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English, German Pages 288 [290] Year 2020
BEIHEFTE
Regiolekt – Der neue Dialekt? Akten des 6. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) Herausgegeben von Helen Christen, Brigitte Ganswindt, Joachim Herrgen und Jürgen Erich Schmidt
Germanistik
ZDL
Franz Steiner Verlag
zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte
182
Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik In Verbindung mit Michael Elmentaler, Jürg Fleischer und Mark L. Louden Herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt Beiheft 182
Regiolekt – Der neue Dialekt? Akten des 6. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) Herausgegeben von Helen Christen, Brigitte Ganswindt, Joachim Herrgen und Jürgen Erich Schmidt
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12909-1 (Print) ISBN 978-3-515-12918-3 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Helen Christen / Brigitte Ganswindt / Joachim Herrgen / Jürgen Erich Schmidt Vorwort .................................................................................................................... 7 REGIONALSPRACHLICHE DYNAMIK Michael Elmentaler Neue Wege der Regiolektforschung ..................................................................... 13 Irmtraud Kaiser Zwischen Standardsprache und Dialekt: Variationsspektren und Variationsverhalten österreichischer Kindergartenkinder ..................................... 41 Manuela Lanwermeyer Neurolinguistische Ansätze zum Einfluss von Dialektkontakt auf das Sprachverstehen ..................................................................................................... 65 Guido Seiler / Simon Pröll Akkommodation geostatistisch .............................................................................. 83 Philip C. Vergeiner / Dominik Wallner / Lars Bülow / Hannes Scheutz Redialektalisierung und Alter: Ergebnisse einer real-time-Studie zum age-grading in Ulrichsberg .......................................................................... 101 Lars Vorberger Rhein-Mainisierung – Zur Neustrukturierung im hessischen Sprachraum ......... 123 MORPHOLOGIE UND SYNTAX DER DEUTSCHEN REGIONALSPRACHEN Philipp Stöckle Dialektvariation an der Schnittstelle von Syntax, Morphologie und Lexik – Der Konjunktiv II in den bairischen Dialekten Österreichs und Südtirols .......... 149 Gerda Baumgartner / Simone Busley / Julia Fritzinger / Sara Martin Dat Anna, et Charlotte und s Heidi: Neutrale Genuszuweisung bei Referenz auf Frauen als überregionales Phänomen ............................................. 175
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Inhaltsverzeichnis
Antje Dammel / Oliver Schallert Modalverben in deutschen Dialekten. Ein Testfall für die Analyse morphologischer Variation .................................................................................. 193 Markus Denkler Differentielle Kasusmarkierung in den Dialekten des westlichen Münsterlandes .................................................................................... 227 Anja Hasse / Patrick Mächler / Sandro Bachmann Genus- und Kasusprofilierung beim Schweizerdeutschen Definitartikel ............ 249 Lea Schäfer Die Erschließung des „Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry“ für die Dialektsyntax ............................................................................................ 269
VORWORT Vom 13. bis 15. September 2018 fand am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg der 6. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) unter dem Rahmenthema „Regiolekt – Der neue Dialekt?“ statt. An der Tagung nahmen 200 Teilnehmer*innen aus insgesamt 11 Ländern – Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Österreich, Schweiz, UK, Ungarn, USA – teil. Das Programm umfasste 85 Vorträge, 15 Poster und 5 Multimedia-Präsentationen. Der IGDD-Nachwuchspreis für die beste Dissertation wurde in diesem Jahr an Brigitte Ganswindt (Marburg) für ihre Dissertation zum landschaftlichen Hochdeutsch im 19. Jahrhundert verliehen. Der Preis für das beste Poster ging an Andrea Kleene (ehemals Odense, jetzt Bonn) für das Plakat „Aktueller Gebrauch des Niederdeutschen im Rundfunk“. Der vorliegende Band versammelt 12 Beiträge, die auf zwei Plenarvorträgen und 10 Halbplenarvorträgen beruhen. Thematisch sind diese in die zwei Hauptforschungsfelder „Regionalsprachliche Dynamik“ und „Morphologie und Syntax der deutschen Regionalsprachen“ einzuordnen, die sich in der Gliederung des Bandes widerspiegeln. In seinem Hauptvortrag „Neue Wege der Regiolektforschung“ konstatiert MICHAEL ELMENTALER zunächst eine bemerkenswerte Dialektfixierung der jüngeren Regiolektforschung: Regiolektaler Wandel wird überwiegend als Abbau dialektaler Merkmale verstanden, womit die Regiolektforschung es aber bislang versäumt hat, aus dem Schatten der traditionellen Dialektologie herauszutreten. Demgegenüber plädiert ELMENTALER dafür, Phänomene in den Blick zu nehmen, die sich in den modernen Regiolekten neu herausbilden. ELMENTALER analysiert in diesem Zusammenhang erstens regiolektale Reduktions- und Enkliseformen (z. B. tApokope bei der Verbform braucht (3. Ps. Sg. Präs.), Reduktionsformen der Artikelform ein), die zwar einerseits als Allegroformen beschrieben werden können, andererseits aber eine klare areale Distribution aufweisen. Zweitens werden regiolektale Phraseologismen diskutiert, die von der linguistischen Forschung bislang noch wenig beachtet wurden (Rabotti machen, ein Rad abhaben, Leck mich doch inne Täsch). Drittens geht ELMENTALER auf regiolektale Interaktionsformen (halb so wild, nichts für ungut, lass mich nicht lügen) ein, die als Spezifika moderner Regiolekte gelten können. Der Beitrag mündet in die programmatische Forderung, die Dialektfixierung der Regiolektforschung aufzugeben und regional differenzierte Korpusanalysen zu unternehmen, deren Ziel es sein sollte, neue Formen und Funktionen der Regiolekte zu identifizieren, die anschließend linguistisch analysiert werden könnten. IRMTRAUD KAISER untersucht in ihrem Beitrag „Zwischen Standardsprache und Dialekt: Variationsspektren und Variationsverhalten österreichischer Kindergartenkinder“ das Variationsrepertoire sowie die intersituative Standard-Dialekt-
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Variation von 48 österreichischen Kindergartenkindern und widmet sich damit einem noch weitgehend unbearbeiteten Themengebiet. Die größtenteils monolingualen und zum Teil bilingual mit einer Zweitsprache aufwachsenden Kinder aus sowohl städtischen als auch ländlichen Gebieten werden in fünf verschiedenen Gesprächs- bzw. Rollenspielsituationen aufgenommen. Das Videomaterial wertet IRMTRAUD KAISER sowohl gesprächsanalytisch als auch phonetisch aus. Sie kommt dabei unter anderem zu dem Ergebnis, dass drei Viertel der monolingualen Kinder aus der Stadt und fast alle auf dem Land aufwachsenden Kinder über eine produktive Dialektkompetenz verfügen. Zudem verfügt mehr als die Hälfte aller monolingualen Kinder sowohl über eine aktive Dialekt- wie auch Standardkompetenz und kann daher als bivarietär bezeichnet werden. KAISER kann unterschiedlich Typen von Variationsverhalten bei den untersuchten Kindern identifizieren und diskutiert verschiedene soziodemographische und situative Faktoren und deren Einfluss auf das Variationsspektrum der Kinder und ihr Sprachverhalten. So kann sie unter anderem zeigen, dass tägliches (standardsprachliches) Vorlesen in einem stark dialektal geprägten Umfeld insbesondere bei Landkindern zu einer ausgeprägten Entwicklung eines bivarietären Repertoires zu führen scheint. Einen weitgehend neuen Blick auf sprachdynamische Prozesse bietet MANUELA LANWERMEYER mit ihrem Aufsatz „Neurolinguistische Ansätze zum Einfluss von Dialektkontakt auf das Sprachverstehen.“ Es hat eine lange Tradition, die kognitiv-interaktiven Prozesse, die dem ständigen Sprachwandel zugrunde liegen, theoretisch zu modellieren. Relativ neu ist die Möglichkeit, hirnphysiologische Reaktionen auf sprachwandelauslösende Konstellationen mit hoher zeitlicher Auflösung sichtbar zu machen. LANWERMEYER beginnt mit einem Überblick über die internationale neurodialektologische Forschung und führt anschließend die Leistungsfähigkeit der Elektroenzephalographie (EEG) an Studien zum Dialektkontakt im bairisch-schwäbischen Übergangsgebiet und im Rheinfränkischen vor. Der Beitrag endet mit dem vielversprechenden Versuch, die hirnphysiologischen Reaktionen bei interdialektalen Verstehensprozessen mit neurokognitiven Vorwärtsmodellen der Handlungssteuerung zu erklären. GUIDO SEILER und SIMON PRÖLL behandeln in ihrem Beitrag „Akkommodation geostatistisch“ ein Konzept, das in der Sprachdynamikforschung eine prominente Rolle spielt. Akkommodation meint die interaktiv vermittelte Assimilation differenten Sprachwissens bzw. differenter Varietäten. Sie stellt insofern ein Resultat von Synchronisierung dar, nämlich in denjenigen Fällen, in denen Synchronisierung zur Assimilation führt (andere Fälle: Konstanz oder Dissimilation). SEILER und PRÖLL nähern sich diesem Phänomen geostatistisch an, indem sie die Daten des „Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben“ (SBS) einer Faktorenanalyse unterziehen und die Resultate dieser Faktorenanalyse dann kartieren. Bemerkenswert ist hier ein sog. „Standardfaktor“, der zwar neben anderen Faktoren nicht allzu stark in Erscheinung tritt, aber eine auffällige sprachareale Distribution zeigt: Höhere Ladungen dieses Faktors lassen sich besonders in der Nähe zu Regionalsprachengrenzen beobachten. In diesen Daten kann man einen geostatistischen Nachweis der auch in der Vergangenheit schon beobachteten Tatsache sehen, dass an Regionalsprachengrenzen erhöhte Standardnähe vorliegt. Die Auto-
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ren vergleichen die regionalsprachlichen Verhältnisse in Bayerisch-Schwaben („Diaglossie“) mit denjenigen der Deutschschweiz („Diglossie“) und entwickeln hieraus eine Typologie der Akkommodationsstrategien. Der Beitrag von PHILIP C. VERGEINER, DOMINIK WALLNER, LARS BÜLOW und HANNES SCHEUTZ trägt den Titel „Redialektalisierung und Alter: Ergebnisse einer Real-Time-Studie zum Age-Grading in Ulrichsberg“. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die wichtige Fragestellung, inwiefern die Aussagekraft von ApparentTime-Studien durch Age-Grading-Effekte beeinträchtigt wird. Zu diesem Zweck unternehmen die Autoren eine Real-Time-Studie zu der oberösterreichischen Marktgemeinde Ulrichsberg, die auch in der Vergangenheit schon mehrfach Gegenstand variationslinguistischer Analysen war. Die ausgewerteten Sprachdaten von acht Gewährspersonen wurden zu je zwei Zeitpunkten erhoben, nämlich 1975/76 im Rahmen des FWF-Projektes „Empirisch-statistische Untersuchungen zur schichten- und situationsspezifischen Sprachvariation in einer ländlichen Marktgemeinde Oberösterreichs“ und dann 2018/19 im Rahmen des SFB „Deutsch in Österreich“. Die Auswertung deutet dann auf ein Age-Grading in der Form einer Redialektalisierung hin, d. h. einer Zunahme der Dialektverwendung. Vor diesem Hintergrund weisen die Autoren die Diagnose eines umfassenden Dialektabbaus in Österreich zurück. Sie fordern die Ergänzung von ApparentTime-Studien durch Real-Time-Studien. Dem Sprachwandelprozess der Rhein-Mainisierung widmet SICH LARS VORBERGER in seinem Beitrag „Rhein-Mainisierung – zur Neustrukturierung im hessischen Sprachraum“. Er kann auf einer breiten Datenbasis (Material aus dem REDE-Projekt sowie aus den Korpora „Tonaufnahmen hessischer Mundarten“ (TAHM) und dem im Aufbau befindlichen „Digitalen Hessischen Sprachatlas“ (DHSA)) zeigen, dass die alten sprachlichen Strukturgrenzen im Zentralhessischen aufgelöst wurden und eine Neugliederung des Sprachraums stattgefunden hat. Mithilfe von quantitativen Variablenanalysen und qualitativ-quantitativen Variantenanalysen demonstriert er, wie sich etwa neue regionalsprachliche Merkmale weiter nach Norden ausbreiten und dialektale Merkmale häufig erhalten bleiben, im Süden zum Teil aber auch durch standardsprachliche ersetzt werden. Dies hat zu einer sprachlichen Anschließung des südlichen Zentralhessischen an das Rheinfränkische geführt und zu einer neuen sprachlichen Grenze durch das traditionelle Dialektgebiet Zentralhessisch. LARS VORBERGER kann zeigen, dass der Sprachwandelprozess der Rhein-Mainisierung in ländlichen Regionen durch dieselben Entwicklungen wie in den Städten charakterisiert ist, wobei der Wandel auf dem Land langsamer voranschreitet als in der Stadt. Den morphologisch-syntaktischen Teil des Kongressbandes eröffnet der Hauptvortrag von PHILIPP STÖCKLE „Dialektvariation an der Schnittstelle von Syntax, Morphologie und Lexik – Der Konjunktiv II in den bairischen Dialekten Österreichs und Südtirols.“ STÖCKLE zeigt, wie das inzwischen digital erschlossene Material des „Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ)“ mit seinen 3,6 Millionen Belegzetteln aus der Zeit zwischen 1911 und Ende der 1930er Jahre einer morpho-syntaktischen Auswertung zugeführt werden kann. Im Fokus steht das Auftreten der synthetischen ad-Konstruktion – ursprünglich auf
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schwache Verben beschränkt – bei starken und unregelmäßigen Verben sowie die verschiedenen periphrastischen Konjunktivformen des Bairischen. STÖCKLE kann nachweisen, dass das ad-Infix schon in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts bei den starken Verben im Vordringen begriffen war und dabei eine markante Ost-WestRaumverteilung aufweist, die der traditionellen Dialektgliederung des Bairischen nicht entspricht. Aufschlussreich sind auch die schriftsprachlichen Übersetzungen der Dialektbelege durch die Sammler: Es dokumentiert sich einerseits eine Tendenz zur Wahl periphrastischer Formen und zum anderen der Beginn der Ersetzung der bairischen tun-Periphrase durch die würde-Periphrase. Eine exzellente empirische Basis für die neuerdings vielbeachtete Verwendung des Artikels bei weiblichen Personennamen und die pronominale Referenz auf Frauen schaffen GERDA BAUMGARTNER, SIMONE BUSLEY, JULIA FRITZINGER und SARA MARTIN in ihrem Beitrag „Dat Anna, et Charlotte und s Heidi. Neutrale Genuszuweisung bei Referenz auf Frauen als überregionales Phänomen“. Der Bericht über die Ergebnisse des trinationalen Projekts „Das Anna und ihr Hund“ zeigt eine charakteristische Staffelung des Phänomens im Westen des deutschen Sprachraums. Mit einer Methodenkombination aus Online-Fragebogen und Tiefenbohrungen (Lückentexte, Videoexperimente, Tiefeninterviews) werden drei Sprachräume identifiziert, in denen die neutrale Genuszuweisung diachronisch und synchronisch einen völlig unterschiedlichen Status hat: Im moselfränkischripuarischen Kerngebiet sind neutraler Artikel und Pronomen sehr weitgehend grammatikalisiert, im Luxemburgischen sogar progressiv. Im Osten und Süden dieses Kernraums ist das Phänomen hoch variabel. Seine Verwendung unterliegt einer komplexen soziopragmatischen Steuerung, wobei Vertrautheit und Alter eine herausragende Rolle spielen. In der deutschsprachigen Schweiz lässt sich ein schnell voranschreitender Umbruch beobachten: Ist es bei den Älteren noch für intensive Beziehungsdomänen reserviert („Kosegenus“), wird es von den Jüngeren als veraltet und herabsetzend abgelehnt. Die Morphologie/Syntax-Interaktion ist auch Gegenstand des Beitrags von ANTJE DAMMEL und OLIVER SCHALLERT „Modalverben in deutschen Dialekten. Ein Testfall für die Analyse morphologischer Variation“. Die Autor*innen begreifen Dialekte als ideales Untersuchungsfeld für morphologische Variation, da die Formenvariation hier keinem schreibsprachlich bedingten Selektions- und Normierungsprozess unterlag und sich insofern ‚natürlicher‘ verhält als in der Standardsprache. Datengrundlage der Analyse sind einerseits Ortsgrammatiken, dann eine eigene Erhebung und schließlich die Karten des „Sprachatlas des deutschen Reichs“. Der Beitrag kann zeigen, dass auch in den Dialekten morphologische Entropie reduziert wird, indem unterschiedliche Irregularitäten auf den Ebenen Morphologie, Syntax und Semantik gekoppelt werden. Die Kombination von Irregularitäten verschiedener Ebenen führt dann aber auch zu Form-FunktionMismatches, für die komplexe Perfektformen ein Beispiel sind. Die Modalverben erweisen sich insgesamt als idealer Gegenstand der linguistischen Untersuchung, da hier ein weites Spektrum von irregulären Phänomenen in Veränderung zu beobachten ist (Stammallomorphie, Suppletion, Synkretismen, Überdifferenzierung usw.).
Vorwort
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In seinem Aufsatz „Differentielle Kasusmarkierung in den Dialekten des westlichen Münsterlandes“ nimmt MARKUS DENKLER die Deklination des bestimmten Artikels im Maskulinum in den Blick. Während im zentralen Münsterländischen und im Niederdeutschen zumeist eine Zwei-KasusDifferenzierung zwischen Nominativ und Obliquus Geltung hat, kann im westlichen Münsterland sog. differentielle Kasusmarkierung festgestellt werden, bei der die Artikel je nach semantischen Merkmalen der entsprechenden Nomina entweder Kasussynkretismus oder Kasusdifferenzierung zeigen. Anhand der Daten aus den Wenkerfragebogen kann MARKUS DENKLER aufzeigen, dass differentielle Kasusmarkierung zwar nicht in „reiner Form“ auftritt, die Häufigkeiten aber insgesamt doch eine – für das Deutsche unerwartete – semantische Steuerung der Artikelflexion erkennen lassen. Diese ungewöhnlichen Befunde kann MARKUS DENKLER nun einer völlig plausiblen Erklärung zuführen: Die Regionen mit differentieller Kasusmarkierung liegen nämlich genau zwischen Gebieten mit vollständigem Kasussynkretismus und solchen mit Zwei-Kasus-Systemen, so dass eine kontaktbedingte Neuorganisation in Erwägung gezogen werden kann. Vor allem auch der Sachverhalt, dass differentielle Kasusmarkierung in einer typologisch und funktional gänzlich unerwarteten Ausprägung vorkommt – Kasusdifferenzierung bei unbelebten Nomina, Kasussynkretismus bei belebten Nomina –, spricht für deren kontaktdialektologisch-sprachgeographische Erklärung. Während sog. Profilierungstendenzen in Bezug auf die Substantivflexion relativ gut erforscht sind, kamen die Verhältnisse hinsichtlich der Artikelflexion bisher kaum in den Blick. Der Aufsatz „Genus- und Kasusprofilierung beim schweizerdeutschen Definitartikel“ von ANJA HASSE, PATRICK MÄCHLER und SANDRO BACHMANN ist nun ein überaus erhellender Beitrag, mit dem sich diese Forschungslücke erfreulicherweise zu schließen beginnt. Auf Basis der Daten des „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ und des „Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz“ vermögen die Autor*innen aufzudecken, dass sich unterschiedliche Verletzungen in Bezug auf das kanonische Flexionssystem abzeichnen, die – wie etwa im Falle des Zürichdeutschen – teilweise erst in jüngster Zeit eingetreten sind. Die Autor*innen können plausibel darlegen, dass die beträchtlichen Lautreduktionen, denen die Definitartikel in weiten Teilen der Deutschschweiz unterworfen wurden, die Voraussetzungen für Profilierungen geschaffen haben, wie sie bisher für deutsche Varietäten nicht beschrieben wurden. Die Kasusprofilierung verdankt sich dabei der Reduktion des anlautenden Plosivs beim Dativartikel aller Genera, der dann in Kontrast steht zum plosivhaltigen Artikel im NOM/AKK. Genusprofilierung des Definitartikels dagegen zeigt sich bei Dialekten, bei denen der anlautende Plosiv beim Artikel DAT.FEM.SG nicht reduziert wurde und der Stamm nun in Opposition steht zum plosivhaltigen Artikel DAT.MASK/ NEUTR.SG. So gut insbesondere die ostjiddischen Dialekte in Bezug auf Lautung und Wortschatz untersucht sind, so wenig weiß man über die morphosyntaktischen Strukturen der jiddischen Varietäten, die vor dem Holocaust ein großräumiges Kontinuum bildeten. Dank der umfangreichen Feldforschung, die Uriel Weinreich in den 1960er Jahren initiiert hatte, stehen heute Tonaufzeichnungen und jüngst
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Helen Christen / Brigitte Ganswindt / Joachim Herrgen / Jürgen Erich Schmidt
digitalisierte fieldnotes zur Verfügung. Diese durch direkte Befragungen erhobenen Daten dokumentieren die Varietäten aus rund 600 Orten, die das gesamte ehemalige Sprachgebiet abdecken. LEA SCHÄFER stellt in ihrem Aufsatz „Die Erschließung des ‚Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry‘ für die Dialektsyntax“ nun das Projekt „Syntax ostjiddischer Dialekte / Syntax of Eastern Yiddish Dialects (SEYD)“ vor, das die genannten Daten für morphosyntaktische Fragestellungen fruchtbar machen will. LEA SCHÄFER zeigt in ihrem Beitrag auf, wie diese Daten – unter Berücksichtigung z. B. von teils heterogenen Datensets oder von Interviewer-Einflüssen – nach dem Vorbild des „World Atlas of Language Structure“ (WALS) publiziert werden könnten. Erste vielversprechende Auswertungen bestätigen, dass auch im Jiddischen morphosyntaktische Arealbildung festgestellt werden kann: So bildet etwa die Auxiliarselektion beim Perfekt von „existence of state (positional)-Verben“ – genauso wie im Deutschen – Areale aus, oder im Falle des wh-Exklamativsatzes (als V1-, V2- oder V3-Satz) lässt sich das bereits bekannte areale West/Ost-Gefälle an einer großen Datenmenge bestätigen. Alle Beiträge wurden einem externen Begutachtungsverfahren durch Fachkolleg*innen unterzogen. Ihnen sei für ihre Mühe und wertvollen Hinweise ausdrücklich gedankt. Ebenso möchten wir uns bei den Herausgebern der „Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik“ bedanken, die den Band in ihre Beihefte-Reihe aufgenommen haben, und beim Franz Steiner Verlag für die professionelle Betreuung. Helen Christen / Brigitte Ganswindt / Joachim Herrgen / Jürgen Erich Schmidt Freiburg i. Ü. / Marburg im Juni 2020
NEUE WEGE DER REGIOLEKTFORSCHUNG Michael Elmentaler 1 EINLEITUNG: DIE DIALEKTFIXIERUNG DER REGIOLEKTFORSCHUNG Der Titel des sechsten IGDD-Kongresses „Regiolekt – der neue Dialekt?“ spiegelt die erstaunliche Entwicklung wider, die die Dialektologie des Deutschen in den letzten vier Jahrzehnten durchlaufen hat. Durch die Öffnung hin zum gesamten Spektrum des areal gebundenen Sprechens hat sich auch die Erforschung der Regiolekte – inklusive der landschaftlichen Ausprägungen des Standarddeutschen – als neues Arbeitsgebiet fest etabliert. Seit 1980 sind mehr als 90 Monografien und Sammelbände zu den regiolektalen Varietäten im deutschsprachigen Raum veröffentlicht worden. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Zahl der einschlägigen Publikationen sogar mehr als verdoppelt (vgl. Abb. 1; zu den jüngeren Veröffentlichungen gehören z. B. BOHNERT-KRAUS 2019; HERRGEN / SCHMIDT 2019; KALLENBORN 2019; KIESEWALTER 2019; VORBERGER 2019; DENKLER / HARTMANN / MENGE 2018; EHLERS 2018; HETTLER 2018; LAMMERT 2018; OBERHOLZER 2018; PURSCHKE / GANSWINDT 2018). Hinzu kommen zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften oder Tagungsbänden.
Abb. 1: Anzahl der Monografien und Sammelbände zu Regiolekten des Deutschen 1980 bis 2019
Neben den städtischen Zentren Berlin (SCHÖNFELD 2001; SCHILDT / SCHMIDT 1992; SCHLOBINSKI 1987), Köln (KÖSTERS-GENSINI 2002; FROITZHEIM 1984), Frankfurt (BRINKMANN TO BROXTEN 1986), Hamburg (BIEBERSTEDT / RUGE / SCHRÖDER 2016) oder dem Ruhrgebiet (SCHIERING 2002; SALEWSKI 1998; SCHOLTEN 1988; MIHM 1985) wurden von Anfang an auch kleinere Gemeinden in den Blick genommen, beginnend mit dem Erp-Projekt in den späten 1960er Jah-
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Michael Elmentaler
ren (KREYMANN 1994; LAUSBERG 1993; BESCH 1981) bis hin zu den jüngeren Untersuchungen im Kontext der Projekte „Regionalsprache.de (REDE)“ (GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI 2015) und „Sprachvariation in Norddeutschland (SiN)“ (ELMENTALER et al. 2015). Ging es anfänglich noch darum, die Existenz einer stabilen sprachlichen Zwischenlage zwischen Basisdialekt und Standardnorm überhaupt nachzuweisen und das vertikale Sprachlagenspektrum als eigenen Forschungsgegenstand zu definieren, so rückte zunehmend die Frage nach der Entwicklungsdynamik dieser Varietäten in den Vordergrund. Wohin bewegen sich die Regiolekte des Deutschen? Dieser Frage wurde in einer Reihe von Studien anhand von Apparent-Time-Analysen nachgegangen, also durch den Vergleich von Angehörigen verschiedener Generationen (vgl. JÜNGER-GEIER 1989; LENZ 2003; KEHREIN 2012; VORBERGER 2019). Hierbei konnte in einigen wenigen Bereichen die progressive Entwicklung neuer Regiolektvarianten beschrieben werden, die es im traditionellen Dialekt noch nicht gegeben hatte, wie etwa die Entstehung und Ausbreitung der Koronalisierung (sprechen > spreschen) im Rheinland (HERRGEN 1986), die Realisierung von r vor Dental als velarer Frikativ (Sport > Spocht) (MÖLLER 2013: 97–98, 299–302), die in verschiedenen Regiolekten beobachtbare Realisierung von Nebensilben mit Vollvokal statt Schwa (KEHREIN 2012: 139–141, 248, 271–272, 297, 311) oder die Tendenzen einer Fortisierung von b, d, g im Anlaut im Mitteldeutschen (VORBERGER 2019: 136– 138, 365–369). Die meisten Ergebnisse laufen jedoch auf die Feststellung von Abbauprozessen hinaus: Die Älteren verwenden regionale Sprachmerkmale häufiger als die Jüngeren, und sie gebrauchen noch manche Sprachmerkmale, die bei den Jüngeren gar nicht mehr nachweisbar sind. Dass dies tatsächlich auf einen sprachlichen Wandel verweist, wurde durch Real-Time-Analysen bestätigt, in denen sich zeigte, dass die Regiolekte vor sechs oder sieben Jahrzehnten noch deutlich merkmalsreicher waren als die heutigen (vgl. KREYMANN 1994; LAMELI 2004; SPIEKERMANN 2008). Und zu ähnlichen Ergebnissen gelangten auch Studien, in denen noch ältere Regiolekte aus schriftlichen Quellen rekonstruiert und mit dem heutigen Sprachstand abgeglichen wurden. So untersuchte ELSPASS (2005) Auswandererbriefe des 19. Jahrhunderts, WILCKEN (2015) analysierte literarische Texte des 19. und 20. Jahrhunderts auf das Vorkommen regiolektaler Merkmale, und neuerdings hat GANSWINDT (2017) den Versuch unternommen, die regionalen Ausprägungen des gesprochenen Hochdeutsch anhand phonetischer Beschreibungen von WILHELM VIËTOR zu rekonstruieren. Alle diese Arbeiten konnten zeigen, dass die Regiolekte in den letzten 150 Jahren eine Reihe von Merkmalen verloren haben (vgl. Tab. 1 mit Beispielen aus dem norddeutschen Raum). Lautmerkmal Okklusion des j g-Spirantisierung im Anlaut als [sk] oder [sx] Zentralisierung des langen a Monophthongierung von ei Frikativ s statt Affrikate [ts] Velarisierung des langen a
Beispiel getz ‘jetzt’, geder ‘jeder’ chestern ‘gestern’ wisken/wis-chen ‘wischen’ Jäöre ‘Jahre’ [ˈjəːʁə] maane Zaat ‘meine Zeit’ Ssunge ‘Zunge’, Sseit ‘Zeit’ getoon ‘getan’ [gəˈtɔːn]
Region Ruhrgebiet Westfalen Westfalen Ostfalen Ostfalen Schleswig-Holstein u. a. Schleswig-Holstein u. a.
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Neue Wege der Regiolektforschung Entrundung von ü und ö g-Spirantisierung vor Konsonanten [s] vor p, t [s] vor l, m, n, w Apikales [r] statt [ʁ] Assimilation von ld
miede ‘müde’, beese ‘böse’ Jlück ‘Glück’
Berlin-Brandenburg Berlin-Brandenburg
S-piel, s-taunen slecht, smeißen, sneiden Rot [roːt] Schiller ‘Schilder’
Norddeutschland Norddeutschland Norddeutschland Westfalen
Tab. 1: „Verklungene“ Lautmerkmale aus norddeutschen Regiolekten (Auswahl)
Im Zentrum des Interesses standen bisher überwiegend Varianten aus dem phonetisch-phonologischen Bereich, die sich als Substrat der traditionellen Dialekte erklären lassen. Alle diese Aussprachevarianten galten einst als zentrale Kennmerkmale der jeweiligen Regiolekte, werden heute aber nur noch sehr selten gebraucht, meist nur noch von älteren SprecherInnen. Sie gelten als veraltet und sind größtenteils bereits „verklungen“. Regiolektaler Wandel wurde in der Forschung meist als Rückgang solcher Merkmale beschrieben, als Prozess einer Entregionalisierung. Mit dieser Ausrichtung steht die Regiolektforschung noch ganz in der Tradition der klassischen Dialektologie, denn der Fokus liegt auf genuinen Dialektmerkmalen, die beim Übergang zum Gebrauch des Hochdeutschen als Substratmerkmale in die Regiolekte eingingen. Die Regiolektforschung untersucht, wie frequent und in welchen Lexemen, Lautumgebungen und morphologischen Kontexten, in welchen Situationen oder von welchen Sprechergruppen diese Varianten noch verwendet werden. Bei dieser Vorgehensweise wird der Regiolekt beschrieben, indem die Merkmale untersucht werden, die sein dialektales Erbe darstellen. Eine solche Fokussierung auf traditionelle Dialektmerkmale ist auch bei der Erforschung der regiolektalen Syntax erkennbar, soweit hierzu überhaupt schon Arbeiten vorliegen. Untersucht wird vorzugsweise, inwieweit in den rezenten Regiolekten noch dialektale Muster im Satzbau, in der Wortstellung oder der inneren Struktur von Phrasen vorkommen. Einige solcher Phänomene wurden bereits im „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ von EICHHOFF (1977–2000) abgefragt, etwa der Auxiliarverbgebrauch (ich bin/habe gesessen), der Artikel vor Personennamen (die Ruth) oder Possessivkonstruktionen (Ruth ihr Kleid). Im „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ von ELSPASS / MÖLLER (2003 ff.) wurde der Gebrauch dieser Konstruktionen neu erhoben und kartiert, ergänzt durch einige zusätzliche Phänomene, z. B. Verlaufsformen (am Überlegen sein), Konjunktiv II mit tun (täte ich probieren), der Artikel bei Massennomen (ein Geld), der AcI mit haben (sie hat dort einen Schrank zu stehen) oder die Verdopplungskonstruktion (ein ganz ein lieber Mensch). Auf Grundlage solcher Fragebogenerhebungen lassen sich areale Verteilungen nachweisen. Da es sich aber um indirekte Sprachdaten handelt, ist nicht klar, wie stark die Varianten noch im Gebrauch sind, in welchen Situationen und bei welchen Sprechergruppen. Untersuchungen, die sich auf Sprachaufnahmen beziehen, sind rar und basieren momentan noch auf kleineren Stichproben. Mit regiolektaler Syntax beschäftigen sich z. B. die Studien zum Berlinischen von FREYWALD (2017) und zum
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Michael Elmentaler
Ruhrdeutschen von PITTNER (2018), zu drei niedersächsischen Ortsvarietäten von BERG (2012; 2013: 327–330) und zum Regiolekt südlich von Hamburg von SCHRÖDER (2012, i. Vorb.). Experimentelle Methoden hat KALLENBORN (2019) in seiner Arbeit zur Regiolektsyntax des Moselfränkischen erprobt. Aus einer kontaktlinguistischen Perspektive befasst sich das Projekt „Grammatische Arealität in Nordeuropa und Norddeutschland“ (GrammArNord) von STEFFEN HÖDER mit grenzüberschreitend verbreiteten Konstruktionen in einigen nordeuropäischen Varietäten, die auf deren jahrhundertelangen Kontakt zurückgehen (HÖDER 2011; 2016). Alle genannten Untersuchungen haben gemeinsam, dass sie sich vorwiegend auf traditionelle, aus den Dialekten bekannte Sprachmuster konzentrieren, die mit überregional-standardsprachlichen Mustern konkurrieren. Dementsprechend lautet z. B. das Fazit bei FREYWALD (2017: 202–203): 1) Die niederdeutschen Ursprünge des Berlinischen sind auch heute nach wie vor unverkennbar [...]. 2) Allerdings [...] existieren diese niederdeutschen syntaktischen Reflexe neben einer weit größeren Zahl an hochdeutschen, meist standardnahen Strukturmustern. […] Es ist dies eine Situation, die aus der Geschichte des Berlinischen mit jahrhundertelangem Sprachkontakt zwischen nieder- und hochdeutschen Varietäten und einer schließlich dauerhaften Überschichtung des Niederdeutschen durch das Hochdeutsche herrührt. […] Daraus ist schließlich drittens die Frage abzuleiten […], ob es sich bei diesem charakteristischen Nebeneinander im Berlinischen um sozial determinierte Variation handelt oder ob wir es mit einem eigenständigen System zu tun haben, das durch Umstrukturierungen entstanden ist und sich weiterentwickelt. Die Annäherung an standardnahe Prestige- und Ausgleichsvarietäten und das damit verbundene Verschwinden von Dialektmerkmalen sind Prozesse, die in der Geschichte des Berlinischen seit langem immer wieder, mal mehr, mal weniger intensiv stattgefunden haben und damit ein Wesensmerkmal des Berliner Dialekts darstellen. (Hervorhebung M. E.)
Dieses Resümee kann nicht überraschen, denn bei einer ausschließlichen Fokussierung auf traditionelle Dialektmerkmale wird man zwangsläufig zu dem Ergebnis kommen, dass dialektale Substanz verloren geht. Da die Sprachmerkmale in den dialektalen Bezugssystemen, die den Sprachstand des frühen 20. Jahrhunderts reflektieren, üblicherweise als obligatorische Merkmale angesetzt werden, können sie nicht an Häufigkeit zunehmen. Diese Merkmale bleiben im Regiolekt also günstigstenfalls bewahrt, oft aber sind sie rückläufig. Das gilt in hohem Maße für die norddeutschen Regiolekte, in denen viele grammatische Merkmale, die direkt oder indirekt aus dem Niederdeutschen stammen, stark zurückgegangen sind (vgl. SCHRÖDER 2012; ELMENTALER / BORCHERT 2012). So weist die Sprechsprache jüngerer Norddeutscher nur noch selten unflektierte Attribute (mein Mutter), tunPeriphrasen (Sie tut Fernsehen kucken), Doppelnegationen (Da werde ich nie nicht hingehen), Possessivkonstruktionen (mit Jens sein[em] Fahrrad, der ihr Vater), komplexere Progressivformen (Er ist gerade das Auto am reparieren), standardabweichenden Dativ- und Akkusativgebrauch (Kannst du mich das mal geben? Lass mir bloß in Ruhe!) sowie spezifische Prädikativformen (Das ist einen ganz schlauen Kopf) und Reflexivformen (Ich ess mir mal einen Salat) auf. In mittel- und süddeutschen Regiolekten oder Regionalstandards sind solche Formen dialektaler Provenienz insgesamt zwar noch stärker im Gebrauch, doch auch hier sind Abbauprozesse unübersehbar. So wurde z. B. in verschiedenen Regiolekten ein intergenerationeller Rückgang des am-Progressivs festgestellt, nicht nur im
Neue Wege der Regiolektforschung
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norddeutschen Westfalen (LANGHANKE 2012: 240–241), sondern auch in der moselfränkischen Alltagssprache (KALLENBORN 2019: 139 und 144). Der damit beschriebene Prozess einer zunehmenden Entregionalisierung bildet also e i n e n Aspekt der Regiolektdynamik durchaus zutreffend ab, und es wird auch weiterhin wichtig sein, diese Prozesse aufzuarbeiten, zumal die Regiolekte einiger Großstädte und Regionen bislang noch gar nicht erforscht worden sind. Aber die Regiolektforschung sollte sich nicht auf diese Perspektive beschränken – denn das wäre etwa so, als würde man bei der Beschreibung eines modernen Wohnhauses nur auf die Seltenheit von Erkern, Fassadenornamenten und Stuckdecken eingehen, ohne die neuen Formen des Bauens eines Blickes zu würdigen. Dass der Regiolektwandel bisher primär als Geschichte eines Verlusts traditioneller Formen und Muster erzählt wurde, kann nicht überraschen, denn für eine noch junge Disziplin wie die Regiolektforschung war es durchaus naheliegend, sich zunächst auf die Kategorien der Wissenschaft zu beziehen, aus der sie hervorgegangen ist, also der Dialektologie. Die Fokussierung auf den Rückgang dialektaler Strukturen hat jedoch den Nachteil, dass sie den Blick verstellt für mögliche Weiterentwicklungen der Regiolekte. Der Eindruck, dass durch die Dialektfixierung der Regiolektforschung etwas Wesentliches ausgelassen wird, wird ansatzweise auch in dem zitierten Aufsatz von FREYWALD (2017) artikuliert, dessen letzter Satz wie folgt lautet: Die gegenwärtig spannende Frage ist, ob dies [der Abbau traditionell-dialektaler Merkmale, M. E.] tatsächlich zum Verschwinden dieser Varietät führt oder ob sich das Berlinische einfach weiterentwickelt, indem es vielleicht manche Merkmale verliert, andere aber womöglich festigt, ausbaut oder umstrukturiert und wieder andere neu hinzugewinnt. (FREYWALD 2017: 203; Hervorhebungen M. E.)
Diese Frage aufgreifend, möchte ich dafür plädieren, neben der Beschäftigung mit dem dialektalen Erbe vermehrt auch Phänomene in den Blick zu nehmen, die sich in den modernen Regiolekten neu herausbilden. Eine solche Perspektive mag aus einer norddeutschen Perspektive besonders relevant erscheinen, da die grammatischen Besonderheiten des Niederdeutschen in den norddeutschen Regiolekten kaum noch eine Rolle spielen. Aber auch in den übrigen Regionen Deutschlands stellt sich mit zunehmendem Dialektabbau die Frage, welche Formen des regionalen Sprechens sich eigentlich jenseits der Basisdialekte herausbilden. 2 ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM „AUFBAUMODELL“ DER REGIOLEKTKONSTITUTION Das Aufspüren regiolektaler Neuerungen stellt die Regionalsprachforschung vor große Herausforderungen. Das liegt zum einen daran, dass wir uns der aktuellen Veränderungen im eigenen Sprechen oftmals nicht bewusst sind. Zum anderen hängt es aber auch damit zusammen, dass die gängigen Modellierungen Regionalität und Dialektalität unmittelbar miteinander identifizieren. Das wird z. B. deut-
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lich, wenn man die vor ein paar Jahren geführte Diskussion um das Verhältnis von Dialektsyntax und Syntax gesprochener Sprache Revue passieren lässt. Ausgehend von der Beobachtung, dass man gesprochene Sprache nicht mit dialektaler Sprache gleichsetzen dürfe, unterschied z. B. AUER (2004) drei Typen syntaktischer Merkmale: – Typ A: Generelle syntaktische Merkmale gesprochener Sprache – Typ B: Geographisch beschränkte syntaktische Merkmale – Typ C: Nicht-dialektale Nonstandardmerkmale Die „generellen syntaktischen Merkmale“ gesprochener Sprache definiert AUER (2004: 72) als strukturelle Konsequenzen der Mündlichkeit („structural consequences of orality“). Dazu gehören z. B. Prolepsen (Mein Bruder Karl, der hat ...) und Anakoluthe (Karl hat ... der ist immer so einfallsreich), die in allen Regionen in ähnlicher Form vorkommen. Zum Typ B gehören nach AUER (2004: 72, 75–79) syntaktische Merkmale, die nur in bestimmten Dialekten des Deutschen auftreten, wie der Gebrauch von wo als Relativpronomen (di kindhait, woo mer bewussd miderlebt hed ... ‘die Kindheit, die man bewusst miterlebt hat’), die Setzung des definiten Artikels vor Rufnamen (der Karl, die Inge), die Artikelverdopplung in Nominalphrasen (e psunders e liebi Frau ‘eine besonders liebe Frau’) und der Gebrauch des Indefinitartikels bei Massennomina (Heute kommt noch ein Schnee). Dem Typ C werden Merkmale zugerechnet, die in allen Dialekten des Deutschen auftreten, aber nicht im gesprochenen Standarddeutsch (vgl. AUER 2004: 72–74). Beispiele wären die tun-Periphrase, die in niederdeutschen Dialekten ebenso vorkommt wie in hochdeutschen (Wenn Lüüd na Huus gahn doot ‘Wenn Leute nach Hause gehen tun’, D Muadda duad koocha ‘Die Mutter tut kochen’), oder die doppelte Negation (He is keen Buur nich ‘Er ist kein Bauer nicht’, Mia hɔd nia neamdd ghoiffa ‘Mir hat nie niemand geholfen’). Dieser Typologie liegt die Vorstellung zugrunde, dass es zwei Formen der gesprochenen Sprache gebe, nämlich einerseits eine überregional gesprochene Standardsprache, in der nur Merkmale des Typs A vorkommen, andererseits die gesprochenen Dialekte, die teils geografisch beschränkte Merkmale aufweisen (Typ B) und teils überregional verbreitete (Typ C). Die Bezeichnung der Merkmale des Typs C als „nicht-dialektal“ wurde bereits mehrfach als inadäquat kritisiert, da es sich hierbei ja ebenfalls um Formen handelt, die in den Dialekten (und nicht in der Standardsprache) vorkommen (vgl. SCHEUTZ 2005: 308; FLEISCHER 2010: 93; WEISS 2017: 16–17). Mir geht es hier aber um einen anderen Punkt: Die Regiolekte kommen in diesem Modell gar nicht als eigenständige Varietäten mit eigenen Merkmalen vor. Denn die Sprachmerkmale des Typs C werden zwar als „nicht-dialektale“ Nonstandardmerkmale bezeichnet, gemeint sind aber – wie die Beispiele zeigen – auch hier Merkmale der traditionellen Dialekte, nur eben solche, die mutmaßlich in a l l e n deutschen Dialekten vorkommen. Dass Merkmale nicht auf die alten Basisdialekte zurückgehen und trotzdem eine regionale Beschränkung aufweisen können, ist in dem Modell nicht vorgesehen.
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Die Ausblendung arealer Strukturen jenseits des dialektalen Erbes findet ihre Entsprechung in den Modellierungen der Interaktionalen Grammatikforschung, die sich mit kommunikativ relevanten Sprachmustern beschäftigt, die als Konstruktionen, Formeln oder Kollokationen bezeichnet werden. Diese Forschungsrichtung – in Deutschland z. B. von SUSANNE GÜNTHNER oder WOLFGANG IMO vertreten (vgl. GÜNTHNER / IMO 2006; GÜNTHNER 2007; GÜNTHNER / BÜCKER 2009; IMO 2013; GÜNTHNER / IMO / BÜCKER 2014) – ist zwar gebrauchsbasiert und bezieht sich auf gesprochenes Deutsch, doch spielt die areale Verteilung der untersuchten Konstruktionen bisher kaum eine Rolle. Diese Feststellung ist nicht neu. Bereits 2007 wies PÉTER KAPPEL in seinen „Überlegungen zur diatopischen Variation in der gesprochenen Sprache“ darauf hin: In der Gesprochene-Sprache-Forschung [...] wird [...] die gesprochene Sprache i. d. R. ausschließlich mit der gesprochenen deutschen Standardsprache gleichgesetzt, d. h. ihre Definition ist bezüglich der diatopischen Varianz viel enger als die der Dialektologie: Sie umfasst nämlich nur den einen Pol des obigen Kontinuums [zwischen Basisdialekten und Standardsprache; M. E.]. (KAPPEL 2007: 216)
Das ist insofern bemerkenswert, als dieser Forschungsansatz programmatisch davon ausgeht, „dass Grammatik, grammatische Regelhaftigkeit und grammatische Muster im Sprachgebrauch konstruiert, verfestigt und auch wieder modifiziert werden, d. h. dass sich das sprachliche System aus der Performanz entwickelt“ (GÜNTHNER 2007: 2–3). „Performanz“ oder alltäglicher Sprachgebrauch ist aber im Allgemeinen als Kommunikation in lokalen bzw. regionalen Gemeinschaften zu verstehen. Denn auch wenn die Dialekte in manchen Regionen kaum noch zur Erfahrungswelt der Menschen gehören, ist doch das Sprechen nach wie vor regional geprägt. Regionalität ist der Normalfall, da Spracherwerb und sprachlicher Austausch in überschaubaren Kommunikationsgemeinschaften erfolgen. Durch Prozesse der Mikrosynchronisation in lokalen oder regionalen Sprechergruppen bilden sich neue sprachliche Muster heraus, die aus dialektologischer Sicht als regiolektale Merkmale von Interesse sein sollten. Entstehung von Grammatik im Gebrauch bedeutet somit im Regelfall: Entstehung regionaler Grammatiken. Diesem „Raum-Apriori“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 58) wird in der Interaktionalen Grammatikforschung aber kaum Rechnung getragen. Es ist also, pointiert formuliert, eine zweifache Leerstelle zu konstatieren: Die Regiolektforschung ist darauf ausgerichtet, den schleichenden Abbau basisdialektaler Strukturen zu untersuchen, und hat das innovative Potenzial der Regiolekte kaum im Blick; die Interaktionale Grammatikforschung dagegen befasst sich zwar mit der Herausbildung jüngerer Sprachmuster, interessiert sich aber wenig für deren areale Bindung und Reichweite. Von einer integrativen Betrachtung könnten beide Seiten profitieren, wie auch LANWER (2019: 821) kürzlich feststellte: Es liegt aber durchaus auf der Hand, dass einerseits die gesprächslinguistische Grammatikforschung bspw. im Rahmen der Interaktionalen Linguistik […] oder der Interaktionalen Konstruktionsgrammatik […] von einer arealkontrastiven Perspektive profitieren könnte […]. Andererseits könnten sich aber auch Studien bspw. im Bereich der Dialektsyntax […] sowohl in der Konzeptualisierung des Gegenstandes als auch mit Blick auf die applizierten Analysemethoden von gesprächslinguistischen Arbeiten inspirieren lassen.
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Für die Regionalsprachforschung könnte sich hierbei ein Ansatzpunkt zu einer methodischen Erweiterung ergeben. Durch die Einbeziehung von Phänomenen im Bereich der „Konstruktionen“ ließe sich dem Abbaumodell der Entregionalisierung ein Aufbaumodell der Regiolektkonstitution zur Seite stellen. Anstatt nur danach zu fragen, in welcher Reihenfolge dialektale Substratmerkmale in den Regiolekten aufgegeben werden, könnte man nun die Frage stellen: Wie entwickeln sich neue Regiolektmerkmale in der Alltagskommunikation? 3 MÖGLICHE FORSCHUNGSBEREICHE EINER NEU AUSGERICHTETEN REGIOLEKTFORSCHUNG Werfen wir nun einen Blick auf die Behandlung von Einheiten oder Strukturen oberhalb der Wortebene in der bisherigen Regiolektforschung. Im ersten Abschnitt wurden bereits einige Arbeiten angeführt, die sich mit dem dialektalen Erbe im syntaktischen Bereich beschäftigen. Sie haben für verschiedene Regiolekte einen Rückgang traditioneller Formen mit dialektaler Provenienz festgestellt. Darauf muss im vorliegenden Kontext nicht weiter eingegangen werden. Darüber hinaus lassen sich allerdings auch Ansätze jenseits des „dialektalen Erbes“ ausmachen, die als Arbeitsbereiche für eine neu ausgerichtete Regiolektforschung in Frage kommen. 3.1 Regiolektale Reduktions- und Enkliseformen An der Schnittstelle zwischen Syntax, Morphologie und Phonetik liegen Phänomene, die nach dem Modell von AUER (2004) wohl als „strukturelle Konsequenzen der Mündlichkeit“ eingestuft würden, wie z. B. Reduktions- und Enkliseformen. Ihre Entstehung lässt sich in der Tat plausibel auf die besonderen Bedingungen des Sprechens zurückführen, so dass es von ihrer Genese her nicht unpassend erscheint, sie als „allegrosprachliche“ Phänomene zu bezeichnen. Allerdings ist es nicht gerechtfertigt, sie deshalb aus der Gruppe der regionalen Sprachmerkmale auszuklammern, wie dies z. B. bei SPIEKERMANN (2008: 77) oder FROITZHEIM (1984) geschieht. Denn bereits auf Wortebene ist diese Trennung fragwürdig. Dies sei kurz anhand von zwei Phänomenen in Erinnerung gerufen, den Reduktionsformen des indefiniten Artikels und der t-Apokope bei der Verbform braucht (3. Ps. Sg. Präs.). Die sprechsprachlichen Realisierungen der standarddeutschen Artikelform ein sind zwar zweifellos Reduktionsformen, die sich sprachökonomisch begründen lassen. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um regionale Merkmale, denn die Varianten ne, a und e (ne Katze, a Katz, e Katz) weisen eine klare areale Distribution auf (vgl. Karte 1).1 1
Für die Erstellung der Schwarzweiß-Versionen der AdA-Karten aus Karte 1 und Karte 5 und für die Abdruckgenehmigungen danke ich Prof. Dr. STEPHAN ELSPASS (Salzburg) und Prof. Dr. ROBERT MÖLLER (Liège).
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Karte 1: Karte zur arealen Distribution der Varianten für ein in der gesprochenen Alltagssprache (Schwarzweiß-Umzeichnung der Karte aus ELSPASS / MÖLLER 2003 ff.: Runde 5, Frage 18a, Erhebungsjahr 2007/2008)
Das Gleiche gilt für die t-Tilgung in braucht (sie brauch) (vgl. Karte 2).2 Die tApokope lässt sich zwar allgemein als allegrosprachliches Phänomen erklären, oder wahlweise auch als Analogiebildung zu den t-losen Formen der anderen Modalverben. Zugleich zeigt sich aber auch hier ein areales Verteilungsmuster. Die apokopierte Form ist also kein überregionales Merkmal des gesprochenen Deutsch, sondern gehört zum Inventar der nord- und mitteldeutschen Regiolekte.
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Für die Genehmigung zum Abdruck dieser Karte danke ich Dr. STEFAN KLEINER vom Leibniz-Institut für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim.
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Karte 2: Karte zur arealen Distribution der Varianten für braucht (3. Ps. Sg. Präs.) im deutschen Gebrauchsstandard (aus KLEINER 2011 ff.)
Areale Muster haben sich auch für Kontraktionen mit Verb-Pronomen-Enklise nachweisen lassen, wie bei hast du, bist du, konntest du usw. (vgl. Karte 3).3
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Die überregional verbreiteten orangenen Symbole kennzeichnen die Form mit Ausfall des Pronomens (Prodrop), z. B. Has mir n Kaffee mitgebracht? Bis schon drin gewesen?
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Karte 3: Karte zur arealen Distribution der Kontraktionsformen für Verb und Pronomen du in den norddeutschen Regiolekten (basierend auf der Karte in ELMENTALER / ROSENBERG 2015: 379; Kartografie: U. Schwedler, Entwurf: M. Elmentaler)
Hier zeigt sich bereits in den norddeutschen Regiolekten eine relativ klare Differenz zwischen westlichen Formen ohne Dental (hasse, grüne Kreissymbole) und östlichen mit Erhalt des Dentals (haste, rote Kreissymbole). Hinzu kommt eine weniger frequente Variante mit Dentalverlust, aber Erhalt des Vollvokals (hassu, blaue Kreissymbole), die für den äußersten Norden typisch ist. Bei einer Ausdehnung auf den süddeutschen Raum würden sich weitere Varianten ergeben, etwa Formen mit vollständigem Pronomenschwund (host). Hier handelt es sich um verfestigte Allegroformen, die längst zum Bestand der jeweiligen Regiolekte gehören. Ähnliches gilt für die Kurzformen von habe ich (habbich vs. haack vs. hobbi) oder haben wir (hamwer vs. hammer). Sofern diese Formen nicht unmittelbar aus den Basisdialekten ableitbar sind (im nordniederdeutschen Dialekt wäre statt habbich und hamwer z. B. hebbik oder hebwi anzusetzen), sind sie als regiolektale Eigenentwicklungen anzusehen und bilden einen lohnenden Gegenstand für die Regiolektforschung. In manchen Fällen ist allerdings nicht das bloße Vorhandensein von Enkliseformen als regiolektal einzustufen, sondern deren Gebrauchsweise. Als Beispiel kann hier die Kontraktionsform so’ne (so eine) genannt werden, die als Singularvariante im ganzen norddeutschen Raum verbreitet ist (so’ne Tasche, so’ne Sache). Regional beschränkt ist dagegen ihr Gebrauch im pluralischen Kontext, wie in Das sind so’ne Kurse, ... so’ne Scherze, ... so’ne Dinger. Diese Verwendung ist nach den Ergebnissen des SiN-Projekts nur im Norden und Nordosten Deutschlands (nördliches Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpom-
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mern, Brandenburg) üblich, während die nordwestlichen Regiolekte in NordrheinWestfalen und im südlichen Niedersachsen hier entweder die standarddeutsche Form solche oder die regiolektale Form so (so Kurse, so Scherze) aufweisen (vgl. Karte 44 sowie auch KLEINER / KNÖBL 2011: 8; KNÖBL 2014: 179–181). Neben formalen Regiolektdifferenzen müssen also auch funktionale Unterschiede im Gebrauch bestimmter Formen in den Blick genommen werden.
Karte 4: Karte zur arealen Distribution der Varianten für standarddeutsch solche in den norddeutschen Regiolekten (basierend auf der Karte in ELMENTALER / ROSENBERG 2015: 391; Kartografie: U. Schwedler, Entwurf: M. Elmentaler)
3.2 Regiolektale Phraseologismen Auch in der Phraseologie ist mit regiolektalen Formen zu rechnen, die sich in Art und Reichweite von denen der traditionellen Dialekte unterscheiden. Die Beschäftigung mit regiolektalen Phraseologismen erfolgte allerdings bislang weniger durch Linguisten5 als vielmehr durch die Verfasser von populären Regiolektwörterbüchern, die sich an ein breites Publikum richten. Diese Publikationen sind in der Regel nicht wissenschaftlich fundiert, da sie nicht auf empirischen Erhebungen oder Korpusanalysen basieren, nicht klar zwischen dialektalen und 4 5
Die Kreissymbole markieren die Variantenanteile in den Tischgesprächen, die Quadratsymbole beziehen sich auf die formellere Interviewsituation. Vgl. allerdings jetzt den instruktiven Beitrag von ELSPASS (2019).
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regiolektalen Sprachlagen unterscheiden und oft eine archaisierende Tendenz aufweisen. Im Gegensatz zu den klassischen Dialektwörterbüchern haben sie auch keinen einheitlichen und wissenschaftlich begründeten Artikelaufbau und Lemmaansatz, so dass es sich eher um (oftmals subjektiv gefärbte) lexikalische Materialsammlungen handelt. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, die subjektiven Einschätzungen der Regiolekte, die in diesen Wortsammlungen zum Ausdruck kommen, und die damit verbundenen kulturellen Stereotype einmal systematisch für die verschiedenen Regionen des deutschen Sprachraums auszuwerten. Im vorliegenden Kontext soll jedoch die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, dass diese Sammlungen neben dem Lexembestand, der der jeweiligen Region zugeschrieben wird, oft auch zahlreiche Phraseologismen aufführen. Um das Vorkommen von Phraseologismen in diesen Sammlungen zu überprüfen, habe ich exemplarisch für den Regiolekt des Ruhrgebiets („Ruhrdeutsch“) 17 populäre Wortsammlungen zum Ruhrdeutschen ausgewertet (FETZER 1992; NEUHAUS 1992; RINK / RIEMANN 1992; KÜTHER 1995; NOLDEN-THOMMEN 1995; JANSEN 2004; FELLSCHES / SCHNIEBER 2005; FELLSCHES 2008; MEYER 2008; FELLSCHES / KÜSTER 2009; SPRICK 2009; FELLSCHES / GRONEMANN 2010; KANIES 2010; LANG 2011; KNUST 2014; BENDER 2015; GÖBEL 2017). Aus diesen Bänden wurden alle Einträge extrahiert, die als Phraseologismen gelten können. Ausgesondert wurden Redewendungen, die als allgemein verbreitet gelten können und nur in ihrer Lautgestalt spezifische Züge des Ruhrdeutschen aufweisen (wie etwa Wat sein muss, muss sein). Die Zusammenstellung ergab eine Liste mit 811 Einträgen. Davon wurden die meisten (534) nur jeweils in einer einzigen Wortsammlung genannt, 259 weitere in 2 bis 5 der Bücher (vgl. Tab. 2). Nennung in … Wortsammlungen in 1
in 2
in 3
in 4
in 5
in 6
in 7
in 8
in 9
in 10
534
150
63
27
19
8
4
2
3
1
Tab. 2: Auftretenshäufigkeit von Phraseologismen in Wortsammlungen zum ruhrdeutschen Regiolekt
Die 18 häufigsten Redewendungen wurden in 6 bis 10 Wortsammlungen angeführt (vgl. Tab. 3). Phraseologismus - wissen was Ambach ist - einen Bohai/Bohei um etwas machen - im Brass sein / einen Brass haben - Rabotti machen - dann is Hängen im Schacht - mein lieber Scholli! - dat arme Dier kriegen - rubbel die Katz - Bin ich denn der Leo?
Bedeutung ‘wissen, wie sich etwas verhält’ ‘viel Aufhebens von etwas machen’ ‘wütend sein’ ‘arbeiten’ ‘dann haben wir ein Problem’ Ausruf des Erstaunens ‘deprimiert werden’ ‘schnell’ (adverbial) ‘ich bin nicht dein Handlanger’ (= ‘das ist eine Zumutung’)
26 - Leck mich doch inne Täsch! - fies für etwas sein - einen Brassel am Hals haben - flotter Heinrich/Otto/Hugo - Graf Koks vonne Gasanstalt - panne im Kopp sein - einen Lattenschuss haben - ein Rad abhaben - inne Uhr sein
Michael Elmentaler Ausruf des Erstaunens/Unglaubens ‘etwas eklig finden’ ‘mit etwas belastet sein, Ärger haben’ ‘Durchfall’ ‘angeberische, eingebildete Person’ ‘dumm sein’ ‘dumm sein’ ‘dumm sein’ ‘in einer misslichen Lage sein’
Tab. 3: Die 18 häufigsten Phraseologismen in Wortsammlungen zum ruhrdeutschen Regiolekt
Auch wenn diesen Sammlungen keine wissenschaftlichen Erhebungen zugrunde liegen, lässt sich die übereinstimmende Erwähnung in sechs oder mehr Ruhrdeutsch-Zusammenstellungen doch immerhin als Indiz für eine Verwurzelung in der Region und einen gewissen Bekanntheitsgrad interpretieren. Geht man einmal davon aus, dass viele Ruhrgebietsbewohner diese Redewendungen kennen (was sich im Rahmen von Fragebogenerhebungen gut empirisch überprüfen ließe), stellt sich die Frage, wie relevant solche Formen für die alltägliche Interaktion sind. Um das herauszubekommen, habe ich alle 18 Phraseologismen auf ihr Vorkommen in einschlägigen Korpora gesprochener Sprache bei Sprecherinnen und Sprechern aus dem Ruhrgebiet überprüft: (1) FOLK-Korpus der „Datenbank gesprochenes Deutsch“: Aufnahmen aus der „westfälischen Sprachregion“ (2008/09 und 2015/16, sieben Gewährspersonen; zur Korpusbeschreibung vgl. DGD 2), (2) Korpus mit selbst durchgeführten Aufnahmen aus dem westlichen Ruhrgebiet (2004/05, 15 erwachsene Gewährspersonen aus Duisburg, Oberhausen, Krefeld), (3) Korpus aus dem Duisburger Forschungsprojekt „Sprachgebrauch von Jugendlichen in Industriezentren“ unter Leitung von AREND MIHM (1983, fünf jugendliche Gewährspersonen aus Duisburg; Korpusbeschreibung, Analyse und transkribierte Gesprächsauszüge bei SCHOLTEN 1988), (4) Korpus aus dem Bergleute-Korpus von AREND MIHM, erhoben durch HANSGEORG WEIGT (1982–85, zwölf pensionierte Bergleute aus Duisburg und Dortmund; Korpusbeschreibung, Analyse und transkribierte Gesprächsauszüge bei SALEWSKI 1998), (5) Korpus „Deutsche Umgangssprachen“ (Pfeffer-Korpus) der „Datenbank gesprochenes Deutsch“ (vgl. DGD 2): Aufnahmen aus Bochum, Witten und Dortmund (1961, zehn Gewährspersonen; zur Korpusbeschreibung vgl. DGD 2). Das Ergebnis ist eindeutig: Von den 49 ausgewerteten Gewährspersonen aus dem Ruhrgebiet hat keine irgendeinen der Phraseologismen, die in den Regiolektwörterbüchern am häufigsten genannt werden, auch nur einmal verwendet. Dies gilt nicht nur für die jüngeren, zwischen 2004 bis 2016 durchgeführten Aufnah-
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men, sondern auch für diejenigen aus den 1980er und 1960er Jahren. Selbst die pensionierten Bergleute (Korpus 4) und die Gewährsleute aus den PfefferAufnahmen (Korpus 5), die teils noch im späten 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts geboren wurden, verwenden diese Formen nicht. Die hier erfassten Phraseologismen mögen also vielleicht von den Menschen in der Region als besonders typisch wahrgenommen werden. Sie kommen aber in der Alltagskommunikation offenbar kaum vor, und ein Teil ist vielleicht heute auch schon als veraltet einzustufen. Um für den aktuellen Sprachgebrauch relevantere Phraseologismen zu ermitteln, sind somit neue Korpusanalysen gesprochener Sprache erforderlich. Eine explorative Studie über Phraseologismen („Phraseme“) in der norddeutschen Alltagssprache wurde von ROBERT LANGHANKE (2017) anhand von informellen Sprachaufnahmen vom Niederrhein, aus Westfalen und aus dem Gebiet südlich der dänischen Grenze (Raum Schleswig) durchgeführt. Dabei fand er u. a. folgende Wendungen (Tab. 4): Phraseologismus - mit Reisetaschen können die sich bald totschmeißen (Westfalen) - da kannst du drauf gehen (Westfalen) - da fielen auf einmal die Klappen (Westfalen) - da kannst du nicht meckern (Westfalen) - da ging aber die Lucy ab (Westfalen) - die sind so eingefahren auf dieser Schiene (Westfalen) - das war die Härte (Westfalen) - da verkomm ich ein bisschen drin (Westfalen) - was die da alles losließ (Westfalen) - da hatten sie schon Palaver (Niederrhein) - blote Beens laufen (Schleswig) - das ist eine ganze Ecke von weg (Schleswig) - ich habe auch gedacht wunder wie schwer Reifen sein können (Schleswig) - sie lief ja rum wie ein Schluck Wasser in der Kurve (Schleswig) - jetzt muss ich lügen – was sagt er ... (Schleswig)
Bedeutung ‘sie haben sehr viele davon’ ‘dessen kannst du dir sicher sein’ ‘die Kommunikation wurde abgebrochen’ ‘das ist gut/ausreichend’ ‘es wurde ausgelassen gefeiert, war viel los’ ‘sie haben sich an etwas gewöhnt und sind nicht in der Lage oder willens, es zu ändern’ ‘das war unerhört’ ‘dabei verliere ich den Überblick’ ‘was sie dort lautstark erzählte’ ‘da bekamen sie schon Ärger’ ‘barfuß laufen’ ‘das ist ziemlich weit entfernt’ ‘die Reifen waren weniger schwer als erwartet’ ‘sie war kraftlos, apathisch’ ‘beim Folgenden bin ich mir nicht sicher …’
Tab. 4: Phraseologismen in informellen Sprachaufnahmen vom Niederrhein, aus Westfalen und dem Raum Schleswig (aus LANGHANKE 2017)
Alle diese Redewendungen sind Teil der rezenten Regiolekte. Inwieweit sie in ihrem Vorkommen auf die jeweiligen Regionen beschränkt sind oder ob sie überregional verbreitet sind, lässt sich beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht beurteilen. Hierfür wären vergleichende Korpusanalysen vorzunehmen, die auch mittel- und süddeutsche Sprachdaten mit einbeziehen.
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3.3 Regiolektale Interaktionsformeln Neben den Reduktionsphänomenen und den Phraseologismen können auch einige sprachliche Konstruktionen für die Regiolektforschung von Interesse sein, die im engeren Sinne in den Bereich der Diskursorganisation gehören und die von der Interaktionalen Grammatikforschung bislang nur unter formalen und funktionalen Aspekten, aber nicht hinsichtlich ihrer arealen Reichweite untersucht wurden. Ziel einer regiolektbezogenen Untersuchung von Interaktionsformeln wäre es, deren regionale Bindungen und areale Reichweiten genauer zu bestimmen. Für einige Konstruktionen aus diesem Bereich gibt es schon seit längerer Zeit Erkenntnisse über die regionale Verbreitung. Dazu zählen z. B. einige Gruß- oder Wunschformeln. Schon der „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ (EICHHOFF 1977–2000) enthält drei Karten, die die areale Verbreitung von Grüßen dokumentieren, nämlich zum Abschiedsgruß unter guten Freunden (z. B. tschüss, ade, adieu, servus, pfüeti, ciao), zu dem formelleren Abschiedsgruß (z. B. auf Wiedersehen, auf Wiederschauen, uf Widerluege) sowie zum Gruß beim Betreten eines Geschäfts am Nachmittag (z. B. moin, guten Tag, grüß Gott, grüezi). Sie basieren auf Daten aus den 1970er Jahren. Die Karte zum Nachmittagsgruß zeigt eine recht klare Verteilung der Varianten guten Tag im nord- und mitteldeutschen Raum, grüß Gott in Süddeutschland und Österreich und grüezi/grüeß ech in der Schweiz. Als Regionalvarianten erscheinen moin im Norden und Nordwesten und guten Nachmittag im Tiroler Raum. Etwa 30 Jahre später wurde der ‘Nachmittagsgruß’ noch einmal im „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (AdA) von ELSPASS / MÖLLER (2003 ff.) abgefragt. Im Vergleich zeigt sich eine deutliche Ausbreitung der neuen Variante hallo, die sich seither im nord- und mitteldeutschen Raum, aber teilweise auch bereits im Süden auf Kosten von guten Tag bzw. grüß Gott etablieren konnte. Dieser Trend bestätigt sich in einer Nachuntersuchung, die MERTENS (2012) im Rahmen einer Qualifikationsarbeit durchführte. Nach ihren Ergebnissen ist die Variante hallo zur Erhebungszeit 2011 schon etwas häufiger belegt als die Formel guten Tag, die nach Aussagen der BefragungsteilnehmerInnen zunehmend „als steif wahrgenommen“ werde (vgl. MERTENS 2012: 31–37). Die Rückmeldungen der Gewährspersonen sind auch insofern aufschlussreich, als sie die Wahrnehmung situationaler Bindungen der Varianten deutlich machen (hallo im Szene-Café, guten Tag in einem konservativeren Umfeld, vgl. MERTENS 2012: 36). Eine genauere Beschreibung der diachronen Veränderung in der regionalen Reichweite des Nachmittagsgrußes sowie auch bei den Abschiedsgrüßen bietet der Beitrag von ELSPASS (2019: Kap. 4). Auch andere Interaktionsformeln haben sich nach Ausweis der AdA-Karten als areal strukturiert erwiesen. Dazu zählen etwa die Antworten auf „danke“ (gern geschehen, nichts zu danken, da nich für, keine Ursache, passt schon). Auch hier hat sich mit kein Problem ebenfalls eine neue Variante herausgebildet (vgl. ELSPASS / MÖLLER 2003 ff.: Runde 2, Frage 2, Erhebungsjahr 2004/05) – wobei die jüngste Floskel alles gut hier noch nicht repräsentiert ist. Zwei weitere Formelkomplexe werden derzeit in der 11. Runde des AdA abgefragt, deren Ergebnisse bisher noch nicht kartiert wurden:
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– Interaktionsformen für den Wunsch, dass für das Gegenüber das Gleiche gelten möge (auch so, ebenso, gleichfalls, dir/Ihnen auch ...) (Runde 11, Frage 2h), – Interaktionsformen, die zum Ausdruck bringen, dass die Verkäuferin dem Kunden jetzt ihre Aufmerksamkeit schenkt (jetza, jetzt aber, jetztet ...) (Runde 11, Frage 3k). Hier ließe sich noch eine Vielzahl anderer Interaktionsroutinen genauer unter die Lupe nehmen, für die es wahrscheinlich regionalspezifische Realisierungsformen gibt: – Eine Verkäuferin teilt dem Kunden mit, dass sie sich ihm in Kürze zuwenden wird (geht gleich los, geht los, bin gleich für Sie da ...). – Man bittet, einem die nachfolgende Äußerung nicht übel zu nehmen (nichts für ungut, verzeih, sei mir nicht böse, nimm’s mir nicht übel ...). – Man erklärt, dass man eine Äußerung des Gegenübers nicht übel nimmt (alles gut, schon okay, halb so wild, kein Problem, schon vergessen, macht nichts, Schwamm drüber ...). – Man erklärt, dass eine Situation nicht zu ändern ist (da machst du nichts dran, es ist wie es ist, es kommt wie es kommt, ist halt so ...). – Man wehrt ein Lob höflich ab (man tut was man kann, kein Ding, nicht doch, lass gut sein, schon gut ...). – Man drückt seine Zustimmung aus (das kannst du laut sagen, da sagst du was, da bin ich ganz bei dir, recht so, absolut ...). – Man drückt seine Missbilligung aus (geht’s noch? sonst geht’s dir gut! sonst alles okay? hallo?...). – Man weist ein Ansinnen zurück (im Leben nicht, nie im Leben, sicher nicht, nichts da, kein Gedanke, von wegen, so siehst du aus ...). – Man erklärt, dass die folgende Äußerung unsicher ist (lass mich nicht lügen, jetzt muss ich lügen, wenn mich nicht alles täuscht, keine Ahnung, ich sag mal ...). – Man kommentiert eine unangenehme Überraschung (gibt’s doch nicht, um Himmels willen, Gott behüte, OMG, oh Mann, du liebes Lieschen, mein lieber Scholli...). Solche Interaktionsformeln können vielversprechende Ansätze für die Entdeckung von sprachlichen Spezifika moderner Regiolekte bieten, die nicht aus den traditionellen Basisdialekten ableitbar sind. Als Grundlage für die Erstellung von Variantenkatalogen könnte eine systematische Auswertung der Einträge auf einschlägigen Internetportalen dienen, die mittlerweile umfangreiche Kataloge von Redewendungen der deutschen Alltagssprache enthalten, so etwa der „RedensartenIndex“ mit derzeit (Stand: September 2019) mehr als 15.300 Einträgen (). Auch areale Differenzen im Gebrauch von Rückversicherungspartikeln (auch als „tag questions“ oder „stance markers“ bezeichnet) sind im WDU (EICHHOFF
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1977–2000: Bd. 2, Karte 104) und im AdA (ELSPASS / MÖLLER 2003 ff.: Runde 2, Frage 19b) auf Karten dokumentiert. Und auch hier lässt sich eine Entwicklungsdynamik ablesen, für die unterschiedliche Gründe in Frage kommen (vgl. Karte 5).
Karte 5: Karte zur arealen Distribution von Rückversicherungspartikeln in der gesprochenen Alltagssprache (ELSPASS / MÖLLER 2003 ff.: Runde 2, Frage 19b, Erhebungsjahr 2004/05)
Manche älteren Varianten wie nicht wahr sind im Zuge des allgemeinen Trends zur Entformalisierung des Sprechens rückläufig (ähnlich wie guten Tag und auf Wiedersehen im Bereich der Grußformeln). Manche Partikeln hatten auch schon traditionell eine geringere Reichweite und gelten heute oft als veraltet; sie werden durch bereits weiter verbreitete Varianten verdrängt, etwa woll durch ne im Norden oder gelle durch gell im mitteldeutschen Raum. Über einen interessanten Ansatz, um den Gebrauch solcher Partikeln noch genauer zu erfassen, berichtet neuerdings JENS LANWER in einem Beitrag der Zeitschrift „Niederdeutsches Wort“ (vgl. LANWER i. Dr.). Wie einige Studien (z. B. HAGEMANN 2009; KÖNIG 2017) gezeigt haben, können diese Partikeln unterschiedliche Funktionen erfüllen, z. B. Aufmerksamkeit erregen, das Verständnis überprüfen, Zustimmung einfordern oder den eigenen Standpunkt bekräftigen. LANWER schließt nun die Hypothese an, dass die Funktionsprofile der unterschiedlichen Formen arealer Variation unterliegen könnten. Er überprüft dies am
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Beispiel des Partikelgebrauchs in zwei norddeutschen Regionen. Zunächst fallen hier deutliche Unterschiede in der Verwendungshäufigkeit ins Auge (vgl. Abb. 2).6
Abb. 2: Prozentuale Anteile verschiedener Rückversicherungspartikeln (stance marker) in Aufnahmen vom Niederrhein und aus dem westlichen Münsterland (Tischgespräche aus dem SiN-Projekt)
Während im westlichen Münsterland die Partikel ne (grüner Balken) gegenüber allen anderen Varianten stark dominiert, ist die Verteilung am Niederrhein ausgeglichener. Dort kommt z. B. wa (blaue Balken) mit 26 % fast genauso häufig vor wie ne, während es im westlichen Münsterland nur einen Anteil von ca. 3 % aufweist. LANWER verknüpft diese Beobachtung nun mit der These, dass die Partikel in beiden Regionen unterschiedlich funktionalisiert werde. Im Regiolekt des Westmünsterlands werde wa nur zum Ausdruck der eigenen Einstellung benutzt (affektive Funktion), während die Partikel am nördlichen Niederrhein ein breiteres Funktionsspektrum habe. Ob sich diese Beobachtung auch anhand eines größeren Datenkorpus bestätigen lässt, muss sich noch erweisen. Hier darf man gespannt sein auf die Ergebnisse eines von JENS LANWER an der Universität Münster durchgeführten Projekts mit dem Titel „Areale Variation im Gebrauch von Question tags in deutscher Sprache-in-Interaktion“. Auf der Grundlage von Tischgesprächen aus dem SiN-Projekt soll versucht werden, „für den interaktionalen Sprachgebrauch im norddeutschen Raum auf empirischer Basis regionalspezifische Inventare von Question tags wie ne, nich, wa, weeß(t)e etc. zu rekonstruieren“ (). Ansätze dieser Art, die Methoden der Areallinguistik und Interaktionalen Grammatikforschung zusammenbringen, sind geeignet, neue Erkenntnisse über 6
Diagramm erstellt nach Daten aus dem Vortrag von JENS LANWER: „‘Jetz isses weg, wa?’ Areale Variation im Gebrauch postponierter stance marker in Norddeutschland“ (Kolloquium der Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens, Juni 2018).
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die arealen Unterschiede im Gebrauch von diskursrelevanten Formeln zu generieren. Ein weiteres aktuelles Beispiel hierfür ist das Projekt „Pragmatikalisierte Mehrworteinheiten“, das FABIAN BRACKHANE, RALF KNÖBL und ARNE ZESCHEL zurzeit am Leibniz-Institut für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim durchführen (vgl. sowie ZESCHEL / BRACKHANE / KNÖBL 2019). Gegenstand sind u. a. Konstruktionen mit dem Verb „sagen“, wie etwa ich sag mal, sag ich mal und sagen wir (mal). Das Projekt nimmt verschiedene Parameter in den Blick, die im Verdacht stehen, den Gebrauch dieser Konstruktionen zu steuern. Dazu gehören etwa der syntaktische Kontext, der Formalitätsgrad der Äußerungssituation und die Turn- und Sequenzposition. Darüber hinaus wird aber auch der Faktor Regionalität mit berücksichtigt. Das lässt sich in diesem Projekt gut umsetzen, da es sich auf die Aufnahmen des Korpus von „Deutsch heute“ (vgl. KLEINER 2015) stützt, das alle Regionen des deutschsprachigen Raums gleichmäßig abdeckt. Eine erste Teilstudie dokumentiert den Gebrauch von sagen-Konstruktionen in verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raums. Untersucht wurde z. B. der Gebrauch der Diskursformel ich sag mal bzw. sag ich mal in halbstündigen Interviews mit 660 Schülerinnen und Schülern aus dem „Deutsch heute“-Korpus. Berücksichtigt wurden ausschließlich Fälle, in denen die Formeln mit der Bedeutung ‘vielleicht kann man es so ausdrücken’ oder ‘nehmen wir mal an’ verwendet wurde; insgesamt gab es hierfür 519 Belege, teils voran- und teils nachgestellt. Im arealen Vergleich zeigt sich, dass die Gebrauchshäufigkeit der sagen-Konstruktion mit Pronomen im Singular tendenziell von Nord nach Süd abnimmt (vgl. Karte 6).7
7
Den Kollegen Dr. RALF KNÖBL und Dr. ARNE ZESCHEL vom Leibniz-Institut für deutsche Sprache (Mannheim) sei für ihre Bereitschaft gedankt, mir die bislang noch unpublizierte Sprachkarte zur Verfügung zu stellen, und für die Erlaubnis, sie in meinem Beitrag abdrucken zu dürfen.
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Karte 6: Absolute und prozentuale Häufigkeit der Varianten ich sag(e) mal / sag(e) ich mal in Aufnahmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (Korpus „Deutsch heute“)
Während ich sag mal/sag ich mal innerhalb Deutschlands in den Gebieten Nordwest, Nordost und Mitte-Ost recht hohe Anteile aufweist, wird es in Mitte-West, Südwest und Südost deutlich seltener verwendet. In Österreich ist die Konstruktion noch seltener, und in der Schweiz ist sie gar nicht belegt. Der Süden präferiert hier eindeutig die pluralischen Formen mit wir (sagen wir mal/sagen wir so/sagen wir). Wie diese Verteilung zu erklären ist, ist derzeit noch offen; auch wäre zu
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untersuchen, welche spezifischen Funktionalisierungen mit den Varianten in den verschiedenen Regionen verbunden sind. Der Nachweis ist jedenfalls erbracht, dass auch sprachhistorisch jüngere Konstruktionen, die bisher ausschließlich aus der Perspektive der linguistischen Pragmatik analysiert wurden, als relevanter Gegenstand einer modernen Regiolektforschung anzusehen sind. 4 FAZIT Ausgangspunkt der Überlegungen dieses Beitrages war die These, dass sich neue sprachliche Formen oder Funktionen im Regelfall auch heute noch in kleineren kommunikativen Gemeinschaften herausbilden und stabilisieren. Grammatik und Idiomatik entsteht in regionalen Kontexten. Somit ist auch unabhängig von der traditionellen Grundierung durch die Basisdialekte von der Möglichkeit unterschiedlicher regiolektaler Entwicklungen auszugehen. Die kontrastive Analyse standarddivergenter Erscheinungen im gesprochenen Deutsch unterschiedlicher Regionen könnte ein geeigneter Weg sein, sich von dem bisher noch vorherrschenden Modell des A b b a u s von traditionellen Formen und Mustern dialektaler Provenienz zu lösen und zu einem neuen, gegenstandsadäquateren Modell des A u f b a u s neuer regiolektaler Strukturen zu gelangen. Um potenziell regiolektspezifische Phänomene zu identifizieren, sind empirische Untersuchungen erforderlich. Drei Bereiche, in denen man mit regiolektalen Sprachausprägungen rechnen kann, haben sich als besonders vielversprechend erwiesen: 1) Reduktions- und Enkliseformen (hasse–haste–hassu–hast ‘hast du’), 2) Phraseologismen (Wie ein Schluck Wasser in der Kurve), 3) Interaktionsformeln (Da nich für!). In einem ersten Schritt wäre jeweils die Analyse von Korpora gesprochener Sprache aus unterschiedlichen Regionen des deutschsprachigen Raums erforderlich. Denn nur so lassen sich neue Formen oder Funktionen identifizieren. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn die regionalen Korpora jeweils von Forschern ausgewertet würden, die nicht aus der betreffenden Region stammen; ein Verfahren, das auch bei der Erarbeitung des „Variantenwörterbuchs des Deutschen“ (AMMON / BICKEL / LENZ 2016) in Bezug auf geschriebene Texte zum Einsatz kam. Die areale Verbreitung von Erscheinungen, für die anhand der Aufnahmen eine regionale Verteilung naheliegt, könnte man dann im zweiten Schritt durch gezielte Befragungen oder experimentelle Erhebungsverfahren überprüfen.
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ZWISCHEN STANDARDSPRACHE UND DIALEKT: VARIATIONSSPEKTREN UND VARIATIONSVERHALTEN ÖSTERREICHISCHER KINDERGARTENKINDER Irmtraud Kaiser 1 AUFWACHSEN MIT ‚INNERER MEHRSPRACHIGKEIT‘ IN ÖSTERREICH Die vertikale Sprachvariationsstruktur Österreichs wurde und wird ‒ zumindest für den basisdialektal bairisch geprägten Raum ‒ meist als ‚Diaglossie‘ (AUER 2005) oder ‚Dialekt-Standard-Kontinuum‘ (AMMON 2003) konzeptualisiert. Viele Personen geben von sich selbst an, sowohl Standard als auch Dialekt ‚eher gut‘ oder ‚gut‘ zu beherrschen und etwa in Abhängigkeit von der Varietät der Gesprächspartner/innen die Sprechlage zu wechseln (vgl. ENDER / KAISER 2009). Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Sprecher/innen sich der vollen Bandbreite des kollektiv vorliegenden Spektrums bedienen: Weder sind im Alltag bei allen Personen die Anforderungen dafür gegeben noch muss das individuelle Repertoire das gesamte ‚Kontinuum‘ abdecken oder den Standard- bzw. Dialektpol erreichen, selbst wenn situative Anforderungen es eigentlich erwarten ließen (vgl. KAISER / ENDER 2015). In diesem Gebiet aufzuwachsen, bedeutet zwar, im Alltag Bekanntschaft mit vielen Sprechlagen zwischen dem Dialektpol und dem Standardpol zu machen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass das Erfahrungsspektrum von Kindern zunächst stark eingeschränkt ist: In den ersten Jahren steht der Input in und aus der Familie stark im Vordergrund, dem sich spätestens ab dem Kindergarteneintritt jedoch zusätzliche Inputquellen und damit erweiterte sprachliche Erfahrungen zur Seite stellen. KATERBOW (2013a) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Heterogenisierung der Kommunikationssituationen“ (2013a: 157), die die Grundlage für einen Ausbau der Varietäten- und Variationskompetenz bildet. Was dies konkret für den Sprach(variations)erwerb bei kleinen Kindern in Österreich bedeutet, blieb lange zu weiten Teilen unerforscht. Lediglich für den Wiener Kontext zeigen MOOSMÜLLER / VOLLMANN (1994) in einer Fallstudie an zwei Mädchen (2 und 4 Jahre alt), wie diese ihre Repertoires langsam von Standardnähe zu Dialektnähe ausbauen, und setzen dies auch damit in Beziehung, dass zwar in der kindgerichteten Sprache der erwachsenen Bezugspersonen die Standardsprache dominiert, in der Konversation zwischen den Erwachsenen jedoch dialektnah gesprochen wird. Die (wenigen) aktuellen Daten aus anderen deutsch-
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Irmtraud Kaiser
sprachigen Ländern (z. B. KATERBOW 2013a)1 und anderssprachigen Regionen (z. B. PATTERSON 1992; ROBERTS 1994; SMITH / DURHAM / FORTUNE 2007) belegen zwar, dass Kinder schon ab einem frühen Alter (3 bis 4 Jahre) in einem gewissen Ausmaß zum variablen Einsatz soziolinguistischer Varianten fähig sind, sie weisen aber auch auf enorme interindividuelle Variation hin und sind aufgrund anderer soziolinguistischer Bedingungen nur eingeschränkt auf die österreichische Situation übertragbar. In Bezug auf die Diskriminationskompetenz (Unterscheidungsfähigkeit zwischen Dialekt und Standardsprache) belegen KAISER / KASBERGER (2018), dass Kinder in Salzburg und Oberösterreich zwar ab dem Alter von fünf Jahren perzeptiv die Varietäten Dialekt und Standardsprache unterscheiden können, wenn sie mit lexikalisch gleichem Material konfrontiert sind, dass sie die Unterscheidung jedoch erst deutlich später (ab 8 Jahren) beherrschen, wenn der Rückgriff auf abstrakte Varietätenkategorien nötig ist, weil aufgrund unterschiedlichen lexikalischen Materials kein direkter perzeptiver Abgleich möglich ist. Die Ergebnisse von KAISER / KASBERGER (i. E.) und KASBERGER / KAISER (2019) deuten darüber hinaus an, dass Kindergartenkinder im Allgemeinen noch keine ausgeprägten Einstellungen bzw. Präferenzen bezüglich der Varietäten Standardsprache und Dialekt entwickelt haben, die über die Familiarität mit den Varietäten aus dem Elternhaus hinausgehen, sich aber bei den 8–9-jährigen Kindern eine deutliche Bevorzugung der Standardvarietät (bei der Wahl eines Arztes in einem adaptierten ‚Matched-guise‘-Experiment) herauskristallisiert. Die Vermutung schulischer Einflüsse in dieser Annäherung an die Bewertungsmuster Erwachsener (vgl. BELLAMY 2012; SOUKUP 2009) liegt nahe. Wie sich nun das konkrete produktive Variationsverhalten und Variationsspektrum der Kinder im Kindergartenalter gestaltet, soll in der hier vorliegenden Untersuchung dargestellt werden. 2 EMPIRISCHE STUDIE 2.1 Teilnehmer/innen Die hier präsentierten Daten stammen von 48 Kindern mit Erstsprache Deutsch aus dem Raum Salzburg (Bezirke Salzburg-Land und Hallein), aus zwei verschiedenen Orten ‒ einem ländlichen Ort im nordöstlichen Flachgau und einem städtisch geprägten (Hallein) südlich der Stadt Salzburg. Von diesen 48 Kindern sind 35 Kinder monolingual in Deutsch (beide Eltern sind deutscher Muttersprache) und 13 wachsen seit Geburt bilingual mit Deutsch und einer zweiten Sprache auf 1
Nicht eingegangen werden kann hier auf ältere Studien aus Deutschland (HOFFMANN 1978; SCHOLTEN 1988) und Studien aus dem Deutschschweizer Kontext (z. B. HÄCKI BUHOFER / STUDER 1993; WERLEN / ERNST 1993; HÄCKI BUHOFER / BURGER / SCHNEIDER / STUDER 1994; HÄCKI BUHOFER / BURGER 1998; SCHNEIDER 1998; LANDERT 2007), die sich dem „Sprachdifferenzbewusstsein“ und der standardsprachlichen Kompetenz bzw. dem Hochdeutscherwerb von Kindern (nach primärem Dialekterwerb) widmen, nicht aber das volle Sprachvarietätenrepertoire der Kinder und dessen Verwendung in den Blick nehmen.
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(alle im städtischen Gebiet)2. Die Kinder besuchten zum Zeitpunkt der Datenerhebung einen örtlichen Kindergarten und waren zwischen 3;4 Jahre und 6;4 Jahre alt. Tabelle 1 stellt die wichtigsten soziodemographischen und sprachbiographischen Hintergrunddaten der Kinder dar. Altersgruppe
Land
Stadt
männlich
weiblich
3‒4 Jahre 5‒6 Jahre Gesamt
10 7 17
15 16 31
11 14 25
14 9 23
Hauptvarietät(en) Deutsch zuhause3 Umgangssprache/ Dialekt mehrere Standardsprache 8 10 7 8 9 5 16 19 12
Tab. 1: Hintergrunddaten der Kinder
Die Hauptvarietät(en) zuhause wurden dabei anhand der Fragebogenangaben der Eltern ermittelt: Die Eltern waren gebeten, Einschätzungen der Verwendungshäufigkeit von Dialekt, Umgangssprache (definiert als „Form zwischen Dialekt und Hochdeutsch“) und Standardsprache („Hochdeutsch“) (sowie weiterer Sprachen) auf einer Skala von 0 („gar nicht“) bis 4 („sehr häufig“) jeweils separat für Mutter, Vater (oder andere Betreuungsperson) und Geschwister zu geben. Diese Werte wurden aggregiert und die Varietät mit dem höchsten Wert als ‚Hauptvarietät‘ verbucht. Erreichten mehrere Varietäten den gleichen Punktwert, so wurde die Kategorie ‚mehrere‘ als ‚Hauptvarietät‘ geführt. 2.2 Methode Die Variationslinguistik und auch die Spracherwerbsforschung haben jeweils bereits eine breite Palette von Erhebungsmethoden für ihre Forschungszwecke entwickelt. Ein methodischer Zugang, der jedoch die beiden Forschungsstränge verbindet, fehlte lange. Die etablierte Methodik zur Erhebung von Variationsspektren im deutschsprachigen Raum anhand von Primärdaten (wie etwa bei LENZ 2003; KEHREIN 2012) ist auf erwachsene oder zumindest jugendliche Gewährspersonen abgestimmt und die Forschung zum L1-Spracherwerb hat sich bislang im deutschsprachigen Raum kaum der soziolinguistischen Variationsrepertoires von Kindern angenommen (siehe jedoch KATERBOW 2013a). Die hier angepeilte Altersgruppe der Kindergartenkinder ist zum einen noch nicht ausreichend literalisiert (etwa für Übersetzungsaufgaben), sie verfügt über ein noch sehr beschränktes Erfahrungsspektrum insbesondere mit formelleren Kommunikationssituationen, sie hat eine im Vergleich zu Jugendlichen und Erwachsenen eingeschränkte Gedächtnis- und 2
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Bei den weiteren Sprachen dieser Kinder handelt es sich um Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (8mal), Türkisch (2-mal), Griechisch (2-mal) und Spanisch (1-mal). Die Kinder mit Zweitsprache Deutsch, die also aus einem rein fremdsprachigen Elternhaus stammen, wurden in der vorliegenden Analyse ausgeklammert. Eine fehlende Angabe.
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Irmtraud Kaiser
Aufmerksamkeitsspanne und noch kaum metasprachliches Vokabular (um etwa explizit Bezug zu nehmen auf ‚Dialekt‘ und ‚Hochdeutsch‘). Mit der hier dargestellten Methodik wurde versucht, auf diese Beschränkungen Rücksicht zu nehmen und dennoch das vorhandene Variationsrepertoire der Kinder abzubilden. Dabei wurde vor allem auf den Mechanismus der sprachlichen Akkommodation (vgl. die ‚Speech Accommodation Theory‘, z. B. in GILES / COUPLAND / COUPLAND 1991, die später zur ‚Communication Accommodation Theory‘ weiterentwickelt wurde, vgl. GILES / OGAY 2007) an die Gesprächspartner/innen gesetzt, dessen Wirkung schon mehrfach bereits bei 2–4-jährigen Kindern nachgewiesen werden konnte (z. B. GENESEE / BOIVIN / NICOLADIS 1996; SHATZ / GELMAN 1973) und zu einem Teil (auch) in automatischen Priming- und Imitationsmechanismen begründet sein dürfte (vgl. FOULKES / HAY 2015: 298; GAMBI / PICKERING 2013; MARKHAM 1997). Die Kinder wurden in je fünf Gesprächssituationen auf Video aufgenommen. Dabei handelt es sich um zwei unterschiedliche Interaktionssituationen mit jeweils zwei verschiedenen Gesprächspartnerinnen und um ein Rollenspiel. In der Situation ‚Memory-Spiel‘ spielten die Kinder zunächst eine Runde ‚Memory‘ mit der dialektsprechenden Versuchsleiterin (und weiteren Kindern), im Anschluss eine weitere ,Memory‘-Runde, und zwar mit der standardsprechenden Versuchsleiterin (und denselben Kindern). Die Versuchsleiterinnen animierten das Gespräch, indem sie zahlreiche Fragen an die Kinder stellten, die durch die MemoryKarten motiviert waren. In der Situation ‚Geschichte‘ hörten die Kinder jeweils eine Geschichte im Dialekt und in der Standardsprache und sollten sie dann unmittelbar im Anschluss mithilfe von Bildern einer Handpuppe nacherzählen, die ihrerseits nun in der jeweils anderen Varietät sprach. Schließlich wurden die Kinder noch bei einem Kaufladenspiel aufgenommen, wo sie in Kleingruppen ‚Einkaufen‘ spielten. Diese Spielsituation wurde hinzugezogen, weil die spezielle Funktion des Rollenspiels für den Spracherwerb im Sinne eines Ausprobierens verschiedener soziolinguistischer Varietäten/Register (KATERBOW 2013a; 2013b) und eines Vorwegnehmens nächster Spracherwerbsstufen (ANDERSEN 1984; ANDRESEN 2005) in der Forschung bekannt ist. Zudem ließen informelle Beobachtungen und anekdotische Berichte aus dem Umfeld der Autorin vermuten, dass auch dialektsprechende Kinder im Rollenspiel auf Standardsprache zurückgreifen. In die Auswertung flossen hier nur diejenigen Äußerungen ein, die das Kind ‚in der Rolle‘ von sich gab, nicht aber organisatorische oder metakommunikative Sprachhandlungen ‚außerhalb‘ der Rolle. 2.3 Auswertung Die Daten wurden literarisch mit minimalen gesprächsanalytischen Angaben transkribiert, alle kindlichen Äußerungen wurden zudem phonetisch weit transkribiert. Auf dieser Basis wurde im Anschluss zunächst jedes Wort als ‚dialektnah‘, ‚standardnah‘, ‚umgangssprachlich‘ oder ‚gemischt‘ (d. h. Zwischenformen oder Mischformen) codiert, wenn dies aufgrund der nachfolgend beschriebenen Krite-
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rien eindeutig möglich war. Alle problematischen Wortrealisierungen, also solche, die sowohl im dialektalen als auch im standardsprachlichen Sprachgebrauch möglich sind, solche, bei denen die Einordnung aufgrund von Perzeptionsunsicherheiten kaum möglich war, und/oder solche, bei denen die Unterscheidung zwischen Standard und Dialekt nur auf sehr feinen phonetischen Unterschieden (etwa im Öffnungsgrad der Vokale) beruht hätte, wurden nicht klassifiziert, d. h. als ‚ambivalent‘ behandelt. Jede Art der Klassifizierung impliziert Interpretationsschritte vonseiten der Forscher/innen, zumal wenn es sich um so uneinheitlich definierte und schwer abgrenzbare Kategorien wie ‚Dialekt‘, ‚Standardsprache‘ und ‚Umgangssprache‘ handelt. Das Messen von phonetischen Distanzen vom Standard (Dialektalitätsbzw. D-Werte, vgl. HERRGEN et al. 2001) würde (zunächst) ohne diesen Schritt auskommen, bietet aber andere potenzielle Nachteile. So kann durch die hier praktizierte Kategorisierung besser auf die auf der Dialekt-Standard-Achse relevante Variation fokussiert werden, indem einerseits lerner- bzw. kindersprachliche Realisierungen ignoriert werden und andererseits auch lexikalische und/oder morphosyntaktische Phänomene einbezogen werden. Zudem haben D-Werte erst bei ausreichender Wort-Anzahl genügend Aussagekraft (vgl. HERRGEN et al. 2001); das hier vorliegende Material erreicht häufig die dafür geforderten 100 bzw. 150 Wörter pro Gespräch nicht. Die hier praktizierte gröbere Einordnung in Kategorien gibt auch für eingeschränkteres Material und für kleinschrittigere Sequenzen (Turns bzw. TCUs, s. u.) nachvollziehbare Ergebnisse. Kategorisierungen dieser Art haben unseres Erachtens auch aufgrund der perzeptionslinguistischen Realität (vgl. KAISER / ENDER 2015) ihre Berechtigung. Die Klassifizierung der Wörter erfolgt grundsätzlich auf Basis der Dialektmerkmale des Mittelbairischen, die in der Literatur gut beschrieben sind (vgl. z. B. vgl. WIESINGER 1983: 836–842; MAUSER 2009: 62–66; SCHEUTZ 2009: 21– 23, 41–44; ZEHETNER 1985). Dennoch wird ein relativ weiter, zeitgemäßer Dialektbegriff angewandt, d. h. es werden nicht nur basisdialektale Formen als Dialekt eingestuft und es müssen nicht alle denkbaren Dialektmerkmale in einem Wort realisiert sein. So gelten in unserer Klassifikation z. B. sowohl das basisdialektale [ˈmili] als auch die Realisierung [my:ç] für standardsprachlich als Dialekt, weil auch Letzteres ein ‚klassisches‘ Dialektmerkmal des Mittelbairischen, die l-Vokalisierung, aufweist. Ähnliches gilt für die Realisierungen von als [kimst] und [kumst]. Ebenso wird die Realisierung von standardsprachlich als [kɔ̃n] trotz unterbliebener n-Apokope als dialektal bewertet (die im Übrigen bei den Kindern auch in anderen Kontexten kaum realisiert wird), weil die Realisierung das Merkmal der a-Verdumpfung enthält. Das Dialektmerkmal der o-Diphthongierung (zurückgehend auf mhd. ô) in Wörtern wie , , , konnten wir nur bei einem einzigen Kind ein einziges Mal beobachten, sodass wir die Realisierungen ohne o-Diphthongierung nicht als ‚standardnah‘, sondern als ‚ambivalent‘ behandeln. Ähnliches gilt für die Pronomen , und , die kaum in der dialektalen Realisierung /miɐ/, /e:s/ und /ins/ vorkommen. Sie bleiben in der standardnahen Realisierung
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Irmtraud Kaiser
unkategorisiert, in der dialektalen werden sie selbstverständlich als ‚Dialekt‘ klassifiziert. Umgekehrt wird auch eine relativ weite Standardkategorie angesetzt, die Allegromerkmale und alle Realisierungen, die für österreichischen Gebrauchsstandard beschrieben sind (vgl. KLEINER / KNÖBL 2015; ELSPASS / KLEINER 2019; auch MOOSMÜLLER / SCHMID / BRANDSTÄTTER 2015), mit einschließt. Dass laut unseren Resultaten die Kinder relativ wenige umgangssprachliche Wörter produzieren, liegt deshalb mitunter auch daran, dass wir die ‚Pole‘ Dialekt und Standard recht weit fassen. Mit dem Terminus ‚Umgangssprache‘ greifen wir auf die sowohl linguistisch als auch laiensprachlich übliche Bezeichnung für den ‚mittleren Bereich‘ zwischen Dialekt und Standardsprache im österreichischen Kontext zurück. Für unsere Zwecke operationalisiert wird die Kategorie in Form von Wortrealisierungen, die weder mehrheitlich die zu erwartenden Dialektmerkmale enthalten, insbesondere keine des Hauptsilbenvokalismus, noch sich dem (Gebrauchs-)Standard zuschreiben lassen, sich also tatsächlich weder in Richtung des Standard- noch in Richtung des Dialektpols positionieren lassen. Umgangssprachliche (im Gegensatz zu standardsprachlichen und dialektalen) Realisierungen umfassen demnach zum Beispiel solche mit Schwa-Synkope in Perfekt-Partizipien ohne gleichzeitige phonologische Dialektmerkmale im Stammmorphem: ‒ [khøɐt], e-Apokope in Substantiven ohne phonologische Dialektmerkmale in der betonten Silbe: ‒ [af], {-st}-Flexionsmorphem bei Konjunktionen/ Subjunktionen (2. P. Sg.) ohne gleichzeitige phonologische Dialektmerkmale: ‒ [vi:st]. Im nächsten Schritt wurden alle Turns in TCUs (turn-construction units, vgl. SELTING 2000) unterteilt. Bei einer TCU handelt es sich um „a potentially complete turn“ (SELTING 2000: 480). Turns sind die ‚natürliche‘ Einheit dialogischer Face-to-Face-Interaktion und aus psycholinguistischer Perspektive ist diese Einheit wohl diejenige, die sprachliche Akkommodationsprozesse am direktesten abbilden kann. De facto ist die überwiegende Mehrheit der Turns der Kinder so kurz, dass sie nur eine TCU umfassen. In den selteneren Fällen von längeren Turns wurden Segmentierungen in mehrere TCUs dann vorgenommen, wenn syntaktische und prosodische Merkmale konvergierende Evidenz für erneute Planungsprozesse an derselben Stelle ergaben. Auf der Basis der Wortcodierungen wurden schließlich die TCUs als ‚dialektnah‘ (= nur dialektnahe und ambivalente Wörter), ‚standardnah‘ (= nur standardnahe und ambivalente Wörter), ‚ambivalent‘ oder ‚gemischt‘/‚umgangssprachlich‘ kategorisiert. In die quantitative Auswertung fließen schließlich nur jene Gesprächssituationen ein, in denen das Kind mindestens 10 TCUs äußerte. In der Folge wurden die Anteile von TCUs in den verschiedenen Sprechlagen für die einzelnen Kommunikationssituationen, die ja relativ kurz waren und hinsichtlich der konstituierenden Variablen (u. a. Gesprächsthema, Gesprächspartnerin, Sprechlage der Gesprächspartnerin) im Wesentlichen in sich konstant gehalten wurden, bestimmt, wobei ambivalente TCUs unberücksichtigt blieben.
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2.4 Ergebnisse: Variationsspektren Zunächst soll ein Blick auf die individuellen Variationsspektren der Kinder geworfen werden. Dementsprechend werden in diese Auswertung nur Kinder einbezogen, die in mindestens zwei Situationen mit unterschiedlichen Gesprächspartner/inne/n jeweils mindestens 10 TCUs äußerten; das trifft auf 33 der 35 monolingualen Kinder und auf 11 der 13 bilingualen Kinder zu. Auf Basis unserer Daten können selbstverständlich keine absoluten Aussagen über die Variationskompetenz der Kinder getroffen werden. Die eingesetzte Methodik sollte es jedoch ermöglichen, die gesamte Bandbreite der den Kindern verfügbaren Sprechlagen zu elizitieren. Wir dürfen also mit aller Vorsicht annehmen, dass das hier beobachtbare Sprechlagenspektrum relativ repräsentativ für die tatsächliche Variationskompetenz des Kindes ist. Einen Überblick gibt Tabelle 2. Beobachtbare Sprechlagen
Kinder Stadt monolingual (n=16) Kinder Stadt bilingual (n=11) Kinder Land (n=17)
männlich weiblich 3–4 Jahre 5–6 Jahre Gesamt männlich weiblich 3–4 Jahre 5–6 Jahre Gesamt männlich weiblich 3–4 Jahre 5–6 Jahre Gesamt
nur dialektnah
nur standardnah
beides
1 0 1 0 1 (6 %) 1 0 1 0 1 (9 %) 3 3 3 3 6 (35 %)
1 2 0 3 3 (19 %) 4 3 3 4 7 (64 %) 0 1 0 1 1 (6 %)
7 4 5 6 11 (69 %) 2 1 1 2 3 (27 %) 4 6 7 3 10 (59 %)
nur gemischt bzw. umgangssprachlich 0 1 0 1 1 (6 %) 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Tab. 2: Beobachtbare Sprechlagenspektren und Hintergrunddaten der Teilnehmer/innen
Eine beobachtbare Dialektsprechlage wird hier zum Beispiel dergestalt operationalisiert, dass das Kind innerhalb mindestens einer Kommunikationssituation über 50 % Dialekt-TCUs bei gleichzeitig weniger als 30 % Standard-TCUs produziert, also eine relativ konsistente dialektnahe Sprechlage aufweist. Für die Standardsprechlage gelten die inversen Verhältnisse. Unter Anwendung dieser Dialektsprechlagen- und Standardsprechlagenoperationalisierung sowie unserer relativ weiten Dialekt- und Standarddefinitionen (s. o.) lässt sich feststellen, dass drei Viertel der monolingualen Kinder im städtischen Gebiet und fast alle der Kinder auf dem Land nachweisbar über produktive Dialektkompetenz verfügen. Bei den bilingualen Kindern, die in unserem Fall allesamt im städtischen Raum aufwachsen, ist Dialektkompetenz mit etwa einem
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Irmtraud Kaiser
Drittel deutlich geringer beobachtbar.4 Standardkompetenz weisen im Vergleich dazu ein größerer Teil der städtischen Kinder (sowohl bi- als auch monolingual), jedoch weniger Kinder auf dem Land auf. Mehr als der Hälfte der monolingualen Kinder in beiden Gegenden stehen nachweisbar beide Sprechlagen zur Verfügung; sie können als ‚bivarietär‘ eingestuft werden. Das heißt umgekehrt, dass jeweils nur eine Minderheit der monolingualen Kinder auch als ‚monovarietär‘ bezeichnet werden kann. Im Falle der Landkinder sind das sechs Kinder (35 %), bei denen wir nur dialektnahe Sprechlagen beobachten können, und ein Kind, bei dem nur eine standardnahe Sprechweise feststellbar ist. In der Stadt zeigt jeweils ein mono- und ein bilinguales Kind eine nur auf dialektnahes Sprechen eingeschränkte Kompetenz, während sich drei monolinguale Kinder (19 %) und sieben bilinguale Kinder (64 %) in den hier beobachteten Kommunikationssituationen nur standardnah ausdrücken.5 Ein Kind aus dem städtischen Raum weist in keinem der Gespräche eine konsistente Dialekt- oder Standardsprechlage auf und dessen Kompetenz wurde dementsprechend als ‚nur gemischt bzw. umgangssprachlich‘ eingeordnet. Klar ist, dass diese Verhältnisse nicht repräsentativ für ganz Österreich sind, sondern nur für die hier untersuchten Gebiete ‒ und auch hier angesichts der Fallzahlen nur eingeschränkt ‒ gelten. Bereits für die Stadt Salzburg sind andere Verhältnisse anzunehmen, in Wien bzw. in Vorarlberg würden sich die Dialekt- und Standardkompetenzverteilungen aller Wahrscheinlichkeit nach wiederum anders gestalten. In diesem Zusammenhang stellen sich noch über die diatopische Zuordnung hinaus Fragen nach Korrelationen mit dem Alter, dem Geschlecht, dem sozioökonomischen Hintergrund und/oder dem Input der Kinder und ihrem jeweiligen Variationsspektrum. In Bezug auf das Alter und das Geschlecht gibt es keine statistisch signifikanten systematischen Unterschiede hinsichtlich des Variationsspektrums zwischen den Kindern in unserer Stichprobe. Eine auffällige Beobachtung ist jedoch, dass alle fünf monolingualen Kinder, die nur standardnahe oder nur umgangssprachliche Sprechlagen aufweisen, aus der ‚älteren‘ Altersgruppe stammen, d. h. fünf oder sechs Jahre alt sind. Umgekehrt gilt jedoch nicht, dass alle nur dialektsprechenden Kinder der jüngeren Gruppe (3- und 4-Jährige) entstammen. Zudem sind vier dieser fünf Kinder weiblich. Unter den bilingualen Kindern ist ausschließliche Standardkompetenz das dominierende Muster über die Gruppen hinweg. 4 5
Dies ist nur zum Teil in fehlendem Input im Elternhaus begründet, wie wir auch im Folgenden diskutieren. Vertiefende Analysen der Sprachverwendung und -repertoires der mehrsprachigen Kinder finden sich in KAISER (2019). Die Unterschiede zwischen Kindern aus der Stadt und Kindern vom Land erweisen sich als signifikant in einem exakten Fisher-Text (χ2=8,386; p=0,014). Tatsächlich scheint dies jedoch vor allem auf die bilingualen Kinder, die nur aus der Stadt kommen, zurückzuführen zu sein, denn der Unterschied zwischen mono- und bilingualen Kindern aus der Stadt erweist sich als statistisch signifikant in einem exakten Fisher-Test (χ2(3)=6,422; p=0,038), die Unterschiede zwischen monolingualen Kindern auf dem Land und in der Stadt jedoch nicht (χ2(2)=4,290; p=0,137). Dennoch lassen sich deskriptiv auch innerhalb der monolingualen Gruppe Divergenzen zwischen Land- und Stadt-Kindern feststellen (s. o.).
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Wesentlich zu nennen ist weiters die Variable „Häufigkeit des Vorlesens“. Bei den Landkindern scheint dies ein entscheidender Faktor dafür zu sein, ob ein bivarietäres Spektrum aufgebaut wird oder nicht. Diejenigen Kinder vom Land, denen täglich vorgelesen wird, beherrschen signifikant häufiger beide Pole des Dialekt-Standard-Kontinuums als die Kinder, denen nur ein- bis dreimal pro Woche vorgelesen wird(s. Tab. 3).6 Vorlesehäufigkeit 1–3x/Woche (n=5) täglich (n=12)
nur dialektnah 4 2
Beobachtbare Sprechlagen nur standardnah 1 0
beides 0 10
Tab. 3: Zusammenhang Vorlesehäufigkeit und Variationsspektrum bei den Landkindern
Der sozioökonomische Hintergrund des Kindes (gemessen am Bildungsgrad der Mutter7) hingegen hängt nicht mit dem hier beobachteten Variationsspektrum zusammen.8 Dies scheint umso bemerkenswerter, als die Fähigkeiten der Kinder, zwischen Dialekt und Standardsprache zu unterscheiden (‚Diskriminationsfähigkeit‘, vgl. KAISER / KASBERGER 2018) sowie die Präferenzen der Kinder (vgl. KAISER / KASBERGER i. E.) durchaus mit dem Bildungsgrad der Mutter zusammenhängen. Ebenso wenig ist das Spektrum der Kinder jedoch ein reines Spiegelbild der Hauptvarietät(en), die in der Familie gesprochen werden. Diesbezüglich lässt sich keinerlei systematischer Zusammenhang nachweisen: Unabhängig davon, ob zuhause hauptsächlich Dialekt, Umgangssprache/Standardsprache oder mehrere Varietäten gesprochen werden, ist die Mehrheit der monolingualen Kinder bereits in diesem Alter grundsätzlich ‚bivarietär‘ und die Mehrheit der bilingualen Kinder spricht standardnah. Während drei Kinder in der Stadt trotz hauptsächlich dialektnahem Input im Elternhaus in unseren Erhebungen selbst nur standardnahe Sprechlagen zeigen, gibt es auch Kinder (in Stadt und Land), die gemäß Fragebogenangaben im Elternhaus hauptsächlich Standard- oder Umgangssprache hören, und dennoch selbst ‒ zumindest gemäß unseren Daten ‒ nur dialektnah sprechen.
6 7
8
Exakter Fisher Test: χ2(2)=10,252; p=0,003. In der Spracherwerbsforschung wird mehrheitlich der Bildungsgrad der Mutter als Indikator für den sozioökonomischen Hintergrund herangezogen, weil sich dieser nach wie vor als die entscheidende Variable für den (früh-)kindlichen Input und die Sprachentwicklung erweist (HOFF 2006; ENSMINGER / FOTHERGILL 2003). Auch in Österreich übernehmen Mütter deutlich häufiger bzw. in größerem Ausmaß die Kindererziehung als die Väter. Ebenso wird in der Sprachwandelforschung meist davon ausgegangen, dass Neuerungen primär von Frauen weitergegeben werden (LABOV 1990; ROBERTS 1997). Sehr wohl gibt es aber auf dem Land einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad der Mutter und ihrer eigenen Hauptvarietät, insofern als keine der besser gebildeten Mütter (Matura oder höher; n=9) als Hauptvarietät nur Dialekt angibt und umgekehrt zwei Drittel der weniger gut gebildeten Mütter (n=8) laut eigenen Angaben in der Familie hauptsächlich Dialekt sprechen.
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Offenbar spielen bereits in diesem Alter sprachliche Einflüsse außerhalb der Familie, wie Pädagog/inn/en, Peer-Group, andere Bezugspersonen und möglicherweise auch Medien eine wesentliche Rolle bei der sprachlichen Entwicklung des Kindes. Darüber hinaus deuten diese Ergebnisse bereits darauf hin, dass die Varietätenverwendung und dadurch auch die Kompetenzentwicklung vom Kind aktiv (wenn auch nicht notwendigerweise bewusst) in Abhängigkeit von seinen aktuellen sozialen Bedürfnissen mitgestaltet wird. 2.5 Ergebnisse: ‚Variationstypen‘ Bei der Analyse der kindlichen Variationsspektren zeichnete sich bereits ab, dass das individuelle Variationsrepertoire zwar zu einem Teil probabilistisch mit einzelnen außersprachlichen und Input-Faktoren zusammenhängt, diese scheinen aber – zumindest isoliert betrachtet ‒ nur sehr beschränkte Vorhersagekraft zu besitzen. Ebenso sind wohl komplexe Interaktionen zwischen diesen Variablen wie auch individuelle, vermutlich kognitiv, sozial- oder persönlichkeitspsychologisch begründete Unterschiede zu vermuten. Was für das Variationsspektrum gilt, ist erst recht für das Variationsverhalten anzunehmen. In der Tat bestätigt ein erster Blick auf die Variationsmuster, dass die große Mehrheit der Kinder intersituativ die Sprechlage wechselt, dass sich aber die Variationsspektren individuell recht unterschiedlich in den konkreten Situationen manifestieren. Um diesen Umständen Rechnung zu tragen, werden wir ‒ anstatt uns an einem globalen Durchschnitt oder an außersprachlichen Faktoren zu orientieren ‒ im Folgenden versuchen, uns einen Überblick über ‚Typen‘ von Variationsverhalten zu verschaffen, und erst im zweiten Schritt einen Blick auf möglicherweise erklärende Faktorenkonstellationen werfen. Mithilfe einer hierarchischen Cluster-Analyse wird der Versuch unternommen, die Kinder, die sich in ihrem Variationsverhalten ähneln, in prototypische Gruppen zu bündeln. Zunächst werden redundante Variablen/Situationen eliminiert, um verzerrende Korrelationen zu vermeiden und möglichst viele Kinder in die Analyse einbeziehen zu können. Schließlich werden in die Clusteranalyse jeweils die Anteile an umgangssprachlich/gemischten, standardnahen und dialektnahen TCUs in der Geschichte-Situation mit der Standard-Sprecherin, im Rollenspiel und im Memory-Spiel mit der Dialektsprecherin einbezogen. So können die Cluster auf Basis der Daten von den 26 Kindern (im Gegensatz zu 44 Kindern in der Analyse der Varietätenrepertoires) berechnet werden, von denen aus diesen drei Situationen ausreichend Daten vorliegen. Es wird eine hierarchische Clusteranalyse mit der WARD-Methode eingesetzt. Als Grundlage für die Interpretation dienen die Koeffizienten und die graphische Darstellung als Dendrogramm (s. Abb. 1).
4-ClusterLösung
3-ClusterLösung
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2-ClusterLösung
Abb. 1: Dendrogramm der Cluster-Analyse
Die Analyse zeigt einen erstmaligen ausgeprägten Anstieg der Heterogenität zwischen einer 4- und einer 3-Cluster-Lösung und einen weiteren sprunghaften Anstieg zwischen der 2- und 1-Cluster-Lösung. Dies legt nahe, dass sich die Kinder zunächst in Bezug auf ihr Variationsverhalten in zwei große Gruppen einteilen lassen, von denen beide noch einmal in je zwei Untergruppen aufgeteilt werden können. Im Folgenden werden wir uns nun der inhaltlichen Abgrenzung und Interpretation der 4-Cluster-Lösung sowie den Charakteristika der jeweiligen Kinder zuwenden. Dabei werden wir angesichts der niedrigen Fallzahlen und des explorativen Vorgehens davon absehen, inferenzstatistische Verfahren hinzuzuziehen, sondern uns auf das deskriptive Hervorheben von bemerkenswerten Häufungen beschränken. Auf dieser explorativen Basis können wir Hypothesen formulieren; um diese zu überprüfen, wären eine deutlich umfangreichere Stichprobe und umfassendere Hintergrundvariablen vonnöten.
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Abb. 2: Durchschnittliche Sprechlagenanteile in den Clustern
Cluster 1 (n=7) Cluster 2 (n=8) Cluster 3 (n=7) Cluster 4 (n=4) Gesamt (n=26)
m
w
Land
Stadt
monolingual
bilingual
3–4 Jahre
5–6 Jahre
3
4
4
3
6
1
4
3
6
2
4
4
6
2
4
4
7
0
2
5
7
0
4
3
1
3
1
3
3
1
1
3
17
9
11
15
22
4
13
13
Tab. 4: Soziodemographische Zusammensetzung der Cluster
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Cluster 1: die Dialektsprecher/-innen Das Cluster 1 umfasst sieben Kinder (27 %) und zeichnet sich dadurch aus, dass es in allen Situationen einen starken Dialektanteil aufweist (vgl. Abb. 2). Tatsächlich überwiegt dieser in allen Situationen außer der Geschichte-Nacherzählung für die standardsprechende Handpuppe, die eine ausgewogene Mischung aus dialektnahen und standardnahen TCUs aufweist. Im Gegensatz zu anderen Kindern passen sich die Kinder in Cluster 1 nur relativ wenig der Sprechlage der erwachsenen Kommunikationspartnerinnen an. Besonders die beiden Spielsituationen unterscheiden sich sprachlich kaum, was darauf hindeutet, dass für diese Kinder dialektnahes Sprechen die Norm in Gruppeninteraktionen darstellt. Dies zeigt sich für diese Gruppe auch im Rollenspiel, denn als einziges Cluster neigt diese Gruppe auch im Kaufladenspiel nicht zur Standardsprache. Dennoch ist ‒ innerhalb des dialektnahen bis umgangssprachlichen Spektrums ‒ intersituative Variation zu beobachten: Das Geschichte-Erzählen ist offenbar per se weniger dialektal geprägt, zudem passen sich die Kinder in der 1:1-Interaktion etwas stärker ihrem Gegenüber an als in der Spiel-Situation. Hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung dieses Clusters lässt sich feststellen, dass sich in dieser Gruppe drei jüngere Mädchen vom Land befinden (in deren Familien jedoch laut Fragebogenangaben verschiedene Varietäten gesprochen werden) und dies insgesamt das jüngste Cluster ist. Die drei Kinder aus der Stadt, die diesem Cluster zugerechnet werden, stammen aus Familien mit Dialekt als Hauptvarietät. Cluster 2: die Rollenmarkierer/innen Dieses Cluster, das aus acht Kindern besteht (30 %), zeigt wie Cluster 1 eine starke Dialektaffinität, unterscheidet sich aber von Cluster 1 in der Verwendung der Standardsprache zur Rollenmarkierung im Kaufladenspiel. Diesen Kindern steht also grundsätzlich eine standardnahe Sprechlage zur Verfügung. Diese setzen sie jedoch kaum ein, um sich der erwachsenen Interaktionspartnerin anzupassen oder die Interaktionsmodalität ‚Erzählen‘ zu markieren, sondern nur, um das Rollenspiel ‚Einkaufen‘ zu bestreiten. Das heißt, die Kinder greifen in allen Situationen, in denen sie ‚sie selber‘ sind, auf die dialektnahe Varietät zurück. Die Standardsprache im Rollenspiel könnte demgegenüber dazu dienen, die Fiktionalität der Einkaufssituation bzw. das Übernehmen einer Rolle zu markieren. In diesem Cluster befinden sich sechs Buben und zwei Mädchen. Die Mädchen sind wiederum jung (3;8 und 4;10) und vom Land. Die sechs Buben sind tendenziell älter (4;0 bis 6;1) und mehrheitlich aus der Stadt (4 von 6). Dieser Gruppe wird außerdem überdurchschnittlich oft vorgelesen. Es sind dies die Kinder mit der (deskriptiv) höchsten Diskriminationsfähigkeit (vgl. KAISER / KASBERGER 2018) und der klarsten Präferenz für die Dialektsprecher/in in der Präferenzaufgabe (vgl. KAISER / ENDER / KASBERGER 2019).
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Cluster 3: die Variierer Die Kinder im Cluster 3 (n=7; 27 %) variieren ihre Sprechweise stark (vgl. Abb. 2). Sie verfügen sowohl über dialektnahe als auch standardnahe Sprechlagen und weisen eine hohe Variationsbreite in Abhängigkeit von Interaktionsmodalität als auch -partnerin auf. So sind beide Memory-Spielrunden insgesamt dialektnaher gehalten als die Geschichte-Durchgänge. Innerhalb beider Situations-Sets zeigt sich eine deutliche sprachliche Akkommodation an das jeweilige erwachsene Gegenüber. Das Rollenspiel ist klar standardnah angelegt. Das Auffälligste an der sozialen Zusammensetzung dieses Clusters ist, dass es nur aus monolingual deutschsprachigen Buben im Alter von 4 und 5 Jahren besteht. Diese kommen mehrheitlich aus der Stadt (5 von 7) und stammen großteils aus einem primär dialektsprechenden Elternhaus. Cluster 4: die Standardsprecher/innen Das Cluster 4 ist durch seine durchgängige Standard-Dominanz charakterisiert. Variiert wird grundsätzlich wenig. Wenn vom Standard ein wenig abgewichen wird, dann eher in der Spielsituation mit anderen Kindern oder mit der dialektsprechenden Exploratorin, wobei aber die standardnahe Sprechlage klar beibehalten wird. Dieses Cluster ist kleiner als die anderen drei Cluster und umfasst lediglich vier Kinder (15 %), davon drei Mädchen. Ein Mädchen ist bilingual, die drei monolingual deutschsprachigen Kinder sind eher älter (5;2 bis 6;1). Drei der vier Kinder stammen aus der Stadt. 3 DISKUSSION: FAKTOREN DER DIALEKT-STANDARD-VARIATION BEI KINDERN IN ÖSTERREICH Die vorliegende Studie erlaubt es, Faktoren zu identifizieren, die mit dem Variationsrepertoire und dem Variationsverhalten der Kinder potenziell zusammenhängen. Im Folgenden soll ‒ mit aller Vorsicht ‒ versucht werden, die Wirkmechanismen der hier hervortretenden potenziellen Einflussfaktoren nachzuzeichnen, zu erklären und in den aktuellen sozio- und psycholinguistischen Kenntnisstand zu integrieren. 3.1 Soziodemographische Faktoren 3.1.1 Diatopie Ein Land-Stadt-Gefälle in der Dialektverwendung, wie auch hier beobachtet, ist angesichts des Kenntnisstandes zur soziolinguistischen Situation in Österreich
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nicht überraschend: Je größer der Wohnort, desto weniger wird Dialekt gesprochen und desto negativer ist das Prestige des Dialekts (vgl. WIESINGER 1992; STEINEGGER 1998). Zur schon bekannten schwächeren Position des Dialekts in den Städten kommt gerade im Hinblick auf den kindlichen Spracherwerb hinzu, dass die Bevölkerung in den Städten und damit auch die Kindergartengruppen deutlich heterogener sind als auf dem Land. Der Anteil an Kindern mit Deutsch als Zweitsprache war auch in unserer Untersuchung deutlich höher. In den Kindergärten wird darauf selbstverständlich auch Rücksicht genommen und bewusst Standardsprache gesprochen, um (auch) diesen Kindern das Erlernen der Bildungssprache zu erleichtern, worauf von den Kindergartenpädagoginnen in informellen Gesprächen immer wieder hingewiesen wurde. Insgesamt bedeutet das, dass die monolingualen Kinder einerseits selbst vermehrt in Kontakt mit Kindern mit Deutsch als Zweitsprache kommen und aus Gründen der Verständlichkeit Standardsprache sprechen, und zum anderen, dass alle Kinder in der Stadt von den Kindergartenpädagoginnen (und anderen Personen) vermehrt Input in der Standardsprache bekommen. Dass diese Situation einem selbstverständlicheren Umgang mit der Standardsprache und/oder mit dem ‚Code-Switching‘ zwischen Dialekt und Standardsprache in Anpassung an den/die Gesprächspartner/in zuträglich ist, scheinen unsere Daten zu bestätigen. Eine Land-Stadt-Differenz kommt nicht nur deutlich in der Ausgestaltung der Variationsrepertoires zum Tragen, sondern auch in den tendenziellen Variationsmustern: Die Kinder vom Land häufen sich in den dialektaffinen Clustern 1 und 2, während die Cluster 3 und 4 von städtischen Kindern beherrscht werden. 3.1.2 Bi- vs. Monolingualismus Der Faktor Bi- vs. Monolingualismus ist in unseren Daten nicht getrennt von der Diatopie zu analysieren, da die hier untersuchten bilingualen Kinder ausschließlich im städtischen Gebiet aufwachsen. Die Tatsache, dass die bilingualen Kinder eine höhere Tendenz zur Standardsprache aufweisen, kann also mitunter zumindest teilweise auch mit dem Umstand erklärt werden, dass sie in der Stadt leben. Dass die Tendenz jedoch unter bilingualen Kindern offensichtlich noch verstärkt wird, könnte mit den komplexen Anforderungen, die der bilinguale Spracherwerb in einer Dialekt-Standard-Kontinuums-Situation mit sich bringt und die eine bewältigbare ‚Einschränkung‘ auf eine der Varietäten forciert, zu tun haben. 3.1.3 Alter Der Altersfaktor scheint auf komplexe Art mit der Sprachvariation des Kindes zusammenzuhängen. Grundsätzlich deuten unsere Daten nicht darauf hin, dass die älteren Kinder generell über ein größeres Variationsrepertoire verfügen als die jüngeren. Tatsächlich weist ein relativ großer Teil der jüngeren Kinder bereits nachweisbare Kompetenzen in beiden Varietäten, Dialekt und Standardsprache,
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auf und der relative Anteil dieser Kinder ist unter den Älteren nicht größer. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass es besonders unter den älteren Kindern in der Stadt einen beträchtlichen Teil gibt, der sich nur am standardnahen Pol bewegt, und andererseits auf dem Land auch unter den älteren Kindern einen Teil, der sich nur des dialektnahen Spektrums bedient. Möglicherweise findet innerhalb dieser Altersgruppe (Kindergarten) vielmehr eine Erhöhung der Sprachbewusstheit im Umgang mit den Varietäten und in der Folge eine ‒ individuell unterschiedlich ausgerichtete ‒ Verschiebung in der Verwendung der schon vorhandenen Varietäten statt als ein eigentlicher Neu-Erwerb von Varietäten. Wenn man eine Alterstendenz erahnen kann, dann ist es eine Tendenz zu mehr Standardnähe: Dies zeigt sich in der relativ betrachtet höheren Anzahl der älteren Kinder mit nur standardnahem Spektrum (bei gleichzeitiger Abwesenheit nur dialektnah sprechender Kinder) und in der Vorherrschaft der älteren Kinder im Cluster 4 sowie der jüngeren in Cluster 1. Diese Beobachtungen stehen im Widerspruch zu Studien aus anderen Ländern, die bislang zwischen dem Alter von etwa 3 und 6 Jahren eine Zunahme der nicht-standardsprachlichen Varianten beobachtet haben und erst ab 6 Jahren eine (starke) Zunahme der Standardsprache (vgl. zusammenfassend NARDY / CHEVROT / BARBU 2013). Verbindliche Aussagen über den Erwerbsverlauf in dieser Altersspanne könnten allerdings nur mithilfe einer Panel-Longitudinalstudie getroffen werden, in der dieselben Kinder über mehrere Jahre beobachtet werden. 3.1.4 Geschlecht Während sich die Wirkmächtigkeit des Faktors Geschlecht in der Ausgestaltung des Variationsrepertoires nur andeutet, wird sie im individuellen Variationsverhalten deutlicher ersichtlich. Die Buben dominieren die Cluster 2 und 3, während die Mädchen sich eher in den Clustern 1 und 4 wiederfinden. Offenbar ist das möglichst weite Ausschöpfen des Variationsrepertoires eher eine Sache der (4–5jährigen, monolingualen) Buben. Dabei deuten sich aber auch Interaktionen mit dem Alter an: Die fünf jüngeren monolingualen Mädchen zeigen sich durchaus dialektaffin (in Cluster 1 und 2), im standardnahen Cluster 4 finden sich jedoch die einzigen zwei 6-jährigen Mädchen. Die einzigen zwei 6-jährigen Buben sind hingegen in den dialektaffinen Clustern 1 und 2 zu finden. Bereits ab diesem Alter scheint sich die Varietätenverwendung zwischen den Geschlechtern also auseinanderzuentwickeln. Damit lassen sich die hier vorliegenden Daten durchaus in internationale Ergebnisse einordnen: Die internationalen Daten zum Einfluss der Variable Geschlecht auf den Variationserwerb bei Kindern sind bisher widersprüchlich, während man bei den Erwachsenen ‒ verkürzt und vereinfacht gesprochen ‒ wiederholt Tendenzen in Richtung einer größeren Standardorientierung von Frauen feststellen konnte (vgl. zu einer umfassenden Diskussion der Gender-Variable in der Soziolinguistik CHESHIRE 2002: 426–443). Einige Erwerbsstudien belegen jedoch durchaus auch für Kinder ähnliche Tendenzen (ROMAINE 1984; FOULKES / DOCHERTY 2006: 423–424) und auch unsere Daten deuten zumindest für die älteren
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Kinder in diese Richtung. Dass insgesamt das Bild von sich stärker anpassenden Buben entsteht, ist zunächst angesichts der sonst beobachteten höheren Tendenz weiblicher Personen zu akkommodieren (NAMY / NYGAARD / SAUERTEIG 2002) überraschend. Unser Befund steht jedoch im Einklang mit den Ergebnissen von BARBU / MARTIN / CHEVROT (2014). Die Autor/innen stellen fest, dass (10–11jährige) Buben regionale Varianten stärker einsetzen als Mädchen, um sich lokalen Gesprächspartnern anzupassen, dass sie also offenbar lokale und männliche Identität miteinander assoziieren. Unsere Daten wären vereinbar mit der Interpretation, dass schon im Alter von 4 bis 6 Jahren eine (noch unbewusste) Sensibilität für die unterschiedlichen Prestige-Dimensionen (overtes vs. covertes Prestige, vgl. TRUDGILL 1972) entsteht und die Geschlechter beginnen, sich unterschiedlich an diesen Dimensionen zu orientieren. Gerade im Hinblick auf kindliche Sprachverwendung sind jedoch auch die unterschiedlichen erwachsenen Modelle und der kindgerichtete Input zu berücksichtigen. Dass sich der Input für Mädchen und Buben hinsichtlich der Dialekt- bzw. Standard-Verwendung unterschiedlich gestaltet, zeigen etwa Studien von LENZ (2003), FOULKES / DOCHERTY (2006: 421) und KASBERGER / GAISBAUER (angen.), in denen eine Tendenz von Erwachsenen, mit Mädchen standardnäher zu sprechen als mit Buben, zum Vorschein kommt. 3.1.4 Familiärer Input Während sich für die hauptsächliche Sprechlage in der Familie wenig alleinige Vorhersagekraft im Hinblick auf das individuelle Variationsspektrum oder -verhalten der Kinder abzeichnet, ist offensichtlich die Häufigkeit des (standardsprachlichen) Vorlesens innerhalb eines stark dialektal geprägten Umfelds von Bedeutung: Besonders Landkinder scheinen von häufigem Vorlesen bei der Entwicklung eines bivarietären Repertoires zu profitieren. Möglicherweise bringt das Vorlesen in dialekt-geprägten Familien nicht nur schon früh standardnahen Input, sondern zeigt die frühe intraindividuelle Variation der Eltern auch dialektal geprägten Kindern, dass bivarietäre Kompetenz ‚normal‘ und selbstverständlich ist. 3.2 Situative Faktoren 3.2.1 Akkommodation an das Gegenüber Die Anpassung an das Gegenüber scheint individuell in recht unterschiedlichem Ausmaß zu erfolgen, ist aber bei der Mehrzahl der Kinder grundsätzlich vorhanden. Während in Cluster 3 die Akkommodation an das Gegenüber stark ausgeprägt ist, fällt sie in den Clustern 1, 2 und 4 allerdings relativ schwach aus. Die Zusammenhänge mit dem Geschlecht wurden oben bereits diskutiert: besonders monolinguale 4–5-jährige Buben (Cluster 3) nutzen das gesamte Spektrum, um sich an die erwachsenen Gesprächspartnerinnen sprachlich anzupassen. Für Cluster 2 können wir grundsätzlich von einer bivarietären Kompetenz ausgehen, die
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jedoch offenbar nicht zum Zwecke der Akkommodation an das Gegenüber eingesetzt wird. Im Cluster 4 haben wir es mit Kindern zu tun, bei denen wir nur standardnahe Kompetenzen beobachten können und die dementsprechend nur im standardnahen Bereich (leicht) in Richtung ihres Gegenübers konvergieren (können). Entsprechend Inverses gilt für das dialektnahe Cluster 1. Besonders für das Cluster 2 stellt sich also die Frage, warum die Kinder ihre Sprechlage in den Spiel- und Erzählsituationen mit der Standardsprecherin nicht stärker in Richtung Standard bewegen, obwohl die bivarietäre Kompetenz offensichtlich vorliegt. Offenbar erfolgt die sprachliche Anpassung nur zu einem bestimmten Grad automatisch, auch wenn die dementsprechende Sprachkompetenz vorhanden ist. Neben Persönlichkeitsfaktoren wie Extraversion, die das individuelle Anpassungsverhalten regulieren, über die wir hier jedoch keine Aussagen treffen können, könnten sich hier v. a. sozialpsychologische Mechanismen entfalten, die auf dem sozio-indexikalischen Potenzial von Sprachvarietäten u. a. zum Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit beruhen (vgl. z. B. GILES / COUPLAND / COUPLAND 1991; SCHILLING-ESTES 2002; SOUKUP 2013). Zahlreiche Untersuchungen aus dem englischsprachigen Raum haben die Selektivität von sprachlichen Anpassungsprozessen in Abhängigkeit von Einstellungen gegenüber den (zugeschriebenen) Eigenschaften der jeweiligen Gesprächspartner/innen, wie Attraktivität, ethnische Herkunft (‚Rasse‘), Geschlecht etc., demonstriert (vgl. zusammenfassend COLESHARRIS 2017). Möglicherweise zeigt sich in den Unterschieden zwischen Cluster 2 und Cluster 3 eine unterschiedliche Einstellung gegenüber und Identifikation mit den Varietäten; so könnte das lokale, versteckte und/oder maskuline Prestige des Dialekts für die Kinder aus Cluster 2 stärker sein als für jene in Cluster 3 und/oder die Kinder im Cluster 2 assoziieren ihre eigene Identität ausschließlich mit dem Dialekt, sodass nur das Übernehmen einer ‚Spiel‘-Identität (im Kaufladenspiel) das Switchen zum Standard ‚erlaubt‘. 3.2.2 Interaktionsmodalität Generell sind die beiden Erzählsituationen jeweils stärker mit der Standardsprache verknüpft als die Spielsituationen. Der Modus des Erzählens ist offenbar schon bei den Jüngsten ‒ vermutlich durch Erfahrungen mit Vorlesesituationen ‒ mit Standardsprache assoziiert und schwächt auch die Akkommodation an die Dialektsprecherin im Vergleich zur Spielsituation ab. Gleichzeitig ist der Dialekt offensichtlich die ‚Default‘-Sprechlage für die Gruppeninteraktionen (mit Ausnahme von Cluster 4). Im Memory-Spiel scheint die Anpassung an die StandardSprecherin schwerer zu fallen ‒ oder weniger stark angestrebt zu werden. Dabei ist zu bedenken, dass die Kinder in der Gruppeninteraktion mit mehreren und unterschiedlichen potenziellen ‚Anpassungsobjekten‘ konfrontiert sind. Es scheint plausibel, dass sich Kinder in dieser Situation eher an ihren Peers orientieren als an den wechselnden erwachsenen Spielleiterinnen (die Gruppe der spielenden Kinder blieb ja jeweils konstant). Möglicherweise erfordert die Standardproduktion auch von vielen Kindern noch eine höhere Konzentration und stärkeres
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‚Monitoring‘ (vgl. LEVELT 1989; DE BOT 1992), was unter den schnelleren, spontaneren Bedingungen des Gesellschaftsspiels (im Vergleich zur 1:1-Situation beim Erzählen), mit Priming in teilweise unterschiedliche Richtungen, das Arbeitsgedächtnis teilweise noch überfordert. 3.2.3 Rollenmarkierung Auffallend ist, dass die Situation, die von den allermeisten Kindern standardsprachlich bestritten wird, das Kaufladenspiel ist. Rollenspiele gelten als wesentliche Lernsituationen zur sprachlichen und sozialen Weiterentwicklung (vgl. z. B. ANDERSEN 1984; ANDRESEN 2005) der Kinder. Kinder können sich in neuen, anderen Situationen und Rollen ausprobieren. Sie orientieren sich dabei zum einen an beobachteten Verhaltens- und Sprechweisen konkreter realer Personen. Neben der Nachahmung spielen aber auch Typisierung und Abstraktion eine Rolle: Es werden nicht Personen gespielt, sondern stereotype Rollen. Wäre Nachahmung konkreter realer ‚Einkaufserfahrungen‘ das dominante Muster im Kaufladenspiel, wäre nicht diese starke Dominanz der Standardsprache zu erwarten, denn zumindest in der ländlichen Gemeinde ist von dialektnahem Sprachgebrauch im Supermarkt, beim Bäcker oder auf dem Bauernmarkt auszugehen. Wenn es sich jedoch um eine ‚stereotype‘ Rollendarstellung handelt, stellt sich dennoch die Frage, auf welcher Grundlage diese Vorstellungen von ‚Einkäufer/inne/n‘ und ‚Verkäufer/inne/n‘ als ‚Standardsprecher/innen‘ entstanden sind. Als denkbare Quelle kommen Darstellungen in den Medien infrage; gleichzeitig scheinen sich aber Szenen dieser Art im medialen Input quantitativ in Grenzen zu halten. Eine detailliertere Analyse der Rollenspiele zeigt zudem, dass die Kinder den Varietätenwechsel klar zur Markierung der Rollenübernahme einsetzen. In vielen Fällen schlüpfen die Kinder zu organisatorischen Zwecken kurz aus ihrer Rolle, geben sozusagen in ihrer alltagsweltlichen Identität Anweisungen an ihre Freunde oder fragen bei der Exploratorin nach ‒ und dies geschieht bei den Dialektkompetenten durchwegs in dialektnaher Sprechlage. Sobald jedoch in die Spielidentität zurückgekehrt wird, wird auch die Sprechlage wieder verändert. Die DialektStandard-Variation dient hier als ein Mittel von mehreren, um die jeweilige Äußerung als rollensprachlich zu kontextualisieren, als eine Form von impliziter Metakommunikation (vgl. ANDRESEN 2005: 126). Interessant ist nun, dass diese Interaktionssituation offenkundig diejenige ist, in der Standardverwendung nicht nur am akzeptabelsten ist, sondern geradezu erwartet wird. Fast alle von jenen Kindern (22 von 25), für die wir aufgrund unserer Daten Standardkompetenz belegen können, verwenden in der ‚Spielidentität‘ dominant die Standardsprache. Gleichzeitig gibt es ‒ wie wir gesehen haben ‒ eine Gruppe von Kindern, die darüber hinaus keine Standardverwendung zeigen (Cluster 2). Besonders in dieser Gruppe scheinen Dialekt- und Standardverwendung eng mit Identität verquickt zu sein ‒ zur alltagsweltlichen Identität der Kinder gehört (nur) der Dialekt und nur im Spiel ist die Verwendung von Standardsprache opportun. Gleichzeitig kann das Rollenspiel als Lernraum und Möglich-
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keit dienen, sich in der Standardsprache auszuprobieren, ohne sich in seiner Identität zu sehr zu exponieren. 4 FAZIT In der vorliegenden Studie konnte erstmals das Variationsrepertoire und die intersituative Standard-Dialekt-Variation einer Gruppe österreichischer Kindergartenkinder analysiert werden. Ein komplexes Zusammenspiel von sozialen und InputFaktoren wirkt offenbar auf die Ausgestaltung des individuellen Variationsspektrums und zusätzliche situative Faktoren lenken schließlich das Variationsverhalten des Kindes, ohne jedoch deterministisch zwingend zu einer bestimmten Ausprägung zu führen. Die Grundlage für das Varietätenrepertoire wird dabei bereits in den Kleinkindjahren vor allem durch den Input im Elternhaus gelegt. Auf dieser Basis gestaltet jedoch das Kind zunehmend eigenaktiv und wohl auch zunehmend bewusst sein Verhalten und seinen Erwerb in Abhängigkeit von sozialen Motiven und aktuellen Kompetenzen und Bedürfnissen mit. Künftige Forschungen müssen die hier vorgeschlagenen Hypothesen verifizieren und weitere Faktoren identifizieren, die uns helfen können, den Variationserwerb von Kindern in einer komplexen Dialekt-Standard-Situation noch besser zu verstehen. LITERATURVERZEICHNIS AMMON, ULRICH (2003): Dialektschwund, Dialekt-Standard-Kontinuum, Diglossie: Drei Typen des Verhältnisses Dialekt – Standardvarietät im deutschen Sprachgebiet. In: ANDROUTSOPOULOS, JANNIS K. / EVELYN ZIEGLER (Hg.): „Standardfragen“. Soziolinguistische Perspektiven auf Sprachgeschichte, Sprachkontakt und Sprachvariation. Frankfurt a. M.: Lang, 163–171. ANDERSEN, ELAINE S. (1984): The acquisition of sociolinguistic knowledge. Some evidence from children’s verbal role‐play. In: Western Journal of Speech Communication 48/2, 125–144. ANDRESEN, HELGA (2005): Vom Sprechen zum Schreiben. Sprachentwicklung zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr. Stuttgart: Klett-Cotta. AUER, PETER (2005): Europe’s sociolinguistic unity, or: A typology of European dialect/standard constellations. In: DELBECQUE, NICOLE / JOHAN VAN DER AUWERA / DIRK GEERAERTS (Hg.): Perspectives on Variation. Sociolinguistic, Historical, Comparative. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 7‒42. BARBU, STÉPHANIE / NATHAEL MARTIN / JEAN-PIERRE CHEVROT (2014): The maintenance of regional dialects: a matter of gender? Boys, but not girls, use local varieties in relation to their friends’ nativeness and local identity. In: Frontiers in Psychology 5, Article 1251. BELLAMY, JOHN (2012): Language Attitudes in England and Austria: A Sociolinguistic Investigation into Perceptions of High and Low-Prestige Varieties in Manchester and Vienna. Stuttgart: Steiner. BOT, KEES DE (1992): A bilingual production model: Levelt’s ,Speaking‘ model adapted. In: Applied Linguistics 13/1, 1–24. CHESHIRE, JENNY (2002): Sex and gender in variationist research. In: CHAMBERS, JACK / PETER TRUDGILL / NATALIE SCHILLING-ESTES (Hg.): The Handbook of Language Variation and Change. Oxford: Blackwell, 423–443.
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NEUROLINGUISTISCHE ANSÄTZE ZUM EINFLUSS VON DIALEKTKONTAKT AUF DAS SPRACHVERSTEHEN Manuela Lanwermeyer 1 EINLEITUNG Durch die Mobilität der heutigen Gesellschaft werden die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft häufig mit regionaler Variation konfrontiert. Dem wurde in der Sprachwissenschaft bisher in erster Linie dahingehend Rechnung getragen, dass die Anpassung der Sprachproduktionsstrategien in den Blick genommen wurde (vgl. z. B. zur Akkommodation sächsischer Übersiedler AUER / BARDEN / GROSSKOPF 1996; AUER / BARDEN / GROSSKOPF 1998). Aber auch die Perzeption regionaler Variation spielt insbesondere für die Frage nach den Auslösern für Sprachwandel eine Rolle. So ist beispielsweise im Sinne der Sprachdynamiktheorie nach SCHMIDT / HERRGEN (2011) der interaktiv-kognitive Abgleich von Interaktionspartnern (Synchronisierung) für Kompetenzmodifikationen verantwortlich. Diesen gehen Verstehensschwierigkeiten voraus, die mit dem Ziel einer erfolgreichen Kommunikation reduziert werden. Die neurolinguistische Untersuchung regionaler Variation kann in diesem Kontext neue Einsichten in die Perzeption liefern, wie sie durch Offline-Methoden nicht erworben werden können. Eine wichtige Methode in diesem Zusammenhang ist die Elektroenzephalographie (EEG), die Einblicke in zeitliche Abläufe während der Sprachverarbeitung gibt (Kapitel 2). Der vorliegende Beitrag thematisiert die Frage, welchen Einfluss die eigene Dialektkompetenz, aber vor allem der Kontakt zu fremden Dialekten, auf die Sprachverarbeitung hat (Kapitel 3). Anschließend wird ein integrierendes Modell zur Sprachproduktion und -perzeption (PICKERING / GARROD 2013) skizziert und auf Sprachverstehen in Dialektkontaktsituationen angewendet (Kapitel 4). 2 ELEKTROENZEPHALOGRAPHIE (EEG), EREIGNISKORELIERTE POTENTIALE (EKP) UND AUSGEWÄHLTE KOMPONENTEN Die Elektroenzephalographie ist eine nicht-invasive Methode, um elektrische Gehirnaktivität abzuleiten und zu verstärken (vgl. RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010). Hierzu werden mithilfe einer festgelegten Anordnung von Elektroden Spannungsschwankungen, d. h. Änderungen des elektrischen Feldes bei der Nervenzellaktivität, an der Kopfhaut gemessen. Jede Elektrode leitet Potentialfelder ab, bei denen es sich um „[ü]berlagerte Vektorsummen elektrischer Aktivität von
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einigen Millionen Neuronen“ (MÜLLER 2013: 129) handelt. Demnach fängt jede Elektrode „die summierte elektrische Aktivität von mehreren Quadratzentimetern Kortexoberfläche“ (MÜLLER 2013: 129) ab. An dieser Stelle lässt sich bereits der Nachteil der Methode erkennen: Die räumliche Auflösung des EEGs ist im Vergleich zur funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) relativ gering. Der große Vorteil hingegen liegt in der sehr hohen zeitlichen Auflösung von 1 Millisekunde (ms), sodass (sprachliche) Reize durch die Aktivitätsveränderung im EEG nahezu sofort erfasst werden. Somit ist das EEG eine sinnvolle Methode, um exakte zeitliche Verläufe während der Sprachverarbeitung zu beobachten (vgl. RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010: 142). Zudem lassen sich durch die Analyse von Verbänden benachbarter Elektroden (Regions of Interest) grobe Angaben zur räumlichen Verteilung machen, wie z. Β. eine frontale, zentrale oder parietale Ausprägung der Effekte. Um etwas über Sprachverarbeitung aussagen zu können, muss das aufgezeichnete EEG ausgewertet werden. Eine häufige Methode ist die Analyse ereigniskorrelierter Potentiale (EKPs). Grundsätzlich werden bei der EEG-Ableitung unspezifische Potentialunterschiede der hirnelektrischen Aktivität gemessen, die nicht direkt zu einem (sprachlichen) Reiz relatiert sind (Spontan-EEG). Erst durch die EKP-Analyse können Spannungsschwankungen auf konkrete kognitive Aufgaben bezogen werden (vgl. MÜLLER 2013: 130–131). Ziel der Analyse ist es, die EEG-Signale aus dem Spontan-EEG herauszufiltern, die durch einen konkreten (sprachlichen) Stimulus ausgelöst wurden. Dies geschieht mittels einer Mittlungstechnik aller Stimuli einer Bedingung (Averages) und allen Versuchspersonen (Grand Averages). Da über die Verarbeitungsprozesse einzelner Personen wenig ausgesagt werden kann, wird eine möglichst homogene Gruppe von Sprechern untersucht. Zudem ist eine hohe Anzahl von Stimuluswiederholungen bzw. verschiedener Stimuli einer Kategorie wichtig, um die EKPs aus der Grundaktivität des Gehirns (Rauschen) herauszumitteln. Insgesamt können ereigniskorrelierte Potentiale als hirnelektrische Korrelate konzentrierter neuronaler Aktivität verstanden werden, die sich als „hirnelektrische Spannungsfluktuationen über die Zeit dar[stellen und die] aus einer Reihe von negativen und positiven Spannungsänderungen relativ zu einer Ruhespannung (‚Baseline‘) vor Beginn des Ereignisses“ (GERLOFF 2005: 501) bestehen. Ein EKP umfasst also unterschiedliche Energieschwankungsmuster, die Rückschlüsse über die phonologische, syntaktische oder semantische Verarbeitung erlauben. Abbildung 1 zeigt ein Beispiel für ein EKP. Auf der x-Achse ist die Zeit in ms abgetragen, auf die y-Achse die Spannung in µV. Grundsätzlich können EKPEffekte immer nur in Relation zu einer Kontrollbedingung (hier: durchgezogene Linie) interpretiert werden. Durch den Satzkontext Er bestrich das warme Brot mit wird eine Erwartung aufgebaut, die durch das Lexem Butter erfüllt wird. Wird stattdessen das inkongruente Lexem Steinen präsentiert (gestrichelte Linie), wird die Erwartung verletzt und ein negativer Effekt (N400) evoziert. Komponenten können anhand verschiedener Kriterien beschrieben werden: Polarität (positiv vs. negativ), Topographie (an welchen Elektroden der Effekt evoziert wird, z. B. fron-
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tal, zentral, parietal, lateral), Latenz (Zeit nach Stimulusbeginn) und Amplitude (Stärke des Effekts).
Abb. 1: Beispiel für ein EKP – Kriterien zur Klassifikation von Komponenten (modifiziert nach DRENHAUS 2010: 115).
Im Weiteren werden zwei Komponenten kurz beschrieben, die für die Erforschung von regionaler Variation von Interesse sind: die N200 und die N400. Die N200-Familie besteht aus verschiedenen Subkomponenten, wie der Mismatch Negativity (MMN, N2a) und der N2b. Die MMN ist eine frontozentrale negative Komponente, die ihren Peak 150–250 ms nach einer Abweichung (divergence point) aufweist (vgl. für einen Überblick ALHO 1995; GARRIDO et al. 2009; KUJALA / NÄÄTÄNEN 2003; NÄÄTÄNEN et al. 2007; NÄÄTÄNEN / KUJALA / WINKLER 2011 und PULVERMÜLLER / SHTYROV 2006). Die MMN wird im Rahmen von Oddball-Designs elizitiert, in denen häufig präsentierte Stimuli (Standards) hin und wieder von abweichenden Stimuli (Deviants) unterbrochen werden. Hierbei handelt es sich typischerweise um einzelne Phoneme, Silben oder aber auch um Lexeme. Durch den häufig präsentierten Standard wird eine Repräsentation bzw. eine kurzzeitige Erinnerungsspur aufgebaut, die durch den Deviant verletzt wird. Es handelt sich somit um einen Diskriminationsprozess, da die jeweiligen Stimuli (unbewusst) miteinander verglichen werden. An dieser Stelle liegt ein wichtiger Unterschied zwischen der MMN und der N2b: Während die MMN unabhängig von der Aufmerksamkeit der Probanden entsteht und somit einen automatischen präattentiven Prozess widerspiegelt (vgl. PICTON et al. 2000: 111), entsteht die N2b, wenn Probanden Abweichungen bewusst wahrnehmen, da diese relevant für die Bewältigung einer Experimentaufgabe sind. Somit handelt es sich bei den beiden Komponenten um unterschiedliche Stufen der Mismatch-Erkennung (vgl. FOLSTEIN / VAN PETTEN 2008: 153; PRITCHARD / SHAPPELL / BRANDT 1991: 76– 77). Allerdings wird im Rahmen regionalsprachlicher MMN-Studien häufig auch eine Same-Different-Task als Experimentaufgabe gestellt (vgl. Kapitel 3.1), in der
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den Probanden auf mehrere gleiche Stimuli folgend entweder ein phonemisch gleiches oder differierendes Item präsentiert wird. Aufgabe der Teilnehmenden ist es, zu bewerten, ob der zuletzt präsentierte Stimulus von den vorherigen abweicht. Im Gegensatz zur N200, bei der es sich um die Diskrimination physikalisch abweichender Stimuli handelt, kann die N400 als semantischer Mismatch zwischen einer aufgebauten Erwartung und einem semantisch inkongruenten, unerwarteten oder niederfrequenten Stimulus interpretiert werden (vgl. LAU / PHILLIPS / POEPPEL 2008: 921; CONNOLLY / PHILLIPS 1994: 256). Solche Stimuli verursachen erhöhte neuronale Kosten, da sie Prädiktionen und Erwartungen aus dem vorangehenden Kontext verletzen und der Stimulus nicht in den semantischen Kontext integriert werden kann (vgl. KUTAS / HILLYARD 1980; LAU et al. 2009; DELONG / URBACH / KUTAS 2005; LAU / PHILLIPS / POEPPEL 2008: 921). Die N400 wird typischerweise zwischen 200 und 600 ms elizitiert und weist eine zentroparietale Ausprägung auf (vgl. KUTAS / FEDERMEIER 2011: 623). 3 PHONOLOGISCHE UND ALLOPHONISCHE VERARBEITUNG DIALEKTALER VARIATION 3.1 Forschungsüberblick In vielen neurolinguistischen Studien1 wird dialektale phonologische Verarbeitung am Beispiel der MMN-Komponente untersucht, da sie – wie Untersuchungen zwischen verschiedenen Sprachen zeigen – die Phonologie der Muttersprache widerspiegelt (vgl. z. B. NÄÄTÄNEN et al. 1997). Demnach ist die MMN-Amplitude erhöht, wenn Standard und Deviant einem Kontrast im Phonemsystem des Hörers entsprechen. Somit spiegelt die MMN auch langfristige Erinnerungsspuren, die auf sprachlicher Sozialisation und Erfahrungen basieren, wider. Aber nicht nur im Rahmen des Erstspracherwerbs, sondern auch durch das spätere Erlernen von Fremdsprachen können sprachspezifische Repräsentationen aufgebaut werden (vgl. WINKLER et al. 1999). Eine reduzierte MMN-Komponente zeigt demnach eine mangelnde Sensitivität und Reaktionsfähigkeit gegenüber nichtnativen Phonemkontrasten an. Diese sprachspezifischen Unterschiede überschreiben sogar die Tatsache, dass die Stärke der MMN grundsätzlich mit der phonetischen Abweichung von Standard und Deviant korreliert. Ein dialektaler Phonemkontrast, der intensiv untersucht wurde, ist /e/–/ɛ/ im Französischen. Während es sich hierbei im Standardfranzösischen um einen dis1
Im Weiteren werden einige neurolinguistische Studien vorgestellt, die sich mit phonologischen Kontrasten in Dialektkontaktsituationen beschäftigen. Weitere Studien zu Dialekten, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, sind z. B. FOURNIER et al. (2010) sowie WERTH et al. (2018) zu Tonakzenten, DUFOUR / BRUNELLIÈRE / NGUYEN (2013) zu /o/–/ɔ/–/u/ bei südfranzösischen Sprechern, MIGLIETTA / GRIMALDI / CALABRESE (2013) zu /e/–/i/ und [ɛ]–[e] im süditalienischen Tricase sowie BÜHLER et al. (2017) zu schweizerdeutschen Heteronymen und vokalischen Längenkontrasten. Vgl. für einen ersten Überblick auch GRIMALDI (2018) und SCHMIDT (2016).
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tinktiven Kontrast handelt, ist er im Südfranzösischen zu /e/ zusammengefallen. Letztere Tendenz zeigt sich ebenfalls bereits bei jungen Sprechern des Nordfranzösischen. BRUNELLIÈRE / DUFOUR / NGUYEN (2011) untersuchen die Deviants épée [epe] ‘Schwert’ und épais [epɛ]‘dick’ im Vergleich zum Standard épi [epi] ‘Ähre’ bei Sprechern des Standard- und Südfranzösischen. Die Ergebnisse zeigen, dass bei beiden Probandengruppen [epɛ] eine stärkere MMN-Amplitude und eine kürzere Latenz aufweist als [epe], sodass auch Sprecher des Südfranzösischen trotz des Phonemzusammenfalls eine Differenz wahrnehmen können. Allerdings weisen die beiden Probandengruppen Unterschiede hinsichtlich der kortikalen Topographie der MMN auf: Bei Standardsprechern ist die Komponente für [epɛ] frontozentral sowie bei [epe] zusätzlich rechtslateral ausgeprägt, während es bei südfranzösischen Sprechern keine Unterschiede gibt. BRUNELLIÈRE / DUFOUR / NGUYEN (2011: 49) folgern hieraus, dass bei südfranzösischen Sprechern beide Lexeme mit der gleichen semantischen Repräsentation assoziiert sind. Insgesamt kommen die Autoren zu dem Ergebnis „that access to lexical meaning in spoken word recognition depends on the listener’s native regional accent. Hence, brain networks encoding word units appear to be shaped by our various linguistic exposures“. Wie der Kontakt zu regionalen Varietäten die Perzeption beeinflusst, wird am gleichen Phonemkontrast von BRUNELLIÈRE et al. (2009) untersucht. Konkret wird gefragt, ob der Kontakt zu zusammengefallenen Phonemen sogar die Vokalperzeption von Hörern, die die Phoneme in ihrer eigenen Varietät differenzieren, beeinflusst. Hierzu wird der regional zusammengefallene /e/–/ɛ/-Kontrast mit dem überregional stabilen /ø/–/y/-Kontrast bei schweizerisch-französischen Sprechern aus Genf verglichen. Diese differenzieren die beiden Kontraste zwar, stehen allerdings häufig in Kontakt zu zusammengefallenen /e/-Varianten. Die durchgeführte MMN-Untersuchung mit Same-Different-Task zeigt einen klaren Unterschied zwischen der Verarbeitung der beiden Kontraste: Während für /e/–/ɛ/ nur eine MMN elizitiert wurde, tritt bei /ø/–/y/ zudem eine P200 auf, was BRUNELLIÈRE et al. (2009: 394) dahingehend interpretieren, dass letzterer Kontrast früher und somit leichter diskriminiert werden kann als /e/–/ɛ/. Zudem traten in der Bewertung von /e/–/ɛ/ mehr Fehler auf und sie erfolgte insgesamt langsamer als bei /ø/–/y/. Ein möglicher Grund ist, dass durch die größere Variabilität von /e/–/ɛ/ die Erinnerungsspuren der beiden Phoneme enger zusammenliegen, sodass die Diskrimination schwieriger wird. Insgesamt zeigt die Studie, dass Kontraste, die sich im Prozess des Phonemzusammenfalls befinden, perzeptiv schwieriger zu unterscheiden sind. BRUNELLIÈRE et al. (2009: 390) konkludieren, dass „regional variability in the speech input to which listeners are exposed affects the perception of speech sounds in their own accent“. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch SEBASTIÁN-GALLÉS / ECHEVERRÍA / BOSCH (2005), die den katalanischen /e/–/ɛ/-Kontrast bei katalanisch-spanischen und spanisch-katalanischen Bilingualen untersuchen. Das spanische Phoneminventar umfasst hingegen nur /e/. In einem Lexical-Decision-Experiment mussten die Teilnehmenden Wörter bewerten, bei denen es sich entweder um katalanische Lexeme oder um Nichtwörter, die durch den Austausch von /e/ und /ɛ/ generiert
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wurden, handelt. Während spanisch-dominante Sprecher Nichtwörter mit /e/ und /ɛ/ gleichermaßen bewerten, weisen katalanisch-dominante Bilinguale einen klaren Bias dahingehend auf, dass sie Nichtwörter mit /e/ signifikant häufiger als reale Lexeme akzeptieren als Nichtwörter mit /ɛ/. Dies erklären SEBASTIÁNGALLÉS / ECHEVERRÍA / BOSCH (2005: 251) durch Dialektkontakt mit spanischdominanten Bilingualen. Da es im Spanischen kein /ɛ/-Phonem gibt, verwenden spanisch-dominante Bilinguale zumeist /e/ für die katalanische /ɛ/-Kategorie (mispronunciation). Somit sind katalanische Sprecher häufig falschen Aussprachevarianten ausgesetzt, die sie infolgedessen im Experiment als reale Wörter identifizieren und akzeptieren. Im Vergleich dazu zeigen spanisch-dominante Bilinguale diese Asymmetrie nicht, da sie insgesamt Schwierigkeiten haben den /e/–/ɛ/Kontrast zu differenzieren (vgl. SEBASTIÁN-GALLÉS / ECHEVERRÍA / BOSCH 2005: 251). In einer Folgestudie mit lexikalischer Entscheidungsaufgabe untersuchen SEBASTIÁN-GALLÉS et al. (2008) die neuronale Verarbeitung des /e/–/ɛ/-Kontrastes bei katalanischen Sprechern. Die Ergebnisse zeigen Unterschiede in der N400Amplitude zwischen Wörtern und Nichtwörtern in der /e/-Bedingung (= Nichtwörter mit /ɛ/), während es keine Unterschiede zwischen katalanischen Wörtern mit /ɛ/ und Nichtwörtern mit /e/ gibt. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass katalanische Hörer die richtige und „falsche“ spanische Aussprachevariante gleich verarbeiten und beide Varianten im mentalen Lexikon der Hörer repräsentiert sind. Die Ergebnisse beider Studien legen nahe, dass die Hörer alternative lexikalische Einträge für die dialektalen Varianten aufweisen (vgl. hierzu auch LARSSON et al. 2008). Der Einfluss von Dialektkontakt auf die Perzeption wird von CONREY / POTTS / NIEDZIELSKI (2005) unterstützt, die sich mit dem Zusammenfall von /ɪ/– /ɛ/ vor Nasal in einigen Regionen Amerikas beschäftigen. In einer cross-modalen EEG-Studie wurden zwei Gruppen von Hörern (mit und ohne Zusammenfall) geschriebene Sätze mit finalem Lexem, z. B. pin ‘Nadel’, pen ‘Stift’, pain ‘Schmerz’ oder pine ‘Kiefer’ präsentiert. Die Probanden mussten entscheiden, ob ein anschließend auditiv präsentiertes Lexem dem geschriebenen entsprach oder nicht (Same-Different-Task). Die Ergebnisse zeigen Unterschiede zwischen den Gruppen: Die Gruppe, welche den Phonemzusammenfall aufweist, hat größere Schwierigkeiten, inkongruente Wortpaare zu identifizieren. Aber auch die Gruppe, die die Phoneme kontrastiert, zeigt eine höhere Fehleranfälligkeit für den /ɪ/– /ɛ/-Kontrast als für die Kontrollbedingung. CONREY / POTTS / NIEDZIELSKI (2005: 446) erklären dies über Dialektkontakt mit zusammengefallenen Varianten. Phoneme, die sich im Prozess des Zusammenfalls befinden, können selbst von Sprechern, die sie kontrastieren, schlechter differenziert werden als überregional stabile Varianten. Im EKP zeigen sich allerdings keine frühen Verarbeitungsunterschiede zwischen den Gruppen, sondern Differenzen in der late positive component (LPC), die späte Entscheidungsprozesse reflektiert (vgl. Kapitel 3.2). Die Vertrautheit mit regionalen Allophonen untersuchen BÜHLER / SCHMID / MAURER (2017) am Beispiel von /t/, welches im Standarddeutschen und Schweizerdeutschen unterschiedliche Varianten aufweist ([th] vs. [tː]). Neben der Vertrautheit mit der eigenen Variante, werden in der deutschsprachigen Schweiz bei-
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de Sprechergruppen durch Varietätenkontakt mit der jeweils anderen konfrontiert. Mit beiden Sprechergruppen wurden ein EEG-Experiment mit Oddball-Design sowie ein psycholinguistisches Experiment mit Same-Different-Task durchgeführt, jeweils mit dem Pseudowort [d̥ata] als Standard sowie [d̥atha] und [d̥atːa] als Deviants. Die Ergebnisse zeigen Unterschiede zwischen den Gruppen: die vertrautere Variante kann jeweils leichter von anderen Allophonen unterschieden werden. Zudem spiegelt sich die höhere Vertrautheit in einer reduzierten MMN, was dahingehend überraschend ist, da es die entgegengesetzte Richtung aufweist als bei Phonemkontrasten. BÜHLER / SCHMID / MAURER (2017: 769–770) erklären dies durch eine effizientere neuronale Verarbeitung von bekannten Allophonen, die nur zu geringen Prädiktionsfehlern und damit einer reduzierten MMN führt. 3.2 Interdialektales Verstehen in den bairischen Dialekten Die erste EEG-Studie, die sich mit der Sprachverarbeitung nicht-nativer regionaler Varianten in deutschen Dialekten beschäftigt, ist LANWERMEYER et al. (2016) bzw. LANWERMEYER (2019) (vgl. auch LANWERMEYER im Druck). Die zugrundeliegende Frage ist, ob während des interdialektalen Verstehens zwischen bairischalemannischen Sprechern und mittelbairischen Hörern Missverständnisse und Nichtverstehen neuronal nachgewiesen werden können, die als Auslöser für Sprachwandel gewertet werden können. Untersucht wurde dies am Beispiel des Phonems /o͡a/, welches in den beiden Dialekträumen eine unterschiedliche Phonem/Lexem-Zuordnung aufweist: Während im bairisch-alemannischen Übergangsgebiet mhd. ô und mhd. ei historisch zu /o͡a/ zusammengefallen sind, sind die beiden Phoneme im Mittelbairischen bis heute distinkt (mhd. ô > /o͡u/, mhd. ei > /o͡a/). Aus theoretischer Sicht kommt es dann zu Verstehensschwierigkeiten, wenn bairisch-alemannische Sprecher in der interdialektalen Kommunikation /o͡a/ < mhd. ô verwenden. Unterschieden werden können in diesem Zusammenhang Missverständnisse und Nichtverstehen. Erstere entstehen, „wenn sich die Bewußtseinszustände Us und Uh […] hinsichtlich der jeweils enthaltenen Funktion – Fs und Fh – voneinander unterscheiden und wenn sich H und/oder S dieser Differenz im weiteren Verlauf der Interaktion bewußt werden“ (FALKNER 1997: 83). Beim Nichtverstehen hingegen wird sich der Hörer des Kommunikationsproblems direkt bewusst, „weil keine plausible Interpretation des lautlichen Ereignisses zustande kommt“ (FALKNER 1997: 161). Der grundlegende Unterschied liegt also darin, dass beim Missverstehen durch Abgleich zwischen Verstandenem mit Gemeintem eine Diskrepanz aufgedeckt wird, während beim Nichtverstehen kein Sinnzusammenhang aufgebaut werden kann: „Es steht kein Konzept zur Verfügung, in welches das Gehörte als aktueller Referent paßt. Der Hörer weiß buchstäblich nicht, was er mit dem Gehörten anfangen soll“ (DOBRICK 1985: 101). Bezogen auf das /o͡a/-Phonem kommt es nach SCHMIDT / HERRGEN (2011: 201–212) dann zu Missverständnissen, wenn bairisch-alemannische Sprecher Lexeme mit /o͡a/ < mhd. ô verwenden, die historisch ein Minimalpaar mit Lexemen mit mhd. ei bilden (und die sich im bairisch-alemannischen Übergangsgebiet re-
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zent zu Homonymen entwickelt haben). Beispiele für solche Minimalpaare sind Brot – breit oder Rosen – Reisen. Wenn ein bairisch-alemannischer Sprecher /ro͡asn̩/ ‘Rosen’ realisiert, versucht der mittelbairische Hörer das Lexem auf Basis seiner Kompetenz zu dekodieren und versteht ‘Reisen’, sodass es zu einer Diskrepanz zwischen Gemeintem und Verstandenem und somit einem Missverständnis kommt. Bei allen anderen Lexemen mit dem /o͡a/-Phonem aus mhd. ô kommt es zum Nichtverstehen, da die mittelbairischen Hörer kein Konzept für solche Lexeme besitzen und das Gehörte nicht dekodieren können. Dies gilt beispielsweise für Stroh, rot und Mutterschwein (mhd. lôse). Mithilfe des EEG-Experiments sollten folgende Forschungsfragen beantwortet werden: 1. Lassen sich interdialektale Verstehensprobleme (Missverständnisse, Nichtverstehen) für die bairisch-alemannischen /o͡a/-Varianten nachweisen? 2. Führt die Verwendung von /o͡a/-Varianten zu erhöhten neuronalen Kosten bei mittelbairischen Hörern? 3. Werden im Vergleich dazu die Varianten /o͡u/ und /oː/, die im Bairischen nebeneinander auftreten, problemlos verstanden? Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde ein Experimentdesign mit Oddball-Paradigma gewählt und mit einer semantischen Bewertungsaufgabe kombiniert. Im Gegensatz zu den anderen in Kapitel 3.1 präsentierten EEGStudien wurden im aktuellen Experiment ganze Sätze verwendet. Studien wie BENDIXEN et al. (2014), BOULENGER et al. (2011) und MENNING et al. (2005) zeigen, dass auch bei der Präsentation von komplexen Sätzen Erinnerungsspuren aufgebaut werden. Zudem ist für die Beantwortung der Forschungsfrage ein semantischer Kontext unabdingbar, während sich die oben referierten Studien auf die reine Diskriminierbarkeit regionaler Varianten fokussieren. Der Unterschied zu anderen Studien ist, dass der /o͡a/-Kontrast in beiden Dialekträumen auftritt, allerdings mit einer anderen lexikalischen Distribution. Das Experiment umfasst drei Bedingungen: 1. Bedingung „Missverstehen“ am Beispiel von /ro͡asn̩/–/ro͡usn̩/: Beides sind Varianten für ‘Rosen’ in den Dialekträumen, d. h. /ro͡asn̩/ im bairischalemannischen Übergangsgebiet, /ro͡usn̩/ im Mittelbairischen. Die Variante /ro͡asn̩/ trägt zudem die Bedeutung ‘Reisen’ im Mittelbairischen. 2. Bedingung „Nichtverstehen“ am Beispiel von /lo͡as/–/lo͡us/: Es handelt sich um zwei dialektale Varianten für ‘Mutterschwein’, d. h. /lo͡as/ im bairischalemannischen Übergangsgebiet und /lo͡us/ im Mittelbairischen. Die Variante /lo͡as/ ist im Mittelbairischen unbekannt. 3. Bedingung „Potenzielles Verstehen“ am Beispiel von /lõ͡ũ/–/lõː/: Es handelt sich um zwei in den Dialekträumen nebeneinander auftretende Varianten für ‘Lohn’. Für alle Bedingungen wurden Sätze mit dem gleichen syntaktischen Aufbau kreiert, die jeweils ‘Rosen’, ‘Mutterschwein’ oder ‘Lohn’ primen,2 wie z. B. Was 2
Im Experiment wurden auch neutrale Sätze verwendet, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen wird. Weiterhin wurde als zusätzliche Bedingung der Standard /ro͡asn̩/ ‘Reisen’ im Vergleich zum Deviant /ro͡usn̩/ ‘Rosen’ getestet. Da diese Bedingung keiner real vorkom-
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wild in der Hecke blüht, sind Rosen. Anschließend wurden alle Sätze durch einen Online-Test evaluiert sowie von einem bairisch-alemannischen Sprecher aus Merching in den Dialekt übertragen. Durchgeführt wurde das Experiment schließlich im mittelbairischen Isen, welches östlich von München nahe Erding liegt (vgl. Abb. 2d). Insgesamt nahmen 20 (13 Frauen, Durchschnittsalter 44,5 Jahre) Dialektsprecher teil. Die Teilnehmenden hörten pro Bedingung 30 verschiedene Primingsätze, die jeweils sechsmal präsentiert wurden: viermal mit der nativen mittelbairischen Variante /ro͡usn̩/ ‘Rosen’ bzw. /lo͡us/ ‘Mutterschwein’ und zweimal mit der fremden bairischalemannischen Variante /ro͡asn̩/ bzw. /lo͡as/. In der dritten Bedingung wurde /lõː/ als Standard und /lõ͡ũ/ als Deviant präsentiert. Die Teilnehmenden des Experiments mussten jeden Satz auf einer vierstufigen Skala dahingehend bewerten, wie gut das letzte Wort in den Satzkontext passt. Die Bewertung der verschiedenen Lexeme zeigt unterschiedliche Ergebnisse.3 In der Bedingung „Missverstehen“ wurde der Standard /ro͡usn̩/ mit 1,12 als sehr passend zum Satzkontext bewertet. Der Deviant /ro͡asn̩/ hingegen wurde mit 3,72 signifikant schlechter bewertet und damit aktiv als Variante für ‘Rosen’ abgelehnt. In der Bedingung „Nichtverstehen“ wurden der Standard /lo͡us/ (M=1,74) und der Deviant /lo͡as/ (M=2,74) nicht signifikant unterschiedlich bewertet. Es ist anzunehmen, dass die Probanden unsicher waren, wie das Pseudowort4 zu bewerten ist, was sich auch an der hohen Standardabweichung von 1,3 zeigt. Wie eine Befragung nach dem Experiment bestätigt, waren sich alle Hörer zudem darüber bewusst, dass der Sprecher aus einer anderen Dialektregion kommt. Somit wurde möglicherweise erwogen, ob es sich bei /lo͡as/ um ein unbekanntes Dialektwort handelt. Bei der Bedingung „potentielles Verstehen“ schließlich wurden der Standard /lõː/ und der Deviant /lõ͡ũ/ mit 1,3 als gleich passend zum Satzkontext bewertet, sodass beide Varianten für ‘Lohn’ akzeptiert wurden. Die neuronalen Daten zeigen für die Bedingungen „Missverstehen“ und „Nichtverstehen“ ähnliche Ergebnisse, nämlich ein biphasisches Muster aus einer N200 zwischen 100 und 200 ms sowie einer Late Positive Component (LPC) zwischen 400 und 900 ms (/ro͡asn̩/) bzw. 350 und 600 ms (/lo͡as/) (vgl. Abb. 2a, 2b). Die in diesem Experiment elizitierte N200 kann als N2b kategorisiert werden, weil die Aufmerksamkeit der Probanden durch die Experimentaufgabe direkt auf die Stimuli gerichtet war. Die N2b spiegelt einen Mismatch zwischen der durch
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menden Dialektkontaktsituation entspricht, wird sie an dieser Stelle nicht präsentiert (vgl. für die Ergebnisse LANWERMEYER et al. 2016: 7–8, LANWERMEYER 2019: 198–199). Für die statistischen Werte, die an dieser Stelle nicht genannt werden, vgl. LANWERMEYER et al. (2016) und LANWERMEYER (2019). Bei einem Pseudowort handelt es sich um ein Nichtwort, welches den phonotaktischen Regeln des jeweiligen Sprachsystems folgt. Es handelt sich dementsprechend um „Lautkombinationen, die es zu einem Wort hätten bringen können, die es aber nicht bis in das […] phonematische Lexikon geschafft haben“ (RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010: 220). In diesem Sinne kann /lo͡as/ für den mittelbairischen Dialektraum als Pseudowort gewertet werden. Der Unterschied zu normalerweise in Experimenten verwendeten Pseudowörtern ist, dass /lo͡as/ im angrenzenden bairisch-alemannischen Übergangsgebiet Bedeutung trägt.
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den Satzkontext aufgebauten Erwartung bzw. Erinnerungsspur und dem tatsächlich wahrgenommenen Deviant wider. Die Komponente zeigt somit die aktive Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen Standard und Deviant an, die als aktive Fehlererkennung bezeichnet werden kann. Die späte Positivierung (LPC) kann im Rahmen dieses Experiments als eine P300 interpretiert werden. Diese tritt typischerweise in Oddball-Paradigmen auf, wenn die Probanden ihre Aufmerksamkeit auf die kritischen Items lenken müssen. Die Komponente zeigt somit eine aufgabenrelevante Evaluation und Kategorisierung der Deviants an (vgl. z. B. BENTIN et al. 1999: 251, BOHN et al. 2013: 769). Um die Experimentaufgabe zu erfüllen, mussten die Probanden die Stimuli kategorisieren und entscheiden wie gut das satzfinale Item in den Satzkontext passt. Somit kann die P300 als aufgabenrelatierte Evaluation und Kategorisierung des zuvor entdeckten Fehlers (N2b) interpretiert werden. Zudem spiegelt die P300 den Reanalyseprozess wider, da durch ein unerwartetes satzfinales Item eine Reanalyse der zuvor aufgebauten Satzstruktur notwendig wird (vgl. DOMAHS et al. 2008: 27–28). In der Bedingung „potentielles Verstehen“ wurden hingegen keine N200 und LPC elizitiert, sondern zwei reduzierte Negativierungen zwischen 250 und 350 ms sowie 400 und 500 ms. Interpretiert werden können diese Effekte als Wahrnehmung der phonetischen Differenz zwischen Standard und Deviant, die allerdings zu keiner Fehlererkennung führt. Wie auch die Bewertungsdaten andeuten, wird der Deviant /lõ͡ũ/ als Allophon zur eigenen Variante akzeptiert und verarbeitet. Insgesamt zeigen die Daten erhöhte neuronale Kosten für Lexeme, die /o͡a/ < mhd. ô aufweisen. Diese können als interdialektale Verstehensprobleme interpretiert werden, was durch die Bewertungsdaten noch unterstützt wird. Während /ro͡asn̩/ aktiv als Variante für ‘Rosen’ abgelehnt wird, ist das Pseudowort /lo͡as/ für die Probanden schwer zu kategorisieren. Im Gegensatz dazu wird der Kontrast /o͡u/–/oː/ interdialektal akzeptiert und allophonisch verarbeitet. Der Wandel von /o͡a/ zu /o͡u/ bzw. /oː/ ist demnach eine sinnvolle Strategie um neuronale Kosten in der interdialektalen Kommunikation zu reduzieren. Die frühe Negativierung (N2b) für /ro͡asn̩/ ist insofern überraschend, als durch das Priming von ‘Rosen’ und dem anschließend präsentierten Deviant /ro͡asn̩/ ‘Reisen’ ein semantischer Mismatch entsteht, sodass eine N400 erwartbar gewesen wäre. Diese Annahme wird dadurch unterstützt, dass mit dem gleichen Studiendesign für Bedingungen, die keinen Dialektkontakt widerspiegeln, eine N400 nachgewiesen werden konnte. Dies betrifft einerseits den Standard /ro͡asn̩/ ‘Reisen’ vs. Deviant /ro͡usn̩/ ‘Rosen’ – einer anderen Bedingung dieses Experiments – sowie andererseits den Standard /loːs/ ‘Los’ vs. Deviant /la͡us/ ‘Laus’, einer Bedingung des identisch aufgebauten Experiments im Rheinfränkischen (vgl. LANWERMEYER 2019: 215–228). Somit scheint ein zentraler Einflussfaktor für den Latenzunterschied der Dialektkontakt zu sein (vgl. für eine detaillierte Diskussion weiterer möglicher Einflussfaktoren, wie Frequenz, Unterspezifikation oder Peripherizität der Diphthonge LANWERMEYER 2019: 199–206). Im folgenden Kapitel wird der Dialektkontakt als Einflussfaktor auf die Sprachverarbeitung näher beschrieben.
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a)
Missverstehen
b)
Nichtverstehen
c)
Potentielles Verstehen
d)
Aufnahme- und Experimentort
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Abb. 2: Grand Averages der ereigniskorrelierten Potentiale für a) den Standard /ro͡ usn̩ / ‘Rosen’ und den Deviant /ro͡asn̩ / ‘Reisen’ (Bedingung „Missverstehen“), b) den Standard /lo͡ us/ ‘Mutterschwein’ und den Deviant /lo͡as/ (Pseudowort) (Bedingung „Nichtverstehen“), c) den Standard /lõː/ ‘Lohn’ und den Deviant /lõ͡ũ/ (potentiell allophonische Variante) (Bedingung „Potentielles Verstehen“) sowie d) Übersicht über Aufnahme- und Experimentort mit Überblendung des bairisch-alemannischen Übergangsgebiets nach WIESINGER (1983).
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4 SPRACHVERARBEITUNG IM DIALEKTKONTAKT Die verschiedenen vorgestellten Studien zeigen, dass Dialektkompetenz und Dialektkontakt einen Einfluss auf die Sprachverarbeitung haben. Beispielsweise können Phoneme, die sich im Prozess des Zusammenfalls befinden, schlechter differenziert werden als stabile Phonemkontraste. Dies betrifft einerseits Sprecher, deren Kompetenz nur eines der Phoneme umfasst, und andererseits sogar Sprecher, die den Kontrast selbst aufweisen, allerdings häufig in Kontakt zu zusammengefallenen Varianten stehen (vgl. BRUNELLIÈRE et al. 2009; CONREY / POTTS / NIEDZIELSKI 2005). Weiterhin legen bisherige Studien nahe, dass der Kontakt zu regionalen Aussprachevarianten zu der Bildung neuer alternativer Lexikoneinträge führen kann (vgl. LARSSON et al. 2008; SEBASTIÁN-GALLÉS et al. 2008). Dieser Umstand würde auch die fehlende N400 für den Deviant /ro͡asn̩/ erklären, da durch die Annahme eines zweiten Lexikoneintrags /ro͡asn̩/ als regionale Variante für ‘Rosen’ keinen semantischen Mismatch auslösen würde. Um den konkreten Einfluss von Dialektkontakt auf die Sprachverarbeitung zu verstehen, sind allerdings weitere Studien notwendig. In einem weiteren Schritt sollte die Sprachverarbeitung in Dialektkontaktsituationen auch aus theoretischer Sicht modelliert werden. Einen möglichen Ansatz hierzu liefern PICKERING / GARROD (2013), die Sprachproduktion und -perzeption in einem gemeinsamen Modell unter Zuhilfenahme von Vorwärtsmodellen beschreiben. Die Grundidee ist, dass, basierend auf eigenen potentiellen Handlungen, Sprecher und Hörer eigene und fremde (Sprach)handlungen vorhersagen und mit ihrer tatsächlichen Produktion und Perzeption abgleichen. In diesem Kontext ahmen Vorwärtsmodelle das Verhalten motorischer Systeme in Reaktion auf ein Motorkommando nach und simulieren die kausale Beziehung zwischen Handlungen und ihren Konsequenzen (vgl. MIALL / WOLPERT 1996: 1265; WOLPERT / GHAHRAMANI 2000: 1212). Beispielsweise werden Vorwärtsmodelle für die sensomotorische Kontrolle, d. h. die Interaktion zwischen Motorkommandos und sensorischen Signalen, angenommen. In einem sensomotorischen Kreislauf bewirken Motorkommandos Muskelkontraktionen, welche sensorisches Feedback liefern, das sich auf zukünftige Motorkommandos auswirkt (vgl. WOLPERT / DOYA / KAWATO 2003: 593). Um präzise Bewegungen, wie z. B. Armbewegungen, ohne Zeitverzögerungen ausführen zu können, sind Vorwärtsmodelle vonnöten. PICKERING / GARROD (2013) beschreiben diesen Kreislauf am Beispiel der Sprachproduktion: Basierend auf einem Motorkommando produziert ein Sprecher eine Äußerung, welche er währenddessen selbst wahrnimmt und verarbeitet, sodass ein Perzept der Äußerung generiert wird. Parallel schätzen Vorwärtsmodelle den Fortlauf der Äußerung mit dem Ergebnis eines vorhergesagten Äußerungsperzepts. Ein Vergleich zwischen vorhergesagtem und tatsächlichem Äußerungsperzept offenbart schlussendlich mögliche Diskrepanzen (Prädiktionsfehler). In diesem Fall kann entweder das Vorwärtsmodell oder das folgende Motorkommando angepasst werden. Ein Beispiel hierfür sind Versprecher, bei denen Sprecher einen Mismatch zwischen intendierter/vorhergesagter Äußerung und tatsäch-
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lichem Output wahrnehmen und sich daher selbst korrigieren. Nach PICKERING / GARROD (2013: 338) generieren Sprecher verschiedene Perzepte für die linguistischen Ebenen, wie Syntax, Semantik und Phonologie, sodass diese auch separat verglichen werden. Vorwärtsmodelle können auch für die Perzeption von Handlungen angenommen werden, indem „other’ actions are decoded by activating one’s own action system at a sub-threshold level“ (WOLPERT / DOYA / KAWATO 2003: 593). Hierbei unterscheiden PICKERING / GARROD (2013) die simulation route und die association route. Bei der simulation route basiert das Sprachverstehen auf Erfahrungen, die Hörer mit ihrer eigenen Sprachproduktion gemacht haben. Die Hörer generieren eine Vorhersage über den Fortlauf einer Äußerung, indem sie einbeziehen, was sie selbst unter diesen Umständen sagen würden. Hierzu imitieren sie die Äußerung verdeckt, wobei auch der Kontext mit einbezogen wird, um vorherzusagen, was der Interaktionspartner sagen wird. Dieser Kontext kann beispielsweise Informationen über verschiedene Sprachsysteme der Interagierenden implizieren. Bei der association route hingegen basiert das Sprachverstehen auf Erfahrungen, die Hörer während des Sprachverstehens anderer Sprecher gemacht haben. PICKERING / GARROD (2013: 346) zufolge kann während des Sprachverstehens einer der beiden Verstehenswege hervorgehoben werden. Die simulation route wird v. a. dann betont, wenn die Interaktionspartner einander ähneln, z. B. bezüglich Bildung, kulturellem Hintergrund oder Dialekt. Im Vergleich dazu wird die association route betont, wenn sich die Interaktionspartner weniger ähneln, z. B. durch unterschiedliche Muttersprachen. Die beiden Varianten können aber auch kombiniert werden: „Informally, for example, if I see that you are about to speak, I can predict your utterances by combining my experiences of how people like you have spoken and my experiences of how I have spoken under similar circumstances” (PICKERING / GARROD 2013: 346). Diese Kombination von simulation route und association route kann auch für Dialektkontaktsituationen angenommen werden. Bezogen auf den Kontakt zwischen dem bairisch-alemannischen Übergangsgebiet und dem Mittelbairischen am Beispiel von /ro͡asn̩/ kann argumentiert werden, dass die mittelbairischen Hörer einerseits von ihrer eigenen Sprachproduktion ausgehen. Dies wird durch die Bewertungsdaten gestützt: /ro͡asn̩/ wird als Variante für ‘Rosen’ klar abgelehnt, da die Hörer ihre eigene Variante /ro͡usn̩/ erwarten/vorhersagen (simulation route). Die Hörer beziehen aber zudem den Kontext, d. h. den Interaktionspartner und damit Unterschiede zwischen den Sprachsystemen, mit ein und generieren eine Vorhersage darüber, was der Sprecher sagen wird. Den Hörern ist bewusst, dass der Sprecher aus einer anderen Dialektregion kommt. Sprecher und Hörer ähneln sich somit in Bezug auf den Dialekt weniger stark, sodass die association route ausgeprägt sein könnte. In diesem Fall beziehen die Hörer frühere Erfahrungen, die sie während des Sprachverstehens im bairisch-alemannischen Übergangsgebiet gemacht haben, mit in ihr Sprachverstehen ein. In diesem Sinne könnte auch die reduzierte N200 für /ro͡asn̩/ erklärt werden. Der Prädiktionsfehler zwischen erwartetem und wahrgenommenen Äußerungsperzept ist durch den Kontakt zu den nicht-nativen Varianten geringer. Dieser Zusammenhang ist für /lo͡as/ weniger
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relevant, weil es sich um ein niederfrequentes Lexem aus der landwirtschaftlichen Domäne handelt, mit dem die Hörer seltener in Kontakt kommen. Ob der Kontakt hingehen zu einer Bildung alternativer Lexikoneinträge für /ro͡asn̩/–/ro͡usn̩/ ‘Rosen’ bzw. /lo͡as/–/lo͡us/ ‘Mutterschwein’ geführt hat, wie auf Basis der fehlenden N400 angenommen werden könnte, lässt sich anhand der vorliegenden Ergebnisse nicht eindeutig bestimmen. Hierzu wären weitere Experimente notwendig. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der untersuchten Studien, dass die Vertrautheit mit dialektalen Varianten, wie sie durch Dialektkontakt entsteht, Einfluss auf die Verarbeitung phonologischer Kontraste hat. Regionale Variation zeichnet sich aber größtenteils auch durch phonetische Variation aus. Die Ergebnisse für den allophonischen /õː/–/õ͡ũ/-Kontrast legen nahe, dass beide Varianten problemlos verstanden und für die Bedeutung ‘Lohn’ akzeptiert werden. Ein Vergleich des tatsächlichen und vorhergesagten Äußerungsperzepts ergibt keinen Prädiktionsfehler, sondern eine weitgehende Übereinstimmung, wie sich in den fehlenden EKP-Komponenten (N200, LPC) zeigt. Gleiches gilt für den in einer Vergleichsstudie untersuchten /oː/–/o͡u/-Kontrast im Rheinfränkischen. Die Ergebnisse zeigen keine Effekte für den Deviant /ro͡uzə/ ‘Rosen’ im Vergleich zum Standard /roːzə/. Auch werden wie bei /lõː/–/lõ͡ũ/ ‘Lohn’ beide Varianten als passend zum Satzkontext bewertet und somit als Variante für die Bedeutung ‘Rosen’ akzeptiert (vgl. LANWERMEYER 2019: 225–228). Zudem weisen BÜHLER / SCHMID / MAURER (2017) eine reduzierte MMN-Komponente für vertrautere Allophone, die nur zu geringen Prädiktionsfehlern führen, im Gegensatz zu weniger vertrauten phonetischen Varianten nach. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bisher vorliegenden Studien erste Ergebnisse zur Verarbeitung regionaler phonetisch-phonologischer Variation liefern. So wird in Ansätzen gezeigt, welchen Einfluss Dialektkompetenz und Dialektkontakt auf die Sprachverarbeitung haben. Allerdings steht die Zusammenarbeit der Disziplinen Dialektologie/Variationslinguistik und Neurolinguistik erst am Anfang, sodass weitere Studien notwendig sind, um ein umfassendes Bild von der Verarbeitung regionaler Variation auf verschiedenen linguistischen Ebenen zu erhalten. LITERATURVERZEICHNIS ALHO, KIMMO (1995): Cerebral generators of mismatch negativity (MMN) and its magnetic counterpart (MMNm) elicited by sound changes. In: Ear & Hearing 16/1, 38–51. AUER, PETER / BIRGIT BARDEN / BEATE GROSSKOPF (1996): Dialektanpassung bei sächsischen „Übersiedlern“ – Ergebnisse einer Longitudinalstudie. In: BORETZKY, NORBERT / WERNER ENNINGER / THOMAS STOLZ (Hg.): Areale, Kontakte, Dialekte. Sprache und ihre Dynamik in mehrsprachigen Situationen. Beiträge zum 10. Bochum-Essener Symposium „Areale, Kontakte, Dialekte. Sprache und ihre Dynamik in mehrsprachigen Situationen“ vom 30.6.– 01.07.1995 an der Universität GH Essen. Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer (Bochum-Essener Beiträge zur Sprachwandelforschung. 24), 139–166.
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AKKOMMODATION GEOSTATISTISCH Guido Seiler / Simon Pröll 1 HERANFÜHRUNG Akkommodation ist ein Sprach- bzw. Varietätenkontaktphänomen, in dessen Rahmen Sprecherinnen und Sprecher die Unterschiede zwischen ihren idiosynkratischen Sprachproduktionen ein Stück weit überbrücken (TRUDGILL 1983, 1986; GILES / COUPLAND / COUPLAND 1991; SCHMIDT / HERRGEN 2011). Während Akkommodation vielfach für Dialektübergänge angenommen (zum Beispiel RUOFF 1980; BÜCHERL 1999) oder generell in Einzelstudien beschrieben (zum Beispiel KIM /HORTON / BRADLOW 2011) wurde, stand die quantitativempirische Verifikation in Sprachatlanten und anderen Korpora bislang mangels entsprechender technischer Möglichkeiten noch aus. In den letzten Jahren wurde die Variationslinguistik jedoch mittels der Entwicklung von detaillierteren quantitativen und qualitativen Forschungsinstrumenten (wie der Faktorenanalyse räumlicher Daten, vergleiche PICKL 2013; PRÖLL 2015) erstmalig in die Lage versetzt, feingliedrige und dabei statistisch valide Analysen von räumlichen Kontakt- und Übergangsgebieten vornehmen zu können. Daher werden hier die Akkommodationsstrategien basisdialektaler Sprecherinnen und Sprecher quantitativ-empirisch sowie sprachwandeltheoretisch analysiert und interpretiert: Dabei wird deutlich, dass a) im bundesdeutschen Raum insbesondere in Übergangszonen zwischen größeren Dialektarealen (unabhängig von der Bevölkerungsdichte) vermehrt erhöhte Standardnähe zu beobachten ist sowie b) sich dieser Befund für die Deutschschweiz nicht replizieren lässt. Der Beitrag schließt mit dem Vorschlag einer Typologie von Akkommodationsszenarien, die sich aus der Diskussion dieser Befunde ergeben. 2 WAS IST AKKOMMODATION? Mit TRUDGILL (1983: 143) verstehen wir unter Akkommodation „adjustments in pronunciation and other aspects of linguistic behavior in terms of a drive to approximate one’s language to that of one’s interlocutor“ (ähnlich GILES 2001: 193). Das theoretische Konzept der Akkommodation (vornehmlich in der angelsächsischen Linguistik beheimatet) ist eng verwandt mit dem Konzept der Synchronisierung (vornehmlich in der deutschsprachigen Linguistik beheimatet und hier vor allem in der Marburger Schule), enger vielleicht, als die existierende Lite-
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ratur suggeriert (die nur wenige gegenseitige Bezugnahmen zeigt). Synchronisierung ist definiert als „Abgleich von Kompetenzdifferenzen im Performanzakt mit der Folge einer Stabilisierung und/oder Modifizierung der beteiligten aktiven und passiven Kompetenzen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 28). SCHMIDT / HERRGEN (2011: 27, Fußnote 19) folgend sind die Konzepte Akkommodation und Synchronisierung folgendermaßen abzugrenzen: Einerseits ist der Synchronisierungsbegriff auf Kompetenzunterschiede und deren Überbrückung fokussiert, während unter Akkommodation jegliches im weitesten Sinne adressatenbeeinflusstes sprachliches Verhalten zu subsumieren ist. Überbrückung von Kompetenzunterschieden wird auch in vorliegendem Beitrag eine zentrale Rolle spielen. Andererseits ist der Akkommodationsbegriff spezifischer, da die Akkommodationsforschung in der Praxis zumindest implizit davon ausgeht, dass Akkommodationsphänomene (und ihre Konsequenzen im Sprachwandel) eine abgrenzbare, besondere Phänomenklasse darstellen. Diese entsteht beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Dialekte oder Varietäten (vergleiche den Buchtitel TRUDGILL 1986, „Dialects in Contact“). Akkommodationsphänomene sind besonders erklärungsbedürftig, wobei zu ihrer Erklärung weitere, zum Beispiel außersprachliche Faktoren herangezogen werden. Im Synchronisierungsansatz dagegen wird der Synchronisierungsakt gewissermaßen als eine Konstante angesehen, die jeglicher sprachlicher Interaktion zugrundeliegt, und dadurch schon selbst als ein Explanans: Sprachkompetenz, -wandel und -variation sind allesamt das Ergebnis der andauernden, meist unbewussten Synchronisierungsaktivität zwischen den Sprecherinnen und Sprechern. Während also im Akkommodationsansatz auch nichtakkommodierende Interaktion denkbar ist, ergibt im Synchronisierungsansatz die Vorstellung einer nicht-synchronisierenden Interaktion eigentlich keinen Sinn, da das Überbrücken von Kompetenzunterschieden und ein mögliches Update der eigenen Kompetenz ohnehin den Normalfall, ja eigentlich den einzigen Fall darstellt. Wie sich im Folgenden zeigen wird, werden wir relativ konservativ vorgehen, das heißt, die Vorgänge beim Zusammentreffen von unterschiedlichen Dialekten eben doch als eine besondere, erklärungsbedürftige Phänomenklasse herausgreifen (und am Ende die für Bayerisch-Schwaben und die Deutschschweiz unterschiedlich strukturierten Daten mit starkem Bezug auf außersprachliche Faktoren – nämlich unterschiedlichen kulturellen Normen – erklären). Wir betrachten daher die folgenden Ausführungen in erster Linie als Beitrag zur Akkommodationsforschung. TRUDGILL (1986) diskutiert eine größere Zahl an qualitativen Fallstudien, die jeweils das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Varietäten (oder auch nur unterschiedlicher Varianten) als Ausgangspunkt haben, und zeigt anhand dieser die Grundmechanismen von Akkommodation auf; auf der Ebene einzelner linguistischer Merkmale etwa deren Diffusion (Seite 42), die Bildung von Zwischenformen (Seite 60) oder von hyperdialektalen Formen (Seite 66); auf der Ebene von Gesamtvarietäten die Eliminierung von markierten Formen (levelling, Seite 98), Simplifizierung (Seite 102) oder Refunktionalisierung als soziale Marker
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(reallocation, Seite 118). Der gemeinsame Nenner all dieser Akkommodationsphänomene ist:1 Akkommodation (erste Version): Bei Aufeinandertreffen konkurrierender Varianten tendieren SprecherInnen dazu, die Anzahl dieser Varianten zu reduzieren. Die spektakulärsten Beispiele hierfür sind Situationen der new dialect formation (TRUDGILL 1986: Kap. 3–4), wo in relativ kurzer Zeit SprecherInnen mit ganz unterschiedlichen Herkunftsdialekten eine Sprechgemeinschaft bilden und innerhalb von drei Generationen eine genuin neue Varietät entsteht, zum Beispiel in neu gegründeten Industriestädten oder in kolonialem Kontext: In dialect contact and dialect mixture situations there may be an enormous amount of linguistic variability in the early stages. However, as time passes, focusing takes place by means of a reduction of the forms available. This reduction takes place through the process of koinéization, which consists of the levelling out of minority and otherwise marked speech forms, and of simplification, which involves, crucially, a reduction in irregularities. TRUDGILL (1986: 107; Hervorhebung im Original)
Gut dokumentiert ist dies etwa für Høyanger (Norwegen, vergleiche TRUDGILL 1986: 95–106), Milton Keynes (England, vergleiche KERSWILL 2010) und Longyearbyen (Spitzbergen, vergleiche MÆHLUM 1992) – daneben sind Akkommodationsphänomene aber auch unter kontrollierten Experimentalbedingungen nachgewiesen und dokumentiert, man vergleiche zum Beispiel KIM / HORTON / BRADLOW (2011). Es existieren also (zum Teil schon seit Jahrzehnten) – – –
theoretische Modelle zur Akkommodation bzw. Synchronisierung, eine Reihe qualitativer Fallstudien zu augenfälligen Phänomenen sowie unter Laborbedingungen erbrachte Nachweise von Akkommodationsprozessen.
Wenn Akkommodation aber ein normaler und alltäglicher Vorgang ist, sollten wir dann nicht in der Lage sein, Akkommodationsphänomene auch in weniger spektakulärem Umfeld, d. h. in klassischen Dialektkontinua, identifizieren zu können? Sind Akkommodationsphänomene in (aus Dialektologensicht) grundständigen Atlasdaten sichtbar? Grundsätzlich dürfte dies zu erwarten sein, denn – wieder TRUDGILL (1986) folgend – auch im Dialektkontinuum greifen grundsätzlich dieselben Akkommodationsmechanismen: „But how exactly are linguistic forms transmitted from one 1
Dabei kann man auch reallocation als Reduktion der Variantenkonkurrenz auffassen: Denn wenn die Varianten refunktionalisiert werden, besteht ja keine echte Variantenkonkurrenz mehr.
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geographical area to another at the level of the individual speaker? The best explanation would appear to lie in the theory of linguistic accommodation“ (TRUDGILL 1986: 39; Hervorhebung im Original). Aus einer sprachgeographischen Perspektive müssten Akkommodationsphänomene in erster Linie dort relevant werden, wo gehäuft unterschiedliche Formen aufeinander treffen, also in Zonen, die man klassisch gesprochen als Übergangsgebiete oder Isoglossenbündel bezeichnen kann: Hier sind die SprecherInnen automatisch sprachlichen Varianten ausgesetzt, die nicht ihrer eigenen Produktion entsprechen. Somit sind auch hier die Ausgangsbedingungen grundsätzlich gegeben, in denen Akkommodationsphänomene zu erwarten sind. Man kann Übergangsgebiete daher als eine Art Laboratorium nutzen, um zu studieren, wie sich SprecherInnen in Konfrontation mit Fremdvarianten, gewissermaßen unter Akkommodationsdruck, verhalten. Dass solcher Akkommodationsdruck freilich ganz unterschiedliche linguistische Konsequenzen nach sich ziehen kann, stellte bereits RUOFF (1980: 100; mit Bezug auf GROSSE 1965) fest: „Zwischen geschlossenen „Formenkreisen“ finden sich an Nahtstellen sehr häufig Kontaminationsformen, oder auch ein charakteristisches (eventuell aber nur vorübergehendes) Ausweichen auf die umgangssprachliche Form“. Wenn also die oben, zunächst mit Blick auf Extrembeispiele der new dialect formation formulierte Generalisierung der Variantenreduktion bei Konfrontation mit (zu) vielen konkurrierenden Varianten zutrifft, müssten an „Übergangszonen“ ebenfalls vergleichbare Akkommodationsphänomene zu beobachten sein. Möglicherweise sind aber die relevanten Muster so schwach, dass wir sie mit bloßem Auge nicht so leicht entdecken können. Mittlerweile stehen jedoch statistische Verfahren zur Verfügung, die auch sehr schwache Muster in räumlicher Variation analysierbar machen können. 3 EMPIRIE 3.1 Mit welchem Werkzeug arbeiten wir? Akkommodationsphänomene sollten also auch zum Beispiel in den Daten von Sprachatlanten messbare Reflexe hinterlassen. Es ist damit zu rechnen, dass diese Reflexe schwach ausfallen und bei der Datenerhebung, -auswertung und -interpretation nicht im Fokus standen – deswegen wurden sie übersehen oder eventuell sogar als Störgrößen angesehen. Zur Analyse großer variationistischer Datenmengen werden im Regelfall quantitative, dimensionsreduzierende Verfahren eingesetzt. Unter der Vielzahl an derartigen Methoden sind für diesen Zweck Verfahren vorzuziehen, die auch schwache Regelmäßigkeiten (unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle) erfassen können. Dafür hat sich insbesondere die Faktorenanalyse bewährt: LEINO / HYVÖNEN (2008) sprechen sich – basierend auf einem Vergleich mit u. a. der Hauptkomponentenanalyse, der Unabhängigkeitsanalyse und der nicht-negativen Matrix-Faktorisierung – dafür aus, in geolinguistischen Kontexten die Fak-
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torenanalyse als Standardverfahren einzusetzen; LEINONEN (2010) zufolge sind ihre Ergebnisse bei Schwankungen in der Datenbasis robuster als Ergebnisse von Hauptkomponentenanalysen. PICKL / PRÖLL (2019b) zeigen anhand exemplarischer Analysen zum bayerischen Sprachraum, inwiefern sie – zumindest bei der Anwendung auf „klassische“ Dialektatlanten – im Vergleich mit Multidimensionaler Skalierung und Clusterverfahren nicht nur deutlich größere Anteile der Gesamtvariation erfassen kann, sondern dadurch insbesondere auch schwächere, aber eindeutige Korrelationen in den Daten aufdecken kann. Im Rahmen einer Faktorenanalyse werden Kookkurrenzen von Varianten ermittelt, die sich anschließend in Form von Karten visualisieren lassen. Die Grundidee ist die Folgende: Wenn eine gewisse Zahl an Varianten häufig gemeinsam an denselben Orten auftritt, dann ist es nicht notwendig, jedes einzelne Vorkommen jeder Variante einzeln zu erfassen. Stattdessen werden die Korrelationen der Variantenverteilungen untereinander ermittelt. So lässt sich durch einen sogenannten Faktor ausdrücken, wie ähnlich sich die Varianten im Raum verhalten. Faktoren sind also eine statistische Erfassung von Gemeinsamkeiten in den Daten. Diese zunächst rein deskriptiven Abstraktionen können im Anschluss als Basis interpretativer Verfahren dienen (siehe exemplarisch unten). Ein Faktor setzt sich jeweils aus Faktorl a d u n g e n und aus Faktorw e r t e n zusammen. Die Faktorladung ist in unserem Fall ein Wert pro Ort und gibt an, wie wahrscheinlich dort Varianten auftreten, die zu diesem Faktor zugeordnet wurden. Die Faktorwerte betreffen die Varianten; sie quantifizieren, wie stark jeweils eine Variante mit dem Faktor assoziiert ist. Die Faktorladungen lassen sich pro Ort kartieren – die Karte visualisiert dann, wie klar (bzw. wie wahrscheinlich) ein Anteil der Varianten (der sich über die Faktorwerte ermitteln lässt) gemeinsam über den Raum verteilt auftritt. Karte 1 zeigt die Kartierung eines einzelnen Faktors aus Analysen zum „Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben“ (SBS). Datenbasis waren insgesamt 2 155 Variablen aus Wortschatz, Lautung und Formen (vergleiche ausführlicher PRÖLL 2015: 41–43). Die keilförmige kräftigere Einfärbung vom Nordwesten des Untersuchungsgebiets in ihr Zentrum hinein zeigt an, dass die Ladungen hier höher sind als im Rest des Areals. Auf Basis der räumlichen Gestalt dieser Korrelationen innerhalb der Daten könnte man diesen Faktor als „Nordostschwäbisch“ bezeichnen. (Das ist bereits ein interpretatorischer Akt. Der Faktor selbst ist lediglich eine Abstraktion von objektiv vorhandenen Korrelationen in der Datenstruktur, die Bezeichnung „Nordostschwäbisch“ ist dagegen nicht auf irgendeine Art datenimmanent zwingend, sondern eine interpretative, subjektive Zuschreibung von außen.) Die durch diesen spezifischen Faktor zusammengefassten Varianten sind für das von ihm angezeigte Areal typischer als für den Rest des Untersuchungsgebiets. Insgesamt werden allein durch diesen Faktor 12,40 % der Gesamtvariation in den zugrundeliegenden Daten erfasst.
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Karte 1: SBS-Faktor „Nordostschwäbisch“, 12,40 % erfasste Variation
Wichtig ist: Dass dieser Faktor eine räumlich zusammenhängende Struktur hat, ist den Daten geschuldet, nicht der Methode. Es darf darin eine Bestätigung des „Fundamental Dialectological Postulate“ (NERBONNE / KLEIWEG 2007) gesehen werden, das voraussagt, dass linguistischer und geographischer Abstand im Regelfall korrelieren (vgl. auch den Zusammentrag diesbezüglicher Fallstudien in NERBONNE 2010 sowie zur Kritik und Ergänzung SZMRECSANYI 2012 sowie PRÖLL i. V.). Die Faktorenanalyse ist gegenüber der räumlichen Dimension der Daten blind, da die räumlichen Abstände der Datenpunkte zueinander nirgends in die Berechnungen mit eingehen – erst die Kartierung erfolgt mittels Rauminformationen.2 Kartiert man nun alle Faktoren3 einer Faktorenanalyse so, dass jeweils der stärkste, „dominante“ Faktor pro Ort sichtbar wird, erhält man Gesamtkarten wie
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Die titelgebende „Geostatistik“ wird hier also im weiteren Sinne verstanden, als Anwendung statistischer Methoden auf Daten, die eine Raumkomponente haben (vergleiche zur Diskussion PICKL / PRÖLL 2019a: 864–868). Die Anzahl der Faktoren, die aus den Daten zu extrahieren ist, ist grundsätzlich – wie bei Verfahren der hierarchischen Clusteranalyse – frei wählbar. Das wirkt willkürlich, ist es aber nicht: Zum einen ist eine sinnvolle Anzahl operationalisierbar, vergleiche zum Beispiel PRÖLL / PICKL / SPETTL (2015, 249) – im konkreten Fall wurde die Faktorenzahl über den Eigenwert geregelt, jeder Faktor muss mindestens das Äquivalent der gesamten Variation erfassen, die im Datensatz zu einem Ortspunkt vorliegt. Zum anderen bleibt – etwa im Gegensatz zur hierarchischen Clusteranalyse – ab einer gewissen Anzahl an Faktoren die Gesamtanalyse weitgehend stabil, da zusätzliche Faktoren jeweils zusätzliche, immer kleinere Variationsan-
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Karte 2. Auch hier ist die Farbintensität ein Indiz für die lokale Stärke des Faktors: Der ladungsstarke Teil des oben diskutierten „nordostschwäbischen“ Faktors tritt ockerfarben hervor, im Nordosten geht er fließend in den angrenzenden nordbairischen Faktor (türkis) über, was durch Aufhellung der beiden Faktoren im Übergangsgebiet angezeigt ist; südwestlich geht er in den mittelostschwäbischen Faktor über. Schärfere Grenzen (bzw. schwächere Übergangsbereiche) zeigen sich dagegen zum Beispiel am Westrand des mittelbairischen Faktors (grün): Hier endet die Ausbreitung bairischer Varianten am Lech nördlich von Augsburg (auf der Karte Ortspunkt 122) abrupt. An Übergängen zwischen den einzelnen Faktoren, die sich als Bündelung von Variantenverbreitungen – also als Varietäten – konzeptionalisieren lassen, werden zur optischen Abgrenzung dünne gelbe „Isoglossen“ eingezeichnet, die rein aus den Faktorenwahrscheinlichkeiten emergieren.
Karte 2: Dominante Faktoren des SBS, 59,90 % erfasste Variation
Dieser Typus an Gesamtdarstellung ist eine kompakte und gleichzeitig informationsdichte Art, die Hauptzüge der Raumstrukturen innerhalb eines Datensatzes darzustellen. Der Vergleich zwischen der Karte aller dominanten Faktorenausprägungen (Karte 2) und der eines Einzelfaktors (Karte 1) macht aber auch deutlich, dass in der Gesamtdarstellung Informationen unsichtbar werden, die durch die Faktorenanalyse grundsätzlich zugänglich wären.
teile erfassen, statt eine „Neuaufteilung“ der Gesamtvariation zu erzwingen (vergleiche PICKL / PRÖLL 2019b: 31).
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3.2 Akkommodationsszenario Bayerisch-Schwaben Genau dieser Typus an Information, der im Vergleich zu den starken, varietätenkonstituierenden Anteilen der Variation quasi „unterschwellig“ erscheint, ist für unser hier verfolgtes Ziel interessant. Unter den Faktoren Bayerisch-Schwabens findet sich ein schwächerer Faktor (Karte 3), der insgesamt noch 0,75 % der Gesamtvariation erfasst4 und lediglich in Augsburg und dem angrenzenden Lechhausen (ehemals eigenständig, heute ein Ortsteil Augsburgs) stärkster Faktor ist. Im Vergleich mit dem „nordostschwäbischen“ Faktor aus Karte 1 zeigen sich insbesondere zwei Unterschiede: Erstens sind manche Bereiche rötlich eingefärbt. An diesen Orten ist die Faktorladung negativ, das heißt, hier ist es besonders unwahrscheinlich, auf mit dem Faktor assoziierte Varianten zu treffen. Zweitens hat dieser Faktor kein klar zusammenhängendes Verteilungsmuster, sondern scheint geographisch mehr oder weniger zufällig verteilt zu sein. Das zugrundeliegende Muster liefert hier nicht der Raum – zum Verständnis sind in Karte 3 die Namen der Orte mit besonders hohen Ladungen angegeben.
Karte 3: Einzelfaktor des SBS, 0,75 % erfasste Variation, mit Namen hoch ladender Orte
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Der Faktor erfasst damit immer noch das Äquivalent der Varianz von mehr als zwei Ortspunkten (vgl. Fußnote 3). Zur Belastbarkeit der Interpretation schwächerer Faktoren siehe ausführlich PICKL (2013: 160–163 sowie 176–198).
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Die meisten5 dieser Orte sind äußerst bevölkerungsstark. Entsprechend korrelieren die Faktorladungen und die Einwohnerzahlen (Stand 1970, der Nähe zum Erhebungszeitraum wegen) pro Ort mit r = 0,55 (vergleiche auch PRÖLL 2015: 147). Die Analyse der jeweiligen Faktorwerte an den hoch ladenden Orten zeigt, dass insbesondere Standardvarianten (beziehungsweise Varianten mit standardnahen Formen) hohe Werte erzielen – der Faktor bündelt also Standardnähe,6 die (soweit noch nicht überraschend) insbesondere in dicht besiedelten Regionen BayerischSchwabens auftritt. Was geschieht jedoch, wenn man die Bevölkerungsdichte als Einflussgröße aus den Ergebnissen der Faktorenanalyse herausrechnet? Dazu standardisieren wir die Faktorladung pro Ort mit der Einwohnerzahl: Die jeweilige Faktorladung pro Ort (also der Wert, der für Karte 3 kartiert wurde) wird durch die entsprechende Einwohnerzahl geteilt und mit 1 000 multipliziert, um einen Wert zur „Standardnähe pro 1 000 Einwohner“ zu erhalten.7 Dieser Wert wird anschließend wieder pro Ort kartiert (Karte 4).8 Der vorher klar dominierende Großraum Augsburg ist immer noch erkennbar, aber deutlich weniger stark ausgeprägt. Stattdessen treten insbesondere im Nordosten, aber auch im Süden gürtelähnliche Strukturen auf, deren Interpretation nicht sofort offensichtlich erscheint. Klarer wird das Bild, wenn man die „Isoglossen“ der Gesamtanalyse (also die Linien, die in Karte 2 den Umschlagspunkt der Dominanzgebiete starker Faktoren markieren), die zur Orientierungshilfe über die Karte projiziert wurde, mit einbezieht.
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Kaisheim ist eine (erklärbare) Ausnahme: Dort befindet sich seit zwei Jahrhunderten eine große Justizvollzugsanstalt, der Ort war lange ein Zentrum der Beamtenausbildung (vergleiche PRÖLL 2015: 161). Die jeweils hoch ladenden Varianten stammen als Lautung, Morphologie und Lexik und folgen – abseits ihrer Standardnähe – keinem systematisierbaren, klaren Muster. Faktorladung Ort ×1000 . EinwohnerzahlOrt
Durch dieses Standardisierungsverfahren treten an Orten mit verhältnismäßig kleinen Einwohnerzahlen vereinzelt Extremwerte auf. Die exakten Werte dieser Ausreißer tragen zur Interpretation nichts weiter bei, die Skala in Karte 4 wurde daher zu Zwecken der klareren Darstellung auf den Bereich zwischen -1 und 1, in den fast alle Werte fallen, beschnitten. Die seltenen Extremwerte werden dadurch auf -1 beziehungsweise 1 gesetzt.
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Karte 4: „Standardfaktor“, Faktorladung auf jeweils 1 000 Einwohner skaliert, mit Gesamtraumisoglossen
Insbesondere im Nordosten ist der Befund eindeutig: Hier gehen die dialektalen Großräume (Nord-)Ostschwäbisch, Nordbairisch und Mittelbairisch ohne scharfe Grenzen ineinander über, und genau hier treten Akkommodationserscheinungen in Richtung Standard auffällig gehäuft auf. Aber auch in anderen Teilen Bayerisch-Schwabens ist Entsprechendes zu beobachten: Westlich und südwestlich von Augsburg gehen gleich drei Großräume, das Nordostschwäbische, das Mittelostschwäbische und das Allgäu, fließend ineinander über.9 Auch hier findet sich ein Gürtel an Standardnähe, der unserer Interpretation nach auf Akkommodation zurückzuführen ist. Ein wichtiger Befund ist aber auch, dass diese Standardgürtel nicht einfach grundsätzlich an Übergangszonen von Großräumen zu finden sind – so finden sich an den langen Übergangsmarken zwischen Nordostschwäbisch und Mittelostschwäbisch keine sowie zwischen Mittelostschwäbisch und dem Allgäu nur wenige Hinweise auf größere Standardnähe. Das ist damit zu erklären, dass es sich beim Übergang dieser drei Faktoren quasi um ein Lehrbuchbeispiel für ein 9
Zusätzlich findet sich in dieser Region ein meist latenter Faktor, der nur in Agawang und Bobingen dominant wird (vergleiche die dunkelvioletten Polygone in Karte 2, Ortspunkte 118 und 154). Für das Verbreitungsgebiet dieses Variantenbündels gibt es keinen alten, angestammten landschaftlichen/dialektgeographischen Namen. PRÖLL (2015: 95 und 160) schlägt dafür die Bezeichnung „Westliche Wälder“ vor, nach einem heutigen, annähernd deckungsgleichen Landschaftsschutzgebiet.
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Varietätenkontinuum handelt (vergleiche im Detail PRÖLL 2015: 150–152). Die sprachlichen Unterschiede pro Distanz sind hier wohl schlicht zu geringfügig, um Akkommodation zu erfordern. Aber insbesondere ein Umschlagpunkt zwischen Variantenbündeln (also zwischen „Dialekten“) wird nur relativ schwach abgebildet, nämlich der zwischen dem Mittelbairischen und dem Nordostschwäbischen am Verlauf des Lechs nördlich von Augsburg; dies ist die mit Abstand schärfste Grenze im Untersuchungsgebiet, vielleicht sogar die schärfste Dialektscheide im geographisch zusammenhängenden hochdeutschen Kontinuum überhaupt. Auf den ersten Blick scheint es seltsam, dass ausgerechnet ein so prominentes Aufeinanderprallen von Merkmalsbündeln nicht zu diesem Phänomen führen soll. Verständlicher wird dies, wenn man bedenkt, dass es sich beim hier beobachteten Ausweichen a) um eine Kontaktstrategie in b) statistischen Übergangsgebieten mit c) beidseitig ähnlichen Variantenausprägungen handelt. Der nördliche Lechverlauf ist aber kein Kontaktgebiet, sondern ein ziemlich abrupter Schnitt im Varietätengefüge (vergleiche zum Beispiel PRÖLL 2015: 144–152). Hier gibt es keine (statistische) Mischung der Varianten, und ähnlich sind sich die Formen westlich und östlich des Lechs meist auch nicht besonders. 3.3 Akkommodationsszenario Schweiz Zum Vergleich wurden explorativ Faktorenanalysen zu Dialektdaten der deutschsprachigen Schweiz durchgeführt: Aus den Daten des „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ (SDS) wurden 289 Variablen genutzt, aus dem „Syntaktischen Atlas der Deutschen Schweiz“ (SADS) 68 Variablen.10 Wir haben nun, ganz analog zu dem oben (Abschnitte 3.1 und 3.2) beschriebenen, auf die SBS-Daten bezogenen Verfahren die Deutschschweizer Daten analysiert. Erwartungsgemäß ermöglicht es die Faktorenanalyse auch in diesem Areal, dominante und latente Strukturen zu identifizieren, die vom Typus her absolut vergleichbar sind mit denen, die wir für den SBS dokumentieren konnten (vgl. Karte 1). Es finden sich auf Grundlage der SDS- und SADS-Daten ebenfalls schärfere und fließende Übergänge. Dies zeigt sich sehr schön an einer Gesamtkartierung der jeweils pro Ort dominanten Faktoren, wie wir sie oben (Karte 2) schon für die SBS-Daten vorgenommen haben. Wir illustrieren dies mit Karte 5, die exemplarisch die dominanten Faktoren des SADS-Materials visualisiert.
10 Die Teildaten des SDS wurden durch Yves Scherrer digitalisiert, die aufbereiteten SADSDaten verdanken wir Elvira Glaser und Philipp Stoeckle – für die Bereitstellung bedanken wir uns herzlich.
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Karte 5: Dominante Faktoren des SADS (68 Variablen), 91,48 % erfasste Variation
Beispielsweise ist der in rotbraunen Farbtönen dargestellte Faktor (den man als „Nordost-Schweizerdeutsch“ bezeichnen könnte) nach (Nord-)Westen hin in fließendem Übergang begriffen, während er zur Zentralschweiz hin eine relativ scharfe Begrenzung bildet. Oder es zeigt sich ein als „Höchstalemannisch“ zu interpretierender, hier in Grüntönen dargestellter Faktor, der über das Wallis hinaus auch in den angrenzenden Gebieten Freiburgs und des Berner Oberlands, aber auch im walserischen Klosters (Graubünden) dominiert. So aufschlussreich dies alles für die geolinguistische Variation in der Deutschschweiz auch ist – es ist uns nicht gelungen, einen Befund zu isolieren, der mit den in den Karten 3–4 für Bayerisch-Schwaben dargestellten Befunden parallelisiert werden kann. Das heißt, wir haben in der Deutschschweiz keinen Faktor vorgefunden, der als Standardakkommodationsphänomen bei Übergängen interpretiert werden kann. Wir ziehen aus diesem Negativbefund tentativ den Schluss, dass es in der Deutschschweiz die Tendenz zu verstärkter Standardkonvergenz in Übergangsgebieten schlicht nicht gibt. Folglich ist auch keine Karte erzeugbar, die einen zu den Karten 3–4 analogen Befund für die Deutschschweiz visualisieren würde. 3.4 Zwischenfazit Die empirischen Befunde lassen sich wie folgt zusammenfassen: Wir finden in den Daten des SBS, der nun wirklich nicht primär dazu erhoben worden ist, um Aussagen zur Standardvarietät zu tätigen, schwach – aber klar nachweisbar – Evidenz dafür, dass in Gebieten, in denen Abschnitt 2 zu Folge mit Akkommodation zu rechnen ist, vermehrt Standardformen auftreten. Dabei handelt es sich um Gebiete mit strukturierten Varietätenübergängen, die aber weder durch scharfe Gren-
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zen definiert sind noch sanfte Varietätenkontinua darstellen. In der Deutschschweiz können wir dagegen nichts dergleichen beobachten. Warum? Wir erklären diesen Unterschied für den jeweils konkreten Fall zunächst folgendermaßen: Wo Sprecherinnen und Sprecher in Bayerisch-Schwaben mit überdurchschnittlich vielen sie umgebenden konkurrierenden Varianten konfrontiert sind, greifen sie verstärkt auf Varianten zurück, von denen sie annehmen können, dass sie dem Gegenüber ebenfalls geläufig sind. In einer d i a g lossischen Situation (vergleiche AUER 2005), wie sie in Bayerisch-Schwaben besteht, ist die naheliegende – und hier auch beobachtbare – Konsequenz, in Richtung Standardnähe zu konvergieren. In einer D i g lossie, wie sie in der Schweiz vorliegt (vergleiche FERGUSON 1959, AUER 2005), ist Konvergenz in Richtung größerer Standardnähe aber keine mögliche Option zur Variantenreduktion.11 Stattdessen sind zwei alternative Szenarien denkbar: 1. Expansion In Bezug auf ihre bewusst nicht nach strengen demographischen Faktoren ausgewählten Gewährspersonen schreibt CHRISTEN (1998: 292): „Auffallend ist zudem, dass die wenigsten [von den Grundmundarten] abweichenden [großräumigeren, G. S./S. P.] Varianten kategorisch sind, sondern mit den grundmundartlich erwartbaren Formen koexistieren.“ Das hieße, diese Sprecher r e d u z i e r e n nicht, wie die Arbeitsdefinition von Akkommodation in Abschnitt 2 es voraussagt, sondern sie e x p a n d i e r e n , indem sie Varianten in ihre eigene Produktion aufnehmen. 2. „latente“ Akkommodation Gleichzeitig ist es aber auch eine Option, Varianten rein passiv zu beherrschen – hier findet also keine Expansion der Produktion, sondern lediglich der Komprehension statt:12 Der binnenschweizerische Kontakt zwischen Sprecherinnen und Sprechern unterschiedlicher Dialekte […] führt dazu, dass dialektale Unterschiede bekannt sind und auch erkannt werden. […] Der Umgang mit Andersdialektalen, mit sprachlicher Variation gehört in der Deutschschweiz zur kommunikativen Alltagskompetenz, die man bereits im Kindesalter erwirbt. Da es kein gemeinsames Schweizerdeutsch gibt, das zwischen den einzelnen Dialekten vermit11 Siehe auch MOULTON (1988: 10): „Theoretically, at least, speakers of the many different Swiss German dialects could achieve mutual intelligibility by using standard German (Hochdeutsch) when they talk together. As it turns out, however, the German Swiss find this solution totally unacceptable.“ 12 GILLES (1997: 167) sieht diesen Fall auch im innerluxemburgischen Dialektkontakt gegeben, behandelt ihn aber bewusst nicht als Akkommodationsphänomen: „In Luxemburg scheint also ein Fall von Dialektkontakt ohne oder mit nur geringem levelling vorzuliegen. […] Dialektale Sprechweise wird von der Hörerphonologie erkannt, verstanden und akzeptiert. Das gängige Argument, Dialektkontakt führe zu Verständigungsschwierigkeiten und damit zur Notwendigkeit von Akkommodation[,] sollte daher relativiert werden: Permanenter Dialektkontakt […] kann vielmehr das passive Sprachwissen um andere Dialekte vergrößern. Man könnte dies als Erweiterung der Hörerphonologie bezeichnen.“ LINCOLN (1979), der rein passive Beherrschung am Beispiel ozeanischer Sprachen diskutiert, spricht in diesem Zusammenhang von „dual-lingualism“.
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Guido Seiler / Simon Pröll telt, gilt in Kommunikationssituationen mit Sprechenden verschiedener Dialekte das ‚Jede/rspricht-ihren/seinen-Dialekt‘-Prinzip. CHRISTEN / GLASER / FRIEDLI (2011: 26)
4 AUSBLICK AUF EINE TYPOLOGIE VON AKKOMMODATIONSSZENARIEN Wir möchten nun abschließend die unterschiedlichen beobachteten Verhaltensweisen von SprecherInnen beim Aufeinandertreffen konkurrierender Varianten tentativ in einen größeren sprachtheoretischen Kontext einordnen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede explizit darstellen. Gehen wir davon aus, dass der Ausgangspunkt für Akkommodation gebildet wird durch einen Mismatch zwischen dem in der E[xternal]-language (CHOMSKY 1986) gegebenen Variantenpool und dem individuellen virtuellen Abbild der Sprache (I[nternal]-language). Akkommodationsverhalten ergibt sich somit aus der Interaktion zwischen der individuellen Sprachkompetenz der Sprecherinnen und Sprecher (I-language) und den in ihrer Umgebung vorgefundenen sprachlichen Formen (E-language). Dies bedeutet, dass unsere bisherige Arbeitsdefinition von Akkommodation einer Überarbeitung bedarf. Exakter wäre demnach: Akkommodation (zweite Version): Wenn die Anzahl konkurrierender Varianten in der Umgebung (E-language) die Anzahl der Varianten im individuellen mentalen Abbild der Sprache (Ilanguage) übertrifft, tendieren Sprecher dazu, E-language und I-language in größere Übereinstimmung zu bringen. Dabei kann „in größere Übereinstimmung bringen“ ausdrücklich auch die Erweiterung des Varianteninventars bei den einzelnen Sprecherinnen oder Sprechern bedeuten, also gerade nicht nur Variantenreduktion. Damit kommen wir vorläufig zu einer Art Typologie von Akkommodationsstrategien, die sich folgendermaßen schematisieren beziehungsweise visualisieren (Abb. 1) lässt:
Abb. 1: Typologie von Akkommodationsszenarien
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Gibt es mehr externe Variation als interne, werden entweder Varianten reduziert – durch horizontale oder vertikale Prozesse – oder es werden Varianten aufgenommen. Die Aufnahme geschieht zur aktiven Produktion (und wird damit sichtbar) oder passiv/latent (und bleibt verborgen). Koinéisierung, also horizontaler Ausgleich, ist durch new dialect formation (siehe Abschnitt 2) ausführlich belegt. Das Akkommodationsszenario BayerischSchwabens ist vertikaler Natur und durch die soziohistorisch bedingte Rolle der Standardvarietät im bundesdeutschen Raum möglich. In der dritten Akkommodationsstrategie gleichen SprecherInnen ihre Produktion an den sie umgebenden Variantenpool durch Variantenaufnahme an, so dass ihre individuelle Produktion den Variantenreichtum der Umgebung immer mehr spiegelt. Während die drei bis hier angesprochenen Akkommodationsszenarien direkt an der Produktion der SprecherInnen abgelesen werden können, ist die vierte Strategie (latente Aufnahme in die Komprehension) mit Produktionsdaten wie den vorliegenden nicht direkt beobachtbar. Mögliche Abgrenzungsprobleme, die aufgrund der Kürze der hier vorgeschlagenen Skizze noch einer späteren, detaillierteren Ausarbeitung dieses Ansatzes vorbehalten bleiben müssen, betreffen beispielsweise die Abgrenzung zwischen Reduktion als Standardkonvergenz einerseits und Variantenaufnahme in die Produktion, die im Einzelfall möglicherweise nicht immer sauber zu treffen ist – auch, weil beides Strategien sind, die offen sichtbar sind. Ebenso gibt es Klärungsbedarf bei der Abgrenzung zwischen der vierten Strategie (Variantenaufnahme in die Komprehension) und der zweiten (Standardkonvergenz), da wir den SprecherInnen auch in der vierten Gruppe unterstellen, die standardsprachlichen oder standardnäheren Varianten komprehensiv zur Verfügung zu haben. Welche konkrete Strategie wo eintritt, ist letztlich wohl nicht rein systemintern zu bestimmen – kulturelle und soziale Bedingungen und Prozesse sind hier als Prädiktoren mit einzubeziehen. Im vorliegenden Fall ist sicherlich der jeweilige Status der Standardvarietät in Bayerisch-Schwaben und der Deutschschweiz der entscheidende Faktor. Zusätzlich deutet das Phänomen der „latenten“ Akkommodation auf ein weiterführendes, bislang ungelöstes Problem hin, nämlich die passive Kompetenz in anderen, aber nah verwandten Varietäten. Während passive Verstehbarkeit zwischen verschiedenen germanischen Sprachen bereits intensiv beforscht wird (vergleiche zum Beispiel KÜRSCHNER / GOOSKENS / VAN BEZOOIJEN 2008; MÖLLER 2011), gilt passive Verstehbarkeit zwischen Dialekten zwar zumeist selbst schon als Definitionskriterium von „Dialekt“, vergleiche etwa: „[‚Dialects in Contact‘] deals with how and why m u t u a l l y i n t e l l i g i b l e v a r i e t i e s may influence one another“ (TRUDGILL 1986: vii; unsere Hervorhebung). Aber die Erforschung des genauen strukturell-linguistischen (nicht: einstellungsmäßigen) Wissens von SprecherInnen über Fremddialekte bleibt weiterhin ein Desiderat.13 Vorläufig 13 Neben den bewährten strukturierten Kompetenz-Erhebungsverfahren (vgl. SEILER 2010) könnten hierfür auch Imitationsexperimente sehr aufschlussreich sein, wie sie von SCHÄFER / LESER / CYSOUW (2016) durchgeführt worden sind.
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vermuten wir, motiviert durch die zentrale Rolle von kulturellen Normen bei der Wahl konkreter Akkommodationsstrategien, dass bei der Ausprägung von Verstehenskompetenz im Dialektkontakt der objektive linguistische Abstand gegenüber kulturellen Normen eine relativ untergeordnete Rolle spielt. LITERATURVERZEICHNIS AUER, PETER (2005): Europe’s sociolinguistic unity, or: A typology of European dialect/standard constellations. In: DELBECQUE, NICOLE / JOHAN VAN DER AUWERA / DIRK GEERAERTS (Hg.): Perspectives on Variation: Sociolinguistic, Historical, Comparative. Berlin: de Gruyter, 7–42. BÜCHERL, RAINALD (1999): Dialektwandel in Übergangsgebieten. In: STEHL, THOMAS (Hg.): Dialektgenerationen, Dialektfunktionen, Sprachwandel. Tübingen: Narr, 151–170. CHOMSKY, NOAM (1986): Knowledge of Language. New York: Praeger. CHRISTEN, HELEN (1998): Dialekt im Alltag. Eine empirische Untersuchung zur lokalen Komponente heutiger schweizerdeutscher Varietäten. Tübingen: Niemeyer. CHRISTEN, HELEN / ELVIRA GLASER / MATTHIAS FRIEDLI (2011): Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz. 3. Auflage. Frauenfeld: Huber. FERGUSON, CHARLES A. (1959): Diglossia. In: Word 15, 325–340. GILES, HOWARD (2001): Speech accommodation. In: MESTHRIE, RAJEND (Hg.): Concise Encyclopedia of Sociolinguistics. Oxford: Elsevier, 193–196. GILES, HOWARD / JUSTINE COUPLAND / NIKOLAS COUPLAND (1991): Accommodation theory: Communication, context, and consequence. In: GILES, HOWARD / JUSTINE COUPLAND / NIKOLAS COUPLAND (Hg.): Contexts of Accommodation: Developments in Applied Sociolinguistics. Cambridge: CUP, 1–68. GILLES, PETER (1997): Bemerkungen zum Verhältnis zwischen ‘Dialektveränderung’ und ‘Standardisierung’ / ‘Destandardisierung’. In: MATTHEIER, KLAUS J. / EDGAR RADTKE (Hg.): Standardisierung und Destandardisierung europäischer Nationalsprachen. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 163–169. GROSSE, RUDOLF (1965): Isoglossen und Isophonen. Zur Problematik der phonetischen, phonologischen und phonometrischen Grenzlinien. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 87, 295–317. KERSWILL, PAUL (2010): Contact and New Varieties. In; HICKEY, RAYMOND (Hg.): Handbook of Language Contact. Chichester, West Sussex: Wiley-Blackwell, 230–251. KIM, MIDAM / WILLIAM S. HORTON / ANN R. BRADLOW (2011): Phonetic convergence in spontaneous conversations as a function of interlocutor language distance. In: Laboratory Phonology 2 (1), 125–156. KÜRSCHNER, SEBASTIAN / CHARLOTTE GOOSKENS / RENÉE VAN BEZOOIJEN (2008): Linguistic determinants of the intelligibility of Swedish words among Danes. In: International journal of humanities and arts computing 2 (1–2), 83–100. LEINO, ANTTI / SAARA HYVÖNEN (2008): Comparison of Component Models in Analysing the Distribution of Dialect Features. In: International Journal of Humanities and Arts Computing 2 (1–2), 173–187. LEINONEN, THERESE (2010): An Acoustic Analysis of Vowel Pronunciation in Swedish Dialects. Groningen: Rijksuniversiteit Groningen. LINCOLN, PETER C. (1979): Dual-lingualism: Passive bilingualism in action. In: Te Reo 22, 65–72. MÆHLUM, BRIT (1992): Dialektal sosialisering. En studie av barn og ungdoms språklige strategier i Longyearbyen på Svalbard. Oslo: Novus. MOULTON, WILLIAM G. (1988): Mutual intelligibility among speakers of Early Germanic dialects. In: CALDER, DANIEL G. / T. CRAIG CHRISTY (Hg.): Germania. Wolfeboro, NH: D. S. Brewer, 9–28.
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REDIALEKTALISIERUNG UND ALTER: ERGEBNISSE EINER REAL-TIME-STUDIE ZUM AGE-GRADING IN ULRICHSBERG Philip C. Vergeiner / Dominik Wallner / Lars Bülow / Hannes Scheutz 1 PROBLEMAUFRISS Während das generative Paradigma Sprachvariation und -wandel vorrangig im Spracherwerb verortet (KING 1968; LIGHTFOOT 2010; VAN GELDEREN 2016), herrscht in gebrauchsbasierten Ansätzen, u. a. auch in der Soziolinguistik, ein weitgehender Konsens darüber, dass sich individuelle Sprachentwicklungsprozesse nicht auf die Phasen des Spracherwerbs und der Adoleszenz beschränken. Das sprachliche Wissen eines Individuums und sein Repertoire können sich zeitlebens verändern (MATTHEIER 1980; CROFT 2000; SCHMIDT / HERRGEN 2011). Entwicklungsprozesse in individuellen Repertoires müssen nicht notwendigerweise (gesamt-)gesellschaftlichen Sprachwandel einleiten – vielmehr lassen sich unterschiedliche Prozesstypen in Hinblick auf individuelle und/oder gesellschaftliche Repertoires ausmachen. Differenziert wird häufig zwischen (LABOV 1994: 83; WAGNER 2012: 373): 1. „age-grading“, 2. „generational change“, 3. „communal change“. Bei (1) wandeln sich individuelle Sprechweisen auch in Lebensphasen nach der Adoleszenz. Diese individuellen Prozesse führen dabei aber nicht zwangsweise zu einem gesamtgesellschaftlichen Sprachwandel.1 Anders ist dies bei (2): Hier bestehen intergenerationelle sprachliche Unterschiede, die einen gesamtgesellschaftlichen Sprachwandel im Sinne von Kohorteneffekten reflektieren, die sich als apparent-time-Effekte messen lassen. Jüngere Sprecher/innen weisen dabei neuere Strukturen auf, die vormals etablierte Merkmale älterer Sprecher/innen sukzessive verdrängen. Während sich bei (2) gesellschaftliche, nicht aber individuelle und bei (1) individuelle, nicht aber zwangsläufig gesellschaftliche Änderungen
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Zu bemerken ist, dass z. T. auch genauere Unterteilungen existieren, bei denen „age-grading“ anderen Begriffen zum Wandel individueller Sprachenweisen gegenübergestellt wird (bspw. „lifespan change“, „retrograde change“), wobei von „age-grading“ nur dann gesprochen wird, wenn es keinen gesamtgesellschaftlichen Sprachwandel gibt, vgl. zur Diskussion etwa BÜLOW / VERGEINER (i. E.).
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einstellen, tritt bei (3) beides gekoppelt auf: Sprachwandel auf der Populationsebene wird begleitet von (mehr oder minder starken) individuellen Sprachentwicklungsprozessen. Dabei wird implizit davon ausgegangen, dass individuelle Entwicklung und Sprachwandel gleichartig verlaufen. Für die bairischen Dialekte Österreichs wie überhaupt im süddeutschen Raum (ausgenommen die Schweiz und Vorarlberg) wird gemeinhin Dialekt-zuStandard-Advergenz konstatiert (vgl. bspw. AUER 1990 und 2018; SCHEURINGER 1990; BÜLOW / WALLNER i. Dr.). Nachgewiesen wird diese entweder über trendStudien, die historische und rezente Sprachdaten unterschiedlicher Personen abgleichen, oder aber apparent-time-Untersuchungen, bei denen der Sprachgebrauch jüngerer und älterer Personen in einem Querschnitt verglichen wird (SCHEUTZ 1985a; SCHEURINGER 1990; UNGER 2014 sowie die aktuellen Studien im Rahmen des SFB „Deutsch in Österreich“). Dies erfolgt unter der impliziten Annahme, es handle sich um generational change. Gerade für apparent-time-Untersuchungen ist es jedoch unerlässlich, age-grading-Effekte einschätzen zu können (BÜLOW / VERGEINER i. E.). Inwiefern gegenwärtig im bairischen Raum derlei Effekte zu veranschlagen sind, ist jedoch weitgehend unerforscht. Ziel dieses Beitrags ist es, zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen. Analysiert wird, ob und in welcher Weise sich das Dialekt-StandardRepertoire von acht Gewährspersonen (GP) im Zeitraum von über 40 Jahren verändert hat. Vorgestellt werden dazu erste Erkenntnisse einer real-time-Untersuchung zum Sprachwandel in der oberösterreichischen Gemeinde Ulrichsberg (vgl. dazu auch WALLNER i. V.). Die Untersuchung wurde als panel study durchgeführt, d. h. dieselben GP wurden zu zwei Zeitpunkten befragt. Dieses Vorgehen erlaubt, tatsächlich von den GP vollzogene Veränderungsprozesse nachzuzeichnen und zu analysieren. Nachfolgend werden jeweils zwei Aufnahmen pro GP, die 1975/76 entstanden sind, mit je zwei Aufnahmen derselben Sprecher/innen aus den Jahren 2018/19 verglichen. Bei den Aufnahmen handelt es sich um je ein formelles und ein informelles Gespräch, wobei auf situative Konstanz zwischen beiden Erhebungszeitpunkten geachtet wurde. Unter der Annahme, dass u. a. der Formalitätsgrad für die Varietätenverwendung in Österreich entscheidend ist (vgl. bspw. SCHEUTZ 1985a; SCHEURINGER 1990; VERGEINER 2019b), lassen sich mit dem vorliegenden Datenmaterial sowohl Wandelprozesse im standard- wie auch im basisdialektnahen Bereich des Repertoires der GP analysieren. Als Untersuchungsmethode fungiert eine Variablenanalyse spezifischer lautlicher Merkmale. Im Folgenden wird kurz die Dialekt-Standard-Situation in Österreich umrissen (Kap. 2.1), außerdem wird näher auf age-grading-Effekte eingegangen (Kap. 2.2). Kapitel 3 stellt das Datenmaterial und die Untersuchungsmethode vor. Die Einzelergebnisse der Variablenanalyse werden in Kapitel 4 berichtet. In Kapitel 5 erfolgt eine Diskussion dieser Befunde, in Kapitel 6 abschließend ein kurzes Fazit.
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2 VARIATION UND WANDEL IM DIALEKT-STANDARD-GEFÜGE In diesem Abschnitt wird kurz auf die Dialekt-Standard-Situation in Österreich und auf rezente Sprachwandelprozesse dort eingegangen (Kap. 2.1). Wie erwähnt, basieren die meisten Untersuchungen dazu auf apparent-time- oder trend-Studien. Diese geben jedoch keinen Aufschluss über age-grading-Effekte bzw. individuelle sprachliche Entwicklungsprozesse (vgl. BÜLOW / VERGEINER i. E.). Inwiefern solche zu berücksichtigen sind, wird in Kapitel 2.2 näher ausgeführt. 2.1 Die Dialekt-Standard-Situation in Österreich Österreich ist in zwei ungleich verteilte Dialekträume gegliedert: einen alemannischen Teil im äußersten Westen (Vorarlberg und Teile Tirols) und einen weitaus größeren, die restlichen Bundesländer umfassenden, bairischen Sprachraum östlich davon (vgl. WIESINGER 1983). Letzterer besteht wiederum aus einem mittelund südbairischen Raum, mit weiteren kleinräumigeren Unterteilungen. Der Dialekt wird in Österreich von einem (bzw. mehreren bairisch bzw. alemannisch geprägten) regionalen Standard(s) überdacht (vgl. bspw. WIESINGER 2014, zur Diskussion LANWERMEYER et al. i. Dr.). Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Dialekt und Standard geht man gemeinhin für das Bairische von Zwischenschichten (Polyglossie) oder einem Dialekt-Standard-Kontinuum aus (AUER 1986; ENDER / KAISER 2009). Die Modellierung dieser Zwischenschichten ist allerdings problematisch, da Varietätengrenzen bislang nicht klar beschrieben werden konnten. Nichtsdestoweniger ist das Variationsverhalten entlang der DialektStandard-Achse keineswegs beliebig. Dialektale und standardsprachliche Merkmale treten gestaffelt auf und unterliegen unterschiedlichen Implikations- und Kookkurrenzrestriktionen. Es handelt sich dabei um „ein höchstkomplexes Konglomerat verschiedener und verschiedenartiger Regeln und Formen innerhalb eines multidimensionalen Variationsraumes“ (SCHEUTZ 1999: 128), also um strukturierte Heterogenität (SCHEUTZ 1985a und 1999). Die wichtigste Entwicklungsrichtung für die bairischen Dialekte in Österreich ist derzeit Dialekt-zu-Standard-Advergenz, die insbesondere für den Lautwandel nachgewiesen wurde (vgl. SCHEURINGER 1990; SCHEUTZ 1999; BÜLOW et al. 2019; BÜLOW / WALLNER i. Dr.). Außerdem ist ein Vormarsch urbaner Sprechweisen zum Nachteil kleinräumiger Dialekte festzustellen. Hervorzuheben ist hier der Einfluss Wiens (vgl. bspw. FANTA-JENDE i. Dr.), dessen Sprachformen diffundieren (bspw. die Wiener Monophthongierung) (vgl. SCHEURINGER 1990; SCHEUTZ 1985a; MOOSMÜLLER / SCHEUTZ 2013). Trotz dieser Befunde ist Dialektgebrauch in Österreich noch immer sehr verbreitet. Untersuchungen zeigen, dass der Anteil von Personen, welche im Alltag ausschließlich Standard sprechen bei unter 10 % liegt (vgl. ENDER / KAISER 2009; STEINEGGER 1998; vgl. für aktuelle Zahlen auch LENZ 2019). Standardsprachliches Sprechen ist dagegen vor allem formellen Situationen und/oder Interaktionen
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mit Nicht-Österreichern vorbehalten (STEINEGGER 1998). Ausschlaggebend für die Varietätenverwendung sind jedoch auch weitere Faktoren wie Alter, soziale Schicht oder Einstellungen (bspw. Dialektloyalität). Die Bandbreite von Sprecher/innen-Repertoires ist nichtsdestoweniger individuell unterschiedlich ausgeprägt (ENDER / KAISER 2014; VERGEINER 2019a und 2019b). 2.2 Sprachwandel und age-grading In der Linguistik bestehen verschiedene Ansätze zur Erklärung von Sprachwandel: Ein prominentes und einflussreiches Konzept, das eng mit dem generativen Paradigma verbunden ist, verlagert die Ursache für den Sprachwandel in die Spracherwerbsphase (vgl. etwa KING 1968; LIGHTFOOT 2010): Kinder würden kleinere Abweichungen im Input zu Innovationen reanalysieren, die sich schließlich bis ins junge Erwachsenenalter verfestigten. Geschehe dies bei einer größeren Anzahl von Sprecher/inne/n, könne ein Konventionalisierungsprozess auf der Populationsebene erfolgen. Dies führe schließlich dazu, dass diese auch an nachfolgende Generationen weitergegeben würden und ein Sprachwandel stattfände. Unterstützt wird dieser Erklärungsansatz scheinbar durch die critical period hypothesis (CPH) (vgl. LENNEBERG 1967). Diese in den 1950er und 1960er Jahren entwickelte Theorie geht davon aus, dass das Gehirn mit zunehmendem Alter an neuronaler Plastizität verliere, weshalb Sprache und andere kognitiv-verankerte Fähigkeiten nur im Kindesalter erworben werden könnten (vgl. LENNEBERG 1967; PENFIELD / ROBERTS 1959). Daraus folgt die Annahme, dass sich das grammatische Repertoire des Individuums nach der Adoleszenzphase nicht mehr verändere, was auch die apparent-time-Hypothese stützt, die ebenfalls in den 1960er Jahren an Bedeutung gewann (vgl. LABOV 1966). Dieser Hypothese folgend lassen sich Sprecher/innen verschiedener Altersgruppen zu einem Erhebungszeitpunkt miteinander vergleichen, um rezenten Sprachwandel aufzuzeigen, was LABOV (1975) als „the use of the present to explain the past“ bezeichnet. Die synchronen Unterschiede zwischen den Altersgruppen würden – so die Hypothese – diachrone Entwicklungen abbilden. CUKOR-AVILA / BAILEY (2013: 240) beschreiben das Prinzip folgendermaßen: „when social and stylistic factors were held constant, linguistic differences among different generations of a population (apparent-time differences) would mirror actual diachronic developments in the language (real-time changes)“. Die Prämisse der sprachlichen Stabilität der Sprecher/innen im Erwachsenenalter ist aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen hat sich gezeigt, dass die CPH in der vorgeschlagenen Form nicht haltbar ist. So gibt es einerseits keine hinreichende empirische Evidenz zur exakten Verortung einer kritischen Periode (vgl. BIRDSONG / VANHOVE 2016; SINGLETON 2005 und Arbeiten in SINGLETON / LENGYEL 1995), andererseits belegen neuere Untersuchungen vor allem zum Zweitsprachenerwerb eine zeitlebens andau-
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ernde Plastizität des Gehirns (BIALYSTOK / KROLL 2018; GUTCHESS 2014).2 Zum anderen ist die Stabilitätsprämisse problematisch, weil auch variationslinguistische Langzeitstudien age-grading-Effekte in Individuen zeigen (vgl. u. a. HARRINGTON / PALETHORPE / WATSON 2000; SANKOFF / BLONDEAU 2007; REUBOLD / HARRINGTON 2018). Diese age-grading-Effekte können entweder dem Sprachwandel auf der Populationsebene entsprechen (vgl. HARRINGTON / STEVENS 2014; SANKOFF / BLONDEAU 2007) oder dem Trend entgegenlaufen (WAGNER / SANKOFF 2011; BUCHSTALLER 2016). Die Faktoren, von denen age-grading abhängt, sind in Ermangelung von real-time-panel-Studien bisher kaum erforscht. Dabei wurde auch der Zusammenhang zwischen individueller Variabilität und Sprachwandel auf der Populationsebene kaum untersucht (vgl. TAGLIAMONTE 2012: 247). Die Möglichkeit von age-grading-Effekten verdeutlicht, dass die Variationslinguistik verstärkt real-time-panel-Studien einsetzen muss, um Ergebnisse aus Gruppenvergleichen (apparent-time, cross-sections) zu validieren (vgl. BÜLOW / SCHEUTZ / WALLNER 2019; BÜLOW / VERGEINER i. E.). Nichtsdestoweniger werden solche aus forschungspragmatischen Gründen selten in Angriff genommen. Da – soweit uns bekannt ist – für Österreich keine solchen Untersuchungen vorliegen, stellt diese Arbeit die erste variationslinguistische Panelstudie in diesem Raum dar. 3 DATEN UND METHODE Die nachfolgende Analyse stützt sich auf zwei Datensätze: Eine erste Erhebung wurde 1975/76 im Rahmen des FWF-Projektes „Empirisch-statistische Untersuchungen zur schichten- und situationsspezifischen Sprachvariation in einer ländlichen Marktgemeinde Oberösterreichs“ durchgeführt (vgl. dazu auch SCHEUTZ 1985a). Im Rahmen dieser Untersuchung wurde von ca. 35 GP3 aus der oberösterreichischen Marktgemeinde Ulrichsberg der Sprachgebrauch in zwei Erhebungssituationen aufgezeichnet: einerseits in soziobiographischen Interviews, die ein möglichst formelles und damit standardnahes Register elizitieren sollten und andererseits in informelleren Freundesgesprächen, wo ein eher dialektnaher Sprachgebrauch evoziert werden sollte. In Rahmen des SFB „Deutsch in Österreich“ (FWF F060; ; vgl. zum Projekt BUDIN et al. 2019) wurden einzelne GP der ursprünglichen Erhebung erneut aufgenommen (vgl. dazu auch WALLNER i. V.). Dabei wurde der
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So ist es beispielsweise möglich, Sprachen auch nach dem Eintritt ins Erwachsenenalter noch auf Muttersprachniveau zu lernen (vgl. MARINOVA-TODD 2003; KINSELLA / SINGLETON 2014). Die GP wurden dabei nicht als klassische NORM/Fs (= non-mobile, old, rural males / females) ausgewählt, vielmehr wurde darauf geachtet, GP unterschiedlicher sozialer Schichten und Berufsgruppen zu untersuchen.
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situative Rahmen der ersten Erhebung so gut wie möglich repliziert: So wurden die Freundesgespräche zu beiden Erhebungszeitpunkten ohne Beisein des Explorators geführt, wobei versucht wurde, dieselben Gesprächspartner miteinander sprechen zu lassen. Beim Interview wurde darauf geachtet, dass die regionalen und die sozialen Charakteristika der Interviewer vergleichbar sind (beide stammen aus dem mittelbairischen Dialektraum, allerdings nicht unmittelbar aus der untersuchten Region; zudem waren beide zum Erhebungszeitraum Doktoranden an der Universität Salzburg). Des Weiteren ist die Art der Interviewführung vergleichbar: Der formelle Charakter der Gespräche sollte bereits dadurch hervorgehoben werden, dass die Interviewer jeweils formell gekleidet im Anzug erschienen. Das Aufnahmegerät wurde gut sichtbar am Erhebungsort platziert, um die Aufmerksamkeit auf den Sprachgebrauch zu lenken. In beiden Erhebungen wurde derselbe, weitgehend auf biographische Fakten abzielende Interviewleitfaden verwendet, wobei die Interviewer dazu angehalten waren, standardnah zu sprechen. Sie sollten die GP auch jeweils siezen und insgesamt keine allzu umgängliche Art an den Tag legen (vgl. auch die Situationsbeschreibung bei SCHEUTZ 1985a: 58–59). Für die vorliegende Untersuchung wurden die Daten von acht GP ausgewertet. Die soziobiographischen Hintergründe zu diesen GP sind in Tabelle 1 dargestellt. Alle untersuchten GP wurden zwischen 1940 und 1950 geboren. Das Geschlechterverhältnis ist ausgeglichen – vier GP sind männlich, vier weiblich. Im Hinblick auf den Ausbildungsgrad haben alle GP eine abgeschlossene sekundäre Ausbildung, nur GP1 weist eine tertiäre Ausbildung auf. Das Berufsspektrum umfasst bei den GP einen weiten Bereich, der landwirtschaftliche Tätigkeiten ebenso einschließt wie administrative oder gewerbliche. Während die GP zum Zeitpunkt der ersten Erhebung noch in diesen Berufen tätig waren, befanden sie sich zum Zeitpunkt der zweiten Erhebung allesamt im Ruhestand. Welchen Einfluss die soziobiographischen Hintergründe auf das Variationsverhalten der GP nehmen, wird in Kapitel 5 diskutiert. GP1
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GP3
GP4
*1943 • weiblich • tertiäre Schulbildung • Unternehmerin
*1941 • männlich • sekundäre Schulbildung • Kaufmann
*1941 • weiblich • sekundäre Schulbildung • Kauffrau
*1942 • männlich • sekundäre Schulbildung • Bauer
GP5
GP6
GP7
GP8
*1942 • weiblich • sekundäre Schulbildung • Bäuerin
*1950 • männlich • sekundäre Schulbildung • Beamter
*1944 • männlich • sekundäre Schulbildung • Beamter
*1946 • weiblich • sekundäre Schulbildung • Verkäuferin
Tab. 1: Soziobiographische Hintergründe der untersuchten GP
Redialektalisierung und Alter
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Untersucht wurde das Variationsverhalten der GP mittels einer Variablenanalyse. Diese Methode erlaubt es – sobald Varianten im Varietätengefüge lokalisiert sind – Aussagen darüber zu treffen, wo Texte oder Gespräche im Dialekt-/Standardbereich zu verorten sind (vgl. SCHEUTZ 1985a; SCHEURINGER 1990; VERGEINER 2019a). In den meisten Untersuchungen werden Variablen aus dem Lautbereich fokussiert, weil dort die (funktionale) Äquivalenz der Varianten verhältnismäßig einfach feststellbar ist (LANWER 2015: 75) und weil eine relativ hohe Frequenz lautlicher Varianten auch bei geringen Text- oder Redemengen gegeben ist (KNÖBL 2012: 107). Auch in der vorliegenden Untersuchung sollen lautbezogene Variablen analysiert werden. Die Auswahl der konkreten Lautvariablen erfolgt dann im Hinblick auf verschiedene Kriterien: Einerseits sollte eine potentielle Variable möglichst frequent sein, andererseits sollte sie gut hör- und isolierbar sein. Zudem wird auf die Repräsentativität der jeweiligen Varianten für die zu analysierenden Varietäten geachtet, zumal nur wenige Variablen im Verfahren berücksichtigt werden können (vgl. dazu TAGLIAMONTE 2006: 82–83). Nachfolgend werden drei sehr frequente Variablen beschrieben (vgl. auch Tab. 2 im Anhang), deren Relevanz im Untersuchungsort bereits durch die Studie von SCHEUTZ (1985a) beschrieben wurde (vgl. auch Kap. 4 für eine nähere Beschreibung der Variablen): – – –
V1: Die Realisierung von mhd. ei als steigender Diphthong [aɛ] entsprechend der Standardlautung oder als fallender Diphthong [ɔɐ] bzw. gedehnter Monophthong [aː] entsprechend der Dialektlautung. V2: Die standardsprachliche Realisierung der Labialvokale [øː, œ, yː, ʏ, ɔɪ] bzw. ihre dialektale Entrundung zu [eː, ɛ, iː, ɪɐ, ɪ, aɛ]. V3: Die (Nicht-)Realisierung des Frikativs /ç/ bzw. /x/, einerseits im Auslaut bei den hochfrequenten Einzellexemen doch, gleich, noch, ich, dich, sich, mich (= V3a) sowie andererseits im Suffix -lich (= V3b).
Eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine Variablenanalyse ist eine möglichst exakte Variablendefinition – die Variablen sind als „closed set“ zu konzipieren, „to which the axioms of probability theory apply“ (LABOV 2004: 7). Von der Untersuchung auszuschließen sind daher kategoriale Kontexte, d. h. Kontexte, in denen keine Variation auftritt. Zu achten ist außerdem auf Fälle, in denen sich eine Variable untypisch verhält (bspw. andere Varianten oder solche mit untypischer Wahrscheinlichkeit auftreten). Aufgrund der Komplexität im DialektStandard-Gefüge und weil viele Eigenschaften der Lautdistribution (bspw. untypische oder kategoriale Kontexte) vor der Analyse unbekannt sind, ist diesen Forderungen jedoch nur näherungsweise nachzukommen. In der vorliegenden Studie wurde dazu zunächst untersucht, ob und inwiefern Lexeme, die potentielle Kandidaten für die untersuchten Variablen darstellen, im Korpus variabel realisiert werden. Aufgrund der geringen token-Frequenz mancher Lexeme mussten dazu auch Sekundärquellen herangezogen werden (bspw. einschlägige Wörterbücher wie das WBÖ oder SCHMELLER 2008). Bei Zweifelsfällen, die auch dann noch bestanden, wurde auf Basis der Dialektkompetenz der
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Philip C. Vergeiner / Dominik Wallner / Lars Bülow / Hannes Scheutz
Autoren darüber entschieden, ob die Lexeme gezählt werden können – ein Vorgehen, das im Einzelfall sicherlich nicht befriedigend ist, aber forschungsökonomisch nicht anders handhabbar war (vgl. zum Problem auch SCHEUTZ 1985b: 250). 4 ERGEBNISSE Nachfolgend werden die Ergebnisse der Variablenanalyse besprochen; dabei wird die Formenrealisierung für alle acht Sprecher/innen zu jeweils beiden Zeitpunkten und Situationen vorgestellt. Begonnen wird mit V1, der Formenrealisierung im Kontext von mhd. ei, gefolgt von V2 (dialektale Entrundung von Vordervokalen) und V3 (dialektale Tilgung von auslautendem -ch). (V1) mhd. ei Die Realisierung von mhd. ei als fallender Diphthong [ɔɐ] ist eine „Kennlautung des Bairischen“ (SCHEURINGER 1990: 412). Daneben wird der Lautstand von mhd. ei teilweise auch als [aː] realisiert. Diese a-Lautung ist u. a. in Wien verbreitet, daneben aber bspw. auch in Teilen Kärntens und Tirols (KRANZMAYER 1956: 60), wobei sie sich von Wien ausgehend „als Teil einer überregionalen Verkehrssprache etabliert […] und damit auf weiten Strecken auch auf die Basisdialekte einzuwirken beginnt“ (SCHEUTZ 1985a: 242–243; SCHEURINGER 1990: 413, vgl. auch MOOSMÜLLER 1991: 42–44).4 Obgleich [aː] als standardnähere Lautung weniger stark dialektal konnotiert ist, wird sie ebenso wie der Diphthong [ɔɐ] in formellen Situationen tendenziell gemieden (SCHEURINGER 1990: 414; VERGEINER 2019a: 136–138; FANTA-JENDE i. Dr.). Im vorliegenden Kontext spielt [aː] nur eine marginale Rolle,5 weshalb die Variante mit [ɔɐ] zusammengefasst und der Standardlautung [aɛ] gegenübergestellt wird. Abbildung 1 zeigt, in welchem Ausmaß die Standardvariante zu beiden Erhebungszeitpunkten und -situationen erscheint (die GP werden dabei hier und in der Folge nach dem Anteil standardsprachlicher Varianten gereiht). Die den Berechnungen zugrundeliegenden absoluten Häufigkeiten werden im Anhang berichtet.
4
5
Zu unterscheiden sind davon [æː]-Monophthonge, die sich als Produkt der sogenannten „Wiener Monophthongierung“ gegenwärtig in Österreich verbreiten (vgl. bspw. MOOSMÜLLER / SCHEUTZ 2013; FANTA-JENDE i. Dr.). Da diese Monophthonge sich ohrenphonetisch allerdings nicht eindeutig von [aɛ]-Diphthongen abgrenzen lassen und insbesondere die Qualität der älteren Aufnahmen instrumentalphonetische Messungen nicht zulässt, werden diese Monophthonge als standardnahe Lautungen mit [aɛ] zusammengefasst. Der Laut erscheint durchschnittlich in 6 % der Fälle und bei keiner GP häufiger als [ɔa]. Mit über 10 % verwenden ihn nur GP3 und GP8.
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Redialektalisierung und Alter
100% 80% 60% 40% 20% 0% GP3
GP1 FI / 1975/76
GP8
GP2
FG / 1975/76
GP6 FI / 2018/19
GP4
GP7
GP5
FG / 2018/19
Abb. 1: V1 (mhd. ei): Anteil der standardsprachlichen Realisierungen
Deutlich werden Unterschiede zwischen den einzelnen GP, aber auch zwischen den Situationen „formelles Interview“ (= FI) bzw. „Freundesgespräch“ (= FG). Zwischen den beiden Erhebungszeitpunkten bestehen folgende Differenzen: –
–
–
Die Versuchspersonen unterscheiden sich zum Teil deutlich in ihrer Variationsbreite bei V1, wobei vor allem der Anteil standardsprachlicher Realisierungen im FI divergiert. Dabei fällt auf, dass die Variationsbreite 1975/76 bei vielen, aber nicht allen GP (bspw. GP3) größer ausgeprägt ist als 2018/19: während bspw. GP1 1975/76 im FI fast immer die Standardlautung realisiert (97 %), tut sie dies im FG deutlich seltener (18 %). 2018/19 besteht bei GP1 eine geringere Differenz zwischen FI (51 %) und FG (9 %). Nichtsdestoweniger erscheinen zu beiden Erhebungszeitpunkten bei allen GP im FI mehr standardsprachliche Belege als im FG. Der Unterschied ist statistisch signifikant6 (zu beiden Zeitpunkten: z = -2,521, p = .012*); die Effektstärke ist jeweils stark (r = .891). Im FI erscheint zudem bei sieben GP – ausgenommen GP5 –1975/76 öfter die Standardlautung. Auch dieser Unterschied ist signifikant (z = -2,240, p = .025*), die Effektstärke stark (r = .792). Hier macht sich ein age-gradingEffekt bemerkbar. Im FG besteht ein solcher aber nicht, denn einige Versuchspersonen realisieren 1975/76 mehr Standardlautungen (bspw. GP1, GP2), andere 2018/19 (bspw. GP5, GP6).
(V2) Entrundung von Vordervokalen Während die Standardsprache, Teile des Mitteldeutschen und Alemannischen sowie das Ostfränkische die gerundeten mittelhochdeutschen Vordervokale weitgehend bewahren und die Klasse der gerundeten Vokale durch Rundungsprozesse teilweise sogar ausbauen, werden die vorderen Rundvokale im Bairischen größ6
Hier und in der Folge wird aufgrund der geringen Probandenzahl nichtparametrisch mit Wilcoxon-Tests getestet.
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Philip C. Vergeiner / Dominik Wallner / Lars Bülow / Hannes Scheutz
tenteils palatalisiert. Es kommt im bairischen Untersuchungsraum zu folgenden Dialekt-/Standardkorrespondenzen, die als V2 nachfolgend untersucht werden: [øː, œ] [eː, ɛ]; [ɔɪ] [aɛ]; [yː, ʏ] [iː, ɪɐ7, ɪ]8. Soziostilistisch können die Entrundungsprodukte als dialektal markiert gelten – mit WIESINGER (2014: 102) handelt es sich um ein „‚primäres‘ Dialektmerkmal“, das, wie SCHEUTZ (1985a: 236) bemerkt, im Vergleich zu anderen Dialektmerkmalen „weitaus weniger akzeptiert (bzw. bereits weitaus stärker abgebaut)“ ist (vgl. auch SCHEUTZ 1999: 117, VERGEINER 2019b: 491–495 sowie SCHEURINGER 1990; dasselbe gilt bspw. auch im Alemannischen, vgl. AUER 1990: 62). Abbildung 2 zeigt das Auftreten gerundeter Vokale im vorliegenden Untersuchungskontext. 100% 80% 60% 40% 20% 0% GP3
GP1 FI / 1975/76
GP4
GP2
FG / 1975/76
GP8 FI / 2018/19
GP6
GP5
GP7
FG / 2018/19
Abb. 2: V2 (Entrundung): Anteil der standardsprachlichen Realisierungen
Die Formenrealisierung bei V2 ähnelt der bei V1 – wie bei V1 werden auch hier Unterschiede zwischen den Gewährspersonen, den abgefragten Situationen und den Erhebungszeitpunkten sichtbar: –
–
7 8
Die Versuchspersonen divergieren hinsichtlich ihrer Variationsbreite, wobei neuerlich vor allem der Anteil standardsprachlicher Realisierungen im FI divergiert. Abermals fällt dabei auf, dass die Variationsbreite 1975/76 bei vielen, aber nicht allen GP (bspw. GP3 oder GP7) größer ausgeprägt ist als 2018/19. Deutlich sind die Differenzen zwischen beiden Erhebungssettings – bei allen Probanden sind Labialvokale im FI öfter als im FG belegt; der Unterschied ist neuerlich signifikant (zu beiden Zeitpunkten: z = -2,521, p = .012*); die Effektstärke wiederum jeweils stark (r = .891).
Im Bairischen wurde der Diphthong mhd. üe, der im Standard monophthongiert wurde, als entrundeter Diphthong bewahrt (vgl. bspw. KRANZMAYER 1956: 57–58). Teilweise korrespondiert aufgrund des sogenannten Rückumlautes auch standardsprachliches ü mit bair. u. Dies betrifft ü vor ck und pf – bspw. lautet zurück bair. [tsrʊk], schlüpfen bair. [ʃlʊp͜fn̩] (vgl. WIESINGER 1990: 449). Da es sich hier um ein unterschiedliches Phänomen handelt, wird es in der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert.
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Redialektalisierung und Alter
–
Bei den meisten GP (ausgenommen GP7 und nur äußerst knapp bei GP3), erscheint auch wieder 1975/76 im FI häufiger die Standardlautung als im FI 2018/19. Der Unterschied ist neuerlich signifikant (z = -2,240, p = .025*), die Effektstärke stark (r = .792). Wie bei V1 ist ein solcher Effekt hinsichtlich des FG nicht nachweisbar, einzig bei GP1 bestehen deutliche Differenzen zwischen beiden Erhebungszeitpunkten.
Unter V2 wurden, wie erwähnt, unterschiedliche Lautstände zusammengefasst, bei denen Entrundung auftritt; dies geschah vor allem aus statistischen Gründen, da für die Einzelsituationen bei den einzelnen Lautständen oft nur wenige token belegt sind, was die Aussagekraft stark einschränkt. Dies geschah auch unter der Annahme, dass sich die unterschiedlichen Lautstände verhältnismäßig ähnlich verhalten. Während bspw. AUER (1990: 157) dies für das Alemannische dokumentiert (vgl. auch VERGEINER 2019b: 495), belegt allerdings SCHEUTZ (1999: 115) „eine regelmäßige, von ɔɪ über ø nach y ansteigende Tendenz zur Vermeidung der dialektalen Varianten“. Um zu prüfen, inwiefern dies auf den vorliegenden Kontext zutrifft, wurde für die einzelnen Lautstände berechnet, wie oft der Labialvokal je nach Situation / Erhebungszeitpunkt insgesamt erscheint (vgl. dazu Abbildung 3). 100% 80% 60% 40% 20% 0% [ɔɪ] FI / 1975/76
[œ, ø] FG / 1975/76
[y, ʏ] (ggü. bair [ɪɐ]) FI / 2018/19
[y, ʏ] (ggü. bair. [ɪ, iː])
FG / 2018/19
Abb. 3: Anteile standardsprachlicher Realisierungen bei unterschiedlichen Entrundungsarten
Abbildung 3 belegt einerseits ein sehr gleichgerichtetes Verhalten der einzelnen Vokale bezüglich der beschriebenen diaphasischen und diachronen Tendenzen, andererseits bestätigen sich gewisse Differenzen bei der Dialektremanenz der jeweiligen Lautstände: Am deutlichsten sind diese zwischen ü (sofern es nicht auf mhd. üe zurückgeht) und den anderen Vokalen, wobei bei ü Labialvokale zumindest im FG und im FI im aktuellen Erhebungszeitpunkt öfter auftreten. Die Differenzen zwischen den anderen Vokalen sind geringer, ein Unterschied wie etwa bei SCHEUTZ (1999) zwischen ö und eu lässt sich zwar für 1975/76 als Tendenz, nicht jedoch für den aktuellen Erhebungszeitpunkt belegen.
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Philip C. Vergeiner / Dominik Wallner / Lars Bülow / Hannes Scheutz
(V3) Frikativtilgung Die wort- und teilweise auch silbenfinale Tilgung der Allophone /ç/ bzw. /x/ wurde im Mittelbairischen (und darüber hinaus) ursprünglich konsequent durchgeführt, jedoch wurden die Frikative „im Zuge von ‚Modernisierungen‘ wort- und gegendweise in unterschiedlichem Ausmaß restituiert“ (SCHEURINGER 1990: 246). Gegenwärtig ist fraglich, inwiefern Formen wie [loː] (‘Loch’) oder [b̥ᴐː] (‘Bach’) im Basisdialekt (zumindest der Untersuchungsregion) noch auftreten (SCHEUTZ 1985a: 170). Um die in Kap. 3.2 angesprochene Gefahr von Verzerrungen durch kategoriale Kontexte zu umgehen, wurden für V3 zwei lexikalische Sets gebildet, in denen der Frikativabfall empirisch belegt ist: einerseits in den Lexemen doch, gleich, noch, ich, dich, sich, mich (= V3a), wo der Schwund „so gut wie gemeinbairisch ist“ (KRANZMAYER 1956: 103, vgl. auch WIESINGER 1990: 454)9 und sogar in standardnäheren Sprechlagen frikativlose Formen auftreten (SCHEUTZ 1985a: 249, vgl. dazu auch MOOSMÜLLER 1991: 53–54; VERGEINER 2019a: 147– 150; 2019b: 509–517); andererseits beim wortfinalen -lich (= V3b), wo die Tilgung ebenfalls vorkommt (SCHEUTZ 1985b: 170), wenn auch nicht so häufig (VERGEINER 2019b: 353–458). Abbildung 4 zeigt zunächst für den Variablenkontext 3a, in welchen Anteilen der Frikativ realisiert wird. 100% 80% 60% 40% 20% 0% GP1
GP3 FI / 1975/76
GP8
GP2
FG / 1975/76
GP4 FI / 2018/19
GP6
GP5
GP7
FG / 2018/19
Abb. 4: V3a (Frikativtilgung bei doch, gleich, noch, ich, dich, sich, mich): Anteil der standardsprachlichen Realisierungen
Die Variablenbesetzung unterscheidet sich hier teilweise von der bei V1 und V2: –
Die Variationsbreite fast aller GP ist geringer als bei V1 und V2, insbesondere im aktuellen Erhebungszeitraum wird der Frikativ sehr oft getilgt, sowohl im FI als auch FG. Mehrheitlich tritt der Frikativ nur im FI im Erhebungszeitraum 1975/76 auf, allerdings auch nur bei einem Teil der GP (GP1, GP3, GP6, GP8).
9
LANWER (2015: 182–183) weist für Norddeutschland nach, dass bei diesen hochfrequenten Schwachdruckwörtern der Frikativ auch allegrosprachlich und ohne dialektale Basis gekürzt werden kann. Vgl. dazu auch VERGEINER (2019b: 509–517).
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Redialektalisierung und Alter
–
–
In diesem Sinne werden zwar 1975/76 signifikante Unterschiede zwischen FI und FG sichtbar, insofern im FI bei allen GP öfter auslautendes -ch realisiert wird (z = -2,521, p = .012*, r = .891), dies gilt aber nicht im aktuellen Erhebungszeitraum. Hier gibt es allenfalls marginale Unterschiede bei einigen GP, bei den meisten erscheint der Frikativ im FI und FG im selben Ausmaß, nämlich (fast) nie. Es gibt signifikante Differenzen zwischen beiden Erhebungszeitpunkten bezüglich des Anteils standardsprachlicher Realisierungen im FI (z = -2,521, p = .012*, r = .891), zudem unterscheiden sich die Erhebungszeitpunkte auch signifikant im Hinblick auf das FG. Hier sind die Differenzen zwar insgesamt kleiner, jedoch erscheint der Frikativ bei allen GP 1975/76 geringfügig öfter (z = -2,521, p = .012*, r = .891).
Die Variation bei V3b zeigt ebenso Unterschiede zu V1 und V2, aber auch zu V3a, wie Abbildung 5 illustriert: –
–
–
Grundsätzlich fällt auf, dass bei dieser Variable eine größere Variationsspanne bei den GP gegeben ist, vor allem zwischen den Erhebungszeitpunkten, aber auch diasituational. Der Frikativ erscheint dabei signifikant öfter als bei V3a (z = -2,521, p = .012*, r = .891). Analog zu den übrigen Variablen wird 1975/76 bei allen GP im FI häufiger die Standardrealisierung genützt als im FG, der Unterschied ist signifikant (z = -2,521, p = .012*, r = .891). Wie bei V3a gilt dies allerdings nicht für den aktuellen Erhebungszeitpunkt: Hier zeigt sich zwar bei vier Probanden (GP2, GP3, GP4, GP5) im FI öfter der Frikativ, bei den übrigen vier erscheint er allerdings im FG häufiger. Zwischen den Erhebungszeitpunkten gibt es indes bei beiden Situationen signifikante Unterschiede: Im FI erscheint 1975/76 bei sieben GP öfter der Frikativ, nur nicht bei GP3, die ihn in beiden Zeitpunkten konstant realisiert (z = -2,366, p = .018*, r = .837). Im FG ist gleichsam nur bei einer GP (GP1) im aktuellen Erhebungszeitraum der Frikativ öfter belegt (z = -2,240, p = .025*, r = .792). 100% 80% 60% 40% 20% 0% GP1
GP3 FI / 1975/76
GP8
GP2
FG / 1975/76
GP6 FI / 2018/19
GP7
GP4
FG / 2018/19
Abb. 5: V3b (Frikativtilgung bei -lich): Anteil der standardsprachlichen Realisierungen
GP5
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Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich die hier untersuchten Lexeme in ihrer Dialektremanenz deutlich unterscheiden – nichtsdestoweniger werden gewisse Entwicklungstendenzen sichtbar: Zwischen den Erhebungszeiträumen nimmt der relative Anteil der standardsprachlichen Realisierungen stark ab, was sich auch in einer Nivellierung diaphasischer Differenzen bemerkbar macht. Während im Erhebungszeitraum 1975/76 noch deutliche diaphasische Differenzen zwischen FI und FG bestehen, sind diese Differenzen im aktuellen Erhebungszeitraum gemindert (bei V1 und V2), wenn nicht überhaupt verschwunden (bei V3a und V3b). Letztlich machen sich also age-grading-Effekte bemerkbar, die zu einer Redialektalisierung führen. Sie bedingen diachrone Unterschiede vor allem im formellen Register (bei allen Variablen), während die Veränderungsmuster im informellen Gespräch weniger eindeutig sind (eine Zunahme dialektaler Lautungen lässt sich nur für V3a und V3b plausibilisieren). 5 DISKUSSION Die Ergebnisse in Kapitel 4 belegen age-grading-Effekte bei allen GP. Entsprechend den Befunden anderer Untersuchungen kommt es zu einer Zunahme standardabweichender Formen im Alter (vgl. bspw. DOWNES 1998), was gleichzeitig zu einer Reduktion der Variationsbreite bei den meisten GP und untersuchten Variablen führt. Damit geht eine Verminderung des Standardgebrauchs im Alter einher, was sich vor allem in den formellen, weniger in den informellen Situationen niederschlägt (vgl. dazu auch Abbildung 6, wo sowohl für das FG als auch das FI zusammenfassend die real-time-Differenzen bei den untersuchten Variablen für die einzelnen GP dargestellt sind). Die Differenz zwischen dem älteren und dem neueren Erhebungszeitpunkt ist indes nicht kategorial, bei den Dialektformen handelt es sich um „age-preferential“, nicht „age-exclusive features“ (CHESHIRE 2005).
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Abb. 6: Real-time-Differenzen bei den Untersuchungsvariablen für die einzelnen GP, oben für FG, unten für FI
Erklärt werden können die age-grading-Effekte mit einem Wandel der Bedeutung, die die Standardsprache für die GP im Laufe des Lebens einnimmt (vgl. dazu bspw. CHAMBERS / TRUDGILL 1998: 79; DOWNES 1998: 225). Während in der Lebensmitte aufgrund von Berufstätigkeit und anderen sozialen Verpflichtungen (bspw. Kindererziehung) der Druck sozialer Normen und damit der Standardsprache besonders groß ist, ist dies in den Phasen davor und danach nicht im selben Maß der Fall. Zu dieser Erklärung passt, dass alle acht analysierten GP 1975/76 im Erwerbsleben standen (und/oder Kinder großzogen), während die GP sich im aktuellen Untersuchungszeitraum bereits im Ruhestand befinden.10 Auffällig ist, dass bei den jeweiligen Variablen ähnliche Entwicklungen auftreten. So wird bei einigen Variablen generell öfter als bei anderen die Standardform realisiert. Bei den vier Variablen lässt sich folgende Hierarchie anhand ihrer Standardanteile konstatieren (gerechnet über alle GP): V3b (62%) > V2 (53%) > V1 (34%) > V3a (17%). Eine solche Hierarchie steht in Einklang mit der diaglossischen Situation im hochdeutschen, insbesondere im bairischen Sprachraum (vgl. Kap. 2.1), wo „jedes Dialektmerkmal den frühesten Einsatzpunkt […] an
10 Dazu passt, dass sich die GP in den Interviews von 1975/76 wesentlich öfter auf soziale und berufliche Verpflichtungen beziehen, während in den aktuellen Interviews (abgesehen von allfälliger Vereinsarbeit) häufiger das Fehlen ebensolcher konstatiert wird.
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anderer Stelle des Kontinuums hat“ (BELLMANN 1983: 114, vgl. auch SCHEUTZ 1985a, 1999; VERGEINER 2019a: 159–164), wobei die Merkmale Phasen der Variabilität durchlaufen. In diesem Sinne kennzeichnen den diaglossischen Variationsraum vor allem „spezifische Anwendungswahrscheinlichkeiten von Regeln“ (SCHEUTZ 1999: 124). Während die GP 1975/76 das Dialekt-Standard-Kontinuum vollumfänglicher auszuschöpfen scheinen, ist die diaphasische Variabilität im aktuellen Datensatz vor allem auf Strukturen in der Mitte des Kontinuums beschränkt (V2 und V1). Der Befund wäre an einer Untersuchung mit mehr Variablen zu überprüfen, könnte aber ebenfalls damit erklärt werden, dass die kommunikativen Anforderungen, situationsabhängig zwischen Dialekt- und Standardpol zu variieren, im Alter aufgrund einer verminderten Anzahl von Kommunikationskontexten geringer werden. Beim obigen Datensatz fällt auf, dass sich sowohl in Abhängigkeit von den Kommunikationssituationen als auch den Erhebungszeitpunkten interpersonal sehr ähnliche Entwicklungen einstellen; dennoch realisieren manche GP generell eher standardnahe Formen als andere – insbesondere auf GP1, GP2, GP3 und GP8 trifft dies zu. Derartige Unterschiede könnten mit SCHEUTZ (1985a) auf unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten zurückgeführt werden, die die GP u. a. in Abhängigkeit von ihrer Ausbildung und ihren jeweiligen Berufen mit deren standardsprachlichen Kommunikationserfordernissen haben (vgl. zum Einfluss solcher Kategorien auf den Varietätengebrauch in Österreich bspw. auch SCHEURINGER 1990); in diesem Sinne wären etwa GP1 als Unternehmerin und GP2, GP3 und GP8 als in kaufmännischen Berufen arbeitende bzw. ausgebildete Personen mit hohen oder zumindest höheren standardsprachlichen Kommunikationserfordernissen konfrontiert. Allerdings gilt dies auch für GP6 und GP7, die in der Gemeindeverwaltung von Ulrichsberg tätig waren, aber generell eher durch ein unterdurchschnittliches Maß an Standardsprachlichkeit in Erscheinung treten. GP4 realisiert mit einem weniger kommunikationsintensivem Beruf (Landwirt) indes öfter Standardformen, während GP5, ebenfalls in der Landwirtschaft beschäftigt, erwartungsgemäß dialektnäher spricht. Zu berücksichtigen ist freilich, dass valide Aussagen über derlei Gruppenunterschiede eines deutlich größeren samples bedürften. Falls die oben gekennzeichneten age-grading-Effekte aber tatsächlich mit dem Druck von (u. a.) berufsabhängenden Normen einhergehen, sind solche Unterschiede jedoch erwartbar. Die Ergebnisse in Kapitel 4 haben jedenfalls gezeigt, dass die interpersonalen Differenzen im Alter geringer werden. Aufschlussreich sind die vorliegenden Ergebnisse im Hinblick auf die apparent-time-Hypothese und den Zusammenhang zwischen age-grading und Sprachwandel (vgl. Kap. 2.2). Entgegen anderen Untersuchungen im deutschsprachigen Raum (vgl. bspw. LAMELI 2004: 103–104), tritt im vorliegenden Kontext wie erwähnt eindeutig age-grading auf: Die (erwachsenen) GP verändern ihre Variation im Dialekt-Standard-Bereich über die Zeit (vgl. zu solchen Befunden bspw. auch HARRINGTON / PALETHORPE / WATSON 2000; SANKOFF / BLONDEAU 2007; REUBOLD / HARRINGTON 2018). Dabei ist hervorzuheben, dass die agegrading-Effekte dem Sprachwandel auf der Populationsebene nicht entsprechen (vgl. zu einem ähnlichen Befund WAGNER / SANKOFF 2011; BUCHSTALLER 2016),
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schließlich wird für den (süd-)deutschen Sprachraum gemeinhin keine Zunahme der Dialektalität, sondern allgemein ein Dialektabbau zugunsten des Standards bzw. Regiolekts konstatiert (vgl. bspw. AUER 1990, 2018; SCHEURINGER 1990; BÜLOW / WALLNER i. Dr.). Für Studien, die dem apparent-time-Design folgen (vgl. dazu auch WAGNER 2012) ergeben sich daraus gewisse Probleme (vgl. dazu auch BÜLOW / VERGEINER i. E.): Dass ältere GP stärker dialektal als jüngere GP sprechen, kann angesichts von age-grading-Effekten nicht von vornherein als Anzeichen für einen Dialektabbau gewertet werden. Aus diesem Grund muss sich die Forderung anschließen, dass Studien zum laufenden Sprachwandel verstärkt real-time-Designs mitberücksichtigen und möglichst mit apparent-time-Designs kombinieren (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011; BÜLOW / SCHEUTZ / WALLNER 2019). In theoretischer Hinsicht stellen die vorliegenden Befunde indes die Validität der in Kapitel 1 eingeführten, oft zitierten Dreiteilung in age-grading, generational change und communal change (vgl. bspw. LABOV 1994: 83; WAGNER 2012: 373) in Frage, ist doch eine Gegenläufigkeit von communal change und agegrading im Modell nicht vorgesehen. Es bedarf weiterer Konzepte, um dem Zusammenhang von individuellen und gesellschaftlichen Sprachveränderungen gerecht zu werden, im vorliegenden Fall lässt sich etwa von retrograde change sprechen (vgl. auch BÜLOW / VERGEINER i. E.). Generell stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von individueller Sprachentwicklung und Sprachwandel auf der Populationsebene, u. a. danach, ob und auf welche Weise individuelle Entwicklungen vom laufenden Sprachwandel erfasst werden und wie sich Mikro- und Makroebene theoretisch sowie empirisch aufeinander beziehen lassen. Die Untersuchung solcher Fragen stellt noch immer ein Desiderat dar, das zu beheben größer angelegter Studien mit einer Kombination von real-time- und apparent-timeDesigns bedürfte. 6 FAZIT Der vorliegende Beitrag hat erste Ergebnisse einer real-time-panel-Studie zur sprachlichen Entwicklung im Dialekt-Standard-Bereich von acht Gewährspersonen zu zwei Erhebungszeitpunkten in der oberösterreichischen Marktgemeinde Ulrichsberg präsentiert. Die Befunde widersprechen der generellen Annahme, dass im bairischen Teil Österreichs vorrangig Dialektabbau stattfinde. Gezeigt werden konnte vielmehr, dass es bei den untersuchten Gewährspersonen zu einer Zunahme der Dialektverwendung kommt. Die damit belegten age-gradingEffekte treten – trotz gewisser individuenspezifischer Unterschiede – bei allen Untersuchungsvariablen auf und führen zu einer Verminderung der Variationsbreite zwischen formellen und informellen Situationen. Sie hinterfragen die Gültigkeit der apparent-time-Hypothese und belegen die Notwendigkeit, darauf beruhende Designs stärker durch real-time-Untersuchungen zu ergänzen. Insofern die für die untersuchten Gewährspersonen dokumentierte Zunahme der Dialektverwendung auch dem für die Sprachgemeinschaft angenommenen Dialektabbau
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ANHANG
FG FI
V1 817 727
V2 1 855 1 029
V3a 3 400 1 918
V3b 659 365
Σ 6 731 4 039
1975/76 2018/19
722 822
1 301 1 583
2 292 3 026
455 569
4 770 6 000
GP1 GP2 GP3 GP4 GP5 GP6 GP7 GP8
142 202 186 251 118 231 218 196
297 404 432 472 227 503 319 230
554 786 680 893 362 898 642 503
55 195 121 230 162 147 70 44
1 048 1 587 1 419 1 846 869 1 779 1 249 973
Σ
1 544
2 884
5 318
1 024
10 770
Tab. 2: Absolute Häufigkeiten des Variablenvorkommens je nach Situation, Zeitabschnitt und GP
RHEIN-MAINISIERUNG – ZUR NEUSTRUKTURIERUNG IM HESSISCHEN SPRACHRAUM Lars Vorberger 1 HINFÜHRUNG Dem hessischen Sprachraum, das heißt die Dialektregionen des Nord-, Ost- und Zentralhessischen sowie der nordwestliche Teil des Rheinfränkischen (vgl. VORBERGER 2019: 28–31), kommt innerhalb der deutschen Sprache eine besondere Rolle zu.1 Einerseits liegt auf Dialektebene ein sehr heterogener und komplexer Sprachraum vor (vgl. SCHANZE 1981; RAMGE 2003; VORBERGER 2019), der andererseits oft als homogene Einheit („Hessisch“, „hessische Sprache“) wahrgenommen wird (vgl. v. a. PURSCHKE 2008; 2010).2 Innerhalb des hessischen Sprachraums wiederum erscheint der mittlere und südliche Teil aus regionalsprachlicher Sicht als besonders interessant. Für diesen Sprachraum – vor allem für das Rhein-Main-Gebiet – liegen seit Ende des 19. Jahrhunderts Beschreibungen regionalsprachlicher Entwicklungen vor. Das angrenzende Zentralhessische gilt laut dialektologischer Forschungsliteratur (vgl. bspw. WIESINGER 1980; MULCH 1967) wiederum als sehr eigenständiger und konservativer Sprachraum. VORBERGER (2019) kann in seiner Untersuchung zum Sprachraum des südlichen und mittleren Hessens zeigen, dass die beobachteten regionalsprachlichen Entwicklungen zu einer Neustrukturierung des Sprachraums geführt haben: Rezent ist eine Zweiteilung des traditionellen Zentralhessischen festzustellen.3 Es lassen sich in diesem Gebiet zwei moderne Regionalsprachen identifizieren: (1) die nordzentralhessische Regionalsprache im Norden des Zentralhessischen, und (2) die Rhein-Main-Regionalsprache im Süden des Zentralhessischen und
1 2 3
Zu unterscheiden sind der hier (sprachlich) definierte hessische Sprachraum und der Sprachraum Hessens – als geo-politische Einheit –, zu dem auch weitere nicht-hessische Dialekte zählen (vgl. VORBERGER 2019: 28–29). Dies liegt nicht zuletzt an der medialen Dominanz des Rhein-Main-Gebiets – und somit der dort verbreiteten Sprechweisen (vgl. dazu PURSCHKE 2010; VORBERGER i. E.). Terminologisch wird weiterhin vom Zentralhessischen die Rede sein. Es dient einerseits als (historischer) Bezugspunkt. Andererseits stehen für eine rezente und umfassende Neugliederung des hessischen Sprachraums, die dann auch terminologische Neuerungen umfassen kann, weitere Untersuchungen, v. a. zu den umliegenden Räumen, aus (vgl. auch Fn. 4).
124
Lars Vorberger
dem südlich angrenzenden Gebiet (Übergangsgebiet und Rheinfränkisch).4 Der Süden des Zentralhessischen schließt sich dem Übergangsgebiet und dem Rheinfränkischen im Süden an und bildet mit diesen den Sprachraum der Rhein-MainRegionalsprache. Zu diesem Ergebnis hat ein komplexer Sprachwandelprozess geführt, der als Rhein-Mainisierung bezeichnet werden kann (vgl. VORBERGER 2019: 373–374). Ziel dieses Beitrags ist es, diesen Sprachwandelprozess durch die Auswertung weiterer Daten genauer zu untersuchen. VORBERGER (2019) fokussiert kleine bis mittelgroße Städte (zusätzlich die Großstadt Frankfurt am Main), sodass hier vor allem Daten aus dem ländlichen Raum betrachtet werden, um ein präzises rezentes Raumbild zu erhalten und den Verlauf des Prozesses nachzeichnen zu können. Dazu wird im Folgenden der Sprachraum des Zentralhessischen auf Grundlage der bisherigen Forschungsliteratur beschrieben (2), um dann neue Forschungsergebnisse zu präsentieren (3). Darauf folgen empirische Analysen zu neuen regionalsprachlichen Merkmalen (4.2), basisdialektalen Merkmalen (4.3) und großräumig distribuierten Dialektmerkmalen (4.4). Zum Schluss werden die Ergebnisse zusammengeführt (5). 2 DER SPRACHRAUM DES ZENTRALHESSISCHEN Die historischen zentralhessischen Dialekte erstrecken sich vom Marburger Hinterland über den Vogelsberg bis in den Taunus und die Wetterau. Die klassische Dialektologie kommt zu dem Ergebnis, dass sich dieser Sprachraum deutlich von den umliegenden Gebieten abgrenzen lässt und zudem durch zahlreiche eigenständige, spezifische Merkmale gekennzeichnet ist (vgl. WIESINGER 1980: 41; DINGELDEIN 1989: 9–10, zusammenfassend VORBERGER 2019: 35–37). Zu diesen Merkmalen gehören unter anderem die Realisierung von mhd. i1 als [ɛ͡ə, ɪ͡ə] (Bsp. Kind [kɪ͡ənt]), von mhd. ë als [ɛ͡ə] (Bsp. Schwester [ʃvɛ͡əstər]), von mhd. uo als [ɔ͡ʊ] (Bsp. Bruder [b̥rɔ͡ʊr̩]), von mhd. ie als [ɛ͡ɪ] (Bsp. lieb [lɛ͡ɪp]), von mhd. üe als [ɔ͡ɪ, ɔ͡ʏ] (Bsp. Kühe [kɔ͡ʏ]), von mhd. ô als [uː] (Bsp. Brot [bruːt]) sowie von mhd. ê und oe als [iː] (Bsp. weh, böse [viː], [biːs]) (vgl. allgemein zur Darstellung des Sprachraums REIS 1910; WIESINGER 1980; 1983; FRIEBERTSHÄUSER 1987; VORBERGER 2019 und vor allem auch zur Morphologie und Syntax BIRKENES / FLEISCHER 2019). Neben dieser Eigenständigkeit wird oft auch die Stabilität der zentralhessischen Dialekte herausgestellt. So beschreibt beispielsweise DEBUS (1963) in seiner Auswertung des Wenkermaterials zwar das Vordringen südlicher, das heißt rheinfränkischer Formen nach Norden, doch reichen diese Entwicklungen meist nicht über den Main hinaus und betreffen somit zu dieser Zeit das Zentralhessi-
4
Eine genaue geografische Grenzziehung ist bisher nicht möglich (vgl. dazu VORBERGER 2019: 373).
Rhein-Mainisierung – Zur Neustrukturierung im hessischen Sprachraum
125
sche noch nicht.5 Auch ALLES (1954: 196) kommt durch einen Vergleich der Wenkerdaten mit eigenen Erhebungen in der Wetterau zu dem Ergebnis einer großen Stabilität des Raums, da „in vielen Fällen die Grenzen von damals und heute noch genau überein[stimmen]“. Die damalige Stabilität der zentralhessischen Dialekte lässt sich beispielhaft an Wenkerbogen und frühen Sprachaufnahmen belegen. In den ersten zwei Sätzen des Wenkerbogens aus Büdingen (Nr. 27578, von 1880, Südosten des Zentralhessischen) lassen sich viele der spezifischen, kleinräumigen Merkmale des Zentralhessischen belegen. 1. Em Wender fle(i)ge die drockne Blärrer dorch de(i) Loft herim. 2. ‘S hiert baal uf se schneire, dann werds Wärrer wirrer besser.6
So kann aufgrund der Schreibung darauf geschlossen werden,7 dass mhd. i2 wie in Wender (ʻWinterʼ) [e, ɛ] entsprach sowie mhd. ie wie in fle(i)ge (ʻfliegenʼ) [ɛ͡ɪ]. Auch der Rhotazismus wurde verschriftlicht wie in Blärrer (ʻBlätterʼ), Wärrer (ʻWetterʼ) und wirrer (ʻwiederʼ). Die zentralhessischen Entsprechungen von mhd. u [o] wie in Loft (ʻLuftʼ), von mhd. ô/œ [iː] wie in hiert (ʻhörtʼ) sowie von mhd. a vor lt, ld [aː] wie in baal (ʻbaldʼ) können aufgrund des Bogens als Merkmale des damaligen Büdinger Dialekts gelten. Interessant ist außerdem, dass es in den Beispielsätzen und allen weiteren Sätzen keine Belege für mögliche südliche Einflüsse gibt. Zu sehen ist dies oben an der fehlenden (Verschriftung der) Koronalisierung wie in dorch (ʻdurchʼ).8 Aus dem Korpus der Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek (1922– 1926) liegen Wenkersatzaufnahmen aus dem Gebiet des (südlichen) Zentralhessischen vor (vgl. zu den Aufnahmen allgemein GÖSCHEL 1977: 11–12, 52 sowie SCHMIDT / HERRGEN 2011: 116–117). Beispielhaft soll hier Wenkersatz 8 (Die Füße tun mir weh, ich glaube ich habe sie mir durchgelaufen.) der Aufnahme LA 381 aus Eckartshausen/Büdingen betrachtet werden, der der Qualität der Aufnahme entsprechend phonetisch transkribiert wurde (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011: ̆ sə d̥o̟ɘçɡəlɐːv̊ə]. Auch in diesem 116–117): [d̥ɪ fɔ͡ɪs d̥ɔ͡o mɞɾ viː a͡ɘç ɡˡlɐːv a̠͡ɛʝ ̊ ɦʊn Beispiel lassen sich die typischen, kleinräumigen Merkmale des Zentralhessischen identifizieren. So wird mhd. üe als [ɔ͡ɪ] (Füße), mhd. uo als [ɔ͡o] (tun) und mhd. ê als [iː] (weh) artikuliert. Das Pronomen ich wird dem Basisdialekt entsprechend
5 6 7 8
Im Taunus dringen diese Formen jedoch schon weiter nach Norden vor (vgl. DEBUS 1963: 43). Auch WIESINGER (1980: 141) und RAMGE (2003: 2748) halten für das 19. Jahrhundert eine tendenzielle Öffnung des Zentralhessischen nach Süden fest. 1. Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum. 2. Es hört gleich auf zu schneien, dann wird das Wetter wieder besser. Vgl. zur Analyse von Wenkerbogen u. a. SCHMIDT / HERRGEN (2011: 107–109) und VORBERGER (2015). In anderen Wenkerbogen im südlich angrenzenden Raum ist diese zu finden, so bspw. im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen (Wenkerbogen 27264) (vgl. dazu VORBERGER 2019: 131).
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Lars Vorberger
diphthongisch und mit palatalem (nicht koronalem) Frikativ realisiert [a͡ ̠ ɛʝ̊] und haben basisdialektal flektiert [hʊn].9 Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts werden dann vermehrt regionalsprachliche Entwicklungen im südlichen Zentralhessischen beobachtet.10 So spricht beispielsweise ALLES (1954) trotz übergreifender Stabilität der zentralhessischen Dialekte (s. o.) von einer zunehmenden Beeinflussung des süd-östlichen Zentralhessischen durch Frankfurt. Die Städte der Wetterau bilden „Vorposten, von wo aus sich die Umgangssprache Frankfurts über die umliegende Landschaft ausbreiten konnte“ (ALLES 1954: 182).11 DINGELDEIN (1994: 274) bezeichnet schließlich „die im Rhein-Main-Gebiet gebräuchliche Ausgleichsvarietät“ als „Neuhessisch“,12 das als „verkehrssprachliche Zweitvariante […] neben den Dialekten […] in der Wetterau bis Gießen zu hören“ ist (DINGELDEIN 1994: 277). Zusammenfassen lassen sich diese Beobachtungen und Beschreibungen als eine Fortführung einer „[…] stufenweise[n] […] Verhochdeutschung […], die sich von Süden nach Norden ausgebreitet hat“ (SCHMIDT 2015: 270).13 Bislang wurden diese Beobachtungen meist empirisch nicht – oder wenig – fundiert. Mit VORBERGER (2019) liegt nun eine vergleichende, systematische Untersuchung des Sprachraums mit den Methoden der modernen Regionalsprachenforschung vor, die empirisch fundierte Ergebnisse zur Struktur und Dynamik bietet. 3 NEUE FORSCHUNGSERGEBNISSE VORBERGER (2019) untersucht – im Rahmen des Forschungsprojekts Regionalsprache.de (REDE) – das Sprachverhalten von Sprechern aus drei Generationen an sieben Orten im mittleren und südlichen Hessen (Zentralhessisch: Ulrichstein (VB), Gießen (GI), Büdingen (BÜD), Bad Nauheim (FB); Übergangsgebiet 9
10
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Dies gilt ebenso für die Aufnahme des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten aus Berstadt im ehemaligen Kreis Büdingen (LD60117/ MD010, vgl. dazu allgemein PURSCHKE 2016). Im Gespräch zweier Landwirte kommen unter anderem der Rhotazismus wie in Wetterauer [ʋɛɹ̩ɐːɵɽ̆], die zentralhessischen Entsprechungen von mhd. ô wie in brotlos [b̥ɹʊːd̥ˡlʊːs] und mhd. uo wie in tun [dɔ̟ʊ͡ ]̞ ) vor, mögliche südliche Einflüsse wie beispielsweise die Koronalisierung treten nicht auf (vgl. ich [ɪʝ ̊]). Regionalsprachliche Entwicklungen im Übergangsgebiet zwischen Rheinfränkisch und Zentralhessisch und im nördlichen Rheinfränkischen werden bereits seit 1875 – beginnend mit VIËTOR (1875) – beschrieben (vgl. REIS 1910; MAURER 1927; 1929, zusammenfassend VORBERGER 2019: 49–53). SCHNELLBACHER (1963) hält eine erhebliche sprachliche Beeinflussung des Taunus (südwestliches Zentralhessisch, Übergangsgebiet) durch Frankfurt fest, die von Süden nach Norden abnimmt (vgl. auch Fn. 5). Vgl. zum Begriff der Neuhessischen VORBERGER (2019: 59–60). Hier wird wie in VORBERGER (2019: 376–377) der Begriff des Rh e in- Ma in- Regio lek ts verwendet. Weitere Beschreibungen finden sich u. a. in SCHIRMUNSKI (2010/1962); HARD (1966); BRINKMANN TO BROXTEN (1986). Vgl. zusammenfassend auch VORBERGER (2019: 49–67, 86–91).
Rhein-Mainisierung – Zur Neustrukturierung im hessischen Sprachraum
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ZH/RF: Frankfurt am Main (F); Rheinfränkisch: Reinheim (DA), Erbach (ERB))14. Dabei handelt es sich in der älteren Generation (ALT) um NORMs (nonmobile older rural males), in der mittleren Generation (ohne Kennzeichnung am Ortskürzel) um 45–55-jährige Polizisten und in der jüngeren Generation (JUNG) um 18–23-jährige Abiturienten. Pro Ort wurden ein Sprecher der älteren, zwei Sprecher der mittleren und ein Sprecher der jüngeren Generation aufgezeichnet.15 Sie wurden in verschiedenen Situationen aufgenommen: unter anderem Übertragung der Wenkersätze in das individuell beste Hochdeutsch (WSS), leitfadengestütztes Interview, Freundesgespräch (FG) und Übertragung der Wenkersätze in den individuell besten Dialekt (WSD) (vgl. zur Datengrundlage insgesamt VORBERGER 2019: 93–98). Diese Daten wurden nach der Aufbereitung mit verschiedenen Methoden ausgewertet, dazu zählen die phonetische Dialektalitätsmessung, Variablenanalysen, Clusteranalysen, Implikationsanalysen und qualitative Analysen (vgl. VORBERGER 2019: 99–144). Auf dieser Grundlage kommt VORBERGER (2019) zu folgenden Ergebnissen: Im Untersuchungsort Ulrichstein im nördlichen Zentralhessischen kann ein ZweiVarietäten-Spektrum (Dialekt und Regiolekt) nachgewiesen werden. Der Dialekt ist äußerst stabil, alle Sprecher können ihn abrufen und verwenden ihn auch in der (informellen) Alltagskommunikation. In Gießen besteht die Besonderheit darin, dass der Dialekt im Abbau begriffen ist. Lediglich ein Sprecher kann ihn in der Kompetenzabfrage produzieren, verwendet ihn aber nicht mehr. Das untersuchte Sprachverhalten in Gießen (außer einer Dialektabfrage) kann dem Regiolekt zugeordnet werden (vgl. VORBERGER 2019: 228–277). In den beiden Untersuchungsorten des südlichen Zentralhessischen (Büdingen und Bad Nauheim) ergibt sich demgegenüber ein anderes Bild. Hier lässt sich als Spektrumstyp ein regionalsprachliches Kontinuum mit Basisdialektrest ermitteln (vgl. bspw. auch BELLMANN 1983: 123). Dies bedeutet, dass nur wenige Sprecher in der Dialektabfrage Reste des Basisdialekts (s. o.) abrufen können. Dieser Basisdialektrest geht kontinuierlich in den Regiolekt über, es lässt sich keine feste Varietätengrenze (mehr) ermitteln – sie wird lediglich noch von einigen dialektalen Resten indiziert. Die alltägliche Kommunikation ist dem regiolektalen Bereich des Kontinuums zuzuordnen. In Bad Nauheim ist das Sprachverhalten insgesamt bereits standardnäher als in Büdingen (vgl. VORBERGER 2019: 278–335). Diese regionalsprachlichen Kontinua gleichen denen im Rheinfränkischen (vgl. VORBERGER 2019: 140–199). Insgesamt zeigen die raumübergreifenden Analysen mehr Ähnlichkeiten zwischen dem südlichen Zentralhessischen und dem Rheinfränkischen als zwischen den nord- und südzentralhessischen Orten. Dies betrifft folgende Aspekte: (1) Struktur der regionalsprachlichen Spektren (s. o.), (2) qualitative und quantitative Zusammensetzung der einzelnen Varietäten 14 Diese und weitere Kennzeichnungen beziehen sich auf das REDE-Projekt und VORBERGER (2019), sie werden auch in den nachfolgenden Analysen verwendet. 15 In Büdingen wurden zwei Sprecher der älteren Generation einbezogen, sodass insgesamt das Sprachverhalten von 29 Sprechern untersucht wurde.
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Lars Vorberger
und Sprechlagen, (3) Sprachverhaltensmuster und (4) regionalsprachliche Entwicklungen (vgl. VORBERGER 2019: 336–356). Der südliche Teil des zentralhessischen Sprachraums schließt sich also dem südlich angrenzenden Gebiet an und ist Teil einer modernen Regionalsprache: der Rhein-Main-Regionalsprache. Diese lässt sich eindeutig von der nordzentralhessischen Regionalsprache unterscheiden, sodass innerhalb des traditionellen Zentralhessischen rezent eine Grenze verläuft.16 Der südzentralhessische Teil des Sprachraums hat sich somit aus den alten Strukturgrenzen gelöst und im gesamten untersuchten Raum ist eine Neugliederung als Ergebnis festzuhalten (vgl. VORBERGER 2019: 370–378). Den Prozess, der zu diesem rezenten Ergebnis geführt hat, bezeichnet VORBERGER (2019: 374) als Rhein-Mainisierung. Er setzt sich aus drei sprachdynamischen Teilprozessen zusammen: (1) Interferenz neuer regionalsprachlicher Merkmale (bspw. Koronalisierung, ausgehend vom Regiolekt), (2) Abbau basisdialektaler Merkmale (bspw. Entsprechungen von mhd. ô) und (3) Stabilität (und Gebrauchswandel/Ausbau) der großräumig distribuierten, das heißt unter anderem dem Frankfurter Regiolekt entsprechenden Merkmale (bspw. Entsprechungen von mhd. ou). Dies bedingt an den jeweiligen Orten insgesamt einen Abbau struktureller Unterschiede (2) und einen Aufbau struktureller Gemeinsamkeiten (1, 3) der beiden (ehemaligen) Varietäten Regiolekt und Dialekt und führt zu einem regionalsprachlichen Kontinuum. Raumübergreifend führt dies ebenso zu einem Abbau struktureller Unterschiede (2) und Aufbau struktureller Gemeinsamkeiten (1, 3) mit dem Rheinfränkischen und dem Übergangsgebiet, was sich als Advergenzprozess der Regionalsprache des Südzentralhessischen zur südlich angrenzenden Regionalsprache beschreiben lässt (vgl. VORBERGER 2019: 306–309, 373–374).17 Der skizzierte Prozess der Rhein-Mainisierung soll nun im vorliegenden Beitrag expliziert und mit weiteren Daten – vor allem aus dem ländlichen Raum – abgeglichen werden. Dazu werden ausgewählte Merkmale ((a) neue regionalsprachliche, (b) spezifisch basisdialektale und (c) großräumig distribuierte dialektale Varianten) in ihrer räumlichen Distribution und situativen Verwendung untersucht. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt:
16 Der Grenzverlauf kann nicht genau beschrieben werden. Die einzelnen Untersuchungsorte lassen sich aber einer Regionalsprache zuordnen (vgl. Fn. 4). 17 Es handelt sich hierbei um einen komplexen Sprachwandelprozess (vgl. VORBERGER 2019: 374) und bspw. nicht um eine monodimensionale Ausbreitung südlicher Sprechweisen, wie oft angenommen (vgl. u. a. BRINKMANN TO BROXTEN 1986: 12).
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(1) Kann der beschriebene Prozess durch die neuen Analysen bestätigt werden? (2) Kann der Verlauf des Prozesses durch einen diatopischen Vergleich (Stadt– Land) (genauer) nachgezeichnet werden?18 4 EMPIRISCHE ANALYSEN 4.1 Methodisches Einerseits wurden Daten aus VORBERGER (2019: 401–404) neu ausgewertet und dargestellt (vgl. Abb. 3 und 9). Andererseits wurden Daten aus zwei weiteren Korpora – den „Tonaufnahmen hessischer Mundarten“ (TAHM) und dem im Aufbau befindlichen „Digitalen Hessischen Sprachatlas“ (DHSA) – analysiert. Für das TAHM-Korpus wurden in den Vorarbeiten zum „Hessischen Dialektzensus“ (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989) Aufnahmen in Zusammenarbeit der hessischen Sparkassen, der Landesbausparkasse, der Hessen-Nassauischen Versicherung und dem Hessen-Nassauischen Wörterbuch im Forschungsinstitut für deutsche Sprache an der Universität Marburg innerhalb der Imagekampagne „Ich sagʼs hessisch“ 1982 erhoben. In Selbstaufnahmen wurden neben freien Erzählungen und Liedern auch die Wenkersätze in den Dialekt übersetzt. Zwar richtete sich die Aktion eher an jüngere Sprecher/innen, doch wurden auch ältere Personen einbezogen (vgl. REDE).19 Im Rahmen des Forschungsprojekts „Syntax hessischer Dialekte“ (SyHD) (2010–2016) (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2017) wurden auch direkte Erhebungen vorgenommen. Aufgezeichnet wurden hierbei Sprecher/innen, bei denen von einer hohen Kompetenz im Basisdialekt ausgegangen werden konnte (NORFs, NORMs) (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015: 263). In Kooperation mit dem Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas sollten auch die Wenkersätze in den individuell besten Dialekt übersetzt werden, sodass ein Korpus von 134 dialektintendierten Wenkersatzaufnahmen für den Sprachraum Hessens vorliegt. Dieses bildet unter anderem die Grundlage für den am Deutschen Sprachatlas im Entstehen begriffenen „Digitalen Hessischen Sprachatlas“ (DHSA). Sowohl das Korpus als auch die Karten des Atlas werden in das REDE SprachGIS integriert. 18 Dieser Frage liegt die Vermutung zu Grunde, dass der südwestliche Teil des (traditionellen) Zentralhessischen (Taunus) früher und stärker von den Prozessen betroffen ist als der südöstliche (Wetterau), wie es u. a. ALLES (1954); DEBUS (1963) und SCHNELLBACHER (1963) beschreiben und wie es sich auch in den Daten VORBERGERS (2019) (s. o. Vergleich Bad Nauheim, Büdingen) andeutet. 19 Das Korpus ist in das sprachgeographische Informationssystem REDE SprachGIS integriert. Durch die Erhebungsmodalitäten ist die Aufnahmesituation schwer zu rekonstruieren. Trotz intendiertem Dialekt ist oft von regiolektalen Sprechweisen auszugehen, doch gerade für die meisten älteren Sprecher/innen kann von einem Dialektgebrauch ausgegangen werden, wie die Gesamtauswertung des hier verwendeten Materials belegt.
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Zusätzlich zu den Untersuchungsorten in VORBERGER (2019) (Büdingen, Bad Nauheim und Ulrichstein) wurden aus den beiden Korpora 48 weitere Orte im (traditionellen) Zentralhessischen und im Übergangsgebiet ausgewählt (vgl. Tab. 2 im Anhang und bspw. Abb. 1). Zwar wurden die Daten in unterschiedlichen Zeiträumen erhoben, doch wurde – soweit es möglich war – bei der Auswahl der Informantinnen und Informanten auf ähnliche Metadaten geachtet. So ist das durchschnittliche Geburtsjahr der Untersuchten 1933 (Standardabweichung 16 Jahre). Es liegt somit zwar keine vollständige, aber eine recht gute Vergleichbarkeit der Daten vor. Auswertungen des Materials (vgl. Tab. 2 im Anhang) haben zudem ergeben, dass sich kein Zusammenhang zwischen dem Erhebungszeitraum (Korpus) und den Variantenverteilungen erkennen lässt. Aus diesem Grund werden die Korpora bei der Ergebnisdarstellung nicht weiter unterschieden. In Abb. 1 ist die Herkunft der Daten dokumentiert.
Abb. 1: Herkunftskorpora der Sprachdaten
Die Auswertung der Daten umfasst neben quantitativen Variablenanalysen (Daten aus VORBERGER 2019) eine qualitativ-quantitative Variantenanalyse der dialektintendierten Wenkersätze (TAHM, DHSA, ALT-Sprecher aus VORBERGER 2019). Hierbei wurden ausgewählte Variationsphänomene (vgl. Tab. 1) hinsichtlich ihrer Realisierung untersucht. Pro Phänomen wurden zwei Belege ausgewertet und je
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nach Realisierung kodiert (vgl. Tab. 2 im Anhang) – aufgrund der besseren Vergleichbarkeit wurden, wenn möglich dieselben Wenkerlemmata aus unterschiedlichen Wenkersätzen ausgewählt. Die Ergebnisse sind in Tabelle 2 im Anhang zu sehen und wurden teilweise mit dem REDE SprachGIS kartiert. Untersucht wurden folgende Variationsphänomene (vgl. dazu ausführlich auch VORBERGER 2019: 115–139):
großräumig distribuierte Dialektmerkmale
spezifisch basisdialektale Merkmale
neue regionalsprachliche Merkmale
Variationsphänomen Koronalisierung TiefschwaVorverlagerung s-Sonorisierung
Lemmata
dialektale Variante
neue regionale Variante
standardsprachliche Variante
2 x ich WS 8
[ç]
[ɕ]
[ç]
[ər]
[ɛ]
[ɐ]
[s]
[z]
[s]
2 x besser WS 2, 18
mhd. ô
tot WS 14, Brot WS 30
[uː]
–
[oː]
mhd. uo
gute WS 4, gut WS 17
[ɔ͡ʊ]
–
[uː]
mhd. ou
2 x auch WS 9, 10
[a̠ː]
–
[a̠͡o]
mhd. ei
heiß WS 6, Fleisch WS 19
[a̠ː]
–
[a̠͡e]
Tab. 1: Untersuchte Variationsphänomene
4.2 Neue regionalsprachliche Merkmale Die Koronalisierung bezeichnet die Vorverlagerung des palatalen Frikativs [ç] zu [ɕ] (vgl. zu diesem Phänomen v. a. HERRGEN 1986). Für das Rheinfränkische kann die Koronalisierung als dialektales Phänomen gelten, für die historischen zentralhessischen Dialekte allerdings nicht, wie auch die exemplarischen Analysen hier gezeigt haben (vgl. Kap. 2). So ist für deren Betrachtung von einem neuen regionalsprachlichen Merkmal auszugehen (vgl. VORBERGER 2019: 128–134). ALLES (1954: 195) beschreibt erste koronale Varianten für die Dialekte der südlichen Wetterau in den 1950er Jahren. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung sind in Abbildung 2 kartiert, untersucht wurde der auslautende Frikativ in den beiden ich-Belegen aus Wenkersatz 8.
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Wie in Abbildung 2 zu sehen, sind die koronalen Varianten vor allem im Übergangsgebiet und im südlichen Zentralhessischen – ungefähr bis zur Höhe von Bad Nauheim – belegt. Aber auch in diesem Raum realisieren die Sprecher/innen teilweise palatale Varianten (Steinbach, Niedergründau), zum Teil kommt es auch zu intraindividueller Variation (Burg-Gräfenrode, Bad Nauheim), das heißt in einem Satz zur palatalen und koronalen Variante. Im westlichen Teil dieses Gebiets reichen die Belege weiter nach Norden als in der östlich gelegenen Wetterau. Im nördlichen Zentralhessischen überwiegen die dialektalen palatalen Varianten.20 Doch gibt es auch hier einzelne Belege für die Koronalisierung und zwar in der Nähe der städtischen Oberzentren Gießen und Wetzlar. Insgesamt werden die palatalen Varianten zu 55 % und die koronalen zu 45 % realisiert.
Abb. 2: Regionale Verteilung der Koronalisierung (ich)
20 Diese können aufgrund der gesamten, sehr dialektalen Übersetzung der Wenkersätze als dialektal und nicht standardsprachlich gewertet werden. Gleiches gilt für die einzelnen Belege im Süden.
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Die beschriebene Distribution deutet darauf hin, dass die Koronalisierung sich in den Dialekten21 des Übergangsgebiets und des südlichen Zentralhessischen etabliert hat beziehungsweise in der Etablierung begriffen ist (vgl. auch VORBERGER 2019: 361–362), was durch die Variation in diesem Gebiet angedeutet wird. Die Ausbreitung des Phänomens reicht im Westen tendenziell weiter nach Norden als im Osten. Der Norden des Sprachraums kann hinsichtlich des Phänomens als stabil gelten, wobei sich auch hier vereinzelt Koronalisierungen belegen lassen und zwar in größeren Städten, was deren Bedeutung für die Ausbreitung regionaler Varianten unterstreicht (vgl. hierzu bspw. MAURER 1933: 27). WSD
FG
Interview
WSS
100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Abb. 3: Realisierungen der Koronalisierung (Büdingen, Bad Nauheim), vgl. VORBERGER (2019: 361)
In Abbildung 3 sind die Ergebnisse der Auswertung der Daten aus VORBERGER (2019) zu sehen. Hier wird nicht die diatopische Distribution der koronalen Varianten, sondern deren intersituative Realisierung fokussiert. Abgebildet sind für die einzelnen Sprecher aus Büdingen und Bad Nauheim die prozentualen Realisierungen der koronalen Varianten in den jeweiligen Erhebungssituationen. Die Koronalisierung wird von den älteren und mittleren Sprechern – mit der Ausnahme von FB1 – hochfrequent in allen Sprachproben mit geringer Variation realisiert.22 Sie können das Merkmal nicht kontrollieren, sodass sich die Koronali21 Hier ist übergreifend von Dialekten die Rede. Für die genaue Identifizierung der Sprechlage – bspw. Basisdialektrest – bedarf es weiterer Analysen. 22 BÜD1 produziert die koronalen Varianten am seltensten im intendierten Basisdialekt. Hier zeigt sich eben jener Rest des Basisdialekts, der dieses regionale Merkmal genuin nicht auf-
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sierung im gesamten individuellen Spektrum der Sprecher etabliert hat. Die Sprecher BÜDJUNG1 und FB1 produzieren koronale Varianten nur im intendierten Dialekt sehr häufig und ansonsten – im kommunikativen Alltag und der intendierten Standardsprache – äußerst selten.23 Sie können das Merkmal somit – wenn auch nicht vollständig – kontrollieren. Dies vermag der junge Sprecher aus Bad Nauheim, der nur sehr wenige Koronalisierungen im intendierten Dialekt realisiert und ansonsten ausschließlich palatale Varianten. Die Koronalisierung kann also für die südlichen Städte des Zentralhessischen als vollständig im gesamten regionalsprachlichen System etabliert gelten, wobei sich – vor allem in der jüngeren Generation – deutliche Tendenzen eines Abbaus des Merkmals zeigen.24 Unter s-Sonorisierung wird die stimmhafte Realisierung des alveolaren Frikativs in wortmedialer Position (bspw. [hɛzən] ʻHessenʼ) verstanden. Auch dieses Merkmal ist für die historischen zentralhessischen Dialekte nicht beschrieben, wird aber in jüngerer Zeit in regionalen Sprechweisen des Raums beobachtet (vgl. bspw. LAMELI 2004: 158; zusammenfassend VORBERGER 2019: 138–139). Es kann daher als neu sowie progressiv gelten. VORBERGER (2019: 358–360) kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die stimmhafte Variante ein genuin regiolektales Merkmal ist, aber rezent auch als dialektales Merkmal klassifiziert werden kann, da sie in ihrer vertikalen, horizontalen und intergenerationellen Verteilung typischen Dialektvarianten gleicht.25 Dies wird durch die vorliegende Untersuchung bestätigt (vgl. Abb. 4). Die stimmhaften Varianten überwiegen im gesamten Gebiet mit 59 %. Es zeichnet sich kein klares Raumbild ab, lediglich im Vogelsberg und in der nördlichen Wetterau gibt es zusammenhängende Orte, in denen die Sprecher/innen die dialektale, stimmlose Variante produzieren. Tendenziell sind die stimmhaften Varianten im westlichen Teil des Gebiets etwas häufiger als im östlichen. Relativ oft kommt es zudem zu intraindividueller Variation (in 10 von 52 Fällen). Die Etablierung der s-Sonorisierung ist somit weiter fortgeschritten als die der Koronalisierung. Die Daten hier legen nahe, dass der Prozess noch stattfindet, das Merkmal aber bereits (in weiten Teilen) als dialektal gelten kann.
weist (s. o.). Insgesamt ist es in Büdingen bereits ein Merkmal des Basisdialektrests, wird aber von BÜD1, der noch die höchste Kompetenz aufweist (vgl. VORBERGER 2019: 298– 300), aufgrund dieser Restkompetenz im Vergleich seltener produziert. Vgl. dazu auch VORBERGER (2017). 23 BÜDJUNG1 konzeptualisiert die Koronalisierung also, wie sich aufgrund dieser Verteilung schließen lässt, als typisches Merkmal des Dialekts. Vgl. dazu auch VORBERGER (2017) und VORBERGER (2019: 362, Fn. 640). 24 Die Verteilung der Varianten hier und die inhaltliche Auswertung der Interviews der Sprecher (vgl. VORBERGER 2019: 306–307) lassen die Schlussfolgerung zu, dass sich die Koronalisierung zunächst im Regiolekt etabliert (horizontale Ausbreitung) und dann den Dialekt interferiert (vertikale Ausbreitung). Vgl. dazu auch VORBERGER (2019: 306–307) und HERRGEN (1986: 101–111). 25 Diesem Ergebnis muss ein rapider Lautwandel vorausgegangen sein, den VORBERGER (2019: 359–360) u. a. mit einer phonologischen Optimierung erklärt.
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Abb. 4: Regionale Verteilung der s-Sonorisierung (besser)
Des Weiteren wurde der -Auslaut analysiert, das heißt die Phonemfolge /ər/ im Auslaut des phonologischen Wortes. Hier gilt für die historischen zentralhessischen Dialekte eine konsonantische Entsprechung [ər, r̩]. In den rheinfränkischen Dialekten entspricht der Auslaut einer vorverlagerten Tiefschwa-Variante [ɛ] oder [ɜ], die sich tendenziell nach Norden auszubreiten scheint (vgl. bspw. ALLES 1954: § 452) und daher als neue regionale Variante für den zentralhessischen Sprachraum untersucht wurde (besser, WS 2, 18). Die hier ausgewerteten Daten zeigen (vgl. Abb. 5), dass die vorverlagerten Tiefschwa-Varianten fast ausschließlich im Übergangsgebiet und im südlichen Zentralhessischen vorkommen, die Belege reichen dabei nicht so weit nach Norden wie bei der Koronalisierung. Die nördlichsten Einzelbelege finden sich in der Nähe der Stadt Nidda (Borsdorf) und in Butzbach. Insgesamt dominieren die konsonantischen Realisierungen mit 71 %. Diese Distribution deutet auch auf eine – stattfindende – Ausbreitung der neuen regionalen Variante [ɛ] in den Dialekten des südlichen Zentralhessischen hin, obschon die Etablierung der Variante noch nicht so weit fortgeschritten scheint wie die der Koronalisierung.
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Abb. 5: Regionale Verteilung der Tiefschwa-Vorverlagerung (besser)
Diese Ergebnisse fügen sich mit denen aus VORBERGER (2019: 363–364) zusammen. Beide bestätigen sich gegenseitig. Im nördlichen Untersuchungsort Ulrichstein werden im Dialekt ausschließlich konsonantische Varianten produziert, in den beiden südlichen Orten Bad Nauheim und Büdingen realisieren die meisten Sprecher – vor allem diejenigen mit den höchsten Restkompetenzen – im intendierten Dialekt (also dem Basisdialektrest) vermehrt konsonantische Auslaute, auch wenn die neuen Varianten bereits überwiegen. In den regiolektalen Sprechweisen – auch in der intendierten Standardsprache – werden die neuen, vorverlagerten Varianten im gesamten Untersuchungsgebiet hochfrequent zu über 90 % realisiert.26 Dies lässt den Schluss zu, dass sich dieses Merkmal horizontal über
26 In der Rhein-Main-Regionalsprache prägen sie das gesamte Spektrum. Es zeigen sich zudem nur an wenigen Orten leichte Variabilisierungstendenzen des Merkmalgebrauchs im intergenerationellen Vergleich (vgl. VORBERGER 2019: 364).
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den Regiolekt ausbreitet (vgl. Ulrichstein) und dann vertikal den Dialekt interferiert (vgl. Büdingen)27 (vgl. dazu VORBERGER 2019: 364 und Fn. 24). Führt man die Ergebnisse der Auswertungen der drei neuen regionalsprachlichen Merkmale zusammen, ergibt sich die in Abbildung 6 dargestellte Verteilung der Varianten. Hier wurde eine Choroplethen-Kartierung vorgenommen, die die relativen Anteile der neuen regionalen Varianten durch eine farbliche Kodierung anzeigt. Je heller ein Ortspunkt ist, desto mehr und häufiger kommen diese neuen Varianten vor, je dunkler er ist, desto mehr und häufiger werden an dem Ort dialektale Varianten realisiert.
Abb. 6: Regionale Verteilung der neuen regionalen Varianten
In der Abbildung ist chen Merkmale sich Dialekte interferiert Sprachraums zu, wo
zu erkennen, dass die untersuchten neuen regionalsprachliweiter nach Norden ausgebreitet und die zentralhessischen haben. Dies trifft vor allem auf den südlichen Teil des helle Farbtöne klar dominieren, sodass sich die von VOR-
27 Dies ist tendenziell bereits bei dem jungen Sprecher aus Ulrichstein zu beobachten, der teilweise im Dialekt (Abfrage und freies Sprechen) neue regionale Varianten produziert (vgl. VORBERGER 2019: 250–252).
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BERGER (2019) ermittelte Zweiteilung des Raums – mit dem stabilen nordzentralhessischen Teil, wo dunkle Töne überwiegen – auch hier abzeichnet. Zwei weitere Differenzierungen können identifiziert werden. Zum einen gibt es in dem südlichen Gebiet in sehr ländlichen Untersuchungsorten (Wölfersheim, Ortenberg) Sprecherinnen und Sprecher, die (noch) keine neuen regionalen Merkmale im Dialekt produzieren, und im nördlichen Teil einzelne städtische Regionen (Butzbach, Gießen, Wetzlar), wo die neuen regionalsprachlichen Merkmale schon vermehrt, teilweise auch überwiegend realisiert werden. Dies lässt auf einen StadtLand-Gegensatz und die angesprochene Verbreitung der südlichen Varianten über Städte schließen. Zum anderen lässt sich in der Verteilung auch ein West-OstGefälle erkennen: im (süd-)westlichen Teil des Untersuchungsgebietes kommen mehr neue regionalsprachliche Merkmale vor als im (süd-)östlichen Teil und dies auch frequenter.
4.3 Basisdialektale Merkmale Als spezifische Merkmale der zentralhessischen Basisdialekte wurden die Entsprechungen von mhd. ô ([uː] in tot WS 14, Brot WS 30) und uo ([ɔ͡ʊ] in gute WS 4, gut WS 17) ausgewertet (vgl. zu den Merkmalen auch VORBERGER 2019: 121– 122). Beide Varianten gelten nicht nur für die historischen Dialekte des Zentralhessischen, sondern auch für die des Übergangsgebiets (vgl. bspw. Wenkerkarte 243 gut, 192 tot). Die Ergebnisse sind in Abbildung 7 und 8 dargestellt. Die Auswertung zeigt, dass der dialektale Monophthong [uː] insgesamt sehr frequent (zu 77 %) realisiert wird und damit als relativ stabil gelten kann. Lediglich im Übergangsgebiet, im direkt an Frankfurt grenzenden Teil des Zentralhessischen und vereinzelt in Städten des Untersuchungsgebietes (Büdingen, Bad Nauheim, Butzbach) kommen standardsprachliche Varianten vor, oder dominieren sogar.28 Auch die Daten aus VORBERGER (2019: 401–404) zeigen, dass der dialektale Monophthong in Ulrichstein hochfrequent im Dialekt verwendet wird – sowohl in der Abfrage als auch im freien Gespräch, wobei sich die Verwendung in dieser Situation durch eine Variabilisierung kennzeichnet. In Büdingen und Bad Nauheim können insgesamt nur drei Sprecher die Dialektvariante lediglich in der Abfrage produzieren und dies auch nur zu durchschnittlich 75 %. In allen anderen Erhebungssituationen und bei allen anderen Sprechern kommen ausschließlich standardnahe Varianten vor, sodass dieses Merkmal als fast vollständig abgebaut gelten kann, wie auch Abbildung 7 indiziert.
28 Zwei Ausnahmen treten auf. In Ulrichstein realisiert der ältere Sprecher Brot mit einem standardsprachlichen Monophthong. In allen anderen Belegen produziert er allerdings den dialektalen Monophthong und ist insgesamt sehr dialektkompetent (vgl. VORBERGER 2019: 244– 246), sodass hier von einer (einzellexikalischen) Ausnahme ausgegangen werden kann. Die zweite Ausnahme (Hitzkirchen, ganz im Osten) bedarf einer eingehenderen Untersuchung.
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Abb. 7: Regionale Verteilung der Varianten von mhd. ô (tot, Brot)
Dies gilt auch für die Auswertung der Entsprechungen von mhd. uo (vgl. Abb. 8). Hier zeigt sich eine ähnliche Verteilung wie für mhd. ô in Abbildung 7. Ein Unterschied besteht darin, dass die dialektale Variante hier geringfügig häufiger realisiert wird. Dies belegen auch ALLES (1954: 195) und VORBERGER (2019: 401– 404). Ansonsten kann auch hier die Distribution der standardsprachlichen Variante im Übergangsgebiet und dem nordwestlich angrenzenden Gebiet sowie in einigen Städten im Norden beobachtet werden.29
29 Für Ulrichstein wurde dieses Phänomen nicht untersucht, da hier die zentralhessische Variante [ɔ͡ʊ] nicht gilt (vgl. VORBERGER 2019: 121).
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Abb. 8: Regionale Verteilung der Varianten von mhd. uo (gute, gut)
Die Distributionen der beiden spezifisch basisdialektalen Merkmale deuten somit eine tendenzielle Ausbreitung der standardsprachlichen Varianten ausgehend vom Süden und über städtische Zentren an. 4.4 Großräumig distribuierte Dialektmerkmale Die dialektalen Varianten für mhd. ou (untersucht in auch WS 9, 10) und mhd. ei (heiß WS 6, Fleisch WS 19) – in beiden Fällen [a̠ː] – sind großräumig verbreitet und gelten unter anderem auch im gesamten Rheinfränkischen (vgl. VORBERGER 2019: 116–117).30 Die Auswertung der hier untersuchten Daten ergibt eine ausgesprochene Stabilität der Merkmale. Der dialektale Monophthong für mhd. ou wird in 94 % der Fälle produziert. Lediglich jeweils ein Beleg in Hanau und in Butz30 Es kann zu geringen Qualitätsunterschieden kommen, die dann aber dem Dialekt entsprechen. Relevant hier ist die monophthongische Realisierung (vgl. auch VORBERGER 2019: 116–117).
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bach wird mit standardnahem Diphthong produziert. Dies gilt ebenso für mhd. ei. Hier wurde für das Lemma heiß in der TAHM-Erhebung die Variante stark gewählt, sodass diese insgesamt nur eingeschränkt ausgewertet werden kann. In allen Fällen, in denen heiß realisiert wurde, tritt ein dialektaler Monophthong auf. Auch für Fleisch wird zu 90 % die Dialektvariante produziert, sodass auch hier eine hohe Stabilität festgehalten werden kann. Die fünf diphthongischen Belege kommen alle in der unmittelbaren Umgebung von Frankfurt (bspw. Eschborn, Fechenheim) vor. Somit kann neben der übergreifenden Stabilität für dieses Belegwort dieselbe Entwicklungstendenz wie bei den anderen Dialektmerkmalen, wenn auch in geringerem Ausmaß, ermittelt werden. WSD
FG
Interview
WSS
100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Abb. 9: Realisierungen von mhd. ou (Büdingen, Ulrichstein), vgl. VORBERGER (2019: 401–403)
Diese hohe Stabilität zeigt sich auch in den Daten aus VORBERGER (2019) (vgl. Abb. 9). Dargestellt sind die dialektalen Realisierungen aller Belege von mhd. ou der Sprecher aus Büdingen und Ulrichstein in den jeweiligen Erhebungssituationen. In den Dialektübersetzungen der Sprecher aus Ulrichstein tritt die dialektale Variante zu 100 % auf, auch drei Sprecher aus Büdingen realisieren sie zu 100 %. Ein Sprecher der mittleren Generation und der Sprecher der jungen Generation äußern den Monophthong in dieser Situation etwas seltener (80 % und 63 %), sodass sich in Büdingen im intergenerationellen Vergleich ein (tendenzieller) Abbau des Merkmals andeutet. Dennoch lässt sich dieses Merkmal bei allen Sprechern abfragen und ist vor allem im Vergleich zu anderen Merkmalen als relativ stabil zu klassifizieren. Interessant erscheint zudem die Verwendung in den freien Erhebungssituationen. Die Sprecher aus Ulrichstein gebrauchen den dialektalen Monophthong (hoch-)frequent im Dialekt (d. i. Freundesgespräch) und ersetzen ihn im Regiolekt
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(d. i. Interview und Standardkompetenzerhebung) vollständig. Die Verteilung entspricht der eines typischen Dialektmerkmals. Die Büdinger zeigen demgegenüber ein anderes Gebrauchsmuster. Sie variieren intersituativ kaum oder gar nicht.31 Zwar nehmen die Frequenzen im intergenerationellen Vergleich ab, doch verwenden die Sprecher das Merkmal sowohl in informellen (Freundesgespräch) als auch in formellen Situationen (Interview) entweder gleich häufig oder mit nur geringen Frequenzunterschieden. In Büdingen wird dieses Phänomen also nicht nur im Dialektrest, sondern auch frequent im Regiolekt verwendet. Dieses Gebrauchsmuster entspricht dem aus den rheinfränkischen Untersuchungsorten (vgl. VORBERGER 2019: 165–173). Gleiches gilt für die Entsprechung von mhd. ei und die Verteilungen in Bad Nauheim. Geht man davon aus, dass die rezente Verteilung der Merkmale in Ulrichstein die historischen Verhältnisse konserviert, was für die weiteren Ergebnisse ebenso gilt (vgl. VORBERGER 2019: 252–253), und somit auch einmal für das südliche Zentralhessische (inklusive Büdingen) Geltung hatte, dann ist von einem Gebrauchswandel dieser Merkmale durch Frankfurter und rheinfränkischen Einfluss auszugehen (vgl. auch VORBERGER 2019: 308– 309). Die beiden untersuchten großräumig distribuierten Phänomene zeichnen sich im gesamten Untersuchungsgebiet durch hohe Stabilität aus, lediglich erste Tendenzen des Abbaus (Ersatz durch standardnahe Varianten) lassen sich im Frankfurter Raum erkennen. Zudem unterliegen sie in den Städten des südlichen Zentralhessischem einem Gebrauchswandel und werden auch im Regiolekt verwendet. 5 ZUSAMMENFÜHRUNG Die regionalsprachlichen Entwicklungen im – traditionell eingeteilten – südlichen Zentralhessischen, die als Rhein-Mainisierung bezeichnet werden können (vgl. VORBERGER 2019), haben die alten sprachlichen Strukturgrenzen aufgelöst und zu einer Neugliederung des Sprachraums geführt. Es handelt sich dabei um einen komplexen Sprachwandelprozess, der zu dem Ergebnis führt, dass sich dieser Teil des zentralhessischen Sprachraums dem südlich angrenzenden Sprachraum (Übergangsgebiet und Rheinfränkisch) anschließt und im gesamten RheinMain-Gebiet eine moderne Regionalsprache (Rhein-Main-Regionalsprache) identifiziert werden kann. Ausgehend von diesem Ergebnis wurden in der vorliegenden Untersuchung weitere Daten (TAHM, DHSA) aus dem Gebiet ausgewertet, wobei der Fokus auf ländlichen Untersuchungsorten lag. Analysiert wurden (a) neue regionalsprachliche, (b) spezifisch basisdialektale und (c) großräumig distribuierte dialektale Varianten. Die Auswertungen haben zu folgenden Ergebnissen geführt:
31 Ausgenommen davon ist der junge Sprecher, der in diesen Situationen keine Dialektvarianten mehr produziert.
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Die neuen regionalsprachlichen Merkmale (Koronalisierung, Tiefschwa-Vorverlagerung und s-Sonorisierung) haben sich weiter nach Norden ausgebreitet und vor allem die Dialekte im südlichen Teil des Zentralhessischen interferiert, wobei es dort in sehr ländlichen Orten Ausnahmen gibt. Genauso sind im nördlichen Teil städtische Zentren auszumachen, in denen die neuen Merkmale bereits überwiegen. Insgesamt ist neben der Nord-Süd-Teilung auch ein West-Ost-Gefälle im südlichen Teil zu beobachten, da tendenziell im westlichen Gebiet mehr neue regionalsprachliche Merkmale realisiert werden und dies auch frequenter. In den südlichen Städten kann zudem nachgewiesen werden, dass sie sich über regiolektale Sprechlagen ausgebreitet und im gesamten regionalsprachlichen System etabliert haben. Die spezifischen Merkmale der zentralhessischen Basisdialekte (Entsprechungen von mhd. ô und uo) sind im gesamten Untersuchungsgebiet (noch) relativ stabil, dennoch zeigt sich im südlichen Teil des Gebiets (in der Nähe Frankfurts) und in einigen Städten nördlich davon (u. a. Büdingen, Butzbach) deutlich, dass die Merkmale über den Ersatz durch standardnahe Varianten abgebaut werden. Auch hier zeichnet sich eine Entwicklung von Süden nach Norden und über städtische Zentren ab. Die großräumig distribuierten Dialektmerkmale (Entsprechungen von mhd. ou und ei) sind als sehr stabil zu klassifizieren. Bis auf wenige Ausnahmen werden die Dialektvarianten an allen Untersuchungsorten in den Dialektübersetzungen verwendet. Es lassen sich aber erste Variabilisierungstendenzen in der unmittelbaren Umgebung Frankfurts erkennen. In den Städten im Süden des Zentralhessischen unterliegen sie außerdem einem Gebrauchswandel, da sie dort auch – dem Rheinfränkischen entsprechend – im Regiolekt verwendet werden. Der Prozess der Rhein-Mainisierung (d. h. (1) Interferenz neuer regionalsprachlicher Merkmale, (2) Abbau basisdialektaler Merkmale und (3) Stabilität (und Gebrauchswandel) der großräumig distribuierten Merkmale; vgl. VORBER32 GER 2019) kann grundlegend bestätigt werden. Zudem liefern die vorliegenden Auswertungen zusätzliche Erkenntnisse zu diesem Prozess. (1) Die Entwicklungen verlaufen aus süd-westlicher in nord-östliche Richtung. Im südlichen Teil des Untersuchungsgebiets kann ein übergreifendes WestOst-Gefälle identifiziert werden (mehr neue regionalsprachliche und weniger dialektale Merkmale im Westen). Die Beobachtungen von ALLES (1954), DEBUS (1963) und SCHNELLBACHER (1963) sowie die Tendenzen in den Ergebnissen aus VORBERGER (2019) (vgl. auch Fn. 18) lassen sich somit empirisch erhärten. (2) Die Entwicklungen sind in den ländlichen Untersuchungsorten des südlichen Teilgebiets noch nicht so weit fortgeschritten wie in den städtischen Räumen. Es lassen sich daher unterschiedliche Geschwindigkeiten der (identischen)
32 Auch die Zweiteilung des zentralhessischen Sprachraums zeigt sich in den vorliegenden Daten (s. o., vgl. VORBERGER 2019).
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Entwicklungen festhalten und ein Verlauf ausgehend von Städten annehmen (vgl. dazu MAURER 1929; ALLES 1954; DEBUS 1963). (3) Diesen Verlauf legen auch die Ergebnisse für den nördlichen Teilraum nahe. Hier sind die Entwicklungen in den städtischen Zentren (u. a. Gießen, Wetzlar) weiter fortgeschritten als im restlichen Teilgebiet (Stadt-Land-Gefälle, vgl. auch Kap. 3). Eine Erklärung für diesen komplexen Sprachwandelprozess liefert die Sprachdynamiktheorie (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011; VORBERGER 2019). Durch die zunehmende überregionale Kommunikation zwischen den Sprecher/innen aus dem südlichen Zentralhessischen und dem Übergangsgebiet/dem Rheinfränkischen im Rhein-Main-Gebiet werden die Prestigeformen des „Frankfurter Hochdeutschs“ (bspw. Koronalisierung) übernommen (vgl. auch MAURER 1927: 160). Die Verwendung der Merkmale des zentralhessischen Vokalismus würde aufgrund ihrer strukturellen Distanz zur Standardsprache (und auch zum Rheinfränkischen) zu Miss- und Nichtverstehen führen, weswegen sie immer seltener verwendet und dann auch nicht mehr weitergegeben werden. Die Merkmale, die auch im Regiolekt des Rhein-Main-Gebiets verwendet werden (bspw. Entsprechung von mhd. ou), bleiben durch die Kommunikation stabil bzw. werden auch in weiteren Kommunikationssituationen (sowie überregional) verwendet (vgl. dazu ausführlicher VORBERGER 2019: 306–309). Die hier untersuchten dialektalen Daten müssten mit der Auswertung weiterer Daten (v. a. weitere Erhebungssituationen, s. o.) kombiniert werden, um über die identifizierten Prozesse hinaus weitere Erkenntnisse zur Struktur und Dynamik der gesamten Regionalsprachen im Raum (Rhein-Main-Regionalsprache, nordzentralhessische Regionalsprache) zu erlangen. LITERATURVERZEICHNIS ALLES, HEINZ (1954): Mundart und Landesgeschichte der Wetterau. [Dissertationsschrift Universität Marburg]. BELLMANN, GÜNTHER (1983): Probleme des Substandards im Deutschen. In: MATTHEIER, KLAUS J. (Hg.): Aspekte der Dialekttheorie. Tübingen: Niemeyer (Germanistische Linguistik. 46), 105–130. BIRKENES, MAGNUS / JÜRG FLEISCHER (2019): Zentral-, Nord- und Osthessisch. In: HERRGEN, JOACHIM / JÜRGEN ERICH SCHMIDT (Hg.): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Band 4: Deutsch. Unter Mitarbeit von HANNA FISCHER und BRIGITTE GANSWINDT. Berlin/Boston: De Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 30.4), 435–478. BRINKMANN TO BROXTEN, EVA (1986): Stadtsprache – Stadtmundart: Studie zum Gebrauch und zur Funktion mundartnaher Sprachvarietäten in Frankfurt/Main. Tübingen: Narr (Tübinger Beiträge zur Linguistik. 289). DEBUS, FRIEDHELM (1963): Stadtsprachliche Ausstrahlung und Sprachbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dargestellt am mittleren Rhein- und unteren Maingebiet nach Karten des Deutschen Sprachatlas. In: Marburger Universitätsbund. Jahrbuch 1963. II, 17–68.
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ANHANG
Phänomen Lemma Wenkersatz Kirch-Göns Ober-Florstadt Vonhausen Glashütten Horbach Glauberg Niedergründau Bleichenbach Ortenberg Wölfersheim Petterweil Ober-Rosbach Butzbach Münster Erbstadt Bg.-Gräfenrode Bad Nauheim Hanau Hitzkirchen Bad Nauheim Büdingen Ulrichstein Altenhain Gonterskirchen Bobenhausen Laubach Merlau Lich Borsdorf Allendorf Dornholzhausen Heuchelheim Hüttenberg Kröffelbach Ebersgöns Niederbiel Hermannstein Gießen Naunstadt Eschbach Obernhain Bad Homburg Steinbach
neue regionalsprachliche Merkmale er-Ausl. s-Sono. Koro. besser besser ich 2 18 2 18 8 8 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 1 1 1 2 2 2 1 2 2 2 1 1 2 2 2 2 2 2 1 1 1 1 2 2 0 2 0 2 1 1 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 1 1 2 1 2 2 2 2 2 2 2 2 1 2 2 1 2 2 2 0 2 2 2 2 2 2 2 2 1 2 1 1 2 1 1 1 2 2 2 2 2 2 1 1 2 2 1 2 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 1 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 1 1 2 2 2 2 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 2 2 2 2 1 1 1 1 2 2 1 1 1 2 2 2 1 1 2 2 2 2 1 1 2 2 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 1 1
spezifisch basisdialektale Merkmale mhd. ô mhd. uo tot Brot gute gut 14 30 4 17 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 1 1 2 1 1 1 2 2 2 2 1 2 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2
großräumig distribuierte Dialektmerkmale mhd. ou mhd. ei auch heiß Fleisch 9 10 6 19 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 2 0 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 1 0 1 2 1 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 0 1 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 0 1 1 0 1 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 0 0 1 1 1 1 2 1 1 0 1 1 1 0 2
148 Eschborn Fechenheim Rüddingshausen Hachborn Odenhausen Fronhausen Holzhausen Niederwalgern
Lars Vorberger 2 2 1 1 1 1 1 1
2 2 1 1 1 1 1 1
2 2 1 1 2 1 1 1
2 2 1 1 2 1 1 2
2 2 1 1 1 2 1 1
2 2 1 1 1 2 1 1
2 2 1 1 1 1 1 1
2 2 1 1 1 1 1 1
2 2 1 1 1 1 1 1
2 2 1 1 1 1 1 1
1 0 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 1 1
0 0 0 0 0 0 0 0
Tab. 2: Übersicht der Datenauswertung
Kodierung: 0 = Nichtrealisierung (a) für die neuen regionalsprachlichen Merkmale: 1 = dialektale Variante, 2 = regionale Variante, 3 = standardsprachliche Variante (b) für die dialektalen Merkmale: 1 = dialektale Variante, 2 = standardsprachliche Variante.
2 2 1 1 1 1 1 1
DIALEKTVARIATION AN DER SCHNITTSTELLE VON SYNTAX, MORPHOLOGIE UND LEXIK – DER KONJUNKTIV II IN DEN BAIRISCHEN DIALEKTEN ÖSTERREICHS UND SÜDTIROLS1 Philipp Stöckle 1 EINLEITUNG Das Bairische zählt zu den lebendigsten deutschen Dialektgruppen, und seine Erforschung und Beschreibung kann in Österreich und Südtirol auf eine lange Tradition zurückblicken, die sich wissenschaftshistorisch gar in der Etablierung einer eigenen Schule (der sog. „Wiener dialektologischen Schule“, vgl. WIESINGER 1983) manifestiert. Während in Bezug auf Sprachwandel vor allem die Ebene der Lautung in den Fokus genommen wurde (vgl. WIESINGER 2005: 15), ist über die Entwicklung anderer Systemebenen wie der Syntax oder der Lexik hingegen weniger bekannt. In dialektgeographischer Hinsicht muss zudem festgestellt werden, dass mit den Projekten „Sprachatlas von Oberösterreich“ (SAO), „Tirolischer Sprachatlas“ (TSA) und „Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluss des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus“ (VALTS) zwar einige Teilregionen Österreichs und angrenzender Regionen abgedeckt sind, eine systematische, empirische Erfassung und Beschreibung der Basisdialekte für weite Teile (besonders im Süden und Osten) des Landes jedoch fehlt. Was speziell die Syntax betrifft, so lässt sich seit der Mitte der 1990er-Jahre eine verstärkte Hinwendung der germanistischen Dialektforschung zu dieser Systemebene feststellen, die auch das Bairische erfasst hat. Ein Großteil der Arbeiten verfolgt dabei einen theoretischen Zugang (z. B. BAYER 1984, 1990; WEISS 1998; GREWENDORF / WEISS 2014), während die Anzahl variationslinguistischer Untersuchungen mit einem empirischen Fokus vergleichsweise gering ist (z. B. PATOCKA 1996; LENZ / AHLERS / WERNER 2014). Auch spielt die diachrone Perspektive dabei allgemein eine untergeordnete Rolle. Der vorliegende Beitrag widmet sich einem Phänomen an der Schnittstelle von Syntax, Morphologie und Lexik, das als besonders charakteristisch für das Bairische betrachtet werden kann und in verschiedener Hinsicht bereits in der Forschung thematisiert wurde (siehe dazu Kapitel 2): dem Konjunktiv II. Dabei ist 1
Mein herzlicher Dank gilt Fabian Fleißner, Manfred Glauninger, Alexandra N. Lenz und Dominik Wallner für ihre wertvollen Anmerkungen, die zur Verbesserung dieses Textes beigetragen haben. Alle verbliebenen Unzulänglichkeiten liegen ausschließlich in meiner Verantwortung.
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Philipp Stöckle
besonders der synthetische Konstruktionstyp an dem Suffix -ad erkennbar, das zwar ursprünglich aus der schwachen Verbflexion stammt, aber praktisch mit allen Verben eine Konjunktiv-II-Form bilden kann. Neben der synthetischen existiert im Dialekt ebenfalls eine analytische Konstruktion, die in der Regel mit tun als Auxiliar (und seltener wie im Standarddeutschen mit würde)2 gebildet wird. Sowohl innerhalb des synthetischen als auch des analytischen Konstruktionstyps gibt es Variation bezüglich der Konjunktivmarkierung. Für starke Verben finden sich – neben der ad-Markierung – synthetische Form mit Ablaut, während für die Auxiliare in der analytischen Konstruktion Varianten mit ad-Suffix belegt sind (vgl. Kapitel 2). Als empirische Grundlage für die vorliegende Untersuchung des Konjunktivs II werden Sprachdaten herangezogen, die größtenteils aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen und eigentlich gar nicht für grammatische bzw. syntaktische Analysen vorgesehen sind, sondern im Rahmen eines lexikographischen Langzeitprojekts erhoben wurden: das Material des „Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ)“, eine ca. 3,6 Millionen Handzettel umfassende Belegsammlung, von der ein Großteil in den letzten Jahrzehnten digitalisiert wurde und im XML/TEI-Format in einer BaseX-Datenbank3 vorliegt. Das Ziel des Beitrags besteht erstens darin, erstmals die Vielfalt der verschiedenen Konjunktiv-II-Varianten im Bairischen anhand einer breiten empirischen Basis sprachgeographisch zu beschreiben und zweitens sprachliche Normvorstellungen im Hinblick auf die Standardsprache, die sich im WBÖ-Material manifestieren, soziolinguistisch und im Hinblick auf ihr sprachdynamisches Potential zu deuten. Drittens soll das Datenmaterial selbst kritisch begutachtet und auf seine Anwendbarkeit, aber auch bezüglich seiner Grenzen für variationslinguistische Untersuchungen geprüft werden. Zu diesem Zweck wird im folgenden Kapitel zunächst das Phänomen selbst im Rahmen eines kurzen Forschungsüberblicks beschrieben. In Kapitel 3 wird das WBÖ-Datenmaterial vorgestellt, auf dessen Grundlage die in Kapitel 4 präsentierten Analysen durchgeführt werden. Kapitel 5 liefert abschließend eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie einen kurzen Ausblick. 2 DER KONJUNKTIV II IM BAIRISCHEN Während der synthetische Konjunktiv II in vielen Dialekten des Deutschen nur schwach ausgebaut oder kaum vom Indikativ Präteritum zu unterscheiden ist (vgl. SALTVEIT 1983) und in der standardnahen Umgangssprache regelmäßig durch analytische Formen mit dem Auxiliar würde ersetzt wird (vgl. Duden 2016: 553), 2
3
Da in der Forschungsliteratur häufiger darauf hingewiesen wird, dass die Grammatikalisierung der Form würde mittlerweile so weit fortgeschritten ist, dass diese als eigenes Auxiliar anzusehen ist (vgl. insbesondere SMIRNOVA 2006: 190), wird im vorliegenden Beitrag ebenfalls von würde als Auxiliar zur Bildung des analytischen Konjunktivs II gesprochen. (Zugriff: 25.11.2019).
Dialektvariation an der Schnittstelle von Syntax, Morphologie und Lexik
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ist er in den bairischen Basisdialekten stark verbreitet, was anhand der folgenden Beispiele aus dem Material des WBÖ4 illustriert wird: (1)
Waûn ă nă khâmăd (‘Wenn er nur käme’) (Natschbach-Loipersbach, Niederösterreich)
(2)
dē lēgɐtn siχ gläe nīdɐr (‘die legten sich sogleich nieder’) (Feldkirchen, Kärnten)
(3)
wenn i nu öippas söichat (‘wenn ich nur etwas sähe!’) (Schwaz, Nordtirol)
(4)
wen i nu ǫ̈ pas saach! (‘wenn ich nur etwas sähe!’) (Kufstein, Nordtirol)
Die ersten drei Beispiele zeigen verschiedene Verwendungsweisen des -adSuffixes: Es kommt im Singular (Bsp. 1 und 3) als auch im Plural vor (Bsp. 2) und wird sowohl mit schwachen (Bsp. 2) als auch starken Verben (Bsp. 1 und 3) gebildet. Wie ein Vergleich der Beispiele 3 und 4 verdeutlicht, können starke Verben wie sehen den Konjunktiv II sowohl mit -ad-Suffix als auch mit Wechsel des Stammvokals bilden. Tabelle 1 veranschaulicht das Flexionsparadigma der synthetischen Konjunktiv-II-Formen im Bairischen.
1. Sg 2. Sg 3. Sg 1. Pl 2. Pl 3. Pl
schwache Verben („sagen“) sōg-ad sōg-asd sōg-ad sōg-adn sōg-ads sōg-adn
starke Verben („kommen“) stark flektiert schwach flektiert kam kam-ad kam-st kam-asd kam kam-ad kam-an kam-adn kam-ts kam-ads kam-an kam-adn
Endung der schwachen Flexion {AT} + Ø {AT} + {ST} {AT} + Ø {AT} + {EN} {AT} + {T} + Pron {AT} + {EN}
Tab. 1: Flexionsparadigma der synthetischen Konjunktiv-II-Formen im Bairischen (vgl. WIESINGER 1989: 61; GLAUNINGER 2011: 2)
Sprachhistorisch wird die -ad-Endung von SCHÖNBACH (1899: 236) auf das ahd. Suffix -ôt(a) der II. schwachen Verbklasse zurückgeführt, strukturell lässt sie sich als Infix {AT-} zur Konjunktiv-Markierung analysieren, mit dem jeweils die Personen-Markierung verbunden wird (vgl. WIESINGER 1989: 60). Während die Endung von allen schwachen Verben verwendet wird, findet sich bei starken Verben Variation: Neben dem endungslosen Konjunktiv II, der durch einen Wechsel des Stammvokals markiert wird (i liaß ‘ich ließe’), steht die Konjunktivmarkierung 4
Da der Großteil des WBÖ-Materials aus Belegen von freiwilligen Sammler/-innen besteht, die keine geschulten Dialektolog/-innen waren, weist die Verwendung der Lautschrift Teuthonista eine große Bandbreite an Variation auf.
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mit -ad-Endung, die entweder mit dem Präsens- oder mit dem Präteritumstamm verbunden werden kann (vgl. i loßad vs. i liaßad ‘ich ließe’). Was die sprachgeographische Variation betrifft, finden sich – besonders in Bezug auf das Bairische in Österreich und Südtirol – nur einzelne Hinweise. WIESINGER etwa verweist auf verschiedene Varianten der -ad-Endung wie etwa dū sǭgatš(t) (‘du sagtest’) (2. Sg.) mit palatalisiertem /s/ und erhaltenem /t/ in Oberbayern, Westtirol und im Nordtiroler Inntal (vgl. WIESINGER 1989: 57–58) oder miɒ šnǫpɒtmɒ (‘wir schnappten’) (1. Pl.) mit suffigiertem Personalpronomen in Kärnten, Niederbayern und Südböhmen (vgl. WIESINGER 1989: 58). ZEHETNER (1985) weist darauf hin, dass verschiedene stark flektierte Konjunktivformen nur in besonders konservativen Regionen belegt seien, bezieht sich in seinem Text jedoch nur auf Bayern. Eine genauere sprachgeographische Beschreibung, die die verschiedenen morphologischen Bildungsmuster speziell unter Berücksichtigung des Verbtyps einbeziehen, liegt allerdings bislang nicht vor. Neben den synthetischen Formen existieren im Bairischen aber auch analytische Varianten, wie die folgenden Beispiele zeigen: (5)
de neigiari Moasn tāt am gean ausfratschln (‘die neugierige Meise täte einen gern ausfragen’) (Poysdorf, Niederösterreich)
(6)
és schaud he͜ a, o͜ üs wån’s rėgnad wuadd (‘es schaut her, als wenn es regnen würde’) (Dunkelsteinerwald, Niederösterreich)
Während die für das Bairische „typischere“ und weiter verbreitete analytische Form die Konstruktion mit dem Hilfsverb tun ist (Bsp. 5), existieren auch Fälle, in denen der Konjunktiv, ähnlich wie im Standarddeutschen, mit dem Auxiliar würde gebildet wird (Bsp. 6). In Bezug auf den Konstruktionstyp stellt sich zum einen die Frage nach dem Verhältnis zwischen synthetischer und analytischer Variante, zum anderen nach dem verwendeten Auxiliar (tun vs. würde) bei der analytischen Konstruktion. Generell wird für das Bairische angenommen, dass die Variante mit dem Hilfsverb tun (dös tad mi schõ ūsǫ̈ chn ‘das täte mich schon ansehen’) die weiter verbreitete Form ist, jedoch stellt AUER (2007) in ihrer Studie auf der Basis verschiedener schriftlicher Quellen bereits einen starken Anstieg an Formen mit würde zwischen 1740 und 1775 fest. In diesem Zeitraum wurden unter Maria Theresia verschiedene Reformen zur Standardisierung durchgeführt, die sich jedoch stark an nordund mitteldeutschen Vorbildern (z. B. Johann C. Gottsched) orientierten. Der Anstieg der Konstruktionen mit würde wird von AUER dahingehend interpretiert, dass einerseits die im Bairischen verbreiteten Formen mit tun stigmatisiert waren, andererseits aufgrund der im Dialekt verbreiteten -ad-Varianten Unsicherheit bezüglich der standardsprachlichen synthetischen Konjunktiv-II-Formen herrschte, weshalb in vielen Fällen der würde-Konjunktiv als Ausweich-Variante gewählt wurde (vgl. AUER 2007: 14). Besondere Beachtung erfuhr der Konjunktiv II im Bairischen in der Forschung im Hinblick auf funktionale Aspekte. Allgemein lässt sich hier die An-
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nahme einer größeren funktionalen Vielfalt gegenüber dem Standarddeutschen attestieren, wobei die entsprechenden Beschreibungen und Bewertungen unterschiedlich und teilweise kontrovers ausfallen (vgl. z. B. ZEHETNER 1985; DONHAUSER 1992). Mit besonderem Blick auf das Wiener Nonstandard-Deutsch setzt sich GLAUNINGER (2010, 2011) mit dem sog. „honorativen“ Konjunktiv II auseinander, den er einer morphopragmatischen und funktionaltypologischen Analyse unterzieht. Auch wenn der Konjunktiv im Bairischen sicherlich eine bedeutsame pragmatische Dimension besitzt, soll dieser Ansatz hier nicht weiterverfolgt werden, da für entsprechende Untersuchungen Gesprächs- bzw. Erzählkontexte notwendig wären, die in den WBÖ-Daten nicht vorhanden sind. Den aktuellen Sprachgebrauch untersucht GLAUNINGER (2008) in einer Studie mit Wiener Jugendlichen, in der er sowohl die rezeptiven als auch die produktiven Kompetenzen hinsichtlich synthetischer Konjunktiv-II-Formen testet. Dabei zeigt sich, dass die Teilnehmer/-innen häufig erhebliche Schwierigkeiten haben, (archaische) dialektale Formen den richtigen Lexemen zuzuordnen (z. B. schdingad ‘stünde’) bzw. überhaupt Konjunktiv-II-Formen als solche zu identifizieren. Im Sprachgebrauch zeigt sich hingegen eine klare Dominanz analytischer Formen mit würde als Auxiliar. Auch im Kontext des SFB „Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption“5 werden die verschiedenen Realisierungen des Konjunktiv II in unterschiedlichen Domänen, Settings und mittels verschiedener Methoden erhoben. Neben der horizontalen, d. h. (dialekt-)geographischen Dimension wird dabei insbesondere auch die vertikale Dimension in den Blick genommen. Aktuelle Auswertungen deuten darauf hin, dass sich auch in der gesprochenen Sprache in Österreich der analytische würde-Konjunktiv zur dominierenden Variante entwickelt (vgl. BREUER / WITTIBSCHLAGER 2020). Der kurze Blick auf die Forschung zum Konjunktiv II zeugt von einer regen Auseinandersetzung mit dem Phänomen und einer in vielerlei Hinsicht (sprachhistorisch, formal, funktional) guten Beschreibung. Gleichzeitig werden jedoch Forschungslücken in Bezug auf verschiedene linguistische Beschreibungs- und Analysedimensionen deutlich, von denen in diesem Beitrag die nachfolgenden thematisiert werden sollen: – Morphologie: Welche Bildungsmuster zeigen sich beim synthetischen Konjunktiv II (besonders im Vergleich starker, schwacher und unregelmäßiger Verben)? Wie sieht deren geographische Verteilung aus? – Syntax: Wie stellt sich das Verhältnis von analytischen und synthetischen Konstruktionsvarianten in den Basisdialekten dar? – Lexik: Welche Hilfsverben werden im Fall analytischer Konstruktionen verwendet? – Dialekt-Standard-Variation und Sprachwandel: Wie stellt sich das Verhältnis von Dialekt und Standardsprache bezüglich der Realisierung des Konjunktiv II dar? Welche Normvorstellungen sind bzw. waren diesbezüglich verbreitet, und welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf Sprachwandel ziehen? 5
(Zugriff: 15.04.2019).
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Als empirische Grundlage zur Beantwortung dieser Fragen wird das Datenmaterial des WBÖ herangezogen, das im folgenden Kapitel ausführlicher vorgestellt werden soll. 3 DIE WBÖ-DATENGRUNDLAGE Das „Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ)“ ist ein Langzeitprojekt, dessen Ziel die umfassende lexikographische Darstellung und Dokumentation der reich gegliederten Basis- und Regionaldialekte (Alt-)Österreichs ist.6 Seine Anfänge reichen ins Jahr 1911 zurück, als in Wien und München Wörterbuchkommissionen gegründet wurden mit dem Ziel, ein Wörterbuch des gesamten bairischen Sprachraums zu schaffen. Nach der Gründung der Wiener Kanzlei am 12. Februar 1913, dem „offiziellen“ Gründungstag des WBÖ, wurden in den folgenden Jahrzehnten Fragebögen an freiwillige Sammlerinnen und Sammler ausgesandt. Diese notierten die Antworten, die sie mithilfe von Gewährspersonen einholten, auf Handzetteln, die sie an die Kanzlei zurücksandten. Ergänzt wurde diese Sammlung, die den Großteil des WBÖ-Materials darstellt und bis Ende der 1930er-Jahre dauerte, durch direkte Erhebungen, die von geschulten Dialektologinnen und Dialektologen durchgeführt wurden, sowie durch Exzerpte aus verschiedenen gedruckten Quellen. Das auf diese Weise zusammengetragene Material enthält ca. 3,6 Millionen Belegzettel, die den sog. „Hauptkatalog“ bilden. Um die lexikographische Arbeit zu erleichtern, wurde ab dem Jahr 1993 damit begonnen, die Handzettel manuell in TUSTEP7, ein Programm zur digitalen Verarbeitung und Edition von Texten, zu übertragen.8 Diese Arbeit wurde ab dem Buchstaben D durchgeführt, da die Belege zu den Buchstaben A, B/P und C bereits in den ersten drei WBÖ-Bänden verarbeitet worden waren. Die Digitalisierung konnte schließlich im Jahr 2011 abgeschlossen werden, und die so entstandene Datenbank enthält ca. 2,4 Millionen Einträge. Aus Gründen der Nachhaltigkeit und des einfacheren Zugriffs wurde die TUSTEP-Datenbank zwischen 2015 und 2019 in mehreren Schritten in das plattformunabhängige Format XML/TEI konvertiert (vgl. BOWERS / STÖCKLE 2018) und stellt seitdem (gemeinsam mit den Scans der Handzettel) die Grundlage für die lexikographische Arbeit am WBÖ dar. Seit Dezember 2018 steht die Daten-
6
7 8
Ausführliche Informationen zum WBÖ und seiner Geschichte finden sich in HORNUNG (1976), REIFFENSTEIN (2005), GEYER (2019) und STÖCKLE (angenommen) sowie den Informationstexten auf der WBÖ-Homepage: (Zugriff: 15.04.2019). (Zugriff: 15.04.2019). Das Programm wurde insbesondere deshalb ausgewählt, weil es vielfältige Möglichkeiten zur Darstellung von Sonderzeichen bietet, die gewöhnliche Textverarbeitungsprogramme (wie z. B. Microsoft Word) nicht enthalten. Somit konnte gewährleistet werden, dass die Lautungen möglichst originalgetreu wiedergegeben werden (vgl. BARABAS et al. 2010: 49).
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bank, eingebettet in das Lexikographische Informationssystem Österreich (LIÖ),9 erstmals online. Da es sich bei dem Belegdatenkorpus um eine speziell für die Wörterbucharbeit zusammengetragene Materialsammlung handelt, deren Erstellung über ein halbes Jahrhundert dauerte, die sich aus verschiedenen Quellen speist und zum großen Teil von linguistischen Laien durchgeführt wurde, muss bei deren Bearbeitung stets die damit einhergehende Heterogenität – sowohl was die Inhalte, aber auch die Qualität betrifft – berücksichtigt werden. Einige „Kerninformationen“ lassen sich jedoch ausmachen, die bei einem Großteil der Belege vorhanden sind. Dazu gehören Angaben zum Lemma, zur Aussprache, zur Bedeutung, zur Quelle bzw. zur geographischen Herkunft oder zum zugrundeliegenden Fragebogen. Zu einem beträchtlichen Teil der Belege existieren zudem Beispielsätze, die dazu erhoben wurden, die Bedeutung des jeweiligen Lemmas zu illustrieren oder einen Verwendungskontext anzuzeigen. Abbildung 1 zeigt zwei Belegzettel, die Beispielsätze enthalten.
Abb. 1: WBÖ-Belegzettel zu den Lemmata (der)frieren und fechten 9
(Zugriff: 15.04.2019).
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Insgesamt gibt es zu mehr als 710 000 Belegen, also knapp einem Drittel aller Datenbankeinträge, Beispielsätze, die für grammatische Analysen herangezogen werden können. Da die Sprachdaten in der Belegdatenbank – abgesehen von der Zuweisung zu Kategorien wie „Lemma“, „Wortart“, „Belegsatz“ etc. – nicht weiter grammatisch annotiert sind, lassen sich die verschiedenen KonjunktivVarianten nur über verschiedene Umwege suchen und exzerpieren. Für die nachfolgenden Analysen wurden zwei Methoden angewandt: a) Wie der Belegzettel zu flechten in Abbildung 1 illustriert, wurden in vielen Fällen (etwa 2/3 aller Belegsätze) bereits von den Sammlerinnen und Sammlern standardsprachliche Übersetzungen angefertigt. In diesen Feldern lässt sich über die Suche nach den Zeichenfolgen und bereits ein großer Teil der (zumindest in der standardsprachlichen Übersetzung) analytischen Konjunktivkonstruktionen mit den Hilfsverben tun und würde finden. b) Ein großer Mehrwert der elektronischen Datenbank im Vergleich zu den Handzetteln (neben den offensichtlichen schnelleren Zugriffsmöglichkeiten) ergibt sich aus der Tatsache, dass von den Bearbeiter/-innen während der Eingabe zusätzliche grammatische Informationen hinzugefügt wurden. Neben der Angabe der Wortart zu allen Lemmata betrifft dies in erster Linie Flexionsangaben zu Substantiven oder Verben in den Belegsätzen, die von der Nennform abweichen. Konjunktivformen wurden mit dem Kürzel „kj“ gekennzeichnet und lassen sich daher über entsprechende Abfragen leicht aus dem Datenmaterial extrahieren. Die Abfragen für die analytischen Konjunktivkonstruktionen ergaben im Fall der Zeichenfolge insgesamt 680 Fundstellen, im Fall von 862 Treffer. Für die durch „kj“ gekennzeichneten Konjunktivformen in den Belegsätzen ergab die Abfrage 3 325 Fundstellen. Als Vorbereitung für die Analysen waren jedoch verschiedene Vorbereinigungen notwendig: Im Fall von und mussten etwa alle Fälle vom Typ „Qualität“ oder „merkwürdig“ aussortiert werden, die zwar dieselbe Zeichenfolge enthalten, jedoch zu anderen Lexemen gehören; unter den zahlreichen Fundstellen mit der Kennzeichnung „kj“ fanden sich viele, die den Konjunktiv I enthalten (darunter hauptsächlich Grußformeln der Art Pfiatt ti Goud! ‘Behüte dich Gott!’). Des Weiteren wurde die Auswahl auf Belege beschränkt, die im aktuellen Bearbeitungsgebiet des WBÖ liegen, da nur für diese Regionen die vollständigen und georeferenzierten Ortsdaten vorhanden sind.10 Nach all diesen Vorbereinigungen blieben noch 1987 Belege für die Analysen übrig, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen werden soll. 10 In der seit 2016 erarbeiteten Neukonzeption des WBÖ wurden aus Straffungsgründen alle Gebiete aus der Bearbeitung ausgeschlossen, die außerhalb Österreichs und Südtirols liegen (vgl. STÖCKLE angenommen). Die Belege sind für zukünftige Recherchen jedoch weiterhin verfügbar, und auch die entsprechenden Ortsdaten sollen nach und nach aufbereitet werden und über das Lexikographische Informationssystem Österreich (LIÖ) () zugänglich gemacht werden.
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4 ANALYSEN ZUM KONJUNKTIV II Aufbauend auf den am Ende von Kapitel II formulierten Forschungsfragen sollen die Konjunktiv-Belege aus dem WBÖ-Material in Bezug auf a) die morphologische Markierung, b) den Konstruktionstyp (synthetisch vs. analytisch) und das verwendete Hilfsverb im Fall einer analytischen Konstruktion sowie c) DialektStandard-Variation in Bezug auf den Konjunktiv und sich daraus ergebende Indikatoren für Sprachwandel untersucht werden. Eine methodologische Diskussion im Hinblick auf das WBÖ-Material folgt in der Zusammenfassung. 4.1 Konjunktivmarkierung Wie bereits in Kapitel 2 erläutert, entwickelte sich das -ad-Suffix ursprünglich als Flexionsmarker bei den schwachen Verben, wurde dann aber als Muster auch auf die starken Verben übertragen, die folglich den Konjunktiv entweder stark durch Wechsel des Stammvokals oder schwach mittels der -ad-Endung (oder beide Verfahren kombinierend) markieren können. Betrachtet man die entsprechenden Belege im WBÖ-Material und klassifiziert die synthetischen Konjunktiv-Varianten nach Flexionsklasse des Verbs im Konjunktiv sowie nach der KonjunktivMarkierung, ergibt sich folgende Verteilung (vgl. Abb. 2). 100% 90%
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80% 70%
500
60% 456
50% 40%
530
30% 20%
320
10% 0% starke Verben
schwache Verben keine ad-Markierung
unregelmäßige Verben
ad-Markierung
Abb. 2: Verteilung der Konjunktiv-Markierung (synthetische Konstruktion) (χ² (2, 1984)=620,4, p> semantische Spezialisierung auf Modalverben *witan ‘wissen’ wizzan wissen *munan ‘denken’ *durzan ‘wagen’ *turran *kunnan ‘wissen, kennen’ können kunnan ‘verstehen, können’ *magan ‘können, vermögen’ mögen (& möchten) mugan *dugan ‘taugen’ *tugan taugen (schwach) *aigan ‘haben, besitzen’ eigan *ōgan ‘fürchten’ *lizan ‘wissen, gelernt haben’ *þurban ‘bedürfen’ durfan dürfen ‘Erlaubnis haben’ *nugan ‘erreichen’ *ginugan ‘genügen’ genügen (schwach) *unzan ‘lieben’ (gi-)unnan ‘gönnen’ gönnen (schwach) *mōtan ‘Raum haben, können, dürfen’ *muozan ‘Raum haben, mögen’ müssen *skulan ‘schuldig sein, sollen’ sollen scolan ‘sollen, werden’ wellan ‘wollen’ wollen Neuzugänge (nicht) brauchen Tab. 1: Zu- und Abgänge der Präteritopräsentien in der (Vor-)Geschichte des Deutschen (nach BIRKMANN 1987; FRITZ 1997)
2.2 Bezugssystem: Kanonische Typologie Bevor wir in die Daten einsteigen, lohnt es sich genauer zu definieren, mit welchen Phänomenen morphologischer Irregularität wir es bei den Präteritopräsentien zu tun haben. Als theorieneutraler Beschreibungsrahmen für morphologische Variation bietet sich die Kanonische Typologie an, die von GREVILLE CORBETT und den Mitgliedern der „Surrey Morphology Group“ entwickelt wurde und weiter ausgearbeitet wird (siehe dazu u. a. BROWN / CHUMAKINA 2013 sowie CORBETT 2007, 2009, 2015). Die Herangehensweise ist, ein kanonisches Ideal zu definieren und reale Sprachen danach einzuordnen, wie nah oder weit entfernt sie davon sind. Konkreter Bezugspunkt sind morphologische Merkmale bzw. Merkmalsbündel und die durch sie kodierten Form-Funktions-Beziehungen, die anhand verschiedener Kriterien untersucht werden können. CORBETT (2015: 149) bringt die Grundidee dieses Ansatzes folgendermaßen auf den Punkt: This approach to typology involves analyzing and defining phenomena that are subject to variability (across or within languages), extracting the various scales along which we characterize variability, and establishing the logical endpoint of these scales. By integrating these scales, we construct theoretical spaces of possibilities, and only then do we investigate how this space is populated with real instances.
Die Erwartung ist, dass der Rahmen des (theoretisch) Möglichen übereinzelsprachlich auch tatsächlich gefüllt ist, aber man kann diesen Rahmen genauso gut
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auch als Heuristik sehen, um Variabilität zu identifizieren, Präferenzen auszumachen und Sollbruchstellen möglichst präzise zu bestimmen. Corbett wählt dabei des Öfteren eine Darstellung mittels Boole’schem Verband (die sich als Baumdiagramm darstellen lässt), um die jeweilige Ausprägung sowie die Kombination der herangezogenen Kriterien anhand einzelsprachlicher Phänomene exhaustiv zu fassen (siehe z. B. CORBETT 2015: 173 oder BROWN / CHUMAKINA 2013: 7). Der kanonische Ansatz umfasst drei Komponenten, und zwar (a) die Basis, (b) Kriterien und (c) das kanonische Ideal (siehe dazu BROWN / CHUMAKINA 2013, Kap. 1.2). Die Basis stellt sozusagen den theoretischen Rahmen dar, in dem die Typologie sich bewegt. Dies ist entweder die Frage, was ein relevantes Beispiel für ein Phänomen X darstellt, oder ein konzeptueller Ausgangspunkt, z. B. im Sinne einer minimalen Beschreibung des Phänomenbereichs (BROWN / CHUMAKINA 2013: 3–4). Kriterien benennen die verschiedenen Dimensionen, mittels derer Abweichungen von einem kanonischen Ideal beurteilt werden können. Die Zahl und Art der Kriterien und ihre Belegungen sollen exhaustiv sein; typischerweise sind sie binär, d. h. es gibt einen kanonischen und einen nicht-kanonischen Wert (BROWN / CHUMAKINA 2013: 4–5). Das kanonische Ideal schließlich stellt den idealisierten Bezugspunkt der typologischen Beschreibung dar; es repräsentiert sozusagen das Maximum an kanonischen Wertebelegungen, darf aber nicht als Prototyp im Sinne der Prototypentheorie5 verstanden werden (vgl. BROWN / CHUMAKINA 2013: 12–13). Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Einsicht, dass das, was als kanonisch definiert ist, nicht dem entsprechen muss, was häufig oder gar unmarkiert ist: To be a canonical instance of a phenomenon – that is, a clear and indisputable instance – means matching a full set of criteria associated with that phenomenon, and so it follows that such instances are likely to be at best infrequent or even non-existent (…).6
In methodologischer Hinsicht bedeutet dies, dass – wie auch sonst in der Typologie – implikationale Skalen einen wichtigen ersten Generalisierungsschritt darstellen. Diese beziehen sich auf die Kanonizitätskriterien (im Sinne von Korrelationen), dürfen aber nicht als markiertheitstheoretische Aussagen verstanden werden: A > B bedeutet also nicht notwendigerweise, dass B gegenüber A markiert ist. Soweit wir sehen, wurde dieser Beschreibungsansatz bisher vor allem auf makroskopischer Ebene herangezogen, d. h. zum Vergleich einzelsprachlicher Systeme. Es spricht allerdings nichts dagegen, ihn auch für mikrotypologische Fragestellungen nutzbar zu machen, und zwar weniger im Sinne einer Eichung der kanonischen Definition einer bestimmten Kategorie als vielmehr in explorativem Sinn („exploratory CT“, vgl. BOND 2013: 14): In welchem Ausmaß schöpfen dia5
6
Dies liegt insofern auf der Hand, als Protototypen über am wenigsten distinktive Merkmale verfügen. Ein gutes Analogon zum kanonischen Ideal, auf das die AutorInnen hinweisen, sind Kardinalvokale in der Phonetik, die sozusagen die Grenzen des lautphysiologisch Möglichen abstecken. Dieses Zitat ist der Kurzdarstellung der „Kanonischen Typologie“ entnommen, die sich auf folgender Website findet: http://www.smg.surrey.ac.uk/approaches/canonical-typology/ [zuletzt aufgerufen am 18.10.2019].
Modalverben in deutschen Dialekten
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lektale Systeme aus, was übereinzelsprachlich an Variation beobachtet werden kann? Mit anderen Worten, wie sehr weichen Makro- und Mikrovariation voneinander ab? Relevant für unseren Zusammenhang sind vor allem die Überlegungen zu Form-Funktions-Missverhältnissen (CORBETT 2007, 2015) sowie jene zu kanonischen Flexionsklassen (CORBETT 2009), daher sollen diese im Folgenden kurz vorgestellt werden. Mit Blick auf die erstgenannte Gruppe von Phänomenen diskutiert CORBETT (2015: 149–158) die Dimensionen Form-Vorgaben und Struktur-Vorgaben, die sich jeweils auf die Formen eines Lexems – seine Zellen – (Ebene 1) sowie lexemübergreifend (Ebene 2) untersuchen lassen. Wir verwenden im Folgenden die griffigeren Kennzeichnungen „in einem Paradigma“ (intraparadigmatisch) und „zwischen Paradigmen“ (interparadigmatisch) für diese beiden Ebenen. Was Form-Vorgaben anbelangt, ist im kanonischen Fall davon auszugehen, dass der Wortstamm (also die Stammflexivik) identisch bleibt, während sich die FlexionsKennzeichnung in jeder Paradigmenzelle unterschiedlich gestaltet (CORBETT 2015: 150). Offenkundige Abweichungen von dieser Setzung sind Suppletion (Stamm-Ebene) oder Synkretismus (Flexionsmorpheme). Auf der die Einzellexeme überspannenden Ebene ist die kanonische Situation genau umgekehrt: Lexikalische Information sollte unterschiedlich ausgedrückt werden – ein Lexem pro Bedeutung –, wohingegen das Flexionsmaterial erwartbar identisch ist, d. h. flexionsklassenbezogene Allomorphie, Heteroklise oder Deponenz scheren in dieser Hinsicht aus (vgl. CORBETT 2015: 151). Blicken wir nun auf die Verhältnisse bei den Struktur-Vorgaben. Diese beziehen sich auf die Art der morphologischen Exponenz (additiv, fusional etc.) und die Merkmalssignatur, die die Flexion von Lexemen umfasst (CORBETT 2015: 153). Kanonisch ist im ersten Fall, dass die morphologische Ausdrucksstrategie in den Zellen eines Lexems, aber auch lexemübergreifend keinen Schwankungen unterworfen ist. Somit wären beispielsweise das periphrastische Perfekt (gegenüber synthetischem Präteritum) oder fusionale Ausdrucksmittel im Person/NumerusBereich im Deutschen (z. B. ich wasche – er/sie wäscht) als nicht-kanonisch anzusprechen, weil sie neben anderen Verfahren mit gleicher Funktion auftreten. Für den zweiten Fall ist die Messlatte dadurch charakterisiert, dass ebenenübergreifend dieselben morphosyntaktischen Merkmale ausgedrückt werden (können). Typische Abweichungen wären Defektivität (z. B. gibt es im Deutschen kein Perfekt von scheinen, mit verbaler Ergänzung: *Er hat zu schlafen geschienen) oder Überdifferenzierung (z. B. der Umstand, dass in Dialekten mit Präteritalschwund noch einige frequente Verben eine Präteritalform besitzen, siehe dazu ausführlich FISCHER 2018). In der Zusammenschau ergeben sich somit vier Kriterien für flexionsmorphologische Kanonizität, die sich sowohl in einem Paradigma als auch Paradigmen-übergreifend charakterisieren und untersuchen lassen (siehe Tab. 2).
202
Antje Dammel / Oliver Schallert Intraparadigmatisch (Ebene 1)
Interparadigmatisch (Ebene 2)
Lexikalisches Material (Form des Stammes)
gleich [ungleich: Stammallomorphie, Suppletion]
unterschiedlich
Flexionsmaterial (Form des Affixes)
unterschiedlich [gleich: Synkretismus]
gleich [ungleich: Affixallomorphie, Heteroklise]
Komposition (Exponenz)
gleich [ungleich: schwankende Exponenz, z. B. Periphrasen und fusionale Verfahren]
Merkmalssignatur (morphosyntaktische Anforderungen)
gleich [ungleich: Überdifferenzierung, Defektivität]
Tab. 2: Dimensionen flexionsmorphologischer Kanonizität, nicht-kanonische Phänomene sind grau unterlegt (nach Corbett 2015: 150, Tab. 4 und 154, Tab. 9)
Die uns interessierende Klasse der Präteritopräsentien (bzw. Modalverben) hat eine Reihe von nicht-kanonischen Phänomenen zu bieten, deren mikrotypologischer Spielraum sich anhand dieser vier Kriterien genauer abstecken lässt. In Abschnitt 3 werden daher unter anderem Stammallomorphie bzw. schwache Suppletion und syntaktisch gesteuerte Synkretismen genauer betrachtet (siehe dazu 3.2 und 3.3.3). Über dieses Grundraster hinaus wurden im Rahmen der Kanonischen Typologie auch prominente Verstöße gegen das kanonische Ideal in eigenen Kriterienkatalogen ausdifferenziert, unter anderem auch das Konzept der Flexionsklassen, bei dem gleiche Funktionen über unterschiedliche Flexionsmuster realisiert werden. Da bei unseren Überlegungen auch paradigmen-übergreifende Eigenschaften von Präteritopräsentien eine Rolle spielen, gehen wir noch kurz auf die Frage ein, wann das nicht-kanonische Phänomen Flexionsklasse in voller Kanonizität vorliegt. CORBETT (2009) schlägt hierfür eine Reihe von Kriterien vor, die sich unter die beiden in (1) angeführten, übergreifenden Prinzipien subsumieren lassen, nämlich Distinktivität und Unabhängigkeit (vgl. CORBETT 2009: 3, 5). (2)
a. Distinctiveness: Canonical inflectional classes are fully comparable and are distinguished as clearly as possible. b. Independence: The distribution of lexical items over canonical inflectional classes is synchronically unmotivated.
Während sich die Kriterien unter (2a) auf die flexionsmorphologische Sichtbarkeit einer Flexionsklasse und die Homogenität ihrer Mitglieder beziehen, drehen sich jene unter (2b) um die Frage, wie typenfrequent eine Klasse ist und wie hoch ihr Grad an morphologischer Autonomie (d. h. Morphomik) gegenüber anderen
Modalverben in deutschen Dialekten
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grammatischen Ebenen ist. So sind kanonische Flexionsklassen dadurch gekennzeichnet, dass die ihnen angehörigen Lexeme weder phonologisch, morphosyntaktisch (einschließlich der Wortart) noch pragmatisch bzw. informationsstrukturell motiviert sind (Kriterien 6–9; vgl. CORBETT 2009: 6–7). Bemerkenswerterweise geht CORBETT hier nicht auf den Faktor semantische Motiviertheit ein; sehr wohl tut er dies aber an anderer Stelle, und zwar im Zusammenhang mit der übergreifenderen Frage, was überhaupt Splits (also Abweichungen vom kanonischen Ideal) bewirkt. Neben rein morphomisch bedingten Abweichungen gibt es auch solche, die außermorphologisch motiviert sind, wobei hierfür vor allem Phonologie und Semantik in Frage kommen (CORBETT 2015: 163). Es versteht sich von selbst, dass wir nicht en détail auf alle Kriterien für (Nicht-)Kanonizität eingehen können. Stattdessen greifen wir vier davon heraus, die für die Frage der Kanonizität von Modalverben besonders relevant sind und bei denen das dialektale Variationsspektrum vielversprechende Einsichten bietet. Dabei handelt es sich um Stammallomorphie bzw. Suppletion (bezogen auf das lexikalische Material), Überdifferenzierung bzw. Defektivität (bezogen auf die Merkmalssignatur), Ab- und Aufbau klassenspezifischer Synkretismen (bezogen auf das Flexionsmaterial) sowie externe Motiviertheit (bezogen auf die Flexionsklasse als Ganzes). Diese lassen sich zu drei Fallstudien bündeln, die wir im Folgenden vorstellen. 3 MODALVERBEN IN DEUTSCHEN DIALEKTEN Die (langzeit-)diachrone Betrachtung in Abschnitt 2.1 hat deutlich gemacht, dass die Verengung der Präteritopräsentien auf eine modale Bedeutung einen Fall von Entropie-Reduktion darstellt. Dieser Prozess wirft aber gleichzeitig die Frage auf, welchen Status die in Abschnitt 2.2 typologisierten flexionsmorphologischen Besonderheiten haben, die weitgehend unangetastet bleiben, wenn nicht gar ausgebaut werden. Sie können nicht nur morphomische Girlanden sein, sondern bekommen sozusagen diakritischen Wert, indem sie als Marker einer hochgradig spezialisierten Klasse fungieren. Aus synchroner Perspektive und mit speziellem Blick auf die Dialekte ergibt sich die Frage nach einer adäquaten Charakterisierung dieser Irregularitäten, denn offenkundig zeigen sich eine Reihe von (auch) arealbezogenen Unterschieden in ihrer Verteilung bzw. Ausgestaltung. Mit SCHIRMUNSKI ([1962] 2010: 615) gesprochen: „Die Entwicklung der PräteritoPräsentia in den Dialekten bietet ein außerordentlich buntes Bild.“ In diesem Abschnitt geben wir einen Eindruck des Variationsspektrums, das wir als Ausdruck und Reflex von differierenden sprachlichen Systemen betrachten (siehe zu solch einer Deutung von Raumstrukturen WEINREICH 1954); in zeitgenössischer Diktion würde man von minimal variierenden Grammatiken sprechen (vgl. z. B. SEILER 2004; BRESNAN / DEO / SHARMA 2007).
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Antje Dammel / Oliver Schallert
3.1 Datengrundlage Die im Folgenden präsentierten Fallstudien basieren im Wesentlichen auf drei Quellen: Erstens haben wir eine Auswertung von bisher insgesamt 74 Dialektgrammatiken durchgeführt, die Informationen zu den Präteritopräsentien enthalten. Wir haben die dort verzeichneten Paradigmen extrahiert und die Formen des Infinitivs, der 1. Sg. Präs. und Prät. sowie des Partizips II annotiert und kartiert.7 Solche grammatischen Beschreibungen zu einzelnen Ortsdialekten, aber auch zu größeren Sprachlandschaften sind in großer Zahl verfügbar (siehe dazu grundlegend SCHMIDT / HERRGEN 2011: 112–115 sowie FLEISCHER 2002: 36), wenngleich in der regionalen Abdeckung gelegentliche Lücken zu vermerken sind (z. B. im bairischen Dialektgebiet). Sie enthalten in der Regel eine historisch orientierte Laut- und Formenlehre (einschließlich flexionsmorphologischer Sonderklassen) und stellen somit ein ergiebiges Parallel-Korpus dar. Dass sich dieses Genre in hervorragender Weise dazu eignet, hochauflösende Informationen zu morphosyntaktischen Phänomenen in den deutschen Dialekten zu gewinnen, zeigen auf eindrucksvolle Weise die Arbeiten von BIRKENES (2014) zu subtraktiver Numerus- und Kasusmorphologie, FISCHER (2018) zum Präteritalschwund bzw. der Perfektexpansion sowie ELLSÄSSER (2019) zu Kasusdistinktionen. Zweitens haben wir eine kleine Enquête zu formalen und funktionalen Aspekten der Modalverben mit den Gewährspersonen des „Bayerischen Wörterbuchs“ (BWB) durchgeführt, und zwar als Beiblatt zu den mehrmals jährlich versendeten Wortlisten. Diese umfasste 8 Übersetzungsfragen zu verschiedenen Flexionsformen von dürfen, können, brauchen und müssen sowie Teilparadigmen zu sollen und können. Insgesamt erhielten wir 260 Beantwortungen aus dem gesamten Erhebungsgebiet des BWB, das Altbayern plus Übergangsgebiete umfasst.8 Auf Grundlage dieser Materialien ist unlängst eine Masterarbeit entstanden, auf die wir uns im Folgenden ebenfalls beziehen (BRANDLMAYER 2019). Drittens konnten wir auf Daten zum „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ zurückgreifen, die von JÜRG FLEISCHER im Rahmen des Projekts „Morphosyntaktische Auswertung von Wenkersätzen“ kompiliert und analysiert wurden.9 Grundlage bildet eine ausgewogene Stichprobe mit Transliterationen zu allen 40 Sätzen, die ca. 2 400 Ortspunkte umfasst (ungefähr jeder 25. verfügbare Bogen), und zwar jeweils den zentralsten Ortspunkt eines engmaschigen Quadrantennetzes (siehe dazu FLEISCHER 2015). Die Wenkermaterialien bieten eine Reihe von Kon7 8 9
Aus Platzgründen müssen wir auf vollständige Literaturangaben verzichten; die Grammatiken werden selektiv zitiert, wo wir auf Beispiele referieren. Wir möchten uns an dieser Stelle bei ANTHONY ROWLEY bedanken, der uns ermöglichte, diese Befragung durchzuführen. Zu diesem Sprachatlas und seiner Erhebungsmethode siehe grundlegend HERRGEN (2001: 1520–1525) sowie zuletzt FLEISCHER (2017). Informationen zu dem hier genannten Projekt finden sich auf folgender URL: [zuletzt aufgerufen am 18.10.2019]. Wir danken JÜRG FLEISCHER dafür, dass er uns seine Daten zur Verfügung gestellt hat.
205
Modalverben in deutschen Dialekten
texten, die für die Modalverben einschlägig sind und zum größeren Teil schon im Rahmen des originalen Atlaswerkes kartiert wurden, jedoch keine vollständigen Paradigmen (siehe dazu Tab. 3). Wenkersatz [relevantes Lemma kursiv]
Karten
[12.] Wo gehst Du hin? Sollen wir mit Dir gehn? (1. Pl. Präs.)
[nicht kartiert]
[27.] Könnt ihr nicht noch ein Augenblickchen auf uns warten, dann gehn wir mit euch. (2. Pl. Präs.)
[WA: 384; Teilkartierung]
[28.] Ihr dürft nicht solche Kindereien treiben! (2. Pl. Präs.)
[WA: 398, 399]
[10.] Ich will es auch nicht mehr wieder thun!
[WA: 144, 458]
[30.] Wieviel Pfund Wurst und wieviel Brod wollt ihr haben? (2. Pl. Präs.)
[WA: 420]
[31.] Ich verstehe euch nicht, ihr müßt ein bißchen lauter sprechen. (2. Pl. Präs.)
[WA: 430, 431]
[33.] Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen.
[WA 144, 458]
[37.] Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe und zwölf Schäfchen vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen. (3. Pl. Prät.; Perf.)
[WA 510–513]
Tab. 3: Kartierungen zu Präteritopräsentien im „Sprachatlas des Deutschen Reichs“
Das publizierte Katenmaterial gibt Einblicke in Endungsflexivik und Vokalismus, ermöglicht aber leider nur eingeschränkt Vergleiche zwischen verschiedenen Paradigmenformen eines Verbs, wenn es z. B. um Numeruszäsuren zwischen Singular und Plural im Präsens oder Umlaut in Präs. Pl. und Infinitiv geht. 3.2 Morphologische Irregularisierungen in den Dialekten des Deutschen Zunächst gilt unser Interesse der Stammallomorphie und den vertieften Zäsuren im Präs. Pl. durch analogischen Umlaut und weitere Verfahren. Karte 1 basiert auf einer Auswertung des in 3.1 vorgestellten Samples an Dialektgrammatiken. Die Angaben in den Balken sind absolute Zahlen (ein Beleg entspricht einer Dialektgrammatik).10 Die Säulendiagramme (relativ, gestapelt 100 %) wurden nach Modalverb aufgeschlüsselt und zeigen diejenigen Modalverben, bei denen Variation hinsichtlich der Numeruszäsur vorliegt. Die Grammatiken wurden jeweils einer Dialektgroßregion (Niederdeutsch, Mitteldeutsch, West- und Ostoberdeutsch) zugeordnet. Rot eingefärbte Balken stehen für erhaltene, ggf. ausgebaute (bzw. bei müssen neu aufgebaute) Stammalternationen für Numerus im Präsens, am Beispiel dürfen wäre ein Beleg etwa deaf – diafe (mit Umlautendrundung) (FRIEBERTSHÄUSER 1961 [Zentralhessisch]). Blau eingefärbte Balken stehen für
10 Wir danken SOPHIE ELLSÄSSER für die Erstellung der Grundkarte.
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Antje Dammel / Oliver Schallert
Belege ohne Stammalternation, z. B. deef – deefe (BERTALOTH 1935 [Rheinfränkisch]).
Karte 1: Numeruszäsur durch Stammallomorphie im Präsens bei Modalverben der Dialektgroßräume Niederdeutsch, Mitteldeutsch, West- und Ostoberdeutsch (Dialektgrammatiken, Säulendiagramme relativ: 100 %, absolute Zahlen in den Balken)
Das Merkmal Numeruszäsur verhält sich bei zwei der Verben raumübergreifend: müssen hat einen durchgehend hohen und dürfen einen durchgehend niedrigeren Alternationsanteil. Das ist insofern erstaunlich, als dürfen (AL-Reihe IIIb) historisch mit einer Ablaut-Numeruszäsur ins Rennen gegangen ist, die offensichtlich raumübergreifend nivelliert wurde, müssen dagegen historisch ohne Numeruszäsur gestartet ist (als Verb der AL-Reihe VI). Dementsprechend müssen die raumübergreifend vorhandenen Numeruszäsuren bei müssen sämtlich auf analogischen Prozessen, vor allem Umlaut, beruhen. Als raumbildend erweist sich das Kriterium Numeruszäsur für die Verben sollen und wollen, die im Standard keine solche Differenzierung besitzen: Grammatiken aller Dialektgroßräume weisen Belege für Numeruszäsuren bei sollen auf, wobei die Anteile von Niederdeutsch über Mitteldeutsch, Ost- und Westoberdeutsch sinken. Die Numeruszäsur bei sollen kann in niederdeutschen Dialekten auf einen Erhalt der historischen Ablautzäsur sal – suln (Ablautreihe IV a – u) zurückgehen, zu der sich häufig noch Umlaut (süln u. ä.) hinzugesellt hat. In den übrigen Regionen ist der Ablaut meist abgebaut (vgl. auch STEFFENS 2006). Wo dort eine Numeruszäsur besteht, ist sie i. d. R. durch analogen Umlaut, manchmal
Modalverben in deutschen Dialekten
207
auch durch Kontraktionen mit Schwund von Konsonanten bedingt (dazu unten mehr). Bei wollen zeigt sich eine gegenläufige Raumstruktur mit ausschließlich alternierenden Belegen in Grammatiken oberdeutscher Dialekte und sinkenden Anteilen in Grammatiken mittel- und niederdeutscher Dialekte (z. B. vel – velen, MÜLLER-WEHINGEN 1930 [Saargau]). An diesen Raumbildern können sowohl unterschiedliche morphologische Ausgangsformen (vgl. BIRKMANN 1987: 158 und FERTIG 1999: 244) als auch phonologische Faktoren beteiligt sein, etwa Rundungs-, Entrundungs- und Senkungstendenzen. Die Genese ließe sich jedoch nur in raumbezogenen Detailstudien klären (exemplarisch zum Bairischen BRANDLMAYER 2019 und zum Luxemburgischen DAMMEL 2006).
Abb. 2: Anteil der Stammalternanzen bei Modalverben bezogen auf deren Tokenfrequenz-Rang (Dialektgrammatiken in Großbuchstaben, Standard grau & kursiv)
Wie Abb. 2 zeigt, lassen sich Erhalt, Aus- und Aufbau der Numeruszäsur im Präsens, die durch Bewahrung von Ablaut, durch Umlaut und Kontraktionen bedingt sein können, bis zu einem gewissen Grad mit der Gebrauchsfrequenz der einzelnen Modalverben korrelieren. Die Frequenzränge sind nach WERLEN (1985, Kap. 2) angegeben. Die frequenteren Verben können, müssen und wollen tendieren eher zum Erhalt der Zäsur. Dabei ist müssen besonders bemerkenswert, da in den Dialekten wie im Standard durch analogen Umlaut die Numeruszäsur erst geschaffen wurde. Im Gegensatz dazu tendiert in den Dialekten weniger frequentes dürfen anders als im Standard zum Abbau der ererbten Zäsur. Die Verhältnisse im Standard sind zum Kontrast in Grau ergänzt (Frequenzränge hier nach ORTMANN 1975, 1979). Im Standard gilt dieselbe Frequenzrangfolge wie in WERLENS Auszählung, hier hatte aber die Variantenselektion zum Ergebnis, dass alle Verben außer sollen die Numeruszäsur beibehalten und (außer wollen) durch Umlaut verstärkt haben. Die Dialektgrammatiken spiegeln in ihrer Neujustierung morphologischer Irregularität
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Antje Dammel / Oliver Schallert
damit eher die Frequenzverhältnisse wider als die Standardvarietät. Das gilt insbesondere für den standardsprachlichen Sonderfall sollen, der sich auch in den Dialekten natürlicher verhält. Karte 2 zeigt Pluralumlaut bei diesem Verb in 1. Pl. Präs. in Wenker-Satz 12: Sollen wir mit dir gehen. Geschlossene Gebiete mit Umlautung liegen im Niederdeutschen und Westoberdeutschen vor.
Karte 2: Wenker-Satz 12: Sollen wir mit dir gehen (Umlaut in 1. Pl. Präs.)
Auch wenn man den Blick mithilfe unseres Samples an Dialektgrammatiken auf andere Modalverben erweitert und Umlaut im Infinitiv mit einbezieht (Karte 3), bestätigt sich das Raumbild aus Karte 2. In den Karten 3 a–b sind umlautpräferente und umlautresistente Dialekte gegenübergestellt, wobei die Belege der Modalverben dürfen, können, müssen und sollen aus den Dialektgrammatiken zusammenfasst wurden.11 Dialektgrammatiken, in denen die aufgenommenen Modalverben hinsichtlich Umlaut variieren, erscheinen in beiden Karten. Karte 3a zeigt die umlautpräferenten Dialekte, in denen beide Kategorienwerte gekoppelt umlauten (wie auch im Standard, s. Abb. 1). Hier streut der Befund, bestätigt aber 11 Da sich Rundung durch die weit verbreitete Entrundung nur bedingt als Indikator eignet, wurde Umlaut angesetzt, wenn der Stammvokal palatal war. Dadurch kamen sehr vereinzelt auch Palatalvokale anderer Provenienz in die Auswertung, z. B. für Bosco Gurin, RUSS (2002) neben miassi (Inf.), das umgelautet ist, auch myassu (1. Pl. Präs.), das auf einen höchstalemannischen Palatalisierungsprozess zurückgeht. Bei Dialektgrammatiken, die mehrere Varianten angeben, wurde ein Beleg nur als umlautend gezählt, wenn alle Varianten Umlaut aufweisen.
Modalverben in deutschen Dialekten
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verbübergreifend das Westoberdeutsche als ein Kerngebiet morphologischen Umlauts. Karte 3b zeigt die umlautresistenten Dialekte, die weder im Infinitiv noch im Präs. Pl. umlauten und damit vom Standard abweichen. Dass das Auftreten oder Fehlen von Umlaut in den meisten Dialekten für die Formen in Plural Präsens und Infinitiv gekoppelt ist, kann als implikative Paradigmenstrukturbedingung im Sinne von Wurzel ([1984] 2001) beschrieben werden, die den Zusammenhalt im Paradigma und damit die Memorierbarkeit erhöht.12
Karten 3a–b: Morphologischer Umlaut in Präs. Pl. und Infinitiv bei dürfen, können, müssen und sollen (Dialektgrammatiken). Links: a. Umlautpräferenz; rechts: b. Umlautresistenz
Es gibt allerdings einige wenige Dialekte, bei denen Umlaut in Präs. Pl. und Infinitiv entkoppelt sind. Die Belegzahlen in unserem Sample sind klein: Umlaut im Präs. Pl. bei fehlendem Umlaut im Infinitiv ist an drei Orten (alle im niederdeutschen Raum) belegt, Umlaut im Infinitiv bei fehlendem Umlaut im Präs. Pl. an zehn Orten aus allen Dialektgroßräumen. Die Belegzahlen sind klein und erlauben keine Schlüsse auf eine mögliche diachrone Staffelung der Annahme analogischen Umlauts (Infinitiv vor Präs. Pl. oder umgekehrt, vgl. zu diesem Problem STEFFENS 2006: 426 und LÜHR 1987 im Widerspruch zu SČUR 1961 und BECKMANN 1990: 58–59). Der räumliche Befund umlautpräferenter Dialekte (Karte 3a) stützt die These, dass der Umlaut in den Präteritopräsentien ein transkategorialer Marker sein könnte (NÜBLING 2009) – also sowohl als nominaler als auch als verbaler Pluralmarker dient: Umlaut ist mit dem Westoberdeutschen besonders in dem Zentrum
12 Die beiden Karten können mit Einschränkungen auch als Verbreitungskarten zum Synkretismus von Infinitiv und 1./3. Pl. Präs. gelesen werden. Einige wenige Dialektgrammatiken differenzieren bei einheitlichem Umlautverhalten die Formen auf anderem Wege, z. B. mit Kontraktionen im Plural (1. Pl. Präs. mond, mönd, müend) bei unkontrahiertem Infinitiv müəse, möse (Schleitheim, WANNER 1941). Niederdeutsche Dialekte haben unterschiedliche Endungsflexive in Präs. Plural und Infinitiv.
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Antje Dammel / Oliver Schallert
konzentriert, das auch in der Nominalflexion die stärksten Tendenzen zu analogischem Plural-Umlaut und damit zum Ausbau von Stammallomorphie zeigt.13 Die Dialekte des Deutschen zeigen über analogen Umlaut hinaus eine Vielfalt weiterer Verfahren, mit denen Zäsuren im Paradigma vertieft wurden – nicht nur die Numeruszäsur im Präsens, sondern auch Tempus-Distinktionen zwischen Präsens und Präteritum.14 Für den erstgenannten Bereich besteht ein solcher Weg in selektiven Kontraktionen, wie sie in Tab. 4 illustriert sind. Präsens
Dialekt (Quelle)
1./3. Sg.
1./3. Pl.
cha
chöi
ma
möge
cha
chönd
mag
mönd
mues
müend15
will
wänd
max
miət
Ostfälisch (LANGE 1963: 286)
mus
mun
Kleinschmalkalden (DELLIT 1913: 143)
Berndeutsch (MARTI 1985) Zürichdeutsch (WEBER / DIETH [1948] 1964)
Tab. 4: Phonologische Suppletion im Numerus (Präsens) durch selektive Kontraktion
13 Die Rolle des Umlauts im Konjunktiv, der meist lautgesetzlich vorliegt und denselben Basisvokal wie der Präs. Pl. besitzt, bleibt dabei offen. Rein formal lässt sich für die Konsequenz des Umlauts Konj. II > Präs. Pl. & Inf. ansetzen. Umlaut hat im westoberdeutschen Raum im Konj. II ebenfalls eine wichtige Domäne und wird z. B. auf schwache Verben übergeneralisiert (CHRISTEN 1999). Eine Herkunft aus dem Konjunktiv kann aber nicht erklären, warum beim analogischen Umlaut nicht auch der Singular des Präs. Ind. betroffen war, so dass die Vertiefung der Numeruszäsur auch in einem Konjunktiv-Szenario eine zentrale Rolle gespielt haben muss. Verbreitet in alemannischen Dialekten sind neue kategorielle Umwertungen mit ehemaligen Konjunktivformen im Präs. Ind., die Umlaut und/oder Dentalsuffix auch in den Sg. bringen (z. B. MARTI 1985: 156 [Berndeutsch]): (i) wollen Sg. Präs. Ind. 1./3. wott, 2. wotsch (ii) sollen Konj.-Stamm söll/tt- im gesamten Präs. Ind. möglich 14 Die folgenden Ausführungen sind exemplarisch zu verstehen und sollen einen Eindruck des Spektrums an Irregularitätstypen vermitteln, das die Dialekte aufweisen. Sie können nicht zeigen, wie verschiedene irreguläre Merkmale im Einzeldialekt korrelieren und inwieweit diese Merkmale raumbildend sind. 15 Die Kontraktion mit Schwund von s findet im Zürichdeutschen bei dem frequenten Modalverb müssen statt, nicht aber bei dem randständigeren Modalverb wissen, das nahezu den gleichen phonologischen Kontext bietet. Gleiches zeigen GEBHARDT / BREMER (1907, 289– 290) für den Nürnberger Stadtdialekt, in dem Anfang des 20. Jh. mit den kontrahierten Formen auch noch Vollformen unter Starkton koexistierten. (i) mous ,muss.1/3SG‘ (schwach: mou) – meisn ,müss.PL‘ (schwach: mein) (ii) wās ,weiß‘ (schwach: was) – wāst ,weiß.2SG‘ (schwach: wast)
Modalverben in deutschen Dialekten
211
Dabei handelt es sich um irreguläre Kürzungen unter Schwachton (vgl. SCHIRMUNSKI [1962] 2010: 616–619) und Hochfrequenz (NÜBLING 2000). Indem selektiv der stammauslautende Konsonant in einem Numerus schwindet, im anderen aber erhalten bleibt, kommt es zu phonologischer Suppletion. Diese Kontraktionen stellen in vielen Dialekten eine Gemeinsamkeit der Präteritopräsentien mit einer Klasse der Kurzverben dar, die sich um den historischen Kern der athematischen (oder Wurzel-)Verben (mhd. stân/stên, gân/gên, sîn) herum etabliert hat und in deren analogischem Dunstkreis auch die im Mhd. auftretenden kontrahierten Verben (mhd. hân, lân u. a.) stehen (NÜBLING 1995). Durch die Kontraktionen kommt es in Dialekten in weit stärkerem Maße als im Standard zu Gang-Effekten (vgl. Fußnote 2), die die interparadigmatische Kohäsion der Modalverben stärken. So hat sich im Oberhessischen (KROH 1912) müssen an die anderen bereits kontrahierten Präteritopräsentien angepasst, obwohl s in diesem Dialekt normalerweise nicht schwindet (3a). Ähnlich hat sich im Moselfränkischen (Ottweiler) mögen, das im Präs. Sg. schon mit können reimte, auch im Präs. Pl. an dieses Verb angepasst (3b) (SCHIRMUNSKI [1962] 2010: 618–619): (3)
Gang-Effekte zwischen Modalverben a. son ‘sollen’ , won ‘wollen’ , khon ‘können’ > mun ‘müssen’ b. man ‘mögen’ 1./3. Sg. man, 2. Sg. manšt, 1./3. Pl. minə < Vorlage: kinə ‘können’
In Einzelfällen lassen sich interparadigmatische Verschmelzungen beobachten, durch die lexikalische Suppletion entsteht. Dass die Stämme verschiedener Modalverben in dieser Form fusionieren, ist eher für Tempus als für Numerus zu beobachten und scheint einen gewissen Grad an semantischer und formaler Überschneidung vorauszusetzen. Ein Beispiel ist die Fusion von auf altniederdeutsch mōtan ‘dürfen, vermögen’ und mugan ‘vermögen’ zurückgehenden Verbformen im Südwestfälischen (auch Südniederfränkisch bis ins Ripuarische), die zu einem Verb müssen führt, das mit einer vertieften Zäsur Präsens Indikativ von Konjunktiv, Präteritum und Partizip II abhebt (BECKMANN 2002: 52–53; vgl. auch FREBEL 1957: 54) (siehe Abb. 3).
Abb. 3: Lexikalische Suppletion bei den heutigen Formen von maitn ‘müssen’ im Südwestfälischen
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Antje Dammel / Oliver Schallert
Für das Zimbrische von Giazza berichtet SCHWEIZER (2008: 494) ebenfalls für müssen von einer Kontamination dreier historischer Stämme: Er führt die in einem älteren Wörterbuch (Mercante) erwähnte Nebenform tuzzan ‘müssen’ auf eine syntagmatische Mischung von ahd. durfan, turran und muozan zurück. Suppletion von turren und dürfen ist verbreiteter in den Dialekten des Deutschen (siehe dazu SCHIRMUNSKI [1962] 2010: 623 und BRANDLMAYER 2019: 18, 32, 34); sie kann als lexembezogene Spielart von Heteroklise betrachtet werden (vgl. Fußnote 1 und Tab. 2). Wie steht es mit weiteren irregulären Merkmalen über Stammalternation hinaus? Wir geben noch zwei kurze Einblicke zu Synkretismen und Überdifferenzierungen. Die besondere Synkretismuskonstellation 1. = 3. Sg. Präs. ist in der Regel auch in den Dialekten erhalten. Das gilt auch dann, wenn Normalverben im Präsens in einem Dialekt andere Formenzusammenfälle aufweisen als der Standard. Im Moselfränkischen gilt für Normalverben etwa 1. Sg. = 1./3. Pl. = -en (die Endung -en der 1. Sg. geht auf die entsprechende Form der ahd. schwachen ōnVerben zurück), so dass hier die Nullendung der Präteritopräsentien noch salienter ist als im Standard. In dieser Region ist häufig das epistemische Modalverb werden der präteritopräsentischen Konstellation beigetreten (siehe Tab. 5 aus PEETZ 1989: 211 [Beuren bei Trier]). Präs.
Normalverb (‘tappen’)
Präteritopräsentien
werden
Sg. 1
tap-en
kan
ve:rt
2
tap-s
kan-s
ve:rt-s
3
tap-t
kan
ve:rt
Pl. 1
tap-en
ken-en
ve:rd-en
2
tap-t
ken-t
ve:rt
3
tap-en
ken-en
verd-en
Tab. 5: Modalverbspezifische Synkretismuskonstellationen im Moselfränkischen
Die Nullendung in der 1./3. Sg. Präs. erweist sich mit wenigen Ausnahmen als dialektübergreifend stabiles Merkmal. Die Regularisierung der 3. Sg. durch Affigierung von -t ist selten und wird vor allem für Sprachinseldialekte berichtet (siehe z. B. KRANZMAYER / HORNUNG 1981 zum Zimbrischen). DAL NEGRO (2004) zeigt für alemannische Sprachinseln, dass die Annahme von -t innerhalb der Modalverben lexikalisch gestaffelt ist, ähnlich wie es historisch für die 2. Sg. Präs. -t > -st beobachtet wurde (BEST 1983). In einer größeren alemannischen Region nimmt allein das semantisch randständige Modalverb wissen in 3. Sg. Präs. -t an (SDS 3, Karte 84 [wissen]). In einer Region im Mosel- und Niederfränkischen hat nur wollen in 3. Sg. -t (WA, Karte 458). Dies sind aber Ausnahmen.
Modalverben in deutschen Dialekten
213
Zuletzt sei noch kurz auf Überdifferenzierungen hingewiesen. Überdifferenzierung äußert sich nicht nur in gegenüber Normalverben durch Stammallomorphie vertieften Zäsuren im Paradigma der Präteritopräsentia, sondern auch darin, dass mehr Formen im Paradigma vorliegen als bei Normalverben (vgl. Abschnitt 2.2 und NÜBLING 2000: 208). Die Modalverben in Dialekten am Nordrand des Präteritumschwundgebiets sind unter den letzten Verben, die synthetische Präteritalformen bewahren. Der Erhalt wird häufig damit erklärt, dass die Komplexität der Modalverbklammer mit Präterita niedriger gehalten werden kann als mit Perfektformen. Für Dialekte mit Präteritumerhalt bei Modalverben können hier mit Rheinfränkisch [Lorsch] (MOTTAUSCH 2002), Moselfränkisch [Beuren] (PEETZ 1989) und Ostfränkisch [Bamberg] (BAMBERG-SCHÜBEL 1955) nur Beispiele gegeben werden. Übergreifender informieren SCHIRMUNSKI ([1962] 2010: 624) und vor allem FISCHER (2018). Als Gegenstück zu dieser Überdifferenzierung bestand historisch durch die Entstehungsgeschichte bedingt auch Defektivität, die die Zellen für Infinitiv und Partizip II betraf (siehe 2.1, Tab. 2); ein weiteres Indiz für Defektivität ist der Umstand, dass Modalverben in der Regel keine Imperativformen aufweisen (mit literarischen Ausnahmen bei wissen; vgl. REIS 2001: 291, Fußnote 8). Abschnitt 3.3.1 gilt den Nachwirkungen dieser Defektivität und den unterschiedlichen Kompromissen, die die Dialekte zwischen Morphologie und Syntax eingehen. Nach der Sondierung morphologischer Irregularitäten in diesem Abschnitt lässt sich bestätigen, dass die Präteritopräsentien fast jeden Typus an Irregularität in Bezug auf das kanonische Flexionsparadigma aufweisen – zu nennen sind hier mit Verweis auf Abschnitt 2.1 (Tab. 2) der Ausbau von Stammallomorphie, abweichende Synkretismuskonstellationen, Überdifferenzierung und Defektivität. Damit differenziert diese Sonderklasse sich auch in den Dialekten formal maximal von den anderen Flexionsklassen. Die Präteritopräsentia haben als Flexionsklasse also eine hohe Distinktivität gegenüber anderen Klassen im Sinne der Kanonischen Typologie (siehe 2.2). Inwieweit sie die zweite Eigenschaft kanonischer Flexionsklassen – die Unabhängigkeit von Konditionierungsfaktoren anderer sprachlicher Ebenen – erfüllen, ist ein Gegenstand der folgenden Abschnitte. 3.3 Modalverben an der Schnittstelle zu Syntax und Semantik Ein deutliches Indiz für die Nicht-Kanonizität der Präteritopräsentien bzw. Modalverben als Flexionsklasse liegt in ihrem Grad an externer Motiviertheit, und zwar sowohl im syntaktischen (3.3.1) als auch im semantischen Bereich (3.3.2). 3.3.1 Syntax Verquickungen mit dem erstgenannten Bereich ergeben sich dadurch, dass die Modalverben den sog. Ersatzinfinitiv (IPP = „Infinitivus pro participio“) zeigen. Dieses Phänomen, das in vielen kontinental-westgermanischen Varietäten auftritt,
214
Antje Dammel / Oliver Schallert
ist dadurch gekennzeichnet, dass in mehrgliedrigen Perfektformen statt eines erwartbaren Partizips II der einfache Infinitiv auftritt (siehe dazu grundlegend SCHMID 2005). Der entscheidende Faktor ist, ob das vom Tempusauxiliar regierte Verb mit einem (verbalen) Komplement auftritt: In einfachen Perfektformen (hat … gewollt) ist der Ersatzinfinitiv ungrammatisch, während er bei komplexen obligatorisch ist (hat … lesen wollen) (vgl. Beispiel 4). Wir haben es also mit einem syntaktisch gesteuerten Formenausgleich zu tun, der bei strikter morphologischer Autonomie nicht erwartbar wäre. (4)
a. Emma hat das Buch nicht gewollt (*wollen) b. Emma hat das Buch nicht lesen wollen (*gewollt)
Im Standarddeutschen gehören Modalverben neben Perzeptionsverben und kausativem lassen zur Kernklasse von Verben, die den IPP-Effekt zeigen, d. h. der Perfektersatz ist in diesen Fällen obligatorisch. Im Niederländischen, aber auch in Dialekten des Deutschen, tritt IPP auch bei anderen Verben auf (PONTEN 1973; SCHMID 2005; SCHALLERT 2014a, b). Ein bemerkenswertes Indiz für die bereits angesprochene Annäherung von brauchen an die modale Klasse ist der Umstand, dass dieses Verb seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch mit dem Ersatzinfinitiv belegt ist, vgl. (5) (LENZ 1996; MACHÉ 2019: 195); obligatorisch ist dieser Effekt aber nicht, d. h. auch in dieser Hinsicht zeigt sich sein Neophyten-Status. (5)
Dann hätte der Klempner ja gar nicht (zu) kommen brauchen / gebraucht.
Wenn wir nun die Dialekte ins Auge fassen, dann zeigt sich ein recht großes Spektrum an Variabilität: In großen Teilen des Niederdeutschen, aber auch im Südbairischen findet sich kein Ersatzinfinitiv, sondern im relevanten Perfektkontext tritt einfach die schwache Partizipform auf.16 Hinweise für das flächendeckende Auftreten dieser Variante liefern die Wenkermaterialien, und zwar im Speziellen eine Auswertung zu Satz 37; siehe dazu die Beispiele in (6) und die Kartierung in Karte 4. Diese basiert auf einer flächendeckenden Stichprobe, die uns Jürg Fleischer zur Verfügung gestellt hat; wir beschränken uns in der Darstellung auf das oberdeutsche Dialektgebiet, da weiter nördlich weitgehend der Vorlage entsprechende Wiedergaben mit dem Präteritum auftreten.
16 Man beachte, dass im Niederdeutschen mit Ausnahme des (Süd-)Ostfälischen (wie auch im Englischen und Friesischen) kein ge-Präfix mehr zu finden ist (siehe dazu z. B. WA, Karte 74 [gestorben]). Zumindest die schwache Partizipbildung ist aber eindeutig am Dentalsuffix erkennbar. Dieser Zusammenhang hat zur Hypothese geführt, dass der Ersatzinfinitiv gepräfigierte Partizipien voraussetzt (LANGE 1981: 64). Die von uns diskutierten Dialekte, insbesondere aber auch das Ostjiddische zeigen allerdings, dass sich hierbei nur um eine hinreichende Bedingung handeln kann (siehe SCHALLERT 2014a: 12 zu diesem Aspekt).
Modalverben in deutschen Dialekten
(6)
215
[Wenkersatz 37:] Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe und zwölf Schäfchen vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen. a. de homb sie vakafn gwelt (44109: Hermagor, Kärnten) b. unt hont se gewöllt vakafn (43375: Zedlach, Osttirol)
Karte 4: Schwache Partizipien in Ersatzinfinitiv-Kontexten [blau] (Wenkersatz 37)
Nach Nachweis der Regionalatlanten ist fehlender Ersatzinfinitiv auch kleinräumig im Ostfränkischen zu finden, so z. B. um Südwesten des Erhebungsgebietes des „Sprachatlas von Mittelfranken“ (siehe SMF 7, 132), was andeutungsweise auch in unserer Kartierung zutage tritt. Neben dem Ersatzinfinitiv (aber nicht notwendigerweise komplementär dazu) treten in den Dialekten weitere Effekte auf. Bekannt sind spezielle nicht-finite Formen (Supines; siehe HÖHLE 2006), die weder dem Infinitiv noch dem Partizip entsprechen und verschiedene morphologische Strategien kombinieren. So lautet im Südniederdeutschen die normale Partizip-Form ekonnt, d. h. das PartizipPräfix ist hier noch erhalten; in erweiterten Perfektkonstruktion hingegen fällt es aus, erkennbar an Beispielen wie (7). Insbesondere im Ostmitteldeutschen können zusätzlich zur Trunkierung auch Ablaut-Alternanzen auftreten, wie dies in (8) veranschaulicht ist (siehe dazu HÖHLE 2006 sowie FLEISCHER / SCHALLERT 2011: 188 für einen kurzen Überblick). (7)
Schaumburger Platt [Südniederdeutsch] (BÖLSING 2011: 206, 208): hei hat kont-SUP loupen (vs. normales Partizip: ekont) ‘Er hat rennen können.’
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Oberschwöditz [Ostmitteldeutsch] (TREBS 1899, 21): (vs. normales Partizip: gedorfd) de håsd darfd-SUP driŋke ‘Du hast trinken dürfen.’
In einigen (ober- und mitteldeutschen) Dialekten ist die Wahl zwischen supinischen und anderen nicht-finiten Formen (z. B. Partizip, Ersatzinfinitiv) modusgesteuert, d. h. erstere treten genau dann auf, wenn das einbettende Perfektauxiliar selbst im Konjunktiv steht, siehe (9a) gegenüber (9b). Diese Sonderformen stimmen in dem von uns herangezogenen alemannischen Dialekt bemerkenswerterweise exakt mit dem Stamm des Konjunktivs II überein, wobei sie zusätzlich das starke Partizipsuffix -a aufweisen (siehe dazu SCHALLERT 2014b: 268). Wir könnten es also mit einer Art syntaktischer „Moduskongruenz“ zu tun haben. (9)
Alemannisch [Bregenzerwald, Vorarlberg]: a. Den het ars säalt tua sötta ‘Dann hätte er es selbst tun sollen.’ b. As hat net sin sölla / (*sötta) ‘Es hat nicht sein sollen.’
Man beachte, dass die Supinformen sehr oft Kontraktion zeigen, ein Phänomen, das wir bereits im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Numeruszäsur angesprochen haben (siehe dazu 3.2). Dieses Phänomen ist häufig mit morphologischer Irregularität verbunden und nicht durch phonologische Prozesse allein determiniert (siehe dazu ausführlich NÜBLING 2000). Wir haben es also bei den Supina mit hochgradig differenzierten – und funktionalisierten – morphologischen Markern zu tun. Eine bemerkenswerte Konstruktionsalternative, auf die wir abschließend noch eingehen wollen, ist nach Maßgabe unseres Dialektgrammatiken-Korpus insbesondere im Alemannischen, aber auch Teilen des Mittelbairischen17 anzutreffen. Hier ist Synkretismus zwischen Infinitiv und Partizip II zu beobachten, d. h. sowohl in einfachen als auch erweiterten Perfektformen tritt stets eine Form auf, die deckungsgleich mit dem Infinitiv ist.18 Einschlägig ist das Beispiel in (10a) mit der Form wella ‘wollen’, deren standarddeutsche Entsprechung im analogen Kontext ungrammatisch wäre (10b). DAL (1954) spricht bei verwandten Formenzusammenfällen von „Indifferenzformen“, und diese Bezeichnung werden wir im Folgenden übernehmen.
17 Da unsere Stichprobe mit Blick auf das Ostoberdeutsche große Lücken aufweist, sei hier auf einschlägige Kartierungen im Rahmen der verschiedenen Regionalatlanten verwiesen. Explizite Hinweise auf Formengleichheit von Infinitiv und Partizip finden sich etwa in SNiB 5, Karten 43 [gedurft], 44 [gemocht] und 45 [gemusst] sowie in VALTS 3, Karten 77a [gemusst] und 77b [gewollt]. 18 Die diachrone Quelle für diesen Zusammenfall sind wohl zeitweilig auftretende starke Partizipien von Modalverben (siehe JÄGER 2018: 309–310 für eine kurze Diskussion).
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(10) Hochalemannisch [Südvorarlberg] (SCHALLERT 2014b: 267): a. un’ [...] wer Wiißbroot wella håt (XI/38: Silbertal) b. und wer Weißbrot *wollen hat Im Anschluss an die einflussreichen Arbeiten von SCHMID (2000; 2005), die sich im Rahmen der Optimalitätstheorie bewegen, ist es üblich, den Ersatzinfinitiv als „Reparaturphänomen“ zu betrachten, das zwischen konfligierenden syntaktischen und morphologischen Beschränkungen vermittelt. Ohne auf weitere Details einer OT-Analyse zum Ersatzinfinitiv einzugehen, erscheint auch für die anderen Sonderformen (Supines) eine Analyse als Reparaturphänomen durchaus plausibel (siehe auch JÄGER 2018 zu dieser Idee). Indifferenzformen hingegen können sozusagen als morphologische Konfliktresolution gedeutet werden: Wenn es gar keinen formalen Gegensatz mehr zwischen Infinitiv und Partizip gibt, dann müssen beide auch nicht mehr zur optimalitätstheoretischen Paartherapie. In SCHALLERT (2014a) wird diese Idee in die Form einer Unterspezifikations-Analyse übersetzt. 3.3.2 Semantik Was die semantische Entwicklung betrifft, so ist die Konzentration der Klasse der Präteritopräsentien auf Modalverben und der Austritt von Nichtmodalverben auch in den Dialekten deutlich erkennbar. Soweit die Grammatiken darüber Auskunft geben, verlaufen semantische Entwicklungen häufig analog zum Standard, werden Nichtmodalverben wie taugen regularisiert oder sterben aus (mhd. turren). Punktuell wird vom Erhalt älterer Funktionen berichtet, z. B. ‘nötig haben’ bei dürfen (siehe z. B. MAHNKE 1931: 62 [Ostpommersch] oder FRITZ 1997: 80 [Schwäbisch]). Dies scheint in einer von mehr als 200 Antworten zu unserer Enquête im Untersuchungsgebiet des BWB auf: (11) [Fragesatz:] Er bräuchte sich nur mal den Plan anzuschauen, dann käme er ohne Mühe zurecht. ea deafad sö grad den Plan aschau, nachad kam ea ohne Müha u. Nout zrecht (Osterhofen/Abing). Umgekehrt können sich auch neue Funktionen zuerst regional etablieren wie nach FRITZ (1997: 80) bei mögen mit ‘gern haben’ im Niederdeutschen geschehen, während das Oberdeutsche länger bei der früheren Verwendung ‘können’ blieb. Damit rückte dort auch können nicht so schnell in die Verwendung ,Fähigkeit‘ nach wie im Niederdeutschen. In Bezug auf das Verwendungsspektrum der Modalverben inklusive brauchen wären funktional orientierte Befragungen notwendig, die partizipantenorientierte und epistemische Verwendungen systematisch abklopfen. Der in (11) zitierte Fragesatz unserer Enquête erbrachte einerseits einen Überblick der Formengeographie des Konjunktivs II von brauchen (Karte 5a) mit braucha(d/t) als häufigster Form (z. B. Ea brauchad se den Plan bloß gscheid oschaun [Rohrbach]) und ohne
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erkennbare Raumbildung von (entrundeten) Umlautungen, die mit dem historisch starken Suffix -t und dem historisch schwachen -ad/-at gleichermaßen auftreten (siehe dazu auch BRANDLMAYER 2019: 51–53). Interessant sind die von den Gewährspersonen produzierten Ausweichformen, weil sie sich teilweise als raumbildend erweisen (Karte 5b). Während die modale Ausweichform müsste (z. B. Ea miaßad hoid amoi an Plan oschaung [Dietramszell]) flächendeckend verbreitet ist, bilden Periphrasen mit täte + Infinitiv (z. B. wenn a blos an Plan oschaun dat [Reichertshausen]) und hätte + Part. II bzw. IPP (z. B. Er hätt se grod den Plan oschaun braucht [Nussdorf/Inn]) ein südliches Areal; Konstruktionen mit der Konjunktivform des Vollverbs sind weiter nördlich konzentriert (wenn a grad omoi auf den Plan da schaugat [München]).
brauchad/at braichad (UL) braucht braicht (UL)
Er müsste nur mal ... INF Wenn er INF täte Hätte er ... Part II/IPP Konjunktiv des Vollverbs
Karten 5 a–b: Übersetzung von brauchen in: „Er bräuchte sich nur mal den Plan anzuschauen, (dann käme er ohne Mühe zurecht)“ (eigene Erhebung). Links: a. Übersetzung mit brauchen; rechts: b. Nutzung von Ausweichkonstruktionen
In Bezug auf einige neuere partizipantenbezogene Verwendungsweisen, besonders aber auf Epistemizität, ist mit gegenüber dem Standard reduzierten Systemen zu rechnen. So kann wollen im Luxemburgischen und Alemannischen Funktionen von mögen übernehmen (NEWTON 1990; WERLEN 1985: 97); in ähnlicher Weise gilt dies für müssen, das Domänen von sollen und brauchen mit abdeckt (siehe
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mit Blick auf das Zürichdeutsche WEBER [1948] 1964: 257 und die obige Diskussion). In epistemischer Verwendung zeigt z. B. das aus moselfränkischen Dialekten hervorgegangene Luxemburgische in (12) ein weniger stark gestaffeltes System als das Standarddeutsche (DAMMEL 2006: 141, 164). Ein analoges Fehlen von epistemischem dürfte, dessen Funktion von werden abgedeckt wird, berichtet auch FRITZ (1997: 79) für das Schwäbische und Schweizerdeutsche. (12) Skala epistemischer Verwendungen von Modalverben: Standarddeutsch vs. Luxemburgisch Sie (mag)
könnte
kann
dürfte
sollte
wird
müsste
muss
gelogen haben.
---
Si kënnt
kann
---
---
wäerd
misst
muss
gelunn hunn.
–
Affirmativität/ Wahrscheinlichkeitsgrad, dass Annahme zutrifft
+
Während die historische Semantik der Modalverben relativ breit erforscht ist, gilt das Gegenteil für semantische Variation in den Dialekten des Deutschen. Diese auch von FRITZ (1997) als fruchtbar angesehene Fragestellung, die Aufschluss über die Arealität semantischen Wandels liefern kann, ist bis heute offen: Wie in anderen Wortschatzbereichen auch, finden sich im Gebrauch der Modalverben in der Gegenwartssprache regionale Unterschiede. Diese deuten auf unterschiedliche historische Entwicklungen hin, die in der Forschung bisher nur punktuell beschrieben sind. Es wäre wünschenswert, einmal zusammenzutragen, was an regional unterschiedlichen semantischen Entwicklungen zu erheben ist. (FRITZ 1997: 79)
Einblicke in die dialektale Semantik der Modalverben erfordern andere als die bisher hauptsächlich verfolgten und genutzten formorientierten Befragungsmethoden, so dass für diese Zwecke Neuerhebungen sinnvoll wären. In einer Pilotstudie, die relativ systematisch epistemische und deontische Kontexte für das auf der Basis moselfränkischer Dialekte entstandene Luxemburgische überprüft (DAMMEL 2006), hat sich gezeigt, dass besonders Differenzbelege bei Übersetzungsaufgaben semantisch aussagekräftig sind. Auch Sprachproduktionsaufgaben (vgl. jüngst KALLENBORN 2019), z. B. Discourse Completion Tasks, sind denkbar. Forschungsdesigns wie diese stehen, wenn man sich etwa für Abstufungen epistemischer Modalität interessiert, vor Herausforderungen. Korpusanalysen wären eine Möglichkeit, Modalverbgebrauch in authentischen Kontexten zu beobachten; Dialektkorpora mit monologischen Aufnahmesituationen werden aber nicht zu allen interessanten Kontexten Daten liefern, da besonders epistemische Verwendungen selten und in sehr spezifischen Kontexten auftreten. Vorläufig kann aber festgehalten werden, dass die Modalverben auch in semantischer Hinsicht keine kanonische Flexionsklasse sind. Ihre Flexionsweise wird auch in den Dialekten nicht nur an syntaktische, sondern auch an semantische Eigenschaften geknüpft. Das zeigt auch der Neuzugang (nicht) brauchen, dessen Verhalten im Raum kurz im nächsten Abschnitt diskutiert wird.
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3.3.3 Semantik trifft Syntax: der Neuzugang (nicht) brauchen Bei dem Neuzugang (nicht) brauchen zeigt sich, wie Anpassungen an die Klasse der Modalverben auf verschiedenen grammatischen Ebenen im Raum interagieren. Im Folgenden wird auf alltags- und gebrauchsstandardsprachliche Daten aus dem „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (ADA) und dem „Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards“ (AADG) zurückgegriffen. Im AADG zeigt sich ein geschlossenes nordwestliches Gebiet des t-Ausfalls,19 für das diskutiert wurde, ob es sich um einen morphologisch oder phonologisch gesteuerten Prozess handelt (MAITZ / TRONKA 2009). Da der Ausfall selektiv und nicht verbübergreifend geschieht (*sie rauch schon wieder), schließen wir uns ersterer Ansicht an.20 Zum anderen zeigt sich im ADA ein süd-östliches Gebiet mit Infinitiv ohne zu, einem der syntaktischen Merkmale der Modalverben.21 Beide Gebiete sind nahezu komplementär verteilt. Nur wo sie aufeinandertreffen, können, wie GIRNTH (2000) für das Berührungsareal im Süden des MRHSA-Erhebungsgebiets untersucht hat, beide Merkmale in der horizontalen Variation kurzgeschlossen werden. Das heißt aber nicht, dass innerhalb der vertikalen Dimension nicht SprecherInnen über diese Raumstrukturen hinweg dieselbe Verbindung ziehen könnten. Was im Ergebnis wie eine Verschwörung zum Eintritt in die Klasse der Modalverben auf verschiedenen grammatischen Ebenen aussieht, ist teilweise polygenetisch und heterogrammatisch bedingt (vgl. NICKEL / KÜRSCHNER 2019) und wird erst im Verlauf der Entwicklung kurzgeschlossen. Das schwächt aber nicht das Argument der Entropiereduktion, sondern erweitert es um eine areale Komponente, da räumlich zufällig entstandene und verteilte Eigenschaften konzertiert werden. 4 ZUSAMMENFASSUNG Dieser Beitrag hat gezeigt, dass im Bereich der Modalverben auch in den deutschen Dialekten Entropie reduziert wird, indem irreguläre Eigenschaften auf verschiedenen Ebenen, Morphologie, Syntax und Semantik, gekoppelt werden, wobei Interaktionen (wie bei brauchen beobachtbar) durch räumliche Kontaktzonen der irregulären Merkmale gestützt werden können. Was den Erhalt und Ausbau vertiefter Zäsuren wie der numerusbezogenen im Präs. Pl. angeht, so zeigt sich dialektübergreifend eine unterschiedliche Entwick19 Siehe zu den eindeutigen Verhältnissen im Gebrauchsstandard die dazu einschlägige AADGKarte: [zuletzt aufgerufen am 18.10.2019]. 20 Umlaut im Konjunktiv II, eine weitere Anpassung von brauchen an die Modalverben, ist laut ADA für alltagsprachliche Verwendungen fast flächendeckend verbreitet: [zuletzt aufgerufen am 18.10.2019]. Nur im Süden des Ostoberdt. wird zu einer täte-Periphrase gegriffen, was gut zu dem Kartenbild in Karte 5b oben passt. 21 Siehe dazu: https://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/germanistik/sprachwissenschaft/ ada/runde_7/f06a/ [zuletzt aufgerufen am 18.10.2019].
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lung je nach Modalverb abhängig von lexikalischer Frequenz, phonologischem Kontext und Raumbildung. Die Überlegungen in Abschnitt 3.2 haben auch gezeigt, dass die Raumbildung Evidenz zu diachronen Szenarien liefern kann. Dass ein Hauptareal des morphologischen Umlauts in Modalverben im Westoberdeutschen liegt, stützt die These vom Umlaut als transkategorialem Numerusmarker. Auch in Bezug auf weitere Zäsuren liefern die Dialekte des Deutschen ein vielfältiges Bild. Syntagmatische Kontraktionen und paradigmatische Mischungen der Formen bedeutungsverwandter und formal ähnlicher Modalverben erzeugen Suppletion. Gleichzeitig führt die Kombination von Irregularitäten verschiedener Ebenen auch zu Form-Funktion-Mismatches, die vor allem syntaktisch bedingt sind: In komplexen Perfektformen kann es gegenüber einfachen zu einer Neutralisation des Formgegensatzes zwischen Partizip und Infinitiv kommen (Ersatzinfinitiv) oder dieser Gegensatz wird durch Synkretismus gleich gänzlich beseitigt (Indifferenzformen); eine weitere Option sind spezialisierte Partizip-Allomorphe (Supina). Modalverben bieten ein breites Spektrum von irregulären Phänomenen, das fast alle Arten von Verstößen gegen das kanonische Flexionsparadigma abdeckt (Stammallomorphie bzw. Suppletion, syntaktisch gesteuerte Synkretismen, Überdifferenzierung usw.) und an denen verschiedene Morphologietheorien sich beweisen müssen (morphem- wie wortbasierte, formale wie funktionale). Fest steht, dass die Präteritopräsentia keine sehr kanonische Flexionsklasse sind, nicht nur weil ihre Mitgliederzahl gegenüber den anderen Klassen klein ist, sondern vor allem weil ihre Flexionseigenschaften in hohem Maße an außermorphologische (syntaktische und semantische) Sonderbedingungen geknüpft sind. Die Sonderklasse der Präteritopräsentia eignet sich mit der konsequenten Behandlung in Dialektgrammatiken (und eingeschränkter in Atlanten) sehr gut für formbasierte Untersuchungen. Demgegenüber sind das Funktionsspektrum und die semantische Arbeitsteilung der Klassenmitglieder in den Dialekten, gerade auch was epistemische Verwendungen und den Einfluss nicht-modaler Funktionen wie Futur im Niederdeutschen angeht, noch kaum systematisch erschlossen und wären wichtig als ergänzende Evidenz zu diachronen semantischen Umschichtungen. Sie wären auch methodisch ein Testfall für Forschungsdesigns zu semantischer Variation. LITERATURVERZEICHNIS ACKERMANN, FARRELL / ROBERT MALOUF (2013): Morphological organization. The low conditional entropy conjecture. In: Language 89 (3), 429–464. ARONOFF, MARK (1994): Morphology by itself. Stems and inflectional classes. Cambridge (Mass.): MIT Press (Linguistic Inquiry Monographs. 22). BAMBERG-SCHÜBEL, GEORG (1955): Die Ostfränkisch-Bambergische Mundart von Stadtsteinach im ehemaligen Fürstbistum Bamberg. Lautlehre und Beugungslehre. Gießen: Schmitz (Beiträge zur deutschen Philologie. Neue Folge. 3).
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DIFFERENTIELLE KASUSMARKIERUNG IN DEN DIALEKTEN DES WESTLICHEN MÜNSTERLANDES Markus Denkler 1 EINLEITUNG Die Entwicklung der Deklination der Substantive und ihrer Begleiter in den Dialekten ist durch Kasussynkretismus gekennzeichnet (vgl. SCHIRMUNSKI 2010: 495). Dies ist gerade auch in den niederdeutschen Dialekten zu beobachten, wo größtenteils nur noch zwei Kasus unterschieden werden – Dativ und Akkusativ sind weiträumig zusammengefallen (vgl. FOERSTE 1957: 1989–1990; SHRIER 1965: 434–436). Allerdings gibt es nur wenige Studien, die dazu beitragen, ein differenziertes Bild von den entsprechenden Entwicklungen zu zeichnen (vgl. etwa DAMME 2002; PANZER 1972; ROHDENBURG 1993; 1998). So kennen wir nicht viele Details zur Kasusnivellierung im Hinblick auf die Wortarten, die Genera oder die unterschiedlichen Regionen mit ihren lautlichen und grammatischen Besonderheiten. Andererseits sind auch Dialekte, in denen die Kasusdistinktionen weitgehend bewahrt wurden, wie die in Südwestfalen, noch nicht ausreichend untersucht worden. Im vorliegenden Beitrag soll die Kasusmarkierung in den Dialekten des westlichen Münsterlandes untersucht werden. Im Fokus steht dabei die Deklination des bestimmten Artikels im Maskulinum. Im zentralen Münsterländischen sehen wir bei Maskulina die auch ansonsten im Niederdeutschen häufige Differenzierung zwischen Nominativ und Obliquus: Nominativ de Hoff – Obliquus den Hoff. Westlich von Münster hat sich allerdings eine Struktur entwickelt, die im Folgenden als differentielle Kasusmarkierung bezeichnet wird.1 Ziel dieses Beitrags ist es, Merkmale der Verteilung der Artikelformen de und den auf die maskulinen Substantive herauszuarbeiten. Neben dem Kasus kommt hierbei nämlich auch das semantische Merkmal der Belebtheit ins Spiel. Zur Erklärung der Verteilung von de und den wird ein dialektgeographischer Ansatz verfolgt, bei dem Raummerkmale sprachlicher Strukturen berücksichtigt werden. Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Im folgenden Abschnitt wird erläutert, was eine differentielle Kasusmarkierung genau bedeutet, in Abschnitt 3 werden für das Verständnis notwendige Merkmale der Kasussysteme in den westfälischen 1
Für hilfreiche Gespräche zu diesem Thema danke ich Robert Damme, Antje Dammel (beide Münster) und Andreas Klein (Mainz) sehr herzlich. Ebenfalls danke ich dem anonymen Gutachter für wertvolle Kommentare.
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Markus Denkler
Dialekten mitgeteilt. Im vierten Abschnitt wird die differentielle Kasusmarkierung analysiert. Hierzu werden einerseits ältere Fragebogendaten und andererseits aktuelle, direkt erhobene Sprachdaten untersucht. Im fünften Abschnitt wird eine kontaktdialektologische Erklärung für die Entstehung der differentiellen Kasusmarkierung im Untersuchungsgebiet vorgeschlagen. 2 HINTERGRUND Im inneren Münsterländischen werden wie erwähnt beim maskulinen Definitartikel die beiden Formen de und den2 verwendet, um Nominativ und Obliquus zu unterscheiden. Im westlichen Teil des Münsterlandes ist diese einfache Zuordnung so nicht gegeben. Dies zeigen beispielsweise Fragebogenantworten aus Dorsten-Wulfen (Kreis Recklinghausen) aus dem Jahr 1922. Der Fragebogen wurde von Theodor Baader zur Erhebung von Sprachdaten für das Westfälische Wörterbuch verschickt. Der Fragebogen aus Wulfen ist eine von über 200 Rücksendungen; er befindet sich im Archiv des „Westfälischen Wörterbuchs“ (Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens) in Münster. Dankenswerterweise hat der Gewährsmann bei den zu übersetzenden Substantiven wie gewünscht den bestimmten Artikel hinzugesetzt. Bei den Maskulina erscheinen nun bohm ‘Baum’, färwer / blaohfärwer ‘Blaufärber’, fossk ‘Frosch’, himmel, mann / fohemann ‘Fuhrmann’ / muhemann ‘Maurer’, mehet ‘März’ und wehet ‘Wirt’ mit der Artikelform de, balken ‘Dachboden’, butt ‘Knochen’, faut ‘Fuß’, giewel ‘Giebel’, ihesel ‘Esel’, kaohm ‘Kamm’, nahgel, slöttel ‘Schlüssel’ und ülk ‘Iltis’ dagegen mit der Artikelform den. Ordnet man diese Wörter wie in der nachfolgend abgedruckten Tabelle 1, zeigt sich, dass diese Differenzierung tendenziell semantisch motiviert ist:
2
Dies sind typisierte Formen. Die Form de wird beispielsweise in vielen Orten auch diphthongisch realisiert. Die Form den wird größtenteils mit kurzem /ɛ/ gesprochen.
Differentielle Kasusmarkierung
de mann, fohemann, muhemann färwer, blaohfärwer wehet fossk bohm himmel mehet
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den Mensch
ihesel ülk balken butt faut giewel kaohm nahgel slöttel
Tier unbelebt
Tab. 1: Verteilung von de und den bei Maskulina (Fragebogenantworten aus Dorsten-Wulfen 1922)
Bei den Bezeichnungen für Menschen erscheint stets die Artikelform de, bei den Bezeichnungen für Unbelebtes überwiegend die Artikelform den,3 bei den Tierbezeichnungen erscheint einmal de und zweimal den. Dass eine solche Verteilung kein Einzelfall ist, zeigt die folgende Tabelle 2. Zugrunde liegt hier eine Fragebogenerhebung aus dem ca. 20 km von Wulfen entfernten Velen-Ramsdorf (Kreis Borken) aus dem Jahr 1939: de Smitt ‘Schmied’ Sönn ‘Sohn’
den Mensch Voggel Bätte ‘Biss’ Gräppe ‘Griff’ Hoff Snedde ‘Schnitte’ Trogg Wegg
Tier unbelebt
Tab. 2: Verteilung von de und den bei Maskulina (Fragebogenantworten aus Velen-Ramsdorf 1939)
3
Zu Himmel siehe unten den Schluss von Abschnitt 4, wo kurz auf metaphorische und metonymische Konzepte von Belebtheit eingegangen wird. Auch mehet ‘März’ ließe sich vermutlich dort einsortieren.
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Hier zeichnet sich eine Differenzierung nach dem semantischen Merkmal der Belebtheit ab. Wenn man die Tierbezeichnungen zunächst einmal unberücksichtigt lässt und vorübergehend davon ausgeht, dass im Obliquus ausschließlich den verwendet wird, lässt sich diese flexivische Differenzierung wie folgt darstellen: + bel. de den
- bel. den den
Nom. Obl.
Tab. 3: Differentielle Kasusmarkierung (Artikelformen de und den)
Eine Unterscheidung von Nominativ und Obliquus Singular durch den bestimmten Artikel gibt es in den betreffenden Orten nicht bei allen Maskulina, sondern nur bei denjenigen, die das Merkmal [+ belebt] (bzw. [+ menschlich]) aufweisen. Bei den Maskulina, die das Merkmal [- belebt] (bzw. [- menschlich]) haben, werden – ebenso wie bei den Feminina und Neutra – Nominativ und Obliquus nicht unterschieden. Dies ist eine differentielle Kasusmarkierung. Zu diesem Phänomen gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen. Weit verbreitet ist die „differentielle Objektmarkierung“, also ein System, bei dem einige, aber nicht alle Objekte kasusmarkiert sind (vgl. etwa MORAVCSIK 1978: 272–281; BOSSONG 1985; AISSEN 2003). Bei der „differentiellen Subjektmarkierung“ haben wir es entsprechend mit einem System zu tun, bei dem einige, aber nicht alle Subjekte kasusmarkiert sind. Das oben angedeutete System ist der „differentiellen Subjektmarkierung“ zuzuordnen, hier wird allerdings der allgemeinere Terminus „differentielle Kasusmarkierung“ verwendet. Zur Erklärung eines solchen Kasussystems wird auf Entsprechungen bei den thematischen Rollen, den syntaktischen Funktionen und der Belebtheit im typischen transitiven Satz (wie etwa Der Nachbar fällt den Apfelbaum.) verwiesen (nach ALBER / RABANUS 2011: 33): Thematische Rolle
Agens
Patiens
Syntaktische Funktion
Subjekt
Objekt
Belebtheit
belebt
belebt und unbelebt
Während das Agens üblicherweise als Subjekt kodiert und belebt ist, ist das Patiens typischerweise als Objekt kodiert und kann sowohl belebt als auch unbelebt sein. Bei Substantiven, mit denen Unbelebtes bezeichnet wird, ist demnach eine Kasusunterscheidung zur Kennzeichnung der syntaktischen Funktion bzw. der thematischen Rolle nicht nötig bzw. ein Ballast, da für sie eben üblicherweise nur das Objekt bzw. das Patiens in Frage kommt. Dagegen ist eine solche Unterscheidung bei den Substantiven, die Lebewesen bezeichnen, sinnvoll und notwendig, um im transitiven Satz Klarheit über die Rollen zu erreichen. Bei der differentiel-
Differentielle Kasusmarkierung
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len Kasusmarkierung greift also das „principle of economy: avoid case-marking“ (AISSEN 2003: 435). Somit ist bei der Deklination eine Belebtheitshierarchie (engl. animacy scale) von Belang, die in einer einfachen Form wie folgt aussieht (nach CROFT 2003: 130): menschlich > belebt > unbelebt. Auch in der dialektmorphologischen Forschung wurde bereits auf hinsichtlich der Belebtheit differenzierte Deklination hingewiesen. So auch für das Niederdeutsche: Im Land Hadeln (nordniederdeutsch) ist beim Personalpronomen in der 3. Person Sg. Fem. und in der 3. Person Pl. differentielle Objektmarkierung zu beobachten (vgl. ROHDENBURG 1998): He hett ehr [de Deern] slaan. (‘Er hat sie [das Mädchen] geschlagen.’) He hett se [de Ko] slaan. (‘Er hat sie [die Kuh] geschlagen.’) In den vorstehenden Beispielen erscheint das alte Dativpronomen ehr, um auf einen Menschen zu verweisen, aber das alte Akkusativpronomen se, um auf ein Tier zu verweisen. In beiden Fällen geht es um das Objekt von slaan. ROHDENBURG (1998: 294–295) macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass der Dativ eine große Affinität zu menschlichen Objekten hat, während der Akkusativ eine Affinität zu unpersönlichen Objekten aufweist (vgl. auch FENK-OCZLON 2015: 90). So wird der semantisch motivierte Gebrauch von ehr und se erklärlich, der als eine vorübergehende Begleiterscheinung des voranschreitenden Zusammenfalls von Dativ und Akkusativ im Nordniederdeutschen aufgefasst wird (vgl. außerdem DREESSEN 2017). 3 KASUSSYSTEME DER WESTFÄLISCHEN DIALEKTE Bevor Besonderheiten der Kasusmarkierung im westlichen Münsterland thematisiert werden, soll ein kurzer Blick auf die Kasussysteme in den westfälischen Dialekten geworfen werden, sozusagen aus der Vogelperspektive. Die nachstehende Kartenskizze (Karte 1) beruht auf einer Auswertung des oben bereits erwähnten Fragebogens von Theodor Baader. Herangezogen werden die Fragebogenübersetzungen von der, dem und den (bestimmter Artikel Maskulinum: Nominativ, Dativ und Akkusativ). Dabei wird davon ausgegangen, dass das Maskulinum Singular das Höchstmaß an Differenzierung beim bestimmten Artikel aufweist (vgl. auch SHRIER 1965: 429).4 Nicht berücksichtigt werden hier die Pronomina, sie zeigen vermutlich vielerorts ein abweichendes Bild. 4
SHRIER (1965) ist für Analysen zu den westfälischen Dialekten nur mit Vorsicht heranzuziehen, da zum einen keine südwestfälischen und westmünsterländischen Daten berücksichtigt werden. Die Autorin kommt daher auch zu dem Schluss, dass der vollständige Zusammenfall
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Die Kartenskizze zeigt vier Areale. Diese Areale stimmen größtenteils mit den westfälischen Teilregionen überein, die angesetzt werden, wenn die historische Entwicklung der mittelniederdeutschen langen ê- und ô-Laute zur Einteilung der westfälischen Dialekte zugrunde gelegt wird (vgl. NIEBAUM 1980: 461): das Westmünsterländische, das Münsterländische, das Ostwestfälische und das Südwestfälische. Im Südwestfälischen gibt es drei differenzierte Artikelformen; die drei Kasus Nominativ, Akkusativ und Dativ sind dort bewahrt.5 Die Fragebogenantworten aus Oberhundem im Sauerland lauten beispielsweise de, diäm, diän. Nach FOERSTE (1957: 1786) ist für den Dativartikel von folgender Lautentwicklung auszugehen: deme > deame > deam. Die Diphthongierung des kurzen e in offener Tonsilbe zu ea lässt darauf schließen, dass die Apokope des Schwa hier sehr spät eingetreten ist. Die Nasale m (Dativ) und n (Akkusativ) waren hier lange im Inlaut geschützt; die beiden Artikelformen sind daher nicht zusammengefallen.
Karte 1: Kasussysteme der niederdeutschen Dialekte in Westfalen-Lippe (Skizze, nach Fragebogendaten aus dem Jahr 1922)
5
von Nominativ, Akkusativ und Dativ beim bestimmten Artikel nur im äußersten Norden Deutschlands vorkommt (vgl. SHRIER 1965: 429). Außerdem sieht sie deswegen in ihrem Kartenbild die Benrather Linie gespiegelt. Zum anderen hat sie in ihrer Karte 1 „Northrhine-“ im Norden von NRW eingetragen und „Westphalia“ im Süden, was vermutlich zu dem Umstand geführt hat, dass sie ihren rheinischen Ortspunkt Nr. 12 für einen westfälischen hält (vgl. SHRIER 1965: 423). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die auf SHRIER fußende, aber modifizierte Karte bei RAUTH (2016: 128). Laut SHRIER (1965: 431) ist diese Differenzierung „a characteristic of high german dialects“.
Differentielle Kasusmarkierung
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Ein Paradigma für ein Maskulinum mit bestimmtem Artikel im Singular (wiäch ‘Weg’) bietet GRIMME (1922, 56, 66) für Assinghausen im Sauerland: Nominativ Dativ Akkusativ
dai wiäch diäm wiägge diän wiäch
Die geringe Affinität zur Apokope zeigt sich auch in der Dativform wiägge. Bei einsilbigen starken Maskulina ist hier das Dativ-Schwa obligatorisch und trägt zur Aufrechterhaltung der Kasusdifferenzierung bei. Der Stammsilbenvokal des Dativ Singular und des Plurals iä ist hier im gesamten Paradigma verallgemeinert worden, was nach MIRONOW (1957: 402) eigentlich als charakteristisch für kasusnivellierende Dialekte gilt. Im Ostwestfälischen hat der maskuline Definitartikel die Dreiförmigkeit teilweise erhalten und teilweise (nach Norden hin zunehmend) aufgegeben. Aber selbst dort, wo die Dativform des bestimmten Artikels mit der Akkusativform zusammengefallen ist, wird am Dativ-Schwa beim Substantiv festgehalten (vgl. auch DAMME 2002: 74); es ist dort also nicht fakultativ wie im Standarddeutschen. Ein Paradigma (deif ‘Dieb’) für Gütersloh ist aus WIX (1921: §§ 296, 317) zu ersehen: Nominativ Dativ Akkusativ
de deif den deiwe den deif
Nicht allein der Artikel, sondern auch das Substantiv ist hier Träger von Flexionsmerkmalen (vgl. auch SHRIER 1965: 420), zumindest bei den einsilbigen starken Maskulina und Neutra. Mit gleicher Artikelform gebildete Nominalphrasen werden im Ostwestfälischen also teilweise durch eine Suffigierung des Substantivs disambiguiert. Darüber hinaus wird dort zum Teil auch Stammmodulation für die Kasusflexion nutzbar gemacht (vgl. z. B. BECKMANN 2002: 82–83). Hier deutet sich ein spezifischer Strukturzug des Ostwestfälischen an (vgl. Markertyp und Disambiguierungsleistung bei WURZEL 2001: 90–91). Das Münsterländische schließt sich mit seinen zwei Kasus dem niederdeutschen Norden an: de (Nominativ) vs. den (Obliquus) (vgl. FOERSTE 1957: 2005– 2006; MIRONOW 1957: 402). Der frühe Eintritt der Schwa-Apokope führte zu folgendem Lautwandel beim Dativartikel, der zum Zusammenfall mit dem Akkusativ führte: deme > dem > den. Entstanden ist so ein sehr deutlicher Gegensatz zwischen dem Münsterland und Südwestfalen: Im Norden gilt die Form den wäch ohne Differenzierung von Akkusativ und Dativ, im Süden gilt die vom Akkusativ abweichende Form diäm wiäge für den Dativ. Nach FOERSTE (1957: 1821) ist der Zusammenfall von Dativ und Akkusativ im Niederdeutschen auf „nl. (und dän.) Einfluss“ zurückzuführen.
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Im Westmünsterländischen an der deutsch-niederländischen Staatsgrenze herrscht vollständiger Kasussynkretismus beim bestimmten Artikel.6 Die im Sinne der Natürlichkeitstheorie (vgl. MAYERTHALER 1981) semantisch markierte Obliquusform den wird verallgemeinert; dadurch wird die Kasusdifferenzierung vollständig abgebaut. Dies geschah laut FOERSTE (1957: 1990) durch niederrheinischen Einfluss. Anführen ließen sich auch entsprechende Entwicklungen in den südniederländischen Dialekten, die als „Akkusativismus“ bezeichnet werden (vgl. VAN LOON 1989). Somit gibt es dort nun drei im Hinblick auf das Genus differenzierte Formen des bestimmten Artikels: Maskulinum den, Femininum de, Neutrum dat (vgl. etwa für Rhede im Kreis Borken SCHÜLING 1987: 69–70); diese Entwicklung hat zur Genusprofilierung beigetragen (vgl. hierzu auch MIRONOW 1957: 407; PANZER 1972: 156–157) Die oben in Abschnitt 2 beispielhaft angeführten Orte Dorsten-Wulfen und Velen-Ramsdorf befinden sich unweit der in der Karte eingezeichneten Grenzlinie zwischen dem westmünsterländischen Gebiet mit Kasuszusammenfall und dem münsterländischen Zwei-Kasus-Gebiet. 4 ANALYSEN Für einen ersten sprachräumlichen Überblick wurden Daten aus den Wenker-Fragebogen ausgewertet, genauer gesagt aus den 628 Bogen des westlichen Münsterlandes und des Niederrheins.7 In drei Sätzen (4, 25, 39) findet sich der bestimmte Artikel im Nom. Sg. Mask.: der (gute) alte Mann, der Schnee, der braune Hund. In den 1877 verwendeten westfälischen Sätzen ist der Satz mit der braune Hund nicht enthalten, daher gibt es neben dreiteiligen Datensätzen auch einige zweiteilige. Karte 2 zeigt eine facettenreiche räumliche Variation im Hinblick auf die Verwendung von de und den als Formen des bestimmten Artikels im Nom. Sg. Mask., die hier nicht in Gänze thematisiert werden kann. Im östlichen Teil des Kartenausschnitts wird in allen Fällen de (bzw. däi usw.) geschrieben (grüne Symbole). In diesem Gebiet wird, wie oben beschrieben, ein Zwei-Kasus-System verwendet (die Quadrate stehen für dreiteilige Datensätze, die Rauten für zweiteilige). Im südwestlichen Teil des Kartenausschnitts, am Niederrhein, herrscht Variation: Hier hat Schnee die Artikelform de, Hund und / oder Mann haben den (rosafarbige Kreise).8 Dieses Gebiet wäre besonders im Zusammenhang mit den 6 7
8
Vgl. hierzu SHRIER (1965: 423, 429). Dort heißt es unrichtig: „NAD for the masculine definite article is limited to the very northernmost part of the territory.“ Im Einzelnen sind dies die Fragebogen aus den damaligen Kreisen bzw. kreisfreien Städten Ahaus, Bochum, Borken, Coesfeld, Dortmund, Duisburg, Essen, Geldern, Kleve, Lüdinghausen, Moers, Mülheim a. d. Ruhr, Münster, Recklinghausen, Rees und Steinfurt. Für die Erhebung der Daten aus den Fragebogen habe ich Alexandra Strauß zu danken, für die Erstellung der Karte Philipp Dondrup und Sina Bößmann-Herrmann. Am Niederrhein gibt es 13-mal die Konstellation, dass Mann mit de und Schnee und Hund mit den kombiniert werden. Die entsprechenden Orte werden nicht gesondert ausgezeichnet, sondern ebenfalls mit rosafarbigem Kreis symbolisiert.
Differentielle Kasusmarkierung
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niederländischen und rheinischen Nachbarregionen zu untersuchen. Hier scheint es entgegen der in Abschnitt 2 dargelegten funktionalen Hintergründe eine Kasusunterscheidung bei unbelebten Referenten zu geben und nicht bei belebten. Vor allem im Westmünsterland, besonders im Raum Bocholt, erscheint die variationslose Verwendung von den (blaue Symbole). Hier besteht also keine Kasusflexion; Nominativ und Obliquus sind zusammengefallen (die Quadrate stehen wiederum für dreiteilige Datensätze, die Rauten für zweiteilige). Die roten Quadrate und Rauten (drei- und zweiteilige Datensätze) schließlich stehen dafür, dass den bei Schnee erscheint und de bei Mann (und Hund). Dies ist der oben für Dorsten-Wulfen und Velen-Ramsdorf geschilderte Fall einer differentiellen Kasusmarkierung.9 Die Symbole bilden kein geschlossenes Gebiet, erscheinen aber vor allem in der Kontaktzone zwischen dem de-Gebiet im Osten (grüne Symbole) und dem den-Gebiet um Bocholt und Vreden (blaue Symbole) sowie südlich anschließend an der Grenze zum Niederrhein (rosafarbige Kreise). Unten in Abschnitt 5 wird ein Ansatz vorgestellt, der den Dialektkontakt zur Erklärung dieser differentiellen Kasusmarkierung heranzieht.
Karte 2: Variierende Verwendung von de und den als Definitartikel im Nom. Sg. Mask. (Daten aus den Wenker-Fragebogen). Legende: Siehe Text.
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Vorausgesetzt wird, dass im Obliquus stets den erscheint. Dies wird in den folgenden, auf aktuellen Daten basierenden Analysen nicht vorausgesetzt, sondern untersucht.
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Um ein differenzierteres Bild zu erhalten, wurden für einen kleineren Raum – ein etwa 60 mal 60 km großes Gebiet im westlichen Münsterland zwischen Bocholt im Westen, Münster im Osten, Steinfurt im Norden und Recklinghausen im Süden – aktuelle Sprachdaten direkt erhoben. Hierzu wurden in den Jahren 2017 bis 2019 elf Sprecherinnen und 18 Sprecher der Jahrgänge 1930 bis 1962 vor Ort befragt.10 Sie wurden darum gebeten, 40 schriftsprachliche Sätze in den örtlichen Dialekt zu übersetzen. Diese Übersetzungen wurden mitgeschnitten und anschließend transkribiert. Beispiele für diese Sätze sind „Ich habe mir den Arm gebrochen“, „Du sollst den Hund nicht schlagen!“ oder „Der kleine Topf steht auf dem Tisch“. In diesen Sätzen sind acht Maskulina, belebt und unbelebt, enthalten, die im Nominativ und im Obliquus abgefragt wurden.
Karte 3: Variierende Verwendung von de und den als Definitartikel im Nom. / Obl. Sg. Mask. (Daten aus direkter Erhebung 2017–2019). Legende: Siehe Text. Nummeriert sind nur die im Folgenden näher behandelten Orte, an denen die Belebtheit des Referenten eine Rolle bei der Verteilung von de und den zu spielen scheint (siehe unten Tabelle 4).
Zunächst wurde wiederum eine Karte gezeichnet, aus der auch das Untersuchungsgebiet und die untersuchten Orte zu ersehen sind (Karte 3).11 Sie zeigt die Verteilung der Zwei-Kasus-Dialekte, der kasusnivellierenden Dialekte und der Kandidaten für die differentielle Kasusmarkierung: Im Westen – im Wesentlichen handelt es sich um Orte des Kreises Borken – wird nur eine Form des maskulinen 10 Die meisten Sprecherinnen und Sprecher wurden in den 1930er (zehn) und 1940er (elf) Jahren geboren. 11 Die Datenerhebung wurde größtenteils von Elena Haase durchgeführt. Die Karte wurde von Sina Bößmann-Herrmann erstellt. Dafür sei ihnen herzlich gedankt.
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Definitartikels verwendet, und zwar den (hellblaue Quadrate). Im Süden des Untersuchungsgebietes gibt es den Fall, dass ausschließlich die Form de verwendet wird (Waltrop, dunkelblaues Quadrat). Im Osten werden de für den Nominativ und den für den Obliquus verwendet; vier der hier untersuchten Orte zeigen diese Verteilung (grüne Rauten). Die roten Kreise stehen dafür, dass sowohl de als auch den im Nominativ (sowie im Obliquus) Gebrauch finden. Würde man Karte 3 mit Karte 2 vergleichen, würde sich der Eindruck aufdrängen, dass in der untersuchten Region das Zwei-Kasus-System im Laufe des 20. Jahrhunderts zurückgegangen ist, und zwar sowohl zugunsten der vollständigen Kasusnivellierung als auch zugunsten eines variierenden Gebrauchs von de und den. Die beiden Karten fußen allerdings auf stark unterschiedlichen Sprachdaten, sodass ein diachroner Vergleich nicht unproblematisch wäre. Die aktuellen Sprachdaten sollen daher zunächst einmal zusammengenommen werden, um den diatopischen Bezug ein Stück weit auszublenden und stattdessen die Bedeutung der Belebtheit für die Deklination des Definitartikels herauszuarbeiten. Im Folgenden sind nur die Datensätze der Sprecher/innen berücksichtigt, die variierenden Gebrauch von de und den zeigen, dies sind sieben Sprecherinnen und acht Sprecher (aus den 15 Orten mit rotem Kreis auf Karte 3).
Diagramm 1: Anteile von de (gegenüber den) in %, differenziert nach Nominativ (oben, blau) und Obliquus (unten, gelb) sowie nach Lexemen.
Wie das Diagramm 1 zeigt, wird bei den Lexemen Pott ‘Topf’, Arm und Steen im Obliquus fast ausschließlich den verwendet, im Nominativ kommt die Artikelform de immerhin auf Werte zwischen 25 und 38 Prozent. Eine Kasusunterscheidung findet also nur im geringen Maße statt. Bei Daud (bzw. Dood) ‘Tod’ erscheint im Obliquus ebenfalls fast ausschließlich den, im Nominativ dagegen zu 69 % de. Bei den Lexemen Hahn, Mann (bzw. Kärl), Jung (bzw. Junge) und Rüe (bzw.
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Hund) ‘Hund’ sind sehr hohe Werte von de im Nominativ zu verzeichnen, bis zu 94 % bei Rüe / Hund. Die Werte für de im Obliquus sind deutlich niedriger, wenn auch höher als bei den vorgenannten Lexemen, sie reichen von 19 % bis 52 %. Die unterschiedliche Behandlung von maskulinen Substantiven mit dem Merkmal [+ belebt] einerseits und mit dem Merkmal [- belebt] andererseits wird hier sehr deutlich. Bei den Substantiven mit dem Merkmal [+ belebt] zeigt sich eine häufigere Differenzierung von Nominativ und Obliquus. Am geringsten fällt die Differenzierung bei Rüe (bzw. Hund) aus, allerdings wird eine Scheidung von maskulinen Substantiven anhand der Merkmale [+ menschlich] und [- menschlich] hier nicht nahegelegt, da bei Hahn wiederum eine Differenzierung zu beobachten ist, die ähnlich klar wie bei Mann und Jung ausfällt. Deutlich wird anhand dieser Zahlen allerdings auch, dass, wenn man alle Daten zusammennimmt, keine differentielle Kasusmarkierung in reiner Form zutage tritt, sondern dass sie nur ein stark beeinflussender Faktor der Variation darstellt. Vereinfachend lässt sich wie in Diagramm 2 zusammenfassen:
Diagramm 2: Anteile von de (gegenüber den) in %, differenziert nach Nominativ (oben, blau) und Obliquus (unten, gelb).
Bei den Maskulina mit dem Merkmal [- belebt] werden in den hier betrachteten Orten nur selten Nominativ und Obliquus unterschieden: Im Obliquus erscheint fast immer den, dazu im Nominativ in zwei Dritteln der Fälle. Bei den Maskulina mit dem Merkmal [+ belebt] werden Nominativ und Obliquus recht häufig unterschieden: Im Nominativ wird weit überwiegend de verwendet, im Obliquus dagegen in weniger als einem Drittel der Fälle. Das Lexem Daud (bzw. Dood) steht zwischen den belebten und den unbelebten Maskulina. Hierauf soll am Ende dieses Abschnitts noch eingegangen werden. Um zu untersuchen, ob und in wieweit die Wahl von de und den im Maskulinum von der Belebtheit der Substantive beeinflusst ist, werden nun die Daten nach den Sprecher/innen (aufgeführt sind hier deren Orte) getrennt (Tabelle 4).
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Differentielle Kasusmarkierung
Das zwischen den belebten und unbelebten Maskulina stehende Daud / Dood wird hier nicht berücksichtigt. Die Nummerierung findet sich auch in Karte 3 wieder; nicht aufgeführt sind hier die in der Karte eingezeichneten Orte mit Zwei-KasusDialekt oder kasusnivellierendem Dialekt.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Ort
Kreis
Reken Schöppingen Billerbeck Coesfeld-Lette Rosendahl-Darfeld Dülmen Havixbeck Nottuln Nottuln-Darup Olfen Senden Datteln Horstmar Horstmar-Leer Metelen
Borken Borken Coesfeld Coesfeld Coesfeld Coesfeld Coesfeld Coesfeld Coesfeld Coesfeld Coesfeld Recklinghausen Steinfurt Steinfurt Steinfurt
[- belebt] Nom. Obl. 0 0 0 0 0 0 33 0 33 0 0 0 0 0 33 17 100 0 100 0 33 0 67 0 33 0 67 0 0 0
[+ belebt] Nom. Obl. 25 25 75 13 100 38 75 25 100 38 100 63 100 38 100 75 100 13 50 38 100 22 75 0 100 13 100 63 75 0
Tab. 4: Anteile von de in % in fünfzehn der untersuchten Orte (jeweils eine Person)
Zur Analyse der Daten in Tabelle 4 werden idealtypische Verteilungen von de (und im Umkehrschluss den) auf die vier Felder zum Vergleich herangezogen. - bel. 0 0
+ bel. 0 0
Nominativ Obliquus
Tab. 5: Anteile von de in %: Typ A „vollständiger Kasussynkretismus (den)“
Die ausschließliche Verwendung von den, bei der keine Differenzierung der Kasus und der Belebtheit geschieht, ist, wie bereits öfter angeführt, im Westen des Untersuchungsgebietes verbreitet (Gescher, Heiden, Hochmoor, Lippramsdorf, Raesfeld, Ramsdorf, Velen und Vreden). Dazu kommt das „versprengte“ Altenberge-Hansell im Nordosten des Untersuchungsgebietes. Die entsprechenden Orte sind zwar in Karte 3, aber wie gesagt nicht in der obigen Tabelle 4 aufgeführt.
240
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- bel. 100 100
+ bel. 100 100
Nominativ Obliquus
Tab. 6: Anteile von de in %: Typ B „vollständiger Kasussynkretismus (de)“
Viel seltener ist die Generalisierung von de. Sie ist nur bei einem Sprecher aus Waltrop belegt (ebenfalls nicht in Tabelle 4). - bel. 100 0
+ bel. 100 0
Nominativ Obliquus
Tab. 7: Anteile von de in %: Typ C „Zwei-Kasus-System mit de für Nom. und den für Obl.“
Das Zwei-Kasus-System ohne Differenzierung der Substantive nach dem Merkmal der Belebtheit ist östlich des hier untersuchten Gebietes verbreitet, im größten Teil des Münsterlandes. Aber auch im Untersuchungsgebiet zeigen Altenberge, Borghorst, Lüdinghausen und Rorup diese Verteilung. Die in Tabelle 4 aufgeführten Orte Darup (9) und Datteln (12) neigen diesem Typ zu, denn es zeigen sich nur geringe Unterschiede im Hinblick auf die Belebtheit. Anders als bei einem klar durchgeführten Zwei-Kasus-System ist aber Variation im Gebrauch von de und den zu erkennen, der die beiden Orte (bzw. die Sprecher/innen) in die Nähe der hier behandelten Tendenzen rückt. - bel. 0 0
+ bel. 100 0
Nominativ Obliquus
Tab. 8: Anteile von de in %: Typ D „Differentielle Kasusmarkierung (belebtes Subjekt)“
Eine differentielle Kasusmarkierung „in Reinform“, bei der Nominativ und Obliquus durchgängig nur bei den belebten Nomina differenziert wird, ist in den untersuchten Daten nicht auszumachen. Es gibt zusätzlich immer noch Variation, die eine solche Verteilung von de und den verwischt. Dennoch ist es so, dass etliche Orte relativ klar (wenn auch in leicht unterschiedlichem Maße) diesem Typ zugeordnet werden können, namentlich Billerbeck (3), Coesfeld-Lette (4), Darfeld (5), Havixbeck (7), Horstmar (13), Metelen (15), Schöppingen (2) und Senden (11). Dies ist damit der häufigste Typ in den untersuchten Daten. Orte, die diesem Typ zuzuordnen sind, liegen vor allem im Norden des Untersuchungsgebietes zwischen Metelen und Senden.12
12 Unten werden aus einer anderen Erhebung stammende Daten aus den noch weiter nördlich liegenden Orten Neuenkirchen, Ochtrup und Wettringen behandelt (Tabelle 11).
Differentielle Kasusmarkierung
- bel. 100 0
+ bel. 100 100
241
Nominativ Obliquus
Tab. 9: Anteile von de in %: Typ E „Differentielle Kasusmarkierung (unbelebtes Objekt)“
Nicht unbedingt zu erwarten ist, dass sich eine differentielle Kasusmarkierung so darstellt, dass bei unbelebten Maskulina Nominativ und Obliquus unterschieden werden, nicht dagegen bei belebten. Eine solche Verteilung steht im Widerspruch zu den oben in Abschnitt 2 aufgeführten funktionalen Hintergründen der differentiellen Kasusmarkierung. Die Verteilung von de und den, wie sie in HorstmarLeer (14) und in Olfen (10) zu sehen ist, geht allerdings merklich in diese Richtung. - bel. 0 0
+ bel. 100 100
Nominativ Obliquus
Tab. 10: Anteile von de in %: Typ F „Kasussynkretismus und Belebtheitsdifferenzierung“
Der letzte hier relevante Typ zeigt keine Unterscheidung der Kasus, wohl aber belebter und unbelebter Maskulina, sprich vollständigen Kasussynkretismus bei Differenzierung nach Belebtheit. Die Artikelform de wird generalisiert als alleinige Artikelform bei belebten Maskulina, den bei unbelebten. Einige der hier untersuchten Orte zeigen eine merkliche Neigung zu diesem Typ: Dülmen (6), Nottuln (8) und Reken (1). Diese drei Orte bilden einen kleinen Streifen südöstlich von Coesfeld. Die Generalisierungen von de und den bei den belebten respektive unbelebten Maskulina sind auch in Diagramm 2 oben als deutliche Tendenz eingeschrieben, vor allem in dem auffällig hohen Wert für de im Obliquus der belebten Maskulina (29 %). Auch DAL NEGRO (2004) findet im walserdeutschen Dialekt von Issime (westobd.) den Abbau der Nominativ-Akkusativ-Opposition und eine semantisch bedingte Verteilung von dar und da ~ dan: dar attu (der Vater) vs. dan anghe (der Butter). Zu dem Lexem Daud / Dood ‘Tod’, das wie gezeigt zwischen den belebten und unbelebten Maskulina steht, lässt sich auch noch etwas sagen. Schon häufiger wurde darauf hingewiesen, dass bei der Belebtheitshierarchie bisweilen ein “metaphorical or metonymical understanding of inanimates as animates” (KRIFKA 2009: 143) zugrunde liegt. Dies trifft auf das Lexem Daud / Dood zu. In den westfälischen Dialekten zeigt sich zudem die Personifizierung von Daud in Phraseologismen wie Diäm sittet de Däod im Nacken ‘er ist sterbenskrank’ (WWb, 2: 151). Die Frage, welche Lexeme dies im Einzelnen betrifft, müsste im Rahmen einer eigenen Untersuchung beantwortet werden. Hier kann immerhin ein weiteres Lexem angeführt werden, und zwar Wind. Im Rahmen einer älteren Datenerhebung wurde ebenfalls der Definitartikel im Nom. Sg. Mask. in einer Reihe von Fällen erhoben. Die Daten stammen aus den drei Orten Ochtrup, Neuenkirchen und
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Wettringen, die im nordwestlichen Münsterland liegen. Zugrunde liegen Befragungen von insgesamt 28 Sprecherinnen und Sprecher aus dem Jahr 1999. Ochtrup
Neuenkirchen
Wettringen
Anteil de Gesamt
Köster
12 : 0
8:0
6:1
96 %
Wind
10 : 2
6:1
8:0
89 %
Himmel
9:3
3:4
3:4
58 %
Schlüedel 7 : 3
3:3
0:4
50 %
Pott
4:6
4:4
2:6
38 %
Anteil de
75 %
66 %
58 %
66 %
Tab. 11: Verteilung de : den bei Maskulina im Nom. Sg. in drei münsterländischen Orten
Auch in Ochtrup, Neuenkirchen und Wettringen zeigt sich – in unterschiedlichem Maße – die Tendenz, dass unbelebte Maskulina im Nominativ mit der Artikelform den kombiniert werden, so etwa Pott oder Schlüedel. Beim Lexem Wind ist der Anteil von den allerdings fast so gering wie beim belebten Maskulinum Köster. Auch Wind kommt also nahe an die Gruppe der belebten Substantive, da der Wind als natural agent (CRUSE 1973: 21) aus „eigenem Antrieb“ Handlungen auszuführen scheint. Dies spiegelt sich im Untersuchungsgebiet ebenfalls in Dialektphraseologismen, wie etwa De Wind, de nimp dat Waater wegg ‘der Wind trocknet gut’ (PIIRAINEN / ELLING 1992: 1051).13 Die hier berücksichtigten Lexeme lassen sich demnach wie folgt im Hinblick auf ihre Belebtheit differenzieren: Köster, Mührmann, Sönne, Mann, Hahn, Junge, Rüe
Daud, Wind
+ bel.
Pott, Nagel, Balken, Hoff, Troch, Steen - bel.
5 DIALEKTGEOGRAPHIE Wie kam es nun dazu, dass in den Dialekten des westlichen Münsterlandes teilweise eine differentielle Kasusmarkierung entwickelt wurde? In diesem Abschnitt soll hierfür eine kontaktdialektologische Erklärung vorgeschlagen werden. Bereits in der klassischen Dialektgeographie wurden bestimmte Formen unter Zuhilfe13 Das Lexem Himmel steht hier näher bei Schlüedel und Pott, ist aber oben in Abschnitt 2 bereits als abweichend aufgefallen und referiert daher tendenziell vermutlich auch auf eine als belebt eingestufte Größe.
Differentielle Kasusmarkierung
243
nahme von Sprachkarten als Ergebnisse des Dialektkontakts erklärt. In Kontaktzonen können bestimmte sprachliche Neuerungen entstehen. Diese werden als Kreuzungen, Kontaminationen, Kompromissformen, Schwellenformen oder interdialect forms bezeichnet (vgl. z. B. FRINGS / VAN GINNEKEN 1919; WREDE 1919; 1924; MAURER 1928; TRUDGILL 1986). Ein Beispiel ist die Pronominalform önk ʻeuch’ im Bergischen Land, die in einem Streifen zwischen ink im märkischen Raum nordöstlich davon und öch im Rheinland südwestlich davon entstanden ist (vgl. Wrede 1919: 12). Eine solche Form enthält Merkmale beider Kontaktformen, ist also summierend und zeugt damit von imperfect accomodation (TRUDGILL 1986: 62–65). Sie entsteht durch räumlichen Ausgleich und ist somit „aufs engste gebunden an sprachgeographische Voraussetzungen“ (BACH 1934: 68). Vorbedingung einer solchen Schwellenform ist „Doppelformigkeit“ bzw. „Zweisprachigkeit“ (MAURER 1936/1972: 32) in der Kontaktzone. Zu ihrer korrekten Deutung bedarf es Informationen über ihre Lagerung im Raum bzw. einer Sprachkarte.
Karte 4: Schwellenform önk im Bergischen Land (MAURER 1936/1972: 32)
Die hier Typ D genannte differentielle Kasusmarkierung lässt sich als Ausgleichssystem zwischen einer vollständigen Generalisierung der Artikelform den und damit vollständigem Kasus-Synkretismus auf der einen Seite und einem ZweiKasus-System mit de und den auf der anderen Seite interpretieren. Von beiden Systemen werden Elemente realisiert; es kommt zu einer Differenzierung nach der Belebtheit, die in keiner der beiden benachbarten Regionen zu finden ist.14
14 Es sei daran erinnert, dass die Typen D, E und F nicht in Reinform belegt sind.
244
Nominativ Obliquus
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+/- belebt den den Westen: Vollständiger Synkretismus (Typ A)
- belebt + belebt den de den den Kontaktzone: Differentielle Kasusmarkierung (Typ D)
+/- belebt de den Osten: 2-KasusSystem (Typ C)
Bei den oben charakterisierten Typen B und F kommt es zu anders gelagerten Ausprägungen der Variation von de und den, die wiederum auf das Spannungsfeld zwischen der Aufgabe der Kasusdifferenzierung beim Typ A und der starken Präsenz von de beim Typ C zurückzuführen sind. Der auffällige Typ E vereint ebenfalls Merkmale der benachbarten Variationstypen: die Unterscheidung von [+ belebt] und [- belebt] (Typ D, Typ F), die Verallgemeinerung von de bei den belebten Maskulina (Typ F, Typ B) und die Kasusdifferenzierung bei unbelebten Maskulina (Typ C) – heraus kommt ein System, das entgegen den semantischen Prinzipien der differentiellen Kasusmarkierung den Kasus differentiell markiert. Insgesamt zeigt sich die große Variation, die in der untersuchten Kontaktzone entstanden ist. Dazu führen semantische Merkmale, namentlich die Belebtheit, zu gänzlich neuen Strukturen bei der Kasusmarkierung. Deutlich ist die geographische Motivierung der sprachlichen Neuerungen, andererseits mögen einige der hier besprochenen Muster auch individuelle Systematisierungen der Variation von de und den darstellen. VAN LOON (1989) deutet eine differentielle Kasusmarkierung, die in den südniederländischen Dialekten im 16. Jahrhundert bestand, als erste Phase des Akkusativismus, sprich der Übernahme von den im Nominativ bei den Maskulina. Die Neuerung wurde demnach schrittweise übernommen: Im ersten Schritt wurde die Kasusdifferenzierung nur in den Fällen aufgegeben, in denen sie von geringer Bedeutung ist, bei den unbelebten Maskulina. Im zweiten Schritt wurde sie dann auch bei den belebten Maskulina aufgegeben. Dieser Wandel ist als lexikalisch graduelle Diffusion einer sprachlichen Neuerung aufzufassen, indem zunächst nur bei einem Teil der Maskulina der begleitende Artikel eine neue Form annimmt. Könnte auch die differentielle Kasusmarkierung im westlichen Münsterland auf diese Weise interpretiert werden? Oben in Abschnitt 4 wurde angedeutet, dass das Zwei-Kasus-System im Münsterländischen möglicherweise zugunsten einer differentiellen Kasusmarkierung sowie einem kasusnivellierenden den-System zurückgegangen ist. Ob hier auch kasusnivellierende Dialekte aus solchen mit differentieller Kasusmarkierung entstanden sind, müsste noch untersucht werden. Dass die differentielle Kasusmarkierung auch im westlichen Münsterland die erste Phase der Ausbreitung der Kasusnivellierung darstellt, kann an dieser Stelle nicht ausgeschlossen werden. Deutlich geworden ist allerdings die große Breite der kontaktinduzierten Variation. Viele verschiedene Verteilungen von de und den sind im Spannungsfeld von Kasusnivellierung und Kasusdifferenzierung entstanden. Die weitere Entwicklung scheint hier nicht unbedingt vorbestimmt zu sein.
Differentielle Kasusmarkierung
245
Ob es noch eine weitere Entwicklung geben wird und zukünftig überhaupt die Möglichkeit bestehen wird, weitere Daten zu der hier bearbeiteten Thematik zu erheben, ist angesichts des weit fortgeschrittenen Dialektschwunds überdies fraglich. 6 SCHLUSS Es ist deutlich geworden, dass im westlichen Münsterland nicht nur das weit verbreitete Zwei-Kasus-System anzutreffen ist sowie an der Staatsgrenze zu den Niederlanden die vollständige Kasusnivellierung, sondern auch eine differentielle Kasusmarkierung. Damit stellt sich die Belebtheit als ein die Kasusmarkierung steuerndes semantisches Merkmal dar. In der vorliegenden Untersuchung wurde nicht die formale Variation morphologischer Einheiten aufgezeigt, sondern Varianz in der morphologischen Kodierung (vgl. hierzu RABANUS 2010: 806–808): Die Kategorie „Kasus“ gibt es nur in bestimmten Gebieten. In verschiedenen Gebieten werden unterschiedlich viele Kasus differenziert. Die Kasusdistinktionen sind teilweise durch die Belebtheitshierarchie konditioniert. Die dialektmorphologische Forschung kann hierbei nicht nur die areale Lagerung morphologischer Merkmale sowie die Koinzidenz mit anderen sprachräumlichen Strukturen beschreiben, sondern in der Geographie fußende Erklärungen für sprachliche Strukturen entwickeln. Damit können anders herum basale grammatische Merkmale auch verstärkt in die Diskussion dialektaler Raumstrukturen eingebracht werden. LITERATURVERZEICHNIS AISSEN, JUDITH (2003): Differential object marking: iconicity vs. economy. In: Natural Language and Linguistic Theory 21, 435–483. ALBER, BIRGIT / STEFAN RABANUS (2011): Kasussynkretismus und Belebtheit in germanischen Pronominalparadigmen. In: GLASER, ELVIRA / JÜRGEN ERICH SCHMIDT / NATASCHA FREY (Hg.): Dynamik des Dialekts – Wandel und Variation. Akten des 3. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD). Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 144), 23–46. BACH, ADOLF (1934): Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben. Eine Einführung. Mit 25 Karten im Text. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag (Germanische Bibliothek. Erste Abt.: Sammlung Germanischer Elementar- und Handbücher. I. Reihe: Grammatiken. 18). BECKMANN, WERNER (2002): Suppletion im Niederdeutschen. Köln/Wien: Böhlau (Niederdeutsche Studien. 47). BOSSONG, GEORG (1985): Empirische Universalienforschung. Differentielle Objektmarkierung in den neuiranischen Sprachen. Tübingen: Narr (Ars Linguistica. 14). CROFT, WILLIAM (2003): Typology and Universals. Second Edition. Cambridge: CUP. CRUSE, D. A. (1973): Some thoughts on agentivity. In: Journal of Linguistics 9, 11–23. DAL NEGRO, SILVIA (2004): Artikelmorphologie. Walserdeutsch im Vergleich zu anderen alemannischen Dialekten. In: GLASER, ELVIRA / PETER OTT / RUDOLF SCHWARZENBACH (Hg.): Alemannisch im Sprachvergleich. Beiträge zur 14. Arbeitstagung für alemannische Dialektologie
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Markus Denkler
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Differentielle Kasusmarkierung
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GENUS- UND KASUSPROFILIERUNG BEIM SCHWEIZERDEUTSCHEN DEFINITARTIKEL Anja Hasse / Patrick Mächler / Sandro Bachmann 1 EINLEITUNG Die Formen des bestimmten Artikels lauten in schweizerdeutschen Dialekten unterschiedlich, doch lassen sich dialektübergreifend strukturelle Gemeinsamkeiten der Paradigmen beschreiben, die auch aus der hochdeutschen Standardsprache bekannt sind. Erstens sind im PL Genusunterschiede ausgeglichen. Zweitens finden wir im NOM/AKK.SG durchgehend ein Drei-Genus-System. Drittens fallen im DAT.SG MASK und NEUTR in allen Dialekten zusammen und stehen dem FEM gegenüber.1 Unterschiede zwischen den Dialekten finden sich jedoch in der phonologischen Struktur der einzelnen Artikelformen. Im DAT.MASK/NEUTR.SG, vgl. (1) und (2), und im DAT.FEM.SG, vgl. (3) und (4), lassen sich plosivhaltige von plosivlosen Formen unterscheiden, wobei die plosivhaltigen Formen im FEM verschiedene Auslaute aufweisen können, vgl. (3a.) und (3b).2 (1) dem Maa ‘dem Mann’3 (2) em ~ am Maa4 (3) a. de Frau ‘der Frau’ b. dr Frau (4) er ~ ar Frau5 Die areale Verteilung der verschiedenen Formen im DAT.MASK/NEUTR.SG und decken sich nicht, was dazu führt, dass wir Dialekte mit verschiedenen Kombinationen von Formen des Typs (1) und (2) mit jenen des Typs (3) und
DAT.FEM.SG
1 2 3 4 5
Dass sich DAT.MASK.SG und DAT.NEUTR.SG gleich verhalten, lässt sich auch für den unbestimmten Artikel im Zürichdeutschen empirisch nachweisen (vgl. HASSE 2018; 2019). Dazu variiert die Vokalqualität, worauf im Folgenden aber nicht weiter eingegangen wird, da im Fall des „Syntaktischen Atlas der Deutschen Schweiz“ (vgl. GLASER i. V.) schriftliche Daten ausgewertet werden. Neuere Daten zeigen, dass solche Formen v. a. in höchstalemannischen Dialekten auftreten, vgl. Abschnitt 2.2.1. MEINHERZ (1920: 182) kennt für den Dialekt der Bündner Herrschaft solche Formen allerdings mit einer syntaktischen Einschränkung. „Der Dat. Sg. m. n. dəm verliert hinter Präp. den anl. Dental: amm an dem […]“. MEINHERZ (1920: 182) nennt dentallose Formen für den gesamten DAT.SG in postpräpositionaler Stellung. Im DAT.FEM.SG jedoch „nur bei Verschmelzung mit ‚zu‘“.
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Anja Hasse / Patrick Mächler / Sandro Bachmann
(4) finden. In einigen Dialekten unterscheiden sich die Formen im DAT.MASK/ von jenen im DAT.FEM.SG in ihrem Anlaut. So gibt es Dialekte, in denen nur die Formen im DAT.MASK/NEUTR.SG, nicht aber jene im DAT.FEM.SG vokalisch anlauten können (Formen des Typs 2 und 3). In anderen Dialekten ist der Stamm in allen Genera des DAT.SG identisch, wobei Regionen mit plosivischem Anlaut (Formen des Typs 1 und 3) von solchen mit vokalischem Anlaut (Formen des Typs 2 und 4) zu unterscheiden sind. Diese verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten stellen unterschiedliche Stadien einer diachronen Entwicklung dar. Die daraus resultierenden Artikelsysteme können durch sogenannte Genus- und Kasusprofilierung charakterisiert sein. Im folgenden Kapitel werden zuerst Profilierungsphänomene aus der deutschen Sprachgeschichte besprochen. Im Anschluss wird die diatopische Verteilung der verschiedenen Artikelformen im DAT.SG beleuchtet und es werden die daraus hervorgehenden Artikelsysteme in einem kanonischen Ansatz kategorisiert. Abschnitt 3 bespricht die Genese der jüngeren plosivlosen Artikelformen des Schweizerdeutschen. Der vierte Abschnitt fasst die auf Basis der präsentierten empirischen Daten, deren diachronen Herleitung und der theoretischen Verortung gewonnenen Erkenntnisse zusammen.
NEUTR.SG
2 PROFILIERUNGSTENDENZEN IM DEUTSCHEN 2.1 Bisherige Untersuchungen zu Profilierungsphänomenen im Deutschen Der Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen ist durch einen Umbau der Nominalflexion charakterisiert, an dessen Ende Genus und Flexionsklasse stärker miteinander korrespondieren. Das Genus von Substantiven ist demnach aufgrund der Flexionsformen vorhersagbar und gleichzeitig steuert Genus die Vergabe von flexivischen Exponenten. Unterschiede auf der Formseite korrelieren mit unterschiedlichem Genus. Diese Entwicklung, bei der die Markierung von Genus gestärkt wird, nennt WEGERA (1987: 269) Genusprofilierung. Profilierungsprozesse finden sich aber auch für andere flexivische Kategorien. Für das Deutsche beschrieben sind Prozesse der Numerusprofilierung (vgl. HOTZENKÖCHERLE 1962: 329; WEGERA / SOLMS 2000: 1544–1545). Einen Überblick über Profilierungsstrategien, die in der Geschichte des Deutschen zum Umbau des Flexionssystems führen, bieten DAMMEL / GILLMANN (2014). Im Hinblick auf das nominale Flexionssystem stellen sie fest, dass im Frühneuhochdeutschen ein Wandel von einem System Neutrum vs. Nichtneutrum zu Femininum vs. Nichtfemininum stattfindet, wodurch in der Folge NEUTR und MASK häufiger die gleichen Flexionsklassen besetzen als eines dieser Genera zusammen mit dem FEM (vgl. DAMMEL / GILLMANN 2014: 206–208). Der Fokus bei bisherigen Untersuchungen liegt auf der Substantivflexion. Beschrieben werden Umbau und Wandel im Flexionsklassensystem; Pronomina und Artikel werden in diesem Zusammenhang nicht in gleicher Weise berücksichtigt. Der bestimmte Artikel wird lediglich hinsichtlich seiner Funktion in der Nominal-
Genus- und Kasusprofilierung beim Schweizerdeutschen Definitartikel
251
phrase beleuchtet: Im MASK und NEUTR kann es zu einer Schwächung der Numerusdistinktion bei den Null-Pluralen kommen, weil hier die Markierung von Numerus allein durch den Artikel gewährleistet ist (vgl. DAMMEL / GILLMANN 2014: 206). Im FEM hingegen führt der Numerussynkretismus beim bestimmten Artikel dazu, dass PL am Substantiv markiert werden muss (vgl. DAMMEL / GILLMANN 2014: 208). 2.2 Profilierungstendenzen im Schweizerdeutschen Im Schweizerdeutschen lassen sich Profilierungstendenzen direkt beim bestimmten Artikel nachweisen und in der jüngeren Sprachgeschichte nachverfolgen. Im Pronominalsystem des Deutschen flektieren Formen nach Genus, Kasus und Numerus.6 Unterschiede in den morphosyntaktischen Werten werden durch Suffigierung ausgedrückt. Im Folgenden wird gezeigt, dass sich in einigen schweizerdeutschen Dialekten der Stamm des bestimmten Artikels im DAT.SG genusabhängig wandelt. In diesen Dialekten lauten die Formen des bestimmten Artikels auf einen Plosiv an – mit der Ausnahme des DAT.MASK/NEUTR.SG, der vokalisch anlautet.7 Der DAT.MASK/NEUTR.SG unterscheidet sich dadurch nun im Stamm von allen übrigen Zellen und somit nicht mehr nur durch das Suffix vom DAT.FEM.SG. Diese erhöhte strukturelle Differenz zwischen verschiedenen Genera bezeichnen wir im Folgenden als Genusprofilierung. In anderen Dialekten gibt es diese zusätzliche Markierung von Genus im DAT.SG nicht. Die Formen lauten entweder alle dental an, wie dies aus der Sprachgeschichte des Deutschen zu erwarten ist, oder sie haben infolge lautlicher Reduktionen und intraparadigmatischer Analogie im DAT.SG aller Genera keinen wortinitialen Plosiv mehr. Hier stehen demnach dentallose Formen im DAT.SG dentalhaltigen im restlichen Paradigma gegenüber. Hierbei handelt es sich um einen Fall von Kasusprofilierung. Der phonologische Wandel des Verlusts des wortinitialen Plosivs kann folglich verschiedene Profilierungsprozesse auslösen. Daten für die Beschreibung des bestimmten Artikels im DAT.SG liegen sowohl im „Sprachatlas der Deutschen Schweiz“ (SDS) (HOTZENKÖCHERLE et al. 1962– 1997) als auch dem „Syntaktischen Atlas der Deutschen Schweiz“ (SADS) (GLASER i. V.) vor. Allerdings sind die Datensätze für den DAT.MASK/NEUTR.SG und den DAT.FEM.SG heterogen. Der DAT.MASK.SG ist zwar im SDS kartiert, im SADS wurde er jedoch nicht abgefragt. Dort finden sich für den DAT.MASK.SG nur Belege aus dem Zusatzmaterial. Für den DAT.FEM.SG werden im SDS nur dentalhaltige 6
7
Davon ausgenommen sind Artikel und Pronomina, die nur im SG oder PL auftreten, wie der unbestimmte Artikel in einer Vielzahl von Dialekten und im Standard oder Zahlpronomina wie ‘zwei’, die in einigen Dialekten zwar noch nach Genus und Kasus flektieren können, aufgrund ihrer inhärenten pluralischen Bedeutung aber nicht nach Numerus. Daneben gibt es Dialekte, in denen plosivlose Formen zudem im NOM/AKK.NEUTR.SG erscheinen (s Chind ‘das Kind’), vgl. Tabelle 5 in Abschnitt 2.3.
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Formen berücksichtigt, nämlich de und dr (vgl. SDS III 135). Daher muss er anhand des SADS beschrieben werden. Im Folgenden werden erst die Verhältnisse der Genera einzeln und dann deren Verhältnisse zueinander besprochen. Für den DAT.NEUTR.SG gibt es keine Daten, allerdings ist dieser, wie oben bereits erwähnt, mit dem DAT.MASK.SG synkretisch. 2.2.1 Formen im Dativ maskulin Singular Für den DAT.MASK.SG ist im SDS (III 140) der Definitartikel in der Phrase ‘dem Vater’ kartiert. Als Typen lassen sich plosivhaltige (dəm, dam, dum) von plosivlosen (əm, im, am, um) Formen unterscheiden. Das Areal, in dem die dentalhaltigen Formen auftreten, ist kleiner als jenes der dentallosen Formen (vgl. Karte 1). Es beschränkt sich auf das Wallis, das daran angrenzende Berner Oberland, den Kanton Graubünden und ist als Variante im Kanton Zürich belegt. Damit treten dentalhaltige Formen v. a. in höchstalemannischen Varietäten auf.8 Ansonsten gelten als einzige Variante dentallose Formen. Dieses Bild wird in den jüngeren Daten des SADS bestätigt, wo sich im Zusatzmaterial Übersetzungen der Phrasen ‘dem Lehrer’, ‘dem Fritz’ und ‘dem Peter’ finden. Auch hier finden sich dentalhaltige Formen im DAT.MASK.SG in den Kantonen Wallis, Bern, Graubünden und Zürich, vgl. Karte 2 und für das Zürichdeutsche zudem (5).9 Die Belege aus dem Kanton Zürich sind gesondert zu betrachten, da es sich weder um eine höchstalemannische Varietät handelt, noch Kontakt zu einer solchen besteht. Damit stellt dieser Raum im Gesamtbild eine sprachgeographische Insel dar. Allerdings stammen solche Formen durchwegs von älteren Sprechern des Zürichdeutschen, die zwischen 1921 und 1938 geboren sind. (5)
a. Nei, das isch dem Peter. ‘Nein, das gehört Peter.’ (Egg, *1938) b. dem Leerer sin Hund ‘der Hund des Lehrers’ (Küsnacht, *1931) c. Ich has dem Fritz ggää. ‘Ich habe es Fritz gegeben.’ (Bassersdorf, *1931)
Durch die Beseitigung der dentalhaltigen Formen im Sprachgebrauch jüngerer Sprecher gleicht sich das Zürichdeutsche allmählich an die umliegenden Dialekte an. Ältere Sprecher zeigen noch den gleichen Stamm in allen Zellen des Paradigmas, denn alle Formen lauten konsonantisch an. Bei jüngeren weicht der DAT des MASK/NEUTR.SG insofern vom restlichen Paradigma ab, als dass er vokalisch anlautet (em Peter, em Leerer, em Fritz). 8
9
Dies bestätigt die Darstellung in BOHNENBERGER (1913: 221) für das Walliserdeutsche. HOTZENKÖCHERLE (1934) nennt die plosivisch und vokalisch anlautenden Formen jedoch als Varianten für den höchstalemannischen Dialekt von Mutten (GR). MEINHERZ (1920: 181) hingegen führt für den hochalemannischen Dialekt der Bündner Herrschaft nur plosivisch anlautende Formen auf. Das Nebeneinander der Formen dəm und əm im Zürichdeutschen findet sich auch bei WEBER (1923: 172–173).
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Karte 1: SDS III 140 ‘dem Vater’
Karte 2: Plosivisch anlautende Formen in den Phrasen ‘dem Fritz’, ‘dem Peter’, ‘dem Lehrer’
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2.2.2 Formen im Dativ feminin Singular Für die Formen im DAT.FEM.SG fehlen im SDS Daten, es gibt einzig eine Karte zur Verteilung vokalisch (də) und konsonantisch auslautender Formen (dr) (vgl. SDS III 135).10 Diese Karte kann mit Daten aus dem SADS zur Artikelform in postpräpositionaler Stellung verglichen werden. In einer Ankreuzfrage konnte für die Phrase ‘an der Türe’ zwischen plosivhaltigen und plosivlosen Formen ausgewählt werden. Zu ersteren gehörten die Varianten a dr Türe und a de Türe, vgl. Karte 3. Die Variante a dr ist in der ganzen Deutschschweiz belegt. Während meist beide dentalhaltigen Formen, a de und a dr, nebeneinander bestehen, gibt es einige Gegenden, in denen a dr als Variante vorherrscht oder gar die einzige dentalhaltige Form darstellt. Dies ist der Fall im Wallis, in Teilen Berns und Graubündens. Als weitere Varianten standen im SADS die plosivlosen Formen ar Türe und aner Türe zur Auswahl, die in diesen Regionen als Variante zu den plosivhaltigen auftreten (a dr ~ a de), vgl. Karte 4 – im Wallis als aner, in den anderen Gebieten in der kontrahierten Variante ar.11
Karte 3: Plosivhaltige Formen des DAT.FEM.SG in enklitischer Position
10 Zwar erinnert diese Unterscheidung an jene in Abschnitt 1, vgl. (3a) und (3b). Allerdings fehlen die vokalisch anlautenden Formen, vgl. (4), hier völlig. 11 Abgesehen von MEINHERZ (1920: 182), vgl. Fußnote 5, fehlen in den anderen BSG-Grammatiken zu Bündner und Walliser Dialekten dentallose Formen im DAT.FEM.SG, obwohl sie in den SADS-Daten dort erscheinen (vgl. WIPF 1910; BOHNENBERGER 1913; BRUN 1918; HOTZENKÖCHERLE 1934).
Genus- und Kasusprofilierung beim Schweizerdeutschen Definitartikel
Karte 4: Plosivlose Formen im DAT.FEM.SG in enklitischer Position
Karte 5: Plosivlose Formen im DAT.FEM.SG in freier Position
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Hier handelt es sich nun um enklitische Formen, die an eine vokalische Präposition a ‘an’ anschließen. Aus diesem Grund stellen diese Formen keine direkte Entsprechung zu den unter 2.2.1 besprochenen freien Formen des DAT.MASK.SG dar. Weiteres Zusatzmaterial aus dem SADS zeigt, dass dentallose Formen im DAT.FEM.SG auch in nicht-enklitischer Position existieren, allerdings mit einer anderen sprachgeographischen Verteilung als in enklitischer Position. Bei der Ankreuzfrage zu Übersetzungen des Satzes ‘das gehört Sandra’ standen Das isch ds Sandras, dr Sandra und er Sandra zur Auswahl. Die dentallosen Formen (er)12 fehlen nun im Wallis und in Graubünden weitgehend, erstrecken sich aber über den gesamten Kanton Bern und Teile Solothurns, vgl. Karte 5.13 Damit finden wir im DAT.FEM.SG areale Unterschiede im Auftreten dentalloser Formen in klitischer und in freier Position.14 Deutlich ist zudem der Unterschied zwischen den Genera. Während im DAT.MASK.SG plosivlose Formen überwiegen (Typ em), sind dies im DAT.FEM.SG plosivhaltige (Typ de ~ dr). Die Besetzung der Zellen sowie die Verhältnisse zwischen den Zellen eines Flexionsparadigmas werden im folgenden Unterkapitel in einem kanonischen Ansatz beschrieben. 2.3 Profilierungsphänomene in einem kanonischen Ansatz In der kanonischen Typologie wird ein abstrakter Vergleichspunkt, der kanonische Fall, festgesetzt und davon ausgehend anhand einer Reihe von Parametern ein theoretischer Raum geschaffen, in dem die in den Sprachen der Welt empirisch beschriebenen Fälle eines sprachlichen Phänomens angeordnet werden können. Der kanonische Fall ist dabei weder der auffälligste noch der frequenteste (vgl. BROWN / CHUMAKINA 2013: 13). In der Flexionsmorphologie kann so ein kanonisches Flexionssystem angesetzt werden, das sich anhand von vier Kriterien charakterisieren lässt, vgl. Tabelle 1.
12 Der dentallose Artikel im DAT.FEM.SG wird als er angegeben, ungeachtet der verschiedenen dialektalen Realisierungen, um ihn von der Artikelform in postpräpositionaler Enklise, ar ‘an der’, zu unterscheiden. 13 Das Fehlen derartiger Formen des DAT.FEM.SG in den Kantonen Wallis und Graubünden kann in diesem Fall auch dadurch bedingt sein, dass die Gewährspersonen diesen Satz mit einem possessiven GEN übersetzten. 14 Für eine entsprechende Untersuchung im DAT.MASK/NEUTR.SG fehlen derzeit noch entsprechende Daten.
Genus- und Kasusprofilierung beim Schweizerdeutschen Definitartikel
Composition/structure Lexical material (≈ shape of stem) Inflectional material (≈ shape of inflection) Outcome (≈ shape of inflected word)
Comparison across cells of a lexeme same same
Comparison across lexemes same different
different
same
different
different
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Tab. 1: Kanonisches Flexionssystem (vgl. CORBETT 2007: 9)
Ein kanonisches Flexionssystem zeichnet sich dadurch aus, dass die flexivische Struktur aller Lexeme gleichbleibt. Der Stamm ist innerhalb des Paradigmas eines Lexems identisch, unterscheidet sich aber von jenem anderer Lexeme. Die flexivischen Exponenten sind über Paradigmen hinweg konstant, nicht jedoch in den Zellen eines einzelnen Lexems und schließlich sind alle Flexionsformen innerhalb eines Paradigmas und zwischen Paradigmen verschieden. Insgesamt sind die Formen in einem kanonischen Flexionssystem maximal distinkt und dabei maximal vorhersagbar. Verletzungen des kanonischen Flexionssystems, sog. nichtkanonische Phänomene, wie Synkretismen, Suppletion und Deponentien, sind in vielen Sprachen bezeugt (vgl. CORBETT 2005: 34). Im Folgenden beschreiben wir Abweichungen vom kanonischen System, die die zweite Zeile des Kriterienkatalogs in Tabelle 1 betreffen. Ein Definitartikelparadigma, das sich hinsichtlich des Parameters Stammkonstanz kanonisch verhält, finden wir im Wallis und in Graubünden, da hier in allen Genera plosivhaltige Formen der Typen DAT.MASK/NEUTR.SG dem, DAT.FEM.SG de, dr erscheinen. Zudem lautet hier auch der gesamte NOM/AKK.SG sowie der gesamte PL konsonantisch an. Im DAT.FEM.SG gibt es zwar dentallose Formen als Varianten, allerdings treten diese nur enklitisch in post-präpositionaler Stellung auf (z. B. ar Türe ‘an der Türe’). Um beurteilen zu können, ob sich hier eine Form von Genusprofilierung findet, die syntaktisch bedingt ist, bei der sich dentallose Formen nur enklitisch und nur im DAT.FEM.SG finden, müssten Daten zu den enklitischen Formen im DAT.MASK/NEUTR.SG erhoben werden. Weiter zählt hierzu auch das System bei älteren Sprechern des Zürichdeutschen, die dentalhaltige Formen (dem Maa) im SADS nennen, vgl. Abschnitt 2.2.1. Das System jüngerer Zürichdeutschsprecher wird hingegen durch das Phänomen der Genusprofilierung charakterisiert, auf das weiter unten eingegangen wird. In anderen Dialekten beobachten wir in der Flexion des bestimmten Artikels zwei Abweichungen vom kanonischen System bezüglich der Stammkonstanz, die wir im Folgenden einerseits als Kasusprofilierung, andererseits als Genusprofilierung beschreiben. Im Falle der Kasusprofilierung schwindet der Dental im gesamten DAT.SG (MASK/NEUTR em, FEM er), wie in großen Teilen Berns und Teilen Solothurns. Im
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NOM/AKK.SG
sind der Dental oder zumindest Reflexe davon bewahrt (dr Maa, d Frau [pfrou̯] ‘die Frau’, ds Huus ‘das Haus’), vgl. zur Diachronie Abschnitt 3. Hier wird zwar gegen das Prinzip verstoßen, dass der Stamm innerhalb eines Paradigmas gleichbleibend sein soll, vgl. Tabelle 2. Allerdings folgt die Verteilung der vokalisch und plosivisch anlautenden Stammalternanten morphosyntaktischen Mustern. Die vokalisch anlautenden Formen sind nur im DAT.SG möglich.
FEM NOM/AKK DAT
SG MASK
NEUTR
PL FEM/MASK/NEUTR
dentalhaltig dentallos
Tab. 2: Phonologische Struktur des Stamms bei Kasusprofilierung im bestimmten Artikel (System Bern)
Einen Sonderfall stellen diejenigen Dialekte dar, die zwar Kasusprofilierung kennen, im NEUTR.SG jedoch den Nominativartikel s aufweisen. In diesen Gebieten (beispielsweise Oberaargau, vgl. auch RIS 1989: 14) kontrastiert der DAT.SG nur mit dem NOM.MASK/FEM.SG, weshalb hier nur von einer Profilierungstendenz gesprochen werden kann (DAT.SG er, em vs. NOM/AKK.SG d, dr, s), vgl. Tabelle 3. Die meisten Dialekte mit Kasusprofilierung zeigen jedoch eine systematische Opposition von dentallosen DAT-Formen und dentalhaltigen NOM/AKK-Formen (er, em vs. d, dr, ds), vgl. Tabelle 2.
FEM NOM/AKK DAT
SG MASK
dentalhaltig dentallos
NEUTR
PL FEM/MASK/NEUTR
dentallos
Tab. 3: Phonologische Struktur des Stamms bei Kasusprofilierung im bestimmten Artikel (System Oberaargau)
Bei der Genusprofilierung wird der gleiche Parameter des kanonischen Flexionssystems verletzt. Wiederum ist die phonologische Struktur des Stamms innerhalb des Paradigmas des bestimmten Artikels nicht in allen Zellen die gleiche. Hier liegen dentalhaltige Formen im gesamten NOM/AKK vor (de, dr, ds), im DAT sind die dentallosen Formen aber auf den MASK/NEUTR.SG beschränkt (em vs. FEM de(r)). Dieses System finden wir z. B. in Teilen der Innerschweiz. Hier liegt eine weiterführende Abweichung vom kanonischen System vor. Denn dieses Mal ist eine einzelne Zelle betroffen, jene des synkretischen DAT.MASK/NEUTR.SG, vgl. Tabelle 4.15 Dies entspricht einer morphomischen Verteilung (vgl. zum Begriff des morphomischen Musters zuletzt MAIDEN 2018: 9). 15 Im Kanton Bern kann die Zelle des DAT.FEM.SG plosivlos und plosivhaltig besetzt sein (er ~ ar Türe neben der Türe). Beide Varianten treten sowohl in enklitischer als auch in freier Posi-
Genus- und Kasusprofilierung beim Schweizerdeutschen Definitartikel SG MASK
FEM NOM/AKK DAT
NEUTR
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PL FEM/MASK/NEUTR
dentalhaltig dentallos
Tab. 4: Phonologische Struktur des Stamms bei Genusprofilierung im bestimmten Artikel (System Innerschweiz)
Noch komplexer sind die Verhältnisse in großen Teilen der Nordostschweiz gelagert. Hier lässt sich sowohl im NOM/AKK.SG als auch im DAT.SG Genusprofilierung feststellen, wobei sich im NOM/AKK.SG das NEUTR (s Chind ‘das Kind’, aber de Maa ‘der Mann’, d Frau ‘die Frau’), im DAT.SG aber das FEM (de ~ dr Frau, aber em Chind, em Maa) hinsichtlich der phonologischen Struktur von den übrigen Genera unterscheidet, vgl. Tabelle 5.
FEM NOM/AKK DAT
SG MASK
dentalhaltig
NEUTR
PL FEM/MASK/NEUTR
dentallos dentallos
Tab. 5: Phonologische Struktur des Stamms bei Genusprofilierung im bestimmten Artikel (System Nordostschweiz)
Damit handelt es sich bei der Kasus- und Genusprofilierung im schweizerdeutschen Artikelsystem um zwei nicht-kanonische Phänomene. Die Genusprofilierung ist dabei jedoch weniger kanonisch als die Kasusprofilierung. Denn das Auftreten der vokalisch anlautenden Stammalternante in einer einzelnen Zelle ist weniger vorhersagbar als in morphosyntaktisch definierten Zellen.16 Im Folgenden werden die historischen Hintergründe des phonologischen Wandels, der Kasus- und Genusprofilierung auslösen kann, beschrieben. Nur in Dialekten, die einen solchen Wandel im DAT.MASK/NEUTR.SG oder aber im gesamten DAT.SG durchgeführt haben, zeigen sich Profilierungstendenzen im Flexionsparadigma. 3 ENTSTEHUNG DER PARADIGMEN Die Entstehung der in den vorausgehenden Kapiteln beschriebenen variierenden Formen des Artikels im DAT.SG in den schweizerdeutschen Dialekten lässt sich tion auf. Solche variativen Verhältnisse sind für den DAT.MASK/NEUTR.SG nicht bezeugt; hier lauten die Formen ausschließlich vokalisch an (em). Je nach vorherrschender Form im DAT.FEM.SG wird Genus oder Kasus profiliert. 16 Dass eine morphomische Verteilung eines Phänomens weniger kanonisch ist als eine morphosyntaktische, wird auch für das nicht-kanonische Phänomen der Overabundance angeführt (vgl. THORNTON 2011: 370).
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aufgrund der erst in jüngerer neuhochdeutscher Zeit einsetzenden Überlieferung einer dialektnahen Schriftlichkeit nur inferieren. Ausgangspunkt unserer Betrachtungen ist das westoberdeutsche Paradigma des bestimmten Artikels im SG in Tabelle 6.
NOM AKK DAT GEN
FEM
MASK
NEUTR
die ~ di ~ diu
der den
das, daz, daß ~ des
der der ~ deren
dem ~ deme des
Tab. 6: Formen des Definitartikels im SG im Frühneuhochdeutschen des westoberdeutschen Raumes, nach WALCH / HÄCKEL (1988: 187–235)
Das frühneuhochdeutsche Paradigma im SG zeigt noch fast dieselben Distinktionen und Synkretismen wie die entsprechenden althochdeutschen und mittelhochdeutschen Vorläuferparadigmen: Im DAT und GEN teilen sich das MASK und das NEUTR die Form dem(e) resp. des und kontrastieren so als Block gegen das FEM, wo meist einheitlich der auftritt (der distinkte GEN deren ist selten bezeugt). Die NOM/AKK-Synkretismen sind im Falle des NEUTR indogermanischen Alters; im FEM handelt es sich um einen Zusammenfall, der im mitteldeutschen Raum bereits in mittelhochdeutscher Zeit weit fortgeschritten ist (vgl. WEGERA / SOLMS / KLEIN 2018: 459–460), im Oberdeutschen aber sicher erst in frühneuhochdeutscher Zeit abgeschlossen ist. Die im 20. Jahrhundert zahlreich entstandenen Dialektgrammatiken verschiedener Deutschschweizer Dialekte zeugen nun von einer tiefgreifenden Restrukturierung dieses Systems. Zur Illustration sind hier das Paradigma aus dem Dialekt von Kesswil am Bodensee, vgl. Tabelle 7, und des Berndeutschen, vgl. Tabelle 8, aufgeführt. Sie stehen repräsentativ für die beiden oben beschriebenen unterschiedlichen Systeme, in denen die Dentallosigkeit im DAT.SG entweder nur auf die Zellen des MASK und des NEUTR beschränkt ist, vgl. Abschnitt 2.3 zur Genusprofilierung, oder auch im FEM möglich ist, vgl. ebenfalls Abschnitt 2.3 zur Kasusprofilierung. NOM/AKK DAT
FEM
MASK
di ~ t dǝ
dǝ
NEUTR
s ǝm
Tab. 7: Formen des Definitartikels im SG im Dialekt von Kesswil (ENDERLIN 1911: 95–96)
NOM/AKK DAT
FEM
MASK
di ~ t der ~ er
der, e
NEUTR
ds ~ s em
Tab. 8: Formen des Definitartikels im SG im Berndeutschen (MARTI 1985: 77–78)
Genus- und Kasusprofilierung beim Schweizerdeutschen Definitartikel
261
Als erstes fallen die Veränderungen im Kasusgefüge auf – der GEN ist im Schweizerdeutschen fast überall aufgegeben und wird wie in den anderen deutschen Varietäten durch verschiedene analytische Strukturen ersetzt (zum Erhalt des GEN in Reliktlage vgl. zuletzt BART 2019). Die in frühneuhochdeutscher Zeit im MASK noch in allen syntaktischen Kontexten aufrecht erhaltene Unterscheidung von NOM.SG und AKK.SG wird in den meisten Dialekten gänzlich beseitigt, so dass das Artikelsystem in diesen Regionen als Zwei-Kasus-System charakterisiert werden kann, mit einer Opposition des DAT gegen den synkretischen Restkasus (< NOM/AKK). Hinweise auf den NOM/AKK-Zusammenfall im Deutschschweizer Raum gibt es ab dem 16. Jahrhundert (vgl. NÜBLING 1992: 200). Eine zumindest partielle Bewahrung der alten Opposition wird jedoch durch die Form e im Berner Paradigma angedeutet, vgl. (6a). Dies ist die Form des Artikels im AKK.MASK.SG in postpräpositionaler Enklise, die sich infolge lautlicher Reduktion deutlich von der Form des synkretischen NOM/AKK.SG-Artikels in freier Position unterscheidet, vgl. (6b).17 (6) a. enklitisch: der [NOM/AKK.MASK.SG] Maa wot uf-e [AKK.MASK.SG] Zuug ‘der Mann möchte auf den Zugʼ b. frei: är verpasst der [NOM/AKK.MASK.SG] Aaschluss ‘er verpasst den Anschlussʼ Darüber hinaus sind jedoch auch die lautlichen Reduktionen der Artikelformen bemerkenswert. Im NOM/AKK.MASK.SG zeigt insbesondere der östliche Raum eine geneuerte resonantlose Form də (vgl. das Kesswiler Paradigma in Tabelle 7). Im NOM/AKK.FEM.SG (und im NOM/AKK.PL) tritt in den allermeisten Dialekten (Reliktgebiete wie das Wallis wiederum ausgenommen) der Artikel di hauptsächlich vor Adjektiv auf. Stehen Artikel und Substantiv in Kontaktstellung, proklitisiert t ans Substantiv, wobei dies bei auf Lenisplosiv anlautenden Substantiven zu einer Fortisierung des initialen Konsonanten des Substantivs führt, vgl. e Gans [ə g̊ɒns] ‘eine Gans’ gegenüber d Gans [kɒns] ‘die Gans’. Gänzlich assimiliert wird der Artikel bei auf Fortisplosiv anlautenden Substantiven: d Praxis ['prɒksis] ‘die Praxis’ (vgl. zur Artikelproklise NÜBLING 1992: u. a. 201–202, zum auch in anderen Domänen auftretenden Sandhi-Phänomen zuletzt FLEISCHER / SCHMID 2006). Die gerade beim FEM sehr weit gehende Reduktion des NOM/AKK-Artikels wird als Folge seines Grammatikalisierungsgrades und der damit einhergehenden hohen Tokenfrequenz erklärt (vgl. NÜBLING 1992: 149, 196). Dagegen kann es sich bei den Reduktionen im DAT.MASK/NEUTR.SG und NOM/AKK.NEUTR.SG von frnhd. dem(e) → əm resp. das → s nicht um eine rein phonologische Reduktion durch zunehmende Klitisierung unter Hochfrequenz handeln, zumal dann der Erhalt oder zumindest ein Reflex des anlautenden Plosivs zu erwarten wäre und nicht der Erhalt des finalen Konsonanten. Mit NÜBLING (1992: 204–205, 221) gehen wir 17 Ein weiterer Akkusativüberrest in der postpräpositionalen Enklise wird weiter unten vorgestellt.
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Anja Hasse / Patrick Mächler / Sandro Bachmann
davon aus, dass die neuen Formen əm18 und s aus postpräpositionaler Position in die übrigen syntaktischen Kontexte verallgemeinert worden sind. Aus Formen wie zürichdt. uf-em Mèrt ‘auf dem Markt’ oder uf-s Müürli ‘auf das Mäuerchen’ wurden also reduzierte Artikelformen reanalysiert, die die alten dentalhaltigen konkurrenzieren. Dies gilt auch für den dentallosen Artikel des DAT.FEM im Westen (ar ~ er Sandra ‘der Sandra’), der aus der Form der postpräpositionalen Enklise wie bei ar Türe ‘an der Türe’ stammt (vgl. NÜBLING 1992: 220–221).19 Dass der Ausgleich zugunsten der postpräpositionalen Formen erfolgt ist, dürfte zumindest beim DAT klar an der tokenfrequentiellen Dominanz dieses syntaktischen Kontexts am Gesamt der Vorkommen des bestimmten Artikels im DAT liegen. Die Auszählungen NÜBLINGS (1992: 221) ergeben, dass der bestimmte Artikel – zumindest des DAT.MASK/NEUTR.SG – zu etwa 90 % in postpräpositionaler Position erscheint, wohingegen auf die freie Position nur zirka ein Zehntel entfällt. In Dialekten, in denen sich die dentallose Form des DAT.MASK/NEUTR.SG aus der postpräpositionalen Enklise in die freie Position ausgebreitet hat, liegt heute entweder Kasus- oder Genusprofilierung vor, vgl. Abschnitt 2.3. Die Reduktionserscheinungen, d. h. die Tilgung des Dentals und die Reduktion des medialen Vokals mitunter bis zur völligen Elision, lassen sich im Falle des DAT in Ansätzen bereits im Althochdeutschen beobachten, wo ze ‘zu’ mit dem bestimmten Artikel verschmilzt: zëmo ‘zu dem’, zër(u) ‘zu der’ und zën ‘zu den’. In mittelhochdeutscher und vor allem frühneuhochdeutscher Zeit stehen dann zunehmend mehr Präpositionen für die Verschmelzung mit dem Artikel offen, wie in/an/von/vor/ab etc. (vgl. CHRISTIANSEN 2016: 99–102, 104–105, 118–119). CHRISTIANSEN (2016: 93–97) setzt auf Basis der belegten Formen dabei folgende Abfolge der Entwicklung an: 1. zunehmende Klitisierung in Präpositionalphrasen wie an demo ~ deme 2. Synkope des medialen Vokals und d-Tilgung → anme 3. Assimilation des Nasalclusters → amme 4. Degeminierung → ame 5. schwa-Apokope → am. Wie CHRISTIANSEN (2016: 90, 99, 106, 114) weiter herausarbeitet, ist die Fusion von Präposition und Artikel anfänglich stark phonologisch konditioniert, indem in alt- und mittelhochdeutscher Zeit hauptsächlich vokalisch auslautende Präpositionen gehäuft in Verschmelzungsformen eingehen. In dieser Phase können auch 18 Neben ǝm sind als Varianten des freien Artikels auch Formen mit vollem Vokal belegt, vgl. z. B. im im Entlebuch (vgl. SCHMID 1915: 165–166) oder am ~ im ~ ǝm im Zürcher Oberland (vgl. WEBER 1923: 172). Diese Formen interpretiert SEILER (2003: 218–219) als Resultat einer Assoziation des freien Artikels mit den Verschmelzungsformen am ‘an dem’ und im ‘in dem’. Die Assoziation sei durch den lautlichen Zusammenfall dieser Formen in unbetonter Position möglich geworden, vgl. appenzellerdt. ǝm mɔrge ‘am Morgen’, ǝm sɔmmer ‘im Sommer’ (vgl. VETSCH 1910: 125). Ähnliche Verhältnisse sind für das Glarnerdeutsche beschrieben (vgl. STREIFF 1915: 56). 19 Zur Entstehung der postpräpositionalen Form ar s. unten.
Genus- und Kasusprofilierung beim Schweizerdeutschen Definitartikel
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Artikel im PL mit einer vorausgehenden Präposition fusionieren, vgl. mhd. zen ‘zu den’, selten auch mit bî ‘bei’. Die frühneuhochdeutsche Zeit stelle bzgl. der Fusionierungskonditionierung eine Umbruchphase dar: Ab frühneuhochdeutscher Zeit treten – vom alten Sonderfall zur abgesehen – in der Schriftlichkeit nur noch Verschmelzungsformen im DAT.MASK/NEUTR.SG entgegen, weswegen CHRISTIANSEN (2016: 106) von einer „morphologisch-kategoriale[n]“ Konditionierung spricht. Er vermutet, dass die in frühneuhochdeutscher Zeit neu auftretenden Verschmelzungsformen analogisch hinzugebildet wurden, d. h. dass sie nicht die oben beschriebene Entwicklung ausgehend von Enkliseformen durchlaufen hatten, sondern zum Beispiel nach Vorbildern wie zu – zum oder an – am entstanden (vgl. CHRISTIANSEN 2016: 118). In der gesprochenen Sprache müssen aber andere Konditionierungsbedingungen gegolten haben, wie Verschmelzungsformen in verschiedenen Varietäten des Gegenwartsdeutschen zeigen – neben den in diesem Beitrag thematisierten schweizerdeutschen Formen kennen bekanntlich auch bundesdeutsche Varietäten regionaler Umgangssprache Formen wie auf’er Bahn, in denen der DAT.FEM.SGArtikel mit einer Präposition verschmilzt. Ob ein bestimmter Artikel mit einer vorausgehenden Präposition verschmelzen kann, scheint in den Varietäten des Neuhochdeutschen davon abzuhängen, ob der bei der Fusion reduzierte Artikel noch als Marker von Kasus, Genus (FEM vs. MASK/NEUTR) und Numerus fungieren kann. Neutralisierungen zwischen den Werten dieser Kategorien werden offensichtlich nicht toleriert (vgl. CHRISTIANSEN 2016: 114–115, ähnlich NÜBLING 1992: 205–206, 214, 218–219). Dies erklärt laut CHRISTIANSEN, weshalb beispielsweise der postpräpositionale AKK.SG in an den nicht fusioniere: an den → *anen → *ane → *an wäre mit der Präposition an homonym. Gleiches gelte für die bestimmten Formen des Artikels im FEM die [diː] und der [deːɐ̯], in denen nach der Apokope *aufe → *auf der letzte Rest des Artikels geschwunden wäre (zum NOM.FEM.SG s. auch NÜBLING 1992: 214). Im Schweizerdeutschen sind die lautlichen Voraussetzungen jedoch anders, was im Vergleich zur Standardsprache weitreichendere Klitisierungsmöglichkeiten eröffnet: Hier hat die n-Apokope zur Folge, dass viele Präpositionen vokalisch auslauten: a ‘an’, vo ‘von’, i ‘in’, so dass die Verschmelzungsform an in der Präpositionalphrase zürichdt. an See ‘an den See’ eindeutig AKK.MASK.SG kodiert.20 Aus dem gleichen Grund dürfte auch die Fusion von Präposition und Artikel im PL teilweise noch vorkommen, wie zürichdt. zun ‘zu den’ / bin ‘bei den’ (vgl. zum Zürichdeutschen NÜBLING 1992: 219).21 Dass das Kriterium der kategorialen Distinktivität für das Entstehen von 20 Da im Singular nach Präpositionen meist ein Artikel folgt und der unbestimmte Artikel in den schweizerdeutschen Dialekten in der Regel länger ist (underne Schtäi ‘unter einen Stein’), ist auch die vollständige Reduktion des bestimmten Artikels von AKK.MASK.SG möglich. Dies finden wir in der Innerschweiz, Teilen der Kantone Aargau, Solothurn, Bern und in Deutschfreiburg vor (Typus i wald ‘in den Wald’, a bodə ‘an den Boden’, vgl. SDS III 138). 21 Verschmelzungsformen des DAT.PL wie zun, bin, in, an ‘zu/bei/in/an den’ etc., die für die Kantone Zürich, Schaffhausen, Thurgau, den Norden Appenzells und St. Gallens sowie das St. Galler Rheintal sehr gut bezeugt sind (SDS III 139), sind zumindest im Zürichdeutschen jedoch heutzutage unserem persönlichen Eindruck nach nicht mehr in Gebrauch. Die Gründe
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Verschmelzungsformen entscheidend ist, beweist schließlich die diatopische Verteilung der Formen des bestimmten Artikels im DAT.FEM.SG, der dentalhaltigen de ~ dr und der dentallosen er: Die Quelle der geneuerten freien Form er, nämlich die gleichlautende Verschmelzungsform in postpräpositionaler Enklise (ar), konnte nur dort entstehen, wo eine Entwicklung des Typus an der → aner ~ anre → are → ar (typgleich: in der) möglich war. Diese setzt die Stabilität des auslautenden Resonanten (der) voraus, der in der Verschmelzungsform die kategorialen Distinktionen aufrechterhält. Bleibt der auslautende Resonant erhalten, kann es zur d-Tilgung und den übrigen oben beschriebenen Verschmelzungsprozessen kommen. Die Daten aus dem SDS (III 135) zur Form des freien Artikels DAT.FEM.SG (‘der Frau’) zeigen, dass zur Zeit der Erhebungen die resonanthaltige Form nur im Gebiet der Kantone Bern, Wallis, Uri sowie in Teilen Solothurns, Luzerns, Aargaus, Unterwaldens und in Graubünden alleinherrschend war; in der übrigen Deutschschweiz wurde sie durch resonantloses de konkurrenziert oder war durch dieses schon (fast) vollständig verdrängt worden (östlicher und südlicher Thurgau, Nordhälfte St. Gallens, beide Appenzell). In diesem letztgenannten Gebiet konnte der Dental im DAT.FEM.SG, anders als im DAT.MASK/NEUTR.SG, nicht elidiert werden, womit in diesen Zellen eine strukturelle Akzentuierung der Opposition von FEM vs. MASK/NEUTR resultiert, also Genus profiliert wird. In den reinen dr-Gebieten konnte schließlich die Verschmelzungsform ar entstehen (ar Tüür), die allerdings nur in den Kantonen Bern und Solothurn flächendeckend auftritt. In Reliktlage, besonders im Oberwallis, scheint die Entwicklung der Verschmelzungsform auf halber Strecke „stecken geblieben“ zu sein, vgl. walliserdt. aner Poort ‘an der Tür’ (vgl. Karte 4). Die Verschmelzungsform ar hat den Weg für die innovative DAT.FEM.SG-Form in freier Position (vgl. Karte 5 zu den in den Kantonen Bern und Solothurn sowie an verstreuten Ortspunkten in der gesamten Schweiz belegten Form er Sandra) und somit für die Kasusprofilierung geebnet, vgl. Abschnitt 2.2.2. 4 SYNTHESE Die hier besprochenen Verhältnisse im schweizerdeutschen Definitartikelsystem zeigen, dass sich Profilierungstendenzen nicht nur in der Substantivflexion, sondern auch im Bereich der Artikelflexion finden. Im Zuge der lautlichen Reduktion des bestimmten Artikels in den schweizerdeutschen Dialekten haben lautliche Voraussetzungen (Erhalt vs. Verlust eines finalen Resonanten) in einigen Gebieten zu Kasusprofilierung und in anderen zu Genusprofilierung geführt. Im Falle der Genusprofilierung wurde die Form des DAT.MASK/NEUTR.SG aus der postpräpositionalen Enklise in die freie Position verallgemeinert (uf-em Mèrt → em Mèrt für das Verschwinden dieser Formen sind bis jetzt nicht näher untersucht worden. Als Erklärung kommen Einflüsse der Standardsprache und benachbarter Dialekte in Frage, wo im DAT.PL keine Verschmelzungsformen zugelassen sind (vgl. etwa luzerndt. a/i də ‘an/in den’, SDS III 139).
Genus- und Kasusprofilierung beim Schweizerdeutschen Definitartikel
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‘(auf) dem Markt’). Eine solche Entwicklung ist beim DAT.FEM.SG nicht zu beobachten. Resultat ist eine systematische genusabhängige Opposition in der phonologischen Struktur des Stamms im DAT.SG. In den durch Kasusprofilierung charakterisierten Gebieten waren die lautlichen Voraussetzungen so gelagert, dass die Reduktion des bestimmten Artikels auch im DAT.FEM.SG möglich war, da hier der auslautende Resonant die Kasusmarkierung gewährleistet (uf-er Platte → er Platte ‘(auf) der Platte’). In diesen Gebieten ergibt sich nun ein Kontrast zwischen konsonantisch anlautenden Formen des NOM/AKK.SG und vokalisch anlautenden Formen des DAT.SG. Beide hier beschriebenen Profilierungsphänomene stellen Verletzungen des kanonischen Flexionsparadigmas dar, da die verschiedenen Zellen mit unterschiedlich anlautenden Stämmen besetzt sind. Im kanonischen Flexionssystem ist der Stamm eines Lexems jedoch konstant. Am Beispiel Zürichs lässt sich die Herausbildung der Genusprofilierung in jüngerer Zeit nachvollziehen, da sich hier die Opposition von dentalhaltigem DAT.FEM.SG gegenüber dentallosem DAT.MASK/NEUTR.SG erst im 20. Jahrhundert verfestigt zu haben scheint. Den Anstoß für den Übergang zu einem genusprofilierten Paradigma dürfte der Kontakt mit den umliegenden Dialekten gegeben haben, zumal es als sehr unwahrscheinlich gelten muss, dass sich im Zürichdeutschen erst in jüngerer Zeit Reduktionsformen in postpräpositionaler Enklise herausgebildet haben. Damit zeigt das Paradigma des bestimmten Artikels in den schweizerdeutschen Dialekten unterschiedliche Kanonizitätsgrade. Während in der Peripherie im DAT nur mit Dental anlautende Formen möglich sind (Typ dem Maa, der Frau) und das Prinzip der Stammkonstanz gewahrt bleibt, weichen die Dialekte mit Tendenz zur Kasusprofilierung davon ab (Typ em Maa, er Frau gegenüber dr Maa, d Frou), doch ist die Grenze zwischen dentalloser und dentalhaltiger Form im Paradigma morphosyntaktisch motiviert, indem ein klar definiertes Kategorienbündel, nämlich der DAT.SG, den geneuerten dentallosen Stamm aufweist. Eine solche morphosyntaktische Konditionierung sucht man im Falle der Genusprofilierung dahingegen vergeblich, da sich die Neuerung nicht mehr auf alle Dativzellen erstreckt, sondern nur DAT.MASK/NEUTR.SG erfasst (Typ em Maa, em Huus vs. de(r) Frau). In einigen Gebieten treten dentallose Formen schließlich sogar im NOM/AKK.NEUTR.SG auf (Typ s Huus, em Huus), wodurch das Auftreten des Merkmals [± dental] gänzlich von Kategorienoppositionen entkoppelt ist. Vergleichbare Profilierungstendenzen sind für das Artikelsystem anderer Varietäten des Deutschen bis jetzt nicht beschrieben worden. Wie die diachrone Kontextualisierung der hier behandelten Profilierungsprozesse zeigt, folgt der Umbau der Flexion des bestimmten Artikels aber dem scheinbar für den gesamten deutschen Sprachraum gültigen Prinzip, dass Reduktionen im Hochfrequenzbereich des hoch grammatikalisierten Artikels zwar angestrebt werden (können), die kategoriale Distinktivität der Formen bzgl. der Kategorien Genus [MASK/NEUTR vs. FEM], Kasus und Numerus aber gewahrt werden muss.
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DIE ERSCHLIESSUNG DES „LANGUAGE AND CULTURE ATLAS OF ASHKENAZIC JEWRY“ FÜR DIE DIALEKTSYNTAX* Lea Schäfer 1 EINLEITUNG Das Jiddische war „once a vast linguistic continuum, the largest European speech area next to Russian“ (WEINREICH 1962: 7). Mit dem Holocaust ist dieser einstige Sprach- und Kulturraum untergegangen. Die alten Dialekträume existieren nicht mehr. Die jiddischen Dialekte, insbesondere die ostjiddischen auf vorwiegend slavischem Sprachgebiet, sind hinsichtlich einiger phonologischer und lexikalischer Strukturen gut dokumentiert. So fußen moderne Einteilungen der jiddischen Dialekte auf einigen wenigen phonologischen und lexikalischen Isoglossen (HERZOG et al. 1992: 50–55, Karten 1–6; KATZ 1983: 1023). Doch wissen wir noch immer sehr wenig darüber, wie sich die jiddischen Varietäten in ihren syntaktischen Strukturen verhielten und wie stark der Unterschied unter den einzelnen Dialekten in diesem Bereich überhaupt war. Im Rahmen des Projekts „Syntax ostjiddischer Dialekte / Syntax of Eastern Yiddish Dialects (SEYD)“ wird nun erstmals diese Wissenslücke zur syntaktischen Variation in den alten jiddischen Dialekträumen angegangen, indem das Potenzial von bisher vernachlässigten Materialien des „Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry“ (LCAAJ) genutzt wird. Dieser Beitrag fasst den forschungsgeschichtlichen Hintergrund der Materialien zusammen und liefert eine Skizze des SEYD-Projekts. Am Beispiel ausgewählter Phänomene werden Quellenpotenzial und Methodik illustriert.
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Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des Projekts „Syntax ostjiddischer Dialekte / Syntax of Eastern Yiddish dialects (SEYD)“, welches zwischen 2017 und 2018 durch ein Forschungsstipendium der Fritz Thyssen Stiftung und seit Ende 2018 als dreijähriges Forschungsprojekt durch das BMBF finanziert wird. Gedankt sei an dieser Stelle MARC BRODE, JANA KATCZYNSKI und FLORIAN LEUWER für die Unterstützung bei der Datenerhebung. Des Weiteren bin ich dankbar für den Austausch zu Themen dieses Beitrags mit MARION APTROOT, JÜRG FLEISCHER (insbesondere für die Bereitstellung von Daten zu Wenkersatz 24) und OLIVER SCHALLERT.
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2 QUELLEN JIDDISCHER DIALEKTE Die Verschriftlichung des Jiddischen war bis ins 19. Jahrhundert hinein von einer Schreibtradition geprägt, die wenig mit den Dialekten, wie sie aus dem 20. Jahrhundert überliefert sind, gemeinsam hat (vgl. KERLER 1999). Das Westjiddische auf vorwiegend deutschem Sprachgebiet, welches im Zuge der jüdischen Assimilation im Laufe des 19. Jahrhunderts sukzessive zu Gunsten des Deutschen aufgegeben wurde, ist uns in einzelnen Dialekten in literarischer Form, zumeist in Dramen jüdischer Aufklärer, überliefert (vgl. SCHÄFER 2017: 59–72). Die Verschriftlichung ostjiddischer Dialekte in literarischen Texten, z. B. in der Figurenrede, wie dies für das Westjiddische erfolgt ist (vgl. SCHÄFER 2017), wurde bisher nicht näher betrachtet. Auch die Einflüsse der autoreigenen Mündlichkeit auf die Sprache (ost-)jiddischer Literaten wurden noch nicht systematisch untersucht. Den ostjiddischen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts war die Vorstellung einer normativen Schriftsprache, die im Kontrast zur autoreigenen Mündlichkeit steht, ein Ideal, das auch in die (frühen) Grammatiken des Jiddischen einfloss (vgl. SHTIF 1930; ESTRAIKH 1999; FISHMAN 2004). Das Verhältnis zwischen Schriftsprache und Dialekt im Jiddischen ist mitunter auch schwer zu fassen, da wenig über die jiddischen Varietäten bekannt ist. Zwar bestehen Einzelarbeiten zu speziellen Strukturen oder Regionen, doch fehlt eine breite Datengrundlage, um z. B. textsorten-, regional- oder sozialspezifische Variation des Jiddischen zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben zu können. Ein Korpus, das die diachrone Perspektive auf jiddische Sprachvariation einfängt, steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zur Verfügung. Bereits in den 1920er Jahren entstanden erste variationslinguistische Arbeiten zum Jiddischen, seinen Dialekten und historischen Sprachstufen. Allen voran steht die Einzelleistung MAX WEINREICHS (1923; 2008), dem eine diachrone Gesamtdarstellung gelingt. Seine Datengrundlage ist allerdings nie reproduziert worden, in dem man seine Ergebnisse verifizieren bzw. weitere, von ihm unberücksichtigte Fragestellungen untersuchen könnte. Die jiddischen Dialekte wurden erstmals systematisch von dem Germanisten MORDKHE VEYNGER erhoben. Zwischen 1925 und 1929 führte er im Gebiet der damaligen Sowjetunion Informantenbefragungen durch, die sich vorwiegend auf Lexik und Phonologie beschränken. Dialektsyntaktische Merkmale sollten ebenfalls erhoben werden (vgl. VEYNGER 1925), was jedoch durch seinen plötzlichen Tod 1929 nicht umgesetzt wurde. VEYNGER schickte an knapp 1 200 Informanten (die Hälfte von ihnen waren Lehrer) aus 700 verschiedenen Orten mit Fragen versehene Postkarten, die ausgefüllt an ihn zurückgingen. 1931 erschien auf Basis seiner Daten der yidisher sprakhatles [sic!] fun sovetn-farband „Jiddischer Sprachatlas der Sowjetunion“ mit 74 Karten zu phonologischen Phänomenen (WILENKIN 1931). Die an Lexik und Phonologie interessierte Dissertation von JOFEN (1953) ist der erste dialektologische Atlas zum gesamten ostjiddischen Sprachgebiet. Auch Atlasprojekte zum Westjiddischen von BERANEK (1965) und GUGGENHEIM-GRÜNBERG (1973) behandeln (von der Diminution abgesehen) lediglich phonologische und lexikalische Variation. Die Interview- bzw. Fragebo-
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gendaten von BERANEK (1965) sind von Beginn an äußerst fragwürdig, undurchsichtig dokumentiert und nicht mehr erhalten. GUGGENHEIM-GRÜNBERGS Tonaufnahmen und Transkripte jedoch sind gut dokumentiert (vgl. FLEISCHER 2005). Den Anspruch, Daten zur Sprache und Kultur des gesamten ehemaligen jiddischen Sprachgebiets zu erheben, hat URIEL WEINREICHS „Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry“ (LCAAJ), in dessen Rahmen zwischen 1959 und 1972 Daten von Juden aus dem ehemaligen jiddischen Sprachgebiet erhoben wurden. Teile dieses Materials wurden in den letzten Jahren von den Columbia Libraries digitalisiert und bilden das Kernkorpus des Projekts „Syntax of Eastern Yiddish Dialects“ (SEYD), in dessen Rahmen der vorliegende Beitrag entstanden ist. 3 DAS LANGUAGE AND CULTURE ARCHIVE OF ASHKENAZIC JEWRY Das „Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry“ (LCAAJ) ist der erste und bisher einzige Versuch, Daten aus dem gesamten ost- und westjiddischen Sprachgebiet der jiddischen Dialekte vor dem Holocaust zu gewinnen. Das Projekt geht über die sprachliche Variation hinaus und möchte, nach dem Vorbild anderer Kultur- und Sprachatlanten, auch die ethnologischen und kulturellen Lebensräume des aschkenasischen Judentums erfassen. Die Idee eines jiddischen Sprachatlas hatte bereits URIEL WEINREICHS Vater MAX WEINREICH. Als Ergebnis von MAX WEINREICHS Seminar zur jiddischen Folklore an der UCLA (University of California, Los Angeles) wurde 1948 der „Yehudah Leib Cahan Folklore Club“ gegründet. Zu seinen Schülern gehörten sein Sohn URIEL WEINREICH und dessen künftige Frau BINAH SILVERMAN. Sie begannen, folkloristisches Material zu sammeln, darunter Audioaufnahmen von Jiddischsprechern. BINAH SILVERMAN nahm etwa zweihundert Dialektinterviews auf (die Aufnahmen befinden sich heute im Archiv des Yidisher visnshaftlekher institut, YIVO New York). M. WEINREICHS Seminar war damit der Auslöser für ein Projekt zur Dokumentation der europäischen jiddischen Folklore und der Dialekte von in Amerika lebenden Sprechern. Natürlich stellt dies eine Erhebung aus großer (geografischer und zeitlicher) Distanz dar. Aber wie URIEL WEINREICH richtig bemerkte: „what we do not collect in the coming decade or so will be lost forever“ (WEINREICH 1962: 27). Wegweisend und prägend war URIEL und BINAH WEINREICHS Zeit in Zürich (1949–1950), wo URIEL WEINREICH Veranstaltungen bei RUDOLF HOTZENKÖCHERLE („Sprachatlas der deutschen Schweiz“) und JAKOB JUD („Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz“) besuchte. Hier wuchs die Idee eines Atlasses: „Our appetites for language and folklore have grown voraciously, and I am afraid that we will not get away with less than a Yiddish language and folklore atlas“ (Brief von U. WEINREICH an J. FISHMAN, 19. Februar 1950).1 Letzten Endes dauerte es bis zu URIEL WEINREICHS Sabbatical 1959/1960 in Israel, bis er an die1
Quelle: JOSHUA A. FISHMAN (2006): Papers, Stanford University series 1, box 3.
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sem Atlasprojekt weiterarbeitete. Hier führte er erste Interviews durch und arbeitete an dem Fragebuch. Notizen aus seinen ersten 42 Interviews sind in Heften, den sogenannten Blue Books erhalten. Der Pilotfragebogen beinhaltete 7 000 Fragen. Nach zweijähriger Vorarbeit wurde im Juni 1961 ein endgültiger stabilized master questionnaire im Umfang von 3 245 Fragen (224 Seiten) festgelegt, in dem verschiedene Fragetypen (z. B. Übersetzungsaufgaben, Bildaufgaben, Stimulus-Reaktions-Aufgaben) versammelt sind. Es gibt thematische Blöcke (wie The Village and Environs, Cleaning and Washing oder Earning and Living). Leider ist nicht transparent, auf welche grammatikalischen Strukturen die jeweiligen Aufgaben des Fragebogens abzielen. Ein Interview dauerte zwischen 8 und 15 Stunden (HERZOG et al. 1992: 6). Das gesamte Fragebuch wurde jedoch nur in wenigen Fällen komplett abgefragt, ein Umstand, der sich auch in den im Folgenden ausgewerteten Datensätzen widerspiegelt. Die Gründe für Kürzungen sind das Antwortverhalten der Gewährsperson(en), ggf. auch äußere Umstände2 und die jeweilige regionale Herkunft der Informantinnen und Informanten; so wurden auf bestimmte Strukturen abzielende Fragen nur von Sprechern aus einem bestimmten Sprachgebiet abgefragt. Die Hintergründe für die regionalen Beschränkungen sind leider nicht dokumentiert. Im westjiddischen Gebiet (mit Ausnahme des Elsass), wo der Dialekt um 1900 nur noch in wenigen (zumeist lexikalischen) Resten vorhanden war (GUGGENHEIM-GRÜNBERG 1973; FLEISCHER 2018), wurde ein spezieller, auf Speziallexik und ethnologische Bereiche beschränkter, gekürzter Fragebogen verwendet (HERZOG et al. 1992: 222). Das durchschnittliche Geburtsjahr der InformantInnen ist 1897 mit einer Standardabweichung von 11,4 Jahren (der älteste Informant 1864). Die Auswanderung erfolgte im Durchschnitt im Jahr 1923 (Standardabweichung 15 Jahre). Vor dem Holocaust waren die InformantInnen ortsfest. Zum Zeitpunkt der Befragung waren die InformantInnen im Durchschnitt 68 Jahre alt (Standardabweichung 11,5 Jahre). URIEL WEINREICH plante ursprünglich, die Erhebungen 1960 mit Material von etwa zwei- bis dreihundert InformantInnen abgeschlossen zu haben. Im Jahr 1963 schätzte er etwa fünfhundert InformantInnen gewinnen zu können, am Ende des Projekts (1972) lagen Daten von 667 Gewährspersonen aus 603 verschiedenen Herkunftsorten vor, von denen 137 Interviews aus dem westjiddischen Raum stammen (vgl. Karte 1).3 Dieses Sample deckt das gesamte ostund westjiddische Sprachgebiet ab.
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Auf vielen Tonaufnahmen ist zu hören, dass im Hintergrund der Interviews das alltägliche Leben weiterlief und Proband(en) wie auch Interviewer ablenkte. Zwei der Interviews führte URIEL WEINREICH mit in Palästina geborenen Jiddischsprechern durch (IDs 31357 und 32358), deren Familien bereits Anfang des 19. Jahrhunderts auswanderten. Diese Interviews spielen in den Kartierungen des SEYD-Projekts keine Rolle, da sie aus dem ursprünglichen Sprachgebiet herausfallen.
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Karte 1: Grundkarte der LCAAJ-Ortspunkte inkl. der Dialektgebiete nach KATZ (1983)
Die Erhebung erfolgte mittels der direkten Methode mit der Hilfe von 18 InterviewerInnen (URIEL WEINREICH selbst eingeschlossen) überwiegend in den USA (insbesondere in New York). Eine im Nachhinein betrachtet vielleicht problematische Entscheidung war die regionale Aufteilung der InterwieverInnen: So war z. B. MARVIN HERZOG (1965) für Nordostpolen, URIEL WEINREICH für Transkarpatien, die Brüder STEVEN und MARVIN LOWENSTEIN für Deutschland und RICHARD ZUCKERMAN für das Elsass zuständig. Das Problem dabei ist, dass sich spezifische Besonderheiten oder auch Fehler von InterviewerInnen so automatisch in einem großen Dialektgebiet niederschlagen und die Daten damit weniger gut vergleichbar werden. Die Datenanalyse muss daher immer auch prüfen, ob mögliche Isoglossen der InterviewerInnen vorliegen (vgl. zu diesem auch das aus der deutschen Dialektologie bekannte Problem vgl. MATHUSSEK 2016) Die meisten Interviews wurden auf Magnetband aufgezeichnet. Parallel zum Interview wurden Transkripte der InterviewerInnen, die sogenannten Fieldnotes, angefertigt. Diese Fieldnotes wurden auf Formularen handschriftlich verfasst. Die einzelnen Fragen sind mit IDs versehen, die sich auf die Seitenzahlen im Fragebogen und Fragenummern des endgültigen Fragebogens beziehen. Die Transkriptionen der Fragebogenantworten erfolgten auf der Grundlage eines speziell entwickelten Transkriptionssystems, das auf dem Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA) basiert und phonologische Besonderheiten erfassen sollte. Die InterviewerInnen waren demnach phonetisch geschult. Ein Schlüssel für das auch im Datenteil dieses Beitrags wiedergegebene Transkriptions- und Notationssystem der LCAAJ-Fieldnotes findet sich in HERZOG et al. (1995: 20–24).) Ein Nachteil dieses recht sperrigen, auf Großbuchstaben, Zahlen und Sonderzeichen basierenden Systems auf den an Platz eingeschränkten Vordrucken ist das häufige Fehlen
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der Markierung von Wortgrenzen.4 Für syntaktische Untersuchungen bieten sich die Antworten zu knapp 300 Übersetzungsaufgaben an, die zumeist in ihrer Gesamtheit in den Fieldnotes festgehalten wurden. Entsprechend bildet diese Datenbasis auch die Quelle für die in diesem Beitrag diskutierten Daten. Die Sprache(n) in der die Interviews durchgeführt wurden, wurde weder dokumentiert noch kontrolliert. Ein Großteil der InterviewerInnen verwenden mit den Gewährspersonen ein kaum dialektal gefärbtes (Standard-)Jiddisch,5 selbst mit manchen SprecherInnen aus dem westjiddischen Raum, deren Interviews jedoch weitestgehend in einem Deutsch von Nicht-MuttersprachlerInnen erfolgen.6 Die Übersetzungssätze wurden – und das stellt ein Problem dar – nicht immer auf Englisch oder Hebräisch präsentiert, wie die Vorlage vermuten lässt, sondern die Präsentation erfolgte auch in anderen Sprachen. Auf Grundlage der Tonaufnahmen konnte festgestellt werden, dass in 383 (63,3 %) Interviews die Übersetzungsaufgaben auf Englisch präsentiert wurden, in 123 (20,4 %) Fällen auf Deutsch (dies sind insbes. die westjiddischen Interviews), in 48 (8 %) Interviews auf Iwrit und in Einzelfällen wurde Ungarisch (12, 2 %), Jiddisch (12, 2 %), Rumänisch (11, 1,8 %), Französisch (8, 1,3 %) und Spanisch (5, 0,8 %) verwendet. Wichtig festzuhalten ist, dass nie eine slawische Sprache verwendet wurde. Diese Inkonstanz ist ein Problem des Materials, das sich bestenfalls über die Datenmenge etwas ausgleichen lässt. Das Schicksal des LCAAJ ist eng an das Schicksal URIEL WEINREICHS geknüpft. Bei diesem wurde bereits 1963 Krebs diagnostiziert. Er arbeitete und lehrte bis kurz vor seinem Tod am 30. März 1967. Dieser war ein herber Rückschlag für das Projekt, das von nun an unter der Leitung von MARVIN HERZOG stand. Eine Publikation des Materials ließ auf sich warten. Zwischen 1995 und 2000 wurden drei von sieben geplanten Bänden des „Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry“ von HERZOG et al. veröffentlicht. Da aber die ersten zwei Bände v. a. die Erhebungsmethode und den Fragebogen dokumentieren, kann nur der dritte Band als echter Atlasband im Sinne von kartierten Sprachdaten bezeichnet werden. Die Tonbänder wurden um die Jahrtausendwende im Rahmen des Projekts „Evidence of Yiddish documented in European Society“ (EYDES) digitalisiert. Die Originaltonaufnahmen sind von guter Qualität, aber die zugänglichen Tondateien sind nur in geringer Auflösung digitalisiert worden und für phonetische Analysen leider kaum nutzbar. Es ist zu hoffen, dass die Columbia Libraries auch die originalen Tonbänder bald neu digitalisieren werden. Umso wichtiger sind die schriftlichen Materialien des Projekts. 4 5 6
Eine Nacherhebung z. B. der Wortgrenzen ist jedoch mittels der Tonaufnahmen möglich. Basiert auf meiner subjektiven Einschätzung; eine Analyse zu der Dialektalität der jiddischen Varietäten der InterviewerInnen steht noch aus. Die fehlende Kompetenz des (Standard-)Deutschen wird auch deutlich in den Formulierungen der Fragen im westjiddischen Teil des Fragebuchs, z. B. die Verwendung von Verb projection raising in Frage Nr. 225-004 Hat man können einen Juden seiner deutschen Aussprache nach erkennen? Auch dies mag das Antwortverhalten der InformantInnen beeinflusst haben.
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Mit der Digitalisierung der Fieldnotes (und WEINREICHS Blue Books) zwischen 2016 und 2017 durch die Columbia University Libraries eröffnen sich daher ganz neue Möglichkeiten, mit diesem kostbaren und einzigartigen Material zu arbeiten.7 4 DAS PROJEKT „SYNTAX OF EASTERN YIDDISH DIALECTS“ Im Projekt „Syntax of Eastern Yiddish Dialects“ (SEYD) werden seit November 2017 die Fieldnotes des LCAAJ im Hinblick auf morpho-syntaktische Strukturen transliteriert und ausgewertet. Am Ende des Projekts sollen die identifizierten Phänomene und die erhobenen Daten nach dem Vorbild des „World Atlas of Language Structures“ (WALS) digital veröffentlicht werden. Im Zentrum für die syntaktische Untersuchung stehen allein die Fieldnotes. Die Tonaufnahmen spielen im Projekt keine Rolle. Wir verlassen uns auf die Mitschriften der InterviewerInnen und rechnen damit, dass Fehler entweder als Isoglossen der InterviewerInnen hervortreten (vgl. MATHUSSEK 2016) bzw. gilt für das Material, was RUOFF (1965) für die Wenkermaterialien postuliert hat, dass nämlich: der hohe Wert des Materials [...] eben ausschließlich in der Dichte des Belegnetzes [liegt]: nirgends wird Quantität so sehr zur Qualität wie hier; das einzelne Formular ist nahezu wertlos. (RUOFF 1965: 109)
Selbstverständlich kann sich das Material der LCAAJ-Fieldnotes quantitativ nicht mit dem Wenkermaterial messen, aber es ist dennoch von beachtlichem Umfang und erlaubt eine Interpolation vom einzelnen Bogen auf den Raum. Die bisherigen Untersuchungen am Material haben gezeigt, dass jeder Übersetzungssatz – im Positiven wie im Negativen – nicht immer den Erwartungen, die sich aus der Literatur speisen, entspricht. Im Folgenden soll das Material, sein Potenzial und seine Grenzen an Hand von Beispielen skizziert werden. Beispiele aus dem Material werden zur Erleichterung der Lesbarkeit sowohl in ihrer ursprünglichen Form als auch in einem angepassten Transliterationssystem, das sich an den Transliterationsrichtlinien des YIVO, die vor allem für den englischsprachigen Raum gedacht sind, orientiert, wiedergegeben (vgl. Tab. 1). Auch nimmt die SEYD-Transliteration Segmentierungen der Wörter vor, die in den Fieldnotes nicht immer klar gesetzt wurden. Zur Erleichterung werden auch vereinzelt Klitika (wie z. B. rot > r ot „er hat“) getrennt.
7
Die Scans sind seit Anfang 2018 online verfügbar unter [abgerufen 09.02.2019].
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Lea Schäfer LCAAJ-Transliteration (HERZOG et al. 1995: 20–24) A E, 3, 6 I, 1 U O AJ EJ OJ M N, +, -, P T K B D G F S, S7, S78 X H V Z, Z7 C, C7 L, 8, L5 R J W S+ Z+ C+
SEYDTransliteration a e i u o aj ej oj m n p t k b d g f s x h v z ts l r j w š ž č
, 92, 94, 95, 2, 4, 5, 7, 8, , (= weitere Längen und Akzente)
Doppelvokal, z. B. aa, ee (werden nicht transliteriert)
Tab. 1: Transliterationssysteme des LCAAJs und des SEYD-Projekts
4.1 Ein typisches Datenset: wh-Exklamativsatz mit V3 Erwartbare syntaktische Strukturen liefert die Auswertung des Übersetzungssatzes Nr. 021-0108 what white teeth he has. Dieser Satz wird in 170 der Fieldnotes als V3-Satz widergegeben (1a), in 18 Fällen als V1-Satz (1b) und in nur 13 Belegen als V2-Satz (1c). Die Bildung eines wh-Exklamativsatzes mit V3 ist für das Jiddische bereits beschrieben worden (vgl. DIESING 2004: 206) und zu erwarten.
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Die ID der Fragen bezieht sich auf die Seite im Fragebuch (hier S. 21) und die Nummer der jeweiligen Frage auf dieser Seite (hier Frage Nr. 10).
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a. VOSARA VAJS1 CEJNER ER HOT (ID 51323) vosara vajsi tsejner er hot b. OTE53-VA.S3 CEJN (ID 50202) ote vaase tsejn c. VUS3RE VAJS3 CE5I4 HOT 3R (ID 50304A) vusere vajse tsej hot er
Die areale Verteilung (vgl. Karte 2) zeigt klar den Unterschied zwischen Ost- und Elsässer Westjiddisch: Während im Westjiddischen das Subjektspronomen (er) in SOV-Position auftritt (2a), steht es in allen ostjiddischen Belegen in OSVStellung (2b). Ebenfalls erkennt man ein leichtes Ost-West-Gefälle, was die Verbreitung von V1- und V2-Strukturen betrifft. (2)
a. VI 3R VAJSI CE5.N HOT (ID 48078) vi er vajsi tsen hot b. VELIX1 VAS1 CEJN ER OT (ID 47298) velixi vasi tsejn er ot
Dieses Resultat war erwartbar. Hier bestätigen die LCAAJ-Daten was aus anderen Quellen bereits bekannt ist in einem großen Datenset. Insgesamt liegen von den potenziellen 667 geführten Interviews 448 Fieldnotes zur Seite 21 vor. Von diesen 448 ist der hier interessierende Satz jedoch in nur 201 Fällen (44,9 %) in der nötigen Vollständigkeit gegeben, um ihn bezüglich der Verbposition auszuwerten. Die Unvollständigkeit der Mitschriften ist leider ein häufiges Problem. Insbesondere Fragestellungen zur Syntax längerer Einheiten können damit auf nur kleiner Datenbasis bearbeitet werden. Tatsächlich stellte sich heraus, dass nicht alle Fragen an jedem Ort abgefragt wurden. Zum einen gibt es Fragen, die nur in bestimmten Regionen erhoben wurden (siehe unten). Zum anderen gibt es aber auch die nicht kontrollierbare Variable, dass eine Frage nicht immer erhoben wurde.
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Karte 2: wh-Exklamativsatz mit V3 in den Übersetzungen von 021-010 what white teeth he has
4.2 Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit: Subordinierendes vos In der jiddischen Literatursprache nur äußerst marginal belegt ist vos als Subordinator (vgl. FLEISCHER 2004: 233, Fn. 7), wie er sehr wahrscheinlich aus der Relativpartikel vos entstanden ist. Das Material der Fieldnotes zeigt nun erstmals, dass vos in dieser Verwendung im gesamten ostjiddischen Raum parallel zur Konjunktion az (< mhd. daʒ) verbreitet ist (vgl. Karte 3): (3)
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a. AX2 B1N C3FRIDN VU D3 EST (ID 49254) ax bin tsfridn vu de est b. 3S FRAJT M3X VU D1 EST (ID 47298) es frajt mex vu di est (Übersetzungsaufgabe Nr. 103-100 I am glad that he is eating)9
Wir sehen in diesen Beispielen, dass der Vorgabesatz nicht immer eins-zu-eins wiedergegeben wurde; hier wird nicht das vorgegebene Pronomen der 3. Person Singular mask. übersetzt (er isst), sondern die 2. Person Singular (du isst) gewählt; dasselbe ist in Bsp. 4c zu beobachten.
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Karte 3: Subordinierendes vos in den Übersetzungen von 103-100 I am glad that he is eating
Die deutlich präferierte Form ist vos, besonders im Raum der heutigen Ukraine und des heutigen Weißrusslands. Neben der Form mit vos (dialektal im Südosten zumeist vus) tritt in 14 Fällen die Form vo (im Südosten vu) auf, die an das deutsche wo erinnert, wie es im Südwestjiddischen als Relativpartikel belegt ist (Bsp. aus Mulhouse 4a; siehe auch SCHÄFER 2014: 253); ich vermute jedoch, dass es sich im Ostjiddischen eher um eine verkürzte Form von vos > vo handelt, wie sie auch bei der Relativpartikel vos vereinzelt im LCAAJ-Material auftritt (4b–c). (4)
a. DI SLAN7 1S+ 3 XAJ3 VU8 BAJSD (ID 47075) di slan iš e xaje vu bajsd (Übersetzungsaufgabe Nr. 146-050 the snake in an animal that bites) b. D3R S+LANK 1Z A 8AS+EF1N1S+ VU BAJST OED VUS (ID 52223) der šlank iz a ašefiniš vu basjst auf Nachfrage vus (Übersetzungsaufgabe Nr. 146-050 the snake in an animal that bites) c. DI PEN VU D1 S+RA.PST (ID 48259) di pen vu di šrajpst (Übersetzungsaufgabe Nr. 174-110 the pen with which he writes)
Dieses Phänomen zeigt exemplarisch, dass die erhobene Varietät des LCAAJ die Mündlichkeit repräsentiert und sich diese in mancherlei Hinsicht von der jiddischen Schriftsprache des 19. und 20. Jahrhunderts unterscheidet.
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4.3 Regionale Befragungen: Progressivitätsausdruck In bisher ausgewerteten Übersetzungssätzen ist es ein wiederkehrendes Bild, dass Fragen im Süden des Untersuchungsgebiets gestellt wurden, nicht aber im Norden. Der Westen des ostjiddischen Sprachgebiets (insbesondere Gebiete im heutigen Polen) weist ebenfalls häufiger Lücken auf, die jedoch interviewerspezifisch zu sein scheinen (siehe unten). Als ein Beispiel10 sei hier die Erhebung von Frage Nr. 157-010 vorgestellt. Hierbei handelt es sich um eine Suggestivfrage, die mit Kontext präsentiert wurde: „זי שרי ַיבט בריוו און שרי ַיבט און שרי ַיבט…זי שרי ַיבט איין:צי האָ ט מען געזאָ גט בי ַי אי ַיך ?“שטיק tsi hot men gezogt bay aykh: „zi shraybt briv un shraybt un shraybt…zi shraybt eyn shtik“? ‘Wie hat man bei Ihnen gesagt: „Sie schreibt Briefe und schreibt und schreibt… sie schreibt ein Stück“?’ Wie Karte 4 deutlich macht, wurde diese Frage in nur 47 Interviews gestellt, die allesamt im südlichen Südostjiddischen liegen. In den wenigen Antworten auf diese Frage finden sich immerhin 12 Belege für die in schriftsprachlichen Korpora nur extrem selten bezeugte Konstruktion des halten-eyn + Infinitiv-Progressivitätsausdrucks wie in (5) (vgl. JACOBS 2005: 222; JACOBS-KOZYRA 2017: 101– 112). Diese Konstruktion ist verwandt mit der deutschen am-(halten-) und der niederländischen (houden-)aan-het-Periphrase (vgl. VAN POTTELBERGE 2004: 48– 49 u. 189–190). (5)
a. ZI OLT IN EJN S+RAB+ (ID 49261) zi olt in ejn šrajbn b. ZI HALT 1N AJN S+RAJB1N (ID 50244) zi halt in ajn šrajbin
Die Frage Nr. 157-010 zielt jedoch offensichtlich nicht auf diesen Progressivitätsausdruck ab, sondern forciert Antworten mit ayn shtik ‘ein Stück’, die auch in den meisten der 35 gegebenen ‚anderen Varianten‘ erfolgen. Sowohl die ayn shtik-, als auch die halten-eyn-Konstruktion sind nicht bekannt dafür, besonders typisch für die südostjiddischen Dialekte zu sein; generell weiß man bis heute viel zu wenig über diese Bildungen, als dass diese regionale Beschränkung auf den Südosten sicher ist. Das LCAAJ-Material liefert mit der Erhebung dieses Satzes erstmals den Nachweis über den tatsächlichen Gebrauch dieser Konstruktion in den (südostjid-
10 Weitere Beispiele für nur im Süden abgefragte Sätze finden sich in SCHÄFER (i. E.). Bisher noch nicht aufgetaucht sind Fälle, in denen eine Frage nur im Norden und nicht im Süden gestellt wurde.
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dischen) Dialekten. Nur leider blockiert die regionale Beschränkung der Frage generelle Aussagen über ihre tatsächliche Verbreitung in den Dialekten. Bisher konnte nicht rekonstruiert werden, was die Gründe für die regionalen Beschränkungen waren und welche Fragen in welchen Regionen nicht berücksichtigt wurden. Ein praktischer Grund war sicher die Zeitersparnis. Ob diese aber die verlorenen Daten rechtfertigt, sei dahingestellt. Insbesondere vor dem Hintergrund von WEINREICHS Programm, der structural dialectology (WEINREICH 1954), in dem Variation und Statik zur Beschreibung von Diasystemen gleichermaßen wichtig sind, ist diese Entscheidung verstörend unwissenschaftlich.
Karte 4: Progressivausdruck in Frage Nr. 157-010 und deren regionalgebundene Erhebung
4.4 Negative Evidenz: Mittel-Zweck-Relation Negative Evidenz lässt sich mit diesem Korpus selbstverständlich schwieriger messen. Dass eine Form nicht vorkommt, heißt nicht, dass sie nicht verwendet wurde. Ebenso gibt es keine Akzeptabilitätsfragen, die eine Wertung des Sprechers zuließen. Allerdings liegen zu Einzelphänomenen Suggestivfragen nach dem Muster geht auch XY vor. So folgt zum Beispiel auf die Übersetzungsfrage Nr. 065-050 I am afraid that it might fall die optionale Frage (im Fragebuch mit einem punktierten Quadrat markiert) 065-051 ? ער זאָ ל ניט פֿאַ לןer zol nit faln? ‘er soll nicht fallen?’, die offensichtlich dann gestellt wurde, wenn der Informant zuvor keinen negative purpose-Satz (zol nit) produziert hat. In dem speziellen Fall liegen zu 317 InformantInnen Übersetzungen von Satz 065-050 vor. Von diesen produzieren 257 keinen negative purpose-Satz. Auf die Nachfrage 065-051 lehnen von diesen 257 nur 45 InformantInnen die Suggestivform ab; 222 akzeptieren diese. Ablehner finden sich besonders in einem Gebiet im südlichen Südostjiddi-
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schen und im Westjiddischen, sind aber im gesamten Erhebungsgebiet zu finden (siehe Karte 5).
Karte 5: Suggestivfrage 065-051 ? ער זאָ ל ניט פֿאַ לןer zol nit faln
4.5 Einfluss des Interviewers: Partikelspaltung Bei einem genaueren Blick auf die Kartierung von Frage Nr. 065-051in Karte 5 fällt eine Lücke im Gebiet des heutigen Polens ins Auge, in dem nur sehr vereinzelt Antworten vorliegen. Wie bereits erwähnt, waren manche InterviewerInnen auf einzelne Erhebungsräume spezialisiert. Dies kann wie im oben genannten Beispiel dazu führen, dass flächendeckend ein Satz nicht abgefragt wurde, oder aber, wie das folgende Beispiel zeigt, ein anderes Interviewerverhalten zu abweichenden Datensets führt. Dies macht das Material insgesamt sehr heterogen und ist ein bekannter Nachteil der direkten Methode, von dem auch andere Atlasprojekte betroffen sind (vgl. MATHUSSEK 2016). Die Frage Nr. 112-120 pull the hair out of the milk / he pulled one black hair out of the milk beinhaltet zwei Sätze, die übersetzt werden sollten. Zu der Aufgabe liegen 411 Fieldnotes vor, von denen 258 mindestens einen der beiden Sätze vollständig angeben. Doch es besteht eine deutliche Abhängigkeit, wer das Interview führte, ob der Satz wie in (6a) als Imperativsatz mit V1-Kontext übersetzt wurde oder wie in (6b) als V2-Satz. Insbesondere der Interviewer, der in Karte 5 für eine Datenlücke gesorgt hat, hat den Imperativsatz forciert (siehe Karte 6). Im speziellen Fall fehlen uns dadurch in diesem Gebiet Daten zur Partikelstellung von
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aroysnemen „heraus nehmen/ziehen“ bei nicht-V-End-Kontext (vgl. SCHÄFER 2019). (6)
a. NEM AROS DI HU3R F1N DI M1L3X (ID 52205) nem aros di huer fin di milex b. ROT AROJZG81N1M1N- AS+VARC1 HURF1N DE4 M1LE4X (ID 51207) r ot arojs ginimin a švartsi hur fin de milex
Karte 6: Satztyp in den Übersetzungen von 112-120 pull the hair out of the milk in Abhängigkeit zum Erhebungsgebiet eines Interviewers
4.6 Multiple Datensets: Perfektauxiliar Sein Potenzial zeigt das Material aber erst richtig, wenn sich Datensets kombinieren lassen, denn damit wird es erst möglich, vom singulären Kontext zu abstrahieren und Systemräume zu identifizieren. Ein Beispiel hierfür ist die Auxiliarselektion im Perfekt bei existence of state (positional)-Verben. Im Material haben wir die Übersetzungsaufgaben 064-020 we sat on the bench und 163-060 the children lay in their beds, die Daten zur Auxiliarselektion der Verben zitsn ‘sitzen’ und lign ‘liegen’ liefern. Bei solchen existence of state (positional)-Verben ist auf Basis der auxiliary selection hierarchy (ASH) von SORACE (2000) eine besonders hohe Variabilität bezüglich der Auxiliarwahl zu erwarten, die im deutschen Sprachraum eine klare Nord-Süd-Spaltung bewirkt (KELLER / SORACE 2003). Die Fieldnotes liefern nun erstmals flächendeckendes Material und zeigen, dass es auch im Jiddischen zu Arealbildung kommt (siehe Karten 7 und 8). Das
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Auxiliar hobn „haben“ wird v. a. in einem kleinen Gebiet im westlichen Nordostjiddischen gebraucht, während sonst überwiegend zayn ‘sein’ verwendet wird.11 Diese Daten lassen sich nun mit Daten anderer Korpora und Varietäten ergänzen und vergleichen. Zum Beispiel zeigt der Vergleich mit deutschen Varietäten, dass sich weite Teile der jiddischen Dialekte bei den untersuchten Positionsverben ähnlich wie die oberdeutschen Varietäten (mit Ausnahme des Mittelbairischen) verhalten und HABEN als Auxiliar im Norden in Verwendung ist (siehe Karten 9 und 10).
Karte 7: Auxiliarselektion in den Übersetzungen von 163-060 the children lay in their beds
Das Material der Fieldnotes erweist sich damit vor allem dann als besonders wertvoll, wenn mehr als nur ein Satz für ein Phänomen gegeben ist und bestenfalls ergänzendes Material aus anderen germanischen Sprachen bzw. Kontaktsprachen vorliegt.
11 Es mag so wirken, als sei das hobn-Areal im Nordostjiddischen deckungsgleich mit InterviewerInnen-Isoglossen, doch dies ist nicht der Fall.
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Karte 8: Auxiliarselektion in den Übersetzungen von 064-020 we sat on the bench
Karte 9: Auxiliarselektion in LCAAJ-Frage Nr. 064-020 und im Satz „ich habe/bin gesessen“ des „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (http://www.atlas-alltagssprache.de/wpcontent/uploads/2012/05/habe-bin-gesessen.jpg)
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Karte 10: Auxiliarselektion in LCAAJ-Frage Nr. 163-060 und Wenkersatz Nr. 24 (Daten bereitgestellt von Jürg Fleischer, Projekt „Morphosyntaktische Auswertung der Wenkersätze“; auf Grund des Präteritumerhalts sind entsprechende Daten zur Auxiliarselektion aus dem Norden des Sprachgebiets nicht vorhanden)
5 FAZIT UND AUSBLICK Die Arbeit an den jüngst digitalisierten Fieldnotes hat erst begonnen. Das Material ist nicht so homogen, wie man es sich vielleicht wünschen würde. Aber schon jetzt lässt sich sagen, dass die Mitschriften nicht nur eine vernachlässigte, sondern auch eine wichtige Quelle für die Erforschung der jiddischen Dialekte in ihrer historischen Verbreitung darstellen. Wie auch beim Wenkermaterial liegt der entscheidende Vorteil und Wert des Materials nicht in der Dokumentation einzelner Ortsdialekte, sondern in der Gesamtmenge der großflächigen Erhebung. Die Fieldnotes ermöglichen es im Vergleich zu den Tonaufnahmen, schnell und ressourcenschonend Daten zu generieren, deren Auswertung noch einige Überraschungen für das überwiegend anhand literarischer Quellen beschriebene Jiddisch und dessen Dialekte bereit hält. In Zukunft bieten sich vor allem Analysen zu einzelnen Phänomenen an, wie dies bereits in SCHÄFER (2019) und SCHÄFER (i. E.) geschah. Aber auch multidimensionale Analysen bieten sich an. Ebenso steht das Material offen für Auswertungen zu allen Bereichen der Grammatik und Lexik, wie auch zum bisher vernachlässigten ethnologischen Wert des Fragebogens.
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Die Dialektologie des Deutschen hat in den letzten vierzig Jahren eine er hebliche Entwicklung durchlaufen – regiolektale Varietäten des Deutschen rückten dabei immer mehr ins Interesse der Forschung. Zunehmend steht die Frage nach der Entwicklungsdynamik dieser Varietäten im Vordergrund, der sich die Autorinnen und Autoren im ersten Schwerpunkt dieses Bandes widmen: Neben einem Ausblick auf neue Wege in der Regiolektforschung behandeln die Beiträge den regionalen Spracherwerb bei Kindern, die hirn physiologischen Reaktionen bei inter dialektalen Verstehensprozessen, eine Typologie der Akkommodationsstrate gien, den Einfluss des Lebensalters auf
ISBN 978-3-515-12909-1
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7835 1 5 1 2909 1
die Dialektverwendung und den Sprach wandelprozess der RheinMainisierung in ländlichen Regionen. In einem zweiten Schwerpunkt zur Morphologie und Syntax der deutschen Regionalsprachen beschäftigen sich die Beiträge mit dem Konjunktiv II in den bairischen Dialekten Österreichs und Südtirols, der neutralen Genuszuwei sung bei Referenz auf Frauen, Dialekten als idealem Untersuchungsfeld für mor phologische Variation, der differentiel len Kasusmarkierung im Münsterland, der Genus und Kasusprofilierung beim schweizerdeutschen Definitartikel und der Syntax ostjiddischer Dialekte.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag