgesetzt wird. »Die Erlösung bleibt in jedem Falle durch die Vermittlung bedingt« und damit der christliche Begriff des Menschen »auf den Glauben an die christliche Gottesidee determiniert«.12 Ist sittliche Arbeit nicht hinreichend für die Erlösung,13 so hat das seine Konsequenzen für den Begriff der Liebe. Denn in der zwischenmenschlichen Liebe stehen wir gemäß 1.Joh4 in der Liebe Gottes, diese aber ist – christlich verstanden – nicht so sehr die korrelative Verbindung von Gott und Mensch und auch nicht so sehr unsere Liebe zu Gott als vielmehr die Liebe, mit der Gott uns und zwar in der Sendung seines Sohnes geliebt hat (1.Joh4, 10). Diese »Vermittlung« macht aus, was Cohen die »Schwierigkeit« im christlichen Verständnis der Nächstenliebe nennt. Ich interpretiere, 8 9

10 11 12 13

Vgl. Hermann Cohen, Kleinere Schriften VI (Werke, Bd. 17), Hildesheim 2002, 478 Anm. 1. Hermann Cohen, Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch (1900), in: Jüdische Schriften, Berlin 1924, III 65; vgl. Reflexionen und Notizen, 58. – Für Schleiermacher ist das Judentum beherrscht von der Idee »einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche« (Über die Religion, 1. Aufl., Berlin 1799, 287), während das Christentum, »tiefer eindringend in den Geist der systematischen Religion«, durch »die ursprüngliche Anschauung [...] des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und der Art wie die Gottheit [...] die Feindschaft gegen sich vermittelt«, charakterisiert ist (291). So nach Albrecht Ritschl, Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands, Bonn 1874, 13. Hermann Cohen, Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch (1900), (s. o. Anm. 9), 56–60. AaO. 63f. »[D]ass der Einzelne selbst in seiner sittlichen Arbeit sich selbst zum Christus wird« (64).

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dass für Cohen durch den Bezug auf Christus als den Mittler einerseits die Universalität des Liebesgebots, andererseits die unmittelbare Verbindung des Menschen mit Gott in der Liebe in Frage gestellt wird. Im Christentum verbindet die »Liebe des Menschen allein [Hervorhebung von mir] [...] nicht mit Gott«; Gottes Liebe erlangt nicht schon in der Menschenliebe ihre Vollendung. Das aber gerade kennzeichnet die »Vaterliebe des jüdischen Gottes«: »Er ist unser Vater, selbst wenn wir ihn nicht suchen, geschweige finden.« Predigt Cohen damit nicht von einer christlichen Kanzel? Ja und nein. Ja, soweit der Satz die Souveränität Gottes hervorhebt. Nein deshalb, weil er die unmittelbare Liebe des Vaters ohne die »Vermittlung« des Sohnes verkündigt und ausdrücklich dem Mittler und dessen Versöhnungsmission absagt. Nur kurz scheint die Option einer Anknüpfung an den (johanneischen) Logos auf, wenn Cohen unter Berufung auf Maimonides und Ibn Esra die Vernunft als den Mittler zwischen Mensch und Gott heranzitiert. Aber sein Urteil ist klar: Die Mittlerschaft der »Vernunft« besagt nur, »dass das Verhältnis der beiden Begriffe Gott und Mensch an und für sich allein und ausschließlich und hinreichend diese Vermittlung ausmacht«. Genau das verkenne Schleiermacher mit seiner Behauptung einer im Judentum angeblich fehlenden Vermittlung von Endlichem und Unendlichem. Die von Cohen geltend gemachte Korrelation von Gott und Mensch bildet den Grundgedanken seines religionsphilosophischen Werkes. Ich komme darauf zurück.

2. Kritik des Pantheismus In Cohens Auseinandersetzung mit Schleiermacher taucht immer wieder das Schlagwort des Pantheismus auf. Seine Kritik an dieser facettenreichen »Lebens- und Weltanschauung« (Dilthey) richtet sich einerseits gegen Spinoza, andererseits gegen die Romantik und die »Identitätsphilosophie« des deutschen Idealismus. Was veranlasst ihn aber, sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nochmals auf einen Kampfplatz zu begeben, dessen Feuerschein schon seit Jahrzehnten erloschen war? Wie aus der Rede »Religiöse Postulate« hervorgeht, die Cohen 1907 am Verbandstag der deutschen Juden hielt, tritt er gegen den Pantheismus als Inbegriff gottlosen Verständnisses von Bildung und Kultur unter jüdischen Gebildeten seiner Zeit an. Statt sich »der Idee des Einzigen Gottes als des Gottes der Sittlichkeit« verpflichtet zu wissen, »lassen sie sich von dem Modewort des Monismus verblenden, oder sie berauschen sich an der angeblich einzigen Wahrheit des Pantheismus.«14 In scharfer Differenz zu dieser Art von Weltanschauung als Element jüdischer Bildung macht Cohen eine Philosophie des Judentums geltend, für welche die Idee der Transzendenz Gottes unverzichtbar ist, einer Transzendenz, die er zur »tiefsten Sicherung der Immanenz der menschlichen Sittlichkeit« erklärt.15 Vermutlich hat also 14 Hermann Cohen, Religiöse Postulate (1907), in: Kleinere Schriften IV (Werke, Bd. 15), 140f. Schon 1898 äußerte sich Cohen in ähnlicher Weise in einem Wiener Vortrag »Das Judenthum als Weltanschauung«; vgl. Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, 15 (1898) 221–223, 241–243. 15 Hermann Cohen, Ethik und Religionsphilosophie in ihrem Zusammenhange (1904), in: Jüdische Schriften II, 118.

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seine Kritik am Pantheismus ihren ›Sitz im Leben‹ in einer Debatte um den Inhalt jüdischer Bildung und Lehre, die mit der von Moses Mendelssohn eingeleiteten und im 19. Jahrhundert beschleunigt fortgesetzten jüdischen Zuwendung zur allgemeinen Kultur16 immer dringlicher geworden war. Statt sich einer Modeströmung wie dem Pantheismus anzuschließen, sollte sich jüdische Bildung, so postuliert Cohen, in die Lehre des Judentums vertiefen, die ihren wesentlichen Gehalt in der Idee des Einzigen Gottes und seiner Offenbarung als Gott der Geschichte habe.17 Entsprechend den historischen Gegebenheiten, verständlich aber auch vom geschilderten Anlass her, bilden Spinoza und seine Ethica den Ausgangspunkt der von Cohen geführten Auseinandersetzung. Dabei taucht wieder der Name Schleiermachers auf, der in den Reden, wie Cohen in seinem großen Spinoza-Aufsatz von 1915 schreibt, »in seiner schwärmerischen Huldigung für Spinoza« »bis zum Äußersten« ging.18 Das ist durchaus nicht übertrieben, denn Schleiermacher schreibt (ich empfinde: anstößig für einen christlichen Theologen): »Opfert mit mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe [...] voller Religion war Er und voll heiligen Geistes«.19 Cohen misst Spinoza demgegenüber an den Verpflichtungen, die mit seiner Festlegung auf Philosophie als Ethik – jedenfalls für den Kantianer – verbunden wären: Er habe mit dem Titel seines nachgelassenen Hauptwerks »ausgesprochen, wohin sein ganzes Denken hinzielte und hinstrebte«, und doch den handelnden Menschen verfehlt, weil er die Handlungen und Triebe der Menschen so betrachtet habe, als ginge es um Linien, Flächen und Körper. Die Ungesetzlichkeit faktischen menschlichen Handelns, die Knechtschaft unter den Affekten, rufe aber nach einem Gesetz, das nicht Naturgesetz menschlichen Seins, sondern nur normatives Gesetz menschlichen Sollens sein könne. Damit ist zugleich der Kernpunkt von Cohens Pantheismuskritik überhaupt benannt.20 Cohens Kritik zielt zwar auf beide Pole der behaupteten »Gleichsetzung« in der Formel »Deus sive natura«, auf Spinozas Natur- wie auf seinen Gottesbegriff, aber ihre eigentliche Pointe findet sie darin, dass für ihn mit der Identität von Gott und Natur die Identifikation von Mensch und Natur verknüpft ist und damit der Unterschied von 16 AaO. 113. 17 Arnulf von Scheliha weist in seinem Beitrag »Judentum und Christentum in Schleiermachers fünfter ›Rede‹« auf Abraham Geigers Rezeption der Reden hin. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, Cohens Auseinandersetzung mit Schleiermacher könnte sich sogar innerhalb einer spezifisch innerjüdischen Tradition vollzogen haben, war doch Geiger einer der Lehrer Cohens in seiner Breslauer Zeit, der ihm u. a. den Gedanken des universalen Messianismus nahebrachte. 18 Siehe oben Anm. 5. 19 Über die Religion (1799), 54f. 20 Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass Cohen unausdrücklich die Kritik Spinozas an Ethikchimären, in denen die Menschen nicht so, wie sie sind, gezeichnet werden, sondern so, wie man sie haben möchte, durchaus aufnimmt (Werke 16, 343), dieser Kritik am Sollen aber nicht wie Spinoza selbst in einer auf die Natur des Menschen abstellenden Affektenlehre Rechnung trägt, sondern ihr die Bezugnahme auf die staatliche Rechtsordnung bzw. die »Menschheit« entgegenhält, in denen das »Sollen« sein »Sein« hat.

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Sein und Sollen zunichte gemacht wird.21 »Pantheistische« Philosophiekonzepte leiden für Cohen generell darunter, dass in ihnen »der genaueste, tapferste und wahrhaftigste Gedanke Kants, derjenige von der Unterscheidung der Gewissheit in Natur und Sittlichkeit« zugrunde geht. Zusammenfassend hält er fest, dass die Philosophie des Absoluten, »indem sie die Unterschiede unter den Gliedern des Systems der Philosophie aufzuheben trachtet, die Eigenart und die Selbständigkeit derselben beeinträchtigt und zerstört«.22 Cohen setzt eine »richtige«, gewissermaßen »klassische« Architektur, die kantische, gegen die »romantische«, wie sie für die »Philosophie des Absoluten« charakteristisch sei. Leitend ist dabei die ethische Positionierung seines eigenen Philosophiebegriffs. Der Pantheismus ist eine »Bedrohung der reinen Sittlichkeit«. Indem er nämlich den Blick auf das Verhältnis des Menschen zur Natur richtet statt auf das Problem seiner Sittlichkeit, also auf das Sein (des Menschen) statt auf das Sollen, leistet er einer Naturalisierung bzw. Ontologisierung des Begriffs vom Menschen Vorschub, die in letzter Konsequenz zur Auflösung der Ethik in Metaphysik führt.23 Denn bei der »Natur«, von der pantheistische Konzepte reden, handelt es sich nicht um den Gegenstand der Wissenschaft, sondern um das »All« (Schleiermachers »Universum«), dem auch der Mensch eingeordnet wird. Das für Cohen Anstößige am Pantheismus besteht also in der Einebnung der Differenz von Gott und Natur einerseits, von menschlicher Natur und Sittlichkeit andererseits. Überraschenderweise vindiziert Cohen auch dem Christentum einen »pantheistischen Charakterzug«. Er interpretiert sogar Schleiermachers Spinoza-Huldigung als Element einer Strategie zur philosophischen Begründung des Christentums – »wie von einer Vorstufe her«.24 Und auf Schleiermacher spielt er auch an, wenn er in dem Essay »Der Jude in der christlichen Kultur« (1917) schreibt: »Zu den Vorzügen des Christentums pflegt seine Verwandtschaft mit dem Pantheismus gezählt zu werden«.25 Als Beleg dafür kann man in der Tat die gegen die verbreitete Sehnsucht nach Unsterblichkeit gerichtete Stelle der Reden lesen, wo es heißt: »Aber das Universum spricht zu ihnen wie geschrieben steht: wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten, und wer es erhalten will / der wird es verlieren« (1799, 131f.). Was soll denn nun aber am Christentum um Gottes willen pantheistisch sein? In der vergleichsweise frühen Arbeit von 1900 über Liebe und Gerechtigkeit sucht Cohen den »pantheistischen Charakterzug des Christentums« in der Idee des Gott-Menschen, mit welcher der Ursprung des Sittengesetzes in Gott und zugleich in den menschlichen Geist gesetzt wird,26 also Gott und Mensch in Einheit statt in Korrelation gedacht werden. Cohen lehnt diesen »zulässigen« Pantheismus, wie er ihn 1917 vom »universellen direkten Pantheismus« unterscheidet, 21 Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens (21907), zit. ErW ; Werke, Bd. 7, Hildesheim 2002, 16. 22 Hermann Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur Geschichte des Materialismus von F. A. Lange (31914), Werke, Bd. 5/II, Hildesheim 1984, 38 und 40. 23 ErW 459f. 24 Hermann Cohen, Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum (1915), in: Kleinere Schriften V (Werke, Bd. 16), 412. 25 Hermann Cohen: Der Jude in der christlichen Kultur (1917), in: Kleinere Schriften VI (Werke, Bd. 17), 430. 26 Jüdische Schriften III, 64.

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nicht einfach ab. Es handelt sich um einen »indirekten«, »durch die Mensch und Gott verbindende Vernunft vermittelten Pantheismus«. Cohen erkennt der in diesem Pantheismus waltenden Vernunft zu, dass sie die Vermittlung von Gott und Mensch vollzieht, dass sie also nicht bloß ein anderer Ausdruck für die Korrelation von Gott und Mensch ist. Er spricht damit explizit den Logos Philons an, von dem er behauptet, dass er »im Christentum vornehmlich das Dogma von der Menschwerdung Gottes zur Wirkung gehabt« und so den Monotheismus verletzt habe. Doch dieses Wohlwollen Cohens gegenüber dem christlichen Pantheismus basiert auf einer »Idealisierung« des Dogmas, in der sich Cohen mit den meisten Theologen einig zu wissen glaubt. In dieser »Idealisierung« erhält die Menschwerdung Gottes den Sinn, »die Gemeinschaft der Vernunft bei Gott und Mensch« zur »Auswirkung« zu bringen. Der »Ursinn der Vernunftgemeinschaft« von Gott und Mensch, wie er den gedanklichen Inhalt eines »zulässigen« Pantheismus bildet, lässt sich für Cohen aber auch in der »Grundanlage« des Judentums nachweisen: »Gott [...] kann, wie sehr immer dem Grade nach verschieden, dennoch dem Wesen nach nur dieselbe Vernunft dem Menschen verliehen haben, die sein eigenes göttliches Wesen ausmacht«. Das Resultat dieser Idealisierung der Vermittlung durch den Logos qua Vernunft besteht darin, »dass es einer eigenen persönlichen Vermittlung, nicht bloß nicht in einer Menschwerdung, sondern auch nicht durch einen Logos oder heiligen Geist bedarf«!27 Wenn Cohen so für den von ihm verfochtenen reinen Monotheismus »keinen Mittler zwischen Gott und Mensch [...] zulässt« und den Begriff Christi gegenüber »dem Begriffe des einzigen Gottes« zu einem »sekundären Begriff« erklärt,28 würdigt er doch das Leiden Christi, das er als individuelle Bezeugung des Leidens des Menschen auffasst, und erklärt dieses Letztere zum eigentlichen Gegenstand der christlichen Religion.29 Dem physischen, psychischen und insbesondere dem sozialen Leiden (der Armen) antwortet das Mitleid – für Cohen das religiöse Gefühl par excellence.

3. Das religiöse Gefühl Mitleid heißt für Cohen: »Entdeckung des Menschen im Leiden, [...] Entdeckung des Individuums am leidenden Menschen, [...] Entdeckung seiner Korrelation mit Gott, die gleichsam durch dieses Leiden und Mitleiden gefügt wird«.30 Er nimmt das Mitleid also nicht bloß als Reaktion in Anspruch, sondern als »schöpferische Aktivität« im Sinne einer Gegen- bzw. Wechselwirkung, in der der Mitmensch und mit ihm auch ich selbst erst entstehen – als »reinen Affekt«, in dem sowohl von eigenen vitalen Interessen wie von Schuldgefühlen abgesehen wird. Es ist über den affektiv-reflexiven Selbstbezug hinaus der »Schlüssel des Mitmenschen«, mit ihm wird der andere erst vom »Neben27 28 29 30

Der Jude in der christlichen Kultur (s. o. Anm. 25), 430–432. BR 115. BR 93. BR 94.

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menschen« zum »Mitmenschen«.31 Es versteht sich, dass die »religiöse Ergriffenheit« im so verstandenen Mitleid nur bedingt als Gefühl bezeichnet werden kann, und das gilt ganz besonders, wenn man bei diesem Wort das ästhetische Gefühl vor Augen hat. Beide Arten des Gefühls, erklärt Cohen, sind unvergleichbar, »und keine Unendlichkeit kann sie vergleichbar machen«. Als Urheber der »Analogie der Religion mit dem Gefühle« benennt er Schleiermacher32 – Anlass für die ausführlichste Auseinandersetzung mit diesem in Cohens Werk.33 Anerkennung findet, dass Schleiermacher – über Kant hinaus – der Religion mit ihrer Verankerung im Gefühl einen Ort im Bewusstsein angewiesen habe. Mit der Gründung der Religion im unmittelbaren Bewusstsein des Gefühls – hier setzt Cohen nun aber auch seine Kritik an – sei jedoch der Bezug von Religion auf Erkenntnis gekappt bzw. verdunkelt worden. Das Argument dafür lautet: Pantheistisch verstehe Schleiermacher »die Hingabe an Gott« als »Hingabe an das Universum«; das Gefühl als »das pantheistische Organ schlechthin« beinhalte die »Deckung« des Menschen mit dem Universum. Aber diese »Unmittelbarkeit des Gefühls« sei »ein zweideutiger Vorzug«, bedenke man den Erkenntnisanspruch einer pantheistischen Metaphysik. Cohen erklärt es als eine Reaktion auf dieses in den Reden ungelöste Problem, dass Schleiermacher »in seiner Glaubenslehre das Gefühl zu dem einer absoluten Abhängigkeit verwandelt« habe. Ohne irgendwo näher auf die entsprechenden Ausführungen in der Glaubenslehre einzugehen – es bleibt beim Schlagwort –, deutet Cohen das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit wiederum im Rekurs auf die Reden, nämlich auf die dort thematisierte »Sehnsucht nach Liebe«. In solcher Sehnsucht verrate sich wohl die »Abhängigkeit vom Universum«, doch widerspreche der Tatbestand der Sehnsucht zugleich der Identität des Menschen mit dem Universum. Der Fokussierung auf die Abhängigkeit, die sich in der Sehnsucht kundtut, konzediert Cohen, dass sie »für die Religion einen Teil von Richtigkeit haben« mag, bestreitet aber, dass »Gefühl« der passende Ausdruck dafür sei. Denn, so sein Argument, Gefühl sei unbestimmtes Bewusstsein, es habe »keinen anderen objektiven Inhalt [...] als nur sich selbst«; mit ihm als Basis von Religion gehe dieser ebenso der Mensch wie Gott, d. h. jeder objektive Inhalt, verloren. Von der Gefühlsbindung der Religion bleibt so nur noch das unbestreitbare Phänomen religiöser Ergriffenheit. Cohen deutet es als Mitleid gegenüber dem leidenden Individuum, als ein Mitleiden von unendlicher Kraft. Das Mitleid mit dem Menschen hat sein Pendant in der Leidenschaft der Sehnsucht nach Gott, wie sie in den Psalmen zum Ausdruck kommt.

31 Religion der Vernunft (s. o. Anm. 6), 158. Vgl. H. Wiedebach, Hermann Cohens Theorie des Mitleids, in: Hermann Cohen’s Philosophy of Religion. International Conference in Jerusalem 1996, ed. by Stéphane Moses and Hartwig Wiedebach, Hildesheim 1997, 231–244. 32 Vgl. Hermann Cohen, Religion und Sittlichkeit (1907), in: Kleinere Schriften IV (Werke, Bd. 15), 32: »Seit Schleiermacher pflegt man auf die intimsten und die engsten Regungen des menschlichen Gefühls sich für die Religion zu berufen [...]; der Subjektivismus des Gefühls, als des intimsten Zentrums des Menschenwesens, muss herhalten, um einen Mittelpunkt abzugeben für jene universale Richtung, die der Religion vorbehalten bleiben soll«. 33 BR 94–99.

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4. Die Fortsetzung der Debatte über das religiöse Gefühl zwischen Cohen und Natorp Spuren der Schleiermacherschen ›Gefühlsreligion‹ finden sich auch und eher stärker bei Paul Natorp, dem Marburger Kollegen und Freund Cohens. Ich beschränke mich im Folgenden auf die knappe Darstellung seiner Position, ohne die Bezüge zu Schleiermacher genauer herausarbeiten zu können – eine entsprechende Untersuchung liegt m. W. nicht vor. Leitend für Natorps Religionsphilosophie ist die Frage nach der Stellung der Religion im System der Philosophie. Zeitlich schon vor Cohens diesbezüglichen Erörterungen arbeitet er u. a. in seinen Büchern Religion innerhalb der Grenzen der Humanität (21908) und Philosophie (1911) heraus, dass Religion nicht als eine selbständige kulturelle Form der Konstitution von Gegenständen neben Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst gelten und deshalb keinen eigenen Systemteil bilden kann. Mit dem Rekurs aufs »Gefühl« sucht er unter Berufung auf Schleiermacher diesem Befund Rechnung zu tragen: Gemäß diesem sei das Gefühl die »Grundlage der Religion im menschlichen Bewusstsein«; es fasse Erkenntnis, Willen und ästhetische Phantasie in sich als deren letzte Wurzel zusammen. Gefühl in der »Bedeutung des Unmittelbaren, subjektiv Ursprünglichen, Umfassenden, aber noch Gestaltlosen« macht nun in seinem Universalitätsanspruch für Natorp den »Eigengehalt der Religion« aus.34 Doch ist es nicht einfach Gefühl, sondern das Gefühl des Unendlichen, das »nach Schleiermacher« Religion begründet. Natorp geht nun insofern auf Distanz zu dieser Verknüpfung von Religion und Gefühl, als er an ihr zugleich die Gefahr namhaft macht, dass Religion »Erkenntnis und Sittlichkeit in ihrer endlichen Beschränktheit zu überbieten sich berechtigt, ja verpflichtet glaubt«.35 Wie lässt sich dieser Gefahr Herr werden? Religion besteht nicht nur – und schon gar nicht unverwechselbar – in emotionalem Erleben; zu ihr gehören Überzeugungen mit einem Wahrheitsanspruch. Um diesem gerecht zu werden, interpretiert Natorp »Gefühl« als Ausdruck eines »inhalterfüllten, unmittelbaren Selbsterlebnisses«, in dem der »Wahrheitsgrund« religiösen Glaubens liegt.36 Er macht nämlich im Selbsterlebnis das reflexive Moment eines Selbstverhältnisses aus und mit diesem das kognitive Fundament einer religiösen Einsicht. Religionsphilosophisch verfolgt er einerseits die gegen eine Vergegenständlichung religiöser Inhalte gerichtete kritische Absicht, das Spezifische der Religion in ein gegenstandsloses Bewusstsein, eben das Gefühl des Unendlichen, zu legen, andererseits billigt er diesem Gefühl einen in der Subjektivität des reflexiven »Innenlebens der Seele« fundierten Wahrheitsbezug zu, der sich als ein »Anspruch der Transzendenz« äußert.37 Die Erfahrung einer Unendlichkeit im »Gefühl« macht einen solchen Anspruch subjektiv plausibel. Freilich bleibt er vage, zumal kein Bogen zu spezifischen religiösen Überzeugungen geschlagen, 34 Paul Natorp, Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, 2Tübingen 1908 (zit. RGH ), 27, 35, 37. 35 RGH 42. 36 Paul Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. Einführung in den kritischen Idealismus, 2 Göttingen 1918 (zit. Ph), 128f. 37 RGH 51ff.; Ph 131ff.

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vielmehr jedwede Transformation religiösen Erlebens in die Behauptung der objektiven Wirklichkeit einer Überwelt strikt abgelehnt und Religion so in die »Grenzen der Humanität« gewiesen wird. Um die Spannung zwischen der philosophischen Restriktion und der religiösen Hypostasierung der Transzendenz aufzulösen, tritt Natorp auf eine Grenzbetrachtung ein, in der er den logischen Ort der Religion nicht mehr innerhalb des Bereichs menschlicher Erfahrung, sondern auf der Grenze zwischen Außen und Innen zu bestimmen sucht. Wir denken auf diese Grenze zu, indem wir in den »Ideen« alle endlichen Grenzen überschreiten, bis wir zu der durch die »Idee« selbst gesetzten Grenze gelangen. Die so gedachte Begrenzung geschieht von innen her: aus der Unendlichkeit des menschlich Denkbaren insgesamt. Das menschliche Bewusstsein begrenzt sich im Überschreiten jeder Schranke. Methodische Basis dafür ist die Wechselbezüglichkeit von Subjekt- und Objektbeziehung, die beide »in ihrem transzendentalen Grenzsinn koinzidieren«. Vehement lehnt es Natorp wieder ab, den Inhaltssinn der Totalität des Erlebens in unangemessener Weise zu vergegenständlichen oder als wirklich zu behaupten; er sei vielmehr als »überobjektiv, überwirklich« im Sinne »ideeller Vollendung« zu denken. Statt von Gott spricht er vom Göttlichen und von diesem nur in Korrelation zum Seelischen. Religion läuft für den Philosophen darauf hinaus, dass die »Welt«, in der sich das menschliche Erleben vollzieht, ihrem »transzendentalen Grenzsinn« nach »ganz durchgottet, ganz durchseelt« ist. Eine derart durch Rückkehr in die »Grenzen der Humanität« gereinigte Religion kennt kein »Dogma vom Transzendenten« mehr, keine letztgültige Wahrheit, keine ein für allemal geschehene oder geschehende Erlösung. Die innere Wandlung, die in der Religion erlebt wird, besteht in der Erlösung »aus den Banden der Schranke«.38 Die religionsphilosophische Auseinandersetzung zwischen Natorp und Cohen konzentriert sich auf diese Begründung von Religion im »grenzen- und gestaltlosen Wogen und Weben der Seele«.39 Kein Dissens besteht dabei bezüglich der prinzipiellen Verpflichtung zu kritischer Rationalität im philosophischen Umgang mit der religiösen Thematik; beide Autoren betreiben eine an Kant geschulte aufklärerische Mythen- und Glaubenskritik. Die »Religion« besteht für sie im Wesentlichen nur aus Judentum und – evangelisch geprägtem – Christentum. Es ist aber nicht etwa das unterschiedliche religiöse Herkommen, das zu ihrer religionsphilosophischen Dissonanz führt, sondern das unterschiedliche Verhältnis, das beide als Philosophen zu ihrer jeweiligen Tradition haben. Im Unterschied zu Cohen sieht nämlich Natorp allem Anschein nach den universalen Wahrheitsanspruch systematischer Philosophie nicht durch die Partikularität faktischer Religiosität gefährdet, sondern geht davon aus, dass auf dem Hintergrund der Kantischen Metaphysikkritik die Zurückführung der Religion »in die Tiefen des Innenlebens« durch Schleiermacher und Wilhelm Herrmann bereits geleistet worden ist.40 Cohen verwahrt sich ausdrücklich dagegen, dass »das eigene Erleben des Lebens der Seele« Religion sein kann. Er räumt ein, dass das Gefühl »als Urkraft des Lebens« der 38 Ph 136–141. 39 RGH 87. 40 Bei Schleiermacher mit der Bezugnahme auf das »Gefühl des Unendlichen« (RGH 38 u. ö.), bei Wilhelm Herrmann mit dem Rückgang auf das innere Erleben (RGH 93f.).

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Kunst zugrunde liegen mag, doch wenn es Religion begründen soll, ist es für ihn – wie gezeigt – nur Ausdruck eines »christlichen Pantheismus«. Gegen dessen Identitätsdenken stellt er den Gedanken der Korrelation von Mensch und Gott. »Das Ich ist des Gottes bedürftig, nicht mit ihm identisch«; und weiter: »die Religion sucht den Menschen in der Beschränkung, der Abhängigkeit! Besser: der Korrelation«. Auch auf der Seite Gottes ist ihm die Differenz wichtig: »Gott ist Wirklichkeit, Realität des Guten in der Menschenwelt, nicht ›Seele aller Seele‹ und dergleichen«.41 Natorp verwendet den Korrelationsbegriff in einem ganz anderen Sinne. Er sucht die »Korrelation« aus der Grenzreflexion zu begründen: »Die Grenze ist das Absolute, das in der Korrelation der absoluten Einheit [...] des Endziels; und der absoluten Individualität« gedacht wird.42 Die Korrelation nimmt bei ihm den Charakter einer coincidentia oppositorum an, der Koinzidenz zwischen dem unendlichen allmächtigen Guten und der unendlichen Schwachheit des Menschen – der unendlichen Seligkeit und Herrlichkeit und dem unendlichen Elend. Diese Koinzidenz macht für Natorp die Idee des GottMenschen aus, in dem das Sollen ein Sein zugesprochen erhält: »Sollen und doch Sein, Sein und doch Sollen«. Religion als der einzige Halt »für die kaum mehr innerlich zu tragende Not der Zeit«, beinhaltet: »das was Mensch (Menschheit) [ist, ist] andererseits Gott (Gottheit)«; die »Beziehung auf die absolute Allheit, begründet das absolute Individuum, aber auch nur für dieses hat jenes Sinn, das Absolute darf nie das ›Abgelöste‹ bedeuten«. Und hierfür sucht Natorp das Einverständnis Cohens.43 Für Cohen hat hingegen die Korrelation, verstanden als wechselseitige Beziehung von Mensch und Gott, ihren primären Ort in der Ethik als der »Lehre vom Begriffe des Menschen«.44 Ausgangspunkt für die ethische Bestimmung der Korrelation nach ihrer theologischen Seite ist die Idee Gottes. Gott als Idee zu denken, schließt metaphysikkritisch u. a. aus, Gott und Natur pantheistisch zu identifizieren. Bei solcher Abwehr philosophischer Metaphysik wird für die Rede von Gott die religiöse Überlieferung umso wichtiger, allerdings ohne sich »der Form [...] zu überantworten«, die sittliche Begriffe, insbesondere der Begriff Gottes, in Mythos und Religion angenommen haben. Der israelitische Prophetismus liefert Cohen den Beleg dafür, dass Religion und Ethik nicht in Gegensatz zueinander stehen müssen, weil die mythologische Schranke zwischen dem die Wahrheit verkündenden Gott und der menschlichen Vernunft dank dem ethischen Gehalt der prophetischen Rede zerbricht: »die auswärtige Quelle fließt unversehens in eine eigene über: in die der menschlichen Vernunft, sofern der Begriff der Vernunft den Menschen mit Gott vereinbart und versöhnt«.45 Welchen Inhalt gibt nun eine Gott und Mensch versöhnende Vernunft der Idee Gottes? Nach der Abweisung aller Wesensbestimmungen kann Gott nur noch relational begriffen werden, nämlich so, dass er im Verhältnis zu den Menschen aufgeht. Pantheismuskritisch beschreibt Cohen dieses Ver41 Aus Hermann Cohens Exzerpt von Natorps Religion innerhalb der Grenzen der Humanität (oben Anm. 34), abgedruckt in Helmut Holzhey, Cohen und Natorp, (s. o. Anm. 1), 100f. 42 AaO. 445 (Natorp an Cohen, Briefentwurf vom 31. 12. 1915). 43 AaO. 472f. (Natorp an Cohen, Briefentwurf vom 26. 3. 1917). 44 H. Cohen, Ethik des reinen Willens (21907), Werke, Bd. 7, Hildesheim 2002 (zit. ErW ), 3. 45 ErW 54.

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hältnis als ein »auswärtiges«. Damit ist gemeint, dass Gott als transzendente »Grundlage« gedacht wird »zu den Verhältnissen, welche unter den Menschen die Sittlichkeit ausmachen«,46 damit den »Forderungen der Ethik für den Begriff des Menschen [...] Realität zukommt, vergleichbar derjenigen, die den logischen Begriffen der Wissenschaft für die Realität der Natur zusteht«.47 Das Verlangen nach Gott ist das »Verlangen nach einem Wesen außer dem Menschen, aber für den Menschen«.48 Gottes Verhältnis zu den Menschen bzw. zu ihren Verhältnissen wird von der menschlichen Vernunft gedacht. Die ethische Vernunft des Menschen bestimmt dieses Verhältnis, indem sie – im Sinne einer normativen Zielbestimmung menschlichen Handelns wie einer teleologischen Zielbestimmung der menschlichen Geschichte – die Menschheit auf eine Gemeinschaft freier und autonomer Personen hin entwirft. Die ethische Bestimmung der Korrelation ist nun nicht Cohens letztes Wort zur Sache. Sie untersteht noch ganz dem programmatischen Ziel einer »Auflösung der Religion in Ethik«.49 Wohl beantwortet er in allen Phasen seines Nachdenkens über Religion die Frage nach ihrem Verhältnis zur Philosophie zuerst und zuletzt unter Bezugnahme auf die Ethik, prüft also immer, ob das religiöse Selbst- und Weltverständnis den Prinzipien einer kantianischen, der Selbstbestimmung des Menschen verpflichteten Ethik entspricht. Doch verändert sich seine Sicht dieses Verhältnisses. Aus der »Auflösung der Religion in Ethik« wird eine »Aufnahme der Religion in Ethik«. Von größerer Bedeutung ist aber, dass die systemtheoretische Schrift Der Begriff der Religion im System der Philosophie (1915) der Religion nicht mehr nur – wenn auch primär – in der Ethik, sondern im ganzen System der Philosophie Rechnung zu tragen versucht. Religion wird jetzt in ihrer »Eigenart« philosophisch anerkannt und ihr »Anteil« an Logik, Ethik und Ästhetik als den drei Gliedern des Systems und den ihnen zugrunde liegenden Richtungen des Bewusstseins gewürdigt; man sieht jetzt, warum Cohen gerade »die Hineinziehung der Religion in das Bewusstsein« Schleiermacher gutschreibt: er ist in dieser Hinsicht sein Vorgänger! Mit dem Einbezug der Religion respektive zentraler religiöser Inhalte in das System der Philosophie wird auch der religiöse Gott philosophisch relevant. Der religiöse Gott – das ist der Gott, der dem Mangel der Sünde abhilft, indem er als Bürge individueller Sittlichkeit des sündigen Individuums fungiert. Er steht für die Verwirklichung des Guten ein, und zwar nicht nur in der Menschheit und ihrer Geschichte, sondern vor allem im individuellen Leben; er gewährt dem Individuum, das um Erlösung von seiner Sünde durch sittliche Arbeit bemüht ist, Vergebung und Versöhnung, d. h. er gibt dem Einzelnen die Gewissheit, dass seine Bußarbeit für die Erlösung hinreicht. Der Einbezug der 46 ErW 55. 47 Hermann Cohen, Gottvertrauen (1916), in: Kleinere Schriften VI (Werke, Bd. 17), 348; vgl. Helmut Holzhey, Gott und Seele. Zum Verhältnis von Metaphysikkritik und Religionsphilosophie bei Hermann Cohen, in: Hermann Cohen’s Philosophy of Religion (s. o. Anm. 31), 85–104, bes. 89–93. »Realität« steht hier gegen Wahn, als welcher sich die dem Menschen idealiter unterstellte Freiheit in der Selbstgesetzgebung entlarven könnte (vgl. ErW 390). 48 BR 138. 49 Hermann Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur Geschichte des Materialismus von F. A. Lange, Leipzig 1896, LIX.

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Religion in die Philosophie bereichert so den Begriff Gottes um eine in der ethischen Reflexion auf den menschheitlichen Menschen nicht zu findende Bedeutungskomponente. In seinem Spätwerk hebt Cohen hervor, dass der ethische Menschenbegriff mangelhaft ist, weil er nicht das konkrete Individuum erreicht. Das gibt ihm die religiöse Überlieferung des Judentums zu verstehen. Das Individuum konstituiert sich erst in der Liebe zum Mitmenschen, die wiederum die Liebe bedingt, mit der – in der Sprache der Religion gesagt – Gott »jedes Individuum als solches« liebt.50 »Der religiöse Mensch ist schlechthin Individuum. Und diese absolute Individualität wird ihm von der Korrelation mit Gott verliehen.«51 Entscheidend für Cohens Bestimmung der Korrelation von Mensch und Gott ist der Satz, dass die Seele sündigt.52 Indem sich das Individuum als sündig (schwach und geängstigt) bekennt, spricht es seine – religiöse – Sehnsucht aus: Diese »geht von der Seele des Individuums aus [...] und sie wird auf das Individuum, auf das Selbst der Seele auch wieder zurückgeleitet, so dass die Seele nicht verschmachtet in ihrem Durste, [...] sondern errettet und erlöst wird«.53 Dieser Vorgang einer eigentümlichen seelischen ›Intratranszendenz‹ zeigt die prozessuale Struktur der Korrelation.54 Cohen wendet gegen das auf dem Gefühl basierende Religionsverständnis Natorps ein, dass er »allein von der Ausdeutung des menschlichen Bewusstseins ausgeht« und von der »Grundbedingung« der Korrelation von Mensch und Gott absieht, so aber den »Schwerpunkt Gottes« zurücktreten und es »letztlich beim Leben der Seele, als der endlichen Menschenseele« in seiner Unmittelbarkeit bewenden lässt. »Die Korrelation dagegen spannt das Leben der Seele auf die Schwebe mit dem Sein Gottes.«55 Cohen verortet Religiosität nicht im Leben der Seele und die religiöse Korrelation nicht zwischen den Polen einer innerseelischen Grenzerfahrung. Die sprachliche Härte in der Formulierung »auf die Schwebe spannen« verrät, dass dieser Begriff der Korrelation in der Auseinandersetzung mit dem Problem des Leidens gewonnen wurde. Ausschlaggebend aber ist die Rede von der Schwebe, auf die das Leben der Seele mit dem Sein Gottes gespannt ist. Die Erweiterung der systemischen Rationalität um die Korrelation von Individuum und Gott hat ihr Element in diesem Schweben. Es kontrastiert, wie Walter Schulz zeigt, mit einem Zustand, »der durch [...] Positivität, Festigkeit, Sicherheit und Objektivität [...] gekennzeichnet ist«.56 Und als Vollzug der Korrelation unterscheidet es sich wiederum vom »Wogen« Natorps, in dem Seele und Gott statisch koinzidieren. 50 51 52 53 54

BR 80. BR 92. Ez18, 4. 20. BR 99. Vgl. Andrea Poma, Die Korrelation in der Religionsphilosophie Cohens: eine Methode, mehr als eine Methode, in: Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, hg. von Ernst Wolfgang Orth und Helmut Holzhey, Würzburg 1994, 343–365. 55 BR 122. 56 Walter Schulz, Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik, Pfullingen 1985, 415ff. Die Metaphysik des Schwebens negiert die traditionelle ontologische Metaphysik (416).

Judentum und Christentum bei Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche Andreas Urs Sommer »[D]as Heil kommt von den Juden«, zitiert Friedrich Nietzsche (1844–1900) in seinem Spätwerk Der Antichrist (1888) das Logion Johannes 4, 22.1 In einem Buch, das sein Verfasser schliesslich nicht bloss als ein Stück Literatur angesehen wissen wollte, sondern als leibhaftige »Umwerthung aller Werthe«,2 ist freilich nicht zu erwarten, dass ein solches Zitat bei den Lesern nur zustimmendes Kopfnicken provozieren soll. Zustimmendes Kopfnicken ist ohnehin selten Nietzsches Wirkungsabsicht. Also wird man sich den Kontext des Zitats anzusehen haben: Ich berühre hier nur das Problem der E n t s t e h u n g des Christenthums. Der e r s t e Satz zu dessen Lösung heisst: das Christenthum ist einzig aus dem Boden zu verstehn, aus dem es gewachsen ist, — es ist n i c h t eine Gegenbewegung gegen den jüdischen Instinkt, es ist dessen Folgerichtigkeit selbst, ein Schluss weiter in dessen furchteinflössender Logik. In der Formel des Erlösers: »das Heil kommt von den Juden«. [. . . ] Die Juden sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte, weil sie, vor die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen Bewusstheit das Sein u m j e d e n P r e i s vorgezogen haben: dieser Preis war die radikale F ä l s c h u n g aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt so gut als der äusseren. Sie grenzten sich ab g e g e n alle Bedingungen, unter denen bisher ein Volk leben konnte, leben d u r f t e, sie schufen aus sich einen Gegensatz-Begriff zu n a t ü r l i c h e n Bedingungen, – sie haben, der Reihe nach, die Religion, den Cultus, die Moral, die Geschichte, die Psychologie auf eine unheilbare Weise in den W i d e r s p r u c h z u d e r e n N a t u r - W e r t h e n umgedreht.3

Es fällt heute schwer, hierin die Worte eines Mannes zu erkennen, der stolz auf das Urteil seines Schwagers war, er sei ein »unverbesserlicher Europäer und Anti-Antisemit«.4 Der 1

2 3 4

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 31999 [= fortan zitiert als KSA], Bd. 6, 165–254, hier Abschnitt 24, 191. Vgl. z. B. Andreas Urs Sommer, Art. »Umwerthung der Werthe«, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben — Werk — Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, 345–346. Nietzsche, Der Antichrist, Abschnitt 24 (s. o. Anm. 1), 191f. Nietzsche an Elisabeth Förster, 7. Februar 1886, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 21986 [= fortan zitiert als KSB], Bd. 7, 147.

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Urteilende, Bernhard Förster (1843–1889), musste es wissen, war er doch ein berüchtigter antisemitischer Agitator. Dem kulturell-politischen Antisemitismus seiner Zeit war Nietzsche schon früh im Kreis Richard Wagners nahegekommen und er war quasi endgültig Familienangelegenheit geworden, als Nietzsches Schwester Elisabeth – diese »rachsüchtige[.] antisemitische[.] Gans«5 – Dr. Förster heiratete. Hatte Nietzsche in seinen frühen Werken antisemitische Stereotypen gelegentlich bereitwillig bedient, so reagiert er in den 1880er Jahren zunehmend schärfer auf entsprechende Zumutungen – etwa in seinem schroff ablehnenden Brief an den berüchtigten Publizisten Theodor Fritsch (1852–1933), ihn doch gefälligst mit der Zusendung der Antisemitischen Correspondenz zu verschonen: »diese beständigen absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe ›germanisch‹, ›semitisch‹, ›arisch‹, ›christlich‹, ›deutsch‹ – das Alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen«.6 Auf einem seiner sogenannten Wahnsinnszettel, in denen er zur Jahreswende 1888/89 der Welt seine Apotheose kundtat, heisst es schliesslich: »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen...«.7 Unser Blick auf Nietzsches Affinität zum Anti-Antisemitismus oder eben zum Antisemitismus wird noch zusätzlich durch die Nietzsche-Rezeptionsgeschichte getrübt, insbesondere dadurch, dass Elisabeth Förster-Nietzsche Texte aus dem Nachlass ihres Bruders im Sinne der Ideologie ihres Gatten zurechtfälschte und stramm völkisch-nationale Deutungen des brüderlichen Werkes für kanonisch erklärte. Die Frage nach Nietzsches Antisemitismus dient gemeinhin als Schibboleth, ob der Philosoph als Philosoph überhaupt ernstgenommen zu werden verdient (ja, pflegt man zu sagen, falls er ein AntiAntisemit war, nein, falls er ein Antisemit war). Im Giftschrank steht ohne Wenn und Aber bereits der andere hier zur Diskussion stehende Autor, der Philologe, Orientalist, Theologe und Schriftsteller Paul de Lagarde (1827–1891). An dessen Antisemitismus gibt es nichts zu rütteln.8 Es soll im folgenden nicht darum gehen, Indizien für oder gegen Nietzsches Antisemitismus zu sammeln9 oder die retrospektive Verurteilung Lagardes als Antisemit 5 6 7 8

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Nietzsche an Malwida von Meysenbug, Anfang Mai 1884, KSB 6, 500. Nietzsche an Theodor Fritsch, 29. März 1887, KSB 8, 51. Nietzsche an Franz Overbeck, 4. Januar 1889, KSB 8, 575. Vgl. jetzt die umfassende Darstellung von Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007 sowie noch immer Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland [1961]. Aus dem Amerikanischen von Alfred P. Zeller, München 1986. Zum Thema Nietzsche, Judentum und Antisemitismus gibt es eine ausufernde, freilich nicht immer zielführende Forschung. Exemplarisch genannt seien: Michael Ahlsdorf, Nietzsches Juden. Die philosophische Vereinnahmung des alttestamentlichen Judentums und der Einfluss von Julius Wellhausen in Nietzsches Spätwerk, Berlin 1990; Dominique Bourel/Jacques Le Rider (Hg.), De Sils-Maria à Jérusalem. Nietzsche et le judaïsme. Les intellectuels juifs et Nietzsche, Paris 1991; Hubert Cancik, "Judentum in zweiter Potenz". Ein Beitrag zur Interpretation von Friedrich Nietzsches "Der Antichrist", in: Jörg Mertin/Dietrich Neuhaus/Michael Weinrich (Hg.), "Mit unsrer Macht ist nichts getan...". Festschrift für Dieter Schellong zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1993, 55–70; Michael F. Duffy/Willard Mittelman, Nietzsche’s Attitudes toward the Jews, in: Journal of the History of Ideas 49 (1988), 301–317; Arnold M. Eisen, Nietzsche and the Jews Reconsidered, in: Jewish Social Studies 48 (1986), 1–14; Jacob Golomb, Nietzsche’s Judaism of Power, in:

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noch einmal zu bekräftigen. Die aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts überaus erklärliche Fixierung auf die Frage, ob eine bestimmte Figur der Geistesgeschichte Antisemit gewesen sei und was im Bejahungsfall die Ursachen für einen solchen Antisemitismus gewesen seien, soll hier für einmal beiseite gestellt werden. Das Etikett »Antisemit« (oder das Etikett »Anti-Antisemit«) erklärt wenig – oder erhellt doch zumindest nicht die Fragen, denen ich mich hier widmen will. Diese Fragen lauten: Welchen Stellenwert hat das Judentum im Denkgefüge von Nietzsche und von Lagarde? Welche Funktion haben insbesondere judentumskritische Äusserungen? Ich gehe dabei von der Annahme aus, dass das, was man Nietzsches Antijudaismus und Lagardes Antisemitismus nennen könnte, kein Selbstzweck, kein letztes Telos in der jeweiligen Denkbewegung gewesen ist, ebensowenig einfach eine individuelle oder epochentypische Idiosynkrasie, sondern vielmehr ein bestimmtes und beschreibbares Element in einem grösseren Theorie-Zusammenhang, der nicht nur der Verbreitung bestimmter politisch-agitatorischer Schlagworte diente. Mit anderen Worten soll hier eine funktionale Betrachtung angestellt werden. Diese Fokussierung verlangt wiederum eine strenge Beschränkung des Quellenkorpus: Persönliche Lebenszeugnisse wie Briefe und Zeugnisse aus zweiter Hand werden hier nicht behandelt. Auf Nietzsches Seite werden die Werke des letzten Schaffensjahres 1888 herangezogen, damit auch all jene Stellen aus früheren Werken ausgeklammert, in denen »die« Juden beispielsweise als paradigmatische »gute Europäer« erscheinen, als unentbehrliche Fermente der politisch-kulturellen Entwicklung.10 Wer Nietzsche als Philosemiten sehen will, muss diese früheren Werke konsultieren. Im Falle von Lagarde, dessen reiches wissenschaftliches Œuvre hier ebensowenig untersucht werden kann wie seine Gedichte, stellen seine von ihm selbst so genannten »theologisch-politischen Revue des études juives 147 (1988), 353–385; Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche and Jewish Culture, London/New York 1997; Wolf-Daniel Hartwich, Die Erfindung des Judentums. Antisemitismus, Rassenlehre und Bibelkritik in Friedrich Nietzsches Theorie der Kultur, in: Trumah. Zeitschrift der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg 5 (1996), 179–200; Peter Heller, Nietzsche and the Jews, in: Sigrid Bauschinger/Susan L. Cocalis/SaraLennox (Hg.), Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, Bern/Frankfurt am Main/New York 1988, 149–160; Sarah Kofman, Le mépris des Juifs. Nietzsche, les Juifs, l’antisémitisme, Paris 1994; Richard Maximilian Lonsbach, Friedrich Nietzsche und die Juden. Ein Versuch, Stockholm 1939; Gert Mattenklott, Nietzscheanismus und Judentum, in: Bauschinger/Cocalis/Lennox (Hg.), Nietzsche heute, 161– 175; Christian Niemeyer, Nietzsches rhetorischer Antisemitismus, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), 139–162; James C. O’Flaherty/Timothy F. Sellner/Robert M. Helm (Hg.), Studies in Nietzsche and the Judaeo-Christian Tradition, Chapel Hill (N. C.)/London 1985; Weaver Santaniello, Nietzsche, God and the Jews. His Critique of Judao-Christianity in Relation to the Nazi Myth. Foreword by David Tracy, Albany (N. Y.) 1994; Werner Stegmaier/Daniel Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin/New York 1997; Yirmiyahu Yovel, Nietzsche contra Wagner on the Jews, in: Jacob Golomb/Robert S. Wistrich (Hg.), Nietzsche, Godfather of Fascism? On the Uses and Abuses of a Philosophy, Princeton/Oxford 2002, 126–143. 10 Vgl. z. B. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Aphorismus 475, KSA 2, 309f.; ders., Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, Aphorismus 205, in: KSA 3, 180– 183; ders., Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Aphorismus 250 u. 251, in: KSA 5, 192–195.

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Traktate«,11 nämlich seine Deutschen Schriften die Materialgrundlage dar. Schliesslich ist noch vorauszuschicken, dass Nietzsche und Lagarde sich wenigstens über ihre Schriften gekannt und Nietzsche Lagarde sogar recht kontinuierlich rezipiert hat.12 Lagarde und nach ihm Nietzsche haben als Kulturkritiker, als intellektuelle Integrations- und Projektionsfiguren einer kulturellen und nationalen Erneuerung in Deutschland vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende eine kaum zu überschätzende Rolle gespielt. Aber auch im Gestus ihres Denkens sind sie, bei aller Differenz, vergleichbar.

1. Kehren wir zurück zu Joh4, 22 und damit zu der eingangs zitierten Passage aus Nietzsches Antichrist, Abschnitt 24.13 Erstens ist festzustellen, dass die Betrachtung des Judentums in einen bestimmten Kontext eingebunden ist, nämlich den Kontext einer genealogischen Betrachtung des Christentums: Das Christentum wird als direkte Konsequenz des Judentums verstanden. Nietzsche ist in dieser genealogischen Herleitung des Christentums radikal und unilateral. Gemäss Antichrist ist die Entstehung des Christentums ausschliesslich aus dem Judentum zu erklären, während andere Elemente – wie etwa der sonst (auch von Nietzsche) gerne herangezogene Platonismus, überhaupt das hellenistische Griechentum, in der genealogischen Rekonstruktion des Christentums ausfallen. Zweitens erschliesst sich rasch, dass die jesuanisch-johanneische Wendung, wonach das Heil von den Juden komme, in ihrem neuen Kontext einer Genealogie des Christentums ironisch gemeint ist: Zwar kommt das Christentum von den Juden, aber das, was da kommt, ist keineswegs das Heil der Menschheit, sondern das genaue Gegenteil. Denn, drittens, Nietzsche unternimmt hier keinen Ausflug ins Gebiet der Religionsgeschichte, um jenseits aller Wertungen die Entstehung einer kontingenten Religion aus 11 Paul de Lagarde, Deutsche Schriften. Gesammtausgabe letzter Hand. Fünfte Auflage, Göttingen 1920, 3. 12 Vgl. dazu im einzelnen Andreas Urs Sommer, Zwischen Agitation, Religionsstiftung und "hoher Politik". Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche, in: Nietzscheforschung. Ein Jahrbuch 4 (1998), 169–194 sowie Niklaus Peter/Andreas Urs Sommer (Hg.), Franz Overbecks Briefwechsel mit Paul de Lagarde, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 3 (1996), 127–171. 13 Aufschlussreich zu Nietzsches Adaption des Logions ist auch seine Aufzeichnung im Nachlass 1880, 3[20], KSA 9, 52: »Wie ist es doch geschehen, dass, in der Geschichte des Christenthums, zu den Geistig-Armen, unter und aus denen es geboren wurde, endlich auch die Geistreichen, ja selbst die Reichen des Geistes überliefen? Das Christenthum als grosse Pöbel-Bewegung des römischen Reichs ist die Erhebung der Schlechten, Ungebildeten, Gedrückten, Kranken, Irrsinnigen, Armen, der Sklaven, der alten Weiber, der feigen Männer, im Ganzen aller derer, welche Grund zum Selbstmord gehabt hätten, aber den Muth dazu nicht hatten; sie suchten mit Inbrunst ein Mittel, ihr Leben auszuhalten und aushaltenswerth zu finden, fanden es, und boten der Welt ihre neue Art von Glück an. Ein Glück solchen Ursprungs war die grösste Paradoxie des Alterthums; die damalige Bildung war zu paradoxensüchtig, um es nicht sehr anziehend zu finden. ›Das Heil kommt von den Juden‹, — das war ein Satz, gegen den kein geistreicher Alter seine Haltung auf die Dauer behauptete. ›Versuchen wir es also mit den Juden‹ — so klang die innere Stimme, durch welche der Geist auf die Seite der grossen Bewegung gerufen wurde.«

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kontingenten Umständen darzustellen. Vielmehr steht die genealogische Erörterung im Dienst eines als weltgeschichtlich verstandenen Kampfes gegen das Christentum – eines Kampfes, der eben den Titel »Umwertung aller Werte« trägt. Viertens reicht es zum Zweck dieses Kampfes nicht aus, einfach nur die Herkunft des Christentums aus dem Judentum zu behaupten. Das, woraus sich das Christentum offenbar nahtlos ableitet, muss selbst etwas Verwerfliches sein. Nietzsche bemüht daher zur Schilderung des – antiken! – Judentums den im antisemitischen Zeitumfeld durchaus geläufigen Topos vom "Sein u m j e d e n P r e i s",14 auf das es dem jüdischen Volk ankomme – so, als brächte ein solcher Überlebenswille quasi notwendig andere, unabsehbar hohe Kosten mit sich. Sowohl diese unabsehbar hohen Kosten als auch die dem Leser angesonnene Verwerflichkeit des Christentums und des Judentums werden in der »radikale[n] F ä l s c h u n g aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität« metaphorisch verdichtet. Fünftens schliesslich ist festzuhalten, dass der Text zwar ohne explizite Referenz auf wissenschaftliche Autoritäten auskommt, dass Nietzsche hier aber keineswegs eine aus eigener Erkenntnis geschöpfte Theorie des Judentums ausbreitet, sondern dass er vielmehr Lektüreeindrücke verarbeitet und in seine polemisch zugespitzte Christentumsgenealogie einbaut. Quellen, deren sich Nietzsche hier bedient, sind die Prolegomena zur Geschichte Israels sowie das erste Heft der Skizzen und Vorarbeiten von Julius Wellhausen (1844–1918). Mit Wellhausens Hilfe kann Nietzsche einen Verfallsprozess, einen Prozess der »Entnatürlichung« in die Geschichte Israels selbst hineinlesen. Wellhausen verwarf das bisherige Schema der israelitisch-jüdischen Geschichte, da er nicht mehr anzuerkennen bereit war, dass zu Beginn die detaillierte Gesetzgebung (durch Mose) gestanden hatte. Er entdeckte im schriftlich überlieferten »mosaischen Gesetz« des Priestercodex eine späte Zurechtmachung. Die Vorstellung, dass im Judentum eine »Denaturalisation« stattgefunden habe, bezog Nietzsche direkt von Wellhausen.15 Bei ihm konnte Nietzsche auch lesen, dass die Judäer "ihren Glauben im babylonischen Exil festhielten und sich selber dadurch unter allen Umständen behaupteten. Es lag an den Propheten, wenn der Untergang Samariens die Religion Jahve’s nicht schädigte, sondern befestigte."16 Nietzsche hat diese Passage in seinem Handexemplar am Rand dreifach angestrichen.17 Halten wir fest: Abschnitt 24 im Antichrist lässt sich keineswegs schlankweg mit dem Etikett »antisemitisch!« in die Asservatenkammer der Geistesgeschichte spedieren. Eine 14 Vgl. Michael Ahlsdorf, Nietzsches Juden. Ein Philosoph formt sich ein Bild, Aachen 1997, 127– 158. 15 Z. B. Julius Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels. Zweite Ausgabe der Geschichte Israels, Bd. 1, Berlin 1883, 105. 16 Julius Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten. Erstes Heft: 1. Abriss der Geschichte Israels und Juda’s. 2. Lieder der Hudhailiten, arabisch und deutsch, Berlin 1884, 57. Von Nietzsche Unterstrichenes hier kursiviert. 17 Zu Wellhausens Sicht des Judentums, insbesondere auch der Rolle der Prophetie im Anschluss an die Darstellungen Rudolf Smends siehe jetzt Uwe Becker, Julius Wellhausens Sicht des Judentums, in: Martin Kessler/Martin Wallraff (Hg.), Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien. Aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend, Basel 2008, 279–302.

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Technik der Dekontextualisierung und Rekontextualisierung ist diesem Text eigentümlich: Das Logion Johannes 4, 22 wird ebenso aus seinem Ursprungskontext gerissen wie die Selbstbeschreibung des Christentums, aus dem Judentum hervorgegangen zu sein. Wellhausens historische Rekonstruktion der israelitisch-jüdischen Geschichte findet sich nun plötzlich wieder im Kontext einer ideenpolitischen Auseinandersetzung, die selbst genau das zu sein beansprucht, was sie unter umgekehrten Vorzeichen im Übergang vom Alten Israel zum Judentum meint gefunden zu haben, nämlich eine Umwertung der Werte.

2. Auch Paul de Lagarde ist ein Meister der De- und Rekontextualisierung. Zweifellos sind »Nation« und »Religion«18 die zentralen Bezugsgrössen in seinen zeitkritischen Schriften, jedoch wird Religion der Nation nicht einfach – wie es bei einem als Propheten nationaler Erneuerung betrachteten Autor vielleicht zu erwarten wäre – untergeordnet. Eine schulgerechte Einführung des Begriffes »Nation« vermisst man bei Lagarde ebenso wie des Begriffes »Religion«, die beide offenbar als normative Begriffe verstanden werden, denen eine allzu genaue Analyse nicht zuträglich ist. Da, wo Lagarde verspricht, seine Verwendung der Ausdrücke »Nation« und »Nationalität« klarzustellen, bemerkt er, dass eine Nation sich keineswegs durch eine gemeinsame Abstammung erkläre und sich gerade hierzulande das Germanische mit vielen fremden Elementen gemischt habe, ohne dass dies doch dem Deutschen Abbruch tue. Lagarde legt also – im Unterschied zu seinen nazistischen Adepten – keinen rassischen Volksbegriff seinem Verständnis von Nation zugrunde. Auch sein Antisemitismus ist nicht rassisch, sondern kulturell-religiös begründet: Die »Unreinheit des Blutes kümmert uns [. . . ] wenig«.19 Gerade die sprachlich heterogene Schweiz könne den Deutschen »zu der Einsicht verhelfen, wie Nationen geboren werden. Dadurch, dass ein Ideal verletzt wird durch seine Verletzung als Ideal erkannt, und siegreich vertheidigt wird: dass dann um seine Vertheidiger Alle sich schaaren, welche dasselbe Heiligthum haben wie sie.«20 In dieser Auskunft erschöpft sich die versprochene Klarstellung des Begriffs der Nation – eine Verfahrensweise, die 18 Wiewohl Lagarde wiederholt »beklagt, dass das Verhältnis des Menschen zu Gott jetzt in Deutschland mit dem Fremdworte Religion bezeichnet wird«. Paul de Lagarde, Die Stellung der Religionsgesellschaften im Staate [1881], in: Ders., Deutsche Schriften (s. o. Anm. 11), 270–286, hier 270. 19 Paul de Lagarde, Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs. Ein Bericht [1876], in: Ders., Deutsche Schriften (s. o. Anm. 11), 106–182, hier 134. Die Erstauflage dieses Werkes ist das einzige Buch Lagardes, das sich in Nietzsches Bibliothek erhalten hat – er hat es bereits im Januar 1876 erworben, siehe Giuliano Campioni/Paolo D’Iorio/Maria Cristina Fornari/Francesco Fronterotta/Andrea Orsucci [Hg.], Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin/New York 2003, 337. Der in Nietzsches Bibliothek erhaltene und ebd., 726 verzeichnete Sonderdruck eines Aufsatzes (Paul de Lagarde, Judentum und Indogermanen. Eine Studie nach dem Leben, Göttingen 1887) ist ein »Eindringling«: Es handelt sich um Widmungsexemplar Lagardes an Nietzsches Schwager Bernhard Förster. 20 Lagarde, Ueber die gegenwärtige Lage (s. o. Anm. 19), 135.

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für Lagardes theologisch-politisches Schrifttum charakteristisch ist: Lagarde tritt darin mit dem grossen Gestus der Empörung auf, was regelmässig auf Kosten der argumentativen Kohärenz geht, so dass der Leser am Ende bei allen grossen Begriffen im Ungefähren alleingelassen wird. Dies wiederum erlaubt es diesem Leser, die beträchtlichen Leerstellen nach eigenem Gutdünken zu füllen. Eine Nation sei »um so glücklicher, weil um so lebensvoller, selbstkräftiger [. . . ], je weniger der Staat in ihr zu thun hat, [. . . ]: ich verhehle keinen Augenblick, dass der Götzendienst, welcher zur Zeit in Deutschland mit dem Staate getrieben wird, für mich der bündigste Beweis für die Unterentwickeltheit der deutschen Nation ist«.21 Das kirchliche Christentum sowohl in protestantischer wie in katholischer Gestalt behindert in Lagardes Sicht die Nationwerdung Deutschlands – der Katholizismus mit seinem universalistischen Anspruch sei sogar der erklärte Feind jeder Besinnung aufs Nationale.22 Religion und Nation bedingen sich bei Lagarde gegenseitig; das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Das gilt auch da, wo Lagarde Religion als »Freude an Gott und an seinem Thun« und als »vollendetsten Ausdruck des Freiheitsbedürfnisses des Menschen« definiert.23 Der Begriff von Religion bleibt hochgradig unbestimmt. Offenbar hat es nicht geholfen, dass Lagardes Vater ein Freund Schleiermachers war, zu dessen Füssen der Sohn als Knabe gespielt haben soll.24 Obwohl Religion kein Menschenwerk sei, sondern auf göttlicher Offenbarung gründe, skizzieren Lagardes theologisch-politische Schriften eine Art Patchwork-Religion, in die all das Eingang finden soll, was Lagardes persönlichen Präferenzen entspricht. Trotz seiner schroffen Distanzierung von jeder Form nachjesuanischen Christentums will Lagarde mitnichten auf das mit Jesus identifizierte »Evangelium« verzichten. Evangelium wird verstanden als »eine durch religiöse Genialität gefundene Darlegung der Gesetze des geistigen Lebens«,25 von dem streng das zu unterscheiden sei, was die Jünger und insbesondere Paulus daraus gemacht hätten: »Paulus hat uns das alte Testament in die Kirche gebracht, an dessen Einflusse das Evangelium, so weit dies möglich, zu Grunde gegangen ist«.26 In einem marcionitischen Reflex gibt Lagarde – immerhin ein bedeutender Septuaginta-Forscher – das Alte Testament als eigentliche Quelle des »Evangeliums« preis. Die neue Religion bestückt er mit Elementen der alten: Neben der Vorsehung kommt die »Arbeit am Reiche Gottes«27 zu ihrem Recht; die Sakramente werden aus kirchlichen Zwängen befreit,28 und »[u]m die Dogmen der Kirche religiös verwend21 AaO. 132. 22 Paul de Lagarde, Ueber das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion. Ein Versuch, Nicht-Theologen zu orientieren [1873], in: Ders., Deutsche Schriften (s. o. Anm. 11), 40–83, hier 53 und 57. 23 Lagarde, Ueber die gegenwärtige Lage (s. o. Anm. 19), 171. 24 Vgl. Sieg, Deutschlands Prophet (s. o. Anm. 8), 24 bzw. 27. Bis zu Schleiermacher lässt sich motivgeschichtlich immerhin die Angst vor einer Judaisierung des Christentums zurückverfolgen, vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von Hans-Martin Kirn über Schleiermachers Stellungnahme zur Judenemanzipation im Sendschreiben. 25 Lagarde, Ueber das Verhältnis (s. o. Anm. 22), 63. 26 AaO. 62. 27 AaO. 81. 28 Paul de Lagarde, Die Religion der Zukunft [1878], in: Ders., Deutsche Schriften (s. o. Anm. 11),

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bar zu machen, muss man das jüdische Gift von ihnen entfernen, den grundstürzenden Irrthum vom Werthe des einmaligen Faktums«.29 Die Wendung gegen den ›Historismus‹ des Christentums – angeblich ein jüdisches Erbe – ist bezeichnend für Lagardes synkretistische Religionskonzeption. Diese Religion ist am Zeitlosen oder Überzeitlichen, am »Ewigen« orientiert. Damit immunisiert sich die neue nationale Religion von Anfang an gegen die Religionsdistanzierungs- und Religionsneutralisierungsstrategien der Moderne, damit insbesondere gegen Formen der kritischen Historisierung. Ganz abgesehen von dem Inhalte des Judenthums ist es unerwünscht, weil es fremd ist, und durchaus als etwas Undeutsches und Widerdeutsches empfunden wird. J.D. Michaelis hat 1782 im neunzehnten Theile seiner Bibliothek 11 mit vollem Rechte [. . . ] darauf hingewiesen, daß es die Absicht der Gesetze Mosis sei, die Juden die völlige Naturalisation und Zusammenschmelzung mit andern Völkern unmöglich zu machen [. . . ]. Diese Absicht ist [. . . ] so durch und durch in Mosis Gesetze [. . . ] eingewebt, daß sich das Volk nun wider Alles, was wir bei andern Völkern sehen, in seiner Zerstreuung 1700 Jahre als abgesondertes Volk erhalten hat, und so lange die Juden Mosis Gesetze halten, so lange sie zum Exempel nicht mit uns zusammen speisen, und bei Mahlzeiten, oder der Niedrige im Bierkrug, vertrauliche Freundschaften machen können, werden sie (von Einzelnen rede ich nicht, sondern von dem größten Theil) nie mit uns so zusammenschmelzen wie Catholike und Lutheraner, Deutscher, Wende und Franzose, die in Einem Staate leben.30

Lagarde nimmt weiter für sich in Anspruch, entdeckt zu haben, »daß das jüdische Gesetz seine uns vorliegende Gestalt durch Esdras und zwar eben zu dem Zwecke erhalten hat, welchen Michaelis bei Moses voraussetzte, die Juden von den neben ihnen in Judäa wohnenden stammverwandten Völkern zu unterscheiden«.31 Er breitet dann langatmig die an Rabbinerseminaren gelehrten, angeblichen Absurditäten aus, die den Charakter des Judentums als Religion und zugleich seine völlige Fremdheit demonstrierten. Aber nicht allein die Juden sind Uns fremd, auch wir sind Ihnen fremd, nur daß sich ihre Abneigung, wo sie unter sich zu sein wähnen, in giftigem Haß umsetzt, und daß sie zu diesem Hasse noch einen alles Maß übersteigenden Hochmuth hinzufügen: sie sind, wie der freche Ausdruck lautet, gleichberechtigt mit Agio.32

Und dann schreckt Lagarde auch nicht vor Verschwörungstheorien zurück: Die alliance Israélite ist nichts als eine dem Freimaurerthume ähnliche internationale Verschwörung zum Besten der jüdischen Weltherrschaft, auf semitischem Gebite dasselbe was der Jesuitenorden auf katholischem ist: ihr bloßes Dasein erhärtet, daß die in Deutschland, Frankreich, England wohnenden Juden nicht Deutsche, Franzosen, Engländer, sondern Juden sind.33 29 30 31 32 33

236–269, hier 257. AaO. 254. Lagarde, Die Stellung der Religionsgesellschaften (s. o. Anm. 18), 274. Ebd. AaO. 276. AaO. 278.

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Auch die biologische Metaphorik, die im rassischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts dominant werden wird, ist Lagarde nicht fremd: Jeder fremde Körper in einem lebendigen andern erzeugt Unbehagen, Krankheit, oft sogar Eiterung und den Tod. Dabei kann der fremde Körper ein Edelstein sein: die Wirkung wäre dieselbe, wie wenn er ein Stückchen faulendes Holz wäre. Die Juden sind als Juden in jedem europäischen Staate Fremde, und als Fremde nichts anderes als Träger der Verwesung.34

Solche Äusserungen sind schwer erträglich und machen eine nüchterne Analyse von Lagardes Position noch schwieriger als sie ohnehin schon ist. Versuchen wir es dennoch. Erstens ist festzustellen, dass Lagarde wie Nietzsche und Wellhausen das Charakteristikum des Judentums in seiner Separation sieht – in seinem Willen zur Absonderung. Im Unterschied zu Nietzsche reflektiert er jedoch im hier herangezogenen Aufsatz Die Stellung der Religionsgesellschaften nicht auf die Ursachen dieses Willens zur Absonderung – nämlich das Selbstbehauptungsinteresse in einer feindlichen Umwelt –, sondern stellt ihn einfach nur als objektive Gegebenheit hin. Zweitens ist Lagarde nicht daran interessiert, den spezifischen Beitrag des Judentums für Entstehung und Entwicklung Europas herauszustellen. Der von Nietzsche vorgeschlagenen Konstruktion, die abendländisch-christliche Moral direkt vom exilischen und nachexilischen Judentum abzuleiten, würde Lagarde reserviert gegenüberstehen. Zwar teilt Lagarde Nietzsches Ansicht (Nietzsche dürfte darin von Lagarde sogar direkt inspiriert worden sein),35 mit Paulus sei das Judentum in das Christentum eingedrungen und habe dieses so nachhaltig verdorben,36 dass Lagarde selbst für das positive christliche Erbe den Ausdruck »Evangelium« verwendet, von dem er Christentum polemisch abgrenzt. Aber Lagarde glaubt, dass es ein vom Judentum nicht kontaminiertes »Evangelium« gebe, das unser Denken und Handeln bestimmen solle. Er würde mit anderen Worten Nietzsches Behauptung zurückweisen, dass unsere Moral insgesamt jüdisch geprägt sei. Daraus folgt, drittens, dass Lagarde trotz seiner Verschwörungstheorie, wonach das Judentum zur Weltherrschaft strebe, keinen weltgeschichtlichen Unheilszusammenhang konstruiert, wonach die Welt wegen der jüdisch-christlichen Sklavenmoral seit 2500 Jahren in Verfall begriffen sei. Lagarde hat überhaupt keine eigentlich geschichtsphilosophischen Optionen, denkt nicht in epochenübergreifenden Entwicklungsschemata. Eher hängt er einer präsentistischen Eschatologie an, die die Gegenwart in schwärzesten Farben malt, um den rabiaten Umbruch, das Ganz Andere und Neue in Aussicht zu stellen. Entwürfe Lagarde wie Nietzsche einen weltgeschichtlichen Unheilszusammenhang, der die letzten zweieinhalb tausend Jahre Kulturgeschichte in ihrer Legitimität bestreitet, würde sich zwar sein präsentistischer Eschatologismus noch weiter verschärfen, Lagarde brächte sich aber zugleich um die eigenen Wertungsgrundlagen, das Fundament der ei34 Ebd. 35 Vgl. Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, 400–402. 36 Siehe einschlägige Äusserungen zu Paulus in Nietzsche, Der Antichrist (s. o. Anm. 1), Abschnitte 42 u. 43, 215–218.

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genen Moral. Denn so unklar seine positive Utopie auch sein mag, so ist doch deutlich, dass er keineswegs wie Nietzsche nach einer Umwertung aller Werte strebt. Vielmehr hofft er auf eine Selbstfindung der deutschen Nation entweder durch Ausschliessung oder durch völlige Assimilation des Fremden. Viertens findet diese national-religiöse Selbstfindung nicht nur statt durch Ausschliessung des Judentums, sondern ebenso durch Ausschliessung der herkömmlichen Formen kirchlichen Christentums. Die Äusserungen zum Judentum in Lagardes Aufsatz über Die Stellung der Religionsgesellschaften stellen zwar in der Drastik der Ausmalung einen einsamen und traurigen Höhepunkt dar. Aber in der Sache springt Lagarde nicht viel zimperlicher mit dem Katholizismus um – und auch den protestantischen Kirchen ergeht es nur wenig besser. Lagardes antijüdische Ausfälligkeiten stehen im Kontext einer Polemik gegen die bisherigen Formen institutionalisierter Religion, deren Hauptmangel es eben sei, mit der Nation, den Interessen des deutschen Volkes nicht deckungsgleich zu sein: Die erste Frage, welche beantwortet werden muß, ist die, ob irgend Eine der in Deutschland thatsächlich bestehenden Religionsgesellschaften so beschaffen ist, daß wir uns ihrer zu entledigen wünschen müssen. Die Antwort lautet: sie sind alle mit einander unerwünscht.37

Fünftens versteht Lagarde – selbst, wenn er vom jüdischen Volk spricht – »die Juden« nicht – und das unterscheidet ihn vom rassischen Antisemitismus schon seiner Zeit – als Angehörige einer bestimmten biologischen Rasse, sondern als Bekenner einer bestimmten Religion. Entsprechend ist für ihn Integration durch Assimilation, durch völlige Preisgabe der kulturellen und religiösen Eigenarten ohne weiteres möglich. Immerhin verzichtet er trotz seiner Verwesungs- und Geschwürmetaphorik auf Verfolgungs- und Ausrottungsphantasien: Wir werden [. . . ] das Judenthum ganz gewis nicht durch irgend welche Verfolgung, sondern nur dadurch überwinden, daß wir so lebendig wie möglich deutsch und evangelisch sind. Fort muß jenes ganz und gar, aber durch unser Leben, nicht durch die Hände des Büttels: niemand – das vergesse man nicht – hat je mehr für das Judenthum gethan als Antiochus Epiphanes.38

3. Versuchen wir, die Lektüreeindrücke zu sortieren. Zunächst einmal sind beide Autoren nicht daran interessiert, das Judentum für sich, unabhängig von übergeordneten oder von ihm unabhängigen Gesichtspunkten zu betrachten. Immerhin hätte man von Lagarde, der als wissenschaftlicher Theologe und Orientalist zumindest das Handwerkszeug dafür mitbrachte, vielleicht eine solche Würdigung des Judentums sine ira et studio 37 Lagarde, Die Stellung der Religionsgesellschaften (s. o. Anm. 18), 273. 38 AaO. 278.

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erwarten können. Aber Lagarde spricht in den zitierten Texten nicht als wissenschaftlicher Profi, sondern als professioneller Prophet. Sowohl Nietzsche als auch Lagarde thematisieren das Judentum im Kontext des Christentums, wobei beide dem Christentum in seiner kirchlichen Form, Nietzsche sogar dem Christentum überhaupt bescheinigen, eine Fortsetzung des Judentums mit anderen Mitteln und auf welthistorischem Parkett zu sein. Lagarde siedelt ein ›eigentlich‹ Christliches, sein »Evangelium« jenseits von und im Gegensatz zu Judentum und paulinisch-kirchlichem Christentum an. Auch Nietzsche hatte Jesus in seiner »Psychologie des Erlösers« partiell aus dem jüdisch-christlichen Verfallszusammenhang entfernt.39 Die Bezugsgrössen für die Kritik des Judentums heissen bei Lagarde »Religion« und »Nation«. In ihrer Definition bleibt er hochgradig unbestimmt und in ihrer Paarung erhellen sie sich nicht wirklich gegenseitig. Man könnte sagen, die Beschwörung der Nation und einer positiven Religion (denn auch das Judentum wird ja als Religionsgemeinschaft verstanden) spiele in Lagardes »theologisch-politischen Traktaten« die Rolle eines Jokers, der über die Ungefügtheit der Gedanken hinwegtäuscht. Diese Ungefügtheit – Ulrich Sieg spricht treffend von »vagierender Unklarheit«40 – scheint wiederum unterschiedlichsten Rezeptionsbedürfnissen entgegengekommen zu sein: Jeder Leser kann die Lücken und Diskrepanzen nach eigenem Gutdünken glätten. Zugleich erweckt Lagardes Schriftstellerei dank Pathos-Überschuss den Eindruck äusserster Bestimmtheit. Damit wird dem Leser nicht das Gefühl vermittelt, alleine in einem Meer ungeordneter Gedanken zu schwimmen, sondern auf einem schützenden Floss einem klaren Ziel entgegenzufahren. Die altbekannt klingenden Bezugsgrössen Nation und Religion sichern diesen Lesereindruck ab. Wer fragt dann noch nach gedanklicher Stringenz? Pathos-Überschuss ist auch beim späten Nietzsche ein eindringliches Stilmittel. Er aber verzichtet auf leicht zu Identifikation und scheinbarer Sicherheit einladende Bezugsgrössen wie Nation und Religion. Seine Leitbegriffe schafft er neu – im Blick auf seine Beschäftigung mit dem Judentum 1888 ist die »Umwerthung aller Werthe« der Leitbegriff. Eine solche Umwertung haben das Judentum und mit ihm das Christentum schon einmal vollzogen, indem sie die ursprünglichen, aristokratischen Werte auf den Kopf stellten. Die antiaristokratischen Werte einer neuerlichen Umwertung zu unterziehen, ist sein Trachten. Es zeigt, in welcher Kategorie Nietzsche mitspielen will: in der Kategorie der welthistorisch entscheidenden Individuen. Die Prophetenrolle würde ihm nicht genügen. Fragt man also nach der Funktion des Judentums in Nietzsches Spätschriften, wird man festhalten, dass es Bestandteil einer geschichtsphilosophischen Konstruktion ist. Im Unterschied zu früheren Werken (vgl. Anm. 10) entfällt 1888 die Beschäftigung mit dem Judentum in der Gegenwart. Das historische Judentum stellt hingegen ein notwendiges Ingredienz der Entwicklung dar, es erscheint für die Moralentwicklung überhaupt verantwortlich. Damit findet eine interessengeleitete Instrumentalisierung des Judentums statt – wobei Nietzsche damit dessen heilsgeschichtliche Instrumentalisierung durch das Christentum invertiert und parodiert. Nietzsches Bezug auf das antike Juden39 Vgl. Nietzsche, Der Antichrist, Abschnitte 28 bis 35, 198–208. 40 Sieg, Deutschlands Prophet (s. o. Anm. 8), 254.

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tum steht bei verwandten Werturteilen in einem völlig anderen Bedeutungsumfeld als in Wellhausens Prolegomena. Bei Lagarde hat das Judentum hingegen keine geschichtsphilosophische, sondern eine eschatologische, ja apokalyptische Funktion in der Gegenwart. Es ist der Aufhalter, der Katechon der nationalen Wiedergeburt Deutschlands. Was Religion und Nation wahrhaftig sind, kann sich nach Lagardes Vorgabe erst zeigen, wenn der Ausschluss oder die Assimilation des Judentums vollständig gelungen sein wird. Lagardes Antisemitismus leistet das, was seine »vagierende Unklarheit« sonst nicht leistet, nämlich eine klare Positionierung: des als stark und feindlich empfundenen Judentums auf der einen, des an fremdverschuldeter Schwäche leidenden Deutschtums auf der andern Seite. Klare Wertungen sind damit ausgesprochen – und auch die uralte Sündenbock-Idee kommt wieder zu zweifelhaften Ehren. Nietzsche seinerseits gibt im fraglichen Abschnitt 24 des Antichrist sogar noch eine Erklärung für den christlichen Antijudaismus und letztlich auch für Lagardes Antisemitismus: Die Juden sind, eben damit, das verhängnissvollste Volk der Weltgeschichte: in ihrer Nachwirkung haben sie die Menschheit dermassen falsch gemacht, dass heute noch der Christ antijüdisch fühlen kann, ohne sich als die letzte jüdische Consequenz zu verstehen.41

Bei der Analyse der einschlägigen Nietzsche-Passagen drängt sich der Verdacht auf, dass der Philosoph mit dem Hammer im Umwertungsinteresse den latenten Antisemitismus bediene, um seinen Zeitgenossen vor Augen zu führen, dass aus ihrem Antisemitismus logischerweise auch das Antichristentum folgen müsste. Bei Nietzsche hat der Antijudaismus antichristliche Funktion. Bei Lagarde findet wie bei Nietzsche eine Inversion von Johannes 4, 22 statt. Lagarde kann und will mit der säkularen Normalität des Judentums in der Gegenwart offenbar nicht leben und macht es daher zu einer gegenwartsheilsgeschichtlichen Angelegenheit. Auch bei Nietzsche ist das antike Judentum nichts Normales, Säkulares, sondern ein weltgeschichtliches Unheilsgebilde. Bei beiden Autoren könnte man von einem funktionalen Antijudaismus sprechen: Antijudaismus als Mittel zu sehr unterschiedlichen Zwecken. Am Judentum als solchem hat keiner von beiden ein Interesse.

41 Nietzsche, Der Antichrist, Abschnitt 24, 192.

Altisrael, Judentum und Pharisäismus bei Julius Wellhausen Uwe Becker »Er war nicht gerne dort; die Bevölkerung und das Studentenmaterial sagten ihm nicht zu, und er ärgerte sich, daß Kollegen, die nichts konnten, an der klassischen Stätte einer zuhörerreichen Vermittlungstheologie zu wissenschaftlichen Größen avancierten.«1

1. Zurück zu Wellhausen? Immer lauter und stärker scheint der Ruf nach einem »Zurück« zu Wellhausen durch die exegetische Landschaft zu hallen. Und dabei geht es weniger um den rückschauenden Blick auf das Lebenswerk eines großen Gelehrten als vielmehr um eine neue Aktualität seiner literar- und religionsgeschichtlichen Rekonstruktionen. Mit einigem Recht kann man Wellhausen den größten Alttestamentler aller Zeiten nennen, aber worin besteht diese Größe? Sie lag und liegt nicht (allein) in der Etablierung einer neuen Entstehungshypothese zum Pentateuch, der sog. Neueren Urkundenhypothese. Die Mosaiksteine der Hypothese, vor allem die Nachordnung des Gesetzes hinter die Propheten (»lex post prophetas«), waren längst vorhanden, bevor Wellhausen sie – nun allerdings in später nicht mehr erreichter Genialität – zu einer neuen Synthese zusammensetzte. Seine Größe lag und liegt auch nicht (allein) darin, daß er sich, von Hause aus Alttestamentler, in gleicher Weise und Professionalität auch dem Neuen Testament und vor allem der Arabistik zugewandt hat.2 Seine Größe lag und liegt schließlich auch nicht (allein) in der glänzenden, später kaum mehr erreichten Darstellungsgabe. Es ist vielmehr »die bestimmte Art des kritischen Zugriffs, der Blick für die Individualität der literarischen Größen und der richtige Instinkt für den literarhistorischen Prozeß.«3 Hier verbindet sich die nüchterne literarische Detailanalyse, die »Kritik der Quellen«,4 mit dem »Willen zur historischen Darstellung«5 im umfassenden Sinne. 1

2 3 4 5

So der klassische Philologe Eduard Schwartz über die wenigen Jahre von 1882 bis 1885, die Julius Wellhausen in Halle (Saale) lehrte; vgl. Eduard Schwartz, Julius Wellhausen (1918), in: ders., Vergangene Gegenwärtigkeiten. Gesammelte Schriften I, Berlin 1938, 326–361 (346). Vgl. Rudolf Smend, Julius Wellhausen. Ein Bahnbrecher in drei Disziplinen (Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen 84), München 2006. Reinhard G. Kratz, Art. Wellhausen, Julius, in: TRE 35, Berlin/New York 2003, 527–536 (529). Julius Wellhausen, Geschichte Israels I, Berlin 1878, 1. Lothar Perlitt, Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und

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Betrachtet man die Forschungssituation nach Wellhausen mit ihrer Betonung der Gattungsforschung, der mündlichen Überlieferung, der teilweise romantischen Verklärung der vorstaatlichen Anfangszeit des Gottesvolkes (man erinnere sich nur an die Nothsche These vom Stämmeverband, der Amphiktyonie),6 ja überhaupt mit der Vorstellung, das antike Israel sei von allem Anfang an ein aus dem Alten Orient wie ein erratischer Block herausgehobenes Volk mit einer besonderen, monotheistisch geprägten und von allem Anfang an auf die Geschichte bezogenen Gottesverehrung gewesen, so ist in der Tat längst eine Rückkehr zu Wellhausen erfolgt – oft volens, gelegentlich aber auch nolens. Dies gilt für den literargeschichtlichen Ansatz, der das Alte Testament als ein in sukzessiven Fortschreibungsvorgängen gewachsenes Zeugnis einer Theologieund Religionsgeschichte verstehen gelehrt hat: das Alte Testament als Überlieferungsliteratur. Es gilt aber auch für die Grundeinschätzung des Alten Testaments als eines Buches des Judentums des Zweiten Tempels, das aus dem alten Israel hervorgewachsen ist: der gemeinorientalische Charakter des alten Israel und die Besonderheit des nachexilischen Judentums. Selbst die intensive Einbeziehung der Kulturen und Religionen des Vorderen Orients, die im 19. Jahrhundert begann, dann aber vor allem im 20. Jahrhundert zu ihrer Entfaltung kam, hat die Wellhausensche Sicht, die von der Literargeschichte des Alten Testaments herkam, im wesentlichen bestätigt. Es sei nur das Problemfeld des Monotheismus erwähnt. Wenn man heute (wieder) auf Wellhausen zurückkommt, tut man das also aufgrund seines literar- und religionsgeschichtlichen Gesamtbildes, über das wir uns im folgenden skizzenhaft orientieren wollen. Dabei spielt die im Titel angegebene Trias eine Schlüsselrolle. Anders als sonst üblich wollen wir mit dem Ende einsetzen, mit Wellhausens Sicht des Pharisäismus.

2. Der Pharisäismus als Spiegel eines inneren Widerspruchs im Judentum Seine erste größere Studie, die Wellhausen 1874 als junger Alttestamentler in Greifswald publizierte (er war gerade 30 Jahre alt), widmete sich den Pharisäern und den Sadduzäern, also den beiden großen jüdischen Religionsparteien. Das Büchlein ging zurück auf eine im Winter 1871/72 in Göttingen gehaltene Vorlesung über jüdische Geschichte; gewidmet ist es deshalb der Göttinger Theologischen Fakultät »in der Voraussetzung, dass das innere Kräftespiel jener Geschichte Ihrer [d. h. der Fakultät] Theilnahme sicher sein werde«.7 Das »innere Kräftespiel jener Geschichte« – mit dieser Formulierung ist bereits ein Leitthema der kleinen historiographischen Studie angedeutet, das sich wie ein kleiner roter Faden durch seine weiteren historiographischen Studien ziehen sollte.

6 7

Julius Wellhausen (BZAW 94), Berlin 1965, 169. Vgl. Martin Noth, Das System der zwölf Stämme Israels, Stuttgart 1930. Julius Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte, Greifswald 1874 (= Göttingen 31967), 5f. (Vorwort).

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Das Neue des Pharisäerbuches besteht zunächst in quellenkritischer Hinsicht darin, daß Wellhausen erstmals konsequent das Neue Testament und die Geschichtswerke des Josephus auswertet und nicht mehr mit den deutlich späteren rabbinischen Quellen argumentiert. Und so ist sein wichtigster Gesprächspartner der jüdische Historiker Abraham Geiger, der den talmudischen Quellen erheblich mehr zutraut. Gegen diesen Optimismus setzt sich Wellhausen in dem Buch durchgehend in feiner Abwägung der Argumente zur Wehr.8 Abraham Geiger (1810–1874), als Rabbiner an verschiedenen Orten in Deutschland tätig, zuletzt als Lehrer an der »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« in Berlin, hatte in seinem 1863 erschienenen Werk »Das Judenthum und seine Geschichte I« ein Bild von Jesus als einem der einflußreichsten Pharisäer seiner Zeit gezeichnet und damit unter christlichen Gelehrten einiges Aufsehen erregt, war doch damit die These verbunden, das frühe Christentum habe die Lehre Jesu verkehrt.9 Das Interesse Geigers war indes weniger kirchenkritisch als vielmehr gegen die eigene mittelalterliche jüdische Tradition gerichtet, die in Jesus nur einen Verräter des Judentums sehen konnte.10 Geiger ging es aber nicht nur um die »Heimholung« Jesu in das Judentum, sondern er sah in den Methoden der protestantischen Bibelkritik, wie er sie u. a. in den Schriften Heinrich Ewalds, des Göttinger Lehrers Wellhausens, kennenlernte, eine Chance für die jüdische Reformbewegung im 19. Jahrhundert.11 Immerhin galt Geiger als einer der wichtigsten Exponenten dieser Bewegung. Er verstand jüdische Geschichte primär als Geistes- und Literaturgeschichte und setzte so – mit den Mitteln der von ihm hochgeschätzten Bibelkritik protestantischer Provenienz – der christlichen Geschichte des Judentums seine »Gegengeschichte« entgegen. »Indem Geiger« – so der Münchener Historiker Michael Brenner – »die Quellen seiner Gegner ›gegen den Strich‹ bürstete, versuchte er, die antijudaistischen Elemente in der deutschen Wissenschaftslandschaft mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.«12 Diesen Hintergrund sollte man kennen, wenn man das Pharisäerbuch Wellhausens einordnen will. Wellhausen bezieht, und das ist bezeichnend, keine Position in dem von Geiger hervorgerufenen Streit, ja geht überhaupt nicht auf die reformjüdischen Ziele seines Gesprächspartners ein, sondern wendet sich – bei aller grundsätzlichen Sympa8

Vgl. den Schlußabschnitt über den historischen Wert der Quellen in Wellhausen, Pharisäer (s. o. Anm. 7), 120–131. Mit dem von Eduard Schwartz gebrauchten Ausdruck »Talmudscholastik« (s. o. Anm. 1, 340) wird man dem Anliegen Geigers indes nicht gerecht, weil dieser sehr viel differenzierter mit den rabbinischen Quellen umgeht als die meisten seiner Vorgänger. 9 Vgl. Hans-Günther Waubke, Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts (BHTh 107), Tübingen 1998, 157–169; und bes. die Studie von Susannah Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie (Sifria 2), Berlin 2001. 10 Vgl. Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, 60 (zu Abraham Geiger insgesamt: 59–63). 11 Vgl. Abraham Geiger, Urschrift und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judenthums, Breslau 1857. 12 Brenner (s. o. Anm. 10), 61. Der Ausdruck »gegen den Strich bürsten« stammt von Walter Benjamin. Vgl. zum Ganzen vor allem Daniel Weidner, »Geschichte gegen den Strich bürsten«. Julius Wellhausen und die deutsche ›Gegengeschichte‹, in: ZRGG 54 (2002), 32–61.

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thie mit dem Ansatz und der Fragestellung Geigers13 – nüchtern den Quellen selbst zu. Seine These ist allseits bekannt: Er rekonstruiert ein Gegeneinander zweier Gruppen im Judentum: der kirchlichen Partei der Pharisäer und der weltlichen Partei der Sadduzäer. Die Argumentation soll hier nicht vorgestellt, wohl aber einige Grundentscheidungen markiert werden, weil sie für die dann folgenden historiographischen Arbeiten Wellhausens von einiger Bedeutung sind. Denn das »in seinen späteren Werken ausgeführte Geschichtsbild ist in dieser frühen Monographie in nuce bereits vorausgesetzt.«14 Die Pharisäer waren die Vertreter der Theokratie, ein bei Wellhausen nicht ganz klar definierter Begriff, der für die vorstaatliche, die staatliche und dann vor allem die nachstaatliche Zeit gebraucht werden kann. Er meint eine im wesentlichen religiöse (und nicht politische) Verfaßtheit des Gemeinwesens, wie sie idealtypisch in der Zeit seit dem Exil unter den Bedingungen der Fremdherrschaft bestand. Auch dort nun, wo die Pharisäer politisch auftraten und wirkten, verfolgten sie rein religiöse Ziele. Mit ihrer strengen Gesetzesobservanz und der autoritativen schriftgelehrten Auslegung des Gesetzes standen sie dem verweltlichten Volk gegenüber, konnten aber grundsätzlich auf seine Sympathie und Zustimmung hoffen. Denn man schuf eine Art Arbeitsteilung, denn nur die strenge Einhaltung des Gesetzes überließ man den Professionellen, also den Pharisäern, die Wellhausen deshalb – vielleicht in einer ironischen Reminiszenz an Schleiermacher15 – als »Virtuosen der Religion«16 bezeichnet. Was nun die Pharisäer in der Zeit vor 70 n.Chr., also vor der Zerstörung des Zweiten Tempels, als eine Partei unter mehreren vertraten, konnte sich im späteren rabbinischen Judentum der Zeit danach endgültig durchsetzen. Mit ihrer strengen Gesetzesobservanz retteten die Pharisäer sogar, wie Wellhausen mit feinem Sinn für die historischen Entwicklungen hervorhebt, »die ›Idee‹ des Judenthumes«.17 Historisch gehen die Pharisäer aus den Asidäern, den »Frommen« der Makkabäer- bzw. Hasmonäerzeit hervor, und es ist für Wellhausen kein Zufall, daß diese Partei gerade in dem Moment entsteht, als sich der Hasmonäerstaat (wieder) daranmacht, weltliche und religiöse Ziele zu verknüpfen.18 Denn der profane Staat war mit der theokratischen Verfassung der Juden prinzipiell nicht vereinbar; das jedenfalls war die Sicht derjenigen (vielleicht auch der Qumran-Leute), die sich gegen den Anspruch der hasmonäischen Könige auf das Hohepriesteramt zur Wehr setzten. Die Gesetzestreuen, die direkten Vorgänger der Pharisäer, erklärten daraufhin den status confessionis, so daß die gesamte hasmonäische Ära (besonders scharf in der Zeit des Alexander Jannäus) von einem Dauerkonflikt begleitet war. Als Reaktion auf die pharisäische Opposition bildete sich eine hasmonäische, also staatstreue Gegenpartei heraus: die Sadduzäer.

13 Wellhausen, Pharisäer (s. o. Anm. 7), 26f.: »Es ist zuerst Abraham Geiger gewesen, der erkannt hat, dass sich Schriftgelehrte und Priester verhalten wie eine innere Macht zu der äusseren.« 14 Waubke (s. o. Anm. 9), 197. 15 Vgl. den Hinweis bei Waubke (s. o. Anm. 9), 198 Anm. 14. 16 Wellhausen, Pharisäer (s. o. Anm. 7), 20. 17 Wellhausen, aaO. 95. 18 Vgl. Wellhausen, aaO. 94.

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Damit waren im zweiten vorchristlichen Jahrhundert die beiden Parteien geboren, die sich nun in einem unüberbrückbaren Gegensatz befanden, der – und das ist für Wellhausen entscheidend – einen Grundkonflikt im Judentum selbst an den Tag bringt: die »Religiösen« auf der einen, die »Weltlichen« auf der anderen Seite:19 »Die Sadducäer sind die Vertreter des neuen Staats, der aus der makkabäischen Erhebung hervorwuchs, die Pharisäer die der Gemeinde, deren Grundlage und deren Zweck die Thora war.«20

Aber diese Aufteilung »funktionierte« eben nicht, wie Wellhausen 20 Jahre später, unter Aufnahme des Pharisäerbuches, formulierte: »Der nationale Staat liess sich nicht quadriren mit dem alten heiligen Gemeinwesen, in dessen Formen er sich hüllte.«21 – Denn: »Das politische Interesse überwog das religiöse, der Patriotismus den Eifer für das Gesetz. Der König war nur nebenbei Hoherpriester. Durch die makkabäische Erhebung wurde das Judentum gerettet und doch zugleich in seinem innersten Wesen bedroht. Die Nationalisirung erwies sich als gleichbedeutend mit der Verweltlichung.«22

Die beiden Religionsparteien bringen also einen inneren Konflikt, der im Wesen des Judentums selbst liegt, gewissermaßen nach außen. Insoweit stellen die Pharisäer idealtypisch eine Möglichkeit jüdischer Existenz dar, die weder in dieser Partei aufgeht noch überhaupt auf die Zeit des 2. oder 1. vorchristlichen Jahrhunderts beschränkt ist. Dies ist die Seite der äußeren Verfassung der jüdischen Gemeinschaft. Aber es gibt eine weitere, für Wellhausen nicht weniger wichtige Aporie, die sich auf das Individuum bezieht und die die Pharisäer ebenso klar ans Licht bringen: Denn die »Schattenseite«23 ihres Wirkens lag darin, daß der äußerliche Gesetzeskult ein innerliches und direktes Gottesverhältnis behindert habe: »die Pharisäer ertödteten die Natur durch die Satzung«.24 Damit haben wir zwei Grundaporien freigelegt: eine gesellschaftliche und eine individuelle. Man hat häufig versucht, Wellhausens Darstellung mit angeblich durchsichtigen persönlichen Motiven, mit seiner lutherischen Herkunft oder – allgemeiner – mit den aktuellen Entwicklungen und Fragestellungen des 19. Jahrhunderts zu verbinden und zu erklären, nicht selten mit einem deutlich kritischen Unterton. So nimmt Ulrich Kusche in seiner Studie über das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler unter dem Titel »Die unterlegene Religion« bei Wellhausen eine hochgradige Ambivalenz wahr, der in einem »engen Zusammenhang zwischen persönlicher Einstellung und wissenschaftli19 Wellhausen lehnt mit seiner These übrigens die zu seiner Zeit beliebte Auffassung ab, die Entstehung der Pharisäer und Sadduzäer sei mit den vormakkabäischen Konflikten zwischen konservativgesetzesobservanten und liberal-hellenistischen Kreisen zu erklären. 20 Wellhausen, Pharisäer (s. o. Anm. 7), 94f. 21 Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 1894, 245. 22 Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte1 (s. o. Anm. 21), 245. 23 Wellhausen, Pharisäer (s. o. Anm. 7), 19. 24 Ebd.

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chem Werk«25 bestehe. Etwas anders akzentuiert Hans-Günther Waubke, der gerade in dem Pharisäerbuch Wertvorstellungen entdecken zu können meint, die Wellhausen in die Tradition protestantischer Theologie mit ihrer von aller Gesetzlichkeit freien libertas christiana stellen.26 Martin Hengel sieht in der Betonung des Individuums und der Heraushebung der schöpferischen Frühzeit, die in den weiteren Studien Wellhausens eine große Rolle spielen werden, das romantische Ideal des 19. Jahrhunderts aufscheinen.27 Und Roland Deines meint die scharfe Pharisäerkritik gar mit der besonderen Affinität Wellhausens zum neugegründeten deutschen Nationalstaat verbinden zu können, der »durch den Ultramontanismus der katholischen ›Partei‹ gefährdet schien.«28 Manches wird dabei in die Form eines Vorwurfs gekleidet, der nicht nur einzelne Aussagen, sondern das Grundkonzept Wellhausens relativieren soll. Daß es solche Abhängigkeiten gibt, läßt sich nicht bestreiten; jeder – auch jeder Historiker – ist Kind seiner Zeit, eine mehr als banale Feststellung. Die Reserven Wellhausens gegenüber bestimmten Ausprägungen des (gesetzlich orientierten) Judentums haben sicherlich auch mit seiner natürlichen Abneigung gegen erstarrte »Kirchlichkeit« seiner Gegenwart zu tun, die den »religiöse[n] Individualismus des Evangeliums«, für Wellhausen das »wahre Salz der Erde«,29 verdunkle. Gleichwohl ist die bei Wellhausen durchscheinende natürliche Abneigung gegen alles Institutionelle und Internationale, gegen alles Kirchlich-Religiöse und Erstarrte, gepaart mit einer Hochschätzung des Ursprünglichen und Individuellen, Kennzeichen der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, wie man sie etwa bei dem von Wellhausen hochgeschätzten Theodor Mommsen finden kann.30 So war »das Verhältnis von Politik und Geschichte [...] eine der großen Fragen des 19. Jahrhunderts«.31 Nationalismus wie Liberalismus beförderten eine Geschichtsbetrachtung, die sich auf die Entstehung der einzelnen Völker und Staaten richtete und sich dabei zugleich um eine möglichst große Unparteilichkeit und Objektivität auf der Basis der Kritik der Überlieferung bemühte. Begleitet wird dieses Interesse von der Entdeckung des Einzigartigen und der Individualität wie auch von der Vorstellung, diese Individualität nur verstehen zu können, wenn man ihre Entwicklung begreift, sie also aus ihren eigenen Voraussetzungen versteht und nicht aus überzeitlichen Prinzipien ableitet.32 Dieser »Entwicklungsgedanke« richtet sich primär gegen die 25 Ulrich Kusche, Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler. Zur Kritik theologischer Geschichtsschreibung (SKI 12), Berlin 1991, 30. 26 Waubke (s. o. Anm. 9), 225f. 27 Martin Hengel, Der alte und der neue »Schürer« (1990), in: Ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II (WUNT 109), Tübingen 1999, 157–199 (162). 28 Roland Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz (WUNT 101), Tübingen 1997, 41. 29 Julius Wellhausen, Abriss der Geschichte Israels und Juda’s, in: Ders., Skizzen und Vorarbeiten I, Berlin 1884, 3–102 (102). 30 Vgl. bes. Perlitt, Vatke (s. o. Anm. 5), 210–223. 31 Michael Maurer, Neuzeitliche Geschichtsschreibung, in: Ders. (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 5: Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung (Reclams UniversalBibliothek 17031), Stuttgart 2003, 281–489 (355). 32 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 500f.

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Aufklärung: »Diese nämlich erklärte historische Vorgänge aus einer oder einigen nebeneinander stehenden Ursachen, aus Einsichten und Leidenschaften handelnder Personen und gleichsam äußeren Anstößen [...] Dagegen geht es nun um eine Unendlichkeit von Ursachen, um die Bedeutung der ›inneren‹ Ursachen [...] gegenüber den äußeren, um ein Stück Freiheit, das in der Verursachung nicht aufgeht [...], um eine Verursachung von Prozessen, die weder allein kausal noch allein teleologisch erklärt werden können.«33 Man kann Wellhausens Pharisäerbuch – zumal in seiner Auseinandersetzung mit Abraham Geiger – durchaus als eine Realisierung der hier skizzierten Geschichtsbetrachtung lesen, die persönliche Sympathien und Antipathien durchaus nicht ausklammert. Aber seine geradezu entwaffnende Nüchternheit in der Quellenauswertung und -bewertung entzieht jeder moralischen oder kirchenpolitischen Instrumentalisierung des Gegensatzes von Pharisäern und Sadduzäern den Boden, auch wenn er seine Präferenzen nicht verschweigt. Die Ebenen werden aber durchaus nicht vermischt. Wie sonst könnte man heute, nach 135 Jahren!, behaupten, daß sich die Grundthese des Buches im wesentlichen historisch bewährt habe? Bei aller zeitgeschichtlichen Verwurzelung ist die Darstellung Wellhausens doch erstaunlich sachlich und »objektiv« und im Kern – und darauf kommt es an – gerade nicht von einer tendenziösen Geschichtsbetrachtung abhängig, die man ihm gern vorwirft. Bei allen wichtigen und bis heute richtigen historischen Details, die Wellhausens Untersuchung bestimmen und zu einem ganz neuen Bild der jüdischen Religionsparteien geführt haben, kommt es ihm doch auf ein inneres Verständnis der Geschichte an, auf das Freilegen der treibenden Kräfte. Denn der Grundkonflikt, den er in seinem Pharisäerbuch (explizit im 5. Kapitel) herausarbeitet, bestimmt, so Wellhausen, die Geschichte des gesamten Judentums. Es ist der innere Widerspruch zwischen sakraler und profaner Ordnung, der sich auf das Wesen der Gemeinschaft – das Wesen des Judentums – ebenso bezieht wie auf die Frömmigkeit des Individuums. So zieht sich dieser Grundkonflikt wie ein kleiner roter Faden durch das gesamte historiographische Werk Wellhausens. Wir wenden uns nun etwas kürzer den früheren Epochen zu.

3. »Judentum und altes Israel in ihrem Gegensatze« Das wohl bedeutendste Buch Wellhausens sind zweifellos seine »Prolegomena zur Geschichte Israels«, in der 1.Auflage von 1878 noch unter dem Titel »Geschichte Israels I« erschienen. Das Buch sucht die scheinbar einfache Frage zu beantworten, ob das mosaische Gesetz »der Ausgangspunkt sei für die Religion des alten Israel oder für die Geschichte des Judentums, d. h. der Religionsgemeinde, welche das von Assyrern und Chaldäern vernichtete Volk überlebte.«34 33 Nipperdey (s. o. Anm. 32), 501. 34 Julius Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 1883, 1.

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Die Antwort wird in beinahe kriminalistischer Manier und in nur selten erreichter stilistischer Eleganz vorgeführt: Das Gesetz war die Grundlage des Judentums, nicht des alten Israel. Die biblische Geschichtsschreibung wird geradezu auf den Kopf gestellt: Am Anfang stand nicht die festgefügte Hierokratie mit einem zentralen Heiligtum, sondern ein buntes religiöses Leben mit einer Vielzahl an Kult- und Opferstätten. Am Anfang stand nicht der monolithische, abgeschlossene Monotheismus, von dem Israel und die Könige abgefallen sind, sondern eine allmähliche Entwicklung aus einem natürlichen Gottesverhältnis heraus zu einer immer reflektierteren Gestalt. Am Anfang stand nicht das von Priestern angeführte und auf das Gesetz verpflichtete Gemeinwesen, also die Theokratie, sondern der Staat als die gleichsam natürliche Organisationsform des Volkes. Ja, das Gesetz setzt den Untergang dieses Staates bereits voraus. Am Anfang stand auch nicht der Gott der Geschichte, sondern ein gleichsam natürliches Gottesverhältnis. Dabei stand die literarkritische Analyse, die Grundlage dieses neuen Bildes, nie für sich; sie war Mittel zum Zweck. Denn das eigentliche Ziel der Analyse lag in der historischen Rekonstruktion, die zu einer Gesamtanschauung von der Geschichte Israels und des Judentums führen sollte. So kann man im Blick auf die historische Methode Wellhausens zwei Ebenen unterscheiden: zum einen die methodologischen Grundlagen seiner Geschichtskonzeption im allgemeinen, zum andern die historische Kritik im besonderen. Auf beiden Ebenen ist Wellhausen von Vorläufern und Vorgängern abhängig. Auf Theodor Mommsen ist bereits hingewiesen worden. Hinzu kommt eine von Johann Gottfried Herder beeinflußte Hochschätzung des Ursprünglichen und Natürlichen.35 Wellhausen verfolgt die Absicht, »mit dem textgeschichtlich Früheren und Ursprünglichen zugleich das menschlich Großartigere und Echtere herauszustellen und in seiner Historizität zu sichern, es von später hinzugekommenen Elementen als von Verdeckungen und Fälschungen zu reinigen.«36 Die meisten Anregungen auf literarhistorischem Gebiet sind wohl von Wilhelm Martin Leberecht de Wette ausgegangen, »dem epochemachenden Eröffner der historischen Kritik«.37 Über ihn schreibt Wellhausen: »Ein gescheiter Kerl! Was ich im alten Testament gemacht habe, steht ja schon alles bei ihm«.38 Wellhausen bezieht sich dabei nicht nur auf die Spätdatierung der alttestamentlichen Gesetze (also vor allem der Priesterschrift), sondern auf das Gesamtbild, das de Wette schon zu Beginn des Jahrhunderts vorgestellt hatte: Der Pentateuch als »Poesie und Mythe betrachtet«, so de Wette im 2. Band seiner 1807 in Halle erschienenen »Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament«, kann nun »in einem andern Sinne auch wieder als das wichtigste geschichtliche Denkmal« gelesen werden. 35 Vgl. Friedemann Boschwitz, Julius Wellhausen. Motive und Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung. Reprografischer Nachdruck der 1. Aufl. Marburg an der Lahn 1938, Darmstadt 1968, 18–41; Perlitt, Vatke (s. o. Anm. 5), 211–214. 36 Boschwitz (s. o. Anm. 35), 28. 37 Julius Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61927, 4. Zu de Wette grundlegend John W. Rogerson, W.M.L. deWette, Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (JSOT.S 126), Sheffield 1992. 38 Mitgeteilt von Rudolf Otto, Die Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen (1909) 21921, 130; bei Perlitt, Vatke (s. o. Anm. 5), 167 Anm. 4.

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»Er ist das Produkt der vaterländischen religiösen Poesie des Israelitischen Volkes, in welchem sich sein Geist, seine Denkart, sein Patriotismus, seine Philosophie und Religion spiegelt, und ist also eine der ersten Quellen der Cultur- und Religionsgeschichte.«39

Das liest sich wie das Programm der Prolegomena Wellhausens. Als Anreger kommen auf dem Gebiet der Pentateuchforschung so unterschiedliche Gestalten wie Wilhelm Vatke und Karl Heinrich Graf, vor allem aber auch der Leidener Alttestamentler Abraham Kuenen hinzu.40 Sein wichtigster Göttinger Lehrer war indes der große Heinrich Ewald, von dem Wellhausen nicht nur die Liebe zum philologischen Detail, sondern auch den Mut zur (religions-)geschichtlichen Synthese gelernt hat.41 Das in den Prolegomena entworfene neue Bild der Religionsgeschichte Altisraels und des Judentums ist dann die Basis für das historiographische Hauptwerk Wellhausens, seine 1894 erschienene »Israelitische und jüdische Geschichte«, die ebenso brillant geschrieben ist wie seine Prolegomena. Die Darstellung hat zwei wichtige Vorstufen: 1) die schon 1880 im Privatdruck herausgekommene, nur bis zur Zerstörung Jerusalems reichende Skizze »Geschichte Israels« (es handelte sich um die deutsche Vorlage eines Artikels in der Encyclopædia Britannica),42 und 2) die 1884 erschienene »Geschichte Israels und Juda’s im Umriss«, die zwei weitere Abschnitte über das »Exil und die Restauration« sowie über »Judentum und Christentum« enthält.43 Die »Israelitische und jüdische Geschichte« ist weit mehr als eine bloße »Geschichte Israels«, wie man sie als Gattung bis heute findet. Sie ist vielmehr eine Geschichte der jüdischen Tradition, wie sie sich sukzessive aus den Königtümern Israel und Juda herausentwickelt und schließlich im Alten Testament niedergeschlagen hat. Worin unterscheiden sich nun altes Israel und Judentum? Das alte (und zunächst noch vorstaatliche) Israel zeichnet sich – wie andere Völker jener Zeit – durch eine gleichsam natürliche Einheit von Religion bzw. Gottheit und Nation aus: »Krieg und Recht waren Religion, ehe sie Zwang und bürgerliche Ordnung wurden, das ist der wirkliche Sinn der sogenannten Theokratie.«44

Neben dem Begriff der »Theokratie« benutzt Wellhausen in diesem Zusammenhang 39 Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament, Band 2, Halle 1807, 398. 40 Vgl. Rudolf Smend, Kuenen und Wellhausen, in: Peter B. Dirksen/Arie van der Kooij (Hg.), Abraham Kuenen (1828–1891). His Major Contributions to the Study of the Old Testament. A Collection of Old Testament Studies Published on the Occasion of the Centenary of Abraham Kuenen’s Death (10 December 1991) (OTS 23), Leiden 1993, 113–127; Ders., Abraham Kuenen, in: Ders., From Astruc to Zimmerli. Old Testament Scholarship in Three Centuries, Tübingen 2007, 76–90. 41 Vgl. Schwartz (s. o. Anm. 1), 335. Zum Verhältnis Ewald – Wellhausen vgl. im übrigen Perlitt, Vatke (s. o. Anm. 5), 171f., und Waubke (s. o. Anm. 9), 217–219. 42 Julius Wellhausen, Geschichte Israels, in: Ders., Grundrisse zum Alten Testament, hg.v. Rudolf Smend (TB 27), München 1965, 13–64. 43 Auf dem Titelblatt: Abriss der Geschichte Israels und Juda’s (s. o. Anm. 29). 44 Wellhausen, Abriss (s. o. Anm. 29), 12.

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auch schon den Begriff »Nation«, obwohl er sich noch in der Darstellung der vorstaatlichen Zeit befindet.45 »Die Theokratie [...] entstand als die Ergänzung der Anarchie.« Denn »zu einer politischen Einheit wurde Israel erst allmählich durch die Religion, als Volk Jahve’s.«46 – »Jahve der Gott Israels bedeutete demnach, dass die nationalen Aufgaben, innere wie äussere, als heilige erfasst wurden.«47 »Der sogenannte Particularismus des Gottesbegriffs, die Beziehung Jahve’s auf die Angelegenheiten Israels, war die wahre Stärke dieser Religion; darin lag ihre Erlösung von dem unfruchtbaren Spiel der Mythologie und ihre Zuwendung zu den moralischen Aufgaben«.48

Kennzeichnend für den »Hebraismus« der vorstaatlichen wie staatlichen Zeit war also eine »natürliche[] Synthese von Patriotismus und Religion«49 . Der Gottesbegriff ist aus dem Mythos herausgelöst und auf das Volk bezogen worden. Mit dieser »Vergeschichtlichung« war zugleich die Basis der »Moral« gegeben, denn der Gott Israels war zugleich der Gott der Gerechtigkeit und des Rechts. Eine Schlüsselstellung nimmt für Wellhausen die Prophetie ein. Denn sie bildet gleichsam die Brücke zwischen altem Israel und Judentum. Es waren die »Propheten, welche das neue Israel schufen«.50 Ja, sie waren die »geistigen Zerstörer des alten Israel«,51 indem sie »das natürliche Band« zwischen Gott und Volk »zerschnitten«52. Mit »Volk«, gelegentlich auch »Nation«, ist hier nicht der Nationalstaat gemeint, sondern die primär auf verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit beruhende Gemeinschaft in politischer Gestalt. So zeichnet sich bereits bei Elija im 9. Jahrhundert in seinem vergeblichen Kampf gegen den Baal eine neue Gottesidee ab, die »sich über die nationale Schranke zu erheben«53 begann. Elija und seine Nachfolger aber waren einsame Rufer in der Wüste, »ein Vorspiel der Zukunft, für die Gegenwart war ihr Wollen verloren«.54 Auch die Prophetie eines Jesaja war ihrer Zeit weit voraus. Wellhausen denkt hier an die sogenannten messianischen Verheißungen, die für ihn nicht »träumerische Zukunftsbilder«,55 sondern gegenwärtig zu verwirklichende Programme sind: »Das messianische Reich bedeutet die Beseitigung der inneren Rechtlosigkeit und Anarchie, die Herstellung von Gerechtigkeit Ordnung und Frieden.«56 Realisierbar war dieses Programm freilich in den Schranken der Nation nicht. 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Vgl. Wellhausen, Abriss (s. o. Anm. 29), 13. Wellhausen, aaO. 12. Wellhausen, aaO. 13. Wellhausen, aaO. 14. Lothar Perlitt, Bundestheologie im Alten Testament (WMANT 36), Neukirchen-Vluyn 1969, 114. Wellhausen, Abriss (s. o. Anm. 29), 36. Wellhausen, Geschichte Israels (s. o. Anm. 42), 63. Wellhausen, Prolegomena6 (s. o. Anm. 37), 416. Wellhausen, Abriss (s. o. Anm. 29), 34. Ebd. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 91958, 123 (= 89 in der 1. Aufl.; s. o. Anm. 21). 56 Wellhausen, aaO. 123f.

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»Sonst war die Nation das realisierte Ideal gewesen, sie [die Propheten] setzten der Nation das Ideal entgegen. Der Zwiespalt sollte dann dadurch wieder ausgeglichen werden, daß das abgelöste Ideal zum Gesetz gemacht und das Volk ihm konformiert wurde.«57

Das von den Propheten – »ohne es zu wissen«58 – propagierte Ideal war also im Rahmen der Nation nicht lebensfähig. Sie erkannten hellsichtig »die Bedingtheit des Verhältnisses zwischen Jahve und Israel«59 und rückten »den Begriff – noch nicht den Namen – des Gesetzes«60 in den Mittelpunkt, aber sie drangen damit nicht durch. Hier erkennt Wellhausen eine unaufgelöste und wohl auch unauflösbare Aporie, die bereits in seinem Pharisäerbuch entwickelt wurde: der prinzipielle Widerspruch zwischen profaner und sakraler Ordnung. Und diese Aporie zeigt sich auch, wenn man die beiden Fernwirkungen der Prophetie betrachtet. Denn die Propheten bereiten zum einen das Gesetz vor, das doch zugleich »der Tod der Prophetie«61 werden sollte, und zum andern legen sie den Grund für den »religiöse[n] Individualismus, der in dem Verfall der Nation seine geschichtliche Quelle hatte«.62 So beruht die neue Lebensordnung des Judentums auf der Prophetie. Die Grundlage aber, auf der »die neue Theokratie aufgebaut werden sollte«,63 war das Reformprogramm des Deuteronomiums; es »krönt die Arbeit der Propheten«.64 Danach waren die Juden »nur noch eine religiöse Gemeinde, kein Staat und keine Nation mehr«.65 Im Zentrum des Glaubens steht der auf dem Monotheismus basierende Kult. Der Hohepriester trat gleichsam natürlicherweise an die Spitze der Gemeinde; die Hierokratie war »in der That völlig unvermeidlich«.66 Es ist nun wichtig darauf hinzuweisen, daß dieser Weg in die Restauration nach Wellhausen nicht nur verständlich, sondern in der früheren Zeit sogar geboten war: »Der Widerspruch, dass der Gott der Propheten sich jetzt in einer kleinlichen Heils- und Zuchtanstalt verpuppte und statt einer für alle Welt giltigen Norm der Gerechtigkeit ein specifisches Ritualgesetz aufstellte, der Bund, wodurch der allmächtige Gott ein Specialverhältnis mit den Juden einging, war für diese Zeit praktisch gerechtfertigt.«67

In der zweiten Hälfte der persischen Zeit wird das Judentum aber zunehmend zu einer Hierokratie, die in der Erhebung des Hohenpriesters zum Ethnarchen ihren Gipfelpunkt erreichte. Die Hierokratie wurde zu einer »Nomokratie«;68 neben die Priester traten die Schriftgelehrten; es kam zur Erstarrung des Judentums. 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Wellhausen, Geschichte Israels (s. o. Anm. 42), 63. Ebd. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte9 (s. o. Anm. 55), 109. Ebd. Wellhausen, Prolegomena6 (s. o. Anm. 37), 402. Wellhausen, Geschichte Israels (s. o. Anm. 42), 63. Wellhausen, Abriss, 82. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte9 (s. o. Anm. 55), 129. Wellhausen, Abriss (s. o. Anm. 29), 82. Ebd. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte1 (s. o. Anm. 21), 145. Wellhausen, aaO. 153.

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Der Gegensatz zwischen Hebraismus und Judentum ist natürlich für Wellhausen kein absoluter. »Das Judentum beginnt mit der Restauration nach dem babylonischen Exil; das alte Israel endet mit der Zerstörung Samarias – dazwischen liegt ein Übergang, der von der Zerstörung Samarias durch die Assyrer bis zur Zerstörung Jerusalems durch die Chaldäer reicht.«69

Es ist das Ergebnis eines sich über eine längere Zeit erstreckenden Transformationsprozesses, der in der Hauptsache aus der allmählichen Lösung der engen Liaison von »Patriotismus« und »Religion« bestand. Man kann natürlich, wie es jüngst Eckart Otto getan hat, im Gegensatz zu Wellhausen und mit Max Weber die Unterscheidung von Hebraismus und Judentum für unangemessen halten und den Begriff »Judentum« in einem umfassenden Sinne unter Einschluß der staatlichen Zeit verstehen.70 Otto sieht in dem Wellhausenschen Paradigma gar den Versuch, »dem Judentum die Hebräische Bibel, insbesondere aber die Prophetie zu nehmen«.71 Diese Unterstellung aber ist abwegig, weil es Wellhausen 1) um die Herausstellung einer Grundunterscheidung von königlicher und nachköniglicher Verfaßtheit ging, die ganz unabhängig von den Begriffen gültig bleibt, und ihm 2) gerade daran gelegen war, das Alte Testament in seinen entscheidenden Entstehungsphasen als ein Buch des Judentums des Zweiten Tempels zu verstehen:72 »Das Alte Testament war den Israeliten unbekannt, es ist eine Einrichtung – zur größeren Hälfte auch ein Produkt – des Judentums; erst die Juden sind aus einem Volk des Wortes das Volk des Buches geworden.«73

Bei allen gelegentlich harschen Urteilen gegenüber dem Judentum, die eine gewisse Abneigung spüren lassen, hat doch »kaum einer [...] die ›jüdische‹ Seite des Alten Testaments, die weit mehr ausmacht als nur ›die Hälfte‹ [...], so tief erkannt wie er.«74 »Was im Alten Testament noch heute wirkt und ohne historische Vorbildung genossen werden kann, ist zum größeren Teil Erzeugnis der nachexilischen Zeit.«75 Wellhausen hebt das Buch Hiob und etwa Psalm 73 heraus,76 und es ist allenfalls merkwürdig – 69 Julius Wellhausen, Israelitisch-jüdische Religion, in: Ders., Grundrisse zum Alten Testament, hg.v. Rudolf Smend (TB 27), München 1965, 65–109 (65). 70 Vgl. Eckart Otto, Auszug und Rückkehr Gottes. Säkularisierung und Theologisierung im Judentum, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen (Fischer Taschenbuch 17647), Frankfurt a.M. 2007, 125–171 (132). 71 Otto (s. o. Anm. 70), 132. 72 Die Kritik E. Ottos hängt natürlich damit zusammen, daß er den entscheidenden Wandel in der altisraelitischen Religionsgeschichte hin zur »Säkularisierung«, also zu einer klaren Unterscheidung von Staat und Religion, bereits im 7. Jahrhundert mit der »subversiven Rezeption assyrischer Herrschaftslegitimation« einsetzen läßt; vgl. Otto (s. o. Anm. 70), 139. Wellhausen sah – und hier dürfte er im Ganzen dem Befund näher sein – den entscheidenden Wandel erst mit dem Untergang des Staates gegeben, obwohl (!) die Prophetie die Unterscheidung von Staat und Religion bereits »vorgedacht« und gedanklich vorweggenommen hat. 73 Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte9 (s. o. Anm. 55), 188. 74 Kratz, Wellhausen (s. o. Anm. 2), 530. 75 Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte9 (s. o. Anm. 55), 193. 76 Vgl. Wellhausen, aaO. 208.

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und in gewisser Weise auch inkonsequent –, daß er hier ein eher uneigentliches Judentum ausgeprägt findet.

4. Ausblick: Die Aporien im Christentum Daß der hier skizzierte Grundwiderspruch keineswegs auf das Judentum beschränkt ist, hebt Wellhausen mehrfach hervor. So kann er das Wesen des Christentums kurz und bündig in einem eigenen Abschnitt, der das Ende der »Israelitischen und jüdischen Geschichte« bildet, wie folgt zusammenfassen: »Die Stufen der Religion, wie die Stufen der Geschichte überhaupt, bleiben neben einander bestehn. Die öffentliche Religion braucht nicht aufzuhören. Aber Jesus hat die Kirche nicht gestiftet, der jüdischen Theokratie hat er das Urteil gesprochen. Das Evangelium ist nur das Salz der Erde; wo es mehr sein will, ist es weniger. Es predigt den edelsten Individualismus, die Freiheit der Kinder Gottes.«77

Dennoch bleibt auch das Christentum von der Aporie, von dem inneren Widerspruch, der die Geschichte des alten Israel und des Judentums durchzieht, nicht verschont: »Die Kirche, ursprünglich ein Ersatz der mangelnden Nation, ist mit den gleichen Gefahren der künstlichen Bildung behaftet, wie sie im Judentum uns entgegentreten.«78

In dieser Hinsicht sind sich Judentum und Christentum also gleich, und es wäre eine überaus lohnende Aufgabe, aus den Beiträgen Wellhausens zum Judentum der neutestamentlichen Zeit und aus seinen Auslegungen neutestamentlicher Schriften (vor allem der Evangelien)79 das »Wesen des Christentums« zu rekonstruieren und damit einen bisher ungehobenen Schatz ans Tageslicht zu bringen.

77 Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte9 (s. o. Anm. 55), 371. 78 Wellhausen, Abriss (s. o. Anm. 29), 102. 79 Vgl. Julius Wellhausen, Evangelienkommentare. Nachdruck von »Einleitung in die ersten drei Evangelien« (21911), »Das Evangelium Matthaei« (21914), »Das Evangelium Marci« (21909), »Das Evangelium Lucae« (1904), »Das Evangelium des Johannis« (1908). Mit einer Einleitung von Martin Hengel, Berlin/New York 1987.

Adolf von Harnack – Marcion und die Frage nach dem Stellenwert des Alten Testaments Ekkehard Mühlenberg Seit Beginn meiner akademischen Karriere besitze ich die Leinenausgabe von 1924: Adolf von Harnack, Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott.1 Als ich das Buch jetzt zur Einstimmung für diesen Vortrag hervorholte, fand ich bei den Belegen meine Bleistiftkorrekturen, so daß ich die Textausgaben einst wohl alle nachgelesen und auf Kontext überprüft habe. Für mein Marcionseminar vor 25 Jahren in Göttingen habe ich einen Reader zusammengestellt – und vielleicht benutzt der Kollege Notker Slenczka, der damals in diesem Seminar saß, ihn noch. Für diese Schleiermachertagung habe ich die Aufgabe übernommen, über Adolf von Harnack und seine Stellung zum Alten Testament zu referieren. Das hat nun aber weitgehend mein Bonner Kollege Wolfram Kinzig in seiner Monographie: Harnack, Marcion und das Judentum (2004) erledigt.2 Seine Ergebnisse sind klar formuliert und lassen mir scheinbar keinen Raum für einen eigenen Beitrag. Kinzig hat den literarischen Nachlaß Harnacks wie mit einem Computerprogramm ge-scannt und all die Textstellen reproduziert, wo die Wörter »Altes Testament« und »Gott der Juden« vorkommen. Drei Ergebnisse sind eindeutig: Erstens, daß Harnack, bis auf eine frühere Andeutung unvermutet, in der Marcionmonographie von 1921 die Entkanonisierung des Alten Testaments forderte. In Sperrdruck lautete die These Harnacks: Das Alte Testament »seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen

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Die 2. Auflage (TU 45, Leipzig 1924) ist nach Harnacks eigenen Worten »verbessert und vermehrt« gegenüber der Erstauflage von 1921 (TU 45). Er hatte sich in einem eigenen und nicht wiederholten Beitrag gegenüber seinen Kritikern verteidigt: Neue Studien zu Marcion (TU 44,4). Leipzig 1923; dort verzeichnet er auch alle Rezensionen. Der Mehrwert der 2. Auflage besteht vor allem in zusätzlichen Beilagen, darunter Beilage III.C: Die Marcionitischen Prologe; III.D.: Der Laodicenerund Alexandrinerbrief des Paulus (Marcionitische Fälschungen); Beilage V: Die Antithesen Marcions (nach Zitaten und Referaten) 256*–313* (herausgenommen aus dem Textteil); Beilage IX: Ein wahrscheinlich antimarcionitisches Fragment aus der Schrift Melitos von Sardes »Über die Taufe«; Beilage XI: Marcion in der Manichäischen Literatur genannt; Register. – Ich habe die Diktion meines Vortrages ein wenig gedämpft; die Anmerkungen sollen vom Vortragstext nicht ablenken. Wolfram Kinzig, Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 13), Leipzig 2004.

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Lähmung« (217).3 »Überraschend«, sagt Kinzig, war diese Forderung.4 Eindeutig ist zweitens Kinzigs Feststellung, daß von Harnack eine Entkanonisierung gefordert wird, nicht jedoch eine Beseitigung aus den Buchdeckeln mit der Aufschrift BIBEL.5 Drittens ergibt sich für Kinzig eindeutig, daß Harnacks »Ablehnung der Kanonizität des Alten Testaments« sich bei dessen Gnosis- und Marcionstudien entwickelt habe, nicht jedoch »in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskursen«.6 Dann unternimmt es Kinzig, Hintergründe für die Geringschätzung des Alten Testaments aufzudecken, indem er feststellt, daß Harnack kein Sensorium für das Judentum als Religion hatte. Er habe kein Interesse am zeitgenössischen Judentum und eben auch keine echten Juden in seinem Bekanntenkreis gehabt, sondern nur getaufte Juden.7 Zur Frage, welchen Stellenwert das Alte Testament nach Harnack haben soll, ist eine Briefstelle an Karl Holl vom 31.12.1920 besonders wichtig; Harnack antwortet seinem Berliner Kollegen, daß er das Alte Testament nicht beseitigen wolle, auch nicht »aus den Buchdeckeln der Bibel herausnehmen«, auch nicht dem religiösen Unterricht entziehen, sondern: »Ich will es geschätzt und behandelt sehen, wie Luther die Apokryphen behandelt hat – ›gut und nützlich zu lesen‹ im emphatischen Sinne.«8 Soll ich sagen: jetzt sind die Lutherkenner dran? Oder soll ich auf die Stellen verweisen, wo Agnes Zahn in der Biographie ihres Vaters erwähnt, wann und wie Vater Harnack zum Alten Testament gegriffen habe?9 In dem mir gegebenen Thema ist die Frage gestellt, was Adolf von Harnack vom Alten Testament hält und was seine Einschätzung des Alten Testaments theologisch bedeutet. Aber wenn denn nun Harnacks Beschäftigung mit Marcion der Zusammenhang ist, in dem Harnack sein Urteil über die kanonische Geltung des Alten Testaments fällt, dann frage ich, wie Harnack Marcion versteht, d. h. ich beschränke mich nicht darauf, nur die Marginalia zu instrumentalisieren (wie z. B. Kinzig10 und Kurt Nowak11 ), Ich zitiere nach den Seitenzahlen der 2. Auflage (1924) = Marcion2. Wolfram Kinzig, Ein Ketzer und sein Konstrukteur. Harnacks Marcion, in: Gerhard May/Katharina Greschat (Hrsg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung. Marcion and His Impact on Church History. Vorträge der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion, gehalten vom 15.–18. August 2001 in Mainz (TU 150), Berlin 2002, 253–274, hier 266: »Die Forderung der Beseitigung des Alten Testaments aus dem Kanon kommt nach allem, was wir bereits gehört haben, überraschend.« Vgl. die Monographie (s. o. Anm. 2), 89. 5 Kinzig, Harnack (s. o. Anm. 2), 103 Anm. 320. 6 Vgl. aaO. 145: »Die Ablehnung der Kanonizität des Alten Testaments entwickelt Harnack im Rahmen seiner Gnosis- und Marcionstudien und nicht in erster Linie in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskursen, sosehr diese ihn auch in seiner Argumentation bestärkt haben dürften.« 7 Vgl. aaO. 204 in der zusammenfassenden Beurteilung. 8 Die einzige Quelle ist Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, Berlin 1936, 317f. Von dort hat Heinrich Karpp seine Nr. 56a übernommen (Karl Holl. Briefwechsel mit Adolf von Harnack, Tübingen 1966). Kinzig, Harnack (s. o. Anm. 2), druckt das Brieffragment Seite 97 Anm. 292. 9 Kinzig, Harnack (s. o. Anm. 2), nennt vier Stellen und verweist auf alttestamentliche Predigten oder Andachten (vgl. aaO. 101). Er bringt auch einen Redebeitrag Harnacks im Anschluß an einen Vortrag Hermann Gunkels über »Die Frömmigkeit der Psalmen« am 4.10.1921 (vgl. aaO. 118f ). 10 »In dem hier gesteckten Rahmen kann es nicht darum gehen, Harnacks Marcionbild auf seine historische Zuverlässigkeit hin zu überprüfen« (Harnack, 42). 11 Der ganze Beitrag »Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistori3 4

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sondern ich sehe mir zuerst an, was und wer Marcion ist, den Harnack mit großer »persönlicher Hingabe«12 interpretiert und darstellt. Ich setze Ihnen also erst einmal eine größere Portion Marcion vor; dann kann ich profiliert beschreiben, was Harnack daraus gemacht hat, und erst darnach komme ich zum Stellenwert des Alten Testaments bei Harnack.

1. Marcion Wer war Marcion in seiner Zeit, also um die Mitte des 2. Jahrhunderts? Zu den NichtPatristikern könnte ich sagen: Gut, lesen wir Marcions Schriften und suchen wir sie im Kontext des 2. Jahrhunderts zu verstehen. Wer mit der Kirchengeschichte vertrauter ist, weiß, daß es mit dem Grundwissen der allgemeinen und politisch korrekten Bildung seine Tücke hat, weil es alles Verstehen totschlägt. Ich nehme als Beispiel für Grundwissen über Marcion, was sich bei Wolf-Dieter Hauschild anlernen läßt. Das Kapitel ›Marcion‹ beginnt mit den Worten: »Die Krise des Christentums im 2. Jahrhundert [...]«. Und die Überschrift nennt als Thema: »Rekonstruktion christlicher Identität.« Dazu in Fettdruck, der das Unterstreichen ersetzen soll und durch den die Merkvokabeln bezeichnet werden: reines Evangelium, Gegensatz zum Gesetz, Lehre des Paulus, Zwei-Götterlehre mit Weltschöpfer und Prinzip des Guten und neuer Bibelkanon. Im kleingedruckten Mehrwissenteil wird zusätzlich hervorgehoben: Der fremde Gott und der Gott des Gesetzes; und auch noch für das Auge: Ethik der Entweltlichung.13 Die genannten Schlagworte sind aber nicht vollkommen abwegig. Ich weise jedoch darauf hin, daß Gerhard May, der selber mehrere Quellenstudien zu Marcion14 vorgelegt hat, in der RGG (4. Auflage) dem Lernwilligen anderes bietet. Negativ: bei May kommt der Gegensatz von Evangelium und Gesetz nur am Rande vor; bei May wird eine Lehre des Paulus nicht genannt; bei May gibt es den »fremden Gott« nicht. Dagegen sprechen beide, May und Hauschild, von dem neuen Kanon. Bei May steht das Schlagwort: Erlösungsreligion, woran sich vieles über Marcions Beziehungen zu Gnosis und Philosophie anschließt. Aus dem Artikel von May kann man erahnen, welche Bedeutung der Rekonstruktion der Quellen für unsere Kenntnis über Marcion zukommt; bei Hauschild findet sich nichts zu der prekären Überlieferungsgeschichte. Wer war Marcion, der in die Mitte des zweiten Jahrhunderts gehört? ker«, in: Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker (VMPIG 161), Göttingen 2001, 189–237 (zur Marcionmonographie 228–237) sieht von jeglicher Kenntnis des Quellenmaterials, das Harnack bearbeitet, ab und begnügt sich mit Urteilen der zeitgenössischen Rezeption. 12 Vgl. Hans von Soden, Adolf von Harnacks Marcion, in: Deutsche Literaturzeitung 32 (1921) 695. – Vgl. ders., A.v. Harnacks Marcion, in: ZKG 40 (1922) 191–206, hier 200: »Ein knapper Bericht vermag das Kunstwerk einer mit allem Glanz Harnackscher Sprache überleuchteten, mit aller Wärme seiner unvergleichlichen Einfühlungsgabe durchgluteten Schöpfung nicht nachzuzeichnen.« 13 Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1. Gütersloh 1995, §2.6. 14 Vgl. Gerhard May, Marcion. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. v. Katharina Greschat u. Martin Meisner (VIEG. Beiheft 68), Mainz 2005.

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Zweifellos ist Rom der Ort, wo sich zwischen 140 und 150 n. Chr. eine eigene Kirchengründung durch Marcion vollzog, und diese Kirche hat sich fast blitzartig im Römischen Reich verbreitet. Unser ausführlichster Zeuge zu Marcion schrieb zwei Generationen später in Karthago: Tertullian, Gegen Marcion, in fünf Büchern, verfaßt zwischen 205 und 215 n. Chr. Vor ihm haben im 2. Jahrhundert zwölf Christen gegen Marcion gerichtete Widerlegungen verfaßt,15 wovon nur ›die Widerlegung aller Gnostiker‹ von Bischof Irenäus in Lyon erhalten ist (geschrieben etwa 185 n. Chr.); Tertullian hat diese Widerlegung gekannt; ob er auch andere gekannt hat, ist nicht nachweisbar, da er niemanden nennt und die anderen uns nur als Titel erhalten sind. Tertullian beginnt seine Widerlegung mit einer drastischen Beschreibung von Pontus, wo das Meer schwarz ist. Wilde Menschen leben dort in Wohnwagen. Sexuelle Promiskuität scheut nicht das Licht der Öffentlichkeit. Die Einwohner verspeisen ihre Verstorbenen auf Banquetten. Die Frauen zeigen sich Oben-Ohne, die Küchenarbeit verrichten sie mit Kriegsbeilen. Die Sonne dringt nur trübe durch den meist herrschenden Nebel, das ganze Jahr ist Winter. Aber nichts ist so barbarisch und niederschmetternd wie die Tatsache, daß im Pontus Marcion geboren wurde: ein wildes Tier, eine pontische Ratte, wie es gefräßiger keine gibt, da sie die Evangelien annagte. Diogenes mit seinem Hund habe am hellichten Tag mit der Lampe nach einem Menschen gesucht; Marcion dagegen lösche das Licht seines Glaubens und verlöre den Gott, den er gefunden hatte.16 – Offenbar ist Marcion für Tertullian ein sehr gefährlicher Gegner. Aber können wir von Tertullian verwertbare Informationen über seinen Gegner, Marcion, erwarten? Er verdreht ihm nicht nur das Wort im Munde, sondern baut seine Widerlegung auch nach eigenen Regeln auf und zwängt den Gegner in ein Schema, das es ihm erlaubt, ihn umso leichter abzuschlachten.17 Trotzdem: Tertullian besaß drei schriftliche Zeugnisse von Marcion, nämlich ein Schriftstück mit dem Titel »Antithesen«, dazu ein »Evangelium« und ein Dokument genannt »Das Apostolikon«.18 Das sind zehn Paulusbriefe, und das Evangelium ist das des Lukas; beide hat Marcion von Fremdzusätzen gereinigt. Marcion sah in dem Konflikt des Apostels Paulus mit den Pseudoaposteln in Antiochien den Ansatzpunkt, die Bezüge auf den Schöpfergott der jüdischen Bibel als verfälschende Interpolationen zu entfernen.19 Die »Antithesen« sollen, so sagt Tertullian, die Anleitung, ja Basis für das Verständnis des wiederhergestellten Evangeliums sein. Die »Antithesen«: Tertullian gibt uns diesen Titel; sie hätten zur Einführung und Glaubensfestigung bei den Marcioniten gedient.20 Tertullian kommt darauf durch seine 15 Die Angaben hat Harnack, Marcion2 (s. o. Anm. 1), in Beilage VI (314*f.) zusammengestellt. 16 Siehe Adversus Marcionem I 1. 17 Adv. Marc. I ist nach der Prinzipienlehre, die den allgemeinen Gottesbegriff festlegt, aufgebaut und will zeigen, daß Marcions neuer Gott dem allgemeinen Gottesbegriff nicht genügt. 18 Tertullian behauptet, auch einen Brief Marcions zu kennen; vgl. Harnack, Marcion2, 21*f. 19 Es ist bislang nicht geklärt, welche Bandbreite von Bedeutung für das Wort »Interpolation« angenommen werden kann. Dazu gibt Robert M. Grant, Heresy and Criticism, Lousville/Kentucky 1993 Anregungen, aber keine klare Antwort. Ich neige dazu, verfälschende Zusätze anzunehmen. Betreffs Marcion kann man sich nur auf entsprechende explizite Angaben bei Tertullian (und Epiphanius) stützen. 20 Adv. Marc. I 19,4: [...] nec poterunt negare discipuli eius quod in summo instrumento habent, quo

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prinzipielle Frage, wie sich der, der Gott ist, gottgemäß offenbaren muß, und konzediert den Marcioniten eine Antwort.21 Nach Tertullian resümieren die Marcioniten auf die Frage nach der Offenbarung ihres Gottes dies: »Ja doch, unser Gott hat sich nicht von Anfang an geoffenbart, auch durch kein Schöpfungswerk, sondern unser Gott hat sich selber geoffenbart in Christus Jesus.« Daraus dreht Tertullian den Marcioniten einen Strick, uns aber beglückt er mit einer Sachmitteilung. Der Strick ist eine Zeitberechnung. Denn im 15. Jahr des Kaisers Tiberius sei Christus aus dem Himmel herabgekommen, und nach 115 Jahren und 6 1/2 Monaten sei ihr Marcion unter Kaiser Antoninus Pius aufgetreten, sagen die Marcioniten. Nach unserer Rechnung wäre das Mitte 144 n. Chr. Also, folgert Tertullian, ist Marcions Gott erst 115 Jahre nach Christus geoffenbart, da ja Marcion ihn erst dann proklamiert habe. Tertullian ist sich seines Beweises sicher, weil – so formuliert er es – die Trennung von Gesetz und Evangelium (separatio legis et evangelii) allein Marcions Werk ist, welches die Grundurkunde mit dem Titel »Antithesen« darstellt. Noch weiter räsonniert Tertullian und sagt, daß die »Antithesen« kontradiktorische Gegenüberstellungen seien. »Diese Gegenüberstellungen sollen den Gegensatz des Evangeliums zum Gesetz belegen, so daß aus dem Unterschied der Grundsätze zwischen den beiden Urkunden auf den Unterschied der Götter geschlossen werden muß.« Vereinfacht gesagt: Der Gott des Gesetzes hat eine Bibel, und der Gott des Evangeliums hat eine Bibel. Irgendwie führen die »Antithesen« vor, daß sich diese beiden Bibeln gegenseitig ausschließen und sich also auch die beiden Götter, die sich in ihnen offenbaren, gegenseitig ausschließen und einander entgegengesetzt sind. Die »Antithesen« könnten die einfache Form gehabt haben wie z.B. »Im Gesetz steht: Auge um Auge und Zahn um Zahn; der gute Herr sagt: wenn dich jemand auf die Backe schlägt, halte ihm auch die andere hin.«22 Bei Tertullian steht einmal als Antithese tituliert: Der Schöpfer schickte die Kinder Israels mit dem geraubten Silber und Gold in die Wüste (Ex 12, 34–36), Christus dagegen wies die Jünger an, keinen Stab auf den Weg mitzunehmen (Lk9, 3).23 Unbekannt ist uns bis heute, ob der Gegensatz ausgeprochen und formuliert wurde oder ob er sich aus der Gegenüberstellung von Zitaten ergab. Das braucht uns aber jetzt nicht zu interessieren, vielmehr ist zu fragen, auf welcher Ebene der Gegensatz gedacht werden sollte. Es hieß ja: der Gegensatz ist der Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium. Dazu geben sowohl Tertullian als auch sein Vorgänger Irenäus als auch später Origenes genügend Fingerzeige. Der Hinweis lautet: Das Gedenique initiantur et indurantur in hanc haeresim. Seit Harnack dazu schrieb: »ein für die Gemeinde maßgebendes Werk, also ihr symbolisches Buch« (Marcion2, 76), ist der Ausdruck »symbolisches Buch« oft wiederholt oder oft kritisiert worden. Vgl. René Braun, Tertullien: Contre Marcion. Tome I. Introduction, texte critique, traduction et notes (SChr 365). Paris 1990, note complémentaire 17: in summo instrumento. 21 Die Frage steht Adv. Marc. I 17,4; die Antwort der Marcioniten wird von Tertullian formuliert in I 19,1. Die folgenden Zitate zu den›Antithesen‹ aus I 19,4. 22 Entnommen aus dem ›Dialog des Adamantius‹ (ed. W.H. van de Sande Bakhuyzen, GCS 4, 1901) p. 32, 3–6; bei Harnack, Marcion2, 280*f. Vgl. dazu Kenji Tsutsui, Die Auseinandersetzung mit den Markioniten im Adamantius-Dialog. Ein Kommentar zu den Büchern I–II (PTS 55), Berlin 2004, 170f. Der Adamantius-Dialog ist in die 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts zu datieren. 23 Adv. Marc. IV 24,1; Harnack, Marcion2, 280*; vgl. Tsutsui, 153ff.

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setz ist das Attribut des richtenden Gottes, und das Evangelium ist die Offenbarung des guten Gottes. An erster Stelle steht also das Gesetz, das Richten und Herrschen durch das Gesetz. Es ist die Unterscheidung zwischen dem gerechten Gott und dem guten Gott, ausführlicher: gerecht und Gerechtigkeit, Gesetz und Richten sind der Gegensatz zum guten Gott. Wir haben in der Überlieferung der antimarcionitischen Literatur fast nur die Negativseite, selten die gegenübergestellte Evangeliumsseite. Jedenfalls war die Negativseite so eindeutig aufgestellt, daß von Irenäus bis Origenes das große Thema anstand und behandelt wurde: Gott ist gerecht und gut; kein Gutsein ohne Gerechtigkeit und Richten. Milde klingt noch Tertullians Widerspruch gegen das uneingeschränkte Gutsein von Marcions Gott, wenn der Gegensatz von Nächstenliebe zur Feindesliebe rational wegerklärt wird: erst das, was geschuldet ist, sagt Tertullian, dann das größere Gutsein in der Feindesliebe.24 Milde klingt auch noch, wenn Tertullian das Gutsein von Marcions Gott zum Selbstwiderspruch führt, da dieser Gott dann doch alle retten müsse – und da das nicht als Effekt (wohl als Verkündigungsauftrag) behauptet werde, eben doch dem Gott auch das Richten zugeschrieben werden müsse.25 Über Marcions guten Gott wurde gesagt, Marcion entferne von Gott alle Affekte und deswegen sei Marcions Gott mit dem Gott der Philosophen zu identifizieren und das laufe auf die Gottlosigkeit Epikurs hinaus.26 Der Topos, der hier angesprochen wird, bedarf einer Monographie. Ich notiere, auf welche Differenzierungen zu achten ist. Die Kenntnis von Max Pohlenz, Vom Zorne Gottes. Eine Studie über den Einfluß der griechischen Philosophie auf das alte Christentum (FRLANT 12), Göttingen 1909 ist geboten. 1.) Tertullian vergleicht Marcions guten Gott, dem die oben nachgenannten Eigenschaften fehlen, in Adv. Marc. I 25 mit dem Gott Epikurs; es sei ein »untätiger und starrer Gott«, der, »weil er glücklich und unvergänglich ist, weder sich noch einem anderen Beschwerlichkeiten bereitet«. An anderer Stelle sagt Tertullian, daß Marcions Gott »der Gott der Philosophen« sei (II 27,6). In dem früheren Traktat De praescriptione haereticorum 7,3: Inde Marcionis deus, melior de tranquillitate: a Stoicis venerat. a) Der Vorwurf Tertullians, mit Epikur übereinzustimmen, ist zur Polemik genutzt. Epikur: »Das Glückliche und Unvergängliche belästigt weder sich noch andere; es ist also frei von Regungen des Zorns oder der Begünstigung, da solche Regungen Schwäche implizieren« (Τὸ μακάριον καὶ ἄφθαρτον οὔτε αὐτὸ πράγματα ἔχει οὔτε ἄλλῳ παρέχει, ὥστε οὔτε ὀργαῖς οὔτε χάρισι συνέχεται· ἐν ἀσθένειᾳ γὰρ πάντα τὰ τοιαῦτα, Ratae Sententiae 1; in Latein bei Cicero, De natura deorum I 45: [...] quod beatum aeternumque sit id nec habere ipsum negotii quicquam nec exhiberi alteri, itaque neque ira neque gratia teneri, quod quae talia essent inbecilla essent omnia). Hinzuzufügen ist Seneca, De beneficiis IV 19,1: Deos nemo sanus timat; furor est enim metuere salutaria, nec quisquam amat, quos timet. Tu denique, Epicure, deum inermem facis [...], so daß er nicht schaden könne und auch nicht zu fürchten sei. Tertullian ist polemisch, insofern er Marcions gutem Gott auch das Gutsein für die Zeit bis zu seiner Offenbarung abspricht; dann aber habe Marcions Gott den Willen und Affekt zur Güte gehabt und so sei sich Marcion selber untreu geworden. 24 Adv. Marc. I 23. 25 Adv. Marc. I 24. 26 Adv. Marc. I 25.

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Übrigens stellt Laktanz, De ira dei (vgl. cap 4 und 15) den Epikur vor mit der Ansicht, daß Epikur sowohl Zorn als auch Güte in Gott verwerfe, damit Gott nicht zu fürchten sei. b) Für die Stoiker gilt wie für die Epikureer, daß die Gottheit nicht zu fürchten ist, weil sie überhaupt nicht Schaden zufügt und kein Zorn ihr eigen ist. Zwei Belege mögen den Rahmen abstecken. Plutarch, De communibus notitiis 32 (1075 E, teils in SVF II 1126): »Die Stoiker wenden sich gegen Epikur, lassen fast nichts von seinen Schriften übrig und schreien: O weh, O weh!, weil er die Vorstellung der Götter vernichtet, wenn er die Vorsehung aufhebt. Denn Gott ist nicht nur unsterblich und glücklich vorzustellen und zu denken, sondern auch menschenfreundlich und fürsorglich und nützlich. Das ist die Wahrheit.« Seneca, Ep. 95,48f.: Gott muß man sich als den einprägen, »der alles hat, alles zuteilt, gütig ist umsonst. Warum erweisen die Götter Wohltaten? Es entspricht ihrem Wesen. Es irrt, wer meint, sie wollten nicht schaden; sie können es gar nicht. Unrecht können sie nicht erleiden und auch nicht tun; verletzen und verletzt werden sind nämlich verbunden« ([...] Nec accipere iniuriam queunt nec facere: laedere etenim laedique coniunctum est). Laktanz beschreibt die stoische Ansicht in den Standardformulierungen, die auch bei Seneca und Tertullian erscheinen: »Die Stoiker und einige andere gelten dafür, eine bessere Auffassung von der Gottheit zu besitzen, weil sie sagen, in Gott sei Gnade aber kein Zorn. Das ist eine ganz gefällige und einnehmende Behauptung: bei Gott gebe es diese kleinliche Gesinnung nicht, daß er, der nicht beleidigt werden kann, sich für beleidigt von irgend jemand halten könnte; daß seine ruhige und heilige Majestät in Erregung, Verwirrung und Wut geraten könnte, die doch nur irdischer Gebrechlichkeit zukommen. Denn der Zorn sei eine Bewegung und Verwirrung des Geistes, die Gott fremd sei« ([...] Stoici [...] qui aiunt gratiam in deo esse, iram non esse. favorabilis admodum ac popularis oratio, non cadere in deum hanc animi pusillitatem, ut ab ullo se laesum putet qui laedi non potest, ut quieta illa et sancta maiestas concitetur [...]; De ira dei 5, 1–2.)27 Die Forschung schließt eine Kenntnis von Marcion und Tertullians antimarcionitischen Schriften aus. – Tertullians Urteil, daß Marcion Übereinstimmungen mit stoischer Lehre zeige, ist nicht falsch; über eine Abhängigkeit Marcions ist damit aber noch nichts entschieden. c) Vom Gott der Philosophen gilt, daß er leidenschaftslos ist. »Was ihr also als würdig fordert, befindet sich im unsichtbaren, unzugänglichen und friedsamen Vater und sozusagen im Gott der Philosophen [...]« (Adv. Marc. II 27,6). Dafür bedarf es keiner Belege; es möge hier das Zitat aus Pohlenz (aaO. 7) stehen: »Die Wohnsitze der Götter denken sich die Dichter ungetrübt und unerschüttert von Wolke und Wind. Ist’s da nicht ein Widersinn, wenn sie die Götter selber als voll von Untreue, Haß, Zorn und allen möglichen Leidenschaften schildern? (Plutarch, vita Percl. 39).« Dazu auch Cicero: [...] commune est omnium philosophorum, non eorum modo, qui deum nihil habere ipsum negotii dicunt, nihil exhibere alteri, sed eorum etiam, qui deum semper agere aliquid et moliri volunt, numquam nec irasci deum nec nocere (De officiis III 102). Sextus Empiricus kann festhalten: καὶ παρ’ ἡμῖν μὲν συνήθεια ὡς ἀγαθοὺς καὶ ἀπαθεῖς κακῶν σέβειν τοὺς θεούς [...] (Pyrrh. I 154). 2.) Marcion stufte den Gott der jüdischen Bibel als gerecht ein und verband damit die Tätigkeit des Gesetzgebers und des Richters, der Strafen zumißt; für Marcion gehört zum Richten der Beweggrund des Zornes. Dazu waren unterschiedliche Ansichten von philosophischer Seite im Umlauf. a) Bei Seneca liest sich das so gegen die Furcht vor den Göttern: Die Götter erhalten das Menschengeschlecht durch ihre schützende Macht, durch ihre Güte. »Diese tun nichts 27 Übersetzung aus Antonie Wlosok u. Heinrich Kraft: Lactantius, De ira dei. Vom Zorne Gottes, lateinisch u. deutsch, Darmstadt 1957 u. ö.

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Böses noch besitzen sie Böses; im übrigen züchtigen sie einige, zügeln sie und verhängen Strafen, manchmal strafen sie unter dem Anschein des Guten« (ep. 95,50). Die vortrefflichen Menschen erziehe Gott wie die strengen Väter (De providentia 1,5). Strafe gibt es, aber sie soll derart bemessen sein, daß sie ihr Ziel, die Besserung, erreicht; Abschreckung, wohl dosiert, ist nicht ausgeschlossen (vgl. De clementia I 22–23). Bei Seneca darf ein Richter nur ohne Zorn, auch ohne Zorn über die Gesetzesverletzung, handeln. Wie die nötige Medizin soll ein Richter die Strafen anwenden, streng aber nicht erzürnt (De ira I 14–16). Zorn ist beim Richten und Strafen als eine unvernünftige Seelenregung, die grundsätzlich maßlos sei, auszuschließen (gegen die Peripatetiker Cicero, De officiis I 25,88–89; Seneca, De ira I 9). – Marcions guter Gott stellt sich dem Bösen entgegen dadurch, daß er es nicht will und verbietet (Tertullian schreibt Adv. Marc. I 27,1: Sed iudicat plane malum nolendo et damnat prohibendo, dimittit autem non vindicando et absolvit non puniendi.). Es gibt also die Ansicht, daß das Richten und Bestrafen nicht die zornige Erregung über das Verbrechen voraussetzt, wie im menschlichen Bereich so auch bei den Göttern. Allerdings muß die Furcht vor dem, der die Strafe verhängt, eingeschlossen werden; denn erziehend wirkt die Strafe ja nur, weil jemand sich vor dem Übel, das Schmerz verursacht, fürchtet und er es deshalb vermeiden will. Seelengericht nach Platon und Vorsehung (providentia) implizieren die Furcht vor Strafe. b) Die Ansicht, daß zum Richten und Strafen der Zorn vorausgesetzt werden muß, ist schwer zu lokalisieren. Angenommen wird dabei, daß Vergeltung Strafe ist und Zorn als Antrieb zum Bestrafen aufgefaßt wird. Seneca berichtet davon und weist die Ansicht ab (De ira I 3,3; 9; 14,1). Pohlenz nennt attische Redner (Vom Zorne Gottes, 15 Anm. 3). Laktanz hat vom »gerechten Zorn« gesprochen (De ira 17,15ff ); Atquin nullus est qui peccantem possit videre tranquille (18,1). Antonie Wlosok hat gezeigt, daß sowohl Tertullian wie auch Laktanz an römische Gottesvorstellungen anknüpfen: pater et dominus, gütig und zornig, begünstigend und bestrafend;28 – Marcions Richtergott nach der Bibel der Juden konvergiert in mehreren Askepten mit den heidnischen Volksgöttern. Die jüdische Bibel (das Alte Testament) ist Marcions alleinige Quelle, aus der er sein Bild entnahm. Zusatz: Erklärungsbedürftig ist Tertullians Aussage, daß Marcion seinem Gott, wenn er ihn als Richter zuließe, die Instrumente seines Richteramtes, welche sind die seelischen Antriebe, nicht verweigern dürfe. Tertullian fährt fort: »Wir werden über Gott von den Propheten und von Christus unterrichtet, nicht von den Philosophen und nicht von Epikur. Wir glauben, daß Gott auf Erden weilte und die Niedrigkeit menschlicher Gestalt um des Heils des Menschen willen annahm; deswegen sind wir von der Lehre derer, die Gott sich um nichts kümmern lassen wollen, weit entfernt. Von dort kam auch zu den Häretikern dieses Argument: ›Wenn Gott zürnt, eifert, gereizt und erbittert ist, wird er auch zunichte werden, also sterben‹« (Adv. Marc. II 16,2–3). Das ganze Argument müßte fortgesetzt werden: ›Aber der gute Gott ist ewig; also zürnt etc. er nicht.‹ Ich halte Tertullians Vorführung für einen Einfall, nicht für ein Zitat aus Marcions Antithesen. Man könnte allerdings an den Markionschüler Apelles denken, der ein derartiges Argument gegen den Schöpfergott formuliert habe. Das Argument selbst stammt in seiner Struktur von Karneades, vgl. Sextus Empiricus, Adv. math. IX 137–170, Grundfigur in 141 (wo Affekte sind, ist die Veränderung bis zum Vergehen gegeben); vgl. auch Cicero, De natura deorum III 32. Max Pohlenz (aaO. 21f ) 28 Vgl. Antonie Wlosok, Römischer Religions- und Gottesbegriff in heidnischer und christlicher Zeit (1970), und dies., Vater und Vatervorstellungen in der römischen Kultur (1978), in: A. Wlosok, Res humanae – res divinae. Kleine Schriften, hrsg.v. Eberhard Heck u. Ernst A. Schmidt (BKAW 2. Reihe, Bd. 84), Heidelberg 1990, 15–34 u. 35–83.

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hielt das Argument für eine Debatte, die die Stoiker (Poseidonius) um die Unsterblichkeit der Seele fortführten; weil Marcion das Argument benutzt habe, sei er von stoischer Philosophie abhängig. Harnack zog aus dieser Tertullianstelle in seiner Preisschrift (1870) den klaren Beweis, daß Marcion einen philosophischen Gottesbegriff, den durch Negationen bestimmten, voraussetze (vgl. 207 und bes. 292–293 in der Edition von F. Steck, s.u. Anm. 36). Harnack wiederholte die Behauptung eines philosophischen, d. i. metaphysischen Gottesbegriffs bis hin zur 4. Auflage seines Lehrbuchs der Dogmengeschichte (1909 = 1931, Bd. I, 299). In der Marcion-Monographie (1921 u. 1924) ist die genannte Tertullianstelle nicht zu finden, von dem philosophischen Gott der Apathie ist auch nichts mehr zu finden. Harnack hatte entdeckt, daß der Gott Marcions »der fremde Gott« ist; vgl. Anm. 38.

Tertullian bringt vor, daß ein derartiges Gutsein Gottes sogar das Gegenteil von gerecht sei, nämlich ungerecht. Er sagt, daß die Marcioniten ihrem Gott alle Affekte absprächen und sie auf den Schöpfergott übertrügen. Welche Affekte sind durch reines Gutsein ausgeschlossen? »Regungen der Härte und richtende Gewalttätigkeiten.«29 Eifernd, streitsüchtig muß Gott sein – gegen die Bösen natürlich. Tertullian zählt auf, was Gott bewegen muß: »Zorn, Streitlust, Haß, Verachtung, Gereiztheit, Wut, Unwillen, Ärger.«30 Diese Negativliste hat Marcion aufgestellt. Eingesetzt vom richtenden Gott, sagt Tertullian, zum Guten des Menschen als Erziehung durch Furcht vor Strafe, zur Furcht vor Gott. Damit kommt Tertullian zu einer grundsätzlichen Liste über die gegensätzlichen Götter, wie sie Marcion aufgestellt habe, und zwar in dieser Reihenfolge: »Richter, grausam, kriegslüstern;« und der andere Gott: »milde, friedfertig und nur gut und supergut.«31 Auch Irenäus berichtete schon: der Gott des Gesetzes und der Propheten sei nach Marcion der Erschaffer von Übeln, unbeständig in seinem Urteil und sich selber widersprechend.32 Die Marcioniten wußten wohl das Zitat aus Jesaja45, 7 zu zitieren: »Spricht der Gott: Ich bin es, der Frieden gibt und die Übel schafft.«33 Ja, sagen Marcions Gegner, wie der Arzt braucht ein richtender Gott aus Güte die schar29 Adv. Marc. I 25,3: Marcion removit ab illo severitates et iudiciarias vires. 30 Adv. Marc. I 25,6: Porro nihil sine aemulatione decurret, quod sine adversario non erit. Denique volens et concupiscens et curans hominem liberare, hoc ipso iam aemulatur et eum, a quo liberat, adversus eum scilicet liberaturus, et ea, de quibus liberat, in alia liberaturus. Proinde autem aemulationi occurrant necesse est officiales suae in ea, quae aemulatur: ira, discordia, odium, dedignatio, indignatio, bilis, nolentia, offensa. – Ich hätte ›zealous‹ statt ›jealous‹ schreiben sollen: Marcion’s Jealous God (1979), in: Ekkehard Mühlenberg, Gott in der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze zur Kirchengeschichte, hrsg. v. Ute Mennecke u. Stefanie Frost (AKG 110), Berlin 2008, 163–180. Vgl. Barbara Aland, Sünde und Erlösung bei Marcion und die Konsequenz für die sog. beiden Götter Marcions, in: Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung, aaO. (s. o. Anm. 4) 147–157. 31 Adv. Marc. I 6,1: [...] tamquam de duobus paribus de his retractavimus, nihilominus tamen docendo pares esse non posse secundum summi magni formam satis confirmavimus duos esse non posse, alioquin certi Marcionem dispares deos constituere, alterum iudicem, ferum, bellipotentem, alterum mitem, placidum et tantummodo bonum atque optimum. 32 Adv. haer. I 27,2: [...] Marcion Ponticus [...] impudorate blasphemans eum qui a lege et prophetis adnuntiatus est Deus, malorum factorem et bellorum concupiscentem et inconstantem quoque sententia et contrarium sibi ipsum dicens. – Nach Irenäus vergröbert Marcion die Lehre von Cerdo, der sagte: alterum quidem iustum, alterum autem bonum esse (27,1). 33 Vgl. Tertullian, Adv. Marc. II 14,1.

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fen Instrumente.34 Was Marcion Unbeständigkeit nannte, sind eben einschneidende Erziehungsmaßnahmen, je nach Situation pädagogisch dosiert – umfassend der Heilsplan. Gegen Marcion vindiziert die katholische Abwehr die Negativeigenschaften für den christlichen Gott und malt die Grausamkeiten aus. Dafür, wie Marcion den richtenden Gott mit dem Schöpfer verbindet, ist die Überlieferungs- und Erkenntnislage unklar. Deutlich ist, daß der Schöpfergott nur irdische Güter verspricht, ja auch nur irdische Güter vergeben kann. Deutlich ist auch, daß der Schöpfergott sich die Juden auserwählt hat und für die Juden einen Messias, einen Christus, schicken wird, der für sie ein irdisches Reich durch Krieg aufrichten wird. Marcion nenne die Schöpfung schlecht; es gibt keine Überlieferung, die zuverlässig über das Argument Marcions berichtet. Es gibt in diesem Zusammenhang Hinweise auf eine Sichtweise, die mit Argumenten der akademischen Skepsis gegen den vernünftigen Kosmos der stoischen Philosophen analog geht, z.B. das Vorhandensein von Ungeziefer in der Welt. Über Stimmungen, die gnostischen Spekulationen über den bösen Demiurgen nahe kommen, will ich hier nichts weiter ausführen. Aber hinzufügen muß ich noch einen Gedanken, eine sozusagen systematische Überlegung. Marcion hat laut Tertullian das Gutsein Gottes so charakterisiert: Gutsein, das ist sich aus eigenem Antrieb und frei ausschütten ohne eine verwandtschaftliche Verpflichtung, also an Fremde.35 Dieser Gedanke schließt aus, daß der gute Gott vor Christus bekannt war, wie ebenfalls ausgeschlossen ist, daß der gute Gott irgendeine Beziehung zum Schöpfergott hat. Die Menschen waren Fremde, deren er sich erbarmte, und dieser Gott war den Menschen fremd, bevor er sich in Christus Jesus offenbarte.

34 Vgl. Origenes, In Ieremiam hom. X 5 und XII 5. 35 Adv. Marc. I 23,3: Scio dicturos atquin hanc esse principalem et perfectam bonitatem, cum sine ullo debito familiaritatis in extraneos voluntaria et libera effundatur, secundum quam inimicos quoque nostros et hoc nomine iam extraneos diligere iubeamur.

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2. Adolf von Harnacks Marcion Was hat Harnack aus Marcion gemacht?36 Einige, oder besser: die Mehrzahl der Arbeiten seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sagen sich von Harnack los.37 Theologen huldigen einem geistesgeschichtlichen Darwinismus und behaupten, daß Marcion eine unbedeutende Stimme war in der Entwicklung, die ohnehin auf dem Weg zur der Kirchengestalt war, die wir mit dem Schlagwort katholisch oder altkatholisch bezeichnen können, d. i. Kirche um 200 n. Chr., die Harnack mit den drei B charakterisierte (Bibel, Bekenntnis, Bischof ). Harnack überschrieb sein Buch: »Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche« (1921 und 1924). Harnack schildert Marcion als einen Religionsstifter, der eine Linie fortgeführt und zum Abschluß gebracht habe: Propheten – Jesus – Paulus und dann Marcion.38 36 Harnack hat seine erste wissenschaftliche Arbeit über Marcion geschrieben. Sein zweites Studienjahr (1870) in Dorpat widmete er der Preisaufgabe: Marcionis doctrina e Tertulliani adversus Marcionem libello eruatur et explicetur, beendete sie am 8. November 1870 und erhielt den Preis. Das handgeschriebene Exemplar (478 Textseiten) wurde von Friedemann Steck im November 2000 gefunden und von ihm kritisch ediert, versehen mit einer historischen Einleitung: Adolf Harnack, Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator. Die Dorpater Preisschrift (1870) (TU 149), Berlin 2003. Harnacks weitere Veröffentlichungen über Marcion sind der Artikel »Marcion and the Marcionite Churches« in: Encyclopaedia Britannica, 9. Auflage, vol. XV (1883) 533–535, und Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. I (Freiburg i.Br. 1886), 197–214 (im Prinzip unverändert bis zur letzten Durchsicht (19094 = 19315, 292–309). W. Kinzig (s. o. Anm. 2) hat detailliert »Die Genese des Marcionbildes bei Harnack« von der Preisschrift bis zu den letzten Veröffentlichungen nachgezeichnet (43–108); was er nicht als explizit neu in der Monographie von 1921 herausstellt, findet sich bei mir s. o. 557f. und in den Anmerkungen 46; 38; 48. Hinzuweisen ist auch darauf, daß Harnack ein pharisäisches Verständnis des Gesetzes erst in der Monographie völlig ausklammert; anders noch Lehrbuch I (4. Auflage) 307. 37 Vgl. Michel Tardieu, Marcion depuis Harnack, in: Adolf von Harnack, Marcion. L’évangile du Dieu étranger. Traduit par Bernard Lauret et suivi de contributions de Bernard Lauret, Guy Monnet et Émile Poulat. Avec un essai de Michel Tardieu, Marcion depuis Harnack. Paris 2003, 419–561 (mit einer vollständigen Bibliographie bis zum Jahr 2001). 38 Neu ist die Qualifizierung Marcions als eines Religionsstifters; in allen früheren Darstellungen sagte Harnack, er sei ein Reformator. Harnacks Gedanke kann an folgenden Sätzen veranschaulicht werden, die in dem Beitrag von 1910: Hat Jesus das alttestamentliche Gesetz abgeschafft? (Reden und Aufsätze. Neue Folge. Zweiter Band, Gießen 1911, 227–236, hier 235) stehen: Jesus habe in seiner Lehre das Gesetz nicht abgeschafft, aber Paulus war einer seiner wahren Schüler, »wenn er lehrte: ›Christus ist des Gesetzes Ende für jedermann, der da glaubt‹. So weit mußte es kommen. Das Gesetz mußte abgeschafft werden. Und der Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen, der in den Worten ausgedrückt ist: ›Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden‹, mußte klar erkannt werden. Das Reis, das Jesus auf den alten jüdischen Stamm gepfropft hatte, mußte den Verfall des Judentums und das Aufkommen einer neuen Religion, der Religion Jesu Christi, zur Folge haben. ›Das Gesetz ist von Moses gegeben, aber die Gnade und Wahrheit kam durch Jesus Christus‹. Diese Erkenntnis ist der Schlüssel zu der Entwicklung im apostolischen Zeitalter.« Marcion ist nicht genannt, aber die Marcion-Monographie von 1921 setzt hier an: neue Religion. – Die Monographie von 1921 ist darin genial und grundsätzlich von den vorausgehenden Marcioninterpretationen unterschieden, daß Marcions Gedanken aus einem einheitlichen Ansatz heraus dargestellt werden. Harnack legt Marcions ›religiöse Erfahrung‹ zugrunde, wie er sie in die geschichtliche Situation der

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Drei Punkte sind an diesem End- und Höhepunkt nach Harnack erreicht: Erstens habe Marcion »die Religion der Innerlichkeit bis zur äußersten Konsequenz vollendet«.39 Das gelte, weil Marcion in Gott den Fremden erlebte, einen Fremdling auf Erden. Zweitens habe Marcion gegenüber den synkretistischen Elementen im Christentum »die Simplizität, Einheitlichkeit und Eindeutigkeit des Christlichen« erkannt und die praktischen Konsequenzen daraus gezogen.40 Dabei ist die Abwerfung des Alten Testaments, das mit Gesetz und Schöpfungsgeschichte und Spätjudentum Synkretismus förderte, ein wesentlicher Gesichtspunkt. Drittens habe Marcion erkannt, daß das Zentrum des christlichen Glaubens Erlösung und nichts als »Erlösung vom Weltschöpfer und vom Gesetzesgott« ist. Damit habe er die dialektischen Mehrdeutigkeiten des Apostels Paulus negiert; denn Paulus habe noch den Schöpfer, den Gesetzgeber und den zürnenden Gott aus seiner jüdischen Bibel gegen seinen christlichen Jesus beibehalten.41 Alle Züge von Religion, echter Religion, waren in Marcions Einsichten gegeben: Innerlichkeit, paradoxe Einfachheit und erlösende Liebe. Nach dieser Einleitung beschreibt Harnack, was der Ausgangspunkt Marcions gewesen sei. Paulus! Bei Paulus habe Marcion den Gegensatz von Gesetz und Evangelium gefunden. Das mag stimmen. Harnack erläutert aber diesen Gegensatz als einen Gegensatz zwischen »übelwollender, kleinlicher und grausamer Strafgerechtigkeit einerseits und barmherziger Liebe andererseits«. Wie Marcion diese Interpretation aus Paulus herausgelesen hat, weiß Harnack nicht zu sagen. Es sei eine »Steigerung« aller religiösen Antithesen bei Paulus, im Ergebnis weit von Paulus entfernt.42 Später hat Harnack präzisiert, daß die historische Anknüpfung an Paulus nur eine der drei Neuheiten, die Marcion brachte, gewesen sei, nämlich die »Umschaffung der Menschen von schlechten zu guten durch den Glauben«; bei Paulus stand zu zu lesen: »Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden« (2 Kor5, 17).43

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Christenheit um 140 n.Chr. einzeichnen kann (vgl. das Kapitel »Einleitung«). Marcions Gedanken erscheinen dann als Exponate seines religiösen Bewußtseins. Ich zitiere zwei Belege. »(Marcion) hatte Gott an der Erscheinung Jesu Christi ganz und ausschließlich als Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes kennen gelernt und war gewiß, daß keine andere Aussage über ihn gültig, ja daß jede andere der schwerste Irrtum sei. Daher verkündigte er diesen Gott konsequent und ausschließlich als den guten Erlöser, zugleich aber als den Unbekannten und als den Fremden« (Marcion2, 4). Wenn am Evangelium erfahren wird, daß Religion Erlösung ist (vgl. Marcion2, 94f.), dann gilt: »Der christliche Gottesbegriff muß daher ausschließlich und völlig restlos nach der Erlösung durch Christus festgestellt werden. Also kann und darf Gott nichts anderes sein als das Gute im Sinne der barmherzigen und erlösenden Liebe. Alles übrige ist streng auszuscheiden: Gott ist nicht der Schöpfer, nicht der Gesetzgeber, nicht der Richter, er zürnt und straft auch nicht, sondern er ist ausschließlich die verkörperte, erlösende und beseligende Liebe« (Marcion2, 19). Als Kontrast vgl. die Unausgeglichenheit in der Marciondarstellung im Lehrbuch der Dogmengeschichte unter den Punkten 1 bis 3 (1. Aufl. 201–206 = 4./5. Aufl. 296–302). Marcion2, 5. Marcion2, 18. Marcion2, 18–20. Marcion2, 30. Harnack, Die Neuheit des Evangeliums nach Marcion, in: Die Christliche Welt 43 (1929) 362–

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Das mit dem »Glauben«, das steht zweifellos bei Paulus zu lesen; bei Marcion hat aber Harnack nichts über »Glauben« nachweisen können, und ich habe auch in der Marcionüberlieferung nichts gefunden. Über die Art und Weise der Aneignung des Evangeliums ist generell bisher nichts Verwertbares entdeckt worden. Richtig jedoch ist von Harnack erkannt und mit persönlicher Hingabe ausgemalt worden: Der Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium war nach Marcion ein »Religionsprinzip«. Und so stimmt Harnacks Formulierung in Sperrdruck: »Das Religionsprinzip, welches in dem Gegensatz von Gesetz und Evangelium alle höhere Wahrheit zusammenfaßt, ist auch das Prinzip der Erklärung des gesamten Seins und Geschehens.«44 Marcion setzt mit Gesetz und Evangelium je einen Gott. Und das Gesetz der richterlichen Strafgerechtigkeit ist ihm das Geschehen in der Welt, dessen Schöpfer der Juden Gott ist. Harnack zeichnet überzeugend nach, daß Marcion das Gesetz und dessen Gott aus dem Evangelium heraustrennen wollte und daß ihm für das vom richtenden Gott befreite Evangelium Paulus der Apostel war. Nun zeigt sich aber doch ein blindes Auge bei Harnack. Trotz aller Unterscheidung von Gesetzesmoral und Religion wittert er doch noch Ethik. In doppelter Weise äußert sich diese Voreingenommenheit. Erstens darin, daß der Schlüssel zur Erklärung des Seins durch Gesetz und Evangelium eine »ethische Metaphysik« sein soll. Harnack beschreibt Marcion als einen Religionsstifter, weil Marcion »die Religion der Erlösung und Innerlichkeit in einer nicht zu überbietenden Weise zur alles bestimmenden ethischen Metaphysik« gesteigert habe.45 Man hört wohl richtig ein Echo von Kant, wenn das Evangelium vom guten Gott zum metaphysischen Prinzip des Guten erhöht wird. In dieser Sicht ist die bedingungslos vergebende Liebe einerseits ins Abstrakte verdünnt, andererseits kategorial verkrustet. Eigentlich will Harnack das nicht; denn es liegt ihm so viel an der Predigt vom sich erbarmenden Vater im Himmel.46 Das Gute zu tun ist eine selbstverständliche Folge bei dem Menschen, der »von der barmherzigen Liebe ergriffen und ihr sich im Glauben« hingibt.47 Die zweite Konsequenz seines blinden Auges ist die langatmige Insistenz auf dem Nachweis, daß Marcion das sittlich Gerechte habe gelten lassen müssen und daß Marcion deswegen einen doppelten Begriff von »gut« habe, einen moralischen und einen

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370, hier Spalte 365 (aufgenommen in: Adolf von Harnack. Aus der Werkstatt des Vollendeten, als Abschluß seiner Reden und Aufsätze hrsg. v. Axel von Harnack. Gießen 1930, 128–143). Die erste Neuheit ist, daß nach Marcion Christi Botschaft vom fremden Gott unvergleichlich neu war; die zweite Neuheit ist die Verkündigung vom schlimmen Weltschöpfer. Marcion2, 30. Marcion2, 31. Im Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. I (19094 = 19315), 298f. stellte Harnack noch einen Widerspruch bei Marcion fest: »In der That scheint nun auch M. der Eigenschaft der Liebe und der Zornlosigkeit des guten Gottes die Wendung gegeben zu haben, dass er das apathische, von allen Affekten freie, unendlich erhabene Wesen sei. Der Widerspruch, in den sich M. hier gestürzt hat [...]«. Marcion2, 135f: Marcion empfinde keine Nötigung für die Gläubigen, »die ›Moral‹ eigens noch zu begründen. Von der barmherzigen Liebe ergriffen und ihr sich im Glauben hingebend, ist der Erlöste in eine Sphäre erhoben, an welche Schmutz der Materie und inferiore Legalität nicht heranreichen [...]«.

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religiösen.48 Das Moralgesetz sei auch bei Marcion gut und gerecht. Das ist jedoch bei Marcion nicht zu belegen.49 Harnack sagt deswegen, daß die Art und Weise, wie der richtende Schöpfergott das Gesetz handhabt, bei Marcion der Gesetzesherrschaft eines orientalischen Despoten gleiche.50 Marcion ist hier grundsätzlicher, und man muß nach den Erklärungsanalogien suchen, die Gerechtigkeit in ihrer Widersprüchlichkeit erkennen. Solche Analogien gibt es (Karneades, Ptolemäus – auch Cicero und Seneca).51

3. Zur Stellung des Alten Testaments. Es ist eindeutig, daß Marcion das Alte Testament als Quelle der christlichen Gotteserkenntnis verworfen hat. Nun sollte man aber nicht sagen: Altes Testament. Denn dieser Begriff ist schon die akkomodierte Harmonisierung gegen Marcion, nämlich der frühere, der alte Heilsplan des Schöpfer- und Erlösergottes. Für Marcion ist es die Bibel der Juden und des schlechten, beschwerlichen Gottes. Zwei Fragen sind zu stellen, um eine Antwort formulieren zu können. Erste Frage: Wie versteht Harnack die Verwerfung der jüdischen Bibel, der Bibel des Weltschöpfers, bei Marcion? Zweite Frage: Wie begründet Harnack, daß das, was Marcion tut, eine Verpflichtung für die protestantische Christenheit der Gegenwart ist? Die Antwort auf die erste Frage nach Marcions Ablehnung der jüdischen Bibel ist bei Harnack doppelbödig. Auf der einen Seite steht für ihn fest, daß die Christen nach der Verwerfung der Demiurgenbibel des Richtergottes eine neue Bibel brauchten. Wenn also die schriftliche 48 Marcion2, 107f ausdrücklich: »[...] kreuzen sich bei M. zwei grundverschiedene Gesichtspunkte, nämlich der moralische und der religiöse.« 49 Marcion2, 107–113. Harnacks Beweis sind die auf das Gesetz bezüglichen Bibelstellen im Evangelium und in den Paulusbriefen, die Marcion nicht gestrichen und nicht geändert hat. Es muß aber offen bleiben, wie Marcion diese Stellen verstanden hat; vgl. meinen Aufsatz: Marcion’s Jealous God (s. Anm. 30). Ulrich Schmid, Marcion und sein Apostolos. Rekonstruktion und historische Einordnung der marcionitischen Paulusbriefausgabe (ANTT 25), Berlin 1995, kommt in »Exkurs 2: Zur marcionitischen Hermeneutik« (255–260) auf ein analoges Problem. 50 Vgl. Marcion2, 100. 51 Karneades argumentiert, daß die Gesetzesgerechtigkeit dem Eigennutz des Gesetzgebers diene; das sei grundsätzlich so, da die Gerechtigkeit als ein Gut auch immer nützlich sein solle (bei Cicero, De re publica III 6,9–20,31). – Ptolemäus, Ad Floram (wörtlich überliefert von Epiphanius, Panarion 33,3–7) zeigt, daß das ganze Gesetz im Pentateuch der Vollendung bedarf, sogar der Dekalog. Insbesondere hat Jesus das von Moses gegebene Talionsgesetz abgeschafft, weil ihm um der Schwäche der Menschen willen das Böse beigemischt ist: Wegen eines Mordes wird ein zweiter Mord befohlen! – Nach Cicero können Gesetze den Menschen nicht gerecht machen, da die Strafen zwar durch Furcht vor ihnen wirksam sein mögen, aber rechtschaffen und gut nur wäre, wer klug genug sei, sich nicht erwischen zu lassen (vgl. De legibus I 40–47). – Für Seneca verweise ich auf De beneficiis IV 19, wo der allgemeinere philosophische Grundsatz formuliert ist: das Gute (honestum) ist um seiner selbst zu erstreben, ja zu lieben, und Epikurs Gott ist dafür vorbildlich, weil er jenseits aller furchterzeugenden Mittel ruht. – In summa: Gerechtigkeit, insofern sie als Strafgesetzgebung auftritt, führt nicht zu Tugend und Gutsein, da sie auf Furcht vor dem Übel der Strafe beruht.

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Urkunde, die die Christen als Bibel benutzten, wegfiel, mußte Ersatz durch eine neue schriftliche Urkunde geschaffen werden. Da Marcion das allegorische und typologische Umdeuten der jüdischen Bibel ablehnte und dafür die neue Bibel mit Evangelium und Apostel rekonstruierend schuf, so war damit eine eindeutige Grundlage für Kirchenbildung, christliche Kirche, gegeben. Das hat Harnack bei Marcion richtig gesehen und in seiner Bedeutung für die Entstehung der katholischen Kirche herausgestellt. Marcion hat den christlichen Kanon erfunden; die sich als katholische konstituierende Kirche hat diese Idee übernommen und sie dabei ergänzt.52 Der andere Boden, den Harnack einzieht, ist die Begründung für die Ablehung der jüdischen Bibel. Marcion hat, wie Harnack feststellt, diese Bibel wie die Juden wörtlich gelesen, d. h. dieser dort geoffenbarte Gott ist der Gott, der gefürchtet werden will, also ein zorniger Strafrichter, ein partikularer Gott des jüdischen Volkes, ein Gott mit irdischen Belohnungen – und irgendwie inferior in seiner Schöpfungstätigkeit. Harnack sagt: Marcion steigerte den Gegensatz des Evangeliums zum Gesetz zu einer »ethischen Metaphysik«; die »unerbittliche Folge« war die Preisgabe des Alten Testaments.53 Denn das Erscheinen des neuen, fremden Gottes, des guten Gottes, führt zu einer Umwertung des Alten Testamentes: »dieser Gott ist δίκαιος – denn an unzähligen Stellen des A.T.s erscheint er so, verfolgt mit Eifer das Schlechte und die Sünden und ist die Quelle und der Schirmherr moralischer ΄ : πονηρος ΄ in allen Abstufungen des für seine Menschen Heiligkeit – und er ist πονηρος Lästigen, vom Bedrücker bis zum Peiniger, vom zornigen bis zum vernichtenden Despoten, vom Kleinlichen bis zum Erbärmlichen, vom Beschränkten bis zum Unwissenden und vom Schöpfer des Ungeziefers bis zum Schöpfer der schlimmsten Übel.«54

Aber Harnack hält fest, daß Marcion »die tiefsten Stellen des A.T. mißhandelt und entleert«, und fügt hinzu, daß Marcions Deutung der Erlösung in diesem Buch auf Diesseitiges und »auf eine zukünftige herrliche Steigerung des Weltlebens« auch »weit hinter dem Verständnis zurückbleibt, welches sich damals auch bei frommen und geistlich geförderten Juden fand«.55 Zur zweiten Frage: Inwiefern ist Marcions Tat eine Verpflichtung für die protestantische Christenheit der Gegenwart? Auch dazu ist Harnacks Überlegung doppelbödig.

52 Vgl. Marcion2, 206–212. Marcion »ist der Schöpfer der christlichen heiligen Schrift« (151); beachte auch 84f. – Hans von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel. Tübingen 1968 hat diese These umfassend aufgenommen; sie ist m. E. nicht zu widerlegen. Ulrich Schmid, Marcion und sein Apostolos (s. o. Anm. 49) enthält trotz wertvoller Ergebnisse zu einem Corpus Paulinum vor Marcion keinen Einwand gegen die Idee des christlichen Kanon; denn neu ist bei Marcion, daß der Text als schriftliche Urkunde gewertet werden muß. Das zeigt sich in der Zitatform des Irenäus, der auf Marcion reagiert. 53 Vgl. Marcion2, 31. 54 Neue Studien zu Marcion (TU 44,4), Leipzig 1923, 13 mit Anm. 3. 55 Marcion2, 101.

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Allgemein gilt für Harnack: Dem Alten Testament soll die kanonische Geltung entzogen werden. Der erste Boden ist der negative: »was christlich ist, kann man aus ihm nicht ersehen.«56 Schlimmer noch: verheerende Folgen haben sich für das Christliche daraus abgeleitet, nämlich die Heiligung eines Kriegsgottes, die Heiligung des Moralismus, und den Kulturmenschen zum Predigtzweck gemacht zu haben.57 Die kanonische Gleichstellung des Alten Testaments führe zu einer Verdunkelung des Evangeliums vom »Gott der Barmherzigkeit und allen Trostes«, dem Vater Jesu Christi. Wie solle man verhindern, »aus den Zwangs- und Strafvorstellungen des Sünders Lehren wie die vom verborgenen und vom offenbarenden Gott, von einer Doppelheit in Gott und vom Zorne Gottes hervorzuheben und in die Dogmatik einzustellen?«58 Karl Barth ist hier wohl angeredet.59 Die dialektische Stellung des Paulus zum Alten Testament bedeute eben auch zwiespältige Halbheit:60 Wer das Gesetzesmäßige in der Religion lasse, der möge Jude bleiben.61 Denn wenn die Moral nicht durch die höhere Stufe, durch den Gott der Barmherzigkeit und allen Trostes, aufgebrochen werde, dann ist Moral »die Todfeindin des Guten«.62 Ich interpretiere Harnack: Das Moralgesetz gehört als Sittengesetz zum Menschsein, wie ja auch Kultur zum Menschsein gehört. Aber in unserer Zeit muß das Moralgesetz nicht mehr wie in der alten katholischen Christenheit aus dem Alten Testament abgeleitet und aufgerichtet werden, sondern es muß aus der Religion überhaupt herausgetrennt bleiben; es ist profan und säkular. Diese Einstufung hatte er schon in seiner Marcioninterpretation vorbereitet, als er feststellen wollte, daß Marcion einen doppelten Begriff von »gut« habe, einen moralischen und einen religiösen. Anstelle des religiösen Gegensatzes sei also die Stufung von moralisch und religiös zu setzen.63 Zu Mentalitätsanalysen 56 57 58 59

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Marcion2, 223. Für Harnack ist der Weissagungsbeweis wissenschaftlich obsolet. Vgl. Marcion2, 220 u. 225–231. Die Neuheit des Evangeliums nach Marcion, aaO. (s. o. Anm. 43) 369. K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, erschien 1927. Diese Äußerung Harnacks ist ergänzend zu Hartmut Ruddies, Evangelium und Kultur. Die Kontroverse zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth, in: Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker (VMPIG 161), Göttingen 2001, 103–126. Vgl. Marcion2, 202f. Vgl. Marcion2, 218–219, wo es bei der Einordnung Luthers heißt: »Die ganze Gesetzessphäre als irdische untersteht dem Christen, nicht er ihr; als religiöse aber gehört sie einer überwundenen Stufe an; wer das nicht erkennt, muß Jude bleiben. Da aber das Gesetz durch das gesamte AT, einschließlich der Propheten, hindurchgeht, so liegt das ganze einheitliche Buch unterhalb der Christenheit.« Marcion2, 131. Vgl. Marcion2, 109. Ähnlich versucht Harnack eine eingeschränkte Wertschätzung der Prophetie bei Marcion zu erweisen, ja sogar ein »nützliches Lesen« des Alten Testaments bei ihm (vgl. 113–116). – Übrigens sieht Harnack trotz allem, daß Marcion den moralischen Gesichtspunkt als religiösen versteht und deswegen statt einer Stufung den Gegensatz behauptet; vgl. 235 in den Einwendungen gegen Marcion: »Und sind ›Moral‹ und Freiheit im geschenkten Guten wirklich nur Gegensätze und nicht auch Stufen?« Dazu vgl. Harnacks Vorwurf gegen Karl Barth in »Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen« (Die Christliche Welt 37, 1923, 6–8): »(6) Sind Gott und Welt (Leben in Gott und weltliches Leben) schlechthin Gegensätze, wie ist eine Erziehung zu Gott hin, d. h. zum Guten, möglich? Wie aber ist Erziehung möglich ohne geschichtliches Wissen und Hochschätzung der Moral?« Karl Barth, Sechzehn Antworten an Herrn Professor

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Harnacks nach dem Ersten Weltkrieg habe ich kein Material. Immerhin sagte Harnack schon 1902, daß ein Gnostiker wie Ptolemäus und sein Schulzirkel mutiger waren als die heutigen Christen, weil sie das Joch des Alten Testaments abschüttelten.64 Harnack ist also der Überzeugung, daß er zum Verstehen und zum Einsichtigmachen und zur Verkündigung des Evangeliums das Gegenüber des Gesetzes nicht braucht – nicht auf gleicher Ebene, ja überhaupt nicht, da ja das Evangelium als das Fremde zu predigen sei.65 Der zweite Boden, den Harnack zur Beantwortung einzieht, ist sein bekannter Satz: das Alte Testament sei »an die Spitze der Bücher zu stellen, ›die gut und nützlich zu lesen sind‹,« wie Luther es über die Apokrypha gesagt habe. »Die evangelischen Kirchen haben [...] die Pflicht, [...] die Kenntnis der wirklich erbaulichen Abschnitte in Kraft zu erhalten.«66 Das sind »die herrlichen und erhebenden Aussagen vom Schöpfergott in den Propheten und Psalmen. Der Schöpfergott hat gesprochen: ›Fürchte dich nicht, Ich habe dich erlöset, Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein‹, und wiederum der Gläubige des Schöpfergottes ist es, der zu ihm spricht: ›Wenn ich nur dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde‹.«67 Derartige Aussagen braucht der Christ; denn dieser Schöpfergott ist, wie der protestantische Christ Harnack gegen Marcion bekräftigt, auch der Erlösergott.68 Harnack hat das Alte Testament in bestimmten Teilen als erbaulich geschätzt; er nennt »die Frömmigkeit der Psalmisten und die tiefen Prophetenworte«.69 Ist das Alte Testament als Erbauungsbuch (n. b. ohne Erbauungstexte ist

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von Harnack (aaO. 89–91): »(6) ›Niemand kann zu mir kommen, es ziehe ihn denn der Vater, der mich gesandt hat und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage.‹« Harnack, Offener Brief an Herrn Professor K. Barth (aaO. 142–144): »Zu Frage 6 (Möglichkeit der Erziehung zu Gott): Sie antworten einfach mit Joh.6,44; wenn das alles ist, was Sie mir zu sagen haben, so verurteilen Sie alle christliche Pädagogik und zerschneiden, wie Marcion, jedes Band zwischen dem Glauben und dem Menschlichen. Nach meinem Verständnis haben Sie hier das Vorbild Jesu gegen sich.« Der Brief des Ptolemäus an die Flora. Eine religiöse Kritik am Pentateuch im 2. Jahrhundert, in: SPAW 1902, 507–545 (= Adolf von Harnack, Kleine Schriften zur Alten Kirche. Berliner Akademieschriften 1890–1907, hrsg. v. Jürgen Dummer, Leipzig 1980, 591–629): »Vor 1700 Jahren bereits ist von Christen das Alte Testament als Joch abgeschüttelt worden; christliche Gemeinschaften gab es, die ihm mit voller Pietät und Freiheit zugleich gegenüberstanden. Und heute nach so vielen Generationen und nach so vielen zwingenden Erkenntnissen ist der Zustand der Freiheit in der Christenheit noch nicht wieder erreicht, den jene kleine Gemeinschaft, Männer und Frauen, so klar und so muthig vertheidigt hat« (535 resümierend am Schluß). Harnack hob in seinem Aufsatz: Die Neuheit des Evangeliums nach Marcion (ChW 43, 1929, 362– 370) durch ein vollständiges Zitat aus Origenes (Johanneskommentar, GCS 10, 1903, Buch II 199f ) hervor, daß Marcioniten behaupten: »Christus braucht keine Vorbereiter und Handlanger« (Sp. 366). Marcion2, 222; dort auch ein Verweis auf Schleiermacher. Marcion2, 101. Die Neuheit des Evangeliums nach Marcion (ChW 43, 1929) Spalte 369: »Hier möchte ich zum Schluß die Frage an unsere Systematiker richten, ob sie recht daran tun, nicht nur den Schöpfer- und Erlösergott gegen Marcion in Einklang zu setzen – von diesem Glauben darf man nicht weichen –, sondern auch seinen eindeutigen Gottesbegriff ›Gott ist die Liebe‹ aufs neue zu belasten.« – Harnack argumentiert auf der Basis von Frömmigkeit und stellt sich Marcion auf der Ebene, die er ihm als ›Religionsstifter‹ zuerkannt hatte, entgegen. Marcion2, 217f.

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kein christlicher Glaube lebensfähig)70 unüberbietbar und unersetzbar? Oder kommen christliche evangelische Texte ihm nahe? Harnack hat sich 1928 die Frage gestellt, ob das Alte Testament für Paulus und seine Gemeinden zur persönlichen Erbauung benutzt wurde. Für Paulus selber ist ihm nicht zweifelhaft, daß ihm für seine persönliche Erbauung auch die Heilige Schrift eine Quelle gewesen ist.71 Aber im Blick auf seine Gemeinden habe Paulus nur beiläufig gesagt, diese alttestamentlichen Texte seien »um unseretwillen geschrieben« (1 Kor9, 10).72

70 Vgl. Vgl. Harnack, Das Alte Testament in den Paulinischen Briefen und in den Paulinischen Gemeinden, in: SPAW 1928, 124–141 (= Kleine Schriften zur Alten Kirche. Berliner Akademieschriften 1908–1930, hrsg. v. Jürgen Dummer, Leipzig 1980, 823–840), hier 124: »Daß die von Paulus gegründeten Gemeinden, obschon ihre Mitglieder ›Gläubige‹ und ›Heilige‹ sind, fort und fort der Erbauung bedürfen, ist ihrem Schöpfer nicht zweifelhaft. Aus welchen Quellen sollen sie Wachstum und Vertiefung schöpfen und haben sie sie geschöpft?« 71 AaO. 124: »[...]so gewiß Paulus aus dem Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus, aus dem Geist, den er gesandt hat, und aus dem Gebet zu Gott dem Vater sein inneres Leben und Wachstum gezogen hat, so gewiß schöpfte er diese Kräfte auch aus der Heiligen ›Schrift‹, der alten Bundesurkunde Gottes, die er nun sub specie Christi las und verstand.« 72 AaO. 138: »Mit dem δι’ ἡμᾶς ἐγράφη beginnt die Geschichte des A.T. als Erbauungsbuch in der Kirche aus den Heiden (der die religiöse Überschätzung folgen mußte). Paulus hat damit den Anfang gemacht, aber sozusagen nur beiläufig. Erbauen sollten sich seine Gemeinden im großen und im einzelnen durch den Geist aus dem Evangelium. Das bezeugen, richtig erfaßt, die Briefe.« Dazu die Anmerkung: »Die Beweisführung für das Evangelium ist die andere Wurzel, aus der eine Überschätzung des A.T. hervorgehen mußte.« – Zu der Terminologie »Erbauungsbuch« vgl. Kinzig, Harnack (s. o. Anm. 2): »Exkurs: Hochschätzung und Relativierung des Alten Testaments bei Harnack« (89– 102, bes. 89–93). Im ›Lehrbuch der Dogmengeschichte‹, Band I, steht von der ersten (1886) bis zur vierten und letzten (1909 = 1931) Auflage (196) die Einschränkung: »[...] es gab in den ATlichen Büchern, vor allem in den prophetischen und in den Psalmen, einen grosse Anzahl von Sprüchen – Bekenntnisse des Gottvertrauens und der Gotteshülfe, der Demuth und des heiligen Muthes, Zeugnisse eines weltüberwindenden Glaubens und Worte des Trostes, der Liebe und Gemeinschaft –, die zu erhaben für jede Klügelei und dem geistlich geweckten Sinn verständlich waren. Aus diesem Schatze, der den Griechen und Römern überliefert wurde, hat sich die Kirche erbaut [...]«. In ›Das Wesen des Christentums‹ (hrsg.v. Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 2005) wird das Alte Testament insgesamt als »Erbauungsbuch« für die Kirche gepriesen, dann aber eingeschränkt: »[...] erstlich, auf vielen Blättern dieses Buches stand eine andere Religion und eine andere Sittlichkeit als die christliche« (108).

Max Weber – Jahweglauben und Sozialgestalt des Judentums Eckart Otto 1. Werkbiographische Kontexte Die so genannte »Judenfrage« wurde im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert auf vielen Ebenen und Zirkeln der deutschen Gesellschaft diskutiert. Die Diskussionen waren auf den Nenner der Frage zu bringen, inwieweit das Judentum in dem 1871 aus der Taufe gehobenen Nationalstaat des Kaiserreichs kultureller und politischer Fremdkörper blieb, beziehungsweise als solcher abgestempelt wurde,1 oder zur Assimilation bereit war.2 Die zionistische Bewegung hat ihrerseits so reagiert, dass sie die Idee eines jüdischen Nationalstaates auf den Schild hob, was zu heftigen Diskussionen auch innerhalb des deutschen Judentums führte, inwieweit eine Staatsgründung der jüdischen Konfession angemessen sei und nicht eher Staat und Religion zu trennen seien, so dass es keine Notwendigkeit für ein jüdisches Staatswesen gebe, ein Staat also keineswegs notwendige Sozialgestalt der jüdischen Religion sei.3 Innerhalb der zionistischen Siedlerbewegung brach die Frage nach dem Verhältnis der jüdischen Religion zu pragmatischen ökonomisch-gesellschaftlichen Erfordernissen an dem Problem der Einhaltung des Schemitta-Gebotes auf, den Acker im siebten Jahr brach liegen zu lassen und nicht zu ernten, wie es Ex23, 10–11 vorschreibt.4 Erst für die zionistische Siedlerbewegung wur1

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Siehe dazu Franz Rosenzweig, Einleitung, in: Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Bd. 1: Ethische und religiöse Grundfragen, Berlin 1924, XIII–LXIV; Reinhard Rürup, Emanzipation und Krise. Zur Geschichte der »Judenfrage« in Deutschland vor 1890, in: Werner E. Mosse/A. Paucker (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914 (SWALBI 33), Tübingen 1976, 1–56. Siehe dazu Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien 2000; Peter Gay, Begegnung mit der Moderne. Deutsche Juden in der deutschen Kultur, in: Mosse/Paucker (Hg.), Juden (s. o. Anm. 1), 241–312; A. Paucker, Zur Problematik einer jüdischen Abwehrstrategie in der deutschen Gesellschaft, aaO. 479–548. Zu den innerjüdischen Diskursen um den Zionismus siehe u. a. Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, 212–216. 234–248; Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, sowie Ernst Ludwig Ehrlich, Liberalismus und Zionismus, in: Frank-Lothar Hossfeldt/Ludger Schwienhorst-Schönberger (Hg.), »Das Manna fällt auch heute noch«. Beiträge zur Geschichte des Alten, Ersten Testaments. Festschrift für Erich Zenger (Herders Biblische Studien 44), Freiburg/Breisgau 2004, 192–200. Siehe dazu Verf., Der Ackerbau in Juda im Spiegel der alttestamentlichen Rechtsüberlieferungen, in: Ders., Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Gesammelte Studien (Beihefte zur Zeitschrift

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de dieses Gebot zu einem Problem, da es nach talmudischer Lehre nur im Verheißenen Land Gültigkeit haben sollte, nicht aber in der Diaspora. Nun aber, da sich eine jüdische Landwirtschaft im Zuge der jüdischen Rückwanderung wieder in Palästina zu etablieren begann, brach die Spannung zwischen religiösem Gebot und landwirtschaftlichem Erfordernis auf. Vor den Brachejahr 1889 kam unter den Rabbinern die Diskussion auf, ob landwirtschaftlich genutzte Flächen für dieses Jahr an Nichtjuden verkauft und anschließend rückgekauft werden dürften. Während der russische Rabbiner Isaac Elhanan Spektor (1817–1896) aus Kovno den Verkauf für zwei Jahre an Muslime gestattete, widersetzte sich die aschkenazische Gemeinde von Jerusalem mit ihren Rabbinern Moses Joshua Judah Leib Diskin (1817–1898) und Samuel Salant (1816–1909) diesem Dispens. Vor dem Brachejahr 1910 lebten die Diskussionen erneut auf, nachdem es auch in den vorangegangenen Brachejahren zu keiner Einigung gekommen war. Wieder wurden die schon 1889 vertretenen Positionen und Argumente wiederholt. Der Oberrabbiner von Jaffa Abraham Isaak Kook (1865–1935) ließ einen Verkauf mit Rückkaufsrecht anstelle von Verpachtung an Muslime zu, während Rabbi Jacob David Ben Ze’ev Willowski (1845–1913) aus Safed einen derartigen Dispens ablehnte und stattdessen einen Hilfsfonds für die jüdischen Siedler einrichtete, die das Brachejahrgesetz befolgten und ihren Acker brach liegen ließen. Max Weber hat sich in allen Studien, in denen er ausführlicher das Judentum thematisierte, überproportional mit dem Brachejahrgebot in Ex23, 10–11 beschäftigt, da er darin ein Zeichen der Unangepasstheit religiös-utopischer Idee an die Erfordernisse ökonomischer Rationalität sah.5 Schon in der dritten Auflage des Artikels Agrarverhältnisse im Altertum, in dem er 1908/1909 im Gegensatz zu den beiden ersten Fassungen einen größeren Abschnitt zum antiken Judentum einfügte, hat er sich mit dem Brachejahrgesetz beschäftigt.6 Während die Fachexegeten im Brachejahrgesetz den Rest einer Gemeinwirtschaft, so Julius Wellhausen,7 oder nomadischer Vergangenheit, so Frants Buhl,8 vermuteten, hat sich Max Weber von derartigen Spekulationen über Ex23,10– 11 abgesetzt und eine eigene Interpretation des Gesetzes als literarisches »Einschiebsel später theologischer Konsequenzmacherei« sakraler, und das heißt »notorisch ›grauer Theorie‹«, vorgelegt.9 Noch wieder in dem Manuskript Religiöse Gemeinschaften, das

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für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 8), Wiesbaden 2008, 456–463. Zum theologischen Kontext des Gebots im biblischen Privilegrecht siehe Verf., Theologische Ethik des Alten Testaments (ThW 3/2), Stuttgart 1994, 99–103. Siehe Verf., Max Webers Studien des Antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne, Tübingen 2002 (Studienausgabe 2011), 90–92. 182. Siehe Max Weber, Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung), in: Ders., Max Weber Gesamtausgabe, hg.v. Horst Baier u. a., Bd. I.6: Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums. Schriften und Reden 1893–1908, hg.v. Jürgen Deininger, Tübingen 2006, 444–445. Zu den Aspekten der Religionen in diesem Artikel Max Webers siehe Verf., Max Weber als Sozial- und Wirtschaftshistoriker der Antike, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 13 (2007), 382–390. Siehe Julius Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin (1883) 19056, 111–113. Zu Julius Wellhausen siehe auch im Folgenden. Siehe Frants Buhl, Die sozialen Verhältnisse der Israeliten, Berlin 1899, 62f. Für den Ursprung des Brachejahrgesetzes kann sich Max Weber auf seinen Gewährsmann, den Hei-

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Max Weber vor dem Weltkrieg für den Grundriss der Sozialökonomik verfasst hat, hat er das Thema des Brachejahrs aufgenommen10 und dann vor allem in seiner Abhandlung Das antike Judentum im Rahmen der Wirtschaftsethik der Weltreligionen während des Weltkriegs.11 Der Gegensatz von religiöser Idee und gesellschaftlich-ökonomischer Praxis, der in der zionistischen Bewegung aufbricht, habe also, und deshalb kommt Max Weber immer wieder auf dieses Gebot zu sprechen, antike Wurzeln. In den Jahren zwischen 1913 und 1919 führte Max Weber mehrere Gespräche mit seinem jüdischen Freund Ernst Josef Lesser12 über die Zukunftsaussichten des zionistischen Projektes.13 Wie sehr dieses Projekt für Max Weber ein »Testfall« für den Einfluss religiöser Ideen und Interessen auf Politik und Wirtschaftsverhalten war, zeigt der Briefwechsel zwischen Ernst J. Lesser und Max Weber und nach dessen Tod mit Marianne Weber. Im Anschluss an ein längeres Gespräch schreibt Max Weber am 18. August 191314 an seinen Freund, dass das Gespräch gerade da abgebrochen werden musste, »wo die eigentlich innere Problematik des Zionismus beginnt«. Ein zionistischer Staat könne allenfalls zu einem Kleinstaat als Spielball der Großmächte werden. Die zionistische Idee der Gründung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina sei aber nur schwerlich mit den utopischen Ideen der jüdischen Religion vereinbar. Man könne zwar einen Kleinstaat mit funktionierenden Krankenhäusern und selbst einer Universität errichten, doch könne das »jemals als eine ›Erfüllung‹ und nicht vielmehr als eine Kritik jener grandiosen ›Verheißungen‹ wirken? [. . . ] Was fehlt denn wohl hauptsächlich? Der Tempel und der Hohepriester sind es. Gäbe es diese in Jerusalem, – alles Andere wäre Nebensache«. Max Weber bringt hier sehr hellsichtig einen Grundgegensatz von religiöser Organisation jüdischer Religion, die in Analogie zum katholischen Papstamt im Hohepriester als Hierarchen des Weltjudentums den Garanten der Würde eines jeden Juden, gläubig oder nicht, Ausdruck finden könnte, und einem jüdischen Nationalstaat zum Ausdruck.15 Ernst J. Lesser berichtet in einem Brief an Marianne Weber vom 12. Juni 1922 von die-

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delberger Alttestamentler und Kritiker Julius Wellhausens, Adalbert Merx, Die Bücher Moses und Josua. Eine Einführung für Laien (RV 2/3.1–2), Tübingen 1907, 33, berufen. Siehe Max Weber, Religiöse Gemeinschaften, in: Max Weber Gesamtausgabe, hg.v. Horst Baier u. a., Bd.I.22–2: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Religiöse Gemeinschaften, hg.v. Hans G. Kippenberg, Tübingen 2001, 376. 425. Siehe Max Weber, Das antike Judentum, in: Max Weber Gesamtausgabe, hg.v. Horst Baier u. a. Bd.I.21.1–2: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Schriften und Reden 1911–1920, hg.v. Eckart Otto, Tübingen 2005, 308–310. 326. 333f. Zu Ernst J. Lesser und seiner Frau Marianne Lesser-Knapp siehe Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 19843, 476. Im Personenregister ist der Mannheimer Physiologieprofessor Ernst J. Lesser mit dem Berliner Dermatologen Edmund J. Lesser verwechselt worden. Siehe Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 54–56. Siehe Max Weber, Briefe 1913–1914, in: Max Weber Gesamtausgabe, hg.v. Horst Baier u. a. Bd.II.8, hg.v. M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 2003, 313–315. Siehe auch Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 54f. Der Brief befindet sich in der Jewish National and University Library, Jerusalem, Autograph Collection/Max Weber. Plädiert Max Weber in seinem Gespräch mit Ernst J. Lesser für eine rein religiöse Organisation des Weltjudentums als der jüdischen Religion und ihren utopischen Zügen angemessen, da allein eine solche Organisation Grundlage des Würdegefühls der Judenheit sein könne, so vertritt er eine

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sem Gespräch im Jahr 1913 und einem weiteren im Jahre 1919.16 Der Nationalökonom Julius Simon, der 1913 Mitglied einer zionistischen Kommission zur Prüfung jüdischer Siedlungen in Palästina war, war bei dem Gespräch im Jahre 1913 zugegen und habe die realen Grundlagen der jüdischen Besiedlung in Palästina dargelegt. Auf eine Zwischenfrage Max Webers zur Einstellung zur Religion bemerkte Julius Simon, dass die Religion Privatsache sei, und dass es im Zionismus orthodoxe Parteien, gegen die Religion Indifferente und Gegner des Talmudjudentums gebe. Die Religion sei allerdings schwer vom Nationalismus zu trennen, aber die eigentliche Grundlage, auf der sich alle zionistischen Parteien träfen, sei nicht die Religion, sondern der nationale Gedanke, dessen Symbol die wieder erweckte hebräische Sprache sei. Darauf habe Max Weber, der zunächst noch über das Schicksal der Türkei, die, so Max Weber 1913, ohne deutsche Beteiligung aufgeteilt werde, sprach, folgendermaßen geantwortet: »[d]aß Sie noch einige Kolonieen in Palästina anlegen können, und daß diese florieren können, das ist natürlich sehr wohl möglich, und ich sehe keinen Grund, warum Ihnen das nicht gelingen sollte, aber damit haben Sie natürlich Ihr Ziel nicht erreicht, eine Wiedergeburt des jüdischen Volkes [. . . ] Als Esra nach Jerusalem ging, hatte er die Thora in der Hand – und was haben Sie?« In der Fortsetzung des Gesprächs wandte Ernst J. Lesser ein, er, Max Weber, habe doch zuvor anerkennend über die gesinnungsethischen Motive des französischen Syndikalismus gesprochen, der wirtschaftliche Sabotage verübe, wohl wissend, dass auf diese Weise eine gerechtere Einrichtung der Wirtschaft nicht zu erreichen sei. Eine gesinnungsethische Rechtfertigung des Zionismus habe Max Weber schließlich gelten lassen, die wiederum der Religion adäquat sei. Das allerdings würde den Versuch einer Staatsgründung zu einer symbolischen Handlung reduzieren, die ihr eigentliches Ziel, der Identität des Judentums Ausdruck zu verleihen, verfehlen müsste.17 Diese Haltung wird allerdings verständlich, wenn man erkennt, dass nach Max Weber der Begriff der Nation nur »nominalistisch« zu verstehen sei, werde er doch von seinen Nutzern zur Produktion von Zwangssolidaritäten gebraucht, die dem einzelnen unabhängig von seiner Zustimmung auferlegt würden, sei es in Gestalt von Beschulung, Wehr- oder Steuerpflicht.18 Dem Wesen der Religion bleibe ein Staat, auch als jüdischer, fremd. Position, die im Reformjudentum noch zwischen den Weltkriegen häufiger anzutreffen ist; siehe Meyer, Moderne (s. o. Anm. 2), 463–475. Zu Versuchen, Max Weber eine antisemitische Haltung zu unterstellen, indem man ihn undifferenziert mit Werner Sombart parallelisiert, so GaryA.Abraham, Max Weber and the Jewish Question. A Study of the Social Outlook of His Sociology, Urbana 1992, siehe Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 52f. 75. 150, sowie Gunther Roth, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950, mit Briefen und Dokumenten, Tübingen 2001, 470–473 (Exkurs: War Max Weber jun. ein »philosemitischer Antisemit«?). Siehe auch u. Anm. 54. 16 Siehe Weber, Briefe (s. o. Anm. 14), 312f; Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 55f. 17 Das heißt in der Konsequenz, dass Max Weber die begeisterten Zionisten in die Nähe eines Typus von Gesinnungsethikern rückt, den er durch Leo N. Tolstoi in einer christlichen Variante repräsentiert sieht; siehe dazu Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, 168–208; Edith Weiler, Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnung zweier Kulturen, Stuttgart 1994, 239–247. 18 Siehe dazu Siegfried Weichlein, Max Weber, der moderne Staat und die Nation, in: Andreas Anter/Stefan Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie. Positionen und Perspektiven (Staatsverständnisse 15), Baden Baden 2007, 103–117.

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Nicht zuletzt um dieses Grundgegensatzes willen hat Max Weber auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion der Judenfrage sich so häufig mit Erscheinungen der jüdischen Religion beschäftigt, sei es in seinen Protestantismus-KapitalismusStudien von 1904/1905,19 in dem Artikel Agrarverhältnisse im Altertum in der dritten Auflage von 1908/1909,20 in dem Deponatsmanuskript von 1911/1912,21 in der Rechtssoziologie von 1913/1914,22 in den Religiösen Gemeinschaften von 1913/14,23 sowie in den Aufsätzen zum Antiken Judentum im Rahmen des Programms der Wirtschaftsethik der Weltreligionen von 1916–1920.24 Doch Max Weber geht es bei dieser wiederholten Beschäftigung mit dem Judentum um weit mehr als um eine in seiner Zeit als »Judenfrage« diskutierte Problemstellung und darum, anhand des Judentums die Frage des Verhältnisses von Nation zu Religion voranzutreiben. Vielmehr hat das Judentum, und das ist für ihn vornehmlich das antike Judentum, für ihn Züge, die für eine Religionssoziologie idealtypisch und insofern in der Frage nach dem Verhältnis von Religion zu 19 Siehe dazu Peter Gosh, The Place of Judaism in Max Weber’s Protestant Ethic, in: Ders., A Historian Reads Max Weber. Essays on the Protestant Ethic (Kultur- und Sozialwissenschaftliche Studien 1), Wiesbaden 2008, 119–170. Peter Gosh unterbewertet allerdings Max Webers Entwicklung im Verhältnis insbesondere des antiken Judentums zwischen 1904 und 1919. Max Weber ist zunächst am Judentum in den Protestantismus-Kapitalismus-Studien der Jahre 1904/1905 aufgrund der Wahlverwandtschaft mit dem Puritanismus als »English Hebraism« interessiert. Das hat sich in den Jahren bis zur dritten Auflage des Artikels zu den Agrarverhältnissen 1908/1909 erheblich gewandelt. 20 Siehe oben Anm. 6, vgl. dazu Verf., Einleitung, in: Weber, Judentum (s. o. Anm. 11), (1–144) 3–27. 21 Siehe Max Weber, Ethik und Mythik/rituelle Absonderung, in: Ders., Judentum (s. o. Anm. 11), 178–209. Zur Entstehung, Datierung und Rezeption des Manuskripts siehe Verf., Editorischer Bericht, aaO. 161–177. Zur Interpretation siehe Ders., Einleitung, aaO. 38–71. 22 Siehe Max Weber, Rechtssoziologie, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, hg.v. Johannes Winckelmann, Tübingen 19805, 387–513. Zur Werkgeschichte siehe Werner Gephardt, Juridische Grundlagen der Herrschaftslehre Max Webers, in: Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zur Entstehung und Wirkung, Tübingen 2001, (73–98) 73 Anm. 4. Zur Interpretation des Judentums im Rahmen der Rechtssoziologie siehe Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 130–135. Siehe auch ders., Max Weber und Josef Kohler zur Frage der »Inhaberklausel« im altbabylonischen Vertragsrecht, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 9 (2003), 185–191. 23 Siehe oben Anm. 10. Zur Werkgeschichte siehe Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 16f. 30–33. 128–130. 24 Siehe oben Anm. 11. Zur Werkgeschichte siehe Verf., Editorischer Bericht, in: Weber, Judentum (s. o. Anm. 11), 210–233. Zum Gesamtprogramm der Weber’schen »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« siehe jetzt programmatisch Hartmann Tyrell, Einführende Bemerkungen zu Max Webers »Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen«, in: Reinhard Achenbach/Martin Arneth (Hg.), »Gerechtigkeit und Recht zu üben« (Gen18, 19). Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie. Festschrift für Eckart Otto, Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 12, Wiesbaden 2009, 439–457. Für den Aufsatzband zum »Antiken Judentum« von W. Schluchter (Hg.), Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik, stw 340, Frankfurt/Main 1981, gilt insbesondere für die fachtheologischen Beiträge das Dictum von Hartmann Tyrell, aaO. 444, es werde zu den Weberschen Dingen bisweilen so Stellung genommen, »dass die Auseinandersetzung eher oberflächlich bleibt und die Autoren dann vorwiegend das vortragen, was ihnen von ihren seinerzeitigen Forschungsinteressen her besonders am Herzen lag«.

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ihren Verehrerkreisen unter Einschluss ihres Wirtschaftsverhaltens bedeutsam sind. In dem vor dem Weltkrieg verfassten Manuskript der Religiösen Gemeinschaften verallgemeinert Max Weber Einsichten, die er inzwischen aus der Lektüre der Geschichte des antiken Judentums gewonnen hat, als typisch für Religionsentwicklungen überhaupt.25 Anhand des jüdischen Konföderationsgottes Jahwe entwickelt Max Weber den Typus eines »Sondergottes« im Sinne Hermann Useners,26 der mit der griechischen Polisgottheit vergleichbar sei. In dem Manuskript Ethik und Mythik/rituelle Absonderung hatte Max Weber an Adalbert Merx27 und vor allem Karl Budde28 anknüpfend Julius Wellhausens Spätdatierung der Bundesmotivik überwunden und den Bund als für die soziale Organisation Israels als Stämmeverband konstitutiv aufgezeigt, was er nun in den Religiösen Gemeinschaften nutzbar machen konnte, indem Jahwe zu einem Beispiel dafür wurde, dass »in der Regel jeder politische Dauerverband einen Spezialgott, der den Erfolg des politischen Verbandshandelns verbürgt«, habe. Dass eine politische Verbandsbildung die Unterstellung unter den Verbandsgott bedinge, sei universell. Wie dies aber geschehe, konnte Max Weber anhand des jüdischen Gottes entwickeln. Um der Universalisierbarkeit der Religionsgeschichte des antiken Judentums willen stellt Max Weber dagegen Züge Jahwes als des »fernen Wahlgottes«, die die eines Funktionsgottes transzendieren, zurück. Bleiben in dem Deponatsmanuskript Ethik und Mythik/rituelle Absonderung funktionaler und substantieller Gottesbegriff unvermittelt nebeneinander stehen, so akzentuiert Max Weber in den Religiösen Gemeinschaften um der Universalisierbarkeit willen den funktionalen, in den späteren Aufsätzen zum Antiken Judentum dagegen den substantiellen Gottesbegriff. Während es Max Weber in den Religiösen Gemeinschaften darum geht, die vergleichbaren Aspekte im Verhältnis von Religionen zu Sozialorganisationen der Trägerschaften zu erfassen, geht es ihm einige Jahre später im Antiken Judentum im Rahmen der Wirtschaftsethik der Weltreligionen darum, das Spezifische der ideellen Wirkung der Jahwereligion auf die Dynamik der Geschichte des Volkes Israel unter Einschluss der Ökonomie zu erfassen. In den Religiösen Gemein25 Siehe den Nachweis in Verf., Einleitung (s.o. Anm. 20), 71–90. 26 Siehe Hermann Usener, Götternamen. Versuche einer Lehre von den religiösen Begriffsbildung, Bonn 1826, 122–375. Max Weber rezipierte aber Hermann Useners Hermeneutik des »Nachempfindens« ebensowenig wie die hegelianischen Züge des Entwicklungsgedankens, sondern ging von der Gleichzeitigkeit der von Hermann Usener differenzierten Göttertypen aus. Hermann Useners Zugriff auf die Religionswissenschaft hat in Heidelberg besonders Gehör durch seinen Schwiegersohn, den Altphilologen Albrecht Dieterich gefunden, der wie Max Weber Mitglied im Heidelberger Eranos-Kreis war; siehe dazu Hubert Treiber, Der »Eranos«. Das Glanzstück im Heidelberger Mythenkranz?, in: Wolfgang Schluchter/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der »Geist« des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, 75–154; ders., Zwischen »Dichtung und ›Wahrheit‹«. Max Weber und das Heidelberger Gelehrtenkränzchen des »Eranos« (1904–1908/09), in: Reinhard Achenbach/Martin Arneth (Hg.), (s.o. Anm. 24), 458–493. Bei weitem größeren Einfluss als Hermann Usener aber hatte der Heidelberger Altphilologe Erwin Rohde auf Max Weber, insbesondere dessen Konzeption prophetischen Charismas. 27 Siehe Merx, Mose (s. o. Anm. 9), 21f. 28 Siehe Karl Budde, Die altisraelitische Religion des Volkes Israel bis zur Verbannung (Amerikanische religionswissenschaftliche Vorlesungen. Vierte Reihe 1898–99), Gießen 19052.

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schaften ist die Religionsgeschichte des antiken Judentums die »Leitwährung«, an deren Geschichte die anderen Religion vergleichend gemessen werden. Das gilt nicht nur für den Gottesbegriff, sondern auch für dessen Träger, die Priester und Propheten, sowie die Relationierung der Religion zu staatlichen und nichtstaatlich als Gemeinde organisierten Trägerverbänden. In diesem Zusammenhang stellt Max Weber fest, dass der Typus der »Gemeinde« sich als eigenständig aus den verwandtschaftlichen Gemeinschaften und politischen Verbänden ausdifferenziere, so dass Religion in der Gemeinde als Epiphänomen des Wirkens eines Charismatikers nicht mehr deren sakraler Legitimation und Überhöhung diene und die Gottheit sich von der Funktion eines Verbandsgottes löse. Dieser als allgemeingültig vorgestellte Zusammenhang ist an der jüdischen Religionsgeschichte gewonnen, wenn Max Weber fortfährt, diese Entwicklung komme vornehmlich dann zum Durchbruch, »wenn der politische Verband vernichtet wird, die religiöse Anhängerschaft an den Verbandsgott und seine Priester aber als Gemeinde fortbesteht«.29 Diesen Entwicklungstypus entwirft Max Weber unter Verwendung zeitgenössischer fachexegetischer Interpretationen der Religionsgeschichte Israels, die die Prophetie mit der Überwindung der Nationalreligion verbinden: »Die Religion sprengt die Fesseln der Nation. Der Gott der Propheten ist ein Gott, der nicht mehr an das Volk noch an das Land gebunden ist«, so Wilhelm Bousset.30 Die Perspektive der Überwindung nationaler Bindung der Religion, die sich auch bei Hermann Cohen findet,31 erklärt die eingangs verdeutlichten Vorbehalte Max Webers gegen die Gründung eines jüdischen Staates. Man mag sich die Frage stellen, warum Max Weber dem Judentum und insbesondere dem antiken Judentum, das sich in der alttestamentlichen Literatur Gehör verschafft hat, eine so große Aufmerksamkeit gewidmet und diese Religion zur Leitwährung seiner religionssoziologischen Studien gemacht hat. Dafür gibt es zunächst eine pragmatische Erklärung, die vor allem durch seine Studien zum Antiken Judentum im Rahmen der Wirtschaftsethik der Weltreligionen deutlich wird. Sie zeigen, dass Max Weber sich bis in feinste Verästelungen der exegetischen Diskussionen in der Literatur der zeitgenössischen Alttestamentlichen Wissenschaft32 und der Wissenschaft des Judentums33 eingearbeitet hat. Diese beiden Forschungszweige der protestantischen Alttestamentlichen 29 Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften (s. o. Anm. 10), 197f. 30 Siehe Wilhelm Bousset, Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte, Halle 1903, 119; ähnlich auch Hermann Gunkel, Art. Gott I. Gottesbegriff im AT, in: RGG1 2, Tübingen 1910, (1530–1545) 1544. Max Weber hat sowohl Wilhelm Bousset wie Hermann Gunkel rezipiert. 31 Siehe Hermann Cohen, Der Stil der Propheten, in: Ders., Schriften (s. o. Anm. 1), 262–283; siehe dazu Verf., Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese, in: Wolfgang Schluchter/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), (s. o. Anm. 26), (201–255) 223–235. 32 Siehe dazu Verf., Einleitung (s. o. Anm. 20), 90–136. 33 Siehe dazu Weber, Judentum (s. o. Anm. 11), 234f., sowie Verf., Einleitung (s. o. Anm. 20), 2. 142. Zur Geschichte der Wissenschaft des Judentums siehe Kurt Wilhelm (Hg.), Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich (SWALBI 16/1–2), 2 Bde., Tübingen 1967. Für eine zeitgenössische jüdische Reaktion auf Max Webers Antikes Judentum siehe Julius Guttmann, Max Webers Soziologie des antiken Judentums, in: MGWJ 69 (1925), 195–223 (wieder abgedruckt in Wolfgang Schluchter [Hg.], Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik [stw 340], Frankfurt/Main 1981, 289–326).

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Wissenschaft und der jüdischen Wissenschaft des Judentums galten als weltweit führend, wie Max Weber in der Eingangsanmerkung seiner Studien zum Antiken Judentum feststellt: »Die Religion Israels und des Judentums ist Gegenstand einer Literatur, deren wirkliche Beherrschung mehr als die Arbeit eines Menschenlebens erfordert. Vor allem auch, weil sie qualitativ überaus hoch steht. Für die altisraelitische Religion ist dabei die moderne protestantische Forschung, insbesondere die deutsche, anerkanntermaßen führend gewesen und bis heute geblieben. Für das talmudische Judentum ist die bedeutende Überlegenheit der jüdischen Forschung im ganzen nicht zweifelhaft«.34 Für keinen anderen Bereich der Religionsgeschichte konnte Max Weber eine derartig intensive Durcharbeitung der Quellen unter historischen Gesichtspunkten finden, die bis in die intellektuelle Öffentlichkeit der Zeit hinein kontrovers diskutiert wurden.35 Friedrich Nietzsches und Hermann Cohens kritische Wellhausen-Rezeption sind Zeichen dafür. Mit sicherem Zugriff hat Max Weber zwar die Wellhausen’sche Literarkritik übernommen, dennoch sich Positionen angeschlossen, die auf eine Überwindung Wellhausen’scher Einseitigkeiten abzielten, so nicht nur den Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule wie Hermann Gunkel und Hugo Greßmann, sondern auch Forschern wie Karl Budde, Rudolph Kittel, Emil Kautzsch, die mit der Rücknahme der Spätdatierung des Bundes36 die Wellhausen’sche Rekonstruktion der israelitischen Religionsgeschichte 34 Siehe Weber, Judentum (s. o. Anm. 11), 234f. 35 Über die Geschichte der protestantischen Alttestamentlichen Wissenschaft informieren zeitgenössisch neben den einschlägigen Lexikonartikeln in RE3 und RGG1 vor allem Karl Marti, Stand und Aufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft in der Gegenwart. Rektoratsrede gehalten an der 77. Stiftungsfeier der Universität Bern am 25. November 1911, Bern 1912; Rudolph Kittel, Die Alttestamentliche Wissenschaft in ihren wichtigsten Ergebnissen, Leipzig (1910) 19173. Über die Geschichte der Wissenschaft des Judentums informiert zeitgenössisch M. Braun, Art. Germany, in: JE 5, New York 1903, 631–653. Auf Max Webers intensive Rezeption von Studien und Texteditionen der Ägyptologie und Keilschriftkunde, insbesondere des Keilschriftrechts, das mit der Veröffentlichung des »Kodex« Hammurapi 1902 einen erheblichen Aufschwung nahm, sei nur hingewiesen; siehe dazu Verf., Max Weber und die mesopotamische Rechtsgeschichte. Mit einer werkbiographischen Interpretation der unveröffentlichten Exzerpte GStA PK, VI.HA. Nl. Max Weber, Nr. 31, Bd. 2, Bl. 253–253R und 258, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 15 (2002), 41–88, sowie oben Anm. 22. 36 Wie stark Max Weber dabei Einfluss auf Ernst Troeltsch genommen hat, offenbart Ernst Troeltschs Rezension der Monographie von Louis Wallis, Sociological Study of the Bible, Chicago 1912, in der ThLZ 38, 1913, 454–458. Während Louis Wallis strikt die Spätdatierung des Bundesmotivs unter Verweis auf Julius Wellhausen vertritt, referiert Ernst Troeltsch irrtümlich Max Webers letztlich auf Karl Budde zurückgehende Abkehr von Julius Wellhausen mit der Frühdatierung des Bundes. Sicherlich hat dabei die gemeinsame Begegnung von Max Weber und Ernst Troeltsch mit Karl Budde auf dem Weltkongress in St. Louis im Jahre 1904 eine Rolle gespielt, doch erklärt allein die mehr als acht Jahre zurückliegende Begegnung nicht den Irrtum, der Ernst Troeltsch in der Rezension unterlaufen ist, eine wichtige Position Julius Wellhausens gegen den rezensierten Autor durch die Karl Buddes zu ersetzen. Hier ist der Einfluss von Ernst Troeltschs Gesprächen mit Max Weber in Anschlag zu bringen, der gerade zu dieser Zeit, wie das Deponatsmanuskript der Jahre 1911– 1912 zeigt, sich gegen Julius Wellhausen der Position einer Frühdatierung des Bundes durch Karl Budde angeschlossen hat. Zur Interaktion zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch in Fragen des Judentums siehe Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 246–275.

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vom Kopf auf die Füße stellten.37 In der literaturhistorischen Zuordnung der Rechtskorpora des Alten Testaments hält sich Max Weber an seinen Heidelberger Kollegen Adalbert Merx, für den die Rechtskorpora eine Fachwerkfunktion in der Rekonstruktion der Literaturgeschichte des Pentateuch haben,38 was Max Weber übernimmt und auf die Rekonstruktion der Sozialgeschichte ausweitet.39 Adalbert Merx aber gehört noch der Generation der Lehrer von Julius Wellhausen und Abraham Kuenen an und war zu einem scharfen Kritiker einer seiner Meinung nach auf Sand gebauten Literarkritik geworden, die er durch die literarische Kontextualisierung der Rechtskorpora des Pentateuch stabilisieren wollte. In der Rekonstruktion der Geschichte der Pharisäer in dem während des Weltkriegs als Vorarbeit zu einer projektierten Studie zum talmudischen Judentum abgefassten und posthum von Marianne Weber veröffentlichen Manuskript Die Pharisäer 40 stützt sich Max Weber neben Emil Schürer, dessen Standardwerk41 er in mehreren Auflagen zur Kenntnis genommen und intensiv exzerpiert hat,42 vornehmlich auf jüdische Wissenschaftler wie Adolph Büchler, Ludwig Blau, Ismar Elbogen und Heinrich Graetz.43 Max Weber übernimmt hier vor allem nicht Julius Wellhausens Parallelisierung der Pharisäer mit mittelalterlichen Mönchen und dem Klerus in »gut katholischen Ländern«,44 die ihren zeitgenössischen Hintergrund im UltramontanismusStreit hat.45 Julius Wellhausen zieht diesen Vergleich heran, um die von Heinrich Ewald 37 Über Albrecht Alt, der Max Webers Judentumsstudie intensiv rezipiert hat, hat Max Weber in nicht geringem Maße Einfluss auf dessen Schüler Gerhard von Rad und Martin Noth in Bezug auf die Bundestheologie ausgeübt; siehe dazu Verf., Die Ursprünge der Bundestheologie im Alten Testament und im Alten Orient, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 4 (1998), (1–84) 2–20. 38 Siehe Merx, Mose (s. o. Anm. 9). 39 Siehe Verf., Einleitung (s. o. Anm. 20), 5–14. 40 Siehe dazu Max Weber, Die Pharisäer, in: Ders., Judentum (s. o. Anm. 11), 777–846. Zum werkbiographischen Kontext siehe Verf., Editorischer Bericht, aaO. 758–767. Zur Interpretation siehe ferner David J. Chalcraft, Weber’s Treatment of Sects in Ancient Judaism: The Pharisees and the Essenes, in: Ders. (Hg.), Secterianism in Early Judaism. Sociological Advances (BibleWorld), London 2007, 52–73. Vgl. dazu auch meine Rezension des Sammelbandes, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 15 (2009), 382–387. 41 Siehe Emil Schürer, Lehrbuch der neutestamentlichen Zeitgeschichte, Leipzig 1874; Ders., Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi Bd. I, Leipzig (18902 ) 19014; Bd. II, (18862 ) 19074; Bd. III, (18983 ) 19044. 42 Siehe Verf., Die Pharisäer. Eine werkbiographische Interpretation der gleichnamigen Studie Max Webers einschließlich des unveröffentlichten Schürer-Exzerpts BSB Ana 446, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 8 (2002), 1–87. 43 Siehe Verf., Einleitung (s. o. Anm. 20), 136–144, sowie die Kommentierung des Textes, aaO. 758– 767. Siehe dort auch zu den zahlreichen weiteren Gewährsleuten Max Webers zum Judentum in nachalttestamentlicher Zeit wie Franz Delitzsch, Paul Fiebig, Adolf von Harnack, Hermann Strathmann und Ferdinand Weber. 44 Siehe Julius Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte, (Greifswald 1874) Göttingen 19673, 20f. 45 Siehe dazu Roland Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz (WUNT 101), Tübingen 1997, 42 Anm. 8. Dass Julius Wellhausen dabei nicht von einer antijüdischen Intention geleitet war, bedarf für den Fachmann keines Nachweises. Wohl aber erweist er sich, wie nicht anders zu erwarten, als Zeitgenosse des späten

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und Abraham Geiger vertretene These, die Pharisäer seien eine politische Partei, zurückzuweisen. Ist Max Weber in Bezug auf das nachalttestamentliche antike Judentum und der Diskussionen innerhalb der Wissenschaft des Judentums weitgehend rezeptiv, wenn auch mit sicherem Blick auf die Forschungsdiskussionen geblieben, so hat er in den Diskussionen innerhalb der Alttestamentlichen Wissenschaft durchaus Akzente verstärkt, die er eigenständig für seine Fragestellung nutzbar gemacht hat. Angesichts dieser intensiven Rezeption und Auseinandersetzung mit der exegetischen Literatur der Alttestamentlichen Wissenschaft und der Wissenschaft des Judentums konnte ihm das antike Judentum zur religionswissenschaftlichen »Leitwährung« weit über diese Religion hinaus werden. Damit war es Max Weber ein Leichtes, auch kritisch den Versuch Werner Sombarts zum Judentum46 in den Blick zu nehmen, der den Nachweis führen wollte, dass die Religion des Judentums großen mentalitätshistorischen Einfluss auf das Wirtschaftsverhalten bis in die Moderne und damit auf den »Geist des Kapitalismus« habe. Damit nahm Werner Sombart eine Hypothese auf, die damals weit über die Nationalökonomie47 hinaus Vertreter fand, und bündelte sie in seinem 1911 nach mehreren vorläufigen Hinweisen48 1901 und 190349 veröffentlichten »Judenbuch«,50 mit dem er in eine Spannungslage zu Max Webers Protestantismus-Kapitalismus-These von 1904/1905 geriet, auch wenn Werner Sombart seine These vermittelnd so zusammenfassen konnte: »Puritanismus ist Judaismus.« Deutlicher als der Briefwechsel zwischen Max Weber und Werner Sombart51 zeigen Max Webers Kommentare in seinem Handexemplar von Werner Sombarts »Judenbuch« die Vorbehalte, die sich vor allem auf die Passagen konzentrieren, in denen Werner Sombart die Gleichung von Judaismus und Puritanismus zu untermauern sucht.52 So moniert Max Weber an zahlreichen Stellen, dass Werner Sombart Züge als charakteristisch jüdisch verbucht, die sich auch in anderen Religionen finden lassen, so u. a. der Vergeltungsglaube. Auch die Behauptung, Israel sei nomadi-

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19. Jahrhunderts. Eine kritische Werkbiographie Julius Wellhausens, die den Zeitbezügen und damit der Zeitbedingtheit des Werkes im Kaiserreich Rechnung trägt, ist nach wie vor ein Desiderat. Zu Werner Sombarts Biographie und Werk siehe Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 19952; Michael Appel, Werner Sombart. Historiker und Theoretiker des modernen Kapitalismus, Marburg 1992. Zur nationalökonomischen Diskussion siehe Richard Swedberg, Max Weber and the Idea of Economic Sociology, Princeton 1998, 17–21. 187–191; Bernhard Quensel, Max Webers Konstruktionslogik. Sozialökonomik zwischen Geschichte und Theorie (Fundamenta Juridica 54), Baden Baden 2007, 142–170. Zur Diskussionslage in der zeitgenössischen Nationalökonomie siehe auch Thomas Düe, Fortschritt und Werturteilsfreiheit. Entwicklungstheorie in der historischen Nationalökonomie des Kaiserreichs, Diss. phil. Bielefeld 2002. Siehe Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. 1: Die Genesis des Kapitalismus, Leipzig 1902, 378–390. Werner Sombart greift hier u. a. auf Georg Simmel, Die Philosophie des Geldes, Leipzig 1900, 207–211, zurück. Siehe Werner Sombart, Die Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, Berlin 1903, 128. Siehe Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911. Siehe dazu Max Weber, Briefe 1911–1912, in: Max Weber Gesamtausgabe, hg.v. Horst Baier u. a., Bd.II.7, hg.v. M. Rainer Lepsius/Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1998, 154; ders., Briefe 1913– 1914 (s. o. Anm. 14), 414–417. Siehe den Nachweis in Verf., Einleitung (s. o. Anm. 20), 28–38.

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schen Ursprungs und dieser Zug wirke sich bis heute im jüdischen Wirtschaftsverhalten aus, findet Max Webers Spott. Schließlich hat Max Weber wiederholt davor gewarnt, kollektive Eigenschaften und Verhaltensweisen rassisch zu begründen,53 und so lehnt er auch diesen Zug in Werner Sombarts Spekulation zur »jüdischen Eigenart« ab. Man wird also dem Sombart’schen Buch, das zeigen die handschriftlichen Kommentare in dem Weber’schen Handexemplar recht deutlich, keinen großen Einfluss auf Webers Beschäftigung mit dem Judentum zuerkennen dürfen, zumal Werner Sombart seine These auch schon bald wieder revidierte, um den Thomismus auf den Schild zu heben. Für Max Webers Beschäftigung bleibt das Buch marginal und keine Herausforderung zu intensiverer literarischer Diskussion.54 Nachdem die werkbiographischen Kontexte von Max Webers zahlreichen Studien zum Judentum ausreichend abgeschritten sind, können wir uns der systematischen Rekonstruktion seiner ausgereiftesten Studie zum Antiken Judentum im Rahmen des Programms der Wirtschaftsethik der Weltreligionen zuwenden, die die letzte große Studie zur Religionssoziologie insgesamt war, die Max Weber vor seinem Tod 1920 verfasst hat und die daher aller Unabgeschlossenheit seines Werkes zum Trotz zu einer Summe seiner religionssoziologischen Bemühungen geworden ist. Dass gerade dem Judentum es zufiel, Thema dieser Summe zu sein, so viel hat unser werkbiographischer Rundgang gezeigt, ist alles andere als ein Zufall.

53 Siehe nur Max Weber, Probleme der Arbeiterpsychologie. Diskussionsbeiträge zur abschließenden Debatte im Verein für Sozialpolitik am 10. Oktober 1911, in: Max Weber Gesamtausgabe, hg.v. Horst Baier u. a., Bd.I.11, Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. Schriften und Reden 1908– 1912, hg.v. Wolfgang Schluchter, Tübingen 1995, 417, sowie ders., Vorbemerkung, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen (1920) 19787, (1–16) 15. In der Ablehnung rassischer Erklärungsmuster ist sich Max Weber mit führenden Vertretern des Kulturprotestantismus einig, wie u. a. der Brief Adolf von Harnacks vom 24. November 1912 an Houston Stewart Chamberlain zeigt; siehe Wolfram Kinzig, Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 13), Leipzig 2004, 197f. 226–272. 54 Des Weiteren sei verwiesen auf Hartmann Tyrell, Kapitalismus, Zins und Religion bei Werner Sombart und Max Weber, in: Johannes Heil/Bernd Wacker (Hg.), Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition, München 1997, 193–217. Zur zeitgenössischen Diskussion von Werner Sombarts Judenbuch von jüdischer Seite siehe die Rezension seines Schülers Julius Guttmann, Die Juden und das Wirtschaftsleben, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 36 (1913), 149–212; siehe dazu Thomas Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz. Jüdische Philosophie und Theologie von 1933–1938 (Supplements to the Journal of Jewish Thought and Philosophy 7), Leiden/Boston 2009, 75 Anm. 110. Eine ausführliche Analyse von Julius Guttmanns SombartRezension durch Thomas Meyer ist in Vorbereitung. Wenn Gary Abraham, Jewish Question (s. o. Anm. 15), 207, zu dem Ergebnis kommt, »Weber accepted the bulk of what Sombart said about Judaism«, so zeugt das nicht gerade von einem ausreichenden Wissensstand, um Max Weber mit diesem Argument des Antisemitismus zu verdächtigen; siehe dazu auch oben Anm. 15.

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2. Systematische Rekonstruktion Max Weber soll kurz vor seinem Tod seinen Studenten in München gegenüber, so berichtet Eduard Baumgarten, geäußert haben, »[d]ie Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, daß er gewichtigste Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt«.55 Tatsächlich sind damit zwei wichtige Pole genannt, zwischen denen Max Weber seine Konzeption der Studie des Antiken Judentums in Rezeption und Abstoßung strukturiert hat, wobei die ProtestantismusKapitalismus-Studie von 1904/190556 den hermeneutischen Schlüssel abgibt, in geringerem Maße bei der Marxismusrezeption auch der Objektivitätsaufsatz von 1904.57 Gleichzeitig aber zeigt der Vergleich der Judentumsstudie von 1916–1919 in Relation zur Protestantismus-Kapitalismus-Studie von 1904/1905 eine nicht unerhebliche methodologische Fortentwicklung, die signifikant der Vergleich der Einleitung, die 1913 für die Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen konzipiert wurde,58 mit der Vorbemerkung aus dem Jahr 1920 für die Buchfassung dieser Aufsätze zeigt.59 In der Einleitung umreißt Max Weber den Zusammenhang zwischen praktischer Ethik der Religion und sozialer Schicht ihrer Träger derart, dass er nicht deren soziale Lage und die daraus resultierenden materiellen Interessen in den Blick nimmt, sondern sich einseitig auf die Frage nach der Wirkung der Religion auf die Wirtschaftsethik konzentriert. In der Vorbemerkung des Jahres 1920 spricht Max Weber dagegen von der Wechselseitigkeit der »beiden Kausalbeziehungen«, zwischen einer inneren Kausalbeziehung der Ideen, die sich zu Weltbildern verdichten, und davon bestimmter ideellen Interessen in ihren Auswirklungen auf Institutionen und Wirtschaftsverhalten einerseits und ihrer ökonomisch-politischen Bedingungen, der äußeren Kausalbeziehung andererseits. Eine ursprungsgenetische Erklärung des okzidentalen Rationalismus habe einen wechselseitigen Kausalnexus in den Blick zu nehmen: »Jeder solche Erklärungsversuch muß, der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft entsprechend, vor allem die ökonomischen Bedingungen berücksichtigen. Aber es darf auch der umgekehrte Kausalzusammenhang 55 Siehe Eduard Baumgarten, Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964, 554f. 56 Zur Fassung von 1904/1905 siehe Max Weber, Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 herausgegeben und eingeleitet von Klaus Lichtblau und Johannes Weiss (Neue Wissenschaftliche Bibliothek), Weinheim 20003. 57 Siehe Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg.v. Johannes Winckelmann, Tübingen (1922) 19825 , 146–214. 58 Siehe Max Weber, Einleitung, in: Max Weber Gesamtausgabe, hg.v. Horst Baier u. a., Bd.I.19, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920, hg.v. Helwig Schmidt-Glintzer, Tübingen 1996, 83–126. 59 Siehe Max Weber, Vorbemerkung, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, 1–16.

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darüber nicht unbeachtet bleiben. Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition des Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände. Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehören in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen«.60 In den Aufsätzen zur Protestantischen Ethik sei, so stellt Max Weber fest, nur dem einen Kausalzusammenhang nachgegangen worden, während er in den Aufsätzen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen versucht habe, über die Beziehungen der wichtigsten Weltreligionen zum Wirtschaftsverhalten und den sozialen Schichtungen ihrer Umwelt, »beiden Kausalbeziehungen soweit nachzugehen, als notwendig ist, um die Vergleichspunkte mit der weiterhin zu analysierenden okzidentalen Entwicklung zu finden«. Die Rekonstruktion der ideellen und materiellen Interessen, ihre Entstehung und Verschränkung in der Befriedung ist im Antiken Judentum in den Abschnitten I »Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe« und II »Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes« jeweils analog verschränkt. Max Weber beginnt im ersten Abschnitt mit heterogenen, jeweils auf unterschiedliche geographische Eigenschaften der Landschaften Palästinas zurückgeführten Wirtschaftsformen und daraus resultierenden Vergemeinschaftungen, deren Heterogenität Anlass zu kontraktuellen Zusammenschlüssen gab. Es wäre allerdings methodisch zu kurz geschlossen, wollte man daraus den biblischen Bundesgedanken im Sinne materialistischer Geschichtsinterpretation ableiten. Max Weber konfrontiert vielmehr mit dem von ihm beschriebenen politisch-ökonomischen Horizont einen substantiellen Gottesbegriff eines »fernen Wahlgottes«, der einen Bund mit Israel als Eidgenossenschaft geschlossen habe. Der Bundesgedanke erweise sich im Auslesekampf der Ideen als dem politisch-ökonomischen Kontext angemessen und anderen religiösen Konzeptionen überlegen. In einem weit ausholenden Bogen stellt Max Weber anschließend die Institutionalisierung61 der Bundesidee in den Organen der Eidgenossenschaft als Träger der Idee dar, um zur Gottesidee zurückzukehren und die in der Jahwe-Konzeption angelegte Spannung von irrational handelndem Gott der Naturkatastrophen und verlässlichem Vertragspartner herauszuarbeiten und den religiösen Auslesekampf der Jahwe-Religion mit den Fremdreligionen sowie den Einfluss dieser Gotteskonzeption Jahwes auf die Ethik einschließlich der Wirtschaftsethik darzustellen. 60 Siehe Weber, Vorbemerkung (s. o. Anm. 59), 12, sowie ders., Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin (1923) 19583, 307f. Siehe dazu Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 177–181, sowie Stefan Breuer, Magie – Religion – Entzauberung, in: ders., Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, (13–32) 28f; Wolfgang Schluchter, »Die Entzauberung der Welt«. Max Webers Sicht auf die Moderne, in: Reinhard Achenbach/Martin Arneth (Hg.), aaO. (s. o. Anm. 24), 423–457. 61 Zur Bedeutung der Institutionalisierung von Leitideen im Weber-Paradigma siehe M. Rainer Lepsius, Eigenart und Potential des Weber-Paradigmas, in: Gert Albert u. a. (Hg.), Das WeberParadigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003, 32–41.

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Max Weber führt also an entscheidender Stelle einen substantiellen Gottesbegriff ein, der nicht in Funktionen aufgeht, also genetisch autonom, aber eben nicht unrelationiert ist,62 da in der Dialektik wechselseitiger Kausalbeziehungen die Wirkung der Idee auf empirische Weise als die Wirkung eines Subjektes auf die Realität sozialen Handelns als Objekt beschrieben wird.63 Im Abschnitt II der Studie zum Antiken Judentum mit der Überschrift »Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes« setzt Max Weber mit den politischen Kontexten der vorexilischen Prophetie ein, um mit ihrer psychologischen und soziologischen Eigenart ihre autonome »rein religiöse Motivation« zu erweisen, die vom politischen und ökonomischen Interesse unabhängig sei. Um dieser Autonomie willen, die Max Weber gegen materialistische Geschichtsdialektik betont, argumentiert er auch hier mit einem substantiellen Gottesbegriff,64 doch ist die Autonomie wieder nicht unrelationiert, insofern Max Weber zwischen politisch-ökonomisch relevanten und bedingten Erscheinungen unterscheidet. Er entfaltet eine komplexe Dialektik von rein religiös motiviertem Handeln der Propheten aus »letzten einheitlichen Wertpositionen heraus« und den Mächten politischer und ökonomischer Interessen, die den Einfluss der Propheten auf die Entwicklung der Ethik bis hin zu Ansätzen einer »innerweltlichen Askese«, begründen soll, die aber rezeptionshistorisch nicht zur Geltung gekommen sei, da die prophetische Eschatologie die rituelle Absonderung des nachexilischen Judentums gefördert habe. Der innere Widerspruch zwischen dem irrationalen »Katastrophengott« und seiner Bindung an einen Bund als Rationalisierung der irrationalen Züge Jahwes verhindere seine Reduktion auf einen Funktionsgott und habe gleichzeitig ethische Rationalisierungsleistungen bei seinen Verehrern bewirkt. Die These von der Weltüberlegenheit des fremden Wahlgottes Jahwe, der sich sein Volk erwählt habe, verknüpfte Max Weber mit der These der Dialektik von Charisma und dessen Veralltäglichung als Strukturprinzip 62 Wolfgang Schluchter, Grundlegung der Soziologie, Bd. 1: Eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht, Tübingen 2006, 304–316, hat zu Recht auf die Nähe zu Heinrich Rickert verwiesen, wenn Max Weber »Wertsphären« rekonstruiert, die um einen Wert mit Selbstzweckcharakter zentriert seien, so dass gesellschaftliche Ordnungen anders als für Karl Marx auch gegenüber der Ökonomie »autonom« seien. Allerdings sind sie keineswegs unrelationiert, siehe dazu Verf., Marx – Durkheim – Weber. Theoriegeschichte in systematischer Absicht. Zu einem Entwurf von Wolfgang Schluchter, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 13 (2007), (391–402) 399f. 63 Jede Form des Supranaturalismus liegt Max Weber dabei ebenso fern wie der von Ernst Troeltsch in der Religionsphilosophie als Alternative zum Empirismus vertretene Platonismus. 64 Um die Autonomie der religiösen Wertsphären zum Ausdruck zu bringen, kann Max Weber unter dem Aspekt des substantiellen Gottesbegriffs im Gegensatz zum Funktionsgott in beiden Abschnitten Anleihen bei konservativen Protestantischen Fachexegeten machen, die sich von liberalen Positionen, wie sie von Julius Wellhausen vertreten wurden, absetzen wollten, ohne dass Max Weber das damit verbundene Werturteil eines Supranaturalismus teilt. Max Weber ist damit auch deutlich von Emile Durkheim abgehoben, der letztlich der Basis-Überbau-Theorie verhaftet bleibt; siehe W. Schluchter, Soziologie (s. o. Anm. 62), 107–196. Zu Emile Durkheims Einfluss auf den Gegenentwurf zu Max Webers Antikem Judentum von Antonin Causse siehe Steven T. Kimbrough, Israelite Religion in Sociological Perspective (StOR 4), Wiesbaden 1978; vgl. auch Verf., Art. Religionssoziologie III. Soziologie einzelner Religionen 1. Religion Israels, in: RGG4 7, Tübingen 2004, 379f.

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der Geschichte. Noch in einem Gesetz wie dem des Brachejahres in Ex23, 1065 werde letztlich das Bewusstsein von der Weltüberlegenheit dieses Gottes und seiner Weltunangepasstheit zum Ausdruck gebracht, ein Zug, der, so meint Max Weber, das Judentum bis heute kennzeichne, so dass aus dieser Religion auch keine rationalisierenden Impulse zugunsten eines Geistes kapitalistischen Wirtschaftens ausgegangen seien. Verteidigt also Max Weber die Autonomie der Religion des antiken Judentums so nachdrücklich gegen eine ursprungsgenetische Rückführung auf andere Wertsphären wie die der Ökonomie oder der Vergemeinschaftung, so wird darin die Frontstellung gegen und Überwindung von einer materialistischen Position wie der des Marxismus erkennbar. Ein weiterer Antipode in systematischer Hinsicht war Friedrich Nietzsche, dessen Einfluss auf die Konzeption des Antiken Judentums nicht gering zu veranschlagen ist. Im Deponatsmanuskript Ethik und Mythik/rituelle Absonderung hat Max Weber neben dem Bundesmotiv66 auch erstmals das Motiv der Paria im Kontext des antiken Judentums verwendet.67 In einer Randnotiz »Städtisches Pariavolk – wie Kasten«68 stellt sich Max Weber die Aufgabe, die Analogie zwischen Judentum und indischen Paria herauszuarbeiten, die schon im Haupttext des Manuskriptbogens angedeutet ist,69 spricht Max Weber hier doch von der »uns von Indien her bekannte(n) Erscheinung der ›Gaststämme‹ auch in Israel«. Das Neue in der Einführung des Pariabegriffs in der Randnotiz des Manuskriptbogens »Nachexilische Priester – Rituelle Absonderung« ist die Übertragung dieses Analogons auf die rituelle Absonderung der Juden in dem Bemühen um Reinheit. Max Webers damit verbundene Umprägung des Pariabegriffs, der nun nicht mehr wie in Indien der Definition von Außenseitergruppen aus der Perspektive der Bevölkerungsmehrheit dient, sondern der Selbstdefinition einer Gruppe als abgesondert gegen eine Mehrheit, ist keineswegs originell, sondern ist, wie die Anwendung des Pariabegriffs auf das Judentum überhaupt, bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückzuführen. Ein 1823 uraufgeführtes Theaterstück von Michael Beer, dem jüngsten Bruder von Giacomo Meyerbeer, trug den Titel »Der Paria«.70 In diesem Stück setzt sich Michael Beer verdeckt mit der Lebenssituation der Juden auseinander, indem er einen indischen Paria zum Problemträger macht. Auch in der Literatur wurde der Pariabegriff immer wieder auf das Judentum angewandt. Georg Simmel spricht von der »Pariastellung« der Juden, die dem »von aller spezifischen Bedingtheit gelösten Charakter des Geldes« entspreche.71 Karl Kautzky spricht von den Juden, die erst kürzlich aufgehört hätten, Parias in einer feudalen Gesellschaft zu sein, und von dem jüdischen Proletarismus in Russland als »Paria unter Parias«.72 Louis Jacolliot erklärt jüdische Absonderungstendenzen mit der These, dass die Juden aus Indien stammten und durch das indische Kasten65 Siehe dazu oben 1. 66 Siehe dazu oben 1. 67 Siehe dazu Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 46–53. 74–78. 264–269; ders., Einleitung (s. o. Anm. 20), 66–71. 68 Siehe Weber, Rituelle Absonderung (s. o. Anm. 21), 205f. mit textkritischer Anmerkung ›i‹. 69 Siehe Weber, aaO. 192–194. 70 Siehe dazu Lothar Kahn, Michael Beer (1800–1823), in: YLBI 12 (1967), 149–160. 71 Siehe Simmel, Geld (s. o. Anm. 48), 207. 72 Siehe Karl Kautzky, Das Judenthum, in: Die Neue Zeit 8 (1890), 27–28.

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wesen geprägt worden seien.73 Friedrich Nietzsche, der Louis Jacolliots Monographie rezipiert hat,74 entnimmt ihr den Begriff »Tschandala« zur Bezeichnung der jüdischen und christlichen »Pöbelbewegung« und vergleicht die jüdische Priesterherrschaft mit dem indischen Kastenwesen. Max Weber nutzte den Begriff »Paria« in Verbindung mit dem antiken Judentum funktional, nicht wertend. Doch erhält der Begriff auch bei ihm pejorative Züge dort, wo Max Weber ihn in Anschluss an Friedrich Nietzsche mit der Ressentiment-These verbindet:75 Das Judentum habe sich um der alleinigen Teilhabe an den eschatologischen Heilserwartungen und der göttlichen Rache an den Völkern willen die Rolle der Paria auferlegt. Schon vor dem Weltkrieg gehört der Pariabegriff für die Juden fest zu Max Webers Gedankenwelt. Das zeigt die Einleitung von 191376 ebenso wie sein Diskussionsbeitrag zu einem öffentlichen Vortrag Martin Bubers im November 1913, von dem das Heidelberger Tageblatt (31/279) und die Heidelberger Zeitung (55/279) jeweils in den Ausgaben vom 28. November 1913 berichten und in dem Max Weber »auf die Pariastellung des jüdischen Volkes«, das an Gesetz und Gebräuche, auf welchen die Verheißung ruhe, gebunden sei, hingewiesen habe. Und so lässt er 1916 nach Abschluss des HinduismusManuskriptes die Aufsätze zum Antiken Judentum im Rahmen der Wirtschaftsethik der Weltreligionen mit den Worten beginnen: »Das eigentümliche religionsgeschichtlich-soziologische Problem des Judentums läßt sich weitaus am besten aus der Vergleichung mit der indischen Kastenordnung verstehen. Denn was waren, soziologisch angesehen, die Juden? Ein Pariavolk. Das heißt, wie wir aus Indien wissen: ein rituell, formell oder faktisch, von der sozialen Umwelt geschiedenes Gastvolk. Alle wesentlichen Züge seines Verhaltens zur Umwelt, vor allem seine längst vor der Zwangsinternierung bestehende freiwillige Ghettoexistenz und die Art des Dualismus von Binnenund Außenmoral lassen sich daraus ableiten.«77

Damit ist für Max Weber der entscheidende Grund genannt, warum trotz aller Rationalisierung der Ethik durch den Bundesgedanken und die Propheten das Judentum nicht zur Entstehung des Geistes des Kapitalismus beigetragen konnte. Die nachexilischen Hoffnungen auf göttliche Strafe für die Fremdvölker haben zusammen mit einem priesterlichen Ritualismus zur freiwilligen Absonderung des Judentums und damit zur Differenzierung von Binnen- und Außenmoral geführt, die dem wirtschaftlichen Erfolg keine religiösen Prämien zuerkennen ließ, da niemals, wie im Puritanismus, die auf dem Boden der formalen Legalität stehende rationale Erwerbswirtschaft religiös positiv bewertet werden konnte. »Das hinderte der Dualismus der Wirtschaftsethik, welcher bestimmte, dem Glaubensbruder gegenüber streng verpönte Arten des Verhaltens dem 73 Siehe Louis Jacolliot, Les législateurs religieux. Moise – Manou – Mahomet, Paris 1880. 74 Zu Friedrich Nietzsches Jacolliot-Rezeption siehe Annemarie Etter, Nietzsche und das Gesetzbuch des Manu, in: NS 16 (1987), 340–352. 75 Zur Ressentimentthese bei Max Weber siehe Klaus Lichtblau, Ressentiment, negative Privilegierung, Parias, in: Hans Kippenberg/Martin Riesebrodt (Hg.), Max Weber »Religionssystematik«, Tübingen 2001, 279–296. 76 Siehe Weber, Einleitung (s. o. Anm. 58), 83f. 77 Siehe Weber, Judentum (s. o. Anm. 11), 241.

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Nichtbruder gegenüber zu Adiaphora stempelte«.78 Dem Judentum habe also das soteriologische Motiv zur ethischen Rationalisierung der ökonomischen Außenbeziehungen gefehlt. Hier wird deutlich, wie sehr die Studien zur Protestantischen Ethik der Jahre 1904/05 hermeneutischer Schlüssel auch für das Antike Judentum der Jahre 1916–1919 bleibt. Dass hier noch einmal eine Spitze gegen Werner Sombart vorliegt,79 ist sicher. Doch ist sie nicht die für Max Weber an dieser Stelle entscheidende, sondern die gegen Friedrich Nietzsche.80 Für Friedrich Nietzsche nämlich zieht die politische Ohnmacht des nachexilischen Judentums, verbunden mit einer Ressentimenteschatologie, die rituelle Ansonderung von der Umwelt durch die Priester nach sich, und die so entstandene jüdische Hierokratie den Aufstand der jüdischen Plebejer, des »Tschandala«, der »Pöbelbewegug«, aus der das Christentum als ultimative Erscheinung des »Nihilsmus« entstanden sei.81 Wäre damit schon die Axt an die Wurzel des Weber’schen ProtestantismusKapitalismus-These gelegt, so gilt das um so mehr, als Friedrich Nietzsche nicht nur einige Abschnitte der Christentumsgeschichte einer Illegitimitätserklärung unterzieht, sondern diese Geschichte insgesamt unter Einschluss des Protestantismus. Max Weber musste Friedrich Nietzsches geschärftes »übereuropäisches Auge«, das sich Julius Wellhausens historischer Kritik am Judentum bediente,82 als Infragestellung verstehen. Der europäische Gegensatz sei ein Geflecht »verschiedener Vergangenheiten«, so Friedrich Nietzsche, und die europäische Geistesgeschichte eine Fortsetzung ihrer frühesten Vorgeschichte, so dass wir noch immer in den Überresten der Empfindungen der Urahnen leben, deren Geschichte für uns Menschen der so genannten Moderne bestimmend bleibe, während die europäische Geistesgeschichte nur eine »kleine Welt der Ausnahmen« sei. Das allerdings ließe für Max Webers Protestantismus-Kapitalismus-These so wenig Raum wie für seine Suche nach den historischen Wurzeln des okzidentalen Rationalismus. Auf die Sombart’sche These vom jüdischen Ursprung aufzuspringen, verbot Max Weber seine Kenntnis der jüdischen Religionsgeschichte. In die Nietzsche’sche Abwertung von Judentum und Christentum als nihilistische Bewegungen einzustimmen, die aus dem Ressentiment entstanden seien, war ebenfalls ausgeschlossen. Max Weber wählte einen anderen Weg, der dem Judentum das Ressentiment und die freiwillig übernommene Pariaposition beließ, die Wirkungsgeschichte aber der im Alten Testament in Bundesgedanken und Prophetie angelegten Züge der Rationalisierung der christli78 Siehe Weber, aaO. 701. 79 Siehe dazu oben 1. 80 Wie weit Nietzsches Einfluss auf Max Weber gehabt habe, ist in der Weber-Forschung lange strittig gewesen, doch dürfte sich die Einsicht durchgesetzt haben, dass Max Weber sich mit Friedrich Nietzsche stark, wenn auch meist implizit auseinandergesetzt hat; zur Diskussion siehe Wilhelm Hennes, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, 167–191; Wolfgang Schluchter, Zeitgemäße Unzeitgemäßheit. Von Friedrich Nietzsche über Georg Simmel zu Max Weber, in: Ders., Unversöhnte Moderne (stw 1228), Frankfurt/Main 1996, 166–185; Edith Weiler, Literarische Moderne (s. o. Anm. 17), 41–60. 81 Siehe dazu Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«. Ein philosophischhistorischer Kommentar (Beiträge zu Friedrich Nietzsche 2), Basel 2000, 265–276. 82 Siehe dazu Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild (MTNF 32), Berlin/New York 1996, 318–340.

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chen Rezeption des Alten Testaments in Gestalt der Septuaginta zuwies und damit in einer Perspektive universalhistorischer Kulturgeschichte das Alte Testament unter die Ursprungsbedingungen der modernen okzidentalen Rationalismus einrücken ließ. Dieser Perspektive, die Max Weber aufgrund seines vorzeitigen Todes nur noch skizzieren, aber nicht mehr ausarbeiten konnte, wenden wir uns abschließend zu. In dem Eingangspassus des Antiken Judentums ist eine eigentümliche Spannung zu erkennen. Nachdem Max Weber das antike Judentum als Pariavolk in kastenloser Umwelt beschrieben hat, also seine Absonderung von dieser Umwelt zum Wesenszug erklärt und dabei den Unterschied zwischen indischer Pariakaste, »die in hohem Grade rationale, das heißt von Magie sowohl wie von allen Formen irrationaler Heilssuche freie religiöse Ethik des innerweltlichen Handelns«, im Gegensatz zu fernöstlichen Erlösungsreligionen im Judentum hervorgehoben hat, setzt Max Weber nach einem Absatz neu an: »Die weltgeschichtliche Tragweite der jüdischen religiösen Entwicklung ist begründet vor allem durch die Schöpfung des ›Alten Testamentes‹.« Es habe zu den wichtigsten geistigen Leistungen der paulinischen Mission gehört, »daß sie dies heilige Buch der Juden als ein heiliges Buch des Christentums in diese Religion hinüberrettete und dabei doch alle jene Züge der darin eingeschärften Ethik als nicht mehr verbindlich, weil durch den christlichen Heiland außer Kraft gesetzt, ausschied, welche gerade die charakteristische Sonderstellung der Juden: ihre Pariavolkslage rituell verankerten.«83

Hier kündigt sich ein universalhistorisches Programm der Kulturgeschichte an, das die Frage nach dem Ursprung des okzidentalen Rationalismus zum Ziel haben soll. In einer »Selbstanzeige« kündet Max Weber im Werbeprospekt »Neuigkeiten aus dem Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) und der H. Laupp’schen Buchhandlung« vom Oktober 1919 für die »Gesammelten Aufsätze« mit den Studien zur Protestantischen Ethik und zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen das Programm an.84 Die Aufsätze zum Antiken Judentum sollen durch »eine der Entstehung der sozialen Eigenart des Okzidents gewidmeten Skizze der Entwicklung des europäischen Bürgertums in der Antike und im Mittelalter« erweitert werden. Damit sollen die Aufsätze zum Antiken Judentum unter die Ursprungsbedingungen der Entstehung des okzidentalen Rationalismus eingeordnet werden. Es geht Max Weber 1919 nicht mehr nur um den Zusammenhang zwischen Religion und Wirtschaftsgesinnung – obwohl die Studien zur Protestantischen Ethik weiterhin »an der 83 Siehe Weber, Judentum (s. o. Anm. 11), 242. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Max Weber hier ein älteres, auf die Absonderung des Judentums konzentriertes Manuskriptblatt durch die Thematik der universalen kulturhistorischen Bedeutung des Alten Testaments aufgrund der christlichen Rezeption ergänzt hat. Max Webers Technik der Manuskripterstellung durch Fortschreibung von Manuskriptbogen und ihre Integration in neue Manuskripte wird durch das erstmals veröffentliche Deponatsmanuskript Ethik und Mythik/rituelle Absonderung sowie dessen Rezeption im Antiken Judentum sehr gut verdeutlicht. Weitere Hinweise liefert die literarische Analyse des PharisäerManuskripts. Hier gelang es, ohne dass das handschriftliche Manuskript noch erhalten war, eine Ursprungsfassung des Manuskripts von einer tiefgreifenden Überarbeitungsschicht zu sondern. Auch konnte deutlich werden, wie Max Weber Exzerptblätter in das Manuskript eingearbeitet hat; siehe Verf., Pharisäer (s. o. Anm. 42), 1–87. 84 Für den Abdruck des Textes siehe Verf., Einleitung (s. o. Anm. 20), 131.

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Spitze« stehen sollen –, sondern um eine Klärung des historischen Herkommens des Geistes eines okzidentalen Rationalismus in einer Vielzahl von Wertsphären, unter die Max Weber Wissenschaften, Künste, Bürokratie des Fachbeamtentums, kapitalistische Wirtschaftsformen und die formalrationale Struktur des modernen Rechts zählt.85 Diese Skizze hat Max Weber so wenig noch schreiben können wie den geplanten dritten und vierten Band mit der Geschichte vor allem des frühen und mittelalterlichen Christentums, aber auch des talmudischen Judentum und des Islam. Mit diesen Bänden wäre der Anschluss an die Studien zur Protestantischen Ethik hergestellt worden, so dass sich eine universale Darstellung vom Alten Orient – sollten doch die Aufsätze zum Antiken Judentum um kurze Skizzen zur ägyptischen, mesopotamischen und zarathustrischen Ethik erweitert werden86 – bis zur Moderne, für die die protestantische Ethik Katalysatorfunktion haben sollte, ergeben hätte. Der vorzeitige Tod Max Webers im Sommer 1920 hat es verhindert, dass er die Realisierung dieses universalhistorischen Projektes noch in Angriff nehmen konnte. Die Judentumsstudien sollten noch durch Ausarbeitungen zu den Psalmen und zum Hiobbuch erweitert werden, die Theodizee-Thematik also stärker in den Vordergrund rücken. Wir wissen nicht, ob Max Weber sich am Ende von der Pariamotivik verabschiedet hätte. Die Überarbeitungen der Aufsätze des Antiken Judentums letzter Hand im Jahre 1920 für die Buchfassung geben keinen Hinweis darauf. Die Pariamotivik aber erinnert uns nachdrücklich daran, dass Max Weber seiner posthumen Karriere vom Außenseiter zum Klassiker zum Trotz eine Gestalt des frühen 20. Jahrhunderts bleibt, die tief im 19. Jahrhundert verwurzelt ist.

85 Siehe dazu Weber, Vorbemerkung (s. o. Anm. 59), 1–12. 86 Wie eine derartig weit gefasste Religionssoziologie des antiken Judentums fast hundert Jahre später aussehen könnte, habe ich an anderer Stelle zumindest in Bezug auf das rechtshistorische Fachwerk skizziert, siehe Verf., Max Webers Studien (s. o. Anm. 5), 276–313.

Liberaler Protestantismus und liberales Judentum Das Beispiel Ernst Troeltsch Hartmut Ruddies Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Trutz Rendtorff zum 8o. Geburtstag Troeltschs Überlegungen zum überlieferten und zum damals zeitgenössischen Judentum haben bisher keine zusammenfassende Darstellung gefunden. Und auch die keineswegs raren Auseinadersetzungen zeitgenössischer jüdischer Gelehrter und Politiker mit Troeltschs Überlegungen sind – bis auf eine amerikanische Studie zum Verhältnis von Hermann Cohen und Ernst Troeltsch von Wendell S. Dietrich aus dem Jahre 1986 – bislang nicht untersucht worden.1 Das nötigt in einem Vortrag zum Thema auch zur Zurückhaltung. Dafür gibt es mehrere Gründe: 1. Die Erforschung des deutschen Judentums an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat erst seit Mitte der 1970er Jahre – etwa mit den großen Arbeiten von Hans Liebeschütz von 1970 und Uriel Tal aus dem Jahre 1975 – die intellektual- und sozialgeschichtliche Weite erreicht, mit der man die Nuancen von Troeltschs Positionen und die seiner jüdischen Kritiker genauer erfassen kann. 2. Die Troeltschforschung hat sich auf die Konstellationen von liberalem Protestantismus und liberalem Judentum – bis auf einen allerdings wegweisenden Aufsatz von Trutz Rendtorff aus dem Jahre 1986 – bislang kaum eingelassen.2 3. Jede Untersuchung, in der die Judentumsauffasungen eines protestantischen Theologen vor 1945 dargestellt werden, steht auch im Licht oder im Schatten der christlich-jüdischen Dialogkultur seit den frühen 1960er Jahren: Hier ist der Streit um das geschichtliche Selbst- und Fremdverständnis der eigenen und der anderen Religion für lange Zeit und fast überwiegend einem dogmatisierten Dialog gewichen, in dem das Gespräch zwischen Christen und Juden biblisch-theologisch geführt wird – oder nichtig ist. Noch 1972 konnte Robert Raphael Geist, ein Schüler Leo Baecks und einer der Inauguratoren des christlich-jüdischen Gesprächs in Deutschland nach 1945, seinem 1 2

Wendell S. Dietrich, Cohen and Troeltsch. Ethical Monotheistic Religion and Theory of Culture. Atlanta, Georgia 1986. Trutz Rendtorff, Das Verhältnis von liberaler Theologie und Judentum um die Jahrhundertwende, jetzt in: Ders., Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung. Gütersloh 1991, 59–71.

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gleichgesinnten Freund Hans-Joachim Kraus schreiben: »Echtes Gespräch von Juden und Christen gibt es nur in biblischer Radikalität.« Und Kraus schrieb zurück: »Nie wieder Liquidierung des Alten Testaments in der christlichen Theologie!«3 Wenn Troeltsch aber eines nicht wollte, dann war es eine Debatte mit jüdischen Gesprächspartnern, in der seine theologische, historischen, sozialwissenschaftlichen und politischen Kenntnisse stillgelegt werden. Seine Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem Judentum zeigen Verständnis und Distanz – und sie haben eben die Perspektive des Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik – und nicht die Optik der Rückschau auf die Katastrophe des europäischen Judentums seit 1933. Genau das aber kann einen produktiven Verdacht anleiten: Es könnten in den damaligen Dialogen zwischen liberalen christlichen und liberalen jüdischen Gelehrten Momente enthalten sein, die aus der Vexierfrage von »Anpassung oder Fremdheit« herausführen und damit auch zu einem anderen christlich-jüdischen Dialogtypus hinführen. Gibt es nur einen christlich-jüdischen Dialog im dogmatischen Paradigma – oder gibt es auch einen christlichen-jüdischen Dialog im historischen Paradigma? Gibt es nur einen Dialog auf den gemeinsamen biblischen Wurzeln – oder gibt es einen christlichjüdischen Dialog, der an seiner jeweiligen und gemeinsamen geschichtlichen Herkunft und auch an gemeinsamen wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Projekten interessiert ist? Und hier meldet sich sofort ein neuer Unterschied zwischen der deutschen Lage nach 1945 und der deutschen Lage nach 1990: das Gewicht der Dialogpartner und die Dialogperspektiven haben sich von der Peripherie zur Mitte der Gesellschaft verschoben. Die Juden in Deutschland sind heute – wie zu den Zeiten Troeltschs und auch anders als zu jenen Zeiten – Dialogpartner an vielen Orten. Und noch etwas ist zu bemerken: Der christlich-jüdische Dialog ist eines; die inzwischen mehr als sechzig Bände umfassenden Studien des Leo-Baeck-Instituts haben den christlichen-jüdischen Dialog in den weiten Raum der historischen Erforschung der deutschen und europäischen Aufklärung und Moderne gestellt. Sie müssten nur wahrgenommen werden.4

1. Troeltschs Überlegungen zum Judentum sind historisch von ihm selber datiert und sie müssen an der Forschungslage zum deutschen Judentum an der Wende vom 19. zum 3 4

Vgl. zur Thematik: Versuche des Verstehens. Dokumente jüdisch-christlicher Begegnung aus den Jahren 1918–1933, hg. u. eingel. v. Robert Raphael Geis u. Hans-Joachim Kraus, München 1966. Hartmut Ruddies, Hermann Cohen und Ernst Troeltsch, in: Mitteilungen der Ernst-TroeltschGesellschaft V, Augsburg 1990, 38–47; vor allem aber Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere? Tübingen 1999; vgl. dazu die Rez. von Matthias Wolfes in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft XIII, Augsburg 2000, 156–162.

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20. Jahrhundert orientiert werden. Das sind die beiden Richtpunkte für eine Besinnung auf Troeltschs Ausführungen. Es sind weiterhin Reflexionen eines dezidiert liberalen Protestanten und seine jüdischen Gesprächspartner und Kritiker gehörten überwiegend zum liberalen Judentum. Für beide Positionen gibt es eine grundsätzliche Gemeinsamkeit: Beide waren Teil einer Suchbewegung, mit der die Selbstständigkeit der Religion unter den Bedingungen der Moderne dargelegt und mit der die Religion als Integrationsmedium einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft und als Basis eines Kulturstaates behauptet werden sollte. Ernst Troeltsch und Adolf Harnack, Hermann Cohen und Leo Baeck hatten eine gemeinsame Grundüberzeugung: Wenn es in der Krise der modernen Kultur etwas gibt, das die Hoffnung auf die Erneuerung der Kultur weckt und nährt, dann ist es die Religion. Wie der Geist der Moderne die Kraft der Kultur zermürbt hat, so kann nur ein aus den Quellen der Religion erneuerter Geist die Wunden der modernen Kultur heilen. Der jüdische Theologe Albert Lewkowitz hat das liberalen Protestanten und liberalen Juden gemeinsame Religions- und Kulturverständnis 1923 in der MGWJ – der tonangebenden liberaljüdischen »Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums« – mit den Stichworten »Erneuerung der Religion und Vertiefung des Kulturbewußtseins«5 beschrieben – aber dazu bedarf es – das Wort stammt ursprünglich von Heinrich Scholz – einer »ponderablen Religion«. Wo aber ist diese »ponderable Religion« zu finden? Die Antwort Hermann Cohens und Troeltschs konvergieren an einem Punkt: Mit Sicherheit außerhalb der römischen Papstkirche und der protestantischen lutherischen Staatskirchen mit ihren Theologen, vielleicht in manchen Erscheinungen des liberalen Reformkatholizismus, sicherlich primär im liberalen Protestantismus und liberalen Reformjudentum – hier gibt es die eigene und die gemeinsame Suche nach einer »ponderablen Religion«. Aber dann gehen die Wege auseinander. Das zeigen die lebhaften Debatten um die beiden systematischen Hauptschriften der liberalen protestantischen Theologie um 1900: Adolf Harnacks »Das Wesen des Christentums« von 1900 und Ernst Troeltsch »Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte« von 1902. Diese Debatten waren der erste bedeutende, bislang nicht ausreichend erforschte innerliberale Konflikt von Judentum und Christentum im Kaiserreich und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auf den zweiten werden wir noch zu sprechen kommen. Auf Harnack antwortete Leo Baeck mit seiner Gegenschrift »Das Wesen des Judentums« aus dem Jahre 1905, dem seit Moses Mendelssohn meistgedruckten jüdischen Buch in Deutschland. Und auf Troeltsch antworteten auf jüdischer Seite vor allem Hermann Cohen und einige seiner Schüler wie Albert Lewkowitz und Benzion Kellermann. Ich beleuchte kurz einige Hintergründe dieser Debatte.6 5 6

Albert Lewkowitz, Religiöse Denker der Gegenwart. Vom Wandel der modernen Lebensanschauung, Berlin 1923. H. Ruddies, (s. o. Anm. 4) und ders., Leo Baecks Kritik an Adolf von Harnack. »Man muß die Juden kennen, wenn man das Evangelium verstehen will«, in: In unserer Mitte leben: Mit uns leben. Hg. vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit,

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2. Beide jüdische Theologen waren eng mit der Konzeption der »Wissenschaft des Judentums« verbunden, die erstmals 1823 in einem gleichnamigen programmatischen Artikel von Immanuel Wolf in der ersten Nummer der »Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums« publiziert worden war. Sie spiegelt das Bewußtsein des modernen, liberalen Reformjudentums: Einen eigenen Weg zur Moderne finden, der nicht mit dem Verlust der religiösen Tradition bezahlt werden musste und der die eigene Religion anschlussfähig an die Moderne machte. Das waren vor allem auch die Ecksätze des Lehrprogramms der 1872 gegründeten »Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums«, die von 1907 bis 1942 in der damaligen Artelleriestraße 14 in Berlin-Mitte zu Hause war (heute Tucholskystr. 9 und Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland). Beides – die Programmatik der Zeitschrift und die Arbeit der Hochschule – waren erkennbar durch einen Transfer der Grundsätze der liberalen, wissenschaftlichen protestantischen Theologie seit der Aufklärung bestimmt. Zwei Dinge mussten in dieser Konzeption der »Wissenschaft des Judentums« gleichzeitig geleistet werden – und hier zeigte sich die tiefe Verwandtschaft von liberalem Protestantismus und liberalem Judentum: 1. Es musste dargelegt werden, daß der religiöse Wert des Judentums einzigartig genug ist, um die jüdische Nonkonformität in der Moderne zu rechtfertigen. 2. Und es mussten die Grenzen der Assimilation bestimmt werden. Der Leitsatz Leo Baecks dabei lautete: »nicht von unserem Judentum fort, sondern durch unser Judentum hindurch führt der Weg zu unserem Menschentum.«7 Jüdische Bestimmtheit und theoretische und humane Universalität – das waren in etwa die gemeinsamen Signaturen der Positionen von Baeck und Hermann Cohen und ihrer Schüler. Sie waren auch der Ausgangspunkt für ihre Kritik an Harnack und Troeltsch: Cohen und Baeck erkannten fast gleichzeitig um die Jahrhundertwende die Kosten für den Transfer der liberalen protestantischen Theologie in das moderne Judentum. Das Judentum übernimmt die historische Methode des liberalen Protestantismus und gewinnt die Weite seiner eigenen imponierenden Geschichte und Tradition – aber es verliert seine theologische und traditionelle Identität. Auch darum musste Baeck auf Harnacks »Wesen des Christentums« mit seinem »Wesen des Judentums« replizieren, in dem er die essentiellen Prädikate des Judentums feststellt. Und dabei schließt er nicht aus, daß das durchreflektierte liberale Judentum auch zum Blindenführer des liberalen Protestantismus werden kann. Eine eigentümliche Wende im liberalen Judentum: Wesen gegen Geschichte? Aber er geht noch einen Schritt weiter und hier liegt das Zentrum seines Widerspruchs gegen Harnack: Auch der liberale Protestantismus verliert im Historismus seine theologische Identität. Aber er verstellt sich diese Erkenntnis auf doppelte Weisen: In7

Frankfurt a. M. 1996, 27–29. Zitiert bei: Walter Homolka, Jüdische Identität in der modernen Welt. Leo Baeck und der deutsche Protestantismus, München 1994, 48.

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dem er einerseits seine religionsgeschichtliche Überlegenheit demonstriert – das Judentum ist die »überholte Vorstufe des Christentums« – und indem er andererseits sich selber als »Leitreligion der modernen Kultur« im Kaiserreich sieht. Auf diese Weise merkt der liberale Protestantismus nicht, daß er im gleichen kenternden Boot mit dem liberalen Judentum sitzt. Er verstellt sich seine wirkliche religiöse Lage. Und nun beginnt der im ganzen fragmentarische, unsystematische und hochprojektive Versuch Baecks, eine zeitgenössische Theologie des Judentums zu entwickeln, die ich hier nicht darstellen kann.8 Nur so viel sei gesagt: Baeck demonstriert das Wesen des Judentums an der Problematik des Christentums. Dabei kommt es bei Baeck zur Ausbildung einer Religionstheorie, in der das Judentum mit seiner Grundpolarität von Geheimnis und Offenbarung bzw. Gebot Gottes dem Christentum gegenübersteht. Auch das Christentum lebt in der polaren Spannung zweier Grundströmungen, die in ihm um die Vorherrschaft kämpfen: die »klassische Religion« des Christentums, repräsentiert von Jesus, Pelagius und Calvin, vertritt das Gebot; die »romantische Religion« des Christetums, repräsentiert von Paulus, Augustinus und Luther, repräsentiert das Geheimnis. Während nun der klassische Typ des Christentums mit dem Judentum identisch ist oder ihm nahebleibt, weil er das Gleichgewicht von Gebot und Geheimnis kennt, driften im romantischen Typ Gebot und Geheimnis auseinander, so daß insbesondere in dem von Baeck mit großem Misstrauen betrachteten Luthertum geheimnisvolle Tiefsinnigkeit und gebotlose Tatenlosigkeit zusammenkommen.9 Baeck antwortet also auf die von ihm scharf kritisierte christliche Überlegenheitsthese Harnacks mit einer eigenen, ziemlich verquasten jüdischen Überlegenheitsthese, die bereits irgendwo jenseits von orthodox-konservativem und liberalem Judentum liegt. Das wird wohl der innere Grund dafür sein, daß Harnack auf Baecks Schrift niemals reagiert hat. Der äußere Grund liegt wohl darin, daß auch ein Jude wie Leo Baeck um 1905 für einen Mann wie Harnack gesellschaftlich nicht ponderabel war. Wir lernen daraus: Wo der christlich-jüdische Dialog im 20. Jahrhundert nicht in Gang kam, lag das nicht immer nur an den Christen – und nicht immer nur an der Religion.

3. Auch Hermann Conen war ein Exponent und Kritiker dieser liberalen religiösen Grundströmung um die letzte Jahrhundertwende. Es kam anders als zwischen Baeck und Harnack aber zu einer Auseinandersetzung und Begegnung mit Ernst Troeltsch. Im Zentrum standen die Fragen nach dem systematischen Verhältnis von Religion und Ethik und nach der historischen Bedeutung der jüdischen Prophetie. 8 9

Zum Ganzen: Leo Baeck, Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums, Breslau 21902. Vgl. Homolka (s. o. Anm. 7), 45.

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Angesichts der vergleichbaren Zeitlage, aus der heraus Hermann Cohen (1842– 1918) und Ernst Troeltsch (1865–1923) ihren – wie beide sagen – »Kritischen Idealismus« als Religionsphilosophie (so Cohen) oder als »Freien Protestantismus« (so Troeltsch) entwickelten, bieten beide Konzepte dennoch einen bestimmten Widerspruch in den Feldern der Religion, der Ethik und der Politik. Mit diesem Unterschied sind beide nach 1912 (als Cohen nach seiner Emeritierung in Marburg nach Berlin wechselte, wo er auch als Dozent an der »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« tätig war) und nach 1915 (als Troeltsch als führender deutscher Religions-, Kultur- und Geschichtsphilosoph von Heidelberg nach Berlin wechselte) auch persönlich in Kontakt gekommen. Begegnungsräume waren u.a. die »Kant-Gesellschaft« und die »Religionswissenschaftliche Vereinigung zu Berlin« und verschiedene Foren, in denen – mitten im Ersten Weltkrieg – über »Das Eigentümliche des deutschen Geistes« (so der Titel einer 1916 in ThLZ 41, Sp 89f. von Troeltsch rezensierten Schrift Cohens) und über die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens mit den Westmächten befunden wurde.10 Cohen war auf dem Weg zu seiner großen Schrift »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«, die 1919 erschien, Troeltsch in den Vorarbeiten zu seinem opus magnum »Der Historismus und sein Probleme«, das 1922 mit nur einem ersten Band als großes Fragment von ihm publiziert wurde. Cohen hatte schon im Ernsten Weltkrieg, als alle Religionen und Konfessionen die Spannung von Universalität und Nationalität an sich selber austragen mussten, seine ersten Überlegungen zum Wesen des Judentums im scharfen Doppelblick auf den europäischen Nationalismus und auf den aufstrebenden Zionismus verfasst, dem er die Rückstufung des Judentums zu einer nationalen Idee vorwarf.11 Dennoch hatte er sich als deutscher Jude und Kantianer an der Formierung der »Ideen von 1914« beteiligt und war als Vertreter der jüdischen Assimilation und einer deutsch-jüdischen Symbiose in Europa Anwalt eines deutschen ethischen Sozialismus.12 1919 definierte er das Judentum als einen solchen ethischen Monotheismus, der der christlichen Religion mindestens ebenbürtig ist und der in seiner Bedeutung für die moderne Kultur das Christentum überragt, weil die ethische Gottesidee im Judentum ein kritisches Prinzip ist, das alle innergesellschaftlichen Totalisierungen in Frage stellt und deshalb den Spielraum des Individuums kräftig erweitert, ihn aber zugleich in Menschheitsbezügen verortet. Auch Troeltsch hatte – in der Folge seiner »Soziallehren« von 1912 und über der Vorarbeit am Historismuskonzept – sich mit den beiden in den Jahren 1916 und 1917 im »Logos« veröffentlichten Parallelstudien »Glaube und Ethos der hebräischen Prophe10 Die Studie von Wendel S. Dietrich (s. o. Anm. 1) behandelt das Verhältnis von H. Cohen und E. Troeltsch unzureichend; siehe dazu H. Ruddies, Cohen und Troeltsch (s. o. Anm. 4). 11 Hermann Cohen, Deutschtum und Judentum (1915), in: Ders., Jüdische Schriften, hg.v. Bruno Strauss, Berlin 1924, Bd. 2, 237–301; jetzt auch in: Christoph Schulte (Hg.), Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland, Stuttgart 1993, 40–69; H. Ruddies, Cohen und Troeltsch (s. o. Anm. 4), 39f. 12 Vgl. Dietrich (s. o. Anm. 1), 47ff; 53ff.

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ten« und »Die alte Kirche«13 mit der Herkunftsdimension des Christentums aus dem Judentum und der griechischen Antike beschäftigt. Seine These widersprach dem religionsphilosophischen Konzept Cohens gründlich. Indem auch Troeltsch das Christentum als ethischen Monotheismus versteht, akzeptiert er zwar seine prophetisch-jesuanische Grundlinie als terminus a quo, begreift aber »Die alte Kirche« als wirkungsgeschichtlichen terminus ad quem des frühen Christentums in der Antike. Ging es Cohen um eine Demonstration des Judentums als Religion der Vernunft aus den biblischen und talmudischen Quellen, dann ging es Troeltsch um den Nachweis einer solchen Interaktionsmöglichkeit und Interaktionsfähigkeit zwischen dem Christentum und seiner geschichtlichen Umwelt, in der das Wesen des Christentums nicht als invariantes Prinzip, sondern als Quelle geschichtlicher Variationsfähigkeit von der Antike bis zur Moderne auftreten kann und auftreten muss. Wesensbestimmung des Christentums war und ist immer Wesensgestaltung.14 Dabei – so Troeltsch – kommt der althebräischen Prophetie höchste Bedeutung zu: »Daß das Christentum in der postiven Richtung der Weltbejahung verläuft, verdankt es seiner Wurzelung im hebräischen Prophetismus«, der selber freilich in »nationaler Verkapselung« geendet sei.15 Diese These Troeltschs wurde nun Anlaß einer breiten jüdisch-christlichen Debatte, die man – nach der Auseinandersetzung Baecks mit Harnack von 1905 – als den zweiten großen innerliberalen Konflikt zwischen Judentum und Christentum im Kaiserreich bezeichnen kann. Zwischen 1915 – als Troeltsch seine Prophetenthese erstmals in Vorträgen in Heidelberg und Berlin vertreten hatte – und 1917, als Hermann Cohen seine explizite Antikritik zu Troeltschs These publizierte, entstand eine breite Debatte, in die vor allem Cohens Schüler Benzion Kellermann und Elias Auerbach eingriffen.16 Cohens Antwort ist eine scharfe Replik auf Troeltschs »soziologischen Reduktionismus«.17 Troeltsch gehe es in seiner Prophetenthese nur um funktionale Einsichten in einen wirkungsgeschichtlichen Prozeß, mit dem der hebräische Prophetismus in der christlich-religiösen Welt Europas gewirkt habe, nicht aber um den Inhalt und die Wahrheit der prophetischen Verkündigung selber. Die prophetische Verkündigung aber kreise um die Idee der Gerechtigkeit und die Idee der Wahrheit und habe damit einen Prozess angestoßen, der in der Neuzeit insbesondere von Immanuel Kant aufgenommen worden sei und der die Anhänger der jüdischen Religion zu Trägern des ideellen Fortschritts in der modernen Kultur und Zivilisation gemacht habe.18 13 Ernst Troeltsch, Gesammelte Schriften (= GS), Bd. IV, 34–65 u. 65–121. 14 E. Troeltsch, GS II, 386–451; dazu H. Ruddies, Wesensbestimmung als Wesensgestaltung. Der Beitrag E. Troeltschs zur Wesensbestimmung des Christentums, in: M. Delgado (Hg.), Das Christentum der Theologen im 20. Jahrhundert. Stuttgart/Berlin/Köln 2000, 23–36. 15 E. Troeltsch, GS IV, 64. 16 Nachweise bei: H. Ruddies (s. o. Anm. 4). 17 Zit. nach Homolka (s. o. Anm. 7), 36. 18 AaO. 35f.

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Cohens eigentliche Leistung bestand – im Vergleich mit Troeltschs »Historismusschriften« – in der jüdisch-religiösen Qualifizierung der »Einheit eines Kulturbewußtseins«, das die kulturelle Differenzierung und Schichtung der modernen Gesellschaft nicht rückgängig machen wollte und das sie auch inhaltlich nicht antreten wollte. Aber dieses jüdisch-religiöse Kulturbewußtsein übernimmt eine Garantiefunktion für die Einheit dieses Kulturbewußtseins. Es geht Cohen also – sehr ähnlich wie Troeltsch – um eine religiös-geschichtsphilosophische Denkfigur, in der ein systematisches Konzept des religiösen Pluralismus und die religiöse und historische Wertschätzung der individuellen Religion zum Ausgleich kommt.19 Religion steht nicht und darf nicht stehen im Widerspruch zur modernen Autonomieanmutung. Die Rechtfertigung religiöser Gehalte kann nicht mehr auf dem Weg autoritärer Vorgaben erfolgen, sondern nur noch durch intersubjektive und kulturpraktische Verfikationen religiöser Traditionen. Und hier gehen Cohen und Troeltsch andere Wege – vor allem aber nennen sie jeweils einen anderen religiösen Kandidaten für die religiöse Theoriepraxis in der modernen Lebenswelt. Aber sie bleiben auch auf einem gemeinsamen Fundament: Hier aufgeklärtes Judentum – dort aufgeklärter Protestantismus. Dieses achtungsvolle Nebeneinander hat Troeltsch in manchen An- und Umfragen, in politischen Resolutionen und in einigen gewichtigen Artikeln in den großen deutschen Tagszeitungen bezeugt. Antisemitismus oder Judenhaß waren ihm immer fremd – nicht aber ein kräftiges Unterscheidungsbewußtsein von Protestantismus und Judentum und eine grande maxime in dieser Hinsicht: »Ohne gegenseitige Gerechtigkeit und Billigkeit wird es in dieser Sache nicht abgehen.« Diese Haltung aber hat ihm dann in der ersten Phase und in der ersten Krise der Weimarer Rpublik in den Jahren 1919/1920 in seinem Amt als Unterstaatssekretär im Preußischen Kultusministerium in einige Schwierigkeiten gebracht.

4. Für den christlich-jüdischen und deutsch-jüdischen Dialog stellt die Weimarer Reichsverfassung bekanntlich einen Einschnitt dar: Die Juden wurden erstmals zu gleichberechtigten Trägern der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten und wurden nach der Verfassungsnorm in die Toleranz- und Paritätspolitik einbezogen, die den Religionsgesellschaften nach Artikel 137 Gleichstellung brachte. Das führte 1920 zur Neugründung und einer neuen Blüte der Berliner »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums«, die maßgeblich von dem liberalprotestantischen preußischen Kultusminister C.H. Becker betrieben wurde. Die Gleichstellung der Juden – so kommentierte Troeltsch diesen Vorgang im »Kunstwart« von 1919 – müsste sie zu Befürwortern der Verfassung und des Weimarer Staates machen; dadurch könnte der ›soziologische Stau‹ des modernen Judentums allmählich aufgelöst werden (Fall Arons). 19 Dietrich (s. o. Anm. 1), 72–81.

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Tatsächlich stellte Leo Baeck 1929 in der 2.Aufl. der RGG – an der jüdische Gelehrte auf Einladung Hermann Gunkels gleichberechtigt mitgearbeitet hatten – rückblickend fest: »Auf das ganze gesehen, steht das J[udentum] heute vertiefter, gefestigter, seiner selbst und der Zukunft gewisser da, als ein Jahrhundert zuvor.«20 Als Anwälte der Weimarer Demokratie gerieten aufgeklärte Juden und aufgeklärte Protestanten schon Anfang 1919 und dann in der ersten Krise der Weimarer Republik nach den Versailler Verträgen von 1919 gemeinsam in das Visier völkisch-nationaler Schriftsteller und Ideologen. Zwei zeitgeistrelevante Beispiele: Als Nachzügler der alldeutschen Kriegsliteratur publizierte Wilhelm Meister in München – offensichtlich ein poetisches Pseudonym mit Bildungsanspruch – seine in der konservativen Kirchenpresse breit rezensierte Schrift »Judas Schuldbuch. Eine deutsche Abrechnung«.21 Auf der Generalthese »Die sogenannte liberale Theologie [...] steht durchaus im Banne der alljüdischen Idee« (22) zieht der Autor das Fazit: »Wir sehen [...] die meisten unserer religiösen [...] Reformer, die Troeltsch, Harnack, Baumgarten usw. natürlich auch die kleineren Götter [...] auf der Leimrute internationalen Verständigungsidee, in den Reihen der Verzichtler, als gedankenlose Anbeter der pazifistischen Idee, dieser wahnbetörten Verwirrung, die die Entente via Juda unseren Studierstubengrößen eingeimpft hat« (25). Sie sind »Söldner der Goldenen wie der Roten Internationale.« In der 1920 ebenfalls in München publizierten Schrift des Pastors Karl Gerecke »Biblischer Antisemitismus«22 wird – ebenfalls aus einer alldeutschen Position – die These vertreten: »Die sogenannte liberale Theologie steht durchaus im Banne der alljüdischen Idee« (20); als Vertreter dieser »idiotische(n) und verbrecherische(n) Wissenschaft« werden ausdrücklich Wilhelm Bousset, Otto Baumgarten, Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke »als bornierte christliche Identitätsjuden mit Professor- und Doktortitel« genannt (40; 44) – Militanter Antisemitismus als inferiore Intellektuellenhatz. Diese Äußerungen – und viele andere – sind ganz offensichtlich ein Reflex darauf, daß sich liberale Protestanten zusammen mit liberalen Juden schon während des Weltkriegs, aber ganz besonders nach 1919 für eine Demokratisierung der deutschen Gesellschaft eingesetzt haben, aber eben auch für die – mindestens vorläufige – Akzeptanz des Versailler Vertrags. Troeltsch bemühte sich nach und vor 1919 vor allem als historisch und soziologisch informierter Theologe und Philosoph um ein präzises Verständnis des Judentums – aber er äußerte es stets in kühler Diktion. Ein paar Monate, nach dem die Weimarer Reichsverfassung in Kraft getreten war, hatte sich – wie von Troeltsch erwartet – die öffentliche Repräsentanz von Juden in Deutschland so verstärkt, daß es eine erste antisemitische Welle gegen die vorgeblich »jüdische Republik« gab. Bei Lichte besehen waren Juden 20 Leo Baeck, Art. Judentum II B Neue Zeit und Gegenwart, in: RGG 2. Aufl. Bd. III, Sp. 486–491. 21 Wilhelm Meister (Pseudonym), Judas Schuldbuch. Eine deutsche Abrechnung, München 1919. 22 Karl Gerecke, Biblischer Antisemitismus, München 1919. Weitere Nachweise zur deutsch-nationalen und konservativ-protestantischen Kritik am liberaltheologischen ›Dialog‹ mit ›dem‹ Judentum: H. Ruddies, Ernst Troeltsch und Wilhelm Bousset. Eine Zwischenbilanz, in: Mitteilungen der ErnstTroeltsch-Gesellschaft IX, 1995/96, 185–203, bes. 191.

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aber nur von »Außenseitern an der Peripherie der Gesellschaft« zu »Außenseitern im Zentrum der Gesellschaft« geworden.23 Im Oktober 1919 schrieb Troeltsch im ›Kunstwart‹ aus diesem Anlaß seinen Aufsatz zum Thema mit dem Titel »Vorherrschaft des Judentums?«,24 um dem sog. ›Judenproblem‹ in der Weimarer Gesellschaft beizukommen: »In Wahrheit ist das jüdische Problem kein religiöses. Die Religion hat damit auf beiden Seiten so gut wie gar nichts zu tun. [...] In Wahrheit ist es ein soziologisches Minoritätenproblem.«25 Bei den Juden komme »nur hinzu, daß die religiöse Sonderorganisation« durch vielseitige Faktoren »außerordentlich verstärkt«26 wurde und so ein historisch geprägter Kulturtypus entstanden sei, der bei allen negativen Eigentümlichkeiten aber auch »ein belebender Zusatz zu deutscher Schwerfälligkeit und Philisterei« sei.27 Aber er fügt hinzu: »Es muß nur Recht und Sitte werden, daß man das, was wirklich jüdisch ist, als solches bezeichnen darf in aller Ruhe und Achtung und daß nicht schon die Bezeichnung einer Sache als »jüdische« für antisemitisch gilt«.28 Troeltsch betreibt also eine soziologische Aufklärung des sog. Judenproblems – und darauf gab es eine heftige jüdische Reaktion, die bislang unbekannt geblieben ist. Troeltsch, der Mitglied der DDP und ihrer Fraktion im Preußischen Landtag war, hatte in seinem Aufsatz auch die auf den ersten Blick harmlose Bemerkung gemacht: »Die große Presse der demokratischen Partei ist – im Unterschied von den Fraktionen – ganz ausgesprochen jüdisch und behandelt ihre eigene Partei ziemlich von oben herunter«.29 Knapp einen Monat nach der Publikation seines Aufsatzes erhielt er eine Antwort im »Berliner Tageblatt« Theodor Wolffs. Unter dem Titel »Geheimrat Troeltsch und die Demokraten« brachte die Zeitung, zu deren gelegentlichen Autoren auch Ernst Troeltsch gehörte, diesen Text: »Staatssekretär Professor Dr. Troeltsch hat in einer der letzten Nummern des ›Kunstwarts‹ einen Aufsatz veröffentlich, in welchem er jüdische Literatur scharf angreift. Der Aufsatz hat nunmehr, wie wir erfahren, im demokratischen Lager eine starke Bewegung gegen Troeltsch veranlasst, deren praktisches Ergebnis seine Ausschaltung aus der offiziellen Partei der Demokraten in naher Zeit bedeuten würde. Man wird unbedingt nach neuerlichen Meinungen von Herrn, die ihm persönlich nahestehen, mit einer Rechtswendung von Tröltsch zu rechnen haben.« Der unverhohlenen Aufforderung zum Parteiaustritt ist Troeltsch nicht gefolgt – aber fünf Monate später im Juli 1920 legte er alle Ämter nieder und schied als Unterstaatssekretär aus dem Preußischen Kultusministerium aus – was den Zeitgenossen ein Rätsel war – und was bis heute auch in der Troeltsch-Forschung ein Rätsel geblieben ist. 23 Walter Grab/Julius H. Schoeps (Hg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart und Bonn 1986. 24 Spectator (= E. Troeltsch), Vorherrschaft des Judentums? (1919), in: Ernst Troeltsch, Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Johann Hinrich Claussen, Frankfurt a.M. 1994, 91–99. 25 AaO. 95f. 26 AaO. 96. 27 AaO. 98. 28 Ebd. 29 AaO. 93 – hier handelt es sich um eine Anspielung vor allem auf die Berliner Tageszeitung und die Frankfurter Zeitung mit deutschen Juden als Redaktionsleiter und Hgg.

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Der Anlaß war eine umstrittene Personalentscheidung des Unterstaatssekretärs Troeltsch, die wir bislang nicht kennen und mit der er seinen Minister Konrad Haenisch (SPD) gegen sich brachte – und die ihm in der linksliberalen Presse den Vorwurf des Antisemitismus einbrachte. Offenbar hatte Troeltsch einen jüdischen Mitarbeiter des Ministeriums nicht befürwortet – in welcher Angelegenheit auch immer. Troeltsch demissionierte – und schrieb zwei Monate nach seinem Abschied in einem unpublizierten Brief an Hans Delbrück: »Ich passe nirgends hin u[nd] habe mich auch mit den großen Blättern allen überworfen, mit der Frankfurter wegen der Judenfrage [...] und mit dem Berliner Tageblatt wegen gegenrevolutionärer und anitsemitischer Neigungen.« Troeltschs Unterscheidungsbewußtsein von Christentum und Judentum war in eine theologisch und politisch kritische Zone geraten. Theologische und politische Aufklärung waren an eine Grenze gestoßen. Was war das für eine Grenze? Seine letzten Äußerungen zum Verhältnis von Christentum und Judentum hat Troeltsch wohl im Frühjahr 1922 auf einem seiner Wannsee-Sparziergänge mit dem damaligen Reichsaußenminister, seinem jüdischen Freund Walther Rathenau, gemacht, und sie dann brieflich Friedrich Meinecke in einem unpublizierten Brief mitgeteilt. Ich fasse sie mit meinen Worten zusammen: Da der religiöse Dialog zwischen Christen und Juden auf Erden nicht beendet werden kann – und weil der religiöse Streit zwischen Christen und Juden in dieser Welt nicht entscheidbar ist, – darum sollten sich Christen und Juden gemeinsam für solche politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen einsetzen, in denen ihr Dialog möglich ist – und in denen ihr Streit ausgetragen werden kann. Das ist die Aufforderung zum christlich-jüdischen Dialog an einem dritten Ort – in der von beiden gemeinsam verantworteten demokratischen Gesellschaft. Ohne die Verteidigung dieses dritten Ortes ist jeder religiöse christlich-jüdische Dialog bedroht. Auch das kann man bei Ernst Troeltsch lernen.

Leo Baecks Deutung der alttestamentlichen Prophetie Martin Arneth 1. Einleitung »Dass Israel das klassische Volk der Religion wurde, ist nicht zum wenigsten dem Umstand zuzuschreiben, dass bis zum 7. Jahrhundert der Seher die gebührende einzigartige Stellung einnahm und das Laientum sich nicht vordrängte.« Diese Einschätzung der Bedeutung der alttestamentlichen Prophetie vor dem Babylonischen Exil stammt von Bernhard Duhm (1847–1928), einem der großen protestantischen Prophetenforscher der Blütezeit der alttestamentlichen Wissenschaft um 1900. Auf den Punkt gebracht werden hier grundlegende Einsichten für die Religionsgeschichtsschreibung des Antiken Israels und frühen Judentums, die im 19. Jahrhundert von Gelehrten wie Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), Heinrich Ewald (1803–1875), Abraham Kuenen (1828–1891), Julius Wellhausen (1844–1918) und eben Bernhard Duhm – um nur die Wichtigsten zu nennen – herausgearbeitet und zugleich historiographisch mustergültig dargestellt wurden. Die Religionsgeschichte Israels tritt demnach im 8. Jahrhundert v.Chr. mit dem Wirken der großen Prophetengestalten in eine neue, letztendlich menschheitsprägende Phase ein, die mit dem Stichwort »ethischer Monotheismus« charakterisiert wurde. Das einleitende Zitat ist nicht einer der großen Monographien Duhms oder seinen bahnbrechenden Kommentaren zu den alttestamentlichen Propheten1 entnommen, sondern einem am 11. Februar 1896 in Basel gehaltenen Vortrag »Das Geheimnis der Religion«.2 Der kurze Text – im selben Jahr im Druck erschienen – darf trotz seines eher geringen innovativen Gehalts in seiner Wirkung nicht unterschätzt werden, beziehen sich doch zwei für ihre Konfession beziehungsweise Religion bedeutende Denker Anfang des 20. Jahrhunderts bei ihren kultur- bzw. religionsgeschichtlichen Überlegungen ausdrücklich auf ihn: Ernst Troeltsch (1865–1923), »Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule« und Kulturphilosoph, verweist in mehreren Publikationen auf ihn3 – Leo Baeck (1873–1956) rezipiert ihn in seinem frühen Hauptwerk. 1

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Vgl. etwa Bernhard Duhm, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn 1875; ders., Das Buch Jesaja (HK III.1), Göttingen 21901; ders., Das Buch Jeremia (KHC XI), Tübingen/Leipzig 1901; ders., Israels Propheten, Tübingen 1916. Zu Duhm vgl. Rudolf Smend, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 114–128. 309–311. Bernhard Duhm, Das Geheimnis in der Religion, Freiburg i.B./Leipzig 1896, 20. Die Belege sind zusammengestellt bei Johann Hinrich Claussen, Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (BHTh 99), Tübingen 1997, 65.

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1905 erschien »Das Wesen des Judentums« von Leo Baeck, Schüler Wilhelm Diltheys und damals Rabbiner im oberschlesischen Oppeln, danach Dozent an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (1913–42), Feldrabbiner der deutschen Armee im 1. Weltkrieg, Präsident der Reichsvertretung der Juden in Deutschland (1933–39), Häftling in Theresienstadt (1943–45),4 ab 1945 bis zu seinem Tode Präsident des Council of Jews in Germany (London), seit 1946 auch Präsident der World Union for Progressive Judaism, daneben Gastprofessor am Hebrew-Union College in Cincinnati/Ohio (1948–53). Schon diese dürren Daten lassen ein spannungsvolles Leben zwischen Wissenschaft, Seelsorge und politischem Engagement erahnen5 – ein Leben, das trotz der zeitweise fürchterlichen äußeren Umstände mit innerer Kraft und Freiheit geführt wurde. Baecks frühes Hauptwerk »Das Wesen des Judentums« kann als grundlegend für sein Denken, ja geradezu als klassische Darstellung des Judentums der Zeit gelten.6 Es hat bis 1936 sechs Auflagen erfahren und ist ab der zweiten Auflage 1922 mehrfach erweitert und überarbeitet worden; 1936 erschien eine englische Ausgabe. Schon der Titel des Buches, das in den »Schriften der Gesellschaft zu Förderung der Wissenschaft des Judentums« in Berlin publiziert wurde, läßt den Diskurszusammenhang durchscheinen, in dem es entstanden ist: Auslöser und Titelgeber sind Adolf von Harnacks berühmte Vorlesungen »Das Wesen des Christentums« von 1899, die kurz darauf – 1900 – als eigenständige Monographie erschienen.7 Leo Baeck hatte sich mit Harnacks Buch bereits 1901 in der »Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums« kritisch in einer umfassenden Besprechung auseinandergesetzt.8 In der 4 5

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Cf. H.G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Göttingen 2005, passim, insbes. 253f. Vgl. die grundlegende Darstellung von Albert H. Friedländer, Leo Baeck. Leben und Lehre, Gütersloh 21996, 11–69, sowie Walter Homolka, Leo Baeck. Jüdisches Denken – Perspektiven für heute, Freiburg 2006, 31–79; ders./Elias H. Füllenbach, Leo Baeck. Eine Skizze seines Lebens, Gütersloh 2006; Ernst Ludwig Ehrlich, Leo Baeck, der Mensch und sein Werk, in: Walter Homolka, Leo Baeck – Philosophical and Rabbinical Approaches (Religion und Recht Bd. 9), Berlin 2007, 19–36. Vgl. Friedländer, Leo Baeck (s. o. Anm. 5) , 75. Ein Überblick über die Schrift »Das Wesen des Judentums« findet sich 78–106. Die folgenden Überlegungen zur Prophetendeutung Baecks beziehen sind hauptsächlich auf die 1. Auflage, die im Anhang von Leo Baeck, Werke. Bd. 1. Das Wesen des Judentums, hg. von Albert H. Friedländer/Berthold Klappert, Gütersloh 2006, 316–421, abgedruckt ist. Diese und die 4. Auflage von 1926 werden nach der Originalpaginierung ohne weiteren Nachweis nur mit Seitenzahl in () zitiert. Die 1. Auflage ist nicht nur pointierter und frischer, sondern hat auch den Vorteil, daß Baeck hier, im Gegensatz zu den späteren Auflagen, nicht nur die von ihm herangezogenen biblischen und jüdischen Primärquellen, sondern auch die verwendete Sekundärliteratur nennt. Die weiteren Auflagen sind demgegenüber, insbesondere im Kapitel II. »Die Ideen des Judentums« umgearbeitet, breiter angelegt, abgewogener und oftmals in der polemischen Zuspitzung abgeschwächt. In das Kapitel I. »Der Charakter des Judentums«, das für unsere Frage nach Baecks Prophetendeutung einschlägig ist, hat der Verfasser weitaus weniger eingegriffen. Vgl. die Edition von Claus-Dieter Osthövener: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Tübingen 22007, der im Nachwort nicht nur über die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Schrift informiert, sondern auch die Grundkonzeption von Harnacks »Wesen« rekonstruiert. Vgl. auch Kurt Nowak, Historische Einführung, in: Ders. (Hg.), Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil I. Der Theologe und Historiker, Berlin/New York 1996, 36ff. Leo Baeck, Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums, in: Monatsschrift für Ge-

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Schrift von 1905 taucht Harnacks Buch explizit dann nur noch am Rande auf,9 auch wenn es natürlich der Sache nach im Hintergrund steht. Man denke nur an die ausgesprochene Reserve, die Baeck – darin mit Harnack übereinstimmend – schon auf den ersten Seiten seiner Wesensschrift gegenüber jeder dogmatischen Form der Frömmigkeit hegt, aber auch an die Vorbehalte gegenüber herausgehobenen Religionsstiftergestalten, die ihn von Harnack unterscheiden.10 Und selbstverständlich hat er die Debatte um Harnacks »Wesen« weiter verfolgt. Denn 1903 veröffentlichte Ernst Troeltsch aus Anlaß von Harnacks Wesensschrift einen umfangreichen Beitrag zur Methodologie der Wesensbestimmung in der »Christlichen Welt«, der dann in überarbeiteter Form in seinen Gesammelten Schriften II wieder abgedruckt wurde.11 Daß Baeck den Aufsatz zur Kenntnis genommen hat, läßt zumindest das Vorwort zur 2. Auflage des »Wesens des Judentums« von 1922 unschwer erkennen, auch wenn der Name Troeltsch nicht fällt, da Baeck ab der zweiten Auflage auf Hinweise zur verwendeten Sekundärliteratur durchgehend verzichtet hat. Die explizite positive Troeltsch-Rezeption in der Auflage von 1922 kommt nicht von ungefähr, läßt doch bereits die Fassung von 1905 – insbesondere in dem Kapitel »Einheit und Entwicklung« (I.1.) – eine gewisse konzeptionelle Affinität erkennen. »Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung« – formulierte Ernst Troeltsch pointiert in seiner HarnackBesprechung12 und faßt die Aufgabe der Wesensbestimmung an mehreren Stellen wie folgt zusammen: »Er (i. e. der Wesensbegriff ) ist nicht bloß Abstraktion aus den Erscheinungen, sondern zugleich Kritik an den Erscheinungen, und deren Kritik ist nicht bloß Messung des noch Unfertigen an dem in ihm treibenden Ideal, sondern Scheidung des dem Wesen Entspreschichte und Wissenschaft des Judentums 45, 1901, 97–120; die erweiterte 2. Auflage der Rezension ist wiederabgedruckt in: Werner Licharz (Hg.), Leo Baeck – Lehrer und Helfer in schwerer Zeit (Arnoldshainer Texte Bd. 20), Frankfurt 1983, 11–34. Vgl. hierzu neben der Einleitung in: Leo Baeck, Werke. Bd. 1 Das Wesen des Judentums (s. o. Anm. 6), 16ff., u. a. Walter Homolka, Jüdische Identität in der modernen Welt. Leo Baeck und der deutsche Protestantismus, Gütersloh 1994, 50ff. 63ff. 140ff, sowie den Beitrag von Paul Mendes-Flohr, in: Steven M. Lowenstein u. a., Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. III 1871–1918, München 1997, 335–345. 9 Zitiert wird – neben der Wesensschrift (5) – vor allen Dingen Harnacks »Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten«, Leipzig 1902 (41. 148). 10 Baeck schreibt: »Bezeichnend ist es schon, daß Israel nicht ›den Propheten‹, sondern ›die Propheten‹ hat. Das ist ein wesentlicher Zug gegen andere Religionen, die in dem einen Gotama Buddha, in dem einen Zarathustra, in dem einen Muhammed ihren Prophetismus beginnen und enden sehen und deren wichtigste Entwickelung so bereits am Anfang wieder aufhört (27)«. Bezeichnend ist auch, daß Jesus von Nazareth in dieser Aufzählung, wie auch sonst, wenn ich recht sehe, in Baecks Wesensschrift nicht vorkommt. Vgl. hierzu Baecks Harnack-Besprechung: Harnacks Vorlesungen (s. o. Anm. 8), insbes. 32, aber auch Ernst Troeltsch, Was heißt »Wesen des Christentums«?, mit Erweiterungen wiederabgedruckt in: Ders., Gesammelte Schriften II, Tübingen 1913 (21922), 411–423, der die Frage erörtert, ob das Wesen des Christentums durch lediglich eine Stiftergestalt geprägt ist. 11 Vgl. hierzu Claussen (s. o. Anm. 3), 37–62; auch Karl-Heinz Menke, Die Frage nach dem Wesen des Christentums. Eine theologiegeschichtliche Analyse (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 395), Paderborn u. a. 2005, 38ff, der allerdings nicht auf neuere Untersuchungen – sei es zu Schleiermacher, Harnack oder Troeltsch – eingeht. 12 Troeltsch (s. o. Anm. 10), 431.

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chenden und des Wesenswidrigen«13 [...] »Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung. Sie ist die Herausarbeitung der wesentlichen Idee des Christentums aus der Geschichte so, wie sie der Zukunft leuchten soll, und zugleich eine lebendige Zusammenschau der gegenwärtigen und zukünftigen Welt in diesem Lichte. Die jeweilige Wesensbestimmung ist die jeweilige historische Neugestaltung des Christentums«.14

Bei Leo Baeck heißt es in der Fassung seiner »Wesensschrift« von 1922 (2. Auflage) dementsprechend ganz ähnlich: »Die Erkenntnis eines Ganzen, die Erkenntnis von sich selbst ist immer ein Urteil auch, eine Kritik; sie legt den Maßstab an, der das Wesentliche von dem Unwesentlichen, das Wesen von dem Wesenswidrigen scheiden soll, das Bleibende vom Zufälligen. Sie läßt den Zusammenhang sehen, und wie dieser das Vergangene mit dem Gegenwärtigen eint, so das Gegenwärtige mit dem, was werden soll. [...] Das Wesen aufzeigen, bedeutet daher zugleich, den Weg aufweisen, der allein der Weg der Zukunft sein kann. Jede Selbsterkenntnis befaßt auch immer eine Forderung an sich selbst, sie spricht das Gebot des Lebens, das Gebot der Geschichte aus; ein Erinnerndes, ein Vorwärtsführendes ist in ihr. [...] Jede Darlegung des Wesens will, mehr oder minder, klären und gestalten, nicht nur die rückwärtsgewandte, sondern die vorwärtsgerichtete Prophetie sein, sie will den großen Zug wahren und gewähren« (X).

Mit der konstruktiven Wesensbestimmung, die gleichzeitig auf Wesensgestaltung abzielt, bringt Baeck die »Prophetie« ins Spiel, und damit ist gleich im Vorwort ein konstitutiver Schlüsselbegriff für seine Auffassung vom Wesen des Judentums genannt. Wir konzentrieren uns auf ihn und berücksichtigen andere konzeptionelle Probleme nur in diesem Zusammenhang.

2. Der Religionstyp der Propheten der Hebräischen Bibel in Baecks Wesensschrift Das Phänomen der (israelitisch-judäischen) Prophetie wird im 2. Kapitel »Die prophetische Religion und die Glaubensgemeinde« des I. Hauptteils entfaltet, durchzieht aber das gesamte Buch. Es ist Baeck zufolge für das Religionsverständnis des Judentums grundlegend und maßstäbesetzend zugleich. Um etwas tiefer in Baecks Religionsbegriff15 einzudringen, der auch sein Prophetenverständnis erhellt, ist es hilfreich, Schleiermachers einschlägige Bestimmungen heranzuziehen.16 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher hatte das Wesen der Religion in der zweiten Rede seiner epochalen »Reden über 13 Troeltsch (s. o. Anm. 10), 407. 14 Troeltsch (s. o. Anm. 10), 431. 15 Auf die Nähe aber auch auf die Differenzen zum Religionsbegriff Hermann Cohens (vgl. die von Baeck im Anmerkungsteil genannte Literatur: 162. 165) weist Friedländer, Leo Baeck (s. o. Anm. 5), 77, hin; vgl. auch Homolka, Identität (s. o. Anm. 8), 37f. 16 Im Folgenden wird Schleiermachers Religionsbegriff lediglich als Leitfaden und (partielles) Kontrastprogramm für Baecks Überlegungen herangezogen. Es geht uns also weder um eine facettenreich ausdifferenzierte Schleiermacherrekonstruktion als solche, noch um die Frage, ob der Dilthey-Schüler

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die Religion«, 1799 – also 100 Jahre vor Harnack17 – erstmals erschienen, bekanntlich mit einer doppelten Abgrenzung versehen: »Ihr Wesen (i. e. der Religion) ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl«.18 Der Religionsbegriff Baecks, der zu Beginn des II. Hauptteils (II.1. »Der Glaube an Gott«) zusammenhängend und präzise entfaltet wird, stimmt an einem Punkt definitiv mit Schleiermacher überein: »Religion ist kein Wissen« – in Baecks Worten: »In aller Religion handelt es sich nicht um Beobachtung und Erforschung der Welt, – denn das ist Sache der einzelnen Wissenschaften – sondern um eine Beurteilung, um eine persönliche Stellung, die wir zur Welt einnehmen. Alles das, was wir in uns und um uns her erfahren, soll in der Religion nicht erkannt und erklärt werden, dadurch, daß wir gesammelte Tatsachen anordnen und im Denken verarbeiten – denn die Weltanschauung ist Sache der Philosophie –, sondern es soll seinem idealen Wert nach bestimmt werden« (59).

Die Religion bezieht sich also nicht unmittelbar auf empirische Daten zum Zwecke der Wissensgenerierung – sie beobachtet und erforscht nicht, sie verfährt weder ideographisch nach Art der Geisteswissenschaften, noch nomothetisch wie die Naturwissenschaften, noch ist die begrifflich durchgeklärte Weltanschauungslehre ihr Geschäft, das ist vielmehr Sache der Philosophie. Religion erbringt gegenüber dem empirisch Gegebenen und den darauf aufbauenden Synthesegestalten eine andere Deutungsleistung, die von Baeck als »Beurteilung«, »persönliche Stellungnahme« und »Bestimmung nach dem idealen Wert« eingeführt wird. Das leitet zu der zweiten Abgrenzung über, die Schleiermacher ins Spiel bringt, um die Religion als eigenständige Provinz im Gemüt zu erfassen: »Religion ist kein Handeln«. Baeck nimmt genau in diesem Zusammenhang selber auf Schleiermacher explizit Bezug: »Das ist der große Mangel in Schleiermachers Begriff der Religion, daß er ihr Wesen ausschließlich in dem Gefühl der Abhängigkeit von Gott findet und das ebenso wesentliche Freiheitsmoment in ihr außer Acht läßt, – ein Mangel, der auf das an diesem Denker auch sonst gerügte Mißverhältnis zum Alten Testament zurückgeht« (80).

Die Kritik bezieht sich auf Schleiermachers ausschließliche Verortung der Religion im »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit«, wie es in den einschlägigen Paragraphen Baeck Schleiermacher richtig interpretiert hat, noch soll Schleiermachers Verhältnis zum Alten Testament und zum Judentum erörtert werden. 17 Cf. hierzu die von Osthövener (s. o. Anm. 7), 174f, mitgeteilten Materialien, die das durchaus epochale Selbstbewußtsein Harnacks zum Ausdruck bringen – gemessen an der Wirkung seiner Wesensschrift durchaus nicht ganz unangemessen. 18 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg.v. Rudolf Otto, Göttingen 71991, 49. Auf die »Reden« und die »Monologen« nimmt Baeck in den Anmerkungen ausdrücklich Bezug (164). Der sachlichen Auseinandersetzung mit Schleiermacher (80 s. i. f.) liegt dann die Definitionen von §§3 u. 4 der zweiten Auflage von Schleiermachers »Glaubenslehre« (1830/31) zugrunde. In den folgenden Auflagen von Baecks Wesensschrift sind die Hinweise auf Schleiermacher getilgt. Zu Schleiermachers Reden vgl. Ulrich Barth, Die Religionstheorie der ›Reden‹. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259–289, bes. 270ff; zur »Glaubenslehre« ders., Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ›Glaubenslehre‹. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie, in: Ders., aaO. 329–351.

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der Glaubenslehre (§§3 u. 4) heißt. Gerade in seiner Prophetendeutung wird Baeck die humane Verortung der Religion im Gefühl unterstreichen. Wie aber die Gegenüberstellung von Abhängigkeit und Freiheit deutlich macht, sieht Baeck demgegenüber das Gottesbewußtsein im Gegensatz zu Schleiermacher in engem Zusammenhang mit der Sittlichkeit und dann gerade aufgrund seiner ethischen Prägung antinomisch verfaßt: »Von dem alles bedeutenden gläubigen Gefühl, wie er (i. e. Schleiermacher) es lehrt, führt der Weg zu der Demut, die nichts als demütig ist. Für das Judentum ist die selbständige sittliche Persönlichkeit des Menschen durchaus integrierend in der Religion. In dem Glauben an den gerechten Gott ist notwendig der Glaube an uns selber gegeben. Erst hiermit wird die zweite große Paradoxie des Glaubensbewußtseins gelöst, die, daß der Mensch durchaus von Gott abhängig und doch frei ist, daß sein ganzen Leben nur durch Gott besteht und doch seine Selbständigkeit besitzt« (80f.).

Wir verfolgen an dieser Stelle nicht weiter das Problem, ob hier tatsächlich eine »Paradoxie des Glaubensbewußtseins gelöst« ist, oder ob diese nicht vielmehr im »Glauben an den gerechten Gott« symbolisiert, damit stabilisiert und für den homo religiosus produktiv zugänglich wird. Es ist aber auffällig, daß Baeck dem von Schleiermacher intendierten allgemeinen Religionsbegriff einen bestimmten Religionstyp gegenüberstellt, dem er das Judentum zurechnet – zumindest changieren die Ebenen in beiden Zitaten. Dabei muß allerdings im Gegenzug auch in Rechnung gestellt werden, daß er schon bei der Exposition seines allgemeinen Religionsbegriffs mit den Wertprädikaten »gut« und »böse« operiert, nicht also erst bei der Erläuterung ethisch imprägnierter Religionstypen, und somit auch bei seinen allgemeinen Überlegungen zur Religion von vorneherein eine praktisch-wertende, mithin rationale Komponente in der religiösen Einstellung voraussetzt. Zunächst heißt es von der dem Bereich des Urteilens bzw. der persönlichen Stellungnahme mit idealem Wertbezug zugeordneten Religion allgemein: »Maßgebend sind in der Religion die Vorstellungen von ›gut‹ und ›böse‹, von Gütern und Übeln. So geht jede Religion auf das Grundproblem von Optimismus und Pessimismus zurück, auf die Grundfrage, ob es eine Weltordnung gibt, die zum Guten ist, oder nicht« (59).

Man darf an dieser Stelle, wie gesagt, die Wertprädikate »gut« und »böse« noch nicht ethisch überfrachten.19 Es handelt sich, wie schon die Erläuterung durch »Pessimismus« und »Optimismus« erhellt, zunächst um Vorstellungen, die den Charakter des Weltbezugs von Religionen prägen, wohlgemerkt nicht mit Blick auf das Wissen über Gegebenes, sondern gewissermaßen praktisch wertend hinsichtlich ihrer »Tiefendimension«.20 19 Dementsprechend werden in der 4. Auflage von 1926 »gut« und »böse« von Baeck näher erläutert: »Maßgebend sind in der Religion die Gedanken von ›gut‹ und ›böse‹, von Wahrem und Wesenlosem, vom Schicksal, von der Bestimmung des Daseins, des ganzen Lebens, das in dem eigenen Leben erlebt wird. So geht jede Religion auf das Grundproblem von Optimismus und Pessimismus, auf die Grundfrage, ob das Dasein einen Sinn hat, ob es eine Weltordnung gibt, die zum Guten ist, oder nicht« (85). 20 In der 4. Auflage von 1926 ergänzt Baeck wie folgt: »Nicht die Flächen der Welt, ihr Gewordenes, sondern ihre Tiefen, die Seele, die Geschichte des Lebens, werden hier erfaßt« (85).

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Wieso die eine oder andere Religion zum Optimismus bzw. Pessimismus neigt,21 ist damit noch nicht erhellt; hier spielen historisch kontingente Sachverhalte eine Rolle, etwa das Auftreten und Wirken von Religionsstiftern bzw. im Falle Israels: der Propheten (40). Allerdings können die »Vorstellungen« – bzw., wie es in der Auflage von 1926 heißt: die »Gedanken« (85) – natürlich vertieft bzw. durchgeklärt werden. Für die Vorstellung des Guten sieht das wie folgt aus: »Das Gute, das als Ordnung und Ziel der Welt anerkannt wird, kann aber nur das sittlich Gute sein, weil dies allein auf prinzipielle Allgemeinheit und Unbedingtheit zurückzuführen ist. Es gibt nur einen geschlossenen Optimismus, den ethischen« (59).

Und dementsprechend wirkt sich die Durchbildung der positiven Grundstimmung einer Religion zu einem geschlossenen Optimismus – d. h. nicht unbedingt: zu einem geschlossenen gedanklichem System – auf die damit verbundene Gottesvorstellung aus. Sind auf entsprechenden Vorstufen etwa polytheistische Religionstypen anzusiedeln (62f.), oder auch – im Falle pessimistisch gestimmter Religionen – solche, die gar keine Gottesvorstellung ausbilden (40.59), so läuft die Ethisierung einer Religion auf den ethischen Monotheismus hinaus: »Die Sittlichkeit fordert aber wiederum einen sicheren absoluten Grund, und dieser kann nicht in dem endlichen begrenzten Menschen, sondern allein in dem einen Gott gefunden werden, dessen Wesen das sittliche Gesetz ist. Er ist die Bürgschaft für die Sittlichkeit; die Gewißheit für ihre ewige Wirklichkeit. So gibt es nur einen gesicherten Optimismus, den, der auf dem einen Gotte beruht: den ethischen Monotheismus« (59).

Man muß sich allerdings immer vor Augen halten, daß der Weg zum ethischen Monotheismus nicht über intellektuell-metaphysische Einheitsspekulationen führt, diese sind allenfalls ein Epiphänomen der Selbstbesinnung des mit einem einheitlichen Willen konfrontierten homo religiosus, sondern ihm liegen praktische Wertungen des sittlichreligiösen Subjekts zugrunde, die dieses mental zentrieren. Folglich hält Baeck ausdrücklich fest: »Er (i. e. der ethische Monotheismus) entsteht aus der Unteilbarkeit der Gewissensforderung; er erwächst aus der seelischen Einheitlichkeit des frommen Gemüts« (62).

Mit dem »ethischen Monotheismus« ist der Religionstyp beschrieben, dem Baeck das Judentum zurechnet und der zugleich der Dreh- und Angelpunkt seiner Prophetendeutung ist. Denn es sind die großen Schriftpropheten der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments, die diesen Religionstyp entborgen, propagiert und damit dem Judentum sein eigentümliches Gepräge gegeben haben – daß das Judentum zu den optimistischen Religionen gehört, ist ihr Verdienst, sie haben den konfliktgeladenen »Übergang« von der Naturreligion zum ethischen Monotheismus bewerkstelligt: 21 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Wesensbestimmung des Christentums Troeltsch (s. o. Anm. 10), 422: »Das Christentum ist Erlösungsethik mit einer Verbindung optimistischer und pessimistischer, transzendenter und immanenter Weltbetrachtung [...]«.

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»Dieser Übergang wird stets durch einen Bruch, durch eine Revolution vollzogen. Er ist das Werk von Persönlichkeiten, von Religionsstiftern, und er bedeutet so eine Entdeckung und eine Tatsache, die ihren Grund in sich trägt. Der ethische Monotheismus Israels ist nicht eine aus natürlicher Entwicklung hervorgegangene, sondern eine gestiftete Religion« (39f.).

Dementsprechend formuliert Baeck – in Anlehnung an Bernhard Duhms eingangs zitierte Schrift – gleich programmatisch zu Beginn des Kapitels »Die prophetische Religion und die Glaubensgemeinde« (I.2.): »Das Wesen der Religion kann man nur an dem religiösen Genie22 erforschen, ganz wie das Wesen der Kunst in den großen Künstlern und ihren Werken faßlich wird. Wenn wir das Judentum begreifen wollen, müssen wir daher seine Propheten verstehen lernen« (18).23

In den folgenden Ausführungen taucht folglich auch alles das bereits auf, was Baeck in seiner abstrakten Zusammenfassung des Wesens des ethischen Monotheismus darlegt. Propheten sind keine Philosophen oder Forscher, keine spekulativen Metaphysiker oder Theologen – denn: »Religion ist kein Wissen« –, sondern ihrem Wirken geht der Eindruck voraus, einem unerschütterlichen, einheitlichen Willen gehorchen zu müssen. Die Religion der Propheten ist auch ein Machterlebnis – und von der Sittlichkeit von vorneherein nicht zu trennen: »Bezeichnend für die Propheten Israels ist vor allem der intuitive praktische Charakter ihrer Erkenntnisse [...] Ein sittlicher Zwang macht sie denken, ein Gewissensdruck heißt sie sprechen; die unwiderstehliche Wahrheit überwindet sie. Das gibt ihnen etwas Natürliches; 22 Dem »religiösen Genie« entspricht an anderer Stelle das intuitiv, unableitbar erfaßte »Göttliche«: »Alles, was sie aussprechen, hat Gott zu ihnen und in ihnen gesprochen; es ist ein spontanes, innerliches Erfassen, tiefste religiöse Erfahrung. Worin diese besteht, ist nicht zu erläutern und nicht auseinanderzusetzen. Könnten wir es definieren, so wäre es eben nicht das, was es ist, so wäre es keine prophetische Offenbarung. Das Genie, das Göttliche, ist undefinierbar. Nichts ist darum ins Allgemeine verflüchtigt, alles ist wirklich, persönlich und bestimmt [...]« (19). Dennoch zeichnet sich das religiöse Genie – analog dem großen Künstler – dadurch aus, daß es – ohne das unbedingt zu bezwecken – stilbildend wirkt: »Von dem Augenblicke an, wo das Genie aufgetreten ist, gibt es fast nur Schüler und Aneignende. [...] Denn es ist gerade die Macht des Genius in seiner Gestaltungskraft, daß er, fast unbewußt, Wahrheiten schafft, die weiter tragen, als er selbst wohl zuerst gemeint hat. Was ihm ein endliches Bild war, kann uns zum ewigen Symbol werden, uns vielgestaltig, was ihm eindeutig war. Das unterscheidet das schöpferische Genie von dem sammelnden Talent. Auch hierin offenbart es sich wieder, daß die Propheten mehr sind als ihr Wort« (28). 23 In der von Baeck in der erste Auflage der Wesensschrift zitierten Abhandlung Duhms, Geheimnis (s. o. Anm. 2), 13f, heißt es: »[...] denn es liegt auf der Hand, dass man auch da, wo man nicht die Religion mit der öffentlich geltenden Lehre identifiziert, nicht von der Beobachtung jener schöpferischen Träger des Geheimnisses ausgeht, sondern von der Analyse der Religion oder besser der Religiosität des gewöhnlichen Menschen. Man verfährt etwa so, wie wenn man bei der Frage nach dem Wesen der Kunst nicht vom Künstler und von den Meisterwerken der Kunst ausginge, sondern von dem, was etwa die Laien auf diesem Gebiet an Wissen, an Verständnis und an Meinungen über die Kunst besitzen. Aber die Kunst soll man an den Künstlern studieren und die Religion an den Sehern.« Prägnanter formuliert Duhm an anderer Stelle: »[...] niemandem fällt es ein, die Poesie ohne die Dichter, die Kunst ohne die Künstler zu denken: wie konnte man doch nur das ›religiöse Bewusstsein‹ des gewöhnlichen Frommen zum Ausgangspunkt der Religionsforschung machen und den Gläubigen an die Stelle setzen, die nur dem Propheten gebührt« (aaO. 29f.).

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alles Absichtliche und Reflektierte bleibt ihnen fern. Nicht sie reden, sondern eine höhere, übermächtige Gewalt redet in ihnen« (18f.).

»Religion ist Gefühl« – die prophetische Religion ist nicht durch verobjektivierende Reflexion zustande gekommen, sondern beruht auf einem unableitbaren inneren Erlebnis. Insofern nimmt es nicht wunder, daß die äußere Gestalt ihrer Reden nicht den Anschluß an traditionelle Vorgaben sucht, sondern um die eigenständige Darstellung des persönlichen religiösen Gefühls ringt:24 »Sie (i. e. die Propheten) fühlen Gott, da sie es empfinden, was Gott ihnen ist. [...] Das Dasein Gottes und das göttliche Walten erst darzutun, liegt ihnen so fern, wie wenn sie sich selber, ihr eigenes Lebensbewußtsein durch Gründe erst hätten beweisen sollen. Die Religion ist ihnen ein Teil, ja der innerste Kern ihres eigenen Daseins, nichts Äußerliches und nicht Hinzugekommenes, nichts Erworbenes und nichts Gelerntes. Sie ist Leben vom Leben der Seele25 [...] (20). Mit völliger Gleichgültigkeit stehen sie daher dem überlieferten Wort gegenüber, mochte es auch das Heiligste bezeichnen [...]« (19).

Nach Baecks Einschätzung ist mit den Propheten der Hebräischen Bibel die Religion gewissermaßen zu sich selber gekommen, sie haben »die Religion rein als Religion gefaßt« (23), ihnen steht fest, »daß die Religion ihre Sicherheit und ihre Rechtfertigung in sich trage [...]« (20). Allerdings ist die von den Propheten als Religion erfaßte Religion ursprungshaft mit der Ethik verbunden. »Sittlicher Zwang« und »Gewissensdruck« stehen am Anfang, ihre Erkenntnisse haben dementsprechend ›intuitiven und praktischen Charakter‹ (18). Diese innere Verpflichtung durch einen einheitlichen Willen, durch »die Unbedingtheit der sittlichen Forderung (39)«, die dann ihren Ausdruck in dem Gedanken des einen Gottes findet,26 führt natürlich automatisch zu einer »Gott-Welt«Spannung, die das Bewußtsein der innerlich unbedingt bezwungenen, normierten und motivierten Persönlichkeit als solcher schärft, allerdings nicht zur Weltflucht führt, sondern die (Lebens-)Welt als aufgegebenes Betätigungsfeld verstehen lehrt: »Weil es von Anfang an feststand, daß die Religion ihre Sicherheit und ihre Rechtfertigung in sich trage und von jeder fremden Stütze unabhängig sei, darum vermochte sie so unerschütterlich fest im Herzen zu wurzeln. Die Propheten wollen nur da sagen, was sie selber erfahren, was Gott ihnen allezeit ist, und dieses können sie dafür aus der unüberwindlichen Gewißheit des klaren Gefühls heraus sagen. Sie haben die Kraft, diese ihre seelische 24 Im Gegenzug gilt für die Prophetendeutung: »Nicht Worte sind zu erklären, nicht Sätze auszulegen, sondern Menschen zu begreifen« (26). Methodologisch steht hier natürlich Diltheys Hermeneutik im Hintergrund; vgl. Friedländer, Leo Baeck (s. o. Anm. 5), 76f. 25 An anderer Stelle wird das Verhältnis von Religion und Leben noch eindringlicher beschworen: »Religion und Leben werden damit auf das innigste verbunden, die Religion, welche bewiesen werden soll durch das Leben, das Leben, welches geweiht werden soll durch die Religion [...] Dem Zwiespalt zwischen Glauben und Tun ist damit der Boden genommen: keine Frömmigkeit gibt es als die, welche durch die Lebensführung bewährt wird; keine Lebensführung kann gelten als die, in welcher sich die Religion verwirklicht« (22). 26 Den Propheten wird »die göttliche Einheit unerschütterlich gewiß durch die innere Erfahrung, daß es nur eine Gerechtigkeit, eine Heiligkeit gibt. Gott ist der Einzige, weil er der Heilige ist. Die Überzeugung von der Einzigkeit Gottes hat so im religiösen Bewußtsein ihre Wurzelkraft« (24).

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Sicherheit allen vermeintlichen Tatsachen entgegenzusetzen und gegenüber aller scheinbaren Wirklichkeit mit der machtvollen Paradoxie der Glaubenszuversicht ihr ›dennoch‹ zu sprechen [...] Damit haben sie der Religion die sieghafte Selbständigkeit, das Offenbarungsgepräge gegeben« (20f.).

Diese von Anfang an sittliche Prägung der Religion der Propheten – »Tue deine Pflicht, dann weißt du, wer Gott ist« (21) – ist dann für das Judentum »stilbildend« (vgl. 25) geworden.27 Wir stellen hier nur noch einige wesentliche Züge heraus. 1. Zunächst ist es keine Beiläufigkeit, daß Baeck von der Religion der Propheten, nicht der eines Einzelnen ausgeht. Das Judentum ist aufgrund des Bruchs, den der ethische Monotheismus im Verhältnis zu seinen religionsgeschichtlichen Vorgängergestalten darstellt (39), zwar eine gestiftete Religion, die mit den Propheten über eine »klassische Zeit« (vgl. 8. 28) verfügt, aber eben mit einer Vielzahl von Religionsstiftern, die Träger der Offenbarung, aber keine Heilsmittler sind (28). Damit ist einerseits die »innere Einheit« (1) gegeben, aber andererseits zugleich im Ursprung ein hohes Maß an Flexibilität, Entwicklungsfähigkeit und Reserve gegenüber religiösen Autoritäten (3) mitgesetzt. »Keiner gibt das Ganze, und keiner stellt das Ganze dar« (27f.) – »Jedes System der jüdischen Religion ist notwendig eine Geschichte der jüdischen Religion. Nur in seiner historischen Totalität kann das Judentum wahrhaft erfaßt werden« (9). 2. Der ursprungshafte ethische Charakter und damit die wesentliche Ausrichtung auf aktive (soziale) Weltgestaltung hat dann einerseits zur Folge, daß sich das Judentum gegenüber mythischen, mystischen, sakramentalen und weltflüchtigen Strömungen ausgesprochen spröde verhält (vgl. 28ff. 32f.), andererseits aber auch nicht zur Generierung einer Glaubenslehre oder zur Sklerotisierung durch Dogmenbildung neigt (2f.). Die gerade dem ethischen Monotheismus eigene Verpflichtung zum Nachdenken über die Lebensführung, »die Bewährung im Leben« (28), hat nicht die Fixierung von Wissensstoffen, sondern die Ausbildung einer entsprechenden Religionsphilosophie zur Folge, 27 Die Prophetendeutung Baecks deckt sich streckenweise mit dem, was Max Weber dann systematisch zum Wesen der ethischen und exemplarischen Prophetie ausführen wird: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften (MWG I, 22.2), Tübingen 2001, 193: »Mag aber die Prophetie mehr ethischen oder exemplarischen Charakter haben, immer bedeutet [...] die prophetische Offenbarung [...]: einen einheitlichen Aspekt des Lebens, gewonnen durch eine bewußt einheitliche sinnhafte Stellungnahme zu ihm. Leben und Welt, die sozialen wie die kosmischen Geschehnisse, haben [...] einen bestimmten systematisch einheitlichen ›Sinn‹, und das Verhalten der Menschen muß, um ihnen Heil zu bringen, daran orientiert und durch die Beziehung auf ihn einheitlich sinnvoll gestaltet werden. Die Struktur dieses ›Sinnes‹ kann höchst verschieden sein, und er kann logisch heterogen scheinende Motive zu einer Einheit zusammenschmieden, denn nicht in erster Linie logische Konsequenz, sondern praktische Wertungen beherrschen die ganze Konzeption. Immer bedeutet sie [...] einen Versuch der Systematisierung aller Lebensäußerungen, der Zusammenfassung also des praktischen Verhaltens zu einer Lebensführung [...] Immer enthält er ferner die wichtige religiöse Konzeption der ›Welt‹, als eines ›Kosmos‹, an welchen die Anforderung gestellt wird, daß er ein irgendwie ›sinnvoll‹ geordnetes Ganzes bilden müsse, und dessen Einzelerscheinungen an diesem Postulat gemessen und gewertet werden. Alle stärksten Spannungen der inneren Lebensführung sowohl wie der äußeren Beziehung zur Welt entstammen dann dem Zusammenstoß dieser Konzeption der Welt als eines, dem religiösen Postulat nach, sinnvollen Ganzen mit den empirischen Realitäten«.

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die zur »unablässigen Gedankenarbeit« (3), gewissermaßen zur (ethisch-applikativen) »Dauerreflexion« (Schlesky) führt, die alle in der ›Lerngemeinschaft‹ Vereinten betrifft bzw. von allen gefordert ist (31). Selbst die Bibel als beharrendes Element im Judentum muß jeweils wieder neu angeeignet werden: »Jede Zeit erwarb ihre eigene Bibel« (11), hermeneutisch gewendet heißt das: jede Generation hat die Aufgabe, durch den Buchstaben hindurch den Ursprungsgeist zu begreifen und anzueignen: »[...] das Persönliche muß in der Seele wie durch eine seelische Wiedergeburt neu erstehen« (27). 3. »[...] zum Wesen der Religion gehört es doch gerade, daß ihr Ideal ein allgemeines ist und daß sich ihre Forderungen an alle richten« (30). Dem ethischen Monotheismus entspricht grundsätzlich und von Anfang an ein universalistischer Zug (47). Damit ist das Problem von Partikularismus und Universalismus auf dem Tisch. Die Ausbildung des ethischen Monotheismus ist auf seiten des jeweiligen Einsichtigen mit einem entsprechenden ›religiösen Wahrheitsbewußtsein‹ (41) verbunden, das den Gedanken der Auserwählung und darauf aufbauend den der Ausschließlichkeit nahelegt (42. 45). Denn: die Kehrseite der Wahrheit ist natürlich der Irrtum, das Wahrheitsbewußtsein meidet den Irrtum, und so steht am Anfang der Religion Israels auch der Partikularismus, der sich zunächst als nationale Exklusivität, dann aber als »sittliche Exklusivität« ausprägte, die Auserwählung mithin als religiöse Pflicht und Aufgabe der gesamten Glaubensgemeinschaft verstand (45f.), deren »Korrelat die Idee der Menschheit, der zur wahren Religion berufenen Menschheit« (46) ist. »Die religiöse Idee der Menschheit, der religiöse Universalismus wird so [...] zum Prinzip der geschichtlichen religiösen Aufgabe« (47). Das Judentum ist Weltreligion, »insofern alle Religionen, die den Universalismus zum bewußt vorgesetzten Ziele haben, aus ihr hervorgegangen sind, und kraft dessen, daß sie aus ihr hervorgegangen sind, dieses Ziel sich setzen« (47).

3. Baecks Prophetendeutung vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Wissenschaft Es steht außer Frage, daß Leo Baeck nicht nur ein beeindruckender Entwurf zum Wesen des Judentums, sondern auch mit Blick auf die diesem Entwurf zugrundeliegende Religionsphilosophie gelungen ist. Das bereits eingangs zitierte Urteil Albert H. Friedländers, der mit Blick auf Baecks Wesensschrift von der klassischen Darstellung des Judentums seiner Zeit spricht,28 , überrascht nicht. Im Folgenden geht es nicht um eine kritische Würdigung des Gesamtkonzepts, sondern lediglich um die Einbindung von Baecks Prophetendeutung in das Prophetenverständnis der alttestamentlichen Wissenschaft protestantischer Provenienz um 1900. Dies ist keine willkürliche Beschränkung, sondern bietet sich von Baecks Wesensschrift her an, verweist Baeck doch fast ausschließlich auf protestantische Gewährsleute, wenn es um Fragen der Literatur- und Religionsgeschichte der Hebräischen Bibel geht – selbstverständlich in Aneignung und Abgrenzung. Genannt werden mit Blick auf die Prophetie vor allen Dingen Überblicks28 Friedländer, Leo Baeck (s. o. Anm. 5), 75.

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werke von: Wilhelm Bousset, Bernhard Duhm, Abraham Kuenen, Karl Marti und Julius Wellhausen.29 Alle Autoren stimmen in der Grundtendenz der Prophetendeutung überein, die ihren wirkmächtigsten Ausdruck in der Darstellung Julius Wellhausens gefunden hat. Abweichungen sind im Detail natürlich vorhanden, für das Prophetenbild Baecks aber so gut wie irrelevant, da es ihm auf das Phänomen »Prophetie« überhaupt ankommt,30 er also auf einer relativ hochstufigen historiographischen Abstraktion einer historischen Erscheinung einsetzt, und weitgehend auf eine Rekonstruktion der Entwicklung der alttestamentlichen Prophetie von der vorklassischen Phase bis zu ihrem Erlöschen in nachexilischer Zeit verzichtet. Dementsprechend tauchen die Namen der einzelnen Prophetengestalten in Baecks Darstellung auch nur am Rande auf. Daß Baeck die Prophetie zum historischen Ausgangspunkt seiner Wesensbestimmung des Judentums macht, dürfte allerdings beim durchschnittlich interessierten Bibelleser zunächst einmal Verwunderung auslösen. Denn daß das Judentum nicht – wie etwa Buddhismus, Islam und auch das Christentum31 – auf einen Religionsstifter zurückgehen soll, sondern als gestiftete Religion auf das Phänomen »Prophetie« und damit auf eine Vielzahl von Religionsstiftern, die die klassische Epoche des Judentums ausmachen, ist nach der einigermaßen unbefangenen Lektüre des Pentateuch, der Mose als die alles überragende Zentralgestalt exponiert, auf den – sieht man einmal von der Genesis ab – als Offenbarungsmittler die Gebotsverkündigung und damit auch sämtliche Kultund Lebensordnungen Israels zurückgehen, alles andere als naheliegend. Indes kommt Mose in Baecks Wesensschrift nur am Rande und dann nur in relativ unspezifischen Zusammenhängen vor,32 von einer Vorrangsstellung des Mose auch mit Blick auf die Prophetie, die ihm etwa das Deuteronomium einräumt,33 kann schlechterdings keine Rede sein. 29 Wilhelm Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 1903; Duhm (s. o. Anm. 2); Abraham Kuenen, Volksreligion und Weltreligion. Fünf Hibbert-Vorlesungen, Berlin 1883; Karl Marti, Geschichte der Israelitischen Religion, Straßburg 41903; Julius Wellhausen, Israelitische und Jüdische Geschichte, Berlin (11894) 91958 (Baeck zitiert die 5. Auflage, die in den uns hier interessierenden Passagen mit der 9. Auflage weitgehend übereinstimmt. Wir weisen die Zitate Wellhausens der leichteren Zugänglichkeit wegen nach der 9. Auflage aus). Für unseren Zusammenhang ist außerdem das populäre Buch von Carl Heinrich Cornill, Der israelitische Prophetismus, Straßburg 31900, einschlägig, auf den sich Baeck in seiner Harnackbesprechung (s. o. Anm. 8), 27, bezieht, und der – gemessen an den Entwürfen von Wellhausen und dem ihm in der Prophetendeutung durchaus verpflichteten Kuenen – bei gleichem Grundansatz eher konservativ urteilt. 30 Insofern braucht im folgenden auch nicht der Anmerkungsapparat Baecks referiert und kommentiert werden, sondern es geht ausschließlich um die Grundzüge des Prophetenbildes. 31 Vgl. hierzu aber etwa die von Troeltsch (s. o. Anm. 10), 416, ins Spiel gebrachte Annahme von zwei Stiftergestalten, Jesus und Paulus, die dem Christentum von Anfang an verschiedene Akzente und damit eine produktive Grundspannung einprägen; s.i.f. 32 Vgl. etwa: »Bereits mit der frommen Überlieferung Israels, die an die Stammväter anknüpft und sich in Mose zusammenschließt, war eine bleibende geschichtliche Grundlage gegeben. Um wie viel mehr sodann mit dem Buche, das als das Buch die alten Erzählungen, die Worte der Gottesmänner, die Reden der Propheten zum Zeugnis von Gott vereint, um sie für alle Geschlechter aufzubewahren« (9). 33 Dtn34, 10: »Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der Herr erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht«.

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Die Marginalisierung der Mosegestalt hängt mit den Einsichten der Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts zusammen,34 die, ausgehend von der Rekonstruktion der literarischen Vielschichtigkeit des Pentateuch, die Entstehung insbesondere der legislativen Teile nicht mehr in der vorstaatlichen Phase Israels ansetzte, sondern in spätvorexilischer Zeit bzw. im babylonischen Exil und der sich anschließenden Epoche. Damit fallen der Pentateuch als Norm und somit auch Mose als historischer Vorläufer und Religionsstifter für die Interpretation der Prophetie aus, was seinen prägnanten Ausdruck in dem Schlagwort »lex post prophetas« gefunden hat. Der wichtigste religionsgeschichtliche Einschnitt in der Geschichte Israels und Judas ist das Auftreten der nachmalig sogenannten Schriftpropheten; die sich im Anschluß daran ausbildende Mosetradition im Pentateuch ist demgegenüber auch ein literarischer Reflex ihres Wirkens. Baeck nimmt dies ausdrücklich auf, wenn er feststellt: »Es wird häufig so dargestellt, als ob der israelitische Prophetismus durch die sogenannte Gesetzesreligion des Judentums abgelöst worden sei. Als zwei Epochen werden sie beide getrennt. In Wirklichkeit darf man so sehr und so wenig zwischen ihnen scheiden, wie zwischen der Zeit, wo um eine Wahrheit gekämpft wird, und der, wo diese Wahrheit angenommen wird« (10).

Hierin eine triftige Kritik an Wellhausen selber erkennen zu wollen, hieße über das Ziel hinauszuschießen. Denn auch für Wellhausen ist die sogenannte Gesetzesreligion eine Folge der Prophetie: »Den Propheten ist an der Hand der Weltgeschichte der furchtbare Ernst der Gerechtigkeit Jahves aufgegangen, sie sind die Begründer der Religion des Gesetzes, nicht die Vorläufer des Evangeliums«.35 Mit Blick auf die Entstehung des spätvorexilischen Deuteronomiums führt Wellhausen aus: »Das Deuteronomium krönt die Arbeit der Propheten [...] Es war das erste Gesetzes- und Bundesbuch, oder vielmehr, es war zu seiner Zeit und auf lange hinaus einfach das Buch des Bundes. Deutlicher als irgendwo zeigt sich hier, daß Propheten und Gesetz kein Gegensatz, sondern identisch sind und im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehn«.36 Zum nachexilischen Priesterkodex heißt es: »Der Priesterkodex zieht die Summe aus der Entwicklung, welche die Volksreligion unter dem Einfluß der Verhältnisse und der Propheten seit der Zerstörung Samariens und sei Jesaias durchgemacht hatte«.37 34 Vgl. pars pro toto: Julius Wellhausen, Die Composition des Hexateuchs, Berlin 41963; ders., Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin/Leipzig 61927 (erstmals 1878 unter dem Titel »Geschichte Israels I« veröffentlicht); vgl. auch den Abriß ders., Israelitisch-jüdische Religion, in: Paul Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart (I,4), Berlin/Leipzig 1905, 1–38. Wir verzichten im Folgenden darauf, Wellhausens Thesen mit dem heutigen Forschungsstand zu konfrontieren, das ist für die Baeck-Interpretation müßig. Für die Geschichte der Moseforschung ist Rudolf Smend, Die Methoden der Moseforschung, in: ders., Zur ältesten Geschichte Israels. Gesammelte Studien Band 2 (BevTh 100), München 1987, 45–115, einschlägig. Zu Wellhausen vgl. Rudolf Smend (s. o. Anm. 1), 99–113, sowie vor allen Dingen ders., Wellhausen und das Judentum, in: ders., Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien Band 3 (BevTh 109), München 1991, 186–215. Die gedanklich präziseste Darstellung von Wellhausens Prophetendeutung findet sich bei Claussen (s. o. Anm. 3), 65–72. 35 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 110. 36 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 130. 37 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 170.

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Baeck hat seine Kritik allerdings auch nicht explizit auf Wellhausen bezogen. Die Abfolge von ursprünglichem prophetischem Charisma und seinen historischen Veralltäglichungsgestalten bedeutet indes nicht, daß im Zuge der historischen Entwicklung nicht neue Akzente gesetzt werden, die der Folgezeit eine eigene Signatur verleihen und dann auch in Widerspruch zu den Ursprüngen treten kann. Allerdings: selbst die kultischrituellen Akzente, die die »Gesetzesreligion« etwa zusätzlich auszeichnen, sind für Wellhausen Folge der Prophetie, die sich seit Jesajas Zeiten nicht nur um die Versittlichung des Gemeinwesens, sondern auch um die Reform des Kultus kümmerte.38 Man kann Baeck insofern vorwerfen, das Phänomen »Prophetie«, gemessen an der Geschichtsdarstellung Wellhausens und anderer, zu einseitig hinsichtlich der ethisch-religiösen Komponente aufzunehmen und zuzuspitzen. Das gilt auch für das von Baeck als wesentlich herausgestellte Merkmal der Prophetie, nämlich den ethischen Monotheismus.39 Wir kommen auf dieses Problem abschließend zu sprechen und verfolgen zunächst die anderen Facetten von Baecks Prophetendeutung bei Wellhausen. Auch für Wellhausen steht der ethische Monotheismus am Anfang der nachmalig sogenannten Schriftprophetie – es sind die Propheten, »welche das neue Israel schufen«40 – und setzt im 8. Jahrhundert v.Chr. mit dem ersten großen Propheten, nämlich Amos ein: »Jahve und Amos kennen nicht zweierlei Maß, Recht ist überall Recht, Frevel immer Frevel, möge er auch an Israels grimmigsten Feinden begangen sein. Was Jahve fordert, ist Gerechtigkeit, nichts anderes; was er haßt, ist das Unrecht. Die Beleidigung der Gottheit, die Sünde, ist durchaus moralischer Natur. Mit so ungeheurem Nachdruck war das nie zuvor betont worden. Die Moral ist es, wodurch allein alle menschlichen Dinge Bestand haben, das allein Wesenhafte in der Welt.41 [...] Dies ist der sogenannte ethische Monotheismus der Propheten; sie glauben an die sittliche Weltordnung, an die ausnahmslose Geltung der Gerechtigkeit als obersten Gesetzes für die ganze Welt«.42 38 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 122ff. Vgl. ders.: »Er (i. e. der Priesterkodex) ist das Resultat der prophetischen Regulierung des Kultus, die unter Hizkia und Josias begann, durch das Exil mächtig gefördert wurde, und nach dem Exil zum Siege gelangte« (170). 39 Etwas anders als bei Baeck liegen die Schwerpunkte etwa auch bei Kaufmann Kohler, Grundriß einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage, Leipzig 1910, 7ff. 13ff. 28ff. 33ff, der – faktisch auf derselben historiographischen Basis wie Baeck – für das Wesen des Judentums eine produktive Grundspannung in Anschlag bringt: »Es geht durch das Judentum eine doppelte Geistesströmung: eine priesterlich-gesetzliche Richtung, die Staat und Tempel durch Rechts- und Ritualbestimmungen ordnen, also das Volks- und Privatleben gesetzlich regeln will, und eine prophetisch-ethische Richtung, die das sittlich-religiöse Bewusstsein des Menschen und der Menschheit wecken und heben will. Je nachdem die eine oder andere vorherrscht, ist die Thora abwechselnd Gesetz und Lehre« (35). Vgl. für das Christentum Troeltsch (s. o. Anm. 10), 415f: »Diese (i. e. die Jesuspredigt) ist wesentlich individualistisch und heroisch-ethisch gerichtet, lebt in der Erlösung der Zukunft und bereitet sie durch Forderung und Verheißung vor. Die Pauluspredigt lebt ganz anders in der Gegenwart und im Heilsbesitz, baut den Christusleib der Gemeinde und verlegt alles Wesentliche in den Gedanken der Gnade [...] Das Wesen des Christentums hat von Anfang an zwei verschiedene Akzente, wenn nicht geradezu zwei verschiedene Elemente«. 40 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 78. 41 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 106. 42 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 108.

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Bereits in der »sittlichen Weltordnung« ist natürlich die universale Dimension der Religion mitgesetzt, die dann mit Blick auf die sich zunächst durchhaltende nationale Exklusivität – das »Sonderverhältnis Israels zu Jahve« – in der Exilszeit zunehmend zu der Weltreligion, wenngleich in Gestalt eines Additionsmodells, entschränkt wird, die auch Baeck vorschwebt. Im Zuge der Interpretation der deuterojesajanischen Gottesknechtslieder schreibt Wellhausen analog: »Das nationale Selbstgefühl ist außerordentlich, aber engherzig ist es nicht, deshalb, weil das Sonderverhältnis Israels zu Jahve nur eine Vorstufe ist, weil die Geschichte Israels in die Weltgeschichte mündet. Der Besitz der Wahrheit schließt für Israel den Beruf in sich, sie den Völkern zu verkünden [...] Eben das Exil macht den Übergang von der Volksreligion zur Weltreligion, es bewirkt die Metamorphose Israels zum Missionar der Weltreligion«.43

Ebenso wie bei Baeck liegt dem prophetischen Wirken bei Wellhausen keine wissensmäßige Herleitung zugrunde, sondern es ist Folge eines lebendigen Erlebens der übermächtigen Gottheit,44 was wiederum bereits in der Prophetie des Amos manifest wird: »Sie (i. e. die Moral) ist kein Postulat, keine Idee, sondern Notwendigkeit und Tatsache zugleich, die lebendigste persönliche Macht – Jahve der Gott der Mächte. Zornig, zerstörend macht sich die heilige Realität geltend; sie vernichtet allen Schein und alles Eitle«.45

Das »religiöse Subjekt«46 ist dann im wesentlichen die Errungenschaft einer späteren Epoche der Prophetie, nämlich der des Propheten Jeremia, in dem Amos und Hosea wieder auflebten,47 und mit dem die Religion gewissermaßen zu sich selbst kommt: »Seine verschmähte Prophetie ward ihm die Brücke zu einem inneren Verkehr mit der Gottheit; aus seinem Mittlertum zwischen Jahve und Israel entstand, da Israel davon nichts wissen wollte, ein religiöses Privatverhältnis zwischen seiner Person und Jahve, worin nicht bloß Jahve sich durch ihn dem Volke offenbarte, worin er vielmehr selber, in all seiner Menschlichkeit, sich vor Jahve ausschüttete [...] Unter Schmerzen und Wehen entstand in ihm die Gewißheit seiner persönlichen Gemeinschaft mit der Gottheit, das tiefste Wesen der Frömmigkeit wurde bei ihm entbunden [...] Er ist der Vater des wahren Gebets, in dem die arme Seele zugleich ihr untermenschliches Elend und ihre übermenschliche Zuversicht ausdrückt, ihr Zagen und Zweifeln und ihr unerschütterliches Vertrauen [...] So löste sich aus der Prophetie nicht bloß das Gesetz aus, sondern zum Schluß auch noch die individuelle Religiosität«.48

Das »tiefste Wesen der Frömmigkeit«, die »individuelle« Religiosität«, die durchaus auch 43 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 152. 44 Duhm, Theologie (s. o. Anm. 1), 108, spricht sogar vom ›reflexionslosen, rein religiösen Glauben der Propheten‹. 45 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 106. 46 Für die Zeit des Amos gilt: »Das religiöse Subjekt ist auch noch ihnen nicht der Einzelne, sondern Israel, und wenngleich Jahve der Nation über den Kopf zu wachsen beginnt, so ist doch die gewaltig realistische Persönlichkeit von dem alten Volksgotte beibehalten«; Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 107. 47 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 138. 48 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 140f.

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Anknüpfungspunkte für mystische, nicht rein durch die Sittlichkeit geprägte Religionstypen bietet,49 ist in Wellhausens Jeremiadeutung allerdings nicht ausschließlich durch ein rein religiöses Erlebnis zustande gekommen, sondern steht im Zusammenhang mit äußeren Faktoren, in diesem Fall der Vergeblichkeit seines prophetischen Wirkens, ist also auch Kontingenzbewältigungspraxis; »Durch den Miserfolg seiner Prophetie wurde er über die Prophetie hinausgeführt«.50 Diese Ambivalenz zwischen »äußerem Anlaß und genuin religiöser Idee«51 kennzeichnet auch bereits Wellhausens Amosdeutung und damit den Beginn der Prophetie. Das Auftreten der frühen Propheten ist durch eine sich abzeichnende Veränderung in der geschichtlichen Lage mitbedingt, nämlich das Auftreten der assyrischen »Weltmacht« im 8. Jahrhundert v.Chr., das erstmals so etwas wie (transnationales) Weltbewußtsein ermöglichte, mit den entsprechenden Folgen für die üblichen funktionalen Nationalreligionen, denen auch Israel bis zum Auftreten der Propheten zuzurechnen ist: »Sie (i. e. die Assyrer) führten einen neuen Faktor, den des Weltreiches oder allgemeiner der Welt, in die Geschichte der Völker ein. Dem gegenüber verloren dieselben ihren geistigen Schwerpunkt, die rauhe Tatsache, vor die sie sich unversehens gestellt sahen, vernichtete ihre Illusionen, sie warfen ihre Götter in die Rumpelkammer, zu Ratten und Fledermäusen. Nur die israelitischen Propheten ließen sich nicht von den Ereignissen überraschen [...], sie lösten zum voraus das furchtbare Problem, das die Geschichte stellte. Sie nahmen den Begriff der Welt, der die Religionen der Völker zerstörte, in die Religion, in das Wesen Jahves auf, ehe er noch recht in das profane Bewußtsein getreten war [...] Überall dieselben Gesetze, überall das gleiche Ziel der Entwicklung. Die Völker sind die agierenden Personen, Israel der Held, und Jahve der Poet der Tragödie«.52

Von außen durch die historische Entwicklung »aufgezwungenes« Weltbewußtsein, das den bisherigen Religionstyp erschüttert, zugleich aber mit dem »Begriff der Welt« eine neue Totalitätsperspektive bereitstellt, und religiöses Erleben der Propheten greifen also ineinander und stehen an der Wiege des ethischen Monotheismus. Demgegenüber profiliert Baeck lediglich die Seite des inneren religiösen Erlebens53 und damit faktisch die 49 Im Kapitel XV »Die jüdische Frömmigkeit« schreibt Wellhausen im Rückblick: »Für Jeremias wurde sein Mittlertum die Brücke zur persönlichen Frömmigkeit; durch ihn vollzog sich der Übergang der Prophetie zu der Religion, in dem Sinne, daß sie das Mysterium der Verbindung zwischen Gott und Mensch im Individuum bedeutet. Sein Leben mit Gott [...] wurde das Vorbild für verwandte Seelen der Folgezeit. Die innere Erfahrung der Gemeinschaft Gottes wurde ihnen zu einer Macht, durch welche sie allen Schrecken der äußeren Erfahrung trotzten«; Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 208. 50 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 140. 51 Claussen (s. o. Anm. 3), 67. 52 Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 29), 106f; vgl. hierzu Baeck: »Dieselben Männer, die die Idee der Weltreligion klar aussprechen, haben zuvor den Gedanken der Weltgeschichte – die sich ihnen als die sittliche Weltregierung [...] darbot – gestalten müssen. Der Begriff der Welt, der andere Völker ihres religiösen Fundaments zu berauben, ihre Götter zu entthronen schien, gab in Israel der religiösen Wahrheit erst die rechte Grundlage und zeigte die wahre Größe des göttlichen Waltens« (54). 53 Wenngleich sich das nicht mit der Prophetendeutung Wellhausens völlig deckt, so ist doch festzuhal-

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Unableitbarkeit des Ursprungsgeschehens, das ausnahmslos sittlich-religiösen Charakter hat und gegen mystisches Erleben resistent ist. Dieser Befund leitet zu einigen abschließenden Bemerkungen über. Auf der einen Seite ist der Anschluß von Baecks Prophetendeutung an die der alttestamentlichen Wissenschaft seiner Zeit überdeutlich. Andererseits werden – gemessen an dem Prophetenbild, das in der von Baeck herangezogenen Sekundärliteratur entworfen wird – auch erhebliche Reduktionen vorgenommen, etwa was die Genese der Prophetie, ihre keineswegs gradlinige Entwicklung und auch ihre Wirkung in den von ihr mitbedingten, aber auch anderen Interessenlagen folgenden Veralltäglichungsgestalten des prophetischen Charismas betrifft, eine Entwicklung die zunächst einmal auch zum programmatischen Abschluß bzw. Verlöschen der Prophetie führt, was in der prophetischen Tradition selber reflektiert wird (Sach13, 1–6). Und schließlich muß gefragt werden, inwiefern das an den Propheten entwickelte Religionsverständnis und damit die Wesensbestimmung des Judentums auf eine reine Abstraktion des historisch aufbereiteten Materials zurückgehen – und in welchem Maße die vorgenommenen Reduktionen nicht doch einem vorgegebenen Religionsbegriff geschuldet sind, der dann im Gegenzug wiederum durch das historische Material angereichert und modifiziert wird. Beides greift bei Baeck ineinander. Bei alledem muß aber festgehalten werden, was Troeltsch in seiner Methodologie zur Wesensbestimmung herausarbeitet:54 Die Wesensbestimmung eines historischen Phänomens ist kein rein historiographisches Geschäft. Sie ist nicht eine reine Nachzeichnung des historischen Verlaufs und setzt nicht nur die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem voraus, sondern enthält auch eine, an einem – anhand der historischen Stoffe selber gewonnenen – Ideal bemessene Kritik der historischen Erscheinung, vor allem auch mit Blick auf ihre intendierte zukünftige Gestalt. »Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung« – sie stellt die Züge heraus, die dem Verfasser mit Blick auf die historische Genese und die gegenwärtige geistige Lage zukunftstauglich und zukunftswürdig erscheinen – in den Worten Baecks: sie will »nicht nur die rückwärtsgewandte, sondern die vorwärtsgerichtete Prophetie sein, sie will den großen Zug wahren und gewähren« (X). Und nicht zuletzt hat Harnack gleich zu Beginn seiner Vorlesungen zum Wesen des Christentums auf die Probleme hingewiesen, die die Wesensbestimmung als solche so mit sich bringt: »Das geschichtliche Verständnis beginnt doch erst dann, wenn man das Wesentliche und Besondere einer großen Erscheinung von den zeitgeschichtlichen Hüllen zu befreien versucht. Daß viele ursprüngliche Züge dabei zum Opfer fallen müssen – auch solche, die in ihrer Zeit wesentlich erschienen und es waren – und daß das ganze Unternehmen leicht scheitern kann, wer kann darüber im Unklaren sein? Aber der Versuch muß gemacht werden [...]«.55 ten, daß es natürlich auch Prophetendeutungen gibt, die dem, was Baeck vorschwebt, entsprechen. In diesem Zusammenhang ist etwa der Lehrer von Wellhausen und Duhm zu nennen: Heinrich Ewald, Die Propheten des Alten Bundes. Bd.1, Stuttgart 1840, 4–6. 8ff. Das Zitat in Anm. 53 widerspricht Baecks Zuspitzung des Wesens der Prophetie auf das ursprüngliche innere Erlebnis nicht. 54 Troeltsch (s. o. Anm. 10). 55 Harnack, Wesen (s. o. Anm. 7), 5.