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German Pages 281 Year 2014
„Nahe ist dir das Wort …“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eISBN 978-3-7917-7045-1 © 2010 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg Satz und Layout: Corinna Schneider, Heidelberg eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg 2014 Weitere Publikationen aus unserem Verlag finden Sie auf www.verlag-pustet.de
Inhalt
Vorwort ..............................................................................................
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Hansjörg Schmid/Bülent Ucar Christen und Muslime als Leser heiliger Schriften Zur Einführung ...................................................................................
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Wolfgang Schäuble Zusammen in Deutschland Zum Dialog zwischen Christen und Muslimen ..................................
I.
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Hermeneutische Grundlagen
Assaad Elias Kattan »Das Meer würde versiegen, ehe die Worte meines Herrn zu Ende gingen!« (Al-Kahf 18,109) Zu Textverständnis und Exegese in Christentum und Islam ...............
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Eckart Reinmuth Offenbarung als Literatur? Bibelinterpretation zwischen Geschichte und Geltung .......................
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Ismail H. Yavuzcan Menschenwort versus Gotteswort? Eine Erwiderung auf Eckart Reinmuth ...............................................
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Burhanettin Tatar Die Relevanz der Koranhermeneutik für das heutige muslimische Leben ....................................................
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Beate Kowalski Parallelen zwischen Koran- und Bibelhermeneutik Eine Erwiderung auf Burhanettin Tatar ..............................................
90
II. Übersetzungen Andreas Obermann Bibeltexte zu neuen Ufern führen Übersetzungen der Heiligen Schrift im Christentum ..........................
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Ömer Özsoy Vom Übersetzen zum Dolmetschen Ein koranhermeneutischer Beitrag zur innerislamischen tarÊama al-qurÞÁn-Debatte .................................................................. 111 Beobachterbericht (Abd el-Halim Ragab) .......................................... 121
III. Feministische Auslegungen Muna Tatari Geschlechtergerechtigkeit und Gender-ÉihÁd Möglichkeiten und Grenzen frauenbefreiender Koraninterpretationen ......................................................................... 129
Kerstin Rödiger Die Leserin entscheide! Chancen und Grenzen feministischer Interpretationsparadigmen ...... 144 Beobachterbericht (Barbara Bürkert-Engel) ....................................... 159
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IV. Interdependente Interpretationen Stefan Schreiner Der Koran als Auslegung der Bibel – die Bibel als Verstehenshilfe des Korans ........................................... 167
Abdullah Takım Offenbarung als »Erinnerung« (aÆ-Æikr) Die Einheit der Offenbarungsreligionen und die Funktion der biblischen Erzählungen im Koran ................................................ 184 Beobachterbericht (Ya¢ar Sar¤kaya) ................................................... 197
V. Deutungsmonopole Serdar Güne¢ Hermeneutik als Generalschlüssel Zum Verlauf einer Verschiebung vom Rand in die Mitte des theologischen Diskurses ........................................... 205
Roman A. Siebenrock Kirche als Einheit pluraler Instanzen des Glaubenszeugnisses Schriftauslegung in der Perspektive katholischer Theologie .............. 215 Beobachterbericht (Michael Bongardt) .............................................. 227
VI. Gemeinsame Hermeneutik Enes Karić Eine gemeinsame Hermeneutik der Verständigung für unsere gegenwärtige Zeit .............................................................. 235
Klaus von Stosch Wahrheit und Methode Auf der Suche nach gemeinsamen Kriterien des rechten Verstehens heiliger Schriften ........................................... 244 7
Andreas Renz/Abdullah Takım Schriftauslegung in Christentum und Islam Zusammenfassende und weiterführende Reflexionen ........................ 261
Autorinnen und Autoren ..................................................................... 276
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Vorwort
Christen und Muslime sind mit vergleichbaren Schwierigkeiten bei der Schriftauslegung konfrontiert – so das Fazit der fünften christlichmuslimischen Fachtagung des Theologischen Forums Christentum – Islam an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die vom 6. bis 8.3.2009 stattfand. 125 christliche und islamische Theologen aus zwölf Ländern diskutierten über hermeneutische Fragen der Auslegung von Koran und Bibel. Das Theologische Forum Christentum – Islam wird seit seiner Entstehung im Jahr 2003 vom Bundesministerium des Innern gefördert. Vor diesem Hintergrund war es sehr erfreulich, dass Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble unserer Einladung nach Stuttgart-Hohenheim persönlich nachkam. Schäuble ging in seinem Vortrag davon aus, dass das Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland immer noch etwas Ungewohntes sei. »Zu selten wird bei Islam an positive Werte gedacht wie Friedfertigkeit, mit denen die Muslime einen Beitrag zum Gemeinwesen leisten können« – so der Minister. Der christlich-islamische Dialog könne das monolithische Bild des Islams überwinden, indem in ihm auch islaminterne Debatten öffentlich würden. Im Dialog könne zudem über Erwartungen der Aufnahmegesellschaft gesprochen werden. Schäuble sprach sich in diesem Zusammenhang erstmals öffentlich für den Aufbau einer islamisch-theologischen Fakultät an einer deutschen Universität aus. Eine solche Fakultät, an der Imame, Theologen und Religionslehrer ausgebildet werden könnten, wäre ein Schlüssel zur Integration der Muslime. Eine islamisch-theologische Fakultät würde zur Fortentwicklung muslimischer Theologie in deutscher Sprache beitragen. Trotz der Länderzuständigkeit stellte Schäuble auch eine mögliche finanzielle Unterstützung des Bundes für eine solche Fakultät in Aussicht. Damit trug Schäuble dem wichtigen Anliegen des Theologischen Forums Rechnung, entsprechende universitäre Strukturen für eine theologischwissenschaftliche Artikulation der Muslime in Deutschland aufzubauen, die einen entscheidenden Schritt zur Integration darstellt. 9
Viele Muslime, die sich bereits seit Jahren bei dieser Aufbauarbeit engagieren, haben auch an der Tagung mitgewirkt. Die Tagung wurde wie gewohnt von einem christlich-muslimischen Team vorbereitet und geleitet, dem außer den Herausgebern dieses Bandes Prof. Dr. Klaus Hock, Kays Mutlu M.A., Dr. Jutta Sperber, Prof. Dr. Abdullah Takım und Katrin Visse M.A. angehörten. Die Beiträge des Bandes entspringen einem gemeinsamen Prozess des Nachdenkens, spiegeln aber zugleich auch eine Vielzahl an Positionen wider und werden in inhaltlicher Hinsicht von ihrem jeweiligen Autor verantwortet. Wir danken zunächst den Autoren der vorliegenden Publikation, die sich auf umfangreiche Diskussionen ihrer Beiträge unter den Herausgebern eingelassen haben. Weiterhin gilt unser Dank dem Bundesministerium des Innern für die finanzielle Förderung der Tagung und die stetige Wertschätzung unserer Arbeit – zu nennen sind besonders Gabriel Goltz M.A. und Leila Donner-Üretmek. Zu danken ist ferner Dr. Rudolf Zwank vom Verlag Friedrich Pustet für die gute Zusammenarbeit und das große Interesse an unseren Tagungsbänden. Für Korrekturen, Lektorat und Erstellung der Druckvorlage danken wir Mohammad Gharaibeh M.A., Corinna Schneider und Christa Wassermann, die sich mit großer Sorgfalt um eine gute Lesbarkeit und das äußere Erscheinungsbild des Bandes gekümmert haben. Wir wünschen uns, dass das Buch wie auch die vorausgehenden Bände zahlreiche und fruchtbare Diskussionen anstößt. Stuttgart/München/Osnabrück, im August 2009 Hansjörg Schmid Andreas Renz Bülent Ucar
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Christen und Muslime als Leser heiliger Schriften Zur Einführung Hansjörg Schmid/Bülent Ucar
Der vorliegende Band ist mit dem Titel »Nahe ist dir das Wort …« überschrieben. Dieser Satz beschreibt eine Relation zwischen dem Wort und einem Du. Es handelt sich um ein Zitat aus dem jüdischen Buch Deuteronomium, die auch als »Mitte des Alten Testaments« bezeichnete Komposition von Mosereden, auf dem Muslime und Christen auf je eigene Art aufbauen: »Nahe ist dir das Wort, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.« (Dtn 30,14; vgl. Röm 10,8) Die Nähe des Wortes, womit hier das mosaische Gesetz bezeichnet wird, ergibt sich aus der Rezitation (Mund) und dem Auswendiglernen (Herz als Ort des Gedächtnisses) (vgl. Dtn 6,6 f.; 11,18).1 Der Vers steht für eine Verinnerlichung und umschreibt eine von Nähe geprägte Gottesbeziehung, die das Halten der Gebote ermöglicht. Vergleichbar mit dieser Aussage betont der Koran mehrfach die Nähe Gottes, der den Menschen erhöht und ihm sogar näher als die Halsschlagader ist (Sure 2,186; 11,61; 34,50; 50,16; vgl. auch Dtn 4,7).2 Auch wenn es in der islamischen Überliefe-
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Vgl. dazu Georg Braulik, Deuteronomium, Bd. 1: 1–16,17, Würzburg 1986, 56 f., 90, sowie Bd. 2: 16,18–34,12, Würzburg 1992, 219; ders., Ausdrücke für »Gesetz« im Buch Deuteronomium, in: ders., Studien zur Theologie des Deuteronomiums, Stuttgart 1988, 11–38, 19–21. Zur jüdischen Auslegung vgl. Daniel Krochmalnik, Schriftauslegung – die Bücher Levitikus, Numeri und Deuteronomium im Judentum, Stuttgart 2003, 263. Vgl. Kenneth Cragg, Mit Muslimen über das Gebet nachdenken. Theologie als Vorhof der Anbetung, in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Jutta Sperber (Hg.), »Im Namen Gottes ...« Theologie und Praxis des Gebets in Christentum und Islam, Regensburg 2006, 21–35.
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rung kein explizites Pendant zu Dtn 30,14 gibt, entspricht ihm die Erfahrung der Gottesnähe, die Muslime bei der Rezitation des Korans erleben.3 Nähe entsteht durch die Begegnung mit dem Wort im Hören, Lesen und Rezitieren. Eine Vertiefung und Radikalisierung findet diese Aussage in der literaturwissenschaftlichen Einsicht, dass die »Leser« auch eine zentrale Rolle für die Bedeutungskonstitution von Texten spielen, welche erst in der Aktualisierung durch die Leser zum Text werden. In der hermeneutischen Diskussion beider Religionen wird darauf zurückgegriffen.4 Dtn 30,14 mit seiner Versicherung der Nähe des Wortes wurde als Titel gewählt, da es um die Spannung von Nähe und historischer Distanz gehen soll. Einführend ist zunächst auf die Vergleichsgegenstände Bibel und Koran, Ergebnisse anderer Dialogprojekte sowie auf den aktuellen Diskussionsstand in Bezug auf Methoden der Bibel- und Koranauslegung einzugehen.
1. Vergleich von Bibel- und Korantexten? Über die Angemessenheit von Vergleichsgegenständen zu reflektieren, ist eine wichtige Voraussetzung des Dialogs. Es gehört zu den oft wiederholten Aussagen im christlich-islamischen Dialog, dass der von den Muslimen als Verbalinspiration Gottes angesehene Koran nicht der Bibel entspricht. Auch wenn Christentum und Islam häufig als »Schrift- oder Buchreligionen« bezeichnet werden,5 ist der unterschiedliche Stellenwert von Bibel und Koran für den Umgang mit diesen Texten nicht unbedeutend. Werden also Äpfel mit Birnen verglichen, wenn man Koran- und Bibeltexte einander gegenüberstellt?6 Muss man nicht vom Offenbarungsverständnis ausgehend den Koran mit der Person Jesu vergleichen, 3 4
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Vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000, 217. Vgl. z. B. Burhanettin Tatar, Das Problem der Koranauslegung, in: Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Felix Körner, Freiburg 2006, 104–124; Ulrich H. J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994; aus der Sicht der Literaturwissenschaft Sven Strasen, Rezeptionstheorien. Literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze und kulturelle Modelle, Trier 2008. Vgl. Ulrich Dehn, Das Spezifische der »Buchreligionen«, in: Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen – Materialdienst 68 (2005), 43–51. Vgl. Helga Lutz/Jan-Friedrich Mißfelder/Tilo Renz (Hg.), Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006.
das Neue Testament eher mit der Sira-Literatur bzw. den kanonischen Sammlungen?7 Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes ist nicht die jeweilige Offenbarungstheologie, sondern die Rezeptionssituation der Texte. Auch besteht der Vergleichszweck gerade nicht darin, Abhängigkeiten oder Überlegenheiten nachzuweisen.8 Hier findet kein Vergleich der Offenbarungskonzepte statt, sondern der Rezeptionsvorgänge. Trotz des unterschiedlichen dogmatischen Stellenwerts von Bibel und Koran finden sich jeweils vergleichbare hermeneutische Ausgangsbedingungen für die Rezeption: Die kanonischen Texte von Christen und Muslimen sind in einem kulturellen Umfeld entstanden, das heute vielen Menschen fremd ist. Gleichzeitig erheben sie den Anspruch, eine zeitlos und universal gültige Lebensorientierung zu bieten. Diese Distanz zwischen Geschichtlichkeit und aktuellem Lebensbezug zu überbrücken, ist Aufgabe von Übersetzung und Interpretation, die selbst wiederum kontextuell bedingt sind. Eine Auslegung und Aktualisierung der Schriften hat es sowohl im Christentum wie im Islam von Anfang an gegeben. Es handelt sich nicht um ein Spezifikum christlicher Theologiegeschichte. Koranexegese fängt nicht mit der modernen Hermeneutik an, sondern hat eine lange Tradition in der islamischen Wissenschaftsgeschichte. Das wörtliche Verständnis koranischer Texte bildet nur einen unter vielen Zugängen zum Koran. Der Islam kennt die Auslegung und Exegesekultur über eine eigene Wissenschaft, genannt tafsÐr und uÒÙl at-tafsÐr. Diese Wissenschaft ist keineswegs als Reaktion auf die westliche Moderne entstanden und hat Tausende von Werken in der Geschichte hervorgebracht.9 Zwar sind die konkreten Auslegungen in der Regel stark zeitgebunden, die Vielfalt der 7 8
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Vgl. Andreas Renz, Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie, Würzburg 2002, 83 f., 477. Vgl. Christoph Bochinger, Religionsvergleiche in religionswissenschaftlicher und theologischer Perspektive, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichtsund Kulturwissenschaften, Frankfurt/New York 2003, 250–281, 268–280. Vgl. dazu einführend Helmut Gätje, Koran und Koranexegese, Zürich 1971; Andrew Rippin, The QurÞan and its Interpretative Tradition, Aldershot 2001; ders. (Hg.), Approaches to the History of the Interpretation of the QurÞan, Oxford 1988; Abdullah Takım, Koranexegese im 20. Jahrhundert: Islamische Tradition und neue Ansätze in Süleyman Ateş’s »Zeitgenössischem Korankommentar«, Istanbul 2007; Ignaz Goldziher, Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1920.
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Auslegung ist jedoch nicht zu bezweifeln. Ohne Auslegung und Übertragung kann es schließlich durchaus sein, dass Texte den Realitätsbezug und ihre Bedeutung für Menschen aufgrund sich wandelnder Lebensumstände verlieren und wörtlich verstanden zu blinder Nachahmung und Erstarrung führen.
2. Bibel-Koran-Lektüren in anderen Dialogprojekten Die Beschäftigung mit Koran und Bibel hat auch in anderen Dialogprojekten eine zentrale Rolle gespielt. Dies soll anhand von zwei herausragenden Beispielen kurz dargestellt werden:10 Der erste von der französischsprachigen »Groupe de recherches islamo-chrétien« (GRIC) verfasste Band hat die »Befragung« durch die Schriften zum Thema.11 Die unübertroffene Besonderheit des Buchs besteht darin, dass es sich um einen von Muslimen und Christen gemeinsam verantworteten Text handelt. Hier findet jeweils eine intensive Auseinandersetzung mit der Schrift des anderen statt. Koranlektüre kann für Christen eine tiefe Gotteserfahrung bedeuten (103). Trotz vorhandener Widersprüche können Christen aufgrund der Fruchtbarkeit des Korans darin einen Ausdruck des Gotteswortes nicht nur für Muslime, sondern für alle Menschen sehen (109). Der Koran stellt eine zugleich authentische und andersartige Gottesrede dar (117), die christliche Leser wieder auf ihre eigene Schrift verweist (115). Umgekehrt können muslimische Leser gerade im Neuen Testament Werte wie Liebe oder Vergebung finden, die im Koran zwar nicht abwesend, aber im muslimischen Kontext nicht ausreichend entwickelt wurden (137). Auch wenn Muslime ihre Offenbarung vorziehen, besteht für sie kein Grund, die Bibel abzulehnen oder zu disqualifizieren (139). In einem späteren Band ist von einer dialektischen Hermeneutik zwischen Quellen und gegenwärtiger Situation die Rede, die Christen und Muslime verbindet.12 10 11
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Vgl. Hansjörg Schmid, Theologische Fragen im christlich-islamischen Verhältnis. Eine aktuelle Standortbestimmung, in: ThRv 103 (2007), 89– 112, 102–104 und 106 f. Groupe de recherches islamo-chrétien, Ces Ecritures qui nous questionnent. La Bible & le Coran, Paris 1987 (engl. Muslim-Christian Research Group, The Challenge of the Scriptures. The Bible and the QurÞan, Maryknoll 1987). Ders., Foi et justice. Un défi pour le christianisme et pour l’Islam, Paris 1993, 313.
Die zweite Tagung der von der anglikanischen Kirche in England organisierten internationalen Dialogreihe »Building Bridges« hatte die gemeinsame Auseinandersetzung mit Bibel und Koran zum Thema.13 Die Offenheit gegenüber den Schrifttexten der anderen Religion löst Ignoranz und Verfälschungsvorwürfe ab (50). Bemerkenswert und sehr aussagekräftig ist der erste Teil des Bandes, in dem jeder der 20 Teilnehmer kurz seinen persönlich-biographischen Zugang zu seiner heiligen Schrift darstellt. Es folgen neben den sechs Hauptvorträgen Dialoge über Bibelund Korantexte, die auf Arbeitsgruppen während der Tagung zurückgehen. Die Übersetzung der Schriften in einen anderen historischen Kontext wird exemplarisch anhand der Rolle der Frau behandelt. Programmatisch heißt es am Ende des Bandes: »Reading scripture in the company of the Other underlines the importance of a certain humility in exegesis.« (145) Nicht erst die Beschäftigung mit der Schrift des anderen, sondern bereits die Auslegung der eigenen Schrift im Angesicht des anderen eröffnet neue Perspektiven. Beide Bände belegen, dass ein konstruktiver Zugang zum Thema möglich ist. Der Weg eines Dialogs anhand konkreter Schrifttexte wird hier bewusst (noch) nicht gegangen, da dieser zahlreiche hermeneutische Vorentscheidungen erfordert. Ähnlich wie bei GRIC geht es hier um eine Grundlegung, die jedoch thematisch auf die Rezipienten ausgerichtet und entsprechend den Strukturen des Theologischen Forums Christentum – Islam pluraler angelegt ist.
3. Zur aktuellen Methodendiskussion Religionen im Sinne von verschiedenen Glaubens- bzw. Deutungssystemen und Lebensweisen haben in der Geschichte vielen Menschen Hilfe und Orientierung gegeben. Sie haben jedoch auch gleichzeitig als Abgrenzung gegenüber Andersdenkenden und Diffamierungsmittel gedient. Sie berufen sich auf Texte, die jedenfalls nach heutiger Wahrnehmung mit den Menschenrechten nicht kompatibel sind. Sklaverei, Ungleichbehandlung von Frauen und religiösen Minderheiten, drakonische Strafen etc. bilden wörtlich verstanden einen Widerspruch zu den Normen des Grundgesetzes und der Menschenrechte. Die historisch-kritische Metho-
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Michael Ipgrave (Hg.), Scriptures in Dialogue. Christians and Muslims Studying the Bible and the QurÞan Together, London 2004.
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de stellt einen Versuch dar, diese Aussagen als geschichtlich-kontextuell bedingt zu erklären. Die Auseinandersetzung über die historisch-kritische Methode in der Bibelwissenschaft kann auf eine lange Geschichte seit dem 18. Jahrhundert zurückblicken.14 Grundlage der historisch-kritischen Methode war die von der Profangeschichte ausgehende Veränderung der Geschichtsauffassung, welche Geschichte nicht mehr als fest gefügte, zeitlose, transzendent abgeleitete, absolut gültige normative Wahrheiten, sondern als vorurteilslos zu betrachtende Phänomene erachtete. Als im Menschenwort historisch gewordenes Gotteswort konnte dann auch die Bibel Gegenstand kritischer Untersuchung werden. Grundeinsichten dieses Ansatzes sind heute etabliert. Die Frage der Aktualisierung und der theologischen Anschlussfähigkeit ist jedoch weiterhin offen.15 Paul Ricœur hat herausgearbeitet, dass auch die vermeintlich ›wahre‹ Geschichte als eine erzählte und interpretierte Zeit stets von der Fiktion durchwirkt ist, und spricht von einer »Überkreuzung von Historie und Fiktion«16. Während die historische Entstehung und der Wachstumsprozess biblischer Texte unstrittig sind, wird heute die Rekonstruierbarkeit von Vorstufen der vorliegenden kanonischen Texte zunehmend hinterfragt. Die historisch-kritische Methode unterliegt selbst dem geschichtlichen Wandel, so dass sie inzwischen von anderen Ansätzen ergänzt und angefragt wird. Der linguistic turn des 20. Jahrhunderts markiert schließlich die Ablösung der historischen Wissenschaft als Leitdisziplin. Ergebnis ist eine Methodenvielfalt.17 So ist die Diskussion in den Bibelwissenschaften 14
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Vgl. dazu einführend John William Rogerson/Bernd Jörg Diebner, Art. Bibelwissenschaft I. Altes Testament 2. Geschichte und Methoden, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 16, 346–374, 350 ff.; Otto Merk, Art. Bibelwissenschaft II. Neues Testament, in: ebd. 375–409, 381 ff. Vgl. Joachim Kügler, Entweihung der Schrift? Die bleibende Provokation der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 157 (2009), 146–153; Michael Theobald, Offen – dialogisch – (selbst-)kritisch. Die grundlegende Bedeutung historisch-kritischen Arbeitens für die theologische Auslegung des Neuen Testaments, in: Bibel und Kirche 63 (2008), 240–245; Angelika Reichert, Offene Fragen zur Auslegung neutestamentlicher Texte im Spiegel neuerer Methodenbücher, in: Theologische Literaturzeitung 126 (2001), 993–1006. Paul Ricœur, Zeit und Erfahrung, Bd. 3: Die erzählte Zeit, München 1991, 294. Vgl. auch Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt 1991, 289–304. Vgl. Steven L. McKenzie/Stephen R. Haynes (Hg.), To Each Its Own Meaning. An Introduction to Biblical Criticisms [sic!] and their Application, Lou-
davon geprägt, dass der historisch-kritischen Methode kein Alleinvertretungsanspruch mehr zukommt, sondern dass sie um sprach-, literaturund sozialwissenschaftliche Ansätze erweitert wurde. Selten wird sie noch in Reinform praktiziert, vielfach werden andere Ansätze integriert oder komplette Alternativen gesucht.18 Auch der Islam kennt verschiedene Zugänge zum Koran. Zeitgleich zur Kolonialisierung der islamischen Welt im 19. Jahrhundert lassen sich Aktivitäten von muslimischen Modernisten feststellen, die die Möglichkeit auszuloten versuchten, den Koran an die veränderten politischen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen anzupassen. Die entsprechende Debatte setzte sich im 20. Jahrhundert fort, nachdem viele Staaten die Unabhängigkeit erlangt hatten. Mit zunehmender Industrialisierung und Verstädterung veränderten sich die sozio-ökonomischen Bedingungen vollständig; zudem begann man in den muslimischen Gesellschaften, insbesondere auf Seiten der elitären Führungskräfte, intensiv westliche Weltanschauungsmuster zu rezipieren. Beides gab schließlich den Anstoß für eine bis heute anhaltende leidenschaftliche Debatte über Status, politische Bedeutung und konkrete Ausgestaltung der Koranexegese und der Scharia. Neben dem rationalistischen Zugang waren vor allem Annäherungen auf der Grundlage der modernen Naturwissenschaften äußerst beliebt bei den Muslimen jener Zeit. Später ging die Entwicklung von politisch-ideologischen Auslegungen und literaturkritischen sowie themenbezogenen Zugängen bis hin zu semantischen und historisch-hermeneutischen Bezügen im Umgang mit dem Korantext. Ob und welche Auslegungsart sich durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.19 Unter den
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isville 1993, bis hin zu Patrick Chatelion Counet, One Text, a Thousand Methods. Studies in Memory of Sjef van Tilborg, Boston u. a. 2005. Vgl. Stefan Alkier/Ralph Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion, Tübingen/Basel 1998. Vgl. die integrative Umsetzung in Methodenbüchern – z. B. Martin Ebner/Bernhard Heininger, Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis, Paderborn u. a. 22007; Helmut Utzschneider/Stefan Ark Nitsche, Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 2001, 59–112. Einen Methodenbaukasten ohne Gesamtsystem bietet Georg Fischer, Wege in die Bibel. Leitfaden zur Schriftauslegung, Stuttgart 2000. Bülent Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft. Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005, 54 f. Für weitere Quellen vgl. auch ders., Moderne Koranexegese und die Wandelbarkeit der Scharia in der aktuellen Diskussion der Türkei, Habilitationsschrift, Erlangen 2008.
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gegenwärtigen Zugängen sind im Blick auf den europäischen Kontext besonders Nasr Hamid Abu Zaid20 und die türkische Diskussion um die sogenannte Ankaraner Schule21 hervorzuheben. Dort finden sich klar historisch ausgerichtete Zugänge: »Schaut man aber aus einem geschichtlichen Blickwinkel, so muss man eingestehen, dass im Koran vom Schlagen der Frau, vom Kriegführen, vom Handabhacken des Diebes und von der Kopfbedeckung der Frau die Rede ist. Wiederum trägt die geschichtliche Perspektive in sich die Möglichkeit, sich als Muslim zu modernisieren, indem sie diese Verse auf ihren geschichtlichen Kontext zurückführt und die übergeschichtlichen Prinzipien und Ziele hinter den geschichtlichen Geboten sieht.«22 Dieses Zitat bringt die Ambivalenz eines historischen Zugangs treffend zum Ausdruck: Einerseits ist die historische Distanzierung befreiend, andererseits bleibt die Relevanz der entsprechenden Texte für heute offen.
4. Themen und Fragestellungen Im ersten Teil werden hermeneutische Grundlagen behandelt. Ziel ist es, Grundlinien exegetischer Traditionen in beiden Religionen herauszuarbeiten und nach Ähnlichkeiten oder gar Querverbindungen zu fragen. Sodann geht es um die Christen und Muslimen gemeinsame Frage, wie die Kluft zwischen Geschichtlichkeit der Schrift und heutigem Lebensbezug überwunden werden kann. Im zweiten Teil geht es um »Übersetzungen«, die in einem engen Zusammenhang mit dem Schriftverständnis stehen. Der Koran gilt für Muslime als unnachahmbar und somit in seiner Schönheit unübersetzbar. Dennoch wurde der Koran wie die Bibel im Laufe der Geschichte in verschiedene Sprachen übersetzt, um die Botschaften verständlich zu machen. Die Moderne zeigt einen Zuwachs an Übersetzungen und Kommentaren in die modernen Nationalsprachen. Diese spiegeln nicht nur verschiedene Verständnisse der jeweiligen heiligen Schriften wider, 20 21 22
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Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Gottes Menschenwort: Für ein humanistisches Verständnis des Koran, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Thomas Hildebrandt, Freiburg 2009. Felix Körner, Können Muslime den Koran historisch erforschen? Türkische Neuansätze, in: Theologische Zeitschrift 61 (2005), 226–238. Ömer Özsoy, Koranhermeneutik als Diskussionsthema in der Türkei, in: www.akademie-rs.de/fileadmin/user_upload/pdf_archive/schmid/TFCI/Fach gespraech_Oezsoy/Artikel__zsoy_7-05.pdf, 13.
sondern implizieren auch je spezifische Intentionen der Übersetzung. Wie sind die Funktion, Möglichkeiten und Grenzen von Übersetzungen zu bestimmen? Der dritte Teil ist »feministischen Auslegungen« gewidmet. Eine der Besonderheiten von Bibel und Koran ist die ihnen zugetraute Kraft, dass dieselben Texte, die Unterdrückung von Frauen erzeugen oder legitimieren, aus genau dieser wiederum befreien können. Am anthropologisch zentralen Beispiel der Erschaffung von Mann und Frau werden verschiedene Zugänge zu Bibel und Koran erprobt. Welche befreienden Lesarten kann eine solche Exegese aufzeigen, und welche diskriminierenden Mechanismen kann sie deutlich machen und überwinden? Wie können Lesarten beider Texte einander Anregung bieten? Im vierten Teil geht es um »Interdependente Interpretationen« von Bibel und Koran.23 Christen und Muslime bilden hinsichtlich ihrer heiligen Schriften getrennte Lesegemeinschaften. Zwar enthält der Koran vieles, was an biblische, nach- und außerbiblische jüdische und christliche Überlieferungen erinnert, zum Teil deutet er sie aber nur an, kontextualisiert sie neu und verarbeitet sie eigenständig. Die Bibel ist Teil der Vorgeschichte des Korans, der Koran ist Teil der Wirkungsgeschichte der Bibel. Daraus ergibt sich die Frage nicht nur nach den Beziehungen zwischen biblischen und koranischen Texten und deren Bedeutung für die Interpretation (»intertextuelle Auslegung«), sondern ebenso auch nach dem christlich-islamischen Verhältnis. Wie und mit welchem Ziel können Christen den Koran, Muslime die Bibel lesen? Welche Konsequenzen ergeben sich dabei aus ihren unterschiedlichen Verständnisvoraussetzungen? »Deutungsmonopole« bei der Auslegung von Bibel und Koran sind das Thema des fünften Teils. Im Laufe der Jahrhunderte sind bei der Auslegung von Koran und Bibel jeweils bestimmte Deutungstraditionen in den Vordergrund getreten, während andere verworfen oder marginalisiert wurden. Aufgrund dieser Verdrängungs- und Verdichtungsprozesse haben sich gewisse »Deutungsmonopole« herausgebildet – Konglomerate von Akteuren, Mechanismen, Institutionen und Diskursen, die beanspruchen, die einzig richtige und gültige Lesart der jeweiligen heiligen Schrift zu vertreten. Wie konnte es dazu kommen? Wie entsteht ein »Mainstream«, wie verhält er sich zu Randpositionen? In welchem Ver23
Hans Zirker, Interdependente Interpretation biblisch-koranischer Motive, in: Hans-Martin Barth/Christoph Elsas (Hg.), Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen Dialog, Hamburg 1997, 113–126.
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hältnis stehen verschiedene Erkenntnisprinzipien zueinander – Schrift, Tradition, Lehramt, Glaubenssinn des Gottesvolkes oder individuelle Schriftgläubigkeit? Weshalb und wie wurden bestimmte Deutungstraditionen ausgeschlossen – so etwa durch Kanonbildung, redaktionelle Festlegungen oder Sammlungen verbindlicher Überlieferungen? Abschließend stellt sich im sechsten Teil die Frage einer »gemeinsamen Hermeneutik«. Kann es so etwas geben? Bestünde sie in einer Verständigung auf gemeinsame philosophische Grundannahmen? Dabei geht es um zwei Blickrichtungen: Wie den eigenen Text vor dem Hintergrund der anderen Religion verstehen (der Muslim bzw. Christ schaut über die Schulter)? Welche Rolle spielt das Verständnis des anderen Texts für das eigene religiöse Selbstverständnis?
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Zusammen in Deutschland Zum Dialog zwischen Christen und Muslimen Wolfgang Schäuble
Die Frage nach dem Verstehen und der Auslegung von Texten ist mir nicht unbekannt, denn auch Juristen beschäftigen sich mit der Frage, was ein Text ursprünglich gemeint haben könnte und wie ein Text in der Gegenwart anzuwenden ist. Ohne eine Interpretation, die die jeweiligen Umstände berücksichtigt, verlieren Texte ihren Bezug zur Wirklichkeit. Das gilt für juristische Texte genauso wie für die Urtexte der Weltreligionen. Deshalb ist die Frage nach der richtigen Auslegung von Texten auch so zentral für jede schriftgebundene Kultur und Gesellschaft. Dabei kann eine gewisse Zurückhaltung in der Frage von »richtig« oder »falsch« nicht schaden. Natürlich fließt in unsere Auslegung immer Eigenes und auch Zeit- und Persönlichkeitsspezifisches mit ein. Mit den Antworten, die wir geben, gestalten wir die Welt mit, in der wir leben. Ich meine das nicht nur im philosophischen Sinne, sondern auch ganz praktisch. Der Satz gilt auch für das tägliche Miteinander. Religiöse Deutungen gehen oft mit Geboten und Verboten einher, die sich auf das Verhalten der Gläubigen auswirken. Umgekehrt sind die Religionen damit konfrontiert, auf soziale Fragen Antworten zu finden, die sich in den Zeiten der Überlieferung religiöser Urtexte so nicht stellten. Das führt dann gar zu Spannungen zwischen dem, was als wahr überliefert ist, und dem, was an neuen Anforderungen auf den Menschen immer wieder zukommt. Das gilt erst Recht, wenn sich die Umstände, unter denen Menschen miteinander leben, so grundlegend ändern wie in den letzten zweihundert Jahren. Theologen, Rechtsgelehrte, Religionswissenschaftler, alle stehen heute vor größeren Herausforderungen an ihre Fähigkeit zur Auslegung und Interpretation als in den vielen Jahrhunderten vor Beginn der Industrialisierung. Der technische Fortschritt bis hin zur Informationsrevolution unserer Zeit hat die menschliche Lebensweise grundlegend verändert. Viele meinten deshalb, die Religionen würden irgendwann einmal irrele21
vant. Und manche in Europa haben sich sogar angewöhnt, Religion als rückständig anzusehen. Tatsächlich erleben wir gerade das Gegenteil: Viele Menschen besinnen sich auf die Religionen und ihre Werte, weil sie Orientierung und Halt geben in einer Welt immer schnellerer Umbrüche. Je wichtiger aber Religion für den Einzelnen und für uns als Gesellschaft wird, desto wichtiger wird auch, dass die Religionen sinnhafte Antworten auf die Anforderungen der Moderne an den Menschen geben. Nun ist das für jede Religion an sich schon eine schwere Aufgabe. Noch schwieriger wird es, wenn Anhänger verschiedener Religionen in einem dicht besiedelten Land leben und es bisher nicht gewohnt waren, miteinander zu leben. Jede Religion hat schließlich den Anspruch, wahr zu sein. Wenn die Religionen verschiedene Antworten auf die gleichen Fragen geben und dazu noch unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten dieser Antworten hinzutreten, ist das nicht weiter ungewöhnlich. Es kann aber zu sehr verschiedenen Auffassungen führen, nach welchen Regeln sich das zivile Zusammenleben vollziehen soll. Religiöse Heterogenität kann dann dazu führen, dass unsere Gesellschaften konfliktreicher werden. Sie kann also zur Herausforderung werden für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist in der europäischen Geschichte nicht neu, gerade wenn wir die Geschichte der Reformation und des Verhältnisses von Katholizismus und Protestantismus in Deutschland betrachten. Angesichts dieser Jahrhunderte dauernden historischen Entwicklungen sollten wir nicht erwarten, dass wir in Deutschland Probleme im Zusammenleben in ein oder zwei Jahren regeln könnten. Ein wenig mehr Bescheidenheit und Geduld ist vonnöten. Deshalb ist es wegweisend für ein gutes Miteinander, wenn Gläubige und Gelehrte verschiedener Religionen der Frage nach dem richtigen Verstehen gemeinsam nachgehen. Sie stellen sich einer doppelten Herausforderung, indem Sie sich im Rahmen eines interreligiösen Dialogs mit der Methode der Hermeneutik befassen: Sie gehen der Frage nach dem richtigen Verstehen der heiligen Texte im Hier und Heute nach. Sie bemühen sich um ein interreligiöses Sich-Verständigen über das Verstehen dieser Texte. Davor habe ich großen Respekt und große Hochachtung. Und deshalb habe ich auch gerne Ihre Einladung angenommen, einige Gedanken zum Dialog aus der Sicht des Staates vorzutragen. Ich bin dabei ehrlich gesagt froh, dass von mir nicht verlangt werden kann, Schiedsrichter in Glaubensfragen zu sein. Als Vertreter eines weltanschaulich und religiös neutralen Staates steht es mir nicht zu, den Wahrheitsanspruch von Christen und Muslimen oder von Anhängern 22
einer anderen Religion zu bewerten. Die Aufgabe des Staates ist vielmehr, Konflikte, die ein solcher Wahrheitsanspruch bergen kann, verhüten zu helfen. Dafür haben wir in der europäischen Geschichte den Staat gebraucht, zumindest für das Zusammenleben der Christen. Das bessere Verstehen und Verständnis zwischen den Religionen ist dem religiös neutralen Staat ein Anliegen, weil es einem guten Miteinander und Zusammenleben dient. Deshalb fördert der Staat auch den Dialog der Religionen. Schon dass es diesen Dialog gibt, dass er von Anhängern verschiedener Religionen gesucht wird, ist wichtig. Denn das Teilnehmen an einem solchen Gespräch setzt ja die Erkenntnis voraus und auch das Eingeständnis, dass es außerhalb und komplementär zur eigenen Offenbarungswirklichkeit eine Grundlage für Verständigung geben muss, zum Beispiel das rationale Argument. Darin kommen zwei Annahmen zum Ausdruck: Erstens, dass zu glauben nicht bedeutet, die Vernunft beiseite zu lassen. Und zweitens, dass es zwischen den Religionen eine gemeinsame Basis geben kann. Beides ist von entscheidender Bedeutung für das Miteinander in einem säkularen und weltanschaulich neutralen Staat. Denn ohne diese Basis des Dialogs kann es am Ende keine dauerhafte Anerkennung religiöser Vielfalt geben, die über das Tolerieren anderer Glaubensgemeinschaften hinausreicht. Aber bloßes Tolerieren wäre zu wenig für ein gutes Miteinander. Denn das verlangt auch gegenseitigen Respekt und das wechselseitige Anerkennen. Das Interesse des Staates am interreligiösen Dialog ist aber noch grundlegender. Der Staat sieht in den Religionen nämlich nicht zuerst eine potentielle Gefahr für das Miteinander, sondern eine Quelle von Orientierung und Gemeinschaftlichkeit. Die Ordnung des Grundgesetzes sagt, es ist eine säkulare Ordnung. Das heißt aber nicht, dass Religion für das Leben in dieser Ordnung und auch für die Prinzipien unseres freiheitlichen Rechtsstaats unerheblich wäre. Nach unserem Verständnis ist der säkulare Staat auf die sinnstiftende Kraft von Religion angewiesen. Nur aus Vernunft ergibt sich kein gutes Miteinander. Deshalb haben wir in Deutschland eine säkulare Ordnung, aber keinen säkularistischen Staat. Anders als etwa in Frankreich wirkt unser Staat mit den Religionsgemeinschaften zusammen. Und selbst in Frankreich denkt Präsident Sarkozy laut über eine Neubewertung des Verhältnisses zur Religion nach. In Deutschland ist der religiöse Bekenntnisunterricht, wie er in Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes geregelt ist, das wichtigste, aber nicht das einzige Beispiel für diese Zusammenarbeit. Deshalb sprechen Staatskirchenrechtler auch von einer »hinkenden Tren23
nung« von Staat und Religion in Deutschland. Passender ist aber wohl die Umschreibung als »positive Neutralität«, weil sie das ausdrückt, was so besonders an unserem Religionsverfassungsrecht ist: nämlich die wechselseitige Begrenzung der weltlichen und geistlichen Sphäre mit einem positiven Zusammenwirken beider Sphären zum Wohle des Einzelnen wie der Gemeinschaft zu verbinden. Dieses positive, aufeinander bezogene und doch auf Trennung bedachte Verhältnis zu verstehen, fällt nicht immer leicht. Es ist durchaus ein besonderes, was auch daran liegt, dass die Reformation Deutschland nahezu hälftig in Katholiken und Protestanten geteilt hat. Muslime, die unsere Verfassung als religionsfeindlich ansehen, wie auch Islamgegner, die sich gegen jede öffentliche Rolle von Religion wenden, verkennen unsere Ordnung. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Aber beide Gruppen tun sich schwer, weil der Islam in und für Deutschland eine relativ neue Religion ist. Es hat mich überrascht, dass mein Satz, der Islam sei ein Teil der Gegenwart und der Zukunft Deutschlands, so viel Aufmerksamkeit erregt hat. Manchmal ist eben schon das Aussprechen einer Tatsache, einer gesellschaftlichen Wirklichkeit durch einen Innenminister ein Ereignis. Wir alle erleben ja die Debatten um den Bau und Betrieb von Moscheen oder das Kopftuch. Diese Konflikte wirken sich auf die Wahrnehmung der Musliminnen und Muslime in Deutschland aus, aber auch auf die des Islams insgesamt. Und so haben wir eine widersprüchliche Situation. Die meisten Menschen in Deutschland denken inzwischen recht positiv über die Integration der nach Deutschland kommenden Zuwanderer. Beim Stichwort Islam aber denken sie selten an positive Werte wie Friedfertigkeit oder das Streben nach Gerechtigkeit. Sie verbinden mit dem Islam eher die Benachteiligung von Frauen, Rückwärtsgewandtheit, Fanatismus, Intoleranz und Demokratiefeindlichkeit. Ein Grund dafür sind Extremisten, die sich auf den Islam berufen. Aber dies gibt es in anderen Religionen auch. Diese machen zwar nur eine sehr kleine Gruppe unter den Muslimen aus, aber sie prägen maßgeblich das Bild des Islams im Westen. Das beruht natürlich auch zum Teil auf einer medialen Verzerrung. Es ist aber auch so, weil die Öffentlichkeit eine deutlichere Abgrenzung von Extremisten und ein aktiveres Engagement islamischer Organisationen für unseren freiheitlichen Verfassungsstaat zu lange doch auch vermisst hat. Wer häufiger gegen etwas ist, als mit positiven Ansätzen zur Lösung von Problemen in unserer Gesellschaft zu werben, der wird auch nicht als so selbstverständlich und konstruktiv empfunden. So entsteht eine Unsicherheit, mit der die Men24
schen in Deutschland dem Islam begegnen. Aber das liegt auch an den offenkundigen Widersprüchen zwischen unserer heutigen Werte- und Rechtsordnung und einigen Aussagen in den islamischen Quellen. Das ist natürlich nicht nur ein Problem des Islams. Auch die christlichen Kirchen haben lange einen schwierigen Diskussionsprozess erlebt und durchleiden müssen, bis sie die Idee des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats auch aus der christlichen Religion selbst heraus begründen konnten. So war es eben auch die Erfahrung von Holocaust und nationalsozialistischer Diktatur, die die evangelische Kirche in Deutschland ihr Verhältnis zum Staat überdenken ließ. Erst waren es Theologen, die sich als Christen zu Demokratie und Menschenrechten bekannten, dann die Kirchen, etwa mit der Erklärung »Dignitatis humanae« des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965 oder auch mit der Denkschrift »Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie« der EKD von 1985. Sie sehen, dass ich hier die katholische Kirche zuerst genannt habe. Sie betreibt den Dialog mit dem Islam schon seit sehr langer Zeit. Hier erweist sich die Weitsicht einer Weltkirche. Die Kirchen haben für sich selbst klargestellt: Das Grundprinzip der freiheitlich-demokratischen Ordnung hat seine Wurzeln auch im christlichen Menschenbild. Damit sind sie über ein bloßes Akzeptieren demokratischer Spielregeln in der Gesellschaft hinausgegangen und machten sich das Prinzip der freiheitlichen Demokratie und die Werte dieser Ordnung theologisch zu eigen. Auch deshalb ist es richtig zu sagen, dass die politische und gesellschaftliche Ordnung unseres Landes eng verbunden ist mit unserer vom Christentum geprägten Kultur. Das ist auch eine Tatsache, die man zur Kenntnis nehmen muss. Das zu sagen, ist keine Diskriminierung des Islams. Aber das heißt nicht, dass die christlichen Kirchen öffentlicher Kritik enthoben wären. Die Debatte um die Pius-Bruderschaft ist dafür ein aktuelles Beispiel. Sie zeigt im Übrigen, wie tief verankert das Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils in der katholischen Kirche ist, aber auch, dass es nicht selbstverständlich ist. Das Beispiel zeigt, dass viele Menschen in unserem Land mit nachvollziehbarer Kritik und Ablehnung reagieren, wenn sie das Gefühl bekommen, die Errungenschaften unseres liberalen, freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats würden von jemandem in Frage gestellt. Wenn das für die christlichen Kirchen und auch die jüdischen Gemeinden gilt, dann kann es gar nicht wundern, dass eine für Deutschland relativ neue Religion wie der Islam besonders aufmerksam beobachtet wird. Der Prozess des Heimischwerdens geht nicht von heute auf morgen 25
– weder im rationalen Bereich, also bei all den rechtlichen Regelungen und organisatorischen Strukturen, noch im Emotionalen. Aber damit es vorangeht, brauchen wir den interreligiösen Dialog, vor allem den christlich-islamischen Dialog. Er kann eine wichtige Übersetzungsfunktion einnehmen, und zwar in beide Richtungen. So kann er die Vielfalt bestehender islamisch-theologischer Ansätze, die sich um eine zeitgemäße Interpretation islamischer Quellen bemühen, in eine christlich geprägte Öffentlichkeit hinein vermitteln. Das ist zentral, wenn das monolithische und noch oft negative Bild vom Islam geändert werden soll. Deshalb ist es ein wichtiges Signal, dass Sie sich bei diesem Theologischen Forum Christentum – Islam mit der Schriftauslegung im Christentum und Islam befassen. Ich hoffe, dass es breit wahrgenommen wird. Der Dialog kann und soll aber auch Übersetzer in die andere Richtung sein, indem er in religiös nachvollziehbarer Weise Erwartungen aus der Aufnahmegesellschaft übermittelt. Ganz zentral sind hier Fragen der Menschenwürde, der Glaubens- und Religionsfreiheit, aber auch aller anderen Grundrechte. Der christlich-muslimische Dialog kann wichtige Impulse für eine hier in Deutschland stattfindende innerislamische theologische Auseinandersetzung mit Themen wie Säkularität, Menschenwürde oder auch Gleichberechtigung geben. Solche Auseinandersetzungen sind unabdingbar für das Heimischwerden des Islams in diesem Land. Demokratie heißt auch, diese Auseinandersetzungen anzunehmen. Auch das ist nötig, damit der Islam als ein Teil unseres Landes wahrgenommen werden kann. Auch die Islamkonferenz hat hier einiges geleistet, denn sie hat die vielfältigen Diskussionen zwischen den teilnehmenden Muslimen und damit die große Bandbreite muslimischen Lebens in Deutschland öffentlicher gemacht. Die christlichen Kirchen und christliche Theologen können solche Debatten mit ihren eigenen Erfahrungen bereichern. Dadurch lernen beide Seiten, Christen und Muslime. Zugleich leisten beide einen Beitrag zur strukturellen Integration des Islams, der ja einen Weg finden muss, wie er sich in den Gegebenheiten unseres Religionsverfassungsrechts zurechtfinden kann. Ob in der Seelsorge, der Betreuung von Unfallopfern, bei der Bestattung oder bei den großen Fragen der Selbstorganisation: Die christlichen Kirchen und auch andere Religionsgemeinschaften können mit vielen praktischen Beispielen Hilfestellung geben. So wenig aber der interreligiöse Dialog alle praktischen Fragen lösen kann, so wenig ist er auf praktische Fragen beschränkt. Es geht, das 26
zeigt schon ein Blick ins Programm dieser Tagung, auch um die theologischen Fragezeichen. Das macht mir Hoffnung. Denn wenn sich so viele qualifizierte, sprachfähige und dialogbereite muslimische Theologen mit christlichen Dialogpartnern treffen, dann drückt sich darin auch eine positive Entwicklung innerhalb der muslimischen Gemeinschaften in Deutschland aus. Ich wünsche Ihnen, dass Sie aus Ihren Gesprächen in diesem Forum Anstöße mitnehmen – für Ihren persönlichen Weg, aber auch für die Fortentwicklung einer islamischen Theologie in deutscher Sprache und im Kontext der deutschen Gesellschaft und ihrer Ordnung. Dieses Forum gibt dazu Gelegenheit, weil es Raum zur Reflexion darüber gibt, wie islamische Theologie den gegenwärtigen, hiesigen Lebensumständen Rechnung tragen kann. Über den Tag und einzelne Fragen hinaus werden so auch Gemeinsamkeiten sichtbar, die alle großen Religionen miteinander verbinden. Das ist gut für das Miteinander in unserem Land, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb tragen Sie alle, die Sie heute hier sind, auch mehr Verantwortung für die Zukunft unserer Gesellschaft, als das vielleicht manchmal wahrgenommen wird. Wir alle sind gefordert, noch mehr zu tun, um eine gute Beziehung zwischen den Angehörigen der Religionen in Deutschland aufzubauen. Deshalb haben wir 2006 die Deutsche Islam Konferenz geschaffen. Erstmals gibt es nun einen gesamtstaatlichen Rahmen, in dem Vertreter aller staatlichen Ebenen mit Vertretern einer breiten Vielfalt muslimischen Lebens in Deutschland zusammenkommen. Die Islamkonferenz ist kein theologischer Dialog. Es geht in der Islamkonferenz um das Verhältnis zwischen den teilnehmenden organisierten und nicht organisierten Muslimen und unserem Staat und unserer Gesellschaft. Die innerreligiöse, theologische Begründung dieses Verhältnisses wird durch solche Debatten natürlich berührt. Sie ist aber nicht Thema der Gespräche, in denen wir um einvernehmliche Lösungen für das Zusammenleben ringen. Dabei sind wir – bei allen Schwierigkeiten – in nun zwei Jahren schon ein gutes Stück weitergekommen. Bei der letzten Plenarsitzung im März des vergangenen Jahres haben wir uns auf Empfehlungen zu zentralen Fragen verständigt. Vom Bau und Betrieb von Moscheen bis hin zur Einführung islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen: Der Dialog führt zu gemeinsamen Haltungen, in praktischen wie in grundsätzlichen Fragen. Alle haben sich einmütig zur deutschen Rechtsordnung und zur Werteordnung unseres Grundgesetzes bekannt. Auch muslimische Organisationen sehen sich in der Verantwortung, gemein27
sam mit Staat und Gesellschaft Extremismus entgegenzutreten. Auch das zeigt, wie wichtig ein funktionierender Dialog zwischen Staat, Muslimen und Gesellschaft für den Zusammenhalt in unserem Land ist. Jeder Dialog hat aber auch Grenzen. Manche Grenzen können im Für und Wider der Argumente verschoben werden. Die Länder beispielsweise machen es jetzt möglich, dass Muslime nach islamischem Ritus bestattet werden können. Andere Grenzen sind unverrückbar. Das betrifft insbesondere die Abgrenzung von jeglicher Form des Extremismus. Auch bei den rechtlichen Voraussetzungen, die unser Verfassungsrecht an die Zusammenarbeit mit dem Staat knüpft, gibt es wenig Bewegungsspielraum. Wir alle müssen helfen, die mit diesen Fragen verknüpften Schwierigkeiten zu überwinden. Wir wollen, dass Muslime hier heimisch werden. Der Staat will, dass sie hier Institutionen gründen, die in unserer freiheitlichen Ordnung verankert sind. Die Islamkonferenz hat viele in unserer Gesellschaft darin bestärkt, sich dafür einzusetzen. Aber das liegt auch in den Händen der Muslime selbst. Wenn sie sich in Deutschland und Europa voll in den gesellschaftlichen Prozess einbringen wollen, müssen sie sich innerhalb des rechtlichen Rahmens organisieren. Und sie müssen sich der Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Moderne stellen, so wie Sie es heute hier in diesem Forum tun. Beide Prozesse, der interreligiöse Dialog und der Dialog zwischen Muslimen und den öffentlichen Institutionen unseres Staates, können zu mehr gelebtem Miteinander beitragen. Was der Staat und die Religionsgemeinschaften im Dialog tun, wirkt zurück auf die ganze Gesellschaft. Da haben wir noch viel zu tun. Wenn die Menschen in Deutschland einmal beim Stichwort Islam nicht zuerst an negative Erscheinungen, sondern an den Beitrag der Muslime zu unserem Gemeinwesen denken, dann werden wir in der Integration ein ganzes Stück weiter sein. Dann wird mehr religiöse Vielfalt nicht mehr Ängste auslösen, sondern die Gesellschaft bereichern und auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland stärken. Dafür zu arbeiten, ist lohnend und spannend zugleich.
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I. Hermeneutische Grundlagen
»Das Meer würde versiegen, ehe die Worte meines Herrn zu Ende gingen!« (Al-Kahf 18,109) Zu Textverständnis und Exegese in Christentum und Islam Assaad Elias Kattan
»Wiedehopf der Worte, wenn sie den Sinn erzeugen und wenn die Vögel uns der Sprache entreißen Sohn der Spannung, wenn sich der Schmetterling von seinem Urstoff trennt und in ihm das Gefühl wohnt [...] Fliege hoch, damit die Distanz deutlich wird zwischen dem, was wir waren, und dem, was unsere letzte Gegenwart sein wird Wir entfernen uns, um uns unserer Wahrheit und den Mauern unserer Fremde zu nähern, Und dem Überqueren gilt (unablässig) unsere Sehnsucht«
Mahmud Darwisch, Der Wiedehopf Die hier zu unternehmende Reise in die Verstehens- und Auslegungswelt der Heiligen Schrift der Christen und des Heiligen Buches der Muslime ist selektiv in zweierlei Hinsicht: Erstens, weil die Auslegungsgeschichte und Auslegungsgegenwart von Bibel und Koran unverhältnismäßig facettenreicher ist als das, was im Folgenden vorgetragen werden soll. Und zweitens, weil ich die hier zu thematisierenden Traditionen nur bruchstückhaft kenne und weil jeder Versuch, mich darin zu vertiefen, mich von Neuem mit dieser Bruchstückhaftigkeit meiner Kenntnisse konfrontiert. Daher erklärt es sich, weswegen viele meiner Beispiele der patristischen Tradition der Ostkirche entnommen sind, einer Tradition, in der ich mich sicherer bewege als etwa in der Welt mittelalterlicher westlicher Theologie. Diese doppelte Selektivität scheint zwar selbstverständlich, 31
muss aber bei jedem kritischen Umgang mit den folgenden Ausführungen in Erinnerung gerufen werden. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, dass zahlreiche hermeneutische Fragen, die für die Exegese weitreichende Konsequenzen haben können, ausgeklammert werden müssen, z. B. die Frage nach der Natur des göttlichen Wortes in Islam und Christentum und nach der Art und Weise, wie es sich vermittelt. Eine weitere Frage, die hier auch nicht angeschnitten werden kann, ist, inwieweit die Anwendung von vergleichbaren exegetischen Verfahrensmitteln durch vergleichbare offenbarungstheologische Fragestellungen bedingt ist. En revanche versuche ich mit einem – hoffentlich gelungenen – Sinn für Narration anhand von drei geographischen Doppelstationen und einer Auswertung drei Aspekte der Verstehens- und Auslegungspraxis im Islam und Christentum, nämlich die liturgische Dimension, die wörtliche Auslegung und die allegorische Exegese, in den Vordergrund zu rücken und zur Debatte zu stellen. Ohne andere Gesichtspunkte, auf die hier nicht eingegangen werden kann, herunterzuspielen, scheinen mir die drei zu thematisierenden Punkte insofern von Belang, als sie die auch heutzutage immer wieder aufgeworfene Frage, wie Bibel und Koran zu verstehen und auszulegen sind, sowie die möglichen Antworten darauf entscheidend mit prägen. Diesbezüglich aber ist darauf hinzuweisen, dass die drei Aspekte, aus denen die hier vorgeschlagene Reise besteht, von unterschiedlicher quantitativer Repräsentanz sind. Sie sind wohl aber insofern qualitativ von Interesse, als sie auf gewichtige Parallelen zwischen beiden Religionen im Blick auf die fragliche Thematik aufmerksam zu machen versuchen. Selbstverständlich wird damit die Existenz von Unterschieden nicht geleugnet. Doch die Tatsache, dass diese Parallelen im heutigen öffentlichen Diskurs in der Regel wenig wahrgenommen werden, kann eine Erklärung für meine methodische Vorgehensweise liefern.
1. Zwischen Antiochia und Quhafa: die liturgische Dimension Er konnte etwa tausend Jahre vor der Erfindung der Buchdruckerei die Bibel auswendig zitieren und pflegte jede Woche das ganze Neue Testament zu lesen. Ursprünglich wollte er Jura studieren, dann entschied er sich aber für das religiöse Leben und schloss sich dem Asketerion des Diodorus von Tarsus an, in dem er sich zusammen mit seinem Freund Theodor von Mopsuestia dem Studium der Heiligen Schrift nach den 32
Regeln der sogenannten »grammatisch-historischen« Bibelexegese widmete.1 Seit dem 5. Jahrhundert gehört er sicherlich zu den wenigen Menschen, bei denen, wenn man sich an sie erinnert, der Beiname eine viel bedeutendere Rolle spielt als der eigentliche Name: Johannes (ca. 350– 407), der Priester aus Antiochia am Orontes, der damaligen Hauptstadt der römischen Provinz »Oriens«, wurde aufgrund seiner außerordentlichen Redekunst »Chrysostomos«, der »Goldmund«, genannt.2 398 zum Bischof von Konstantinopel ernannt, geriet Johannes, der für eine untadelige Lebensführung eintrat und daher auch die Ausschweifungen der kaiserlichen Familie kritisierte, in Konflikt mit den Mächtigen seiner Zeit und wurde schließlich verbannt. Er starb am 14. September 407 »im pontischen Komana an Erschöpfung«3. Die Predigten, die Johannes Chrysostomos während seiner zwölf Priesterjahre in Antiochia vor allem zu biblischen Themen hielt, meistens indem er ganze Bücher der Bibel kommentierte, dürften wohl für viele Christen damals die einzige Möglichkeit gewesen sein, sich mit dem Text der Heiligen Schrift auseinanderzusetzen. Aramäischen Christen, meistens Bauern aus dem antiochenischen Umland, die des Griechischen nicht mächtig waren, wurden Johannes’ Festpredigten, wohl aber auch die entsprechenden Schriftlesungen, simultan übersetzt.4 Die Liturgie also, und nicht der Schreibtisch, war der schlechthinnige Ort, sozusagen der primäre Sitz im Leben, in dem die allermeisten christlichen »Gemeindeglieder mit biblischen Texten in Berührung gekommen sein dürften«5. Diesbezüglich schreibt ein evangelischer Kirchenhistoriker der Gegenwart: »Für die Kenntnis und damit für das Verständnis der Bibel in der Antike (und natürlich auch im Mittelalter) spielten die gottesdienstlichen und sonstigen liturgischen Lesungen eine schlechterdings entscheidende Rolle.«6 Diese liturgische Verankerung des Umgangs mit der Heiligen Schrift, die wohl bis zur Erfindung der Buchdruckerei die Regel 1 2 3 4 5 6
Vgl. Glanville Downey, A History of Antioch in Syria from Seleucus to the Arab Conquest, Princeton 21966, 413. Vgl. Hubertus L. Drobner, Lehrbuch der Patrologie, Freiburg 1994, 274; ferner Reiner Kaczynski, Art. Johannes Chrysostomus, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg 1998, 21999, 336–343. Drobner, Lehrbuch (s. Anm. 2), 278. Vgl. Christoph Markschies, Liturgisches Lesen und die Hermeneutik der Schrift, in: Peter Gemeinhardt u. a. (Hg.), Patristica et Oecumenica (Festschrift Wolfgang Bienert), Marburg 2004, 77–88, 81. Vgl. ebd. 80. Ebd.
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war, konnte nicht ohne Konsequenzen für das Verstehen und Auslegen der Bibel bleiben. Es ist z. B. kein Zufall, dass vieles von dem, was uns aus spätantiken und mittelalterlichen Zeiten an Kommentaren zu biblischen Passagen überliefert wurde, die Form einer Homilie, einer gottesdienstlichen Predigt, annimmt. Doch auch für die Art und Weise, wie die biblischen Texte verstanden und aktualisiert wurden, dürfte der gottesdienstliche Rahmen eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Auch heute noch gilt, dass biblische Passagen durch ihre liturgische Verortung in einen semantischen Zusammenhang eingebettet werden, der nicht unbedingt mit ihrem ursprünglichen schriftlichen Kontext identisch ist – etwa das tägliche Brot (vgl. Mt 6,11) in der byzantinischen Liturgie, dem durch die Verortung des Vaterunser direkt vor der Kommunion eine eucharistische Bedeutung verliehen wird. Die Relevanz des gottesdienstlichen Ortes für das Verständnis eines Bibelpassus kann man zudem an den geordneten Lesezyklen veranschaulichen, die, indem sie Texte ausschneiden, ergänzen, zusammenstellen und mit bestimmten kirchlichen Gedenkfeiern verknüpfen – um nur einige Verfahrensweisen zu nennen –, semantisch und pragmatisch richtungsweisend zu sein scheinen.7 Auch die Bibelexegese, die sich außerhalb der Liturgie artikuliert hat, ist daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie sozusagen die liturgischen Orte der Heiligen Schrift voraussetzt, sich von ihnen inspirieren lässt oder sich bewusst von ihnen abgrenzt – eine Aufgabe, die freilich in der Erforschung der spätantiken und mittelalterlichen Bibelexegese bisher kaum wahrgenommen wurde. Die liturgische Dimension, welche die Umgangsweise der Muslime mit dem Heiligen Koran zu erkennen gibt, unterscheidet sich zwar sehr von dem Bild, das ich am Beispiel der christlichen Gemeinde von Antiochia im 4. Jahrhundert skizziert habe, ihre Existenz scheint mir aber festzustehen, wenn man von der christlichen Note, die den Begriff »Liturgie« prägt, absieht und ihn im Sinne eines Volksdienstes versteht, der kultisch strukturiert ist. In den allerersten Seiten seines autobiographischen Textes »Ein Leben mit dem Islam« bietet Nasr Hamid Abu Zaid (geb. 1943) ein lebendiges Tableau über seine Kindheit im ägyptischen Dorf Quhafa, indem er zwischen den Anfängen seiner eigenen Geschichte mit dem Koran und sozusagen der gängigen islamischen Rezeptionsästhetik desselben pendelt.8 Hier schildert Abu Zaid, wie ihn schon als 7 8
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Vgl. dazu ebd. 82–88. Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Ein Leben mit dem Islam, Freiburg 2006, 7–26. Dagegen, dass ich mich hier auf Abu Zaid beziehe, kann eingewendet wer-
Kind die frühen koranischen Suren bezauberten,9 wie er mit acht Jahren den Koran memorierte und wie ihn anschließend die Dorfbewohner zuweilen darum baten, sie im Gebet zu führen.10 Im Zusammenhang seiner Kindheitserinnerungen hebt Abu Zaid die rituelle Bedeutung des Heiligen Buches hervor, die vor allem dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Koran sowohl beim Alltagsgebet als auch auf religiösen Zeremonien rezitiert wird. Beim Verrichten seiner alltäglichen Gebete muss jeder Muslim »siebzehnmal am Tag mindestens zwei Suren aus dem Koran«11 rezitieren. Außerdem ist die koranische Rezitation »Bestandteil anderer religiöser Zeremonien, etwa der Bittgebete im Ramadan oder der Riten der Pilgerfahrt. Der Koran erklingt auf Trauerfeiern, Hochzeiten und bei Anlässen des öffentlichen Lebens wie etwa der Einweihung eines Regierungsgebäudes«12. Aus der Art und Weise also, wie sich der Koran durch seine kultische Rezitation im Leben der Muslime vergegenwärtigt, wird ersichtlich, dass es sich hierbei um viel mehr als um ein reines Schriftstück handelt.13 Der Koran fungiert nämlich als ein liturgisches Buch nicht nur in dem Sinne, dass er liturgisch verwendet wird, sondern auch in dem Sinn, dass ihm eine zentrale Rolle beim Vorgang zukommt, aus den Muslimen als Gruppe in numerischem Sinne eine Kultgemeinschaft herauszubilden, welche im Gebet die Gegenwart Gottes durch sein rezitiertes Wort zu spüren bekommt. Dass diese liturgische Dimension auch Implikationen für die Art und Weise, wie der Koran verstanden wird und somit auch für die Koranauslegung, haben muss, versteht sich von selbst. Dies wurde mir aber zum
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den, dass es sich bei ihm – vor allem in Hinblick auf seine Koranhermeneutik – um einen Außenseiter handelt. Abgesehen davon, dass dieser Einwand den Beigeschmack eines argumentum ad hominem besitzt, sind meines Erachtens Abu Zaids Ausführungen zur rituellen Bedeutung des Korans in der islamischen Welt hochrepräsentativ – unabhängig von den hermeneutischen Positionen desselben; vgl. ferner Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000. Vgl. Abu Zaid, Ein Leben (s. Anm. 8), 18. Vgl. ebd. 25. Ebd. 20. Ebd. Vgl. ferner z. B. Burhanettin Tatar, Das Problem der Koranauslegung, in: Felix Körner (Hg.), Alter Text – Neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg 2006, 104–124, 117: »So ist er [sc. der Koran] ein Text, der zwar rationales Denken und Auslegen nährt, aber auf diese rationalen Auslegungen nicht reduziert werden kann.«
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ersten Mal bewusst, als ich vor einigen Jahren einen taÊwÐd hörte, in dem der Rezitator nicht nur seine Zuhörerschaft in eine Rauschgefühlsstimmung zu versetzen vermochte, sondern sie auch für die verschiedenen Lesearten einiger koranischer Verse zu sensibilisieren versuchte, indem er bestimmte Worte anders vokalisierte. Es ist beachtenswert, dass auch Abu Zaid im Kontext seiner Kindheitserinnerungen die unterschiedlichen Lesearten des Korans thematisiert. Ihm ist diesbezüglich nicht nur wichtig zu erklären, wie diese Lesearten überhaupt möglich sind – bekanntermaßen eine Besonderheit der arabischen Schrift, in der ursprünglich die diakritischen Punkte und die Vokalzeichen fehlten –, sondern auch das Prinzip der Pluralität als legitim gelten zu lassen und zu unterstreichen: »Die Notwendigkeit, den Koran zu rezitieren und nicht einfach nur zu lesen, bringt mit sich, daß der Koran im Wesentlichen mündlich überliefert wird. Es ist aber ausgeschlossen, daß zwei Rezitatoren genau die gleiche Version überliefern.«14 Wie die byzantinische Musik bleibt der Koran, auch Jahrhunderte nach seiner Verschriftlichung, insofern eine mündliche Überlieferung, als die Art und Weise seiner Vermittlung von Mund zu Mund stattfindet. Diese mündliche Tradierung bewirkt, dass sich die Verstehensweise des Textes unterscheidet, da man beim Akt des Rezitierens, der trotz der religiösen Normierung von Mensch zu Mensch und von Ort zu Ort anders geartet ist, mit Verschiebungen etwa in Bezug auf den Wortakzent, den Satzakzent und die Vokalisierung zu rechnen hat. Bei diesem Phänomen der Verzahnung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit und dessen hermeneutischen Implikationen kann man natürlich länger verweilen. Ich verzichte aber darauf und versuche stattdessen, die Ergebnisse meiner bisherigen Ausführungen mit einem Satz zusammenzufassen: Es gibt mutatis mutandis sowohl im Blick auf die Heilige Schrift der Christen wie auf das Heilige Buch der Muslime eine Textverwendung und Textrezeption liturgischer Art, die notwendigerweise das Verstehen des heiligen Textes beeinflusst und die von der Hermeneutik berücksichtigt werden muss.
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Abu Zaid, Ein Leben (s. Anm. 8), 23.
2. Von Mopsuestia nach Bagdad: der Sieg des Literalsinns Mir scheint es kein Zufall zu sein, dass kein Geringerer als Rudolf Bultmann (1884–1976), wohl der wichtigste Exeget des 20. Jahrhunderts, seine Habilitationsschrift zur Exegese Theodors von Mopsuestia (ca. 350–428) schrieb.15 Der ursprünglich aus Antiochia stammende Bischof von Mopsuestia (heutiges Yakapinar) gilt nämlich als der bedeutendste Exeget der antiochenischen Schule,16 die dem Literalsinn und seiner Verankerung in der Geschichte besondere Aufmerksamkeit schenkte, und kann demnach mit Recht als Vorläufer der modernen historischkritischen Methode der Bibelexegese bezeichnet werden.17 Theodor legte die wichtigsten alttestamentlichen Bücher aus, einschließlich der Psalmen und der Propheten, sowie die Evangelien bis auf Markus, die Apostelgeschichte und alle paulinischen Briefe. Leider sind seine exegetischen Werke im griechischen Original nur sehr fragmentarisch erhalten, weil die Verurteilung seiner Christologie auf dem Fünften Ökumenischen Konzil in Konstantinopel (553) zu einer systematischen Vernichtung seiner Werke führte. Hingegen wurde Theodors Erbe im syrischen Raum, in dem er unangefochten als hochangesehener Exeget galt, weiter gepflegt.18 Nichtsdestotrotz zeigt die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem erhaltenen Schriffttum Theodors,19 mit welcher Konsequenz er die 15 16 17
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Vgl. Rudolf Bultmann, Die Exegese des Theodor von Mopsuestia, Stuttgart 1984. Vgl. dazu Peter Bruns, Art. Theodor von Mopsuestia, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg 1998, 21999, 592–594. Vgl. dazu das Urteil von Christoph Schäublin, Untersuchungen zu Methode und Herkunft der antiochenischen Exegese, Köln 1974, 173: »Im Grunde ist erst das 19. Jahrhundert entscheidend über die Ansätze der Antiochener hinausgelangt.« Vgl. Hermann-Josef Vogt, Art. Theodoros, Bischof von Mopsuestia, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 9, 1414 f. Vgl. dazu Louis Pirot, L’œuvre exégétique de Théodore de Mopsueste 350– 428 après J.-C., Rom 1913; Ulrich Wickert, Studien zu den Pauluskommentaren Theodors von Mopsuestia als Beitrag zum Verständnis der antiochenischen Theologie, Tübingen 1962; Manlio Simonetti, Note sull’esegesi veterotestamentaria di Theodoro di Mopsuestia, in: Vetera Christianorum 14 (1977), 69–102; Dimitri Z. Zaharopoulos, Theodore of Mopsuestia on the Bible. A Study of His Old Testament Exegesis, New York 1989; HermannJosef Vogt, Unterschiedliche Exegese der Alexandriner und der Antiochener, in: Georg Schöllgen (Hg.), Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum (Festschrift Ernst Dassmann), Münster 1996, 357– 369; Hermann-Josef Vogt, Bemerkungen zu Exegese und Christologie des
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Prinzipien der »grammatisch-historischen« Exegese anwendete und wie kategorisch er die Allegorese, die vor allem unter den alexandrinischen Kirchenlehrern so beliebt war, verwarf. Diese Verwerfung kann zwar mit Theodors Anliegen zusammengehangen haben, Kaiser Julianus (361– 363), welcher die unhistorisch zu verstehenden heidnischen Mythen zu allegorisieren pflegte, bekämpfen zu wollen.20 Sie entspringt aber auch seiner Treue zu den Prinzipien der wörtlichen Auslegung, die allem Anschein nach der paganen Grammatik und den griechischen Dichterkommentaren verpflichtet ist.21 So bemühte sich der Bischof von Mopsuestia, die biblischen Texte aus ihrer geschichtlichen Situation heraus zu verstehen und zu deuten22 und akzeptierte nur in begrenzter Weise eine Typologie zwischen Altem und Neuem Testament23. Die Allegorese benutzte er nur, wenn der biblische Text selbst dazu Anlass gab.24 Des Theodors historischer Sinn, der von Bultmann gelobt wird, da er »die geschichtlichen Erscheinungen als solche würdigt […] und das Individuelle an ihr [sc. der biblischen Sprache] zu sehen versucht«25, führte ihn beispielsweise dazu, das Hohelied für ein Gedicht zu erachten, das König Solomo anlässlich seiner Hochzeit mit einer Ägypterin verfasste, um seiner Liebe zu ihr Ausdruck zu verleihen und sich gegen die Vorwürfe seines Volkes abzuschirmen.26 Dass sich Theodor von der Allegorese distanzierte, besagt aber nicht, dass er keinen Sinn für die metaphorische Natur der Sprache hatte. Denn unter dem biblischen Literalsinn subsumierte er auch die biblischen Metaphern, die er zu erklären suchte,27 indem er sie »auf ihren Vergleichspunkt hin« prüfte28. Um diesen Literalsinn erheben zu können, bediente sich Theodor antiker Gram-
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Theodor von Mopsuestia, in: Remigius Bäumer (Hg.), Synodus. Beiträge zur Konzilien- und allgemeinen Kirchengeschichte (Festschrift Walter Brandmüller), Paderborn 1997, 5–27. Vgl. Vogt, Art. Theodoros (s. Anm. 18), 1414. Vgl. dazu Schäublin, Untersuchungen (s. Anm. 17), 38, 66–72, 84–94, 171– 173. Vgl. Bultmann, Die Exegese (s. Anm. 15), 99–110. Vgl. Drobner, Lehrbuch (s. Anm. 2), 271; Pirot, L’œuvre (s. Anm. 19), 198. Etwa in Joh 10,6, wo er die Bildrede von der Tür als Sprichwort auffasst; vgl. Vogt, Art. Theodoros (s. Anm. 18), 1415; ders., Bemerkungen (s. Anm. 19), 19–21. Bultmann, Die Exegese (s. Anm. 15), 67. Vgl. Pirot, L’œuvre (s. Anm. 19), 134–136; Schäublin, Untersuchungen (s. Anm. 17), 12. Vgl. Pirot, L’œuvre (s. Anm. 19), 179–192. Schäublin, Untersuchungen (s. Anm. 17), 171.
matik und Rhetorik,29 wie er sie sich im Rahmen der paganen Schultradition angeeignet hatte, während ihm die antike Geschichtsschreibung des Öfteren dazu verhalf, die Texte in ihrem historischen Kontext zu situieren.30 Darüber urteilend schreibt Bultmann: »Dabei verfährt Theodor ganz als Historiker, und nicht nur sein Verfahren, sondern auch seine Resultate muten dabei oft ganz modern an.«31 »Die islamische Zivilisation gestaltete die Tradition der Lehre von den Grundlagen der Rechtsfindung zu einer Theorie aus, in der die antiochenische Auslegungslinie in höchstem Maße weiterentwickelt war.«32 Mit diesen Worten beschreibt Mehmet Paçac¤ (geb. 1959), Professor für Koranexegese an der theologischen Fakultät der Universität Ankara, die exegetische Grundausrichtung innerhalb des Islams, die im Titel dieses Abschnitts meines Beitrags metaphorisch als »Bagdad« bezeichnet wird. Dem islamischen Theologen ist also bewusst, dass die klassische Koranexegese, wie sie sich in der Blütezeit des arabischen Staates im Mittelalter entwickelte, stark an das Modell der antiochenischen Exegese anknüpfte und daher auch zur Erbin der Tradition paganer Grammatik und Philologie wurde. Laut Paçac¤ versucht die klassische islamische Exegese, den Koran zu erklären, indem sie vor allem auf zwei Hauptgebieten, nämlich Sprache und Geschichte, forscht.33 In diesem Zusammenhang wird der Koran sowohl aus sprachwissenschaftlicher Sicht lexikalisch, morphologisch, syntaktisch und semantisch erschlossen als auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht stilistisch, rhetorisch und ästhetisch untersucht. Gestellt wird auch die Frage semantischer Natur nach der Aufeinanderbezogenheit der Verse innerhalb einer Sure und zwischen den verschiedenen Suren. Diese textbasierte Herangehensweise an den Koran wird durch die extratextuelle Frage nach dem historischen Kontext abgerundet, in dem die Verse geoffenbart wurden, und somit auch nach der Chronologie der Verse und Suren:34 »Den Offenbarungsanlass eines Verses zu beachten, ist unausweichliche Folge der vorausgehenden Einsicht, dass der Vers 29 30 31 32 33 34
Vgl. Bultmann, Die Exegese (s. Anm. 15), 46–64; Schäublin, Untersuchungen (s. Anm. 17), 171–173. Vgl. Pirot, L’œuvre (s. Anm. 19), 203 f. und 223–233; Schäublin, Untersuchungen (s. Anm. 17), 84–94. Bultmann, Die Exegese (s. Anm. 15), 102. Mehmet Paçac¤, Was ist in der Moderne aus Koran und Koranexegese geworden?, in: Körner, Alter Text (s. Anm. 13), 130–159, 138. Vgl. ebd. 136. Vgl. ebd. 134 f.
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eine Aussage macht, die mit einer ganz bestimmten Epoche der Geschichte verbunden ist.«35 In Anbetracht der Tatsache, dass der Koran darüber hinaus als ein normgebender Text vor allem im Bereich der Jurisprudenz fungiert, wird er in den islamischen Disziplinen sowohl als »geschichtliches Wort« wie als »ein gegenüber seinem geschichtlichen Kontext verselbständigtes Wortereignis«36 erachtet. Interessant ist die Beobachtung, dass Paçac¤ mit klassischer Koranexegese vor allem die textbasierte, sprachlich orientierte Auslegungsmethode assoziiert. Denn jene Exegese, die es sich zum Ziel setzt, einen inneren Sinn des koranischen Textes zu ergründen, konnte sich seiner Ansicht nach »innerhalb der Grenzen des traditionell als methodisch legitim Akzeptierten«37 nicht durchsetzen.38 Die Wege wörtlicher Koranexegese können zwar tiefer untersucht werden. Es ist nun aber höchste Zeit, mit meiner zweiten Station aufzuhören und eine Zusammenfassung zu wagen: Christentum und Islam kennen eine wörtliche Exegese, die mit Instrumenten der Philologie, Grammatik, Rhetorik und Geschichtswissenschaft arbeitet und derart versucht, den Literalsinn der heiligen Texte zu erschließen. Diese Beobachtung ist gültig unabhängig von der Menge der in jeder Tradition produzierten und auf dieser Methodik basierenden Kommentare.
3. Zwischen Karthago und Córdoba: das allegorische Verstehen Es dürfte in Karthago zwischen 630 und 634 gewesen sein, als Maximus, der griechische Mönch, der einen lateinischen Namen trug und später als »Confessor« bezeichnet wurde (ca. 580–662), den Brief seines Freundes, des libyschen Abtes Thalassius erhielt. Maximus hielt sich damals genauso wie viele andere griechische Mönche, die durch die Perserkriege Anfang des 7. Jahrhunderts den Orient verlassen und sich im afrikanischen Westen etabliert hatten, in Karthago auf. Über die Muslime, deren Geschichte mit diesem Jahrhundert aufs Engste verbunden ist, verliert Maximus interessanterweise höchstens ein paar Zeilen. Wohl betrachtete 35 36 37 38
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Vgl. ebd. 136. Ebd. 135. Ebd. 137. Für eine Einführung in die klassische Koranexegese vgl. Claude Gilliot, Art. Exegesis of the QurÞÁn. Classical and Medieval, in: Encyclopaedia of the QurÞÁn, Bd. 2, Leiden/Bosten 2002, 99–124.
er sie als ein wüstenhaftes Volk, das ein fremdes Land schnell durchquert, als wäre es sein eigenes Land;39 eine rätselhafte Aussage! Wie dem auch sei! In jenem Brief hatte Thalassius eine Reihe von schwierigen biblischen Stellen aus dem Alten und Neuen Testament aufgelistet und Maximus darum gebeten, sie nach der anag½gikÿ the½ria zu kommentieren.40 Die Antwort des Maximus zeigt, dass er unter diesem terminus technicus der patristischen Bibelexegese den Vorgang versteht, wie der Exeget den Buchstaben der Schrift zu einer höheren Ebene hinaufführt. Denn eine schriftliche the½ria entsteht dadurch, dass die biblischen Worte durch ihr allegorisierendes Beziehen (anag½ = zurückführen/beziehen auf) auf eine tiefere semantische Dimension emporgehoben (anag½ = hinaufführen) werden.41 Maximus dürfte diese Methode bei den alexandrinischen Exegeten, vor allem Origenes (ca. 185–ca. 254), kennengelernt haben, obwohl er den großen Katecheten von Alexandrien nirgendwo namentlich erwähnt. Wie hätte es sich anders verhalten können, da das Fünfte Ökumenische Konzil (553), etwa 80 Jahre bevor der Bekenner in Karthago wirkte, Origenes verurteilt hatte. In Wirklichkeit ist die Allegorese viel älter. Sie genoss einen hohen Stellenwert bei Philo von Alexandrien (1. Jahrhundert n. Chr.) und scheint auf die Stoiker zurückzugehen, die mit ihrer Hilfe die Unanständigkeit der griechischen Mythen zu entschärfen und an die Rationalität des allumfassenden Logos anzupassen versuchten. Von seinen alexandrinischen Gewährsmännern hatte Maximus auch gelernt, dass es in der Heiligen Schrift sogenannte skandala gibt. Das sind nicht nur Stellen, die – wie etwa die alttestamentlichen Anthropomorphismen, die menschliche Eigenschaften auf Gott übertragen – die Leserschaft skandalisieren, sondern auch historische Ungenauigkeiten oder sogar biblische Erzählungen, die sich in der Tat nie ereignet haben. Ausschlaggebend bei den skandala ist die Tatsache, dass der Heilige Geist selbst, der eigentliche Autor der Heiligen Schrift, sie in der Bibel sozusagen zerstreut hat, um die Leserschaft darauf aufmerksam zu machen, dass es sich hierbei nicht um den wörtlichen Sinn handeln kann und dass demnach der Text der Allegorese bedarf.42 Die Allegorese erscheint also als etwas von Gott Gewolltes unabhängig davon, ob sie 39 40 41 42
Vgl. Maxime le Confesseur, Lettres, Paris 1998, 167. Vgl. Assaad E. Kattan, Verleiblichung und Synergie. Grundzüge der Bibelhermeneutik bei Maximus Confessor, Leiden 2003, xxxvii f. Vgl. ebd. 228–231. Vgl. ebd. 233 und 242 f.
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willkürlich oder mit Maß praktiziert wird. Maximus selbst neigte dazu, den biblischen Text auf vielfältige Art und Weise zu allegorisieren. Bisweilen findet man bei ihm mehr als zehn verschiedene Interpretationsweisen der zu deutenden biblischen Stelle.43 Denn er ist der Meinung, das biblische Wort zeichne sich durch eine naturhafte Unbegrenztheit aus (phusikÿ apeiria), die darin wurzelt, dass der göttliche Logos, der in ihm wohnt, unbegrenzt ist. Für Maximus ist das biblische Wort dem Wasser ähnlich, das verschiedene Pflanzen, Sprossen und Tiere tränkt, ohne seine Einheit einzubüßen. Nach Origenes, dem Maximus hier unbefangen folgt, ist das Wasser eines der vielen biblisch belegten Namen des göttlichen Logos.44 Hunderte von Jahren später, auf der anderen Seite des Mittelmeers, rang ein Mensch, der wie kein anderer die europäische Scholastik des Mittelalters prägte und dessen Name auch deshalb im Rahmen der Debatte über die Entstehung der europäischen Idee nie in Vergessenheit geraten darf, auch mit den skandala, nun aber den koranischen. AbÙ al-WalÐd MuÎammad b. AÎmad b. MuÎammad b. Rušd, oder der Einfachheit halber Averroes (1126–1198), wurde in Córdoba in eine Juristenfamilie geboren und war selber Jurist, Arzt und Philosoph.45 Bei seinem Versuch, das Verhältnis von Religion und Philosophie zu klären, ging es Averroes unter anderem darum, dem Koran Argumente zu entnehmen, die es den Philosophen ermöglichen würden, bei der Deutung jener koranischen Verse, die mit der Vernunft unvereinbar zu sein schienen, vom Literalsinn abzuweichen und andere Interpretationsmöglichkeiten zu erkunden. Diese Herangehensweise an das Heilige Buch rührte aus der Überzeugung des Averroes her, dass der Koran keineswegs der Vernunft zuwiderläuft, dass also Gesetz (šarÐÝa) und Weisheit/Philosophie (Îikma) nicht nur zusammengedacht werden können und müssen, sondern dass sie in der Tat harmonieren und sich keineswegs ausschließen.46 43 44 45 46
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Vgl. Andrew Louth, Maximus the Confessor, London 1996, 128–134. Vgl. Kattan, Verleiblichung (s. Anm. 40), 236–243. Zu einer Einführung in sein Denken vgl. Josep Puig Montada, Averroes. Treue zu Aristoteles, in: Theo Kobusch (Hg.), Philosophen des Mittelalters. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 80–95. Vgl. Ibn Rušd, FaÒl al-maqÁl wa-taqrÐr mÁ bayn al-šarБa wa-l-Îikmah min al-iÔÔiÒÁl (= Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie), hg. von Albert Nasri Nader, Beirut 7 1995, 58 ff.; ferner dazu Georges Tamer, ËawÁÔir fÐ l-Ýilm wa-l-ÐmÁn. AÒinwÁn humÁ am ÃiddÁn? (= Gedanken zu Wissenschaft und Glaube. Sind sie zwei Geschwister oder zwei Gegensätze?), in: Georges Massouh/Assaad
Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Averroes in seiner Hermeneutik die Meinung vertrat, dass sozusagen die Aporien im Koran insofern einen pädagogischen Wert besitzen, als sie den Interpreten dafür zu sensibilisieren vermögen, dass die fraglichen Verse nicht wörtlich, sondern allegorisch – im etymologischen Sinne des Wortes (= anders bzw. bildlich erklären) – gedeutet werden müssen. Um dieses hermeneutische Verfahren zu bezeichnen, das ausschließlich von den Gelehrten (ar-rÁsiÌÙn fÐ l-Ýilm) erfolgreich praktiziert werden kann, rekurrierte Averroes auf den koranischen Ausdruck taÞwÐl.47 Zu den aporetischen koranischen Stellen gehören nicht nur die Anthropomorphismen im Blick auf Gott, sondern auch Verse, die der Vernunft zu widerprechen scheinen. Trotz der nicht zu verkennenden epistemologischen und kontextuellen Unterschiede zum griechischen Kirchenvater von Karthago überschneidet sich der Ansatz des Averroes mit den interpretatorischen Prinzipien des Maximus insofern, als sie beide direkt oder indirekt auf die antike Tradition der skandala zurückgreifen, die mindestens seit der Stoa hermeneutisch fasziniert und immer wieder dazu auffordert, den Weg des Literalsinnes aufzugeben und sich auf die Suche nach anderen Interpretationswegen zu machen. Diese allgemeine Tendenz, dem wörtlichen Sinn, ohne ihn zu leugnen, einen tieferen bzw. inneren Sinn vorzuziehen, führte im lateinischen Mittelalter zur Lehre vom vierfachen Sinn der Heiligen Schrift48 und entwickelte sich zur Grundregel von Koranauslegung in der islamischen Mystik und einigen schiitischen Denkschulen.49 Die hoch spannende Geschichte der Allegorese, die sich bis zur Gegenwart erstreckt, kann hier leider nicht weiter erzählt werden. Wiederum muss ich also abbrechen und zu einem Fazit kommen: In einem größeren oder kleineren Teil ihrer jeweiligen exegetischen Traditionen stoßen Christentum und Islam sozusagen auf die Begrenztheit des Literalsinns – wie auch immer diese Begrenztheit im Einzelnen wahrgenommen wird – und versuchen somit, sie zu beheben, indem sie sich einer Reihe von interpretatorischen Verfahrensmitteln, einschließlich der Allegorese, bedienen.
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E. Kattan/ders. (Hg.), WaÊh wa-wahÊ (= Antlitz und Glanz) (Festschrift Georges Khodr), Beirut 2007, 87–107, vor allem 97 ff. Vgl. Ibn Rušd, FaÒl, (s. Anm. 46), 37. Zum Begriff taÞwÐl im Islam vgl. Gilliot, Art. Exegesis (s. Anm. 38), 100 f. Vgl. dazu Henri de Lubac, Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Ecriture 1–5, Paris 1993. Vgl. dazu Gilliot, Art. Exegesis (s. Anm. 38), 116–120.
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4. Auswertung Trotz ihres schematischen Charakters zeigen die vorausgehenden Ausführungen, dass die Vorgänge des Verstehens und Auslegens von Bibel und Koran darüber hinausgehen, was man in der Regel als »Exegese« im technischen Sinne bezeichnet. Denn unsere heiligen Schriften gehören in einen fortwährenden Rezeptions- und Aktualisierungsprozess, der zwar durch wissenschaftliche exegetische Errungenschaften beeinflusst und mit gestaltet wird, der aber Dimensionen umfasst, die auf die Interaktion zwischen dem Text und einer spezialisierten Auslegerschaft nicht reduziert werden können. Der obige Versuch, Bibel und Koran als liturgische Ereignisse zu erfassen und deren rituelle Bedeutung zu pointieren, diente vor allem dazu, sozusagen diese meta-exegetische Ebene zu illustrieren. Damit verbindet sich unmittelbar die Frage nach der Aktualisierung heiliger Texte, die in meiner obigen Darstellung nur flüchtig behandelt wurde. Hermeneutisch gesehen, scheint jede Interpretation eines Textes notwendigerweise ein Aktualisierungsmoment zu beinhalten. In diesem Sinne schreibt Hans-Georg Gadamer (1900–2002): »im Verstehen [findet] immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten [statt]«50. Denn einen Text kann man nur dann verstehen, wenn es einem gelingt, ihn in Verbindung mit der eigenen Lebens- und Denkwelt zu setzen. Auch die Offenbarung wird von Ömer Özsoy als eine Form der Aktualisierung angesehen.51 Doch hier ist eine andere Aktualisierungsebene gemeint, nämlich die, die sich mit der Frage nach der Relevanz von religiösen Inhalten, die geschichtlich bedingt sind, für die Gegenwart der Leserschaft befasst. Diesbezüglich kann man behaupten, dass die Allegorese über Jahrhunderte als das Mittel betrachtet wurde, wodurch die Distanz zwischen der Welt des Textes und jener der Rezipienten überwunden werden konnte. Doch gerade in dieser Art der Überwindung besteht die Aporie der Allegorese. Denn dadurch wird die kreative Dialektik zwischen einem göttlich geoffenbarten Text, der »unendlich viel mehr« aussagt, »als der Wortlaut unmittelbar zu erkennen«52 gibt, und dem menschlichen Versuch, »zu einer Erklärung zu gelangen, die« dem »rationalistischen Den50 51 52
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Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Göttingen 1960, 61990, 313. Vgl. Ömer Özsoy, Erneuerungsprobleme zeitgenössischer Muslime und der Koran, in: Körner, Alter Text (s. Anm. 13), 16–30, 26. Schäublin, Untersuchungen (s. Anm. 17), 88.
ken genügen«53 könnte, völlig aufgelöst, indem die Andersheit des Textes sozusagen zugunsten der Omnipotenz des Interpreten aufgeopfert wird. Dass es sich hierbei nicht um eine Wertvorstellung des modernen Denkens handelt, belegt das Beispiel der antiochenischen Bibelexegese und der mittelalterlichen klassischen Koranexegese, die sich beide von der Allegorese distanziert haben. Jeglicher Verankerung in der Geschichte zum Trotze trifft es aber zu, dass die heiligen Texte viel mehr aussagen, als der Wortlaut unmittelbar zu erkennen gibt. Die feurige koranische Aussage, das Meer würde versiegen, ehe die Worte Gottes zu Ende gingen, sowie die Behauptung des Maximus Confessor, das Wort Gottes ähnele in seiner Unbegrenztheit dem Wasser, bestätigen diese Intuition. Denn einerseits deuten die heiligen Texte auf das Wesen Gottes hin, das unbegrenzt und unerschöpflich ist, andererseits aber lassen sie sich auf keine Exegese reduzieren, wie treffend auch immer sie sein mag. Umso mehr erscheint mir die Aufgabe moderner exegetischer Ansätze im Christentum und Islam, die sich stark an den neuen Erkenntnissen der Hermeneutik, der Kommunikationstheorie und der Literaturwissenschaft orientieren,54 darin zu bestehen, die Sinnoffenheit heiliger Texte und deren Aktualisierungspotentiale zu zeigen, ohne ihr historisches Eingebettetsein herunterzuspielen. Derart kann man meines Erachtens den bemerkenswerten vergangenen Bemühungen, die biblischen und koranischen Texte historisch und sprachlich zu erschließen, Rechnung tragen, ohne die Grundintuition der allegorischen Interpretation zu verraten. Vor allem aber, ohne auf die gegenwärtige und zukünftige Entdeckungsreise zum Sinn hin zu verzichten, der durch Worte, heilige Worte, erzeugt wird und wie ein Schmetterling aus seinem Urstoff entsteht. Es ist in der Tat kein Zufall, dass dieser Beitrag mit der Reise-Metapher einsetzt und endet. In dieser Metapher steckt nämlich etwas von unserem Verlangen danach, alte Welten zu verlassen und sich auf neue Welten einzulassen. Hat der Dichter etwa nicht gesungen, dass wir wie fliegende Wiedehöpfe sind und dass unsere Sehnsucht unablässig dem Überqueren gilt?
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Ebd. Vgl. z. B. Rotraud Wielandt, Exegesis of the QurÞÁn. Early Modern and Contemporary, in: Encyclopedia of the QurÞÁn, Bd. 2, 124–140; Körner, Alter Text (s. Anm. 13); Nasr Hamid Abu Zaid, Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islams, Freiburg 2008; ders., Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran, Freiburg 2009.
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Offenbarung als Literatur? Bibelinterpretation zwischen Geschichte und Geltung Eckart Reinmuth
Das Thema meines Beitrags verweist auf eine aktuelle Problemstellung, und es verwendet dazu fünf abstrakte Begriffe, die hinsichtlich der biblischen Bücher als Anachronismen zu behandeln sind. Das gilt bereits für das erste Wort, denn im Zusammenhang der thematischen Fragestellung ist »Offenbarung« ein systematischer Begriff, der als solcher in den biblischen Schriften keine Entsprechung hat. Dieser Hinweis ist mir wichtig, weil das Gespräch über »Offenbarung als Literatur« oft durch eine vorausgesetzte Kongruenz zwischen dem modernen, gegenwärtigen systematischen Begriff und biblischen Auffassungen und Formen von Offenbarung dominiert wird. Dann wird die Rückfrage nach der Offenbarung schnell verdächtigt, den Wahrheitsanspruch der Schriften untergraben zu wollen.
1. Bultmann und die reformatorische Hermeneutik Rudolf Bultmann hat sich diesem komplexen Problem vor genau 80 Jahren eingehend gestellt und ein am Neuen Testament gewonnenes Offenbarungsverständnis zu aktualisieren versucht. In seinem gemeinverständlichen Aufsatz »Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament«1 insistierte er mehrfach auf dem Unterschied zwischen Offenbarung als Lehre, Wissensvermittlung, Belehrung im Gegensatz zu Offenbarung als Geschehen, je gegenwärtiger Anrede, Predigt. An dieser grundlegenden Differenzierung entwickelt Bultmann eine wichtige Entscheidung: »Es gibt [...] für den Hörer nicht einen Weg zurück hinter die 1
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Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Tübingen 31965, 1–34 (Erstveröffentlichung 1929).
Predigt, sei es zu einem ›historischen Jesus‹, sei es zu einem kosmischen Vorgang, der sich irgendwo und irgendwann abgespielt hat. Vielmehr spielt sich für ihn alles Entscheidende in seiner Gegenwart ab: ›Jetzt ist der Tag des Heils.‹«2 Zusammenfassend formuliert Bultmann: »Hinter den gepredigten Christus zurückgehen, heißt die Predigt missverstehen; nur im Wort, als der Gepredigte, begegnet er uns, begegnet uns in ihm die Liebe Gottes. Also noch einmal: Nicht seinem zeitlosen Sinngehalt nach, sondern als Anrede von gewöhnlichen Menschen an uns gebracht, hier und jetzt, ist das Wort, was es ist, nämlich Offenbarung.«3 Der meines Erachtens entscheidende Impuls dieser Ausführungen liegt darin, die biblischen Schriften nicht auf eine hinter ihnen liegende Historizität hin zu interpretieren, sondern sie »als Anrede von gewöhnlichen Menschen an uns« zu verstehen. Bultmann begründet diese These ausführlich, indem er neutestamentliche Texte selbst zu Wort kommen lässt. Ihr Anliegen ist Anrede, nicht historische oder »weltanschauliche«4 Information. Auf der Linie dieser Überlegungen gründet die konsequente Wahrnehmung der biblischen Schriften als Literatur. In seinem Aufsatz »Das Problem der Hermeneutik« entwickelt Bultmann die These: »Die Inter-
pretation der biblischen Schriften unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere Literatur.«5 Mit dieser These, die den siebten und zugleich vorletzten Abschnitt seines Aufsatzes einleitet, setzt Bultmann nicht nur konsequent fort, was sich im Aufsatz von 1929 bereits andeutete; er stellt sich damit zugleich in die Tradition reformatorischer Hermeneutik. Martin Luther verstand die Bibel als menschliches Zeugnis und gerade so als Gottes Offenbarung. Das Evangelium – gemeint ist nicht ein einzelnes Evangelium, sondern der Kern der biblischen Botschaft – »ist und soll nit anders seyn denn eyn rede oder historia von Christo, gleych wie unter den Menschen geschicht, das man eyn buch schreybt von eynem künige odder fursten, was er than und geredt und erlitten hatt ynn seynen tagen, wilchs man auch mancherley weyß mag beschreybenn, eyner ynn die lenge, der ander ynn der kurtze. Alßo soll und ist das Euangeli nit anders denn eyn Chronica, historia, legenda, von Christo, wer 2 3 4 5
Ebd. 22 f. (Anspielung auf 2Kor 6,2). Ebd. 31. Ebd. 30 und passim. Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Berlin 1973, 256–280, 276 (Erstveröffentlichung 1950).
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der sey, was er than, geredt und erlitten habe, wilchs eyner kurtz, der ander lang, eyner ßonst der ander ßo beschrieben hatt.«6 Das reformatorische Schriftprinzip kann durchaus als »ein hermeneutisches Prinzip«7 bezeichnet werden. Luther hatte mit seiner Spitzenformulierung scriptura sacra sui ipsius interpres (die Heilige Schrift ist ihre eigene Auslegerin)8 dieses hermeneutische Prinzip zugleich als ein polemisches gemeint: Nicht kirchliche oder akademische Lehrautorität vermitteln die Wahrheit der Schrift, sondern diese selbst – in der Interpretationsgemeinschaft der Glaubenden. Die exegetische Arbeit des Auslegers ist damit gerade nicht überflüssig gemacht, sondern eingefordert; zugleich ist ihr entscheidendes Kriterium genannt: Das Schrift- oder Auslegungsprinzip ist nicht vom Exegeten zu bestimmen, sondern es ist das elementar von den biblischen Schriften vorgegebene. Mit der hermeneutischen Formel scriptura sacra sui ipsius interpres unterscheidet Luther folglich zugleich zwischen richtiger und falscher Schriftauslegung.9 Dabei geht es gerade nicht um eine etwa strittige Formal-Anerkennung der Schriftautorität, sondern um die Abwehr einer vorwegnehmenden Aneignung des Schriftinhalts durch die instrumentalisierende Interpretation des Auslegers.10 Dieses hermeneutische Problem muss sich der hermeneutischen Grundforderung stellen, dass nicht die Schrift eigenem Verständnis zu implantieren sei – vielmehr erweist sich das eigene Verständnis als von der Schrift her destruierbar.11 6
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Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe, WA), 10,1,1,9, 8–11, aus der Kirchenpostille von 1522; zit. nach Richard Lischer,
Die Funktion des Narrativen in Luthers Predigt. Der Zusammenhang von Rhetorik und Anthropologie, in: Albrecht Beutel/Volker Drehsen/Hans Martin Müller (Hg.), Homiletisches Lesebuch, Tübingen 1986, 308–329, 313. Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, Berlin 1986, 34. Vgl. die Assertio omnium articulorum von Ende 1520, mit der Luther auf die Bannandrohungsbulle vom 15.6.1520 antwortete (WA 7,97, 20–28); vgl. auch die Predigt 1522 (WA 10 III 238, 10 f.): »Also ist die schrifft ihr selbs ain aigen liecht. Das ist dann fein, wenn sich die schrifft selbs auslegt [...].« (Nachweise bei Walter Mostert, Scriptura sacra sui ipsius interpres. Bemerkungen zum Verständnis der heiligen Schrift durch Luther, in: Lutherjahrbuch 46 [1979], 60–96). Falsche »Schriftauslegung lässt die Schrift insofern nicht sui ipsius interpres sein, als sie die Schrift daran hindert, ihre eigene Sache zu sagen. Der Ausleger fällt der Schrift ins Wort.« (Mostert, Scriptura sacra [s. Anm. 8], 62). Vgl. ebd. 63. Vgl. ebd. 64: »Dass man die eigenen Konzeptionen verdrängen muss, um den Geist eines anderen Textes aufnehmen zu können, entspricht der her-
Für Luther beruht die Autorität der Schrift nicht in einem formalen Offenbarungsanspruch.12 Die Verteidigung einer formalen Offenbarungsautorität führt ins Leere. Nur die erfahrene Autorität der Schrift, in der diese ihre Wahrheit an mir gleichsam erweist und realisiert, bewahrt diese selbst davor, durch mich sofort wieder instrumentalisiert bzw. ideologisiert zu werden. Damit ist nun ein Spannungsbogen intendiert, den wir mit der Fragestellung »Offenbarung als Literatur?« aufnehmen können. Bultmann hatte gezeigt, dass die scheinbare Voraussetzungslosigkeit einer rein historischen Auslegung den Impuls verfehlt, dem die Texte sich verdanken. Sie wollen nicht neutralisiert werden; ihre Pragmatik zielt vielmehr auf ein menschenveränderndes Verständnis. Die Diskussion um das »Vorverständnis« hatte hier eine wichtige Weiche gestellt. Bultmann lenkte damit den Blick auf die lebensweltlichen Voraussetzungen der Interpreten und die damit verbundene Aufgabe der ständigen Selbstaufklärung, und er zeigte das an den biblischen Texten.13
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meneutischen Logik so sehr, dass diese Forderung allgemeine exegetische Bedeutung hat. Der Text will nicht in ein apriorisch feststehendes System von Gedanken überführt werden, sondern er will mit seiner eigenen Sache zum Zuge kommen.« Damit ist gerade auch ein solcher Autoritätsgebrauch der Schrift abgewehrt, der sie als Steinbruch für Belegzitate zu einer bestimmten Doktrin oder Ideologie benutzt (vgl. ebd. 66). »Die Autorität der Schrift in der Kirche gründet anders als ihr Inhalt nicht ausschließlich auf vergangenen Ereignissen, sondern in gegenwärtiger Erfahrung, und die lässt sich nicht anders als gültig erweisen, als dass sie immer wieder gemacht wird: die Erfahrung, dass sich im Umgang mit der Schrift die Einsicht einstellt, was Gottes Wort für uns ist und dass es über die Wahrheit unseres Lebens und unserer Welt entscheidet.« (Ingolf U. Dalferth, Die Mitte ist außen. Anmerkungen zum Wirklichkeitsbezug evangelischer Schriftauslegung, in: Christof Landmesser u. a. [Hg.], Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums [Festschrift Otfried Hofius], Berlin/New York 1997, 173–198, 177) Zu den biblisch inspirierten Beiträgen zu einer »tiefen« Aufklärung vgl. Thomas Rentsch, Die Entdeckung der Unverfügbarkeit. Zum Zusammenhang von Negativität und Sinnkonstitution im Horizont der biblischen Überlieferung, in: Martin Frühauf/Werner Löser (Hg.), Biblische Aufklärung – die Entdeckung einer Tradition, Frankfurt 2005, 53–64.
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2. Literaturwissenschaft, historisch-kritische Methodik und Bibeltext Für die exegetische Arbeit an den biblischen Texten haben literaturtheoretische Entwicklungen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Zwar ist trotz des zitierten Plädoyers von Rudolf Bultmann aus dem Jahr 1950 ein literaturwissenschaftlich begründeter Umgang mit diesen Texten, ihre Kommunikation als Literatur im Kontext anderer, auch gegenwärtiger Literaturen noch keine methodologisch begründete und hermeneutisch abgesicherte Selbstverständlichkeit. Trotz der ursprünglich hohen Bedeutung literaturtheoretischer Voraussetzungen für die Entwicklung der historisch-kritischen Methodologie ist der Hauptakzent zumindest neutestamentlicher Interpretationsarbeit traditionell historisch bestimmt, sind literarkritische, form- und redaktionsgeschichtliche Methoden dem dominanten Paradigma der historischen Rückfrage nach der hinter den Texten liegenden Geschichte integriert. Ein wachsendes exegetisches Problembewusstsein führt jedoch zu einer zunehmenden Rezeption literaturtheoretischer Modelle und zu inspirierenden Ergebnissen ihrer Anwendung. Biblische Texte partizipieren wie alle Literatur an der kollektiven Welterschließung einer Gesellschaft. Die Interpretation dieser Texte, die der falschen Alternative von historistischer oder fundamentalistischer Textauslegung entgehen und nicht einer kulturalistischen Vergleichgültigung dieser Texte zuarbeiten will, ist deshalb auf solide literaturtheoretische und damit zum Beispiel auch rezeptionsästhetische, narratologische und metaphorologische Grundierung angewiesen. Das schließt die historische Frage nach dem Selbstverständnis der biblischen Schriften ein. Welches Verständnis von Offenbarung setzen sie voraus, implizieren sie oder thematisieren sie gar? Wie sind – vor allem vor altorientalischem, hellenistischem und frühjüdischem Hintergrund – differenziert ihre Ansprüche, Offenbarung zu transportieren, zu verstehen und zu bestimmen?14 Erst die konsequent gestellte historische Frage ermöglicht es, die kulturelle Kontextualität eines Textes zu erhellen und seiner intendierten Kommunikation auf die Spur zu kommen. 14
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Hier liegt ein unumgängliches und weit gefächertes Forschungsfeld vor uns, zu dem u. a. die hermeneutischen Implikationen der Verschriftungsprozesse wie spezifischer Inspirationsauffassungen, aber natürlich auch der historisch eruierbaren Verhältnisbestimmungen neutestamentlicher Schriften zu den Heiligen Schriften Israels gehören.
Das schließt selbstverständlich die Erforschung historischer Fakten (einschließlich etwa der historischen Jesusforschung) ein. Hier gibt es keine Einschränkungen. Dennoch ist es damit nicht genug. Mit der Frage nach der Geschichte ist die Frage nach der Geltung der Texte nicht beantwortet. Diese Frage ist nie ein für allemal beantwortet; sie stellt sich immer von Neuem. Das »Kritische« der historisch-kritischen Methodik bezeichnet ursprünglich ihr emanzipatives Potential hinsichtlich einer die biblischen Texte vereinnahmenden Dogmatik, also gegenüber einem instrumentalisierenden Geltungsanspruch. Diese kritische Komponente bleibt unverzichtbar. Der Reflexionshorizont biblischer Interpretationsarbeit ist jedoch hinsichtlich der Frage nach der Geltung zu erweitern. Nehmen wir diese Texte in all ihrer Verschiedenheit als Literatur wahr, so müssen wir einerseits berücksichtigen, dass sie Kulturen entstammen, die uns unvertraut und fremd sind. Es sind ihrer Herkunft nach fremde Texte.15 Eine punktuelle Sachkritik wird ihnen nicht gerecht – also weder das Ausspielen verschiedener neutestamentlicher Positionen gegeneinander noch moderner Verstehensvoraussetzungen gegen antike Wirklichkeitsbedingungen.16 Andererseits ist die ehedem wie selbstverständlich vorausgesetzte Relevanz der biblischen Texte selbst zum kritischen Zentrum der Rückfrage geworden. Was der historisch-kritischen Methodik als emanzipatorische Arbeit aufgegeben war, ist vor unseren Augen zu einer Tätigkeit geworden, die ein merkwürdiges Vakuum produziert, weil die vorausgesetzte Geltung, von der es sich zu emanzipieren und vor der es die Eigenaussage und Eigengestalt der Texte zu betonen galt, sich völlig verändert hat.17 So unselbstverständlich heute die Rede von Gott ist, so 15
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Vgl. dazu Stefan Alkier, Fremdes verstehen – Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften. Eine Antwort an Laurence L. Welborn, in: Zeitschrift für Neues Testament 11 (2003), 48–59; ders., Ethik der Interpretation, in: Markus Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21–41. Vgl. Martin Pöttner, Die Einheit von Sachkritik und Selbstkritik. Semiotische Rekonstruktion der grundlegenden hermeneutischen These Rudolf Bultmanns, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 91 (1994), 396–423; Hans Weder, Die Externität der Mitte. Überlegungen zum hermeneutischen Problem des Kriteriums der Sachkritik am Neuen Testament, 1997, in: Landmesser, Jesus Christus (s. Anm. 12), 291–320. Vgl. dazu Ingolf U. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, Leipzig 2004, 9–24.
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selbstverständlich war sie Voraussetzung aller Kommunikation im frühen Judentum und Christentum. Gegenwärtige Gesellschaft geht davon aus, dass alle Funktionen damaliger Gottesrede in profane Rollen übergegangen sind. Es gibt mit diesem Substitutionsmodell keinen Grund (mehr), von Gott zu reden. Wenn es dennoch Rede von (diesem) Gott in gegenwärtiger Gesellschaft geben soll, muss das eigens und neu begründet werden. Und zwar nicht unter der (vorgeblich selbstverständlichen) Voraussetzung der Existenz Gottes – die in ontologischer Hinsicht unentscheidbar bleiben muss –, sondern auf der Grundlage des Bekenntnisses zu Jesus Christus vor dem Horizont des etsi Deus non credetur.18 In dieser Perspektive sind wir von der historischen Fragestellung gerade nicht dispensiert, sondern in ganz umfassender und radikaler Weise auch an diese verwiesen. Je konsequenter wir historisch fragen, desto deutlicher kann hervortreten, was die Texte zur Anrede werden lässt, wie sie als Relikte vergangener Kommunikationssituationen, als Fragmente konkreter Auseinandersetzungen und Zuschreibungsprozesse zu verstehen sind. Dann kann es gelingen, gegenwärtige Kommunikation von Wirklichkeit mit den in den Texten manifesten Perspektiven in einen Dialog zu bringen.
3. Autorisierungsstrategien Das gilt auch für den Offenbarungsanspruch biblischer Schriften. Geht es mit »Offenbarung« um ein Wissen, »das der Mensch nach rel(igiösem) Selbstverständnis nicht aus sich selbst erlangen kann, das er also nicht von Natur aus schon besitzt«19, so ist bei dem Konzept »Offenbarung als Literatur« zugleich zu beachten, dass es mit der begrifflichen Metapher, die auf den Vorgang der Kundgabe einer bislang verborgenen Botschaft abzielt, in einer konsequent immanenten Interpretation jeweils um Zuschreibungsprozesse geht.20 Schreiben ist in diesem Sinne ein Zuschreiben; heilige Schriften wurden über Aussonderungsverfahren als Offenba18
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Vgl. dazu Eckart Reinmuth, Der Kanon des Neuen Testaments und die Ethik der Interpretation, in: Troels Engberg-Pedersen u. a. (Hg.), Kanon. Bibelens tilblivelse og normative status (Festschrift Mogens Müller), Kopenhagen 2006, 266–282. Johann Figl, Art. Offenbarung I. Religionswissenschaftlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 6, 461–463, 461. Vgl. Christoph Schwöbel, Art. Offenbarung II. Religionsphilosophisch, in: ebd. Bd. 6, 463–467.
rungstexte autorisiert. Es geht damit also nicht nur um die Produktion dieser Literatur, sondern auch um ihre Rezeption. In der Vielfalt der Offenbarungen klammern Interpretationsgemeinschaften ein Wissen um eine Wirklichkeit aus dem menschlich Wissbaren aus und räumen damit diesem Offenbarungswissen einen anderen Rang ein als dem eigenen Wissenkönnen. So lässt sich zum Beispiel an der Diskussion um die Auferstehung Jesu Christi zeigen, dass die Auseinandersetzung um eine psychologische Deutung (Visionen des Auferstandenen aufgrund von Trauer- und Schuldverarbeitung) dem Selbstverständnis der neutestamentlichen Osterberichte kaum gerecht wurde. Ein (gar beweisbares) Wissen darum, »wie es eigentlich gewesen ist«, ist gegen solche Deutungen nicht aufzubieten. Dem in diesen Texten manifesten Osterbekenntnis geht es vielmehr einzig darum zu bezeugen, dass die Inanspruchnahme Gottes durch Jesus von Nazareth keine ins Scheitern führende Gotteslästerung war, sondern durch die Selbstidentifikation Gottes mit diesem Jesus Bestätigung fand.21 Wird in diesem Umstand der Kern christlichen Bekennens gesehen, Ostern also als ereignishafte Selbstoffenbarung Gottes verstanden, dann wird damit eine Entscheidung vollzogen, die diesen Umstand dem menschlich Ableitbaren (das weiterhin denkbar bleibt; vgl. Mt 27,62–66; 28,11–15)22 entzieht. Selbstverständlich bleiben viele Möglichkeiten denkbar, wie es zum Osterglauben gekommen ist. Zu sagen, er verdanke sich dem offenbarenden Ja Gottes zu dem am Kreuz Gestorbe21
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Dass es um diesen Inhalt, nicht um eine angebliche Singularität der dominanten Vorstellungen geht, bezeugen altkirchliche Autoren, die auf vergleichbare Phänomene in hellenistischer Religiosität verweisen. Vgl. dazu Eckart Reinmuth, Auferstanden. Diskurstheoretische Überlegungen zum österlichen Grund kirchlichen und theologischen Handelns, in: Heinrich Holze/Hermann Michael Niemann (Hg.), Kirchenleitung in theologischer Verantwortung. Dankesgabe an Landesbischof Hermann Beste, Leipzig 2007, 13–27, 25. Vgl. ausführlich z. B. Adela Yarbro Collins, Apotheosis and Resurrection, in: Peder Borgen/Søren Giversen (Hg.), The New Testament and Hellenistic Judaism, Aarhus 1995, 88–100; Dieter Zeller, Hellenistische Vorgaben für den Glauben an die Auferstehung Jesu?, in: Rudolf Hoppe/Ulrich Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus. Christologische Studien (Festschrift Paul Hoffmann), Berlin/New York 1998, 71–91. Vgl. dazu Eckart Reinmuth, Ostern – Ereignis und Erzählung. Die jüngste Diskussion und das Matthäusevangelium, Zeitschrift für Neues Testament 19 (2007), 3–14. In diesem Aufsatz wird exemplarisch nachgewiesen, dass es sich in der Perspektive des frühen Christentums keineswegs um willkürliche Zuschreibungsakte handelt.
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nen, ist eine nicht beweisbare Zuschreibung, die jedoch beansprucht, die Wahrheit des tatsächlich Geschehenen zu erfassen und geltend zu machen. Wenn von der Angewiesenheit von Offenbarung auf menschliche Kommunikation die Rede ist, so ist damit nach biblischem Verständnis gerade nicht menschliche Ableitbarkeit, sondern die Behauptung und damit der Geltungsanspruch menschlicher Unableitbarkeit verbunden. In literaturwissenschaftlich-historischer Perspektive handelt es sich mit dem Stichwort »Offenbarung« um Autorisierungsstrategien, die die biblischen Schriften mit ihren kulturellen Kontexten teilen.23 Kein formaler Offenbarungsanspruch sichert folglich das Gesagte; literarisch erhobene Offenbarungsansprüche gehören vielmehr zu den kulturgeschichtlich zu erhellenden Kommunikationssituationen, in denen die biblischen Schriften jeweils zu verorten sind.24 Sie sind demnach Teil der intendierten Rezeption; sie zielen insofern nicht auf Isolation und Dialogverweigerung ab, sondern sind auf konkrete Dialogsituationen ausgerichtet.25 Diese Überlegung gilt etwa auch für 2Petr 1,20 f.26 Hier wird behauptet, dass es nur eine autorisierte Schriftinterpretation geben kann. Aber Texte zu interpretieren heißt, sich der Vielfalt der Interpretationen zu stellen. Natürlich spielt der Gegensatz im Selbstverständnis des Menschen zwischen Moderne und Antike hier in verwirrender Weise hinein – entscheidend aber ist, dass es keine Beanspruchung übermenschlicher 23
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Bekanntlich bleibt z. B. der Kampf zwischen »wahren« und »falschen« Propheten in Israel unentschieden (vgl. z. B. Mi 3,5–12; Jer 14,13–16; 27 f.; Ez 13,1–23), und auch die Unterschiedlichkeit der bei den Schriftpropheten gesammelten Optionen und Botschaften spricht ihr eigenes Wort (vgl. die Übersicht bei Jörg Jeremias, Art. Prophet/Prophetin/Prophetie, II: Altes Testament, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 6, 1694– 1699, 1697 ff.). Vgl. zum damit vorausgesetzten Intertextualitätsmodell in literaturwissenschaftlicher Perspektive z. B. Birgit Neumann/Ansgar Nünning, Kulturelles Wissen und Intertextualität: Grundbegriffe und Forschungsansätze zur Kontextualisierung von Literatur, in: dies./Marion Gymnich (Hg.), Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, Trier 2006, 3–28. Vgl. Eckart Reinmuth, Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments, Göttingen 2002, 72–77. Der Text lautet in der Übersetzung Martin Luthers: »Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem Heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet.«
Autorität für die Interpretation der biblischen Schriften geben darf. Der zweite Petrusbrief partizipiert wie andere antike Texte an Diskursen, in denen autorisierte, durch Offenbarung legitimierte Interpretation gegen solche mit gleichem Anspruch auftritt.27 Diese antiken Diskurse sind als Ausdruck antiker menschlicher Selbstverständigung wahrzunehmen. Menschliche Selbstverständigung ist auf kollektives Verstehen angewiesen. Menschliche Rezeption wird in den biblischen Schriften als konstitutiv für »Offenbarung« vorausgesetzt; das zeigt sich bereits an den sprachlichen und literarischen Formen, die für die Kommunikation von Offenbarung ausgewählt wurden. Die biblische Tradition kennt eine Vielzahl entsprechender Formen; immer aber geht es um Sprache, um Deutung, um neue Worte. Paulus insistiert in 1Thess 2,13 darauf, dass die Adressaten das Wort der Verkündigung Jesu als des Christus nicht als Wort menschlicher Erfindung empfangen haben, sondern es seinem Ursprung und seiner Wahrheit entsprechend als Gotteswort annahmen.28 Darauf basiert seine Wirksamkeit in der Gemeinde. Entscheidend also ist, wie das Wort aufgenommen wird – unabhängig von ihrer Aufnahme ist Offenbarung nicht möglich, ist ein Reden davon ohne Sinn.29 Offenbarung ist immer kontextuell. Es gibt keine Offenbarung an sich, unabhängig von menschlicher Sprache. Folglich wäre es sinnlos, einerseits von »Offenbarung an sich« und andererseits von ihrer »nur menschlichen« Vermittlung zu sprechen. Offenbarung ist nach biblischem Verständnis keine abstrakte Substanz, sondern konkrete Verstehenserfahrung. Gibt es Offenbarung nicht jenseits der Anschaulichkeit und Endlichkeit menschlicher Rede, so ist damit zugleich behauptet, dass der Zu27
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Für die entsprechende Auffassung Philos von Alexandrien vgl. Helmut Burkhardt, Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, Gießen 21992. Eine breite Materialsammlung antiker Literatur bietet Marco Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie, Bd. 1: Grundlagen des spätantiken und frühchristlichen Offenbarungsglaubens, Tübingen 1995. Der Passus lautet in der Luther-Übersetzung: »Und darum danken wir auch Gott ohne Unterlass dafür, dass ihr das Wort der göttlichen Predigt, das ihr von uns empfangen habt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das in euch wirkt, die ihr glaubt.« Vgl. Rudolf Bultmann, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, in: ders., Glauben, Bd. 1 (s. Anm. 1), 268–293; Oda Wischmeyer, Das »Wort Gottes« im Neuen Testament. Eine theologische Problemanzeige, in: Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Wort Gottes – Kerygma – Religion. Zur Frage nach dem Ort der Theologie, Neukirchen-Vluyn 2003, 27–40.
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sammenhang von Interpretation und Offenbarung nicht auflösbar ist. Es gibt nach biblischem Verständnis keine zeit- und geschichtslose Offenbarung. Deshalb ist die historische Arbeit gehalten, das jeweils Gemeinte herauszuarbeiten. Was bedeutet das für die Frage nach der Geltung?
4. Kanon und Interpretationsgemeinschaft Wenn wir davon ausgehen, dass Texte, die ihre Relevanz verlieren, dem kollektiven Gedächtnis verloren gehen, dass sie nicht mehr gespeichert, überliefert, rezipiert werden, dann wird deutlich, welch hoher Relevanzanspruch gegenwärtig den biblischen Texten gilt. Man kann die christlichen Kirchen als Interpretationsgemeinschaften bezeichnen, die für die (je) gegenwärtige Geltung der biblischen Schriften einstehen. Sie erheben einen Relevanzanspruch für diese Schriften, der uneingeschränkt gilt. Damit ist ein universaler Anspruch gemeint, der sich nicht auf partielle Wirklichkeitsbereiche reduzieren lässt. Beansprucht wird vielmehr die Relevanz dieser Schriften für das Ganze unserer Welt, insofern es von ihnen perspektiviert und erschlossen wird. Kirche als Interpretationsgemeinschaft realisiert ihre Identität, indem sie den Anspruch der Schriften, Wirklichkeit zu erschließen, für die Welt auslegt. Es steht ihr nicht frei, das zu tun oder zu lassen, soweit und solange sie sich als Interpretationsgemeinschaft dieser Schriften versteht. Nicht die weltbezogene Interpretation ist der Sonderfall; vielmehr bildet die selbstbezogene Interpretationsarbeit lediglich den Raum der Selbstverständigung und -vergewisserung.30 Kirchliches Bekenntnis richtet sich nicht auf die Schrift(en), sondern auf das, was sie bezeugen. Der Kanon ist kein Gegenstand des Glaubens.31 Zugleich ist für die Kirchen als Interpretationsgemeinschaften der 30 31
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Vgl. Eckart Reinmuth, Neutestamentliche Exegese, Theologie und Gesellschaft. Diskurstheoretische Überlegungen, hg. von Markus Öhler/Carsten Claußen (im Erscheinen). Ingolf U. Dalferth stellt dazu fest: »Die Schrift [...] erhellt auf konsensfähige und konsensfördernde Weise, wer und was Gottes Wort sagt und wirkt. Sie ist nicht selbst Gottes Wort und übt auch nicht dessen Wirkungen aus. Sie setzt uns vielmehr einzeln und gemeinsam in die Lage, Gottes Wort und Wirken als solche wahrzunehmen, diese Wahrnehmungen zustimmungsfähig zur Sprache zu bringen und so in ein verstehendes und vernünftiges Verhältnis zu unseren Wahrnehmungen von Gottes Wort und Wirken treten zu können. Die Schrift ist nicht der Grund, sondern die Sprachschule des Glaubens: Sie wirkt nicht das Heil, sondern hilft uns, Gottes Heilswirken zu
Bezug auf die Bibel identitätsbildend. Das gilt in historischer Hinsicht, denn die Herausbildung des biblischen Kanons war eine wesentliche Voraussetzung, unter der die Kirche zu ihrer Identität fand.32 Das gilt aber auch mit Blick auf die gegenwärtige Bibelinterpretation. Denn der biblische Kanon ist kein statischer Schriftenkatalog, sondern gleichsam selber ein »Text«, auf den sich die Kirche bleibend festgelegt hat und der sie zur Interpretationsgemeinschaft macht.33
5. Kanon als Text Das Wort »Bibel« bezieht sich etymologisch zunächst auf das mittellateinische biblia, was »Bücher« bedeutet. Dieses Wort wiederum leitet sich vom griechischen biblia ab, dessen Singular to biblion die Verkleinerungsform von hÿ biblos ist.34 Dieses Wort wiederum meint den Papyrus, aus dem Boote, Segel, Matten, Kleider, aber auch Schriftrollen35 geflochten wurden. Das Wort »Bibel« enthält also eine Metapher; es verweist auf das Papier und seine geflochtene Struktur. Im Lateinischen wurde das Papier texitur, textus, Gewobenes, Geflochtenes genannt. Hier gründet etymologisch unser Textbegriff. Auch er weist also zurück auf die ursprüngliche Bedeutung »Gewebe«. Diese Metaphorik kann die These illustrieren, der biblische Kanon sei ein »Text«, auf den sich die Kirche bleibend festgelegt hat und der sie zur Interpretationsgemeinschaft macht. Denn mit der Kanonwerdung der biblischen Schriften entstand tatsächlich ein Gewebe, das nicht nur Übereinstimmendes, sondern auch Spannungen und Widersprüche enthielt.
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verstehen und uns und anderen verständlich zu machen.« (Dalferth, Mitte [s. Anm. 12], 175 f.) Zu den antiken Kontexten der jüdischen und christlichen Kanonisierungsprozesse vgl. Margalit Finkelberg/Guy G. Stroumsa (Hg.), Homer, the Bible and Beyond. Literary and Religious Canons in the Ancient World, Leiden/Boston 2003. Vgl. jetzt auch Bernd Janowski, Kanonhermeneutik. Eine problemgeschichtliche Skizze, in: Berliner Theologische Zeitschrift 22 (2005), 161–180. Ich folge hier und im Folgenden Beate Wagner-Hasel, Textus und textere, hyphos und hyphainein. Zur metaphorischen Bedeutung des Webens in der griechisch-römischen Antike, in: Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine (Hg.), »Textus« im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006, 15–42, 15 ff. Dabei wurden Papyrusstengel in dünne Streifen geschnitten und diese in zwei Lagen kreuzweise übereinander gelegt und gepresst.
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Dabei muss bedacht werden, dass jede Kanonisierung als Prozess der Auswahl und Kombination zu begreifen ist, bei dem ein neuer Kontext seiner Elemente gebildet wird.36 In ihrem neuen, kanonischen Kontext spiegeln alle Texte einander; der gesamtbiblische Kanon bildet für die Rezeption den primären intertextuellen Bezug.37 Mit dem Prozess der Kanonwerdung kommt auch die Unterscheidung zwischen Fortschreibung und Übertragung ins Spiel. Aus den Prozessen der Fortschreibung wird die Aufgabe der Übertragung. Prozesse der Fortschreibung geraten an ihr Ende; sie werden durch Tradierung, Gebrauch und Auslegung der kanonischen Schriften abgelöst. Hinsichtlich des eingangs zitierten Bultmann’schen Wortes von der »Anrede von gewöhnlichen Menschen an uns« ist also festzuhalten: Für die Interpretationsgemeinschaft ist die Grenze zwischen dem Ende der Fortschreibung und dem Beginn der kanonischen Auslegung konstitutiv. Jede Auslegung findet unter neuen, veränderten Bedingungen statt. Keine Interpretationsgemeinschaft kann eine hermeneutische Kongruenz mit dem Kanon und seinen Produktionsbedingungen beanspruchen. Zugleich werden Spannungen, Widersprüche und Pluralitäten konserviert, die sich auf keiner Metaebene auflösen lassen, sondern zu immer neuen Lektüren und Relektüren auffordern.38 Es ist überflüssig, solche Spannungen aufzuführen; sie sind lediglich Hinweise darauf, dass die biblischen Schriften gerade nicht gleichsam kanonisch uniformiert werden dürfen.39 Sie alle haben ihr eigenes Gewicht, ihre eigene Stimme, und sie sind selber oft genug mehrstimmig.
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Zum Folgenden vgl. Reinmuth, Kanon (s. Anm. 18). Zu dieser intertextuellen Perspektive vgl. z. B. Wolfgang Hallet, Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, in: Gymnich u. a. (Hg.), Kulturelles Wissen (s. Anm. 25), 53–70. Eins der markantesten Beispiele ist die Vierzahl der Evangelien. Die alte Kirche widerstand nicht ohne Grund der Versuchung, ein einziges Evangelium oder eine Evangelienharmonie (wie das Diatessaron des Tatian) an ihre Stelle zu setzen, und sie bejahte damit ihre Unterschiedlichkeit. Zwei dieser Evangelien setzen eine jungfräuliche Geburt Jesu voraus; alle Evangelien erwähnen demgegenüber unbefangen Jesu Eltern. Vgl. dazu Nils Astrup Dahl, Widersprüche in der Bibel. Ein altes hermeneutisches Problem, in: Studia Theologica 25 (1971), 1–19.
6. Altes und Neues Testament Die in diesem Zusammenhang jedoch wichtigste Spannung ist die zwischen dem Eigensinn der biblischen Schriften Israels, der hebräischen Bibel bzw. der griechischen Septuaginta und ihren neutestamentlichen Interpretationen. Als Theologe, dessen Spezialgebiet die Interpretation der neutestamentlichen Schriften ist, entwickle ich eine biblische Perspektive vom Neuen Testament aus. Christliche Theologen haben das Alte Testament als Zeugnis scheiternder Selbstgerechtigkeit des Menschen bezeichnet (E. Hirsch), als Zeugnis des Scheiterns von Offenbarung vor bzw. außer Christus (R. Bultmann) oder als Dokument einer »fremden Religion« (F. Baumgärtel, F. Hesse). Aber bereits in dem Unternehmen des Marcion Mitte des zweiten Jahrhunderts wurde deutlich, dass in dieser Weise sogar dem Neuen Testament selber Unrecht geschieht. Marcion war wegen seines einseitigen theologischen Ansatzes zu dogmatisch motivierten Korrekturen am Text des Neuen Testaments genötigt, und zwar gerade da, wo es um die Identität des Gottes der Väter mit dem Vater Jesu Christi ging (vgl. Gal 1,1). Demgegenüber ist grundsätzlich zunächst die These zu erheben, dass das Neue Testament ohne Altes Testament nicht denkbar und auch nicht verstehbar ist. Jesu eigene Verkündigung wie auch das Bekenntnis des frühen Christentums sind auf den Verstehenshorizont, der auf den heiligen Schriften des Judentums basiert, angewiesen. Das ist sehr grundsätzlich gemeint. Gäben diese Schriften nur so etwas wie eine Verstehenshilfe für unser Wahrnehmen des neutestamentlichen Zeugnisses ab, dann wären wir auf sie etwa nur in der Weise angewiesen wie auf manche hellenistischen Texte mit religionsgeschichtlicher Relevanz. Aber es geht hier um mehr. Es geht für christliches Verstehen im Alten Testament um das Handeln des Gottes, der sich im Handeln und Reden Jesu endgültig offenbarte. Hier ist nun eine weitere Feststellung nötig, nämlich die, dass vom Alten Testament her der Weg keineswegs zwingend zum Neuen Testament führen musste. Vielmehr ist dieser Weg nur vom Glauben an Jesus Christus her möglich, von hier aus aber auch geboten. Das heißt, christlicher Glaube schließt die christliche Interpretation des Alten Testaments ein, aber eben im Wissen darum, dass allein dieser Glaube das Kriterium ist – nicht aber ein unabhängig von diesem Glauben existierender objektiver Maßstab, der den Leser des Alten Testaments gleichsam zwingen könnte, es auf Jesus Christus hin zu lesen.40 Das Zeugnis der neutesta40
Vgl. Hans-Jürgen Hermisson, Jesus Christus als externe Mitte des Alten
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mentlichen Autoren sah sich darin legitimiert, dass sie nicht das Kreuz Jesu als Abschluss seiner Geschichte verstanden, sondern von Ostern her Jesus als den endgültig von Gott Bejahten begriffen – dem Gott, dessen Wort sie aus den heiligen Schriften kannten. Ich will an dieser äußerst problematischen Stelle – der Frage nämlich, ob denn die biblischen Schriften Israels zu Recht als christliches Altes Testament gelten können – die inhaltliche Frage nach der Offenbarung stellen. Das Neue Testament versteht als den Kern der endgültigen und unüberbietbaren Offenbarung Gottes die Identifikation von Jesus, dem Menschen aus Nazareth, mit Christus, dem endzeitlichen Gesandten Gottes. In dem Namen Jesus Christus fasst das frühe Christentum die menschlich nicht ableitbare Selbstbekundung Gottes zusammen und meint damit, dass der Gott, den die Schriften Israels bezeugen, sich mit dem Menschen Jesus, der einen Verbrechertod gestorben ist, identifiziert hat. Im Einzelnen ließe sich etwa am Gebrauch des Christus-Titels in der frühen Christenheit zeigen, welch enge Dialogstruktur hier zwischen denen, die die Bedeutung Jesu verstehen und aussagen wollten, und dem Zeugnis ihrer heiligen Schriften bestand. Denn der Interpretationshorizont für den Titel Christus–Messias ist eindeutig und ausschließlich der biblisch-frühjüdische. Das urchristliche Bekenntnis »Jesus Christus« schloss also ein, dass Jesus der Erfüller der alttestamentlichen Hoffnungen und Verheißungen war. Er ist folglich in seiner Wirklichkeit gar nicht anders als von der Schrift her zu verstehen. Und auch die Schrift ist nun nur noch auf ihn hin zu verstehen, weil unüberbietbar in ihm erfüllt. Auch der ebenfalls zentrale Kyrios-Titel ist nur vor biblisch-frühjüdischem Hintergrund zu verstehen. Das fundamentale und uralte Bekenntnis kyrios Iÿsous – Herr ist Jesus (1Kor 12,3; Röm 10,9) – spricht ja nicht in pagan-hellenistischer Weise von Jesus als einem »Herrn«, sondern von dem, der im Alten Testament adonaj genannt wurde. Hoheitsaussagen, die in der Schrift exklusiv Gott vorbehalten waren, werden nun dazu verwendet, die einzigartige Würde des auferstandenen Jesus auszusagen. Wird also die alttestamentliche Kyrios-Prädikation auf den auferstandenen Jesus angewandt, so wird damit ausgesagt, dass eben dieser am Sein Gottes partizipiert, dass er also nun nicht Gott neben Gott oder
Testaments. Ein unzeitgemäßes Votum zur Theologie des Alten Testaments, in: Landmesser, Christus Mitte (s. Anm. 12), 199–233, bes. 227–233.
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gegen Gott ist, sondern der, der das Handeln und Wirken Gottes in der Welt wirkte und offenbarte.41 Theologisch bedeutet das: Der eine Gott, der sich als der Handelnde in den heiligen Schriften des Judentums bezeugt hat, ist derselbe, der in der Jesus-Christus-Geschichte handelt – eben deshalb muss diese Geschichte aus dem Zeugnis jener heiligen Schriften heraus verstanden und bezeugt werden. Dieser Prozess ist es, der jene Schriften zum sogenannten »Alten Testament« machte. Von einem »Alten Testament« ist im Blick auf das Urchristentum noch keineswegs zu reden, sondern nur von der Schrift oder den Schriften. Die Schrift wurde fast ausschließlich in ihrer griechischen Übersetzung, der Septuaginta – mithin also auch in einer bestimmten Interpretationsform – benutzt. Jede Übersetzung stellt bereits eine Form der Interpretation dar; für die Septuaginta ist darüber hinaus sehr eingehend erforscht worden, in welch hohem Maße in den einzelnen Schriften Angleichungen an die modernere, hellenistische Verstehenswelt, Neuinterpretationen, Vermeidung von Missverständlichem aufzuweisen sind. Dazu kommt der Sachverhalt, dass die Septuaginta an Umfang über den Text der hebräischen Bibel hinausgeht, für die Rezipienten der Septuaginta also auch in dieser Hinsicht der Horizont ein veränderter war. Übersetzen, verstehen, aneignen – all dies sind hermeneutische Vorgänge, die ihrem Wesen nach geschichtlich sind und als Teil unserer Geschichte verstanden sein wollen. Das geschichtliche Wesen von Verstehen schließt eben das ein, dass es kein einmalig gültiges Verstehen geben kann. Vielmehr wandelt sich ja ständig die geschichtliche Situation derjenigen, die die überkommenen Texte zu verstehen suchen, und damit eben auch die innere Welt ihres eigenen Selbstverständnisses, in der die Texte begriffen werden und Veränderung bewirken. Gelingt Verstehen, so bleibt auch der Text nicht der alte, denn er wird ja nun in neuer Situation verständlich, bedeutsam; er bestimmt diese mit und wird folglich als einer ihrer Faktoren ein Teil auch von ihr, nicht nur von der vergangenen Geschichte, der er einst zugehörte. In jedem Text ist eine Vielfalt von Verstehensmöglichkeiten angelegt. Verstehen aber deutet den Text auf neue Erfahrungen hin; Verstehen ist gleichsam die Geschichte 41
Zur Verdeutlichung könnte hier 1Kor 8,6 dienen, eine Stelle, an der bei strenger Wahrung des Monotheismus die Gottheit des Kyrios Jesus ausgesagt wird: Das Handeln des Kyrios Jesus verwirklicht eschatologisch, also endgültig das Handeln des Gottes, der die Welt schuf, mit ihr den Bund schloss, der das Heil der Vollendung verhieß.
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des Textes. Geschichte aber ist nicht aus der Vielfalt der Möglichkeiten des Anfangs zu erschließen, sondern von dem Gewordenen her, also von der Geschichte des Verstehens hin zu ihrem Anfang. Darum ist es verboten, das Neue Testament einfach – objektivierend – aus dem Alten Testament herauszulesen. Vielmehr ist das christliche Verstehen des Alten Testaments eine seiner Möglichkeiten, die geschichtlich wirklich geworden ist. Eben um des Glaubens willen, dass Jesus der Christus ist. Christliches Verstehen des Alten Testaments erschließt also nicht den Sinn des Alten Testaments, so als könne es keine andere Möglichkeit geben, das Alte Testament zu interpretieren. Aber um des Glaubens willen, dass Jesus der Christus ist, dass folglich der Gott Abrahams der Vater Jesu Christi und so der Vater aller Menschen ist, ist christliches Verstehen des Alten Testaments folgerichtig und sachgemäß.
7. Der Bezugspunkt des biblischen Kanons Damit bin ich bei dem sachlichen Zentrum, auf das sich die neutestamentlichen Schriften beziehen. Der biblische Kanon enthält eine narrative Struktur. Das gilt nicht nur für die Anordnung der neutestamentlichen Schriften, sondern auch für das Alte Testament, für die Septuaginta wie für die biblischen Schriften Israels. Der Kanon erzählt eine Geschichte; auf sie verweist die Abfolge seiner Bücher.42 Diese Geschichte ist die Referenz des Kanons und seiner Einzeltexte. Es ist aus neutestamentlicher Sicht die Geschichte Jesu Christi, die sich in die Gegenwart und Zukunft der Gemeinde und aller Welt hinein fortsetzt. Der Kanon ist ihr Text. Seine Grenze bildet die Grenze zwischen Erinnern und Vergessen und konstituiert zugleich die kanoninterne Gleichzeitigkeit synchroner und diachroner Komponenten. Sie macht diese Geschichte zur anredenden Präsenz. Denn die Sammlung, Zusammenstellung und Abgrenzung der neutestamentlichen Schriften ist wie die Produktion eines Textes eine sprachliche Handlung, der eine Interpretationsethik entsprechen muss. Es sind die Prozesse der Kanonwer42
Vgl. Richard Bauckham, Reading Scripture as a Coherent Story, in: Ellen F. Davis/Richard B. Hays (Hg.), The Art of Reading Scripture, Grand Rapids/Cambridge 2003, 38–53; Karl-Wilhelm Niebuhr, Exegese im kano-
nischen Zusammenhang. Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons, in: Jean-Marie Auwers/Henk Jan de Jonge (Hg.), The Biblical Canons, Leuven 2003, 557–584.
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dung, die den Geltungs- und Übertragungsanspruch der Einzelschriften begründeten. Die neutestamentlichen Texte beziehen sich auf die Jesus-ChristusGeschichte nicht als statisches Prinzip oder abstrakte Idee, sondern auf eine lebendige Geschichte, die Menschen zu Angeredeten macht, in ihre Gegenwart und Zukunft führt und sie hineinnimmt in die Geschichte Gottes mit den Menschen. Der Kanon des Neuen Testaments dringt darauf, die Jesus-Christus-Geschichte in immer neue Wirklichkeiten zu übertragen. Er ist nicht nur Ergebnis ihrer Rezeption, sondern zielt mit seinen produktiven Prozessen auf ihre Rezeption. Er macht Menschen zu Trägern der Jesus-Christus-Geschichte, damit sie im Geist dieser Geschichte und in der Gemeinschaft der Angesprochenen, Interpretierenden und Glaubenden handeln können. Eine kanonbezogene Interpretationsethik muss deshalb ihrerseits die Forderung der Adressierung enthalten: Gelungene Interpretation macht Menschen zu Angeredeten. Das schließt ein, dass gelungene Interpretation nicht neutral bleiben kann. Nur so kann sie sich interkulturell und interreligiös artikulieren. In theologischer Hinsicht geht es entsprechend um den Sachverhalt, dass der Geltungsanspruch des Kanons wie der seiner Schriften weder abstrakt noch allgemein zu artikulieren ist. Es geht vielmehr darum, die sich in die Gegenwart und Zukunft der Adressaten fortsetzende Geschichte Jesu Christi als zentrales kanonisches Kriterium nicht nur gegenüber der Interpretationsgemeinschaft, sondern auch gegenüber den Texten des Kanons in Anschlag zu bringen. Theologische Reflexion des Kanons stellt sich deshalb seiner Wirkungsgeschichte. Solche Reflexion muss sich mit historischen Rezeptionsweisen und Wirkungen auseinandersetzen und ihre eigenen Antworten und Fragen vor diesem Horizont formulieren. Die Einsicht wächst, dass auch die biblischen Texte in ethischer Hinsicht keine neutralen Größen sind. Sie »sind nicht unschuldig gegenüber ihrer Wirkungsgeschichte«43. Das bedeutet, dass es nicht ausreicht, die Texte von ihren Wirkungsgeschichten freizusprechen. Ebenso wenig kann es dabei bleiben, lediglich die Fremdheit der Texte zu konstatieren. Die vielfältigen Wirkungsgeschichten des Kanons und seiner Schriften waren immer auch Geschichten konkreter Interpretationsgemeinschaften. Der neutestamentliche Kanon zeichnet sich dadurch aus, die Geschichte Jesu Christi nicht nur zu erzählen und zu reflektieren, sondern 43
Jürgen Ebach, Das Erbe der Gewalt, Gütersloh 1980, 29.
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auch zu übersetzen und zu übertragen. Er macht Menschen zu Adressaten dieser Geschichte und fordert sie auf, ihrerseits Übertragungsprozesse in neue Lebenswirklichkeiten zu leisten. Die Rezeption eines Textes wird zunehmend als Interaktionsprozess begriffen, bei dem Text und Leser sich wechselseitig beeinflussen. Auf der einen Seite steht das Potential des Textes, auf der anderen die produktiven Rezeptionsmöglichkeiten der Leser. Jede Interpretation setzt Schwerpunkte, wählt aus, bildet Perspektiven und zielt darauf ab, die Beziehungen zwischen Rezipienten und Texten zu reflektieren oder zu beeinflussen. Mit der Entdeckung, dass kein Text nur einen Textsinn hat, wurde das Recht verschiedener Auslegungen, aber auch die Notwendigkeit, die »Grenzen der Interpretation« (U. Eco) zu beschreiben, deutlich. Vor diesem Hintergrund gehört die Möglichkeit vielfacher legitimer Interpretationen zur Standardvoraussetzung neutestamentlicher Textarbeit.44 Je deutlicher wird, dass die Verantwortung für die Bedeutung eines Textes nicht einfach in ihm selbst zu suchen ist, sondern bei denen, die ihn interpretieren, desto dringlicher stellt sich die Frage nach einer Ethik der Interpretation. Diese Frage ist jedoch nicht abstrakt zu stellen, weil jede Auseinandersetzung mit einem Text ein Prozess ist, der Menschen konkret betrifft, verändert, herausfordert. Wir verhalten uns zu Texten, bringen also unsere Identität mit ein; diese setzen wir gar aufs Spiel. Tatsächlich realisieren wir viele unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, die mit unterschiedlichen Prozessen der Rezeption und Auseinandersetzung verbunden sind. Die Verantwortung für unsere Interpretation jedoch kann nicht delegiert werden. Das gilt auch im Blick auf die Reflexion unserer eigenen ethnischen, sozialen, globalen, historischen Situation. Mit dem Kriterium der Jesus-Christus-Geschichte ist der Grundbezug der neutestamentlichen Schriften jenseits eines rezeptionsunabhängigen, scheinbar objektiven Kriteriums erfasst. Stets geht es darum, Voraussetzungen und Bedingungen der Rezeption und Produktion dieser Geschichte zu reflektieren. Die Ethik der Interpretation hat da ihren sachlichen Ort, wo es um die Bedeutung dieser Geschichte und damit um die Sinnkonstruktion der neutestamentlichen Texte geht. Die kritische Aus44
Vgl. David Rhoads, Narrative Criticism: Practices and Prospects, in: ders./Kari Syreeni (Hg.), Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism, Sheffield 1999, 264–285, 284, Anm. 57, wo Rhoads exemplarische Studien differierender Interpretationen zu Bergpredigt, Johannes und Römerbrief nennt.
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einandersetzung ist Element jeden Interpretationsschrittes und unerlässlich, wenn es zu einer theologischen Interpretation kommen soll. Denn keine Interpretation kann einen Text duplizieren. Es gibt keine Bedeutungszuweisungen an Texte, die nicht interpretativ sind. An der Interpretation entscheidet sich, was ein Text bedeutet.
8. Offenbarung als Literatur – interreligiöse Verstehensmöglichkeit? Wie kann der Anspruch dieses Modells, auch interreligiös kommunizierbar zu sein, also eine interreligiöse Verständigung über die biblischen Texte zu ermöglichen, eingelöst werden? Ich erwarte von einem interreligiösen Dialog die wechselseitige Teilgabe und Teilhabe unterschiedlicher religiöser Traditionen. Dabei kann es nicht um die Absolutsetzung einzelner Überzeugungen gehen; es kommt vielmehr darauf an, unterschiedliche Wirklichkeits- und Lebensperspektiven zu entdecken und hinsichtlich unseres Menschseins in Gegenwart und Zukunft befragbar zu machen. Selbstverständlich sind diese so allgemein klingenden Wünsche bereits aus der Reflexion meiner eigenen Tradition heraus formuliert. Peter Steinacker plädiert in diesem Zusammenhang für einen »positionellen Pluralismus«45, für den unter anderem das Merkmal der Überzeugtheit vom Wahrheitsanspruch der eigenen Religion konstitutiv sei: »Dieser allen Religionen zuzubilligende exklusive Wahrheitsanspruch ergibt die notwendige Wahrheitsperspektive, ohne die ein interreligiöser Dialog unmöglich und nutzlos wird.«46 Steinacker geht davon aus, »dass der absolute Wahrheitsanspruch nur in Bezug auf die Selbsterschließung Gottes gilt, nicht für unsere menschlichen religiösen Institutionen, wie z. B. die Kirche oder die Sitten und Gebräuche«47.
45
46 47
Peter Steinacker, Juden – Christen – Moslems. Monotheistische Religionen im Dialog oder in Konfrontation?, in: Witte, Der eine Gott (s. Anm. 15), 331–348, 341 ff. Steinacker verweist auf Wolfgang Härle, Die Wahrheits-
gewissheit des christlichen Glaubens und die Wahrheitsansprüche anderer Religionen, in: Zeitschrift für Mission 24 (1998), 176–189; vgl. auch Christoph Schwöbel, Solus Christus? Zur Frage der Einzigartigkeit Jesu Christi im Kontext des interreligiösen Dialogs, in: ders., Leben und Kirche (Festschrift Wilfried Härle), 2001, 79–106. Ebd. 342. Ebd.
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So sehr dem Anliegen Steinackers zuzustimmen sein mag, so kritisch ist diese Unterscheidung von sichtlich absolut gedachter Selbsterschließung Gottes und geschichtlich sich wandelnden religiösen Konventionen zu hinterfragen. Wenn nach neutestamentlicher und insgesamt biblischer Überzeugung gilt, dass die Selbsterschließung Gottes in keiner anderen als menschlicher, also auch geschichtlich sich wandelnder Sprache hörbar wird, ist zugleich die Folgerung Steinackers zu hinterfragen, ob tatsächlich »verstehen« gleich »glauben« heißen soll. Steinacker behauptet: »[...] das volle Verständnis füreinander findet an der jeweiligen Gottheit Gottes ihre Grenze. Allah ›verstehen‹ hieße für die anderen nichts anderes als an ihn glauben. Christus ›verstehen‹ hieße für die anderen nichts anderes als an ihn, den gekreuzigten und auferstandenen Messias, zu glauben.«48 Solange wir menschliche Sprache verstehen, sollen und können wir auch verstehen, was andere glauben, ohne die Vorbedingung, diesen Glauben zu teilen. Das freilich setzt die Bereitschaft und Fähigkeit zum Verstehen, zum Verstehenlassen und Verständlichmachen voraus. Dabei ist – so meine Überzeugung – gerade nicht eine allgemeine und die Wahrheitsansprüche der Religionen nivellierende Metaebene, etwa die einer aufgeklärten Humanität gefordert. Es geht vielmehr darum, unter den dramatischen Konstellationen der Gegenwart dialogfähig zu sein, also für die eigene Sprache Übersetzungshilfen bereitzustellen. Das bedeutet etwa, den interreligiösen Partnern gerade nicht schuldig zu bleiben, wie denn biblische Perspektiven »Wirklichkeit erschließen«, welche Fragen sich aus diesen Perspektiven an Gesellschaft, Menschsein, Werteorientierung und an die Kirchen selbst richten. Es bedeutet zugleich, interreligiöse Fixierungen aus ihrer Introversion zu befreien und an die gesellschaftliche Verantwortung zu erinnern, die sich aus den jeweiligen Traditionen ergeben. Und es bedeutet auch, sich gemeinsam der Frage zu stellen, wie unsere Traditionen und Texte in kulturellen Kontexten zu kommunizieren sind, in denen ihre Geltung gerade nicht selbstverständlich ist. Das Konzept »Offenbarung als Literatur« stellt sich diesen Aufgaben. Es steht in der Konsequenz biblisch-christlicher Tradition und zielt auf den Dialog der Religionen.
48
66
Ebd. 343.
Menschenwort versus Gotteswort? Eine Erwiderung auf Eckart Reinmuth Ismail H. Yavuzcan
»Wahrlich, Wir Selbst haben diese Ermahnung (den Koran) hinabgesandt, und sicherlich werden Wir ihr Hüter sein.« (Sure 15,9) Ich möchte einen Hinweis meines Vorredners aufgreifen und ihn unterstützend aktualisieren: In der Dialogarbeit kann es nicht darum gehen, die Unterschiede beiseite zu kehren oder auf Gleichmacherei hin zu steuern. Dementsprechend ist der These vom »positionellen Pluralismus« von Paul Steinacker zuzustimmen. Auf der anderen Seite stimme ich meinem Vorredner in seiner Skepsis zu, dass »verstehen« nicht mit »glauben« gleichzusetzen ist. Er plädiert dafür, dass wir die anderen »verstehen« können, »was andere glauben, ohne die Vorbedingung, diesen Glauben zu teilen«. Ich argumentiere aus einer anderen Perspektive und möchte an das hermeneutische Prinzip erinnern, dass »verstehen« selbst »interpretieren« bedeutet. Dies bedeutet, ich werde den Glauben des anderen erst aufgrund meines Vorverstehens erschließen und damit sinnhaft verstehen können. Dies muss nicht, kann aber mein Vorverstehen revidieren.
1. Koran als Offenbarung Der Koran versteht sich selbst als hudÁ (Rechtleitung), šifÁÞ (Heilung), als Æikr (Erinnerung), nÙr (Licht) und als furqÁn (als das Unterscheidende zwischen zweierlei). Er möchte verstanden werden und sich im Herzen und Leben der Gläubigen umgesetzt wissen. Koran bedeutet wörtlich »Lesung« oder »Vortrag«. Diese Bedeutung lässt sich aus dem ersten offenbarten Vers klar herauslesen: »Lies (iqraÞ )! Im Namen deines Herrn.« Linguistisch bedeutet waÎy als Entsprechung zu Offenbarung die
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den Propheten gesendeten göttlichen Worte und Nachrichten.1 Der Koran wurde über den Erzengel Gabriel an Muhammad über einen bestimmten historischen Zeitraum offenbart (vgl. Sure 23,30; 24,50; 6,50). In der Folge haben sich schon früh Korankommentatoren (mufassirÙn) damit auseinandergesetzt, was genau unter dem Wort Gottes zu verstehen ist.2 Unbestritten ist aber, dass der Prophet selbst ihn zuerst ausgelegt hat. Dem Propheten ist es aber aufgetragen, sich nur an der Offenbarung zu orientieren: »So halte richtig fest an dem, was dir als waÎy (Offenbarung) zuteil wurde. Gewiß du bist auf einem geradlinigem Weg« (Sure 43,43) und ihn warnend: »Und keiner begeht mehr Unrecht als derjenige, der Lügen im Namen Gottes erfindet oder sagt: Mir wurde waÎy (Offenbarung) zuteil, obwohl ihm nichts von waÎy (Offenbarung) zuteil wurde […]« (Sure 6,93). Somit ist eine grundlegende Diskontinuität zwischen Koran und Bibel offengelegt, denn der Koran ist nicht »als Anrede von gewöhnlichen Menschen an uns gebracht« (Bultmann) worden, sondern ist direkte Verkündung Gottes und er steht unter seinem direkten Schutz (Sure 15,9): »Sprich: […] Und dieser Koran wurde mir durch waÎy zuteil, damit ich euch mit ihm ermahne sowie diejenigen, die von ihm Kenntnis haben.« (Sure 6,19) Die Historizität des Korans zeichnet sich dadurch aus, »dass er nicht von einem Autor abgefasst, als Ganzes vorgelegt wurde«3. Im Laufe von 23 Jahren ist er situationsgebunden offenbart bzw. verkündet worden. Dies darf aber nicht den Eindruck erwecken, dass alle Verse des Korans einen historischen Kontext aufweisen würden. Nur wenige Verse (und diese sind teilweise unter den Gelehrten umstritten) haben einen direkten historischen Bezug. Der Adressat des Korans ist der Mensch. Falaturi formuliert dies wie folgt: »Angesprochen wird mit dieser Schrift und in dieser Schrift der Mensch, aber nicht als abstrakter Begriff, sondern der Mensch in seiner Verbindung mit der Geschichte der Menschheit, wie der Koran sie verkündet, und auch gleichzeitig der Mensch in seiner
1
2 3
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Vgl. Arent Jan Wensinck, Art. Vahy, in: £slam Ansiklopedisi, Bd. 13, 142– 145, 142; Amir Zaidan, At-tafsir, Eine philologisch, islamologisch fundierte Erläuterung des QurÞan-Textes, Offenbach 2000, 420: »Allahs Mitteilung hinsichtlich Seiner Rechtleitung an den von Ihm Auserwählten von Seinen Dienern auf eine schnelle, für andere unbemerkbare Art und Weise.« Vgl. Mehmet Pacacı u. a., Art. Kuran, in: Diyanet £slam Ansiklopedisi, Bd. 26, 383–422, 398 f. Abdoldjavad Falaturi, Dialog zwischen Christentum und Islam, Hamburg 5 1996, 48.
Verbundenheit und vollen Integrität im alltäglichen Leben.«4 Diese Integrität schließt zum einen das Verhältnis der Interpretationsgemeinschaft nach innen, aber auch und insbesondere das Verhältnis zu den anderen und Fremden mit ein. Somit stehen die Gläubigen beider Religionen vor der Frage, wie sie aufeinander reagieren. Hierbei scheint das Christentum als Teil der Mehrheitsgesellschaft im Besonderen gefordert zu sein. Denn das Christentum reagiert ja nicht nur – wie Eckart Reinmuth verdeutlicht hat – auf das Alte Testament bzw. versteht seinen Eigensinn durch das Alte Testament, es muss sich vielmehr auch fragen lassen, wie sich das urchristliche Bekenntnis zu Jesus Christus im Verhältnis zu den nachchristlichen Religionen und hier speziell zum Islam formuliert. Hans Zirker stellt die Frage, wie das Christentum mit dem Islam umgehen sollte – denn »der Islam gehört mit zur Geschichte des Christentums«5. Paul Schwarzenau sieht »komplementäre und paradoxale Vervollständigungen« in der Begegnung mit anderen Religionen und plädiert in diesem Zusammenhang für eine »Nachoffenbarung des Christentums«6.
2. Koranexegese Es haben sich in der islamischen Geschichte der Koranexegese mehrere Traditionsstränge herauskristallisiert. Am Anfang standen eher lexikalische Erwägungen im Vordergrund oder orientierten sich stark an den Überlieferungen des Propheten.7 Neuere Akzente kommen aus der Begegnung mit dem Westen.8 Eine rege Diskussion entstand in den 1990ern in der Türkei im Kontext der Debatten um Koranhermeneutik und die Historizität der Offenbarung. Federführend war hierbei die theologische Fakultät in Ankara. Einer ihrer Vordenker, Ömer Özsoy, versucht ein historisches Bewusstsein zu entwickeln, das den »Koran als primär auf 4 5
Hans Zirker, Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen,
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Paul Schwarzenau, Was kommt nach dem Abschluss der christlichen Theo-
7 8
Ebd. 49.
Düsseldorf 1993, 36.
logie?, in: www.rpi-virtuell.net/workspace/users/535/Seminar:%20Br%C3%BC ckenbauer/IH3_Schwarzenau-Abschluss.pdf Vgl. Angelika Neuwirth, Koran, in: Helmut Gätje (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie, Bd. 2, Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1987, 96–135, 119–126. Vgl. Rotraud Wielandt, Exegesis of the QurÞÁn: Early Modern and Contemporary, in: Encyclopaedia of the QurÞÁn, Bd. 2, Leiden/Boston 2002, 124–142.
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seine eigene geschichtliche Epoche sprechend annimmt und ihn so zu verstehen sucht, wie seine ersten Adressaten ihn verstanden«9. Dabei wird aber das Problem umgangen, ob dies überhaupt methodisch möglich ist und ob nicht diese Sicht selbst die Gefahr birgt, den eigenen ideologischen und modernen Standpunkt dem Koran überzustülpen. Somit werden elementare Erkenntnisse der Hermeneutik verkannt, wie z. B. die Unmöglichkeit eines voraussetzungslosen Verstehens oder der Unüberwindbarkeit des »historischen Gefälles«.10 Leider fehlen auch konkrete Kriterien und deren Begründung, in welchen Bereichen der Scharia eine Koranhermeneutik anwendbar ist und in welchen nicht. Dies wirft die Frage nach der »Ethik der Interpretation« auf. Was aber über die islamische Geschichte hinweg fehlt, ist die hermeneutische Reflexion des Auslegers. Während zahlreiche Kriterien aufgestellt wurden, wer überhaupt als Exeget gilt, gibt es kaum Forschungen zu dem Faktum, dass Verstehen menschlich bedingt und von psychologischen, politischen und kulturellen Bedingtheiten abhängig ist. Das Bewusstsein der islamischen Gelehrten, dass sie sich in einer Wirkungsgeschichte bewegen, ist ausgeprägt, aber dass sie von einem Vorverstehen ausgehen und ein bestimmtes Verstehen ermöglichen bzw. initiieren und prägen, wird weniger diskutiert. Überlagert wird die Thematik dadurch, dass dem Islam kirchenähnliche Strukturen fehlen und es nur rudimentär gelingt, auf institutioneller Ebene Interpretationskongruenz herzustellen. Letztendlich wird die Interpretationsgemeinschaft der Gläubigen (und nicht nur die akademische Gelehrsamkeit) Interpretationen annehmen oder verwerfen. Dies kann aber nur über ein Kontinuum von Vergangenheit über die Gegenwart hin zur Zukunft festgestellt werden. Dass es aber nur bedingt möglich ist, bestimmte Lehrmeinungen zu zementieren, lehrt die Geschichte.
3. Bultmann und Falaturi Bultmann argumentiert, dass das Heil Gottes nicht durch die Person, sondern nur von Gott geleistet werden kann.11 Ähnlich argumentiert auch 9 10 11
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Ömer Özsoy, Koranhermeneutik als Diskussionsthema in der Türkei, in:
www.akademie-rs.de/fileadmin/user_upload/pdf_archive/schmid/TFCI/Fach gespraech_Oezsoy/Artikel__zsoy_7-05.pdf, 12. Zu fragen wäre natürlich, welche Koranabschnitte als »historisch« herausgefiltert werden müssten und somit ad acta gelegt werden könnten. Rudolf Bultmann, Neues Testament und christliche Existenz, Tübingen,
Falaturi, indem er von der »konsequenten Übereinstimmung der Schöpfung und der Offenbarung« spricht.12 Muslime wie Christen unterscheidet aber wesentlich hierbei, dass »die Schrift in der christlichen Theologie, im Schatten von Jesus, weitgehend an Bedeutung verliert«, während sie im Islam »als Ausdruck der von der Barmherzigkeit begleiteten, offenbarten Rechtleitung für jeden Menschen, die Möglichkeit (bildet), direkt von Gott angesprochen zu werden, und sie somit von neuem (d. h. zusätzlich zu der ihm angeborenen Verbindung zu Gott) bewusst zu erfahren«13. Dass sie aus einer fremden Zeit, aus einer uns mittlerweile fremden Kultur stammt, ist keine Inkongruenz, sondern ein Angebot zum Studium, zur Auseinandersetzung mit dem Text – denn der Text (hier der Koran) beansprucht selbst, dass er (zumindest sprachlich) verstanden werden kann (vgl. Sure 12,2; 43,2). Damit dies aber gewährleistet werden kann, muss der Text authentisch und stimmig sein, sonst ist seine Lehre unglaubwürdig. Das Gleiche gilt für die Überbringer, die Propheten.
4. Ausblick Die kanonischen Texte sind aber auch ein Medium des interreligiösen Dialoges. Falaturi fordert dazu folgerichtig, dass »jeder sich […] dem anderen offenbaren können (muss), und zwar nicht rein theoretisch, entscheidend ist dabei die Intensität der Pflege der eigenen Religion bzw. des eigenen Glaubens«14. Zusätzlich zur theoretischen Auseinandersetzung stellt sich für Gläubige (unabhängig davon, ob sie Christen oder Muslime sind) die Aufgabe, insbesondere die Voraussetzungen der Moderne und ihre Ansprüche kritisch zu reflektieren. Rudolf Bultmanns Ideen kreisen immer wieder um die Voraussetzungen der Moderne, nämlich dass es dem wissenschaftlich geschulten Menschen unmöglich sei, Wunder anzunehmen, und dass es der Methode der Entmythologisierung bedarf, um den eigentlichen Kern herauszuarbeiten. Nirgends hinterfragt aber Bultmann die Moderne selbst und ihre Voraussetzungen. Gläubige Menschen sind geradezu aufgefordert, an der »Entmythologisierung der Moderne« zu 2002, 12: »Wir wissen nie von Gott; wir wissen nie von unserer eigenen Wirklichkeit; wir haben beides nur im Glauben an Gottes Gnade.« 12 Abdoldjavad Falaturi, Dialog zwischen Christentum und Islam, Hamburg 13 14
2002, 84. Ebd. 85. Ebd. 74.
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arbeiten. Dies sollte auch für moderne Koranwissenschaftler Geltung haben. Sie nehmen nämlich vielfach die Moderne als bestimmendes Gebilde wahr, ohne ihren Konstruktcharakter zu reflektieren. Für die islamische Theologie scheint mir nicht in erster Linie der Koran – weil nicht Anrede von Menschen an Menschen –, sondern die Sunna des Propheten einer historischen Hermeneutik zugänglich zu sein, denn hier kann konkret angesetzt werden mit der Hinterfragung der Gründe für die Auswahl von bestimmten Äußerungen, ihrer Unterschlagung oder ihrer Fälschung. Bevor von einer Bibel- oder Koranhermeneutik gesprochen werden kann, sollte eine »Dekonstruktion einer säkularen Moderne«15 erfolgen, um die theoretischen Bedingungen unseres wissenschaftlichen Agierens zu klären, zumal diese bestimmten Machtverhältnissen ausgesetzt sind. Im Dialog zwischen Christen und Muslimen wird ein Punkt immer als trennendes Element bestehen bleiben: die unterschiedlichen Christologien. Trotzdem können und – wie ich meine – müssen sich die Vertreter beider Religionen den Fragen und Konzepten der Moderne stellen. Bultmann hat in einer Darlegung über »Humanismus und Christentum« programmatisch eine bestimmte Aufgabe für den Humanismus und für das Christentum formuliert. Ich möchte dies im Hinblick auf die gemeinsame Aufgabe der beiden Schwesterreligionen umformulieren und damit schließen: So stehen Muslime und Christen zusammen mit allen Menschen guten Willens gegen die Hybris subjektiver Willkür und gegen den modernen Relativismus und Nihilismus und gegen alle Inhumanität.16 Ziel und Sinn dabei ist nicht, eine Anti-Moderne zu erzeugen, denn ein Zurück hinter die Moderne kann es nicht geben. Diese gemeinsame Aufgabe ist aber geprägt von einem ethischen Bewusstsein, das sich den Grundprinzipien der Religionen verpflichtet fühlt und den ontologischen Bestimmungen des Menschen Rechnung zu tragen versucht.
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Peter Hardt, Entmythologisierung des Wissens. Rudolf Bultmann neu gelesen im Licht des Denkens von Michel Foucault, in: Christian Bauer/Michael Hölzl (Hg.), Gottes und des Menschen Tod? Die Theologie vor der Heraus-
forderung Michel Foucaults, Mainz 2003, 167–180, 179 f. Vgl. Rudolf Bultmann, Humanismus und Christentum, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 2, Tübingen 1961, 133–148, 146; ders., Humanismus und Christentum, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 3, Tübingen 1962, 61–75, 74.
Die Relevanz der Koranhermeneutik für das heutige muslimische Leben∗ Burhanettin Tatar
1. Abwehr von »Interpretation« »Texte als solche schweigen; sie werden gesellschaftlich relevant durch ihr Aussprechen in Form von Rezitation, Lesen, Verweis und Auslegung.«1 Dieser Ansatz bezeichnet das Hauptanliegen muslimischer Ausleger von Koran und Hadith in der Geschichte des Islams. Offenkundig gibt es dafür einige Ausnahmen, wie die ËÁriÊÐya (Kharijiten)2, die den Koran als einen Text behandelten, der keiner Auslegung bedarf. Für sie ist der Koran ein sich selbst auslegender Text in dem Verständnis, dass er keine geschichtliche Vermittlung braucht, um seinen inneren Sinn in ein neues historisches Umfeld zu vermitteln. Somit sind die Worte des Korans für sie absolut; es gibt keine intertextuelle Beziehung zwischen dem Koran und anderen mündlich oder schriftlich überlieferten Texten. Er offenbart seine Bedeutung in den Worten, die Gott gebraucht hat. Wir können eine andere Form dieser scharfen Unterscheidung zwischen göttlichen Worten und menschlichen Worten in der Schule der ÚÁhirÐya feststellen.3 Nach dieser Schule ist der Koran Gottes abgeschlossene, vollendete und zureichende Rede an die Menschheit. Er ist in ∗ 1
2
3
Übersetzung von Ursula Gassmann. Michael Lambek, Certain Knowledge, Contestable Authority: Power and Practice on the Islamic Periphery, in: American Ethnologist 17 (1990), 23– 40, 23. Vgl. auch Ebrahim Moosa, Allegory of the Rule (hukm): Law as Simulacrum in Islam?, in: History of Religions 38 (1998), 1–24. Das Wort ËawÁriÊ bezeichnet eine Gruppe von Muslimen, die sich gegen Ali, den vierten Kalifen, stellten, als dieser die Auffassung vertrat, dass ein Schiedsrichter den Konflikt zwischen einander bekämpfenden muslimischen Gruppen schlichten sollte. Sie erklärten: »Allein Gott kann eine Entscheidung treffen (lÁ Îukm illÁ li-llÁh).« Das Wort ËawÁriÊ bedeutet wörtlich »Außenstehende«. Das Wort ÚÁhirit bedeutet »Verteidiger des wörtlichen, offenbaren Sinns der heiligen Texte«.
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dem Sinne eine abgeschlossene Schrift, dass ihre Worte bereits von einem endgültigen Sinn erfüllt sind. Es gibt keinen leeren Raum in den Worten, der von menschlichen Interessen und Wünschen genutzt oder manipuliert werden könnte. Die ÚÁhirÐya unterscheidet sich von der ËÁriÊÐya durch die Auffassung, dass wir den bereits verwirklichten und vollendeten Sinn des Korans innerhalb des historischen Kontextes des Propheten Mohammed und seiner Gefährten erfassen können. Daher liegt die Bedeutung des Korans für sie in seiner Anwendung auf den erwähnten historischen Kontext. Je mehr wir uns dieser historischen Periode bewusst sind, umso mehr können wir die innere Bedeutung der göttlichen Worte verstehen. Deduktive Denkweise4 und Analogie können keine rechte und legitime Grundlage dafür sein, einen Sinn von Gott her herbeizuführen, um den Koran für unsere eigene Lebenswelt relevant zu machen. Dementsprechend geht die ÚÁhirÐya davon aus, dass das, was von Gott durch seine Offenbarung geboten und verboten ist, in ihrem wörtlichen Sinn auf alle historischen Gegebenheiten anzuwenden ist. Wir können keinen religiösen Sinn aufbauen, indem wir heilige Texte im Rahmen von Horizonten interpretieren, die jeweils von sich ständig verändernden historischen Gegebenheiten geöffnet werden. Im Gegensatz zu der ËÁriÊÐya versteht die ÚÁhirÐya das historische Bewusstsein im Blick auf die Zeit des Propheten als Teil der religiösen Bedeutung. Die wörtliche Bedeutung der heiligen Texte stellt dann nicht nur das Zusammenfließen des historischen Horizonts des Propheten und des Sinngehalts des Korans dar,5 sondern auch eine Trennung dieses Horizonts von den übrigen Geschichtsperioden. Wir sollten bedenken, dass die Schule der ÚÁhirÐya entstanden ist als Reaktion auf Antworten, die andere Auslegungsschulen auf folgende Grundfragen gaben: Welche Bedeutung hat der Koran für sich ständig verändernde historische Kontexte? Auf welcher Grundlage werden heilige Texte des Islams mit neuen Gegebenheiten in Verbindung gebracht? Sowohl die ËÁriÊÐya als auch 4
5
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Unter deduktiver Denkweise verstehen wir eine Denkart, die sich auf Ableitung aus akzeptierten Prämissen gründet. Diese Prämissen stammen hauptsächlich aus grundlegenden islamischen Texten. Aus diesem Grunde benutzen muslimische Juristen die Bezeichnung naÒÒ für grundlegende islamische Texte in dem Sinne, dass sie Quellen für Prämissen zur Ableitung und Analogie sind. Eine sorgfältige Analyse dieses Zusammenfließens findet sich bei Edward Said, The Text, the World, the Critic, in: Josué V. Harari (Hg.), Textual Strategies. Perspectives in Post-Structuralist Criticism, Cornell 1979, 168– 170.
die ÚÁhirÐya warfen anderen Interpretationsschulen vor, in den göttlichen Sinngehalt menschliche Interessen, Wünsche und Vorstellungen einzufügen und damit seinen reinen Sinn zu verunreinigen.
2. Dilemmas und Aporien Auch wenn die Schulen der ËÁriÊÐya und der ÚÁhirÐya keine umgestaltende Auswirkung auf den allgemeinen Lauf der islamischen Geschichte hatten, hat deren harte Kritik an der Auffassung von »Interpretation« die tiefreichendste Furcht der Muslime im Blick auf die Frage »Was ist die Relevanz des Korans für sich ständig wandelnde historische Kontexte?« zum Ausdruck gebracht. Diese Furcht hat das verunsicherte Bewusstsein von Muslimen hinsichtlich der von dieser Frage selbst aufgedeckten Aporien oder Dilemmas enthüllt. Diese Aporien oder Dilemmas können folgendermaßen umschrieben werden: Wenn der Koran und die prophetische Tradition (Sunna und Hadith) »alles« über religiöse Fragen offenbaren würden und damit ihre Aufgaben erfüllt hätten, sollten wir dann »Interpretation« als ein rein menschliches Tun verstehen, das keinerlei religiösen Wert oder Sitz hat (bidÝa)? Und umgekehrt, wenn »Interpretation« für religiöse Texte erlaubt und erforderlich ist, wie ist es dann möglich, den reinen göttlichen Sinn aufzudecken und zu bewahren? Wie können wir darüber hinaus beanspruchen, dass der Islam die letzte Offenbarung Gottes ist, wenn Interpretation durch den Menschen notwendigerweise zunimmt und sich verbreitet und damit die religiöse Bedeutung aus unterschiedlichen und manchmal entgegengesetzten Perspektiven vermenschlicht? Wenn der bekannte und Ali, dem vierten Kalifen, zugeschriebene Anspruch, dass »der Koran an sich schweigt und Menschen ihn zu uns sprechen lassen«, zutrifft, sollten wir dann annehmen, dass der göttliche Sinn so lange für unser Leben relevant ist, wie er durch das von Menschen geschaffene Medium, das ihn zu uns sprechen lässt, vermenschlicht wird? Wie ist es in diesem Zusammenhang möglich, den von Gott beabsichtigten Sinn (maqÒad, qaÒd) im Blick auf religiöse Texte zu erfassen?
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3. Die klassische Methodologie Durch die ganze islamische Geschichte hindurch haben die meisten muslimischen Exegeten, islamischen Rechtsgelehrten, Theologen und teilweise auch Mystiker (Sufis) und Philosophen danach gestrebt, die oben erwähnten Aporien oder Dilemmas von verschiedenen Seiten her zu lösen. Wir können einräumen, dass sie historisch betrachtet relativ erfolgreich waren im Blick auf das sogenannte »Goldene Zeitalter des Islams« oder auf die »Islamische Renaissance« im Mittelalter. Wir können jedoch auch geltend machen, dass sie historisch nicht dadurch erfolgreich waren, dass sie eine Mitte zwischen den von den beiden oben erwähnten Auffassungen geschaffenen und vertretenen getrennten Bedeutungshorizonten entdeckten, sondern vielmehr, indem sie die Auffassungen der einen Seite im Rahmen des allgemeinen metaphysischen Geistes ihrer Zeit unter der anderen Seite subsumierten. So spiegelt zum Beispiel die traditionelle Präferenz muslimischer Ausleger (mufassirÙn) des Korans, das heißt ihre sogenannte atomistische Auslegungsweise (Vers für Vers), im Grunde genommen den pädagogischen Charakter des metaphysischen Geistes ihrer jeweiligen Zeit wider. Anders gesagt, diese atomistische Interpretationsweise setzt voraus, dass Gott der erste und höchste Lehrer der ganzen Menschheit ist. Dementsprechend hat Gottes versweise Offenbarung des Korans für sie einen pädagogischen und erzieherischen Zweck. In diesem Kontext ist die versweise Auslegung des Korans auch Teil (und Verwirklichung) dieses erzieherischen Handelns. So erlangt die Erkenntnis ihren Wert dadurch, dass sie der transformativen Erziehung im Glauben dient und diese unterstützt. Anders ausgedrückt: Erkenntnis kann einen religiösen Wert haben, solange sie auf das Auslegen des Korans anwendbar ist. Das Wort Gottes (der Koran) hat einen immanenten Wert und ist somit für jede menschliche Situation als ein »Wort« relevant. Andere Arten von Erkenntnis erhalten ihre Relevanz in ihrem Bezug zum göttlichen Wort und als besondere Anwendung dieses Wortes. Somit ist tafsÐr (Interpretation, Auslegung) eine Art Spiegelbild des Lichtes der göttlichen Wahrheit, das vom »Wort Gottes« (kalÁm AllÁh) ausstrahlt. Die Methodologie der islamischen Jurisprudenz (uÒÙl al-fiqh) als die bis ins Feinste entwickelte Interpretationstheorie der muslimischen Geschichte hat ihre eigene Struktur dahingehend festgelegt, dass sie die von der Scharia (also durch Gott und seinen Propheten Muhammad) beabsichtigte Bedeutung unterscheidet von darauf basierenden menschlichen 76
Auslegungen. Damit soll auf andere Weise ausgesagt werden, dass Rechtsgelehrte dem Wesentlichen (Trans-historischen), Metaphysischen, Göttlichen etc. Priorität eingeräumt haben gegenüber dem Veränderlichen, Historischen, Menschlichen etc. Diese Priorität spiegelt als solche den allgemeinen Geist der hierarchischen Metaphysik und Kosmologie des Mittelalters wider. Diese Metaphysik und Kosmologie betrachten alles im Universum nach seinem »Wesen« (ÔabÐÝa). Das »Wesen« von allem bestimmt seine Position oder seinen Platz innerhalb der Weltordnung. Dementsprechend hat alles, was seinem »Wesen« nach rein, geistig, geistlich, transparent, metaphysisch ist, eine höhere Stellung und einen höheren Wert als das, was materiell, undurchsichtig, zeitlich, unrein und physisch ist. Danach sollte alles Niedere nach dem wesensmäßig Höheren beurteilt, bewertet, korrigiert und geführt werden.6 Aus dieser Sicht hat die Methodologie der islamischen Jurisprudenz eine vertikal geordnete Skala islamischer ethischer und rechtlicher Werte erstellt, die mit dem beginnt, was das Reinste und von Gott am meisten Erwünschte und Gebotene ist (farÃ, wuÊÙb), und nach unten fortfährt bis zum halbherzig Erlaubten (kurh). An diese Skala schließen sich die Dinge und Taten an, die nicht erlaubt oder verboten sind (ÎarÁm). Gleichwohl wird das »Wesen« von allem weitgehend nach den kulturellen Traditionen und dem kulturellen Bewusstsein des Mittelalters bestimmt. Selbst wenn das Konzept des »Wesens« auf der einen Seite eine ganz entscheidende Rolle bei der historischen Entwicklung der Wertskalen der Muslime spielte, wurde es doch weitgehend durch die kulturellen Vorstellungen der Traditionen gestaltet und umgewandelt.
4. Die Überwindung der historischen Distanz Diese kreisförmige Beziehung zwischen den Begriffen »Wert« und »Wesen« kann teilweise erklären, wie es den Menschen im Mittelalter gelang, eine Lösung für die obigen Aporien und Dilemmas zu finden. Als muslimische Rechtsgelehrte versuchten, ihrer Zeit die Bedeutung des Korans zu erklären, standen sie nicht vor einer unüberwindbaren Schranke, weil ihre Methodologie der Interpretation als solche bereits das allgemeine 6
Für eine detaillierte Darlegung und Analyse dieser Kosmologie vgl. Toshihiko Izutsu, Creation and Timeless Order of Things. Essays in Islamic Mystical Philosophy, Oregon 1994.
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kulturelle Bewusstsein des »Wesens« der Dinge widerspiegelt, das durch göttliche Entscheidung beurteilt wird (Recht, Îukm). Als eine praktische, kontextuelle und rechtliche Auslegung der heiligen Texte ging die islamische Jurisprudenz davon aus, dass sie die Geschichte unter der Metaphysik des Glaubens subsumieren kann – das Partikulare unter dem Universalen, menschlichen Sinn unter göttlichen Sinn etc. Auch wenn muslimische Rechtsgelehrte im Allgemeinen in dem Grundsatz übereinstimmten, dass konkrete rechtliche Entscheidungen sich mit dem Wandel der Zeit auch ändern können, so wollten sie damit lediglich eine überholte und veraltete Entscheidung durch eine neue ersetzen, damit der historische Prozess wieder auf den göttlich beabsichtigten Sinn ausgerichtet werden kann. Das heißt, dass die Geschichte für muslimische Rechtsgelehrte kein Bereich oder Verlauf der Wirklichkeit war, der uns von der Offenbarung trennt und ihr widerstrebt; sondern die historische Distanz zwischen uns und der Offenbarung erlaubt es uns, unsere überholten rechtlichen Entscheidungen zu ersetzen durch solche, die auf neue Bedingungen anwendbar sind. In diesem Sinne gingen muslimische Rechtsgelehrte davon aus, dass die Lehre des Korans oder der göttliche Beschluss (Îukm) etwas Erreichbares war, solange ihre Methodologie der Auslegung korrekt angewandt wurde. Damit wurde offenkundig das historische Bewusstsein unter das von ihren kulturellen Traditionen geprägte methodologische Bewusstsein subsumiert. Ihr gespaltenes Bewusstsein zwischen den beiden erwähnten Auffassungen führte dank der Beweglichkeit (der imaginativen Natur) ihrer Vorstellung vom »Wesen« als Schlüsselbegriff in ihrer kosmologischen Ordnung zu keiner kulturellen Katastrophe. Die historische Distanz oder Kluft zwischen der Zeit der Offenbarung und unserer Zeit lässt sich für sie überwinden im Sinne des »Wesens« der Dinge, das von Gott bestimmt ist und sich im methodologischen Bewusstsein widerspiegelt. Offener gesagt, für muslimische Rechtsgelehrte hat der Koran dank der rational erreichbaren Korrespondenz zwischen dem »Wesen« der Dinge und der göttlichen Entscheidung (Îukm) eine universale Relevanz.
5. Offenbarung und Vernunft Die Interpretationsweisen muslimischer Theologen scheinen eine weitere (in einigen Fällen frühere) Version der Methodologie der Jurisprudenz zu sein. Sie bauen ihre Theorien auf der vorausgesetzten inneren Korres78
pondenz zwischen dem Wesen der reinen menschlichen Vernunft (fiÔra) und dem göttlichen Wort auf. Daher besteht ihr grundlegendes Ziel darin zu beweisen, dass das unverzerrte menschliche Bewusstsein (reine fiÔra)7 das göttliche Wort als das für das menschliche Leben annehmbarste und anwendbarste finden kann. Damit wird gesagt, dass die Relevanz des Korans durch das Licht des natürlichen menschlichen Verstands erkannt werden kann. Wenn die Menschen kulturelle und historische Vorurteile überwinden können, die sie daran hindern können, einen vernünftigen Glauben anzunehmen, dann können sie sich an der Schwelle des göttlichen Wortes befinden. Da die Theologen einen zentralen Schwerpunkt auf den Begriff fiÔra (reines Wesen des menschlichen Geistes, ursprüngliche Unschuld des Menschen) setzten, verstanden sie den Begriff »Geschichte« gewissermaßen im negativen Sinne. Das liegt daran, dass nach ihrer Auffassung die Geschichte ein Ort der Schaffung falscher Glaubensvorstellungen und vorausgehender Urteile ist, die die reine menschliche Vernunft (fiÔra) verunreinigen. Aus dieser Sicht können wir verstehen, warum islamische Theologie ein spekulativer Diskurs blieb, der sich selbst verstand als eine trans-historische Reflexion des reinen menschlichen Wesens innerhalb der religiösen Sprache (kalÁm). Wir sollten schließlich unseren Blick auf die Mystiker und Philosophen richten, um die übrige Geschichte des gespaltenen Bewusstseins der Muslime im Mittelalter zu betrachten. Für die Mystiker lässt sich die Kluft zwischen der Offenbarung und uns nur dadurch überwinden, dass wir unser Sein mit dem inneren Sinn des göttlichen Wortes in Beziehung setzen. Allein geistliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit durch Öffnung unseres Seins gegenüber dem göttlichen Willen und der göttlichen Kraft kann uns dazu befähigen, die wesentliche Relevanz der Offenbarung für unsere eigenen Verhältnisse zu erfassen. So stellt unsere Begegnung mit dem Wort Gottes im Akt des Koranlesens lediglich ein Verstehen auf oberflächlicher Ebene dar.8
7 8
Für eine allgemeine Information über fiÔra im Islam vgl. Yasien Mohamed, The Definition of Fitrah, in: www.angelfire.com/al/islamicpsychology/ fitrah/fitrah.html Vielleicht ist das nützlichste Wort zur Bezeichnung der an der Oberfläche liegenden Ebene des Verstehens dihliz (Schwelle), das von Philosophen/ Mystikern wie al-ÇazÁlÐ und ÝAyn al-QudÁt al-HamaÆÁnÐ benutzt wird. Zu diesem Begriff vgl. Izutsu, Creation (s. Anm. 5), 98–118; Ebrahim Moosa, Ghazali: The Poetics of Imagination, Chapel Hill 2005, 45–49.
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Für Mystiker ist jedoch der religiöse Sinn nicht etwas, das auf Denkweisen begrenzt und in ihnen erfasst wird. Das Wort Gottes und die geistigen Denkweisen sind vielmehr lediglich ein Vorspiel für das transformative Sinnwirken. Religiöse Sinnerfahrung erleben wir als ein Geschehen, das uns von einer Befindlichkeit in eine andere verwandelt (ÎÁl).9 Wie die Theologen betrachten auch die Mystiker die reine Natur des Menschen als Voraussetzung der geistlichen Erfahrung Gottes. Sie unterscheiden sich jedoch von den Theologen durch ihre Auffassung, dass die reine Natur des Menschen nicht im Rahmen eines spekulativen Diskurses der Theologie reflektiert werden kann; Erfahrung und Handeln des Menschen sind vielmehr der Ort (locus) für die Ausstrahlung der göttlichen Wahrheit hin zur menschlichen Natur.
6. Die intellektuelle Seinserfahrung der Philosophen Muslimische Philosophen vertreten einen besonderen Zugang zur Offenbarung, indem sie dem Begriff Ýaql (menschliche Vernunft oder Intellekt) in ihren Denksystemen einen zentralen Platz einräumen.10 An dieser Stelle sollten wir beachten, dass sie den Begriff Ýaql nahezu mit »intellektueller Seinserfahrung« identifiziert haben. So sind für sie Logik, Syllogismus, rationaler Diskurs, kalkulatives und diskursives Denken lediglich ein Vorspiel für intellektuelle Seinserfahrung. Diese Erfahrung hat insofern einen besonderen Charakter, als die Wahrheit des Seins von allen ihren materiellen und zeitlichen Gegebenheiten losgelöst wird. So stellt die intellektuelle Seinserfahrung als ein Geschehen metaphysischer Wahrheit auch eine Form der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen dar. Aus der Sicht der Philosophen ist diese Art der philosophischen Erfahrung von höchstem Wert, da sie auf eine zeitliche Vollendung (kamÁl) des Menschen innerhalb des Rahmens dieses materiellen Lebens und zugleich auf den Zweck der wahren Religion hinweist. Muslimische Philosophen haben den wörtlichen Sinn des göttlichen Wortes historisiert und die Ortsbezogenheit der koranischen Metaphern
9 10
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Vgl. Gerald L. Bruns, Hermeneutics. Ancient and Modern, New Haven 1992, 124–136. Zu einem detaillierten Wissen über das Konzept von Ýaql bei muslimischen Philosophen vgl. Herbert A. Davidson, Alfarabi, Avicenna, and Averroes on Intellect, Oxford 1992.
und Symbole akzeptiert.11 Dies ergab sich aus ihrem Anspruch auf Universalität. Philosophische Wahrheit als Erfahrung des reinen Sinns des Seins stellt ein universales Kriterium dar, um das herum alles andere sich als historisch, zeitlich, örtlich und wandelbar dreht, einschließlich der religiösen Metaphern. Offenkundig betrachteten sie den Islam und den Koran nicht als eine veraltete Religion und einen veralteten Text für ihre Zeit. Vielmehr meinten sie, dass Philosophie die einzige Denkweise sei, die die wesentliche Wahrheit der Religion von ihren historischen und örtlichen Erscheinungsformen befreien kann. Aus ihrer Sicht liegt der wesentliche Charakter des Korans in seinem »indikatorischen« Wirken. Religiöse Texte »erzählen« oder »zeigen« nicht die Wahrheit als solche, sondern sie deuten, sie weisen auf sie hin und implizieren sie. So können wir jetzt besser erkennen, dass sie religiöse Texte in die materielle und historische (horizontale) Ordnung des Universums einfügten. Sie gingen davon aus, dass sie ein horizontales Verständnis von Religion durch ein vertikales, metaphysisches Verständnis von Philosophie überholen können. Daher subsumierten sie das historische Bewusstsein unter das metaphysische Bewusstsein. Aus dieser Perspektive waren koranische Metaphern vorwiegend relevant für die politischen Zwecke der Herrscher zur Führung des gemeinen Volkes. Sie weisen jedoch auch auf etwas über die philosophische Wahrheit hin für die geistig Scharfsichtigen und Feinsinnigen.12
7. Das geschichtliche Bewusstsein der Moderne Diese allgemeine Geschichte des muslimischen Bewusstseins wurde mit dem Aufkommen der modernen europäischen Zivilisation einer neuen historischen Erfahrung und Richtung ausgesetzt. Das sogenannte »MetaNarrative« der Muslime als der metaphysische und hierarchische Geist des Mittelalters wurde auf seine historischen Kontexte hin dekonstruiert. 11
12
Ibn SÐnÁ, FÐ i×bÁt an-nubÙwa (= Der Beweis für das Prophetentum), in: TisÝa rasÁÞil, Kairo 1908, 120–132. Vgl. auch Avicenna, On the Proof of Prophecies and the Interpretation of the Prophets. Symbols and Metaphors, übers. von Michael E. Mamura, in: Ralph Lerner/Muhsin Mahdi (Hg.), Medieval Political Philosophy. A Sourcebook, Ithaca 1963, 112–121. Ibn SÐnÁ, aš-ŠifÁÞ: al-IlÁhÐyÁt (10), Bd. 1, taÎqÐq, hg. von Georges C. Anawati u. a., Kairo 1960, 441–443; für eine englische Übersetzung vgl. Avicenna, Healing: Metaphysics X, übers. von Michael E. Mamura, in: Lerner/Mahdi, Medieval Political Philosophy (s. Anm. 11), 99–101.
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Mit dem Aufkommen des modernen wissenschaftlichen, positivistischen, orientalistischen, historisierenden Bewusstseins in den muslimischen Gesellschaften wurde das Meta-Narrative des Mittelalters allmählich zu Einzelteilen (Sub-Narrativen) unterschiedlicher historischer Vorstellungen. Für die meisten Muslime war dies natürlich eine Art kultureller Katastrophe, da dieser Vorgang der Dekonstruktion das muslimische Bewusstsein von einer vertikalen, metaphysischen in eine horizontale, historische Denkweise veränderte. Als Folge dieser neuen Entwicklungen erschien der Begriff »Geschichte« als ein radikal neues »Phänomen«. Geschichte war nicht mehr ein bloßer Ablauf von Zeit, der sich nach metaphysischem Denken richtete. Geschichte wurde vielmehr als der Ort der Schaffung metaphysischer, mythischer und kultureller Erkenntnisse und Glaubensvorstellungen verstanden. Dadurch hat das Konzept des »Sinns« aus der Sicht des historischen Bewusstseins eine neue Bedeutung bekommen. Während »Sinn« in der allgemeinen Epistemologie und Metaphysik des Mittelalters als etwas durch göttlichen Willen »Gegebenes« und durch den menschlichen Geist »Angeeignetes« verstanden wurde, wurde er von jetzt an als das Ergebnis menschlichen imaginativen, konstruktiven, wissenschaftlichen und historischen Bemühens verstanden. Daher kam es zu einem weiteren neuen Begriff: »Tradition«. In alten Zeiten benutzten Muslime im Allgemeinen die Bezeichnungen maÆhab (Sekte), ÔarÐqa (Weg, Gebot) oder qaul (Gedanke, Meinung), um auf historisch überliefertes Wissen und Meinungen hinzuweisen. Soweit ich sehen kann, gab es keinen Begriff wie »Tradition« als Dachbegriff, der das gesamte angesammelte Wissen umfasst, das uns aus der Vergangenheit überliefert wurde. Das Konzept der Tradition stellt eine Art Wasserscheide dar zwischen der modernen und der alten Zeit. Mit anderen Worten, er verweist direkt auf das gespaltene Bewusstsein der Muslime in der modernen Welt. Wegen dieses Traditionsbegriffs erscheint der Geschichtsbegriff als neues Phänomen der modernen Geschichte den Muslimen insofern als ein paradoxer Vorgang, als er zugleich eine Verknüpfung und einen Trennungspunkt zwischen Muslimen der modernen Zeit und ihrer Vergangenheit (einschließlich der Offenbarung) herstellt. Aus moderner Sicht stellt das Meta-Narrative des Mittelalters eine Art imaginatives Konstrukt dar, das den gespaltenen Zustand des Bewusstseins vor dem Bewusstsein selbst verbarg. Heutzutage hat das moderne muslimische Bewusstsein keine metaphysische Zuflucht als locus für die nackte universale Wahrheit. 82
Dies mag erklären, warum erneuernde, islamistische, fundamentalistische, traditionalistische, modernistische, historisierende und sogar mystische Bewegungen in der islamischen Welt ganz neue Ausdrucksformen des veränderten und gespaltenen Bewusstseins der Muslime sind. Sie stellen eigentlich unterschiedliche Wege der »Rückkehr zur Heiligen Schrift des Islams« und der »Rückkehr zu unserer neuen Welt« dar und erscheinen so als zeitgenössische Bemühungen, das Problem des gespaltenen und verschobenen modernen Bewusstseins zu überwinden. Alle diese Bewegungen sind sich mehr oder weniger der Tatsache bewusst, dass das Problem der Relevanz des Korans für unsere heutige Welt nicht gelöst werden kann, ohne das Problem des gespaltenen Bewusstseins zu überwinden. Dieses »Gespaltensein« oder »Getrenntsein« zeigt sich zumeist an der Trennung des Glaubens vom Wissen: Das moderne Wissen widerstrebt den Bemühungen, es zu einem konstitutiven Teil des islamischen Glaubens zu machen; der islamische Glaube, wie er aus der Sicht des historischen Kontextes des Propheten Mohammed verstanden wird, wehrt sich dagegen, aufgrund seines stark symbolischen und kulturellen Charakters ein anachronistischer und exotischer Teil des modernen Wissens zu sein. Aus diesem Grunde sind beide, die Islamisierung des Wissens13 und die Modernisierung des islamischen Glaubens mit demselben Problem konfrontiert: Die Sprache des Glaubens und die Sprache des zeitgenössischen Wissens führen uns zu unterschiedlichen Sinnhorizonten, die schwerlich eine gemeinsame harmonisierte Welt darstellen können.
8. Neue hermeneutische Ansätze in der Kritik Einige zeitgenössische muslimische Gelehrte, wie Fazlur Rahman, Hasan Hanafi, Nasr Hamid Abu Zaid und Muhammad Arkoun, scheinen das moderne Wissen als eine verlässliche Grundlage für Analyse und Kritik des historischen Kontextes der koranischen Offenbarung zu befürworten. Ihr Hauptanliegen besteht offensichtlich darin, nicht den ganzen islamischen Glauben auf ein bloß kulturelles und historisches Produkt zu reduzieren. Sie hoffen vielmehr, fiktive und veraltete historische Elemente zu beseitigen, die im Blick auf den Kern des islamischen Glaubens für uns 13
Als allgemeine Einführung in diese Vorstellung vgl. International Institute of Islamic Thought (Hg.), Islamization of Knowledge. General Principles and Work Plan, Herndon 21989.
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irrelevant sind, so dass der Islam in der modernen Welt zu einem neuen Leben kommt. Wie können wir jedoch historischer Analyse und Kritik als einzigartigem menschlichem Bemühen trauen, wenn es darum geht, den Kern des islamischen Glaubens zu bewahren? Wenn »Geschichte« ein Geschehensablauf ist, der das historische menschliche Bewusstsein verändert und damit eine Kluft zwischen uns und der Zeit der Offenbarung schafft, wie kann dann das historische menschliche Bewusstsein historisch irrelevante Elemente aus dem Kern des Glaubens entfernen? Anders ausgedrückt, wie kann das moderne historische Bewusstsein sich dessen sicher sein, dass es frei ist von modernen Vorurteilen und somit ein Recht hat, alte kulturelle menschliche Konstrukte aus dem Wesensgehalt des Glaubens zu entfernen? Sicherlich bedeutet diese Art philosophischer Fragen zur neuzeitlichen historischen Kritik nicht, dass historische Kritik des Korans ein sinnloses Unterfangen sei. Sie gibt uns vielmehr die Möglichkeit, uns unserer eigenen heutigen Vorurteile im Blick auf alte Zeiten und alte Texte stärker bewusst zu werden. Der Ursprung der Gespaltenheit des modernen muslimischen Bewusstseins liegt hauptsächlich in einem modernen Vorurteil: Heute betrachtet die Mehrheit der Muslime den Sinn grundlegender islamischer Texte als etwas, das ihnen zur Verfügung steht und auf das sie nach eigenem Ermessen zurückgreifen können. Dies ist das größte Vorurteil der heutigen Zeit. Und unglücklicherweise bestärkt die Philosophie der modernen historischen Kritik dieses Vorurteil in einem gewissen Grade, indem es das moderne Bewusstsein dazu ermutigt, an das kritische Wissen zu glauben, das es als historische Grundlage des religiösen Glaubens schafft. Das heutige Vorurteil der Muslime und die Philosophie der historischen Kritik laufen auf dasselbe hinaus, wenn sie den »religiösen Sinn« mit »Wissen« identifizieren, wobei es nicht darauf ankommt, ob dieses religiös, naturwissenschaftlich oder historisch ist. Diese Reduzierung des »religiösen Sinns« auf »Wissen« scheint die Gespaltenheit oder Getrenntheit im muslimischen Bewusstsein zu vertiefen, da es dieses Bewusstsein zu der Annahme führt, dass das gespaltene Bewusstsein den historischen Kontext des Propheten und die moderne Welt objektiv erfassen kann, da es zwischen den beiden steht und sie von daher genau an dem Punkt, wo sie sich voneinander unterscheiden, miteinander vergleichen und einander gegenüberstellen kann. Diese »Zwischenstellung« scheint bei Muslimen große Spannung und Angst hervorzurufen bei ihrer Begegnung mit verschiedenen und gegensätzlichen Vorstellungen. 84
Wir können historische Kritik an den grundlegenden islamischen Texten ernst nehmen, solange die historische Kritik ihre eigene Tätigkeit als wesentlichen Teil des allgemeinen historischen Bewusstseins betrachtet. Die Frage, wie die Gespaltenheit zwischen Vergangenheit und Gegenwart überwunden werden kann, scheint eine der grundlegenden Fragen der modernen historischen Kritik an islamischen Texten zu sein – ganz einfach deshalb, weil historisch falsche Annahmen oder eine Art mythologisches bzw. imaginäres Bewusstsein der Vergangenheit ein rationales Verständnis historischer Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart verhindern. In diesem Zusammenhang scheint der historischen Kritik die gewaltige Verantwortung zu obliegen, dazu beizutragen, das moderne gespaltene muslimische Bewusstsein wieder zusammenzufügen. Moderne historische Kritik kann jedoch diese Verantwortung nur wahrnehmen, solange sie sich selbst als eine Art dialogischen Bewusstseins zwischen Vergangenheit und Gegenwart versteht und nicht als eine Form des cartesianischen Bewusstseins, das sich seiner selbst als aktives Subjekt gegenüber seinem passiven Objekt bewusst ist. In diesem Zusammenhang ist Fazlur Rahman für die moderne islamische Geistesgeschichte von großer Bedeutung, da er darum bemüht war, die einflussreichste Methode der Koraninterpretation auf der Grundlage des cartesianischen Bewusstseinsmodus zu entwickeln. Offensichtlich gründete er den ersten Schritt seiner Methodologie auf dem Wissen, das die historische Kritik islamischer Texte erbracht hat, und in einem zweiten Schritt auf einer Werttheorie, mittels der er die historische Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überwinden hoffte. Gleichwohl ist einer der problematischsten Aspekte von Rahmans Methodik, dass er »reines Bewusstsein«14 zum Ausgangspunkt der Interpretation der Vergangenheit nimmt. Anders gesagt: In seiner Methodik ist das »reine Bewusstsein« damit betraut, universale Werte des Islams auf der Grundlage partikularen historischen Wissens freizulegen, das sich historischer Kritik verdankt. Die Konstruktion historischen Wissens soll also die Re-Konstruktion universaler Werte zum Resultat haben.15 An dieser Stelle ist durchaus zu fragen: Wie kann denn das »reine Bewusstsein« von der geschichtlich konstruierten Vergangenheit zu geschichtsübergreifenden (universalen) Werten gelangen? Wie kann denn das reine Bewusstsein geltend machen, dass partikulare geschichtliche Umstände 14 15
Fazlur Rahman, Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition, Chicago 1982, 4. Vgl. ebd. 1–11.
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zur Zeit des Propheten zur Grundlage der Entdeckung universal gültiger und anwendbarer Werte werden, während sich dieses Bewusstsein selbst als »rein« versteht – das heißt: frei von Prämissen, Vorurteilen, Meinungen aus Vergangenheit und Gegenwart, also cartesianisch? Zu Rahmans Methodik ist Folgendes anzumerken: Die Vergangenheit ist nicht ein reines Objekt reinen Bewusstseins. Vielmehr bilden geschichtliche Einflüsse der Vergangenheit auf die Gegenwart die Grundlage dafür, dass die Gegenwart – zusammen mit der Vergangenheit – innerhalb eines allgemeinen geschichtlichen Bewusstseins begriffen werden kann. Deshalb ist sogar die moderne historische Kritik Teil der Vergangenheit, die immer schon auf die Gegenwart einwirkt. Sie kann sich dieser Wirkung der Vergangenheit nicht entziehen – und deshalb auch nicht die Vergangenheit in bloß objektive Wissensbestände umformen. Mit anderen Worten: Historische Kritik geht nicht von einem »reinen Bewusstsein« aus, wie Rahman vermutete. Sie kann uns allerdings dabei helfen, ein reflektiertes Wertebewusstsein zu entwickeln, indem sie uns mittels gesicherten Wissens über die Vergangenheit mit der geschichtlichen Vergangenheit in Beziehung setzt. Anders gesagt: Historische Kritik sollte nicht Glaubensansichten (religiösen Sinn, Werte) mit dem Wissen identifizieren, das sie hervorbringt – ganz einfach, weil geschichtliches Wissen nicht darlegen oder erklären kann, wie ein bestimmter Wert an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden ist. Sie sollte einsehen, dass wahres und gesichertes Wissen über die Vergangenheit uns hilft, ein reflektiertes Bewusstsein über unsere Meinungen, Werte oder religiöse Ansichten zu entwickeln, so dass wir einen neuen Sinn entstehen lassen können, der für unsere heutigen Zeiten maßgeblich ist.
9. Koranische Hermeneutik als dialogisches Bewusstsein religiösen Sinns Ich meine, dass die Relevanz der koranischen Hermeneutik für das gegenwärtige muslimische Leben gerade an dieser Stelle besser verständlich wird. Die koranische Hermeneutik als das historische dialogische Bewusstsein des religiösen Sinns16 versteht den religiösen Glauben als 16
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Zu meiner weiteren Analyse über religiöses dialogisches Bewusstsein vgl.
Burhanettin Tatar, Die Sozialethik des Islam und des Christentums, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Der Islam und das Christentum – Ein Ver-
Ursprung des religiösen Sinns, der nicht im Rahmen des objektiven Wissens objektiviert und überliefert werden kann. Er kann lediglich als »Horizont« oder »Welt«, die historisch dynamisch ist, miteinander geteilt und partizipiert werden. Aus diesem Grund können die Grenzen des religiösen Sinns nicht durch »Wissen« bestimmt werden. Damit wird auf andere Weise gesagt, dass religiöser Sinn keine Grundlage sein kann für die heutige Trennung zwischen »Ich« und »Anderen«, da er mehr »Ereignis« als »Wissen« ist. Koranische Hermeneutik geht davon aus, dass alle Menschen die Freiheit haben, den Koran auszulegen, und ein Recht, ihre Verantwortung gegenüber dem Koran zu übernehmen. Religiöser Sinn als ein dialogisch miteinander geteilter, verbreiteter, partizipierter, angenommener oder abgelehnter Horizont befähigt Menschen, Wissen zu schaffen; doch er widersetzt sich Bemühungen, ihn auf ein Teilstück des Wissens unter anderen zu reduzieren. Da sie nicht objektiviert werden kann, erscheint die »religiöse Wahrheit« als etwas, das in ihrer Zeitlichkeit geschieht und sich ereignet. Der Koran enthüllt sich zugleich aus historischer und metaphysischer Sicht zu ein und derselben Zeit: Er kann Teil der Geschichte sein durch seine Verkündigung, durch Rezitation, durch Verlesung, Bezugnahme und Auslegung; und als eine Quelle des religiösen Sinns kann er nicht historisch und rational auf bestimmte historische Ereignisse zurückgeführt werden. Wir sollten uns daran erinnern, dass das, was auf bestimmte historische Ereignisse zurückgeführt wird, kein religiöser Sinn ist, sondern lediglich religiöses Wissen. Sinn als Geschehen ist stets mehr als Wissen. Unter diesem Blickwinkel unterscheidet sich unsere oben vorgeschlagene Koranhermeneutik von anderen Modellen einer Koranhermeneutik, wie sie von Fazlur Rahman, Muhammad Arkoun, Nasr Hamid Abu Zaid und Hasan Hanafi entworfen worden sind. Einer der grundlegenden Unterschiede besteht darin, dass diese Autoren beim geschichtlichen Wissen über die Vergangenheit anzusetzen scheinen, wie es durch die historische Kritik herausgearbeitet wird. Mit anderen Worten: Sie alle sind gegenüber der islamischen Tradition insofern äußerst kritisch, als sie ihr vorwerfen, eine hegemoniale Ideologie und eine Art mythischen gleich der Grundwerte als Basis für einen interreligiösen Dialog, Ankara 2007, 79–91 (verfügbar auch unter www.konrad.org.tr/Islam%20dt%202006/ 09tatarAL.pdf); Burhanettin Tatar, Das Problem der Koranauslegung, in: Felix Körner (Hg.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg 2006, 104–124.
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Wissens in Hinsicht auf den Ursprung des Islams hervorzubringen. Dabei scheinen sie auf verschiedene Philosophien wie Marxismus, Cartesianismus und Postmoderne zurückzugreifen. Sie behandeln die Vergangenheit wie ein bloßes Objekt von Wissen. Die Koranhermeneutik, wie wir sie uns vorstellen, nähert sich der Vergangenheit vornehmlich als einem Geschehen, das seine Bedeutung in verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens enthüllt – wie Kunst, Politik, religiösem Wissen und Ritualen, Wissenschaft, Alltagspraxis, Gebräuchen, sogar in Unterhaltung und Schauspiel etc. Dann jedoch geht Tradition nicht in bloßem Wissen über die Vergangenheit auf; vielmehr ist sie die historische Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart.17 Sicherlich obliegt es der Verantwortung jedes einzelnen Muslims, ein kritisches Wahrnehmen und Bewusstsein der Vergangenheit zu entwickeln – ganz einfach schon deshalb, weil die Vergangenheit nicht bloß Quelle von wahrem Wissen und von Werten ist; sie ist auch die Quelle mancher kultureller Katastrophen, Zusammenstöße und internationaler Probleme unserer modernen Welt. Trotzdem verlangt das »kritische Bewusstsein der Vergangenheit« von uns nicht, uns von der Vergangenheit zu trennen und loszusagen und von daher vergangene Werte und Glaubensansichten zu bloßem historischem Wissen zu reduzieren. Umgekehrt ruft es uns in Erinnerung, dass das kritische Bewusstsein der Vergangenheit selbst Teil der Vergangenheit ist, die bereits auf die Gegenwart einwirkt. Deshalb ist der Zweck des kritischen Bewusstseins nicht, uns von der Vergangenheit zu trennen. Vielmehr versucht es unseren Sinnhorizont zu erweitern, indem es Vergangenheit und Gegenwart in einen stetigen Dialog miteinander bringt. Die von uns vorgeschlagene Koranhermeneutik ist darum bemüht, die religiösen Texte des Islams mit den modernen Zeiten in ein gegenseitiges Gespräch zu bringen. Diese Hermeneutik bezweckt letztlich, weder die Vergangenheit der Gegenwart zu unterwerfen noch umgekehrt. Vielmehr steht sie für eine Form des kritischen Bewusstseins, das ganz grundsätzlich die Tatsache akzeptiert, dass Vergangenheit und Gegenwart ihre je eigenen und unterschiedenen Aspekte haben. Genau wegen ihrer je eigenen und unterschiedlichen Aspekte kann die Gegenwart nicht bloß Abbildung, Schatten oder Dublette der Vergangenheit sein. Koranhermeneutik hat zum Ziel, diese je einzigartigen, originalen, unwiederholbaren Aspekte der Vergangenheit und der Ge17
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Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1986, 270–305.
genwart freizulegen, damit religiöser Sinn nicht als ursprüngliche Form von Sinn verstanden wird, die sich einfach so ins Hier und Jetzt kopieren ließe. Umgekehrt kann religiöser Sinn – wie jeder Mensch – im Rahmen seines geschichtlichen Fortbestehens ein neues und anderes Aussehen aufweisen. Koranhermeneutik als kritisch-dialogisches Bewusstsein bringt jedem Menschen in Erinnerung, dass »Sinn« grundsätzlich eine »Beziehung« ist und nicht ein »Gegenstand«. Deshalb erzeugt originäre Deutung nicht »etwas« Neues, sondern legt einen einzigartigen und unterschiedlichen Aspekt der geschichtlichen Beziehung zwischen uns und der Vergangenheit frei. Einander missverstehen oder auch die Texte missverstehen ist ein weiterer Aspekt dieser Beziehung des dialogischen Bewusstseins. Als dynamischer Verlauf in zeitlicher Hinsicht hat diese »Beziehung« jedoch die Fähigkeit und Möglichkeit, sich selbst aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen und auf diese Weise zwischenzeitlich immer wieder Missverständnisse zu überwinden. Allein schon deshalb, weil ein Missverständnis nicht ausgeschlossen werden kann, ist das Bewusstsein dafür vorhanden, dass es nötig ist, von anderen korrigiert zu werden. Dies zeigt ganz deutlich, weshalb das Missverständnis konstitutiver Bestandteil des dialogischen (kritischen) Bewusstseins ist.
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Parallelen zwischen Koran- und Bibelhermeneutik Eine Erwiderung auf Burhanettin Tatar Beate Kowalski
1. Vielfalt der Zugänge in der Koranhermeneutik In seinem Beitrag stellt Burhanettin Tatar eine Vielfalt von Zugängen und Schulen vor, um die Koranhermeneutik im gegenwärtigen muslimischen Leben darzustellen. Sie können nicht miteinander harmonisiert werden, teilweise widersprechen sie einander. Als Ausgangspunkt hält Tatar fest: »Texte als solche schweigen; sie werden gesellschaftlich relevant durch ihr Aussprechen in Form von Rezitierung, Lesung, Verweis und Auslegung.« (S. 73) Damit nimmt der so genannte Leseakt eine wichtige Rolle bei der Interpretation eines (heiligen) Textes ein. In Kontrast zu dieser Auffassung betonen andere muslimische Forscher den Wert des Textes und sprechen von »sich selbst auslegenden Texten« (ËÁriÊÐya). Andere Aspekte der Textinterpretation des Textes sind die Aufmerksamkeit für den historisch-kulturellen Kontext, der Literalsinn (ÚÁhirÐya) oder eine atomistische Vers-für-Vers-Auslegung. Ausgehend von diesen miteinander nicht kompatiblen Positionen kann man fragen: Braucht es Interpretation? Was bedeutet Interpretation im Allgemeinen? Zudem wird unter gegenwärtigen islamischen Theologen diskutiert, wer befähigt ist, einen Text zu interpretieren – ob alle Menschen oder nur eine kleine Gruppe ausgewählter Wissenschaftler. Eng verbunden mit dieser Frage ist das Problem, ob Interpretation eine rein menschliche Aktivität ist, die jeglichen religiösen Wertes oder eines heiligen Aktes beraubt ist. Daraus folgt, dass Wissenschaftler nicht eine harmonische Einheit darstellen. Sie können unterteilt werden in Erneuerer, Islamisten, Fundamentalisten, Traditionalisten, Modernisten, Historiker und mystische Bewegungen. Das einzige objektive Kriterium, um Interpretationen zu evaluieren, ist die Korrektheit der Methodenanwendung. 90
Als ein zentrales Problem der Interpretation untersucht Tatar die historische Dimension der Interpretation: »Wie können wir jedoch historischer Analyse und Kritik als einzigartigem menschlichem Bemühen trauen, wenn es darum geht, den Kern des islamischen Glaubens zu bewahren?« (S. 84) Weiter kritisiert er die Herabstufung und Reduktion des religiösen Sinns auf Wissen. Als Ergebnis dieser verschiedenen Zugänge müssen hermeneutische Probleme benannt und erörtert werden. Wie ist die Beziehung zwischen den Gegensätzen Metaphysik und Geschichte, Glaube und Wissen, Göttlichkeit und Menschheit, Bedeutung Gottes und menschliche Bedeutung, real und fiktional, authentisch und nicht authentisch, Vergangenheit und Gegenwart, universal und partikular, transhistorisch und historisch, traditionell und modern?
2.
Hermeneutische Aspekte
Moderne islamische Theologen (Fazlur Rahman, Hasan Hanafi, Nasr Hamdid Abu Zaid, Muhammad Arkoun) nehmen modernes Wissen als Ausgangspunkt, um den historischen Kontext der Korantradition zu analysieren. Die Hermeneutik, die ihr Denken beeinflusst, leitet sich von Hans-Georg Gadamer, einem deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, ab. Gadamer betont die historische Distanz zwischen dem Text, seinen Interpreten und den historischen und kulturellen Daten des Lebenskontextes und des Verstehenshorizonts. Die These, die er vertritt, ist die einer Horizontverschmelzung; sie basiert auf Zugehörigkeit. Dies setzt eine fundamentale Affinität zwischen InterpretIn und seinem bzw. ihrem Objekt voraus. »Die Hermeneutik ist ein dialektischer Vorgang: das Verständnis eines Textes ist immer auch ein erweitertes Selbstverständnis.«1 Subjektivität ist ein fundamentales Problem der historischen Kritik; ein verantwortlicher Umgang mit ihr ist das dialogische Bewusstsein. Vergangene Erfahrung beeinflusst die Gegenwart; ein reines Bewusstsein, das unabhängig von jeglicher Tradition und Kultur ist, gibt es nicht. Tatars Hermeneutik unterscheidet sich von dieser erwähnten Hermeneutik insofern, dass er die »Vergangenheit vornehmlich als ein Geschehen, das seine Bedeutung in verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens enthüllt« (S. 88), betrachtet. Er betont die historische Kontinuität 1
Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn 1994, II.A.1.
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zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die ein kritisches Bewusstsein der Vergangenheit mit einschließt. Interpretation erschafft nicht etwas Neues, sondern entdeckt eine neue Beziehung mit der Vergangenheit. Natürlich kann es zu Missverständnissen kommen; sie sind konstitutiver Teil des dialogischen Prozesses und können innerhalb dieses Prozesses korrigiert werden. Dem entsprechend kann Interpretation nicht bedeuten, einen Text zu transformieren zu einem endgültigen, ewigen Dogma. Jede Art von Interpretation beinhaltet gegenwärtige Elemente und ist somit zeitbedingt.
3. Parallelen und Ähnlichkeiten Das Problem verschiedener Zugänge, Methoden und exegetischer Schulen und der damit verbundenen Hermeneutik im Islam hat Parallelen in der christlichen Hermeneutik.2 Es scheint, als ob alle Buchreligionen mit ähnlichen Fragen der Interpretation konfrontiert sind. Im Folgenden werden die Entwicklungsstufen katholischer Schrifthermeneutik seit 1893 zusammengefasst, um die Parallelen deutlich zu machen: Der erste Schritt wurde 1893 durch Papst Leo XIII. mit der Veröffentlichung von Providentissimus Deus gesetzt; er vertrat die Irrtumslosigkeit und die Verbalinspiration der Heiligen Schrift. Papst Pius XII. erlaubte 1943 erstmals die historisch-kritischen Methoden in Divinu Afflante Spiritu nach einer Zeit der Lehrverurteilungen historisch-kritisch arbeitender Bibelwissenschaftler. Diese Methode wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) mit dem Dokument Dei Verbum erneut bestätigt; Inspiration wurde nun als dynamischer Prozess gedacht. Die weitere Entwicklung steht für die Öffnung, die seit dem Konzil beobachtet werden kann. Die Päpstliche Bibelkommission veröffentlichte 1993 das Dokument »Die Interpretation der Bibel in der Kirche«, worin eine breite Vielfalt an Methoden und Zugängen präsentiert wurde. Zudem lehnt das Dokument jeglichen fundamentalistischen Umgang mit der Bibel strikt ab.3 2
3
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Die exegetische Entwicklung lief nicht parallel in den beiden Konfessionen. So wurde die historisch-kritische Methode in der evangelischen Exegese sehr früh akzeptiert, während sie in der katholischen Exegese lange umstritten war. Vgl. auch Henning von Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. 4: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001. Vgl. www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/pcb_documents/rc_con_ cfaith_doc_19930415_interpretazione_ge.html, Schlussfolgerung: »Funda-
Die letzten Veröffentlichungen der katholischen Kirche weisen auf ein tieferes Interesse am Dialog mit anderen Religionen hin. Die Päpstliche Bibelkommission veröffentlichte 2001 ein zweites Dokument »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel« welches die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen den beiden Teilen der Bibel und der jüdischen und christlichen Religion lenkt.4 Im Oktober 2008 veröffentlichte die 12. Weltbischofssynode ein Dokument, in dem es um die Bedeutung des Respekts vor dem Leben, die Menschenrechte und die Rechte der Frau sowie auch die Unterscheidung zwischen der sozio-politischen und der religiösen Ordnung bei der Förderung von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt geht.5 Angeregt durch einen »Offenen Brief« von 138 islamischen Gelehrten fand im November 2008 im Vatikan ein katholisch-muslimisches Forum statt, das mit einer gemeinsamen Erklärung beendet wurde. Überblickt man die Entwicklungsschritte, so wird die gegenwärtige Dimension der Interpretation sichtbar. Das Verständnis der göttlichen Offenbarung und die Auswahl der Methoden spiegeln die verschiedenen Epochen der (Kirchen-)geschichte. Die Öffnung zu neuen Methoden und Zugängen ist parallel zur Öffnung zu den Weltreligionen zu sehen.
4. Kritische Reflexionen Interpretation ist eine komplexe Angelegenheit. Autorzentrierte Methoden fragen: »Was ist die Intention des Autors?«, textzentrierte Methoden stellen den Text ins Zentrum: »Was sagt der Text?«, und leserorientierte Methoden sind daran interessiert: »Wie verstehen die (ersten) Leser den Text?« Generell unterscheidet man zwischen synchronen Methoden
4 5
mentalisten möchten die Exegeten als reine Übersetzer betrachten, wobei sie übersehen, daß die Übersetzung der Bibel schon Exegese ist.« Vgl. www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/pcb_documents/rc_con_ cfaith_ doc_20020212_popolo-ebraico_ge.html Aus dem Abschlussdokument der Weltbischofssynode (www.vatican.va/ news_services/press/sinodo/documents/bollettino_22_xii-ordinaria-2008/05_tedesco/ b34_05.html): »Auch wir Christen sind auf den Wegen der Welt dazu eingeladen – ohne in einen Synkretismus zu fallen, der die eigene geistliche Identität verzerrt oder erniedrigt –, voll Respekt in Dialog zu treten mit den Männern und Frauen der anderen Religionen, die treu die Richtlinien ihrer Heiligen Bücher hören und befolgen, angefangen beim Islam, der in seiner Tradition zahllose Personen, Symbole und Themen aus der Bibel aufgreift und uns das Zeugnis eines aufrichtigen Glaubens an den einen, mitleidsvollen und barmherzigen Gott bietet, den Schöpfer allen Seins und Richter der Menschheit.«
93
(Sprache, Komposition, narrative Struktur und Überzeugungskraft; Zugänge, die die Humanwissenschaften einbeziehen: Soziologie, Kulturanthropologie, Psychologie und Psychoanalyse; kontextuelle Zugänge: Befreiungstheologie, Feminismus) und diachronen Methoden (historische Entwicklung des Textes; historisch-kritische Methoden; Zugänge, die auf der Tradition basieren: canonical approach, Rekurs auf jüdische Traditionen, Wirkungsgeschichte eines Textes). Die Pluralität der Methoden und Zugänge ist abhängig von ihren Interpreten, ihren hermeneutischen Voraussetzungen und Konsequenzen. Methoden beinhalten hermeneutische Probleme und umgekehrt: Das Verständnis von göttlicher Inspiration beeinflusst die ausgewählten Methoden – die ausgewählten Methoden beeinflussen das Verständnis von göttlicher Inspiration. Darüber hinaus kann man fragen, ob Interpretation ein Teil des Inspirationsaktes selbst ist. Oder ist Interpretation ein rein säkularer Vorgang? Theoretisch mag es einfach scheinen, angemessene Antworten auf diese Probleme zu finden. Erst Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen legen die eigentlichen Fragen offen: Beispiele bezüglich ethischer Fragen, Beispiele bezüglich religiöser Traditionen oder andere Beispiele, die ein zentrales Thema religiösen Lebens behandeln. Es kann hilfreich sein, die Probleme auf einem dritten Weg zu lösen: weder im Leugnen der historischen Unterschiede noch im Überbetonen derselben. Hauptkriterien der Interpretation sollten Pluralität und Dialog unter Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen der Vergangenheit und der Gegenwart sein. Kriterien sollten in jedem Fall dialogisch festgelegt werden! Das bedeutet, dass Einzelpersonen niemals alleinige Autorität bei der Interpretation haben, sondern die Glaubensgemeinschaft im Kontext der langen Traditionsgeschichte.6 Hier ist ein Unterschied zwischen islamischer und katholischer Hermeneutik zu erkennen. Die Begriffe Tradition und Dialog haben je unterschiedliche Bedeutung; ein »Lehramt«, das bei Missverständnissen – wie Tatar sich ausdrückt – eingreift, gibt es im Islam nicht. Es stellt sich daher die grundsätzliche Problematik der Rezeption von Positionen, die nicht zum mainstream gehören und eventuell Aspekte der Interpretation einseitig betonen. Die Hermeneutik Gadamars stößt hier an Grenzen des Leistbaren. 6
94
Vgl. die Nr. 7 der gemeinsamen Erklärung von Vatikan und führenden iranischen Gelehrten vom 5.5.2008 (zit. nach www.cibedo.de/vatican_schiiten_ iran.html): »Religiöse Traditionen können nicht anhand einzelner Verse oder Textstellen beurteilt werden, die in den jeweiligen heiligen Büchern enthalten sind. Sowohl eine ganzheitliche Sicht als auch eine angemessene hermeneutische Methode sind für ein faires Verständnis erforderlich.«
II. Übersetzungen
Bibeltexte zu neuen Ufern führen Übersetzungen der Heiligen Schrift im Christentum Andreas Obermann
»Das versteht doch kein Mensch!« – so entrüstet sich ein Berufsschüler beim Versuch der Bibellektüre. Trotz guten Willens will sich dem intelligenten Schüler der Textsinn nicht erschließen. Denn seine Voraussetzungen sind hierfür nicht ausreichend – er ist religiös kaum sozialisiert. Die religiöse Sprache ist ihm nur rudimentär bekannt: Weder in der Familie, Schule oder Peergroup sprechen Jugendliche so, wie die Bibel es tut. Die Sprache der Bibel ist fremd geworden. Pädagogisch gesehen kann das ein Glücksfall sein, wenn die Fremdheit den Entdeckergeist des Rezipienten weckt. Nicht immer weckt das Neue der Religion jedoch Interesse an der Überwindung der Fremdheit.
1. Die Not des Nicht-Verstehens biblischer Texte 1.1
Die semantisch-sprachliche Ebene
Kommunikationsprozesse gelingen, wenn die benutzten Zeichensysteme den beteiligten Kommunikanten bekannt sind. Das gilt auch bei der Kommunikation von Bibeltexten. Probleme treten auf, wenn eine neue Sprache in einen Kommunikationsprozess eintritt, Menschen in einen neuen Sprachraum eintreten oder über Generationen die Sprachfähigkeit verloren geht. Diese Probleme kennen Migranten bis heute, wenn sie ihre Muttersprache verlernen und damit auch die Kenntnis eines großen Teils der »heimischen« Literatur wegbricht, wie es bei heiligen Schriften der Fall ist. Vielen SchülerInnen fehlt das sprachliche (und hermeneutische) Repertoire zur Interpretation antiker Texte.1 1
Das Verstehen biblischer Texte wird zudem da schwer, wo Schülern biblische Textgattungen unbekannt sind: So bringt zum Beispiel das wörtliche Verstehen der biblischen Schöpfungsberichte unter Absehung ihres mytho-
97
1.2
Die inhaltlich-existenzielle Ebene
Die Frage nach der Sachebene beim Verstehen der Bibel ist so alt wie diese selbst (vgl. Apg 8). Dass Worte an sich zwar bekannt sind, aber in ihrem biblischen Kontext ohne Inhalt bleiben, begegnet heute vermehrt in Schulen: Begriffe wie Sünde, Schuld, Hölle oder Beichte kennen Jugendliche nicht mehr als konkrete religiöse Rede. Auch bilden religiöse Vorstellungswelten, die ihren Ursprung in antiken Weltanschauungen haben, keine Lebenswirklichkeit mehr ab:2 Die Sühnevorstellung oder die Theologie der Stellvertretung des Alten wie des Neuen Testaments zum Beispiel sind als antike Vorstellungswelt unbekannt und als existenzielles Beziehungsgefüge fremd und unwirklich.3 Das Verstehen und Erleben der eigenen Person coram deo als existenzieller Lebensdimension ist weitgehend verloren gegangen.
2. Brücken neuen Verstehens – die Septuaginta als Bibel-Übersetzung Wo die Brücken des Verstehens abgerissen sind und die Botschaft vom Rezipienten trennen, sind Übersetzungen der Versuch, die Botschaft zu den Ufern (der Moderne) zu bringen. Die Übersetzung kann als Transportmedium (Vehikel) verstanden werden, mit dessen Hilfe die Botschaft in einer neuen Sprachgestalt über das Meer des Nichtverstehens übergesetzt wird. Jede Übersetzung hat dabei spezifische Vorgaben. Handelt es sich um heilige Texte wie aus der Tora, dem Neuen Testament oder dem Koran, sind es allesamt Texte von einzigartigen Geschichten und Erlebnissen, in denen sich Gott deutlicher zu erkennen gegeben hat als in anderen Texten. Diese Ursprungstexte religiöser Erfahrungen sollen Menschen zugänglich gemacht werden: Bibelübersetzungen sind von daher immer Übersetzungen für andere. Die Übersetzung verhilft zur Möglichkeit angemessener Bibellektüre und Bibelverständnisses. In dieser Inten-
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98
logischen Charakters alle Schüler in Schwierigkeiten angesichts der Evolutionstheorie. Vgl. hierzu Klaus-Peter Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 32006. Vgl. Andreas Feige/Carsten Gennerich, Lebensorientierungen Jugendlicher. Alltagsethik, Moral und Religion in der Wahrnehmung von Berufsschülerinnen und -schülern in Deutschland. Eine Umfrage unter 8000 Christen, Nicht-Christen und Muslimen, Münster u. a. 2008.
tion sind alle Bibelübersetzer bestrebt, dem Rezipienten die Botschaft in sprachlich gut zugänglicher Weise zu vermitteln. Wie aber kann eine Botschaft – noch dazu eine zum religiösen Gebrauch anerkannte – Menschen in ihren jeweiligen Sprachen zugänglich gemacht werden? Haben die Zielsprachen überhaupt das semantische und grammatikalische Potential, um die Botschaft inhaltlich angemessen zu übertragen? Welche Akzente des Ursprungstextes gehen verloren? Welche Denkmuster der neuen Sprache fließen – gewissermaßen automatisch – in den Ursprungstext ein, weil jede Sprache ihre eigene Vorstellungswelt gebiert? An welchen Stellen sind inhaltliche Kompromisse wegen unterschiedlicher Sprachstrukturen nicht zu umgehen? Wie sind subjektive Faktoren einer Übersetzung zugunsten ihrer Textgenauigkeit möglichst auszuschließen? Wird der übersetzte Text von den neuen Lesern angenommen und – wenn zeitlich möglich – von den ursprünglichen Adressaten als angemessen akzeptiert? Diese Fragen sollen am Beispiel der Septuaginta erörtert werden.
2.1
Die Septuaginta als äquivalente Übersetzung der Hebräischen Bibel
Im Verlauf des 3. Jahrhunderts v. Chr. merkten die Juden in der griechischsprachigen Diaspora des Mittelmeerraums, dass immer weniger Gläubige des Hebräischen mächtig waren. Die Folge war ein drohender Traditionsabbruch, der letztlich die Existenz der jüdischen Gemeinde selbst gefährdete. In dieser Situation kam in Alexandria unter Ptolemäus II. Philadelphus (285–246 v. Chr.) die Idee einer Übersetzung der Hebräischen Bibel in die Alltagssprache des Griechischen auf. Als erstes wurde um 250 v. Chr. der Pentateuch übersetzt, während die übrigen Bücher nach und nach ins Griechische übersetzt wurden.4 Später berichtet der Aristeasbrief 5 im 1. Jahrhundert von der Entste4
5
Später ist im Vorwort zur griechischen Übersetzung von Jesus Sirach (ca. 132 v. Chr.) die Rede von einer griechischen Übersetzung »des Gesetzes, der Propheten und der übrigen Bücher«. Aus dieser Aussage geht hervor, dass zu dieser Zeit das gesamte Alte Testament in seiner damaligen Gestalt – der Umfang der »übrigen Bücher« (Ketubim) war womöglich noch fließend – in griechischer Übersetzung vorlag. Insgesamt ist die Übersetzung der Tora im alexandrinischen Umfeld anzusiedeln und als unabhängiges Werk unterschiedlicher Übersetzer zu sehen, was der unterschiedliche Stil nahelegt. Der Aristeasbrief ist zwischen 150 und 100 v. Chr. entstanden. Zur Entstehungslegende der Septuaginta vgl. im Aristeasbrief § 9–11, 41, 46, 50, 121,
99
hung dieser griechischen Übersetzung, verhilft ihr zu ihrem Namen »Septuaginta« und sucht vor allem die Problematik der Übersetzungsarbeit als hermeneutisches Problem durch den legendarischen Bericht zu lösen: Demetrios, der Vorsteher der königlichen Bibliothek von Alexandria und selbst Beobachter der Übersetzung, berichtet, dass der Ptolemäerkönig den Wunsch äußerte, auch die jüdischen Gesetze in griechischer Übersetzung in seiner Bibliothek zu wissen. Im Auftrag des Königs wurde der Jerusalemer Hohepriester Eleazar um Hilfe gebeten. Dieser sandte ihm daraufhin 726 jüdische Gelehrte (je 6 aus den 12 Stämmen Israels) nach Alexandria, wo sie auf der Insel Pharos eine Übersetzung des Pentateuch ins Griechische begannen: Dabei formulierten zunächst alle 72 Übersetzer unabhängig voneinander ihre Übersetzung, kamen dann über Vergleiche zu einer einhelligen Übereinstimmung des Wortlauts, der dann von Demetrius aufgezeichnet wurde (Arist. § 302). Dieser Vorgang einer identischen Übersetzung wurde nach 72 Tagen vollendet und galt wegen der Übereinkunft als Wirken Gottes. In Fortführung dieses wundersamen Vorgangs haben dann Schreiber (Aristobul, Philo, Flavius Josephus)7 das Wunder legendarisch erweitert und die Autorität der Septuaginta zu untermauern versucht.
2.2
Die autorisierte Glaubwürdigkeit der Septuaginta
Als die Übersetzung der königlichen Bibliothek des Ptolemaios übergeben werden konnte, wurde sie der Legende nach zuvor der jüdischen Gemeinde verlesen. Die Prüfung der Autoritäten der Schrift, ob die Übersetzung akzeptiert werden könne, fiel positiv aus: »Da die Übersetzung in schöner, frommer und durchaus genauer Weise gefertigt ist, so
6 7
100
301 f., 307–311 (Norbert Meisner, Aristeasbrief, Gütersloh 1973, 35–87 [im Folgenden zitiert als Arist.]). Über den Umweg des Lateinischen leitet sich der Name »Septuaginta« (siebzig) von der auf 70 reduzierten Zahl der 72 Übersetzer ab. Während Arist. § 302 sagt, dass die Übersetzung »durch Vergleich in Übereinstimmung« gebracht wurde und Demetrius das, »worin sie nun übereingekommen waren […] ordentlich niederschrieb«, wurde die Legende in der frühjüdischen Literatur und den Kirchenvätern weiter ausgemalt (vgl. Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. von Martin Karrer/Wolfgang Kraus, Stuttgart 2009, IX): Nach Philo von Alexandria fertigten alle 72 Gelehrten unabhängig voneinander eine identische Übersetzung an. Die Legende wurde zuvor von Flavius Josephus aufgegriffen; später erweiterten die Kirchenväter diese auf das gesamte Alte Testament.
ist es recht, dass sie in diesem Wortlaut erhalten werde und keine Änderung stattfinde« (Arist. § 310b). Hiermit war die Übersetzung autorisiert als vollgültige und wahrheitsgemäße Übersetzung der Hebräischen Bibel, die von nun an diese auch in religiöser Funktion ersetzen konnte.8
2.3
Die Sprachfähigkeit der Septuaginta
Jede Übersetzung bedarf kundiger Fachleute, die die Ausgangssprache wie auch die Zielsprache des zu übersetzenden Wortes beherrschen. So entsendet auch der Hohepriester nach dem Ansinnen des ptolemäischen Königs »die besten und durch Bildung ausgezeichneten Männer aus angesehener Familie« (Arist. § 121) zum Übersetzungsauftrag nach Alexandria. Erst der Vielzahl der ausgewiesenen Gelehrten wurde wohl zugetraut, dass trotz allem Wunderbaren im Ergebnis eine Textform vorliegen würde, die auch dem Gros der Menschen verständlich war. Damit haben wir ein weiteres Kriterium von Übersetzungen für andere genannt: die alltägliche und allgemeine Verständlichkeit in einer Sprache auf der Höhe ihrer jeweiligen Zeit. Weil die Septuaginta diese und die zuvor genannten Kriterien berücksichtigte, fand sie eine weite Verbreitung und konnte ihre große Wirkungsgeschichte entfalten. Allerdings hatte sie auch eine Monopolstellung und war auch deshalb erfolgreich: Die Septuaginta war alternativlos und traf zugleich auf eine »Marktlücke«, nämlich das Bedürfnis, religiöse Urtexte verstehen zu können.
3. Bibelübersetzungen heute und ihre theologische Relevanz – eine Skizze Wo sich Sprache wandelt und die Bibelwissenschaft beim Verständnis des Urtexts große Fortschritte macht, werden immer wieder Neuübersetzungen der Bibel nötig: Die Flut von Bibelübersetzungen ist kaum zu überblicken.
8
So zitiert schon das Neue Testament das Alte Testament oft in Form der Septuaginta als vollwertiger Schrift. Vgl. Andreas Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate, Tübingen 1996.
101
3.1
Dem Urtext verpflichtete Übersetzungen
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber versucht seine Übersetzung des Alten Testaments (Die Schrift 9) bis in die Grammatik dem Urtext anzupassen. Nicht die Lesbarkeit ist hier bestimmend gewesen, sondern die Erkennbarkeit der Ausgangssprache in der Zielsprache. Buber möchte so zu einem Verständnis des Textes in der Zielsprache führen, das ohne die philologische Genauigkeit nicht möglich wäre. Das Ergebnis ist ein nicht flüssig lesbarer Text, der liturgisch weniger zu empfehlen, für eine sprachliche genaue Lektüre jedoch sehr fruchtbar ist. Die Septuaginta Deutsch ist die erste Übersetzung der Septuaginta ins Deutsche. Sie füllt eine Lücke, da sie eine »zentrale Sammlung von Dokumenten des jüdischen Denkens um die Zeitenwende« erschließt, die das frühe Christentum mit prägte und auf die sich die orthodoxe Kirche bis heute beruft. Die Übersetzung orientiert sich »so weit wie möglich am Griechischen der zu übersetzenden Texte. Sie bemüht sich, die Eigentümlichkeiten wiederzugeben, die sich aus dem Übersetzungscharakter und seinem manchmal hebraisierenden Griechisch ergeben«10. Dabei sollen möglichst viele Spracheigentümlichkeiten der Septuaginta erhalten bleiben.11
3.2
Die klassischen Übersetzungen
Die Lutherbibel 12 ist die klassische Bibelausgabe im deutschsprachigen Raum für den persönlichen wie liturgischen Gebrauch schlechthin. Von Luthers Tagen an will die Lutherbibel den Originaltext des hebräisch verfassten Alten Testaments wie auch des griechisch verfassten Neuen Testaments möglichst wortgetreu übersetzen und dabei zugleich sprachlich ansprechend bleiben. Die Übersetzung wurde von Luther unter Mitarbeit weiterer Theologen angefertigt (September 1522 das Neue Testament; 1534 eine vollständige Bibel). Aktuell ist die revidierte Fassung von 1984. Keine andere Bibelausgabe hat einen größeren Bekanntheitsgrad und eine größere Wirkungsgeschichte erreichen können: Luthers Übersetzung war die erste, die um eine Verständlichkeit für die Menschen auf der 9 10 11 12
102
Die Schrift. Aus dem Hebräischen verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Neuausgabe Stuttgart 1997. Septuaginta Deutsch (s. Anm. 7), XIX. Vgl. ebd. XX. Martin Luther, Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1984.
Straße bemüht war. In Folge dieser gelungenen sprachlichen Anpassung prägte die Lutherbibel die Frömmigkeit so sehr, dass der lutherische Wortlaut in den Ohren vieler evangelischer ChristenInnen zum kanonisierten Klang der Bibel geworden ist.13 Allerdings steht hinter diesem wirkungsgeschichtlichen Erfolg die Arbeit vieler Übersetzergenerationen, die die Lutherbibel immer wieder der Gegenwartssprache angeglichen haben – jede Übersetzung bedarf der kontinuierlichen Angleichung an den je gegenwärtigen Sprachgebrauch. Die Zürcher Bibel 14 hat für die ChristenInnen in reformierten Gegenden vor allem in der Schweiz eine analoge Bedeutung für Frömmigkeit und Liturgie wie die Lutherbibel. Aktuell ist die »Zürcher Bibel 2007«, die in ihrer Tradition auf die Reformation zurückgeht. Im Jahr 1531 wurde die erste vollständige Zürcher Bibel herausgegeben. Die Übersetzung der Zürcher Bibel 2007 ist ein Gemeinschaftswerk von mehr als zwanzig Fachleuten aus Theologie, Exegese und Germanistik und dauerte 23 Jahre. Die neue Zürcher Bibel bietet zudem grundlegende Informationen zu den zeitgeschichtlichen, theologischen und literarischen Hintergründen der Bibel. Die Einheitsübersetzung 15 ist eine weit verbreitete katholische Bibelausgabe für Liturgie und Unterricht, bei der ein ökumenisches Autorenteam für die Übersetzung verantwortlich war.16 Die Endfassung des Neuen Testaments erschien 1979, die des Alten Testaments 1980. Das Übersetzerteam hat m. E. eine im Blick auf die Urtexte wie auch den deutschen Sprachstil vorzügliche Übersetzung geschaffen.
13
14 15
16
Die Lutherbibel (1984) ist »der maßgebliche Bibeltext der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Gliedkirchen für Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge« (so der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland [EKD], in: Die eine Bibel und die Vielfalt der Bibelübersetzungen. Empfehlungen zur Stellung und zum Gebrauch der Lutherübersetzung, Hannover, 30. Juni 2001). Zürcher Bibel, Zürich 2008. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Herausgegeben im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen, des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bibelgesellschaft. Ausgabe in neuer Rechtschreibung, Stuttgart 1999. Zu den neueren Entwicklungen vgl. Michael Theobald, Eine Partnerschaft zerbricht. Zum Austritt der EKD aus der »Einheitsübersetzung«, in: Orientierung 70 (2006), 18–23.
103
3.3
Moderne Bibelübersetzungen und Bibelübertragungen
Die Übersetzungen in modernem Deutsch17 – »Gute Nachricht«, »Die Bibel in heutigem Deutsch« – sind ein Werk der ökumenischen Bibelgesellschaften. Sie sind gedacht als Antwort auf den Traditionsabbruch vor allem in der jüngeren Generation. Sie sollen eine Alternative zu den klassischen Übersetzungen sein, um mit einer modernen Übersetzung jüngere LeserInnen anzusprechen. Die Bibel in modernem Deutsch will eine möglichst dem Urtext verpflichtete, aber dennoch freie Übersetzung bieten. Im Blick auf ihre Zielgruppe finden sich in vielen Ausgaben Bilder, Cartoons oder Erklärungen. Die »Bibel in gerechter Sprache«18 signalisiert schon in ihrem Titel ihr Anliegen einer dreifach formulierten Gerechtigkeit: (1) zwischen den Geschlechtern, (2) im Blick auf Israel und die Juden im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs und (3) im Blick auf die Bedeutung biblischer Texte für die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit heute.19 Das Erscheinen dieser Bibelausgabe hat innerhalb der Kirchen eine große Debatte ausgelöst: Im Mittelpunkt stand die Frage, inwieweit es erlaubt und theologisch rechtens sei, auf Grund soziologischer wie theologischer Erkenntnisse der Neuzeit in die biblischen Urtexte einzugreifen, um diesen den modernen Kenntnissen anzugleichen. So kennzeichnet die »Bibel in gerechter Sprache« z. B. der Versuch, bei der Rede von Jüngern grundsätzlich die weibliche Form mit hinzuzufügen oder bei der Gottesmetapher »Vater«, unabhängig vom Kontext und metaphorischen Potential dieses Bildes, auch von der weiblichen Seite Gottes zu reden. Die »Bibel in gerechter Sprache« kann als Arbeits- und Studienbibel überzeugen – für den liturgischen Gebrauch eignet sie sich auf Grund ihrer kaum geläufigen Übersetzungsvarianten weniger.20 17 18 19
20
104
Gute Nachricht Bibel: Mit den Spätschriften des Alten Testaments, Stuttgart 2000. Die Bibel in gerechter Sprache, hg. von Ulrike Bail u. a., Gütersloh 2006. Dieses dreifache Interesse wird sowohl im Vorwort des Vorsitzenden des »Beirats zur Förderung, Unterstützung und Begleitung des Projektes Bibel in gerechter Sprache«, des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Dr. Peter Steinacker herausgestellt (5) als auch in der Einleitung ausgeführt (10 f.). »In Übereinstimmung mit dem Beschluss der Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) vom 6. März 2007 stellt der Rat [der EKD] fest: Die »Bibel in gerechter Sprache« eignet sich nach ihrem Charakter und ihrer sprachlichen Gestalt generell
Nach Jörg Zink ist eine Übertragung eine freie Übersetzung, die keinen Anspruch auf eine textgetreue Wiedergabe legt und subjektive Einflüsse durch Autoren (Übersetzer) nicht ausschließt. Eine Übertragung ist der dritte Weg zwischen der wörtlichen Übersetzung und der Nachdichtung. Die Übertragung »schließt den alten Text mit Hilfe freier Wendungen auf, umschreibt schwierige Wörter, für die es im Deutschen keine Entsprechung gibt, durch ganze Sätze, lockert dichte Formulierungen auf und fügt kurze Erklärungen in Klammern bei, ohne dabei schon zu fragen, wie man all dies auf den heutigen Tag anwenden könne«21. Während Zink bei der Übertragung des Neuen Testaments dem Aufbau der biblischen Bücher folgt, geht er beim Alten Testament wissenschaftlich chronologisch vor: Er stellt eine Auswahl des Alten Testaments zusammen und »ordnet sie nach dem Verlauf der inneren und äußeren Geschichte«22, um so dem Leser eine Hilfe des Verstehens zu geben. Die Volx-Bibel ist ein offenes Übersetzungsprojekt, bei dem jeder über das Internet an der Übersetzung mitwirken kann. Die Volx-Bibel will ihrem Namen entsprechend eine Bibel für das gemeine Volk sein und die Botschaft in die aktuelle Jugendsprache übersetzen: Wie würde es heute gesagt werden? Das Projekt geht zurück auf Martin Dreyer: »Sprache verändert sich. Jede Generation hat ihren eigenen Sprachgebrauch. Aber es gibt keine Bibel, die eine wirklich junge Sprache spricht, die die Kids aus meinem Jugendzentrum gerne lesen und wirklich verstehen würden.«23 Dabei wähnt sich Dreyer auf den Spuren Luthers, sofern Luthers Devise »Dem Volk aufs Maul schauen« in der Volxbibel erfüllt sei. Allerdings nennt Dreyer keine Kriterien, wie die Übersetzung an den Urtext – wie bei Luther – rückgebunden ist. Wegen dieser exegetischen und sprachlichen Unverbindlichkeit erreicht die Volx-Bibel sprachlich wie sachlich nicht das Niveau der Lutherbibel.
21 22 23
nicht für die Verwendung im Gottesdienst« (Die Qualität einer Bibelübersetzung hängt an der Treue zum Text. Stellungnahme des Rates der EKD zur »Bibel in gerechter Sprache«, hg. vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland [EKD], Hannover, 31. März 2007). Das Neue Testament. Übertragen von Jörg Zink, Stuttgart 1972, 5. Jörg Zink, Das Alte Testament. Ausgewählt, übertragen und in geschichtlicher Folge angeordnet, Stuttgart/Berlin 1966. So einleitend zur Idee auf der Homepage der Volxbibel (www.volxbibel.de).
105
3.4
Kundenorientierte Bibelausgaben
»Kundenorientierte« Bibelausgaben sind Bibeln für bestimmte Zielgruppen: Die intendierte Attraktivität dieser Geschenkausgaben ist nicht in der Besonderheit des Bibeltextes zu suchen, sondern in der Beigabe zum Text. Die Chagall-Bibel ist hierfür ein Beispiel – zum Text der Übersetzung der Einheitsbibel werden passend Bilder Marc Chagalls präsentiert. Die »Schalke-Bibel«24 ist ein anderes Beispiel: Die komplette Bibelübersetzung von Altem und Neuem Testament aus dem Englischen wird bereichert mit Statements von Spielern der Mannschaft der Traditionsklubs sowie aus deren Management.25
4. Übersetzungen, Interpretation und Wirkungsgeschichte – Zur theologischen Relevanz von Bibelübersetzungen am Beispiel von Jes 7,14 Das Gelingen von Übersetzungen ist mehr als eine Frage der Ästhetik. An einer gelungenen Übersetzung entscheiden sich das Textverständnis, deren Interpretation und Wirkungsgeschichte. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Jes 7,14 gezeigt werden. Die Übersetzungsgeschichte von Jes 7,14 führte (1) zur Rede von der Jungfrauengeburt, deren Verständnis sich (2) bis heute vielen aufgeklärten Zeitgenossen verschließt und die somit auch ein hermeneutisches Problem (»und Glaubensproblem«) darstellt. Der hebräische Text von Jes 7,14 spricht an der entscheidenden Stelle von einer »jungen Frau«: »Siehe, eine junge Frau (almah) ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.« Die Septuaginta wählte als Übersetzung das griechische Wort parthenos, das fast ausschließlich die Bedeutung »Jungfrau« hatte. Heutige Übersetzer haben die Wahl der Qual: Folgen sie dem hebräischen almah oder dem griechischen parthenos?
24 25
106
Die Schalke-Bibel, Witten 2008 (22008), Originalbibeltext: Holy Bible, New Living Translation, Illinois 1996. Eine analoge Auflistung unterschiedlicher Kinderbibeln muss an dieser Stelle aus Platzgründen unterbleiben.
Die Schrift (Buber)
»Da, die Junge wird schwanger und gebiert einen Sohn.«
Septuaginta Deutsch
»Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären.«
Lutherbibel
»Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären.«
Zürcher Bibel
»Seht, die junge Frau ist schwanger, und sie gebiert einen Sohn.«
Einheitsübersetzung
»Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären.«
Gute Nachricht
»Die junge Frau wird schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen.«
Bibel in gerechter Sprache
»Sieh doch, eine junge Frau ist schwanger.«
Volx-Bibel
»Eine Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn bekommen.«
Altes Testament Zink
»Gib acht! Ein Mädchen wird schwanger und einen Sohn gebären.«
Die wirkungsgeschichtlich bedeutsamste Aufnahme von Jes 7,14 liefert das Matthäusevangelium (1,22 f.)26, wo Jesus nach der Septuaginta Jes 7,14 von einer Jungfrau – parthenos – geboren wird. Der Evangelist versteht Jes 7,14 als Jungfrauengeburt – und damit wurde der Terminus parthenos zum Schlüssel der Deutung der Geburt Jesu: In Jesu Geburt von einer Jungfrau erfüllte sich in Jesus die Prophetie Jesajas. Die Interpretation der Geburt Jesu als einer jungfräulichen war eröffnet. Allerdings funktioniert diese Deutung nur, wenn Jes 7,14 in der Fassung der Septuaginta als maßgebende Übersetzung herangezogen wird. Wo jedoch die Septuaginta vom hebräischen Text her kritisiert und korrigiert wird, verliert die biologisch verstandene Jungfrauengeburt ihre Plausibilität: 26
Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), Zürich u. a. 1985, 98–111. Im Lukasevangelium (1,26–38) findet sich auch die theologische Rede von der Jungfrauengeburt, jedoch ohne direkte Aufnahme von Jes 7,14.
107
Dann ist allein von einer jungen Frau die Rede und eine Zeugung auf natürlichem Wege zumindest semantisch naheliegend. Da der Evangelist Matthäus die Septuaginta als maßgebliche und autorisierte Heilige Schrift ansah, wurde in der Urchristenheit die Geburt Jesu von Jes 7,14 als biologisch zu verstehende Zeugung bei bleibender Jungfräulichkeit angesehen. Heutige Bibelübersetzer treffen mit ihrer Übersetzung eine Verständnisvariante des Zieltextes mit zum Teil weitreichenden inhaltlichen Konsequenzen für die Gegenwart. Das bedeutet: Jede Bibelübersetzung kann eine folgenreiche Wirkung für die Dogmengeschichte sowie die gesamte Entwicklung der christlichen Tradition entfalten. Diese Folgen in einem seriösen Übersetzungsprozess mit zu bedenken ist eine der vornehmsten Aufgaben von Bibelübersetzungen.
5. Die Bedeutung von Bibelübersetzungen in gegenwärtigen Kontexten 5.1
Bibelübersetzungen in religionspädagogischer Perspektive
Die Vielzahl der verfügbaren Bibelübersetzungen ist grundsätzlich als Reichtum und Chance der Auswahl zu begreifen. Das gilt besonders für den Religionsunterricht. Denn jede Auswahl einer Bibelübersetzung ist ein didaktischer Vorgang, der über den Inhalt dessen entscheidet, was im Unterricht kommuniziert wird. Außerdem hat jede Übersetzung als Prozess des Verstehens ein pädagogisches sowie didaktisches Anliegen – nämlich die Kommunikation eines bestimmten Inhalts. Religionspädagogisch gilt es bei jedem Einsatz einer Bibelübersetzung zu fragen, inwieweit die eingesetzte Übersetzung didaktisch in der Lage ist, den ursprünglichen Inhalt im Unterricht zu kommunizieren. Damit stehen Bibelübersetzungen heute vor der grundlegenden pädagogischen Aufgabe der Vermittlung eines Inhalts durch dessen Übertragung in eine andere Sprache. Eine Übersetzung ist demnach dann gelungen, wenn die intendierte Kommunikation des Inhalts auf ein Verstehen trifft. Eine Übersetzung bedarf also eines möglichst hohen Maßes an Verständlichkeit einerseits sowie der präzisen Erfassung des Inhalts andererseits. In ihrer religionspädagogischen Intention kommen von daher Übersetzungen biblischer Texte in dreifacher Weise zum Einsatz:27 27
108
Vgl. hierzu Klaus Haacker, Im Anfang war – das Wort? Goethes Meinung
Da ist (1) die möglichst wortgetreue Übersetzung, die den Inhalt präzise in der fremden Sprache darstellen will. Im Vordergrund steht die sprachlich angemessene Übertragung des Urtextes bzgl. der Syntax und Semantik. Daneben bedarf es (2) auch einer modernen, flüssigen Übersetzung mit dem Bemühen, den alten Text der Zielsprache anzugleichen und den Inhalt verständlich zu kommunizieren. Die Verständlichkeit des Textes für die Botschaft ist hier Ziel und Kriterium der Übersetzung zugleich, um den Inhalt (die Botschaft) semantisch und syntaktisch verständlich zu kommunizieren. Die klassischen Bibelübersetzungen wie die Lutherbibel oder die Zürcher Bibel erfüllen seit langer Zeit diese Funktion innerhalb der Kirche. Im Blick auf die Jugend und deren religiöse Sozialisation versuchen die modernen Übersetzungen diese Funktion zu übernehmen. Einen sprachgeschichtlich bedeutenden Einsatz bewirkt m. E. eine Übersetzung (3), wenn sie in der Zielsprache sprachliche Akzente zu setzen vermag. Hier wirkt die Ausgangssprache kreativ auf die neue Sprache ein. Die Übersetzung weckt neue Sprachpotenziale, bereichert und eröffnet neue Ausdrucksmöglichkeiten und Denkweisen (hier ist an die Bedeutung der Lutherbibel für die deutsche Sprachentwicklung zu erinnern).
5.2
Bibelübersetzungen in interreligiöser Perspektive
Der christlich-islamische Dialog auf Augenhöhe mit dem Ziel authentischer Begegnung und aufrichtigen Austausches bedarf m. E. konstitutiv auch der Inhalte. Alle drei monotheistischen Religionen berufen sich auf heilige Schriften. Wollen sie in einen authentischen und ehrlichen Dialog treten, brauchen sie Übersetzungen, um sachlich und theologisch angemessen miteinander reden und sich vertrauenswürdig begegnen zu können. Der interreligiöse Dialog benötigt (1) gute Übersetzungen, die als Grundlage des Gesprächs für alle dienen. Für diejenigen, die die heiligen Texte im Original lesen können, wie auch die, die kein Hebräisch, Griechisch oder Arabisch können. An dieser Stelle muss eine Übersetzung die Inhalte möglichst präzise und verständlich zugleich darlegen. Eine gute Textgrundlage für den authentischen Dialog muss (2) vertrauenswürdig sein. Das heißt, sie muss allgemein und vor allem von der Theologie der eigenen Religionsgemeinschaft anerkannt sein und von daher zur Bibelübersetzung, in: Albrecht Grözinger/Johannes von Lüpke (Hg.), Im Anfang war das Wort. Interdisziplinäre theologische Perspektiven, Wuppertal/Neukirchen-Vluyn 1998, 16 f.
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auch von anderen Religionsgemeinschaften als vertrauenswürdige Übersetzung genutzt werden können. Nur solche Übersetzungen können einen Dialog der Religionen zwischen Gemeinsamkeit und Differenz initiieren und begleiten – denn nur sie bieten eine verlässliche Basis, auf der ich den anderen kennen lernen kann. Nur durch die Verwendung von autorisierten Übersetzungen können theologische Überlegungen, die auf den Schriften basieren, kritisch diskutiert und überprüft werden. Nur eine autorisierte Übersetzung führt den Dialog aus der Beliebigkeit in eine aufrichtige Verbindlichkeit. Wenn unsere Übersetzungen von Bibel und Koran diese Aufgaben gut und verlässlich zu erfüllen suchen, werden sie (3) zu lebendigen Übersetzungen, sofern sie zu einer Brücke werden zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens. Die Übersetzungen transformieren nun nicht mehr allein Inhalte in eine andere Sprache, sondern sie führen Menschen unterschiedlichen Glaubens zueinander – indem sie Identitäten zu verstehen helfen, Zugänge zueinander eröffnen und Perspektiven gemeinsamen Redens, Lernens und Lebens aufzeigen. Übersetzungen vermitteln Inhalte, Vertrauen und Lebensperspektiven – und sind damit ein wesentlicher Bestandteil für das Gelingen des christlich-muslimischen Dialogs.
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Vom Übersetzen zum Dolmetschen Ein koranhermeneutischer Beitrag zur innerislamischen tarÊama al-qurÞÁn-Debatte Ömer Özsoy
1. Historischer Hintergrund der Koranübersetzungsdebatte (tarÊama al-qurÞÁn) Nach islamischer Überlieferung sollen die ersten Beispiele der Übersetzung mancher Koranpassagen in andere Sprachen bereits zu Lebzeiten des Propheten stattgefunden haben. Demzufolge hat SalmÁn der Perser (SalmÁn al-FÁrisÐ) die erste Sure (al-fÁtiÎa) für seine Landsleute ins Persische übersetzt.1 Auch Koranpassagen in diplomatischen Briefen des Propheten Muhammad sowie Koranzitate, die am Hof des abessinischen Negus von muslimischen Auswanderern vorgetragen wurden, müssten in die jeweiligen Sprachen übersetzt worden sein.2 Dass die Übersetzung des Korans als ein Problem wahrgenommen wurde, ist jedoch erst eine spätere Entwicklung. Der Grund dafür waren nicht die zunehmenden Konversionen von Nichtarabern zum Islam, die vielleicht den Koran in ihren eigenen Sprachen hätten rezipieren wollen, sondern die Koranübersetzungsproblematik stand im Zusammenhang mit den theologisch-juristischen Diskussionen über die Definition des Korans als Wort Gottes. Dass sich die muslimischen Ansichten über die Unerschaffenheit, Unnachahmlichkeit und Unübersetzbarkeit des Korans parallel zueinander etablierten, ist daher kein Zufall. Denn das Uner1
2
Vgl. as-SaraÌsÐ, al-MabsÙÔ, Istanbul 1403/1983, Bd. 1, 37; an-NawawÐ, alMaÊmÙÝ, DÁr al-Fikr (o. O., o. J.), Bd. 3, 380. Es ist allerdings auffällig, dass diese Überlieferung nicht in anerkannten ÍadÐ×-Sammlungen, sondern in der Fiqh-Literatur vorkommt. Vgl. Muhammed Hamidullah/Macit Ya¢aroºlu, KurÞan Tarihi – KurÞan-ı KerimÞin Türkçe Terceme ve Tefsirleri Bibliyoºrafyası (= Geschichte des Korans – Bibliographie der türkischen Übersetzungen und Kommentare des Erhabenen Korans), Ankara 1991, 74 ff.
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schaffene kann sich ja nicht in einer anderen Form rekonstruieren lassen – so wie das Unnachahmliche nicht in eine andere Sprache übertragen werden kann. Also: »Der Koran ist unübersetzbar! Diese Aussage zieht sich durch die gesamte islamische Geschichte und ist selbst in jüngerer Zeit Konsens geblieben – über alle Schulrichtungen und widerstreitenden Meinungen hinweg.«3 Die negative Haltung der Muslime gegenüber der Übersetzbarkeit des Korans lässt sich jedoch nicht allein auf diese theologischen Annahmen über die Natur des Korans reduzieren. Für ein besseres Verständnis dieser offenbar verneinenden Haltung soll vom religionsgeschichtlichen Phänomen ausgegangen werden, dass die Muslime die Koranübersetzung nicht als ein Teil der Textgenese des Korans betrachten. Denn er wurde arabisch offenbart, arabisch verkündet, arabisch geschrieben, arabisch tradiert und arabisch rezipiert. Das heißt, auch im Falle des Übersetzens liegt dem Übersetzer kein bereits übersetzter oder im Nachhinein erstellter Text vor, sondern immer der Originaltext im Arabischen, wie der Prophet Muhammad ihn verkündet hat. Rezeptionsgeschichtlich hat der Koran als Offenbarungsbuch von Beginn an zwei Rollen zugleich gespielt: als Liturgie- bzw. Rezitationstext und als theologische Grundlage der Scharia, der islamischen Theorie und Praxis des Gesetzes. Auf der einen Seite wurde unter Koranrezitation – trotz des Streits zwischen manchen Íanafiten und den ŠÁfiÝiten um die Verrichtung des Gebets mit persischer Koranübersetzung – praktisch nur das Rezitieren des Originaltextes verstanden, liturgisch wie im rituellen Gebet.4 Auf der anderen Seite hat man den Koran als theologische Grundlage studiert. Dies wurde traditionell ausschließlich von den Gelehrten praktiziert, die ihn im Original zu rezipieren in der Lage und daher auf Koranübersetzungen nicht angewiesen waren. Die einfachen Gläubigen fühlten sich hingegen weder befugt noch beauftragt dazu, den Koran zu erforschen, weshalb auch sie keine Koranübersetzungen brauchten. Man kann sogar sagen, dass die ersten Koranübersetzungen ins Persische und Türkische ausschließlich für Anfänger bzw. Studenten der islamischen Wissenschaften gedacht waren, was allerdings einer näheren Untersuchung wert ist. 3
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Klaus Hock, Das Unübersetzbare übersetzen. Der Koran in religionswissenschaftlicher Perspektive, in: Hans Jürgen Wendel u. a. (Hg.), Brücke zwischen den Kulturen. »Übersetzung« als Mittel und Ausdruck kulturellen Austauschs, Rostock 2003, 6–102, 61. Vgl. al-KÁsÁnÐ, BadÁÞiÝ aÒ-ÒanÁÞiÝ fÐ tartÐb aš-šarÁÞiÝ (= Originelle Fertigkeiten zur Ableitung religiöser Gesetze), Beirut 1402/1982, Bd. 1, 112.
Die innerislamische tarÊama al-qurÞÁn-Debatte ist grundsätzlich von diesen in der Koranforschung oft unberücksichtigten religions- und rezeptionsgeschichtlichen Aspekten berührt. Zusammenfassend kann man sagen, dass sie eine Bandbreite von Meinungen umfasst. Angefangen mit denen, die sich auf die berühmte Meinung von AbÙ ÍanÐfa (gest. 767) zugunsten der Verrichtung des rituellen Gebets mit der Koranübersetzung stützen,5 bis hin zu anonymen Aussagen, die darauf hindeuten, dass »Gott durch die arabische Sendung des Korans die ganze Menschheit zu arabisieren beabsichtigt habe«6.
2. Die zeitgenössische tarÊama al-qurÞÁn-Debatte als Apologie Neben den oben erwähnten Aspekten gewann die tarÊama al-qurÞÁnDebatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegen zweier neuer Phänomene einen apologetischen Charakter: die Konfrontation mit westlichen Koranübersetzungen und der Nationalisierungsprozess in der modernen Türkei. Die Koranübersetzungstätigkeiten in Europa, die im 12. Jahrhundert begannen, blieben natürlich von innerislamischen Debatten unberührt.7 Mit diesen von Nichtmuslimen verfassten Koranübersetzungen wurde auch die geistige Welt der Muslime erst Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv konfrontiert. Damit ging einher, dass die tarÊama al-qurÞÁnDebatte ihren rein innerislamischen Charakter verlor und durch neue, auch auf Nichtmuslime verweisende Argumentationen eine neue Dimension gewann. Diese neue Auseinandersetzung mit der Problematik nahm ihren Anlauf zum größten Teil aus der Diagnose der Unzulänglichkeit und Mangelhaftigkeit der von Nichtmuslimen angefertigten Koranübersetzungen. Hierbei stand die Unübersetzbarkeit des Korans nicht mehr 5 6
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Vgl. as-SaraÌsÐ, UÒÙl as-SaraÌsÐ, hg. von AbÙ l-WafÁÞ al-AfÈÁnÐ, Kairo 1372, Bd. 1, 282. MaÎmÙd ŠaltÙt, TarÊama al-qurÞÁn wa-nuÒÙÒ al-ÝulamÁÞ fÐhÁ (= Die Übersetzbarkeit des QurÞÁn und die Meinungen der Gelehrten diesbezüglich), in: MaÊalla al-Azhar 7 (1936), 131: fa-dalla ÆÁlika ÝalÁ annahÙ subÎÁnahÙ yurÐdu taÝrÐba l-ÝÁlam kullih […]. Zu einem kurzen historischen Überblick über westliche Koranübersetzungen siehe Hartmut Bobzin, Die Bibel der Sarazenen. Der Koran auf Deutsch: Weshalb es »die« Übersetzung bis heute nicht gibt, in: Die Zeit Nr. 47, 15.11.2001, Literaturbeilage.
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vordergründig zur Debatte, sondern es handelte sich eher um Grundlagen, Methoden und Kriterien einer richtigen Koranübersetzung. Die Ansichten und Kritiken, die in dieser Debatte hauptsächlich von ägyptischen Gelehrten, überwiegend von denen der al-Azhar Universität, dargelegt wurden, bieten einen Diskurs, der noch heute interessant zu verfolgen ist und einigen Diskussionsstoff bieten könnte.8 Auch wenn die ersten Koranübersetzungen ins Türkische bereits im 11. Jahrhundert anzusiedeln sind,9 ist der Diskurs um die Übertragung des Korans ins Türkische erst nach der Ausrufung der türkischen Republik zu finden.10 Die Übersetzung des Korans wurde in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem integralen Bestandteil des Nationalisierungsprojekts des Islams für den neuen Nationalstaat.11 Es zeigt sich, 8
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Um nur einige Beispiele zu erwähnen: MuÎammad al-ÍiÊr al-Íusain, Naql maÝÁnÐ l-qurÞÁn ilÁ l-luÈÁt al-aÊnabÐya, in: NÙr al-IslÁm 2 (1350/1931), 122 ff.; MaÎmÙd AbÙ DaqÐqa, Kalima fÐ tarÊama al-qurÞÁn al-karÐm, in: NÙr alIslÁm 3 (1351/1932), 29–35; ders., IstidrÁk, in: ebd. 66–67; IbrÁhÐm alÉibÁlÐ, al-KalÁm fÐ tarÊama al-qurÞÁn, in: ebd. 57–65; MuÒÔafÁ ÑabrÐ, MasÞala tarÊama al-qurÞÁn, Kairo 1351; MuÎammad FarÐd WaÊdÐ, al-Adilla alÝilmÐya ÝalÁ ÊawÁz tarÊama maÝÁnÐ al-qurÞÁn ilÁ l-luÈÁt al-aÊnabÐya, Kairo 1355; MuÎammad SulaimÁn, KitÁb Îada× al-aÎdÁ× fÐ l-islÁm. Al-iqdÁm ÝalÁ tarÊama al-qurÞÁn, Kairo 1355; MuÒÔafÁ aš-ŠÁÔir, al-Qawl as-sadÐd fÐ Îukm tarÊama al-qurÞÁn al-maÊÐd, Kairo 1355; MuÒÔafÁ l-MarÁÈÐ, BaÎ× fÐ tarÊama al-qurÞÁn al-karÐm wa-aÎkÁmihÁ, in: MaÊalla al-Azhar 7 (1355/1936); MaÎmÙd ŠaltÙt, TarÊama al-qurÞÁn wa-nuÒÙÒ al-ÝulamÁÞ fÐhÁ, in: ebd. 131 ff.; MuÎammad ibn Íasan al-ÍaÊawÐ, TarÊama al-qurÞÁn al-karÐm, in: ebd. 190–198. Für die Geschichte der türkischen Koranübersetzungen: Zeki Velidi Togan, Manchester Hs. der Quranübersetzung als Quelle ersten Ranges für mitteltürkische Studien, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 62 (1969), 280–283; János Eckmann, Eine ostmitteltürkische interlineare Koranübersetzung, in: Ural-Altaische Jahrbücher 31 (1959), 72–85; Ahmet TopaloÊlu, Muhammed Bin HamzaÞnın XV. Yüzyıl Ba¢larında Yapılmı¢ KurÞan Tercümesi, Istanbul 1976. Die radikalste Reaktion auf die Idee des Übersetzens des Korans kam vielleicht von RašÐd RiÃÁ, dem berühmtesten Schüler von MuÎammad ÝAbduh: Fitna al-istiÈnÁÞ Ýan kalÁm AllÁh al-ÝarabÐ al-munazzal bi-tarÊama aÝÊamÐya min kalÁm al-bašar, in: MaÊalla al-manÁr 26 (1343/1925), 2–13. Vgl. auch seine weiteren Aufsätze in den Folgeausgaben derselben Zeitschrift. Er hat seine Gedanken später zusammengefasst und in seinem Korankommentar TafsÐr al-manÁr, Kairo 1954–1961, Bd. 9, 314 ff., veröffentlicht. Mit dieser Problematik hat sich am ehesten Dücane Cündioºlu auseinandergesetzt und mehrere Arbeiten darüber veröffentlicht, wie z. B. Matbu Türkçe KurÞan †evirileri ve KurÞan †evirilerinde Yöntem Sorunu, in: Bilgi
dass in einer Zeit, in der das Türkische vom Staat als Gebetssprache aufzuzwingen gesucht wurde, die Debatte in einer gespannten Atmosphäre geführt wurde und sich an den apologetischen Charakter der in Ägypten geführten tarÊama al-qurÞÁn-Debatte anschloss.12 Man kann wohl sagen, dass die türkische Koranübersetzungsdebatte sehr massiv durch die Gefahr, dass der Koran durch seine Übersetzung ersetzt zu werden drohte, geprägt war und aus übersetzungstheoretischer Perspektive inhaltlich und argumentativ kaum über zuvor Gesagtes hinausging. Allerdings ist es wohl möglich, anhand der türkischen Koranübersetzungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest nachzuvollziehen, welchen Standpunkt der jeweilige Übersetzer vertrat. Für die heutige Türkei gilt nach wie vor, dass die Frage, abgesehen von Vorworten und Einleitungen in Koranübersetzungen, kaum von der Fachliteratur eingehend untersucht wurde.13 Auch von den vorhandenen Übersetzungen lässt sich schwer behaupten, dass sie den historischen Diskurs aufgearbeitet oder die dort genannten Kriterien einer kritischen Betrachtung unterzogen hätten.
Vakfı (Hg.), 2. KurÞan Sempozyumu, Ankara 1995; KurÞanÞı AnlamaÞnın
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Anlamı, Istanbul 1995; Anlam’ın Buharla¢ması ve KurÞan, Istanbul 1995; SözÞün Özü: Kelâm-ı £lahîÞnin Tabiatına Dair, Istanbul 1996; Kuran †evirilerinin Dünyası, Istanbul 1996; Sözlü KültürÞden Yazılı KültürÞe AnlamÞın Tarihi, Istanbul 1997. Vgl. dazu M. Raif Ogan, KurÞan Tercümesi KurÞanÞın Yerini Alabilir mi?, in: Sebîlürre¢âd 2 (1949), 110–112; ders., Türkçe KurÞan Olamaz. KurÞanÞa Salvet Eden Asrî Ebû Cehiller, in: ebd. 179–180; Necati Erdem, KurÞan-ı Kerim Tercüme Edilebilir mi?, in: ebd. 43 f.; Kamil Miras, KurÞan Tercümesi Hakkında. Tarihî Hâtıralar ve £lmî Hakîkatler, in: ebd. 194–196; ders., KurÞan Tercümesi Hakkında. Din, Dil, Millet Mefhumları ve £ctimaî Faaliyetlerimizde Tezahürleri, in: ebd. 259–261; £. Hakkı BaltacıoÊlu, KurÞanÞın Anadilimize †evrilmesi. KurÞan Nedir?, in: A. Ü. £lahiyat Fakültesi Dergisi 1 (1952), 33–45; Osman KeskioÊlu, KurÞan Tercümesi Hakkında £ki Fakihin Yazdıkları, in: A. Ü. £lahiyat Fakültesi Dergisi 8 (1960), 89–93. Doch einige Monographien und Sammelbände darüber sollen hier erwähnt werden: KurÞanı Kerim Anlamlarının †evirileri Sempoyzumu (Istanbul 21.– 22. Mart 1986), keine Druckangaben; Salih Akdemir, Cumhuriyet Dönemi KurÞan Tercümeleri. Ele¢tirel Bir Yakla¢ım, Ankara 1989; Hidayet Aydar, KurÞân-ı KerîmÞin Tercümesi Meselesi, Istanbul 1996; KurÞan Mealleri Sempozyumu (Izmir 24.–26. Nisan 2003), Ankara 2007; Halil HacımüftüoÊlu, Kuran Tercümelerinde Yöntem Sorunu, Istanbul 2008.
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In diesem Zusammenhang bilden meines Erachtens die neu erschienenen türkischen Koranübersetzungen von Salih Akdemir14 und Mustafa Öztürk15 überhaupt zwei Ausnahmen, die mit vielen ihrer neuen Aspekte maßgeblich die künftige Diskussion prägen werden.
3. Übersetzungstheoretische Aspekte der tarÊama alqurÞÁn-Debatte Dem angeschnittenen historischen Diskurs über die Koranübersetzung sind folgende grundlegende Ansätze aus übersetzungstheoretischer Sicht zu entnehmen: Der erste Ansatz besteht aus der Unterscheidung zwischen der ursprünglichen Bedeutung (al-maÝnÁ l-aÒlÐ) und der abgeleiteten Bedeutung (al-maÝnÁ t-tÁbiÝ) in Bezug auf den Originaltext als Übersetzungsgegenstand. Während mit der ursprünglichen Bedeutung hier die Bedeutung des Wortlauts gemeint ist, ist unter der abgeleiteten Bedeutung die Intention des Textes bzw. Senders zu verstehen, sei es informativ, appellativ oder expressiv. Diese in der arabischen Rhetorik (balÁÈa) übliche Definition erinnert uns an die islamisch-juristische Unterscheidung von Wortlaut und Begriff (manÔÙq-mafhÙm). Intentionen ergeben sich dieser Definition nach aus dem Zusammenwirken der Sätze und sind damit nichts anderes als das, was in der Rhetorik auch Nebenbedeutungen bzw. effekte (mustatbaÝÁt) genannt wird. Jene, die das Übersetzen des Korans für möglich hielten, verstanden darunter nur die Übertragung der ursprünglichen Bedeutung in eine andere Sprache und meinten, dass sich die Intention oder Nebenbedeutung bzw. der Nebeneffekt nicht gleichzeitig übertragen lassen. Das Übertragen der ursprünglichen Bedeutung bzw. das Übersetzen des Wortlautes könne wiederum auf zwei Wegen geschehen: über eine wortgetreue oder eine freie Übersetzung. Mit dieser Unterscheidung erlangen wir den zweiten übersetzungstheoretischen Aspekt, der sich auf den Zieltext bezieht. Schließlich soll hinzugefügt werden, dass die zeitgenössische Debatte um die Übersetzbarkeit des Korans den ästhetischen Aspekt, der 14 15
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Son †aÊrı KurÞan (= Der Koran: die letzte Einladung zum Glauben), Ankara 2004. KurÞan-ı Kerim Meali. Anlam ve Yorum Merkezli †eviri (= Die ungefähre Bedeutung des Erhabenen Korans. Bedeutungs- und interpretationszentrierte Übersetzung), Ankara 2008.
eine zentrale Rolle dabei hätte spielen müssen, fast völlig außer Acht ließ. Die angesprochenen Definitionen und die dazugehörigen Argumentationsstränge sind zweifelsohne hilfreich, genügen jedoch nicht, die gegebenen Hürden zu überwinden. Denn der diesbezügliche Diskurs scheint die Problematik der Koranübersetzung aufgrund seines apologetischen Charakters eher als ein linguistisches Problem behandelt zu haben, indem neben dem ästhetischen Aspekt auch die über Jahrhunderte zurückblickende, systematisch-theologische und philosophische Befragung der Natur des Korans als Wort Gottes und die juristisch-hermeneutischen Ansätze zur sprachlichen Struktur des Korans unbeachtet gelassen wurden.
4. Koranübersetzung als ein hermeneutisches Problem Da Navid Kermani mit seinen hervorragenden Arbeiten über die ästhetische Dimension des Korans dieses Themenfeld treffend behandelt hat, wird hier nicht näher auf diesen Aspekt eingegangen.16 Vielmehr wird versucht, auf die unkritische Koranwahrnehmung aufmerksam zu machen, die dem muslimischen – und teilweise auch nichtmuslimischen – Koranübersetzungs-Diskurs zugrunde liegt. Unkritisch nimmt man den Koran als Übersetzungs-, Interpretations- oder Forschungsgegenstand wahr, wenn man ihn nur als Text betrachtet und daraufhin versucht, ihn zu übersetzen, interpretieren oder erforschen. Denn somit überspringt man die zugrundeliegende primäre Frage danach, was für einen Übersetzungsgegenstand der Koran eigentlich darstellt. Zweifelsohne setzt man sich mit dieser Frage auseinander, wenn man den Koran etwa bezüglich seiner Sprachverwendung untersucht, sprich: zwischen geschriebener und gesprochener Sprache unterscheidet, oder eine Unterscheidung zwischen geschriebenem und gesprochenem Text trifft und feststellt, dass man es im Falle des Korans mit einem gesprochenen Text zu tun hat. Diese wichtige Feststellung wird sicherlich den Charakter des Übersetzens gründlich ändern. Sie gibt jedoch immer noch keine flächendeckende ernsthafte Antwort auf die obige Frage, was für ein Übersetzungsgegenstand der Koran ist, sondern sie 16
Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2007; ders., Zur Übersetzbarkeit des Korans, in: Fikrun wa Fann 79
(2005) (auch in: www.goethe.de/mmo/priv/1233960-STANDARD.pdf).
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beantwortet eine zugrunde liegende sekundäre Frage, nämlich die Frage danach, welcher Textgattung der Koran zuzuordnen ist – mit der offensichtlichen Voraussetzung, dass der Koran ein Text sei. Diese Annahme, der Koran sei ein Text, wird durch die Realität bestärkt, dass der Koran seinen Rezipienten seit dem ersten Jahrhundert des Islams in Form eines Textes vorliegt. Der Koran, als Text bewahrt und weitergegeben, wurde auch später immer mehr als Text verstanden und behandelt. Texte sind Äußerungen in geschriebener Sprache, aber auch schreibbare Sprachinformation, die abgegrenzte Zusammenhänge ausmachen. Somit weist der Text eine immanente Linearität auf, die vom Autor selbst hergestellt und strukturiert ist und vom Leser befolgt wird. Die Linearität kommt also in einer Äußerung vor, wenn diese in einer bestimmten, linearen Reihenfolge gemacht und rezipiert wird. So sucht man eine immanente Linearität, eine innere Geschlossenheit im Koran; es dürfen in ihm keine Widersprüche und keine Wiederholungen vorhanden sein. Wieder als Forderung an den Text hat sowohl die Anordnung der Suren als auch die der Verse innerhalb der einzelnen Suren einer inneren Logik zu folgen. Die exemplarische Reihenfolge des Korantextes muss außerordentlich passend sein. Ferner wird der Koran als Referenztext angenommen, in dem alle seine Passagen gleichwertig behandelt werden, was großzügig ermöglicht, dass man sich auf den Koran berufen kann, indem man irgendeine Passage herausgreift. Wenn der Koran als Text in diesem engeren Sinne konzipiert wäre, dann könnte man an ihm folgende Mängel feststellen: Der Korantext enthält widersprüchliche Aussagen und Urteile (an-nÁsiÌ wa-l-mansÙÌ: abrogierende und abrogierte Passagen des Korans). Der Korantext hat eine beträchtliche Anzahl von Wiederholungen (tikrÁr al-qurÞÁn: Wiederholungen im Koran). Die Komposition des Textes folgt keiner erschließbaren Logik, weder einer chronologischen noch einer thematischen noch einer systematischen. Folglich weist der Koran keine innere Geschlossenheit auf. Auch die einzelnen Suren sind in sich nicht geschlossen, nicht einmal alle Verse, die kleinsten Einheiten des Korans. Ja, wenn der Koran ein Text wäre, könnte man in ihm die oben genannten Mängel feststellen. So hat man diesen Vorwänden gegenüber den Koran als Problem wahrgenommen und hat es zu lösen versucht. Die vorgebrachten Lösungsansätze zielen im Grunde darauf hin, den Koran nicht als Text im normalen Sinne zu verstehen. Wie kann beispielsweise der Koran als abgeschlossener Text aufgefasst werden, wenn für das Verständnis seiner Passagen das Kennen der Offenbarungsgründe verlangt wird, die nicht im Text stehen? Wie kann man den Koran als Text 118
betrachten und gleichzeitig von seinen abrogierten Versen (al-mansÙÌ) sprechen, die in rechtlicher Hinsicht keine Gültigkeit mehr haben? Wenn der Koran ein Text wäre, würden die abrogierenden und abrogierten Koranverse einander widersprechen. Der Koran ist also doch kein Text. Er ist nicht auf einen Schlag verfasst worden. Er ist in einem längeren Zeitraum von über 20 Jahren als Anrede mündlich verkündet worden. Der Text, der uns heute exemplarisch vorliegt, geht auf diese mündliche Verkündung zurück und ist eine Zusammenstellung von einzelnen Anreden, die in Bezug auf verschiedene Vorfälle, Entwicklungen oder Bedürfnisse offenbart wurden.
5. Schluss: Rede vs. Text oder Dolmetschen vs. Übersetzen An dieser Stelle soll in Anlehnung an den in der linguistischen Pragmatik eingeführten Begriff Sprechakt der Handlungscharakter der koranischen Äußerungen betont werden.17 Der zentrale Unterschied zwischen Text und Sprechakt ist, dass beim Verfassen von Texten der Autor auf sich gestellt ist. Er spricht eine antizipierte Leserschaft an. Bei dem Sprechakt gibt es einen Sprecher, einen Adressaten und ein Gesprächsumfeld. Der Sprechakt kann daher in Teilaspekte zerlegt werden, z. B. in den lokutiven, propositionalen, illokutiven und perlokutiven Akt. Das heißt, der Sprecher kann sprechen, um eine bestimmte Handlung durchzuführen, und entsprechend dieser Handlung ist sein Sprechen eine Frage, eine Aussage, eine Beschreibung oder ein Befehl etc. Der Sprecher kann sowohl die reine Wissensvermittlung beabsichtigen als auch bestimmte Reaktionen beim Adressaten, etwa ihn verärgern, erfreuen oder trösten. Während das Verfassen eines Textes nicht aufzeigen kann, ob die Absicht in Erfüllung geht oder nicht, vermag dies der Sprechakt. Der Sprecher kann dann dementsprechend reagieren, sich wiederholen oder seine Formulierung variieren. Auch ein Text lässt sich derart aufbauen. Der Autor muss dann seiner Absicht entsprechend alle möglichen Situationen und Missverständnisse vorausdenken. Der Text gibt daher seinen Kontext irgendwie wieder und weist in dem Sinne eine innere Geschlossenheit auf. Beim 17
Den hier angeführten Gedanken liegt ausschließlich die Sprechakttheorie von John R. Searle zugrunde: ders., Sprechakte: Ein sprachphilosophischer Essay. Übersetzt von R. Wiggershaus, Frankfurt 2003.
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Sprechakt liegt aber der Kontext außerhalb des Textes, deswegen lässt sich der Sprechakt nur über diesen äußeren Kontext verstehen. Für die Koranpassagen können wir festhalten, dass jede Passage eine sprachliche Äußerung darstellt, die sich auf einen Kontext bezieht, den der Text selbst nicht hergibt. Der Koran im Gesamten ist eine Sammlung von zahlreichen derartigen verschriftlichten Sprechakten. Wenn wir die Frage, was für ein Übersetzungsgegenstand der Koran ist, derart beantworten, ändert sich auch die Eigenheit unserer Übersetzungstätigkeit. Denn unser Übersetzungsgegenstand ist nicht mehr eine in sich geschlossene Komposition eines Autors. Vielmehr handelt es sich um einzelne Reden, die in Textform nebeneinander stehen. Diese Passagen verweisen auf verschiedene Sprechakte, geben aber nur einen Bestandteil des jeweiligen Sprechakts, nämlich sein Wort wieder, nicht aber die anderen Bestandteile, nämlich seinen außertextuellen Kontext. Wenn wir uns dies bewusst machen und diesen außertextuellen Kontext zu erschließen suchen, agieren wir nicht mehr als Übersetzer, sondern als Dolmetscher. Der Übersetzer handelt mit Texten, die ihm vorliegen, der Dolmetscher aber mit Sprechakten, die er zu rekonstruieren und nachzufühlen versucht. Wenn wir also den Koran als Wort dolmetschen wollen, müssen wir über seinen Text hinaus seine Umstände erschließen und ihn wieder im Wortumfeld sehen. Dies ist nur möglich, wenn wir den Koran nicht nur in Notfällen – wie etwa bei der Begegnung mit seinen widersprüchlichen Aussagen – als Wort verstehen, sondern alle seine Passagen als Sprechen im historischen Kontext auffassen. Andernfalls wird unser Übersetzen nur in Glücksfällen eine gerechte Übersetzung des Korans und sonst nur eine Rekonstruktion von neuen Korantexten. Schließlich kann man sagen, dass es notwendig ist, nicht den geschriebenen Text zu übersetzen, sondern zu schauen, was der Koran im damaligen geschichtlichen Kontext gesagt hat und wie sich dieses im Arabischen Gesagte in eine andere Sprach- und Kulturwelt übertragen lässt.
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Beobachterbericht zum Forum: Übersetzungen Abd el-Halim Ragab
Um die Schwierigkeiten und die Probleme, die die Übersetzung von heiligen Schriften bereitet, weiß jeder, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat.1 Denn stärker noch als bei profanen Texten erfordert die Übersetzung von heiligen Schriften einen enorm hohen Grad an Präzision, an Rücksichtsnahme gegenüber dem Text und an Einfühlungsvermögen in das Sprachgewebe der Ausgangs- und der Zielsprache, geht es doch um die Wiedergabe des Wortes Gottes. Hier ist der Spielraum für eventuelle Verluste an sprachlichen Gehalten, ästhetisch-stilistischen Eigenschaften, Intertexten und Kontexten sehr gering, um nicht zu sagen, dass er zumindest in der islamischen Tradition eigentlich kategorisch verboten ist. Und dennoch musste man (und muss man heute noch) übersetzen. Dies geschah bekanntlich sowohl im Christentum als auch im Islam. In beiden Religionen entstanden Übersetzungen aus praktischer Notwendigkeit. Die ursprüngliche Gemeinde beider Religionen breitete sich schnell aus auf Gebiete und Völker, die die Offenbarungssprachen nicht beherrschten. Kurz nach dem Tode des Propheten Muhammad blieb alsbald der Islam nicht mehr arabisch; das Projekt der Arabisierung nicht-arabischer Muslime durch den Koran war realistisch nicht mehr durchführbar. Auch im Christentum haben die Christen bereits in frühe1
Im Bezug auf die Übersetzung des Korans sei hier, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, auf die Studie von August Fischer, Der Wert der vorhandenen Koran-Übersetzungen und Sure 111, in: Rudi Paret (Hg.), Der Koran, Darmstadt 1975, 3–10, 7: »Eine Koran-Übersetzung ist keine leichte Aufgabe. Die namhaftesten Arabisten, Gelehrte wie Reiske, Sacy, Fleischer, de Goeje, Nöldeke, Goldziher u. a., sind ihr ausgewichen, wenigstens z. T. wohl, weil sie ihre großen Schwierigkeiten kannten.« Vgl. auch Helmut Gätje, Zur Koranübersetzung von Rudi Paret, in: ebd. 32–41. Die Literatur zu Übersetzungsproblematiken der heiligen Schriften im Christentum geht ins Uferlose.
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rer Zeit den »lebendigen Kontakt mit ihren hebräischen, aramäischen oder selbst griechischen Quellen nicht halten können«2. Man las die Bibel nur noch in Übersetzungen. Allerdings äußerte sich in beiden Religionen, bei den Muslimen stärker als in der christlichen Tradition, von vornherein ein Widerstand gegenüber jeglicher Übersetzung der Heiligen Schrift. Ausgangspunkt dieser Debatte bei den Muslimen war die Vorstellung, der Koran-Text, so wie er vorliegt, sei von Gott in seiner jetzigen Gestalt und Form geoffenbart worden und somit auch in dieser Form von Gott gewollt.3 Die fließende mündliche Tradition in der Offenbarungsgeschichte wurde im Bewusstsein vieler Muslime durch den später entstandenen Text verdrängt und allein dem Text wurde nun absolute Autorität zugesprochen. Dies führte zur Annahme, der Koran sei unübersetzbar, weil er nur in »klarem Arabisch« zu lesen sei, da er auch »in Arabisch« geoffenbart wäre.4 Diese religiöse Auffassung wurde jedoch bald von der Realität überholt. Das Forum »Aktualisierung der Heiligen Schriften durch Übersetzungen und ihre Grenzen« stellte sich all diesen Fragen und Aporien in ihren kontroversen Breiten. Zu Beginn der Präsentation der beiden gehaltenen Referate ist vielleicht ein Gesichtspunkt festzuhalten, der die beiden Beiträge von Andreas Obermann und Ömer Özsoy grundsätzlich von einander unterscheidet und der die anschließende Diskussion wesentlich mitbestimmte. Während der christliche Beitrag von einer gesicherten textlichen Grundlage und einer authentischen Überlieferung der Übersetzungsvorlagen ausgeht (z. B. Septuaginta) und somit das Problem »des Textes an sich« für ihn als solches überhaupt nicht existiert, ist für den muslimischen Beitrag dieser Tatbestand gar nicht so selbstverständlich: 2 3
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Andre Chouraqui, Reflexionen über Problematik und Methode der Übersetzung von Bibel und Koran. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Luise Abramowski, Tübingen 1994, 16. Vgl. Sure 12,2. Weiteres dazu, auch für Argumentationen der Übersetzbarkeit bzw. Unübersetzbarkeit des Korans, vgl. aš-ŠÁÔibÐ, MuwÁfaqÁt, zit. nach MuÎammad MusÔafÁ al-MarÁÈÐ, BaÎ× fÐ tarÊamat al-QurÞÁn al-karÐm waaÎkÁmihÁ (= Eine Untersuchung über die Übersetzbarkeit des Korans und ihre theologische Beurteilung), Sonderausgabe der Zeitschrift Al-Azhar, ŠauwÁl 1423 (n. d. H.), 30 ff. Vgl. auch Fischer, Wert (s. Anm. 1), 4 Anm. 5 mit weiterführender Literatur zu dieser Problematik aus muslimischer Sicht, sowie Hartmut Bobzin, Art. Translations of the QurÞan, Bd. 5, 340–358. Ausführliches zu dieser Debatte und vor allem zur Meinung von AbÐ ÍanÐfa, auch im Bezug auf die Zulässigkeit der Verrichtung des Ritualgebets in NichtArabisch, vgl. al-MarÁÈÐ, BaÎ× (s. Anm. 3), 30 ff. und 50 ff.
Der muslimische Beitrag möchte vom »Text an sich« absehen und stattdessen einen Schritt weiter zurückgehen, nämlich in die ursprüngliche Offenbarungssituation, wo nicht »der Text«, sondern »das gesprochene Wort« als einziges Sprachmedium im Mittelpunkt stand. Der muslimische Beitrag möchte also in die Situation der ersten Adressaten während der Offenbarungsperiode, sozusagen hinter den »Text«, zurückschlüpfen, um von da die Begebenheiten und Gegebenheiten der zum Text gewordenen Offenbarung zu hinterfragen. Der christliche Beitrag hat es in dieser Hinsicht eigentlich leichter, denn er hat schon seinen »Text«, an dem er arbeiten und übersetzungstheoretische Fragen bzw. exegetische Probleme aufzeigen kann. Der muslimische hingegen nicht; er muss erst aus den einzelnen Sprechsituationen der Offenbarung, aus den »wörtlich« gesprochenen, nicht geschriebenen Einzelstücken und Passagen eine textliche Grundlage rekonstruieren oder die bereits vorhandene dadurch untermauern. In der historisch-kritischen Bibelwissenschaft ist es selbstverständlich, eine komplexe mündliche Vorgeschichte der vorliegenden »End-Texte« anzunehmen und soweit möglich zu rekonstruieren. Obermann ging im Rahmen des Forums jedoch nicht auf diese Selbstverständlichkeit ein und beschäftigte sich mit Übersetzungen auf Grundlage der kanonischen Endgestalt der Texte. Damit ist das hervorstechende Merkmal der beiden Beiträge beschrieben. Für die christliche Tradition gilt die Septuaginta als die autorisierte Text-Grundlage der Bibel schlechthin. Dass 72 verschiedene Übersetzer »unabhängig voneinander« zu einer solchen »einhelligen Übereinstimmung des Wortlauts« gekommen waren, galt als das »Wirken Gottes« (Obermann, S. 100). Von daher kann Obermann mit Recht im Bezug auf die Arbeit der christlichen Übersetzer von einer Übersetzung im wörtlichen Sinne sprechen, von Übersetzung »als Transportmedium (Vehikel) […], mit dessen Hilfe die Botschaft in einer neuen Sprachgestalt über das Meer des Nichtverstehens übergesetzt wird« (S. 98). Die christlichen Übersetzer der Bibel setzten nur den bereits vorliegenden und voll autorisierten Text über. Autoritätsprobleme hat man hier nicht. Selbstverständlich sind damit die übersetzungstheoretischen, hermeneutischen oder historisch-kritischen Fragen für die Bibelübersetzer nicht vom Tisch, sondern stellen sich erst recht mit jedem Übersetzungsversuch. Özsoy würde nicht so verfahren. Für ihn liegt – wie gesagt – das Problem bereits im Text selbst. Denn gerade der vorliegende Text des Korans sei als Übersetzungsgrundlage äußerst problematisch. Der Text zeige keine logische Geschlossenheit in sich, wimmle von Widersprüchen und Wiederholungen, sei nicht chronologisch geordnet und würde 123
sich selbst der Kritik preisgeben. Von einer Übersetzung eines »fertigen« Textes im Sinne von Obermann würde Özsoy vorerst nicht sprechen. Denn der Koran war ja ursprünglich kein Text, sondern bestand aus einzelnen Passagen, die situationsgebunden geoffenbart worden waren. Diese Passagen waren sozusagen auf die Bedürfnisse der damaligen Adressaten abgestimmt. Das erklärt auch die Tatsache, dass der Koran nicht auf einmal, sondern in Form von Sprechakten im Laufe von über 20 Jahren nach und nach hinabgesandt wurde. Die Verschriftlichung des Korans ereignete sich später. Auch die jetzige Ordnung des Korans geschah willkürlich, so Özsoy. Um den Koran besser zu verstehen und ihn auch adäquat zu übersetzen, muss man auf die erste Sprechsituation der Offenbarung zurückgreifen. Mit anderen Worten: Man muss hier historisch-kritisch vorgehen. Wer den Koran nur als »Text« übersetzt, würde in die »vortextliche«, mündliche Tradition nicht eindringen können und dem Koran selbst nicht gerecht werden. Auf diese Weise lasse sich erkennen, wie mangelhaft die vorliegenden Koranübersetzungen westlicher und muslimischer Gelehrten sind, die nur von der vorliegenden Textgrundlage ausgehen und nicht historisch-kritisch verfahren. Der Gedanke, den Koran als »Nicht-Text«, sondern als gesprochene Rede zu betrachten, gilt als ein wesentlicher Bestandteil im koranwissenschaftlichen Denken und Forschen von Özsoy. Es geht ihm in erster Linie um die Überwindung des Dogmas der Übergeschichtlichkeit des koranischen Textes, das sich bei Muslimen im Laufe der Jahrhunderte festgesetzt hatte. Auf die Fragwürdigkeit des Verfahrens Özsoys hat bereits Felix Körner hingewiesen. Denn wer soll nun »einen ausreichend zuverlässigen historischen Zugriff auf diesen (normierenden) Ort« der Erstadressaten des Korans garantieren,5 um von dort eventuelle Verluste an Kontexten und Sprechsituationen auszugleichen, die dem heutigen Korantext durch die Verschriftlichung abgegangen sein können? Auch die Frage, die später in der Diskussionsrunde gestellt wurde: Wenn der Koran aus einzelnen Sprechakten besteht, wer soll heute Anfänge und Enden dieser Passagen beim Zitieren z. B. bestimmen und wie sollen nun diese Passagen neu zueinander zugefügt werden?, ist nicht weniger relevant. Von großer Bedeutung war ebenso die Frage nach der Verwendbarkeit und Verwertbarkeit dieser Ansätze in didaktischer und religionspädagogischer Hinsicht. Welche Koranpassagen soll man etwa im Religionsunterricht den Kindern präsentieren? Wenn der interreligiöse 5
Felix Körner (Hg.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg u. a. 2006, 101.
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Dialog »gute Übersetzungen« braucht, »die als Grundlage des Gesprächs für alle dienen« sollen (Obermann, S. 109), welche Koran-Übersetzung soll man heute nehmen und wer soll dies entscheiden, und vor allem, welche Voraussetzungen soll die zu übersetzende arabische Koran-Textgrundlage erfüllen? Schon der von Özsoy geschätzte Rudi Paret schrieb im Jahre 1966 im Vorwort zu seiner Koran-Übersetzung: »Obwohl zu Hunderten von Versen der einzelnen Kapitel oder ›Suren‹ abweichende Lesarten überliefert sind, kann man sagen, dass der Text im großen ganzen zuverlässig ist und den Wortlaut so wiedergibt, wie ihn die Zeitgenossen aus dem Munde des Propheten gehört haben. […] Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass auch nur ein einziger Vers im ganzen Koran nicht von Muhammed selber stammen würde.«6 Das Ziel von Özsoy, so wissenschaftlich erstrebenswert wie es nur sein mag, scheint realistisch schwer umsetzbar zu sein. Übrigens hat die Idee, den Koran nur als »Rede« zu betrachten, in der islamischen Theologie eine lange Tradition.7 Özsoy, der mit den Begriffen der modernen Linguistik arbeitet, möchte dieses Ziel auf dekonstruktivistischem Wege erreichen. Ob ihm dies gelingt, muss zunächst einmal abgewartet werden. Was man schließlich für den interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen in Deutschland braucht, sind mit Sicherheit gute Übersetzungen der heiligen Schriften. Vielleicht ist dies die Herausforderung, der man sich beiderseits zu stellen hat. Eine Basis der Verständigung muss auf jeden Fall vorhanden sein, und zwar eine schriftliche, in die Sprache des jeweiligen Dialogspartners »übergesetzte«. Rudi Parets Koranübersetzung gilt in dieser Hinsicht als Musterbeispiel. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass eine Übersetzung nur eine Übersetzung bleibt. Wie in unseren menschlichen Alltagssprachen werden wir jedoch nicht ohne Übersetzung auskommen können.
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Rudi Paret, Der Koran. Übersetzung, Stuttgart, 82001, 5 (Vorwort). Ausführlich zu dieser Problematik, die hier nicht weiter diskutiert werden kann, vgl. NaÒr Íamid Abu Zaid, MafhÙm at-tÁrÐÌÐya al-muftrÁ Ýalaihi, in: ders., at-tafkÐr fÐ zaman at-takfÐr. ÆiÆÃ al-Êahl wa-z-zaif wa-l-ÌurÁfa, 2. Aufl. MadbÙlÐ, Kairo 1995, 1997–230, 200 ff. Eine Übersetzung dieses Aufsatzes befindet sich in Thomas Hildebrandt, Nasr Hamid Abu Zaid. Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran, Freiburg u. a., 2008, 91–121.
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III. Feministische Auslegungen
Geschlechtergerechtigkeit und Gender-ÉihÁd Möglichkeiten und Grenzen frauenbefreiender Koraninterpretationen Muna Tatari
1. Muslimische Frauen und islamische Traditionen In der Mitte des 19. Jahrhunderts startete in der islamisch geprägten Welt eine Reihe von Aufbruchs- und Erneuerungsbewegungen. In diesem Zug setzten sich auch muslimische Frauen1 bewusst mit ihrer in weiten Teilen marginalisierten Position in Familie und Gesellschaft auseinander und nahmen zunehmend (wieder) das Recht auf eigenen iÊtihÁd 2 in An1
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Dies waren vor allen Dingen Frauen, die aus der Mittel- und Oberschicht stammten und selbst Zugang zu Bildung und Forschung hatten. Beispielhaft seien hier einige Frauen genannt: ÝÀÞiša ÝAbd al-RaÎmÁn, die, 1913 geboren, in Ägypten Professorin für Arabische Literatur war und später eine Professur für Islamische Theologie in Marokko innehatte. In ihrer Arbeit trat sie für eine kontextbezogene Interpretation des Korans ein und stellte die überzeitlichen ethischen und spirituellen Grundwerte in den Vordergrund. NÁzira Zain al-DÐn, geboren 1908, kritisierte in ihrer Forschung weniger den Koran an sich, sondern vielmehr die muslimischen Gelehrten für die unterprivilegierten Lebensumstände der Frauen und publizierte ihre kritischen Analysen. In der literarischen kritischen Aufarbeitung der Situation der Frauen haben zur selben Zeit die Ägypterin ÝÀÞiša TaimÙrÐya, die Libanesin Zainab FauwÁz und die Inderinnen Rokeya Sakhawat und NazÁr Sajjad Íaydar wichtige Beiträge geleistet. Für weitere Namen und Inhalte verweise ich auf Leila Ahmed, Women and Gender in Islam. Historical Roots of a Modern Debate, New Haven u. a. 1992, und Yvonne Yazbeck Haddad, Daughters of Abraham. Feminist Thought in Judaism, Christianity, and Islam, Gainesville u. a. 2001, sowie auf die in Anmerkung 3 erwähnte Literatur. Wörtlich Anstrengung, Bemühung, Eifer, Fleiß; selbständige Entscheidung einer Rechtsfrage aufgrund der Interpretation der Quellen (als Fachausdruck
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spruch.3 In Literatur, »everyday activism« und organisierten Bewegungen begannen Frauen – substanzieller und vernetzter vor allem in den letzten zwanzig Jahren – Ideen von Feminismus und Islam 4 zu entwickeln und zum Tragen kommen zu lassen. Die Motivation von Frauen, sich mit den Quellen der islamischen Tradition auseinanderzusetzen in Erwartung, dass eine kritische Reflektion der Quellentexte und ihrer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte befreiende Früchte tragen kann, sind: – –
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die Vorstellung eines gerechten Gottes, der gerechte und egalitäre Verhältnisse für Männer und Frauen möchte;5 die Überzeugung, dass es keine Erschließung eines Textes geben kann, ohne den Kontext der Entstehung und den der jeweiligen Interpreten zu berücksichtigen;6
im islamischen Recht). Vgl. Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 1977, 129. Vgl. Haifaa Jawad, Muslim Feminism. A Case Study of Amina WadudMuhsin’s QurÞan and Women, in: Islamic Studies 42 (2003), 107–123, und Margot Badran, Art. Feminism, in: John L. Esposito (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Modern Islamic World, Oxford 2001, 19–23. Zum Unbehagen mit dem Begriff Feminismus aus islamischer Perspektive vgl. SaÝdiyya Shaikh, Transforming Feminism. Islam, Women and Genderjustice, in: Omid Safi (Hg.), Progressive Muslims. On Justice, Gender and Pluralism, Oxford 2003, 147–162. So verwendet z. B. Rabeya Müller, Leiterin des Kölner »Zentrums für Islamische Frauenforschung«, den Begriff der Geschlechtergerechtigkeit unter anderem auch, um Vorbehalten von muslimischer Seite gegen den Begriff Feminismus zu begegnen. Vgl. Rabeya Müller, Feminismus, Geschlechterdemokratie und Religionen in lokaler Praxis, in: www.fit-for-gender.org/webseiten/fachtagung4.htm. Der Begriff des Gender-ÉihÁd wurde u. a. von Esack geprägt und hat zum Beispiel 2005 auf einer internationalen Frauen-Konferenz in Barcelona als programmatischer Titel weitere Popularität erlangt. Vgl. Farid Esack, QurÞÁn, Liberation and Pluralism. An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity against Oppression, Oxford 1997. Dies ist ein Kerngedanke in der Tradition islamischer Befreiungstheologie. Zu Geschichte und Inhalten einer islamischen Befreiungstheologie vgl. Asghar Ali Engineer, On Developing Liberation Theology in Islam, Delhi 1990; Irfan A. Omar, Islam, in: Miguel A. De La Torre (Hg.), The Hope of Liberation in World Religions, Baylor 2008, 99–112, ebenso Halima Krausen, Befreiungstheologie im Islam, in: Thorsten Knauth/Joachim Schroeder (Hg.), Über Befreiung. Befreiungspädagogik, Befreiungsphilosophie und Befreiungstheologie im Dialog, Münster u. a. 1999, 116–129. Vgl. Farid Esack, The QurÞan. A Short Introduction, Oxford 2002, Kap. 6.
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die Erkenntnis, dass die klassischen Disziplinen islamischer Gelehrsamkeit (Ethik und Recht, Theologie, Philosophie und Mystik) mehr oder weniger männerdominierte Felder waren und dementsprechend patriarchal geprägt sind;7 die Entwicklung einer Hermeneutik des Verdachts8, in der auch davon ausgegangen wird, dass Texte an sich nie abschließend erschlossen sein können und dementsprechend ihre Interpretation bzw. vermeintliche Authentizität nicht kritiklos hingenommen werden soll.9
So war und ist es neben der Verbesserung sozialer Verhältnisse für Frauen also auch ein Anliegen, religiöse Texte und theologische Argumente zu hinterfragen und vor dem Hintergrund einer geschlechtergerechten Hermeneutik neu zu lesen und weiterzuentwickeln. Die Idee dahinter war und ist, in der Rekonstruktion historischer Wurzeln den Anteil von Frauen aufzudecken, um mit einer um Spektren erweiterten Perspektive Gegenwart und Zukunft zu gestalten.
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Vgl. Khaled Abou el-Fadl, Legal and Juristical Literature: 9th to 15th Century, in: Encyclopaedia of Muslim Women and Islamic Culture, Bd. 1: Methodologies, Paradigms and Sources, Leiden/Bosten 2007, 37–41. Eine Vertreterin dieses hermeneutischen Ansatzes, der maßgeblich auch von der katholischen Theologin Schüssler-Fiorenza geformt wurde, ist Shaikh: »[…] Feminist hermeneutics is a ›theory, method or perspective for understanding and interpretation‹ which is sensitive to and critical of sexism. […] I approach the tafsir texts with a ›hermeneutic of suspicion‹ which is alert to both explicit and implicit patriarchal bias. […] A hermeneutic of suspicion does »not trust or accept interpretive traditions as ›truth‹, but rather adopts a stance of suspicion. […] The aim is to critically evaluate and expose patriarchal structures, values and male-centred concerns. This approach focuses on the text as an ideological androcentric product. […] Thus I approach the selected exegetical works as representative of a patriarchal historical cultural milieu […].« In: SaÝdiyya Shaikh, Exegetical Violence: Nushuz in Quranic Gender Ideology, in: Journal for Islamic Studies 17 (1997), 49–73. Zum Prozess, nach welchem Muster Texte in der islamischen Tradition autoritative Texte wurden und wie sich dies inhaltlich und methodisch kritisch hinterfragen lässt, vgl. Khaled Abou el-Fadl, Speaking in God’s Name. Islamic Law, Authority and Women, Oxford 2001.
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2. Fragen der Hermeneutik In der islamischen Tradition gelten als erste Quellen der Koran, die Praxis des Propheten (Sunna), der Analogieschluss (qiyÁs) bzw. die Vernunft (Ýaql) und der Konsens von Gelehrten und Gemeinschaften bestimmter Zeiten und Regionen (ÝiÊmÁÝ). Der koranische Text enthält im Hinblick auf Genderfragen eine Vielzahl an Versen, die von einer ontologischen Gleichheit von Mann und Frau sprechen und beide gleichermaßen zu ethischem Verhalten aufrufen und sie zur Gestaltung von gemeinschaftlichem Leben und seinen Rahmenbedingungen einladen als Ausdruck ihrer von Gott übertragenen Verantwortung, wie zum Beispiel der folgende Vers: »Wahrlich, die muslimischen Männer und die muslimischen Frauen, die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen, die gehorsamen Männer und die gehorsamen Frauen, die wahrhaftigen Männer und die wahrhaftigen Frauen, die standhaften Männer und die standhaften Frauen, die demütigen Männer und die demütigen Frauen, die Männer, die Almosen geben, und die Frauen, die Almosen geben, die Männer, die fasten, und die Frauen, die fasten, die Männer, die ihre Keuschheit wahren, und die Frauen, die ihre Keuschheit wahren, die Männer, die Gottes häufig gedenken, und die Frauen, die [Gottes häufig] gedenken – Gott hat ihnen Vergebung und herrlichen Lohn bereitet.« (33,36)10 Demgegenüber stehen Verse des Korans, die eine lange Geschichte Frauen marginalisierender Interpretationen bergen, Verse, die sich auf Themen wie die Mehrehe beziehen, das Erbrecht, Scheidungsmöglichkeiten, Einschätzung der Zeugenaussage und eheliche Konfliktlösungsstrategien.11 Es ergibt sich die Frage, nach welchem hermeneutischen Ansatz diese Versgruppen gelesen und in welchen Zusammenhang sie zueinander gebracht werden. 10
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Da im wissenschaftlichen Umgang mit dem Koran immer an dem arabischen Originaltext gearbeitet wird und Fragen der Interpretation in diesem Beitrag auch an den arabischen Schlüsselbegriffen veranschaulicht werden, habe ich hier und im Folgenden auf die wissenschaftlich anerkannte, aber sprachlich eher sperrige Übersetzung von Paret verzichtet und eine Übersetzung gewählt, die sprachlich unkomplizierter ist: Koran. Der heilige QurÞÁn, Frankfurt (Verlag Der Islam) 1989. Vgl. auch Sure 3,195 f.; 4,124–126; 9,71; 16,98; 57,13 f.; 66,11–13. Vgl. u. a. Sure 2,283; 2,228–234; 4,4.8–13.35.
In der islamischen Tradition scheiden sich hier ganz grundsätzlich die Geister ausgehend u. a. vom jeweiligen Verständnis des folgenden Verses: »Er ist es, der das Buch zu dir herabgesandt hat; darin sind Verse von entscheidender Bedeutung12 – sie sind die Grundlage des Buches – und andere, die unterschiedlich gedeutet werden können. Die aber, in deren Herzen Verderbnis wohnt, suchen gerade jene heraus, die verschiedener Deutung fähig sind, im Trachten nach Zwiespalt und im Trachten nach Deutelei. Doch keiner kennt ihre Deutung als Gott. Und diejenigen, die fest gegründet im Wissen sind, sprechen: ›Wir glauben daran, das Ganze ist von unserem Herren‹ [andere Lesart: Doch keiner kennt ihre Deutung als Gott und diejenigen, die fest gegründet im Wissen sind. Sie sprechen: ›Wir glauben daran, das Ganze ist von unserem Herren‹] – und niemand beherzigt es außer den mit Verständnis Begabten.« (Sure 3,8) Gelehrte, die sich der Tradition der ahl ar-raÞÐ13 verpflichtet fühlen, verstehen den Text so, dass der Sinn koranischer Verse menschlich erschließbar ist und der interpretatorischen Anstrengung bedarf, während hingegen Gelehrte, die sich den Prinzipien der ahl al-ÎadÐ×14 verpflichtet sehen, die koranischen Texte im Zweifelsfall eher unhinterfragt lassen und Texte der Überlieferung zur Erläuterung heranziehen würden.15 Im Dissens befinden sich die Gelehrten zudem darüber, welche Verse entscheidend und somit Grundlage des Buches sind, also allgemein und überzeitlich, und welche Verse die verschieden deutbaren sind, also speziell und historisch gebunden.16 Dies ist insofern von interpretatori-
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Hervorhebungen in diesem Vers durch die Autorin. Nach Motzki: spekulative Rechtsgelehrte. Vgl. Harald Motzki, Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 17. Nach Motzki: Traditionsgelehrte. Vgl. ebd. In der ašÝaritischen Theologie wird diese Haltung durch die Formulierung bi-lÁ kaif (ohne wie) beschrieben und lässt sich auf den Begründer der malikitischen Rechtsschule MÁlik b. Anas zurückführen. Vgl. Hermann Stieglecker, Die Glaubenslehren des Islam, Paderborn u. a. 1962, 48, 91–96. Neben der atomistischen Vers-für-Vers-Lesart des Korans hat sich unter anderem auch der Ansatz des tafsÐr al-qurÞÁn bi-l-qurÞÁn herausgebildet, die Erklärung des Korans durch den Koran. Hier werden Verse des Korans nach ihrem Charakter geordnet und ggf. in Beziehung zueinander gesetzt. Hier findet sich die Unterteilung der Verse in solche mit allgemeiner Aussage
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scher Relevanz, als dass der Grundsatz in der Interpretation des Korans durch den Koran gilt, dass allgemeine Verse (z. B. Verse, die von einer Egalität von Männern und Frauen sprechen) den hermeneutischen Zugang zu Versen mit spezieller Aussage darstellen (z. B. dem Vers zur Gewichtung von Zeugenaussagen, in der, nach einer verbreiteten Lesart, die Aussage zweier Frauen so viel Gewicht haben wie die Aussage eines Mann). Dieser Ansatz in der Tradition der ahl ar-raÞÐ ist nun ein Anknüpfungspunkt für die Entwicklung geschlechtergerechter Lesarten des Korans, da eine ganze Kategorie von Versen dadurch zur immer wieder neuen Interpretation und Adaption freigestellt wird.17
3. Eva und Adam 3.1
Außerkoranische Überlieferungen zur Schöpfungsgeschichte
Der Koran nimmt auf Ereignisse in der (geistes)geschichtlichen Vergangenheit der Kinder Abrahams Bezug, und Hintergrundinformationen zum knappen Erzählstil des Korans fand und findet man in diversen Geschichtswerken, die, wie bei aÔ-ÓabarÐ18 (839–923), mit Eva und Adam beginnen und sich unter anderem auch auf Quellen aus jüdischen und christlichen Traditionen19 berufen. Hier findet sich eine Fülle an frauenfeindlichen Aussagen. Letztere dienten und dienen auch heute noch vielen Koraninterpreten als hermeneutische Schüssel für das Verständnis des Korans.20
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(ÝÁmm) und Verse mit spezieller Aussage (ÌÁÒÒ). Zur weiteren Kategorisierung vgl. El-Fadl, Islamic Law (s. Anm. 9), 119 f. Dieser Ansatz ist an sich nicht neu und wurde auch von Muhammad Abduh aufgegriffen, der in der Aufteilung der koranischen Verse in die Kategorien ÝibadÁt (gottesdienstliche Handlungen) und muÝÁmalÁt (Handlungen zwischen Menschen) letztere für den iÊtihÁd offen erklärte. AÔ-ÓabarÐs Werke haben gemeinhin einen großen autoritativen Stellenwert in der islamischen Tradition. Vgl. Kristen E. Kvam u. a. (Hg.), Eve and Adam: Jewish, Christian, and Muslim readings on Genesis and Gender, Bloomington 1999, 185. Zur kritischen Würdigung dieser Texte siehe: Riffat Hassan, The Issue of Woman-Man Equality in the Islamic Tradition, in: Kvam, Eve and Adam (s. Anm. 18), 436–476, 466. Vgl. hierzu ebd. 463–476.
Im Hinblick auf die Schöpfungsgeschichte lässt sich dieser Rückbezug gut veranschaulichen. Hier hat der Historiker und Rechtsgelehrte aÔÓabarÐ Überlieferungen gesammelt und zusammengestellt, um den koranischen Text zu erläutern. So nahm aÔ-ÓabarÐ eine Überlieferung21 auf, in der es heißt, dass Gott Adam in einen tiefen Schlaf fallen ließ und seine linke Rippe nahm und aus ihr Eva schuf, ihm zur Erholung und Ruhe. Adam sah sie und sagte: mein Fleisch, mein Blut und meine Frau, und er nannte sie Eva, da sie aus etwas Lebendigem geschaffen wurde. Diese Überlieferung scheint die sprachliche Offenheit des koranischen Texts im Hinblick auf die Reihenfolge der Erschaffung von Eva und Adam zu überlagern, und Sure 4,2 liest sich dementsprechend folgendermaßen: »O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen erschaffen hat; aus diesem erschuf Er ihm die Gefährtin, und aus beiden ließ Er viele Männer und Frauen sich vermehren. […]« Zur Grenzüberschreitung von Eva und Adam sammelte aÔ-ÓabarÐ folgende, hier gekürzt wiedergegebene Versionen: Die Engel aßen von den Früchten des Baumes für ihre Unsterblichkeit, und dieser Baum war für die Menschen verboten. IblÐs schummelte sich im Bauch einer Schlange, die noch vier Beine hatte und wie ein Kamel aussah, in den Garten und bot Eva von den Früchten des Baumes an, indem er die Schönheit und den Geschmack der Früchte pries bzw. ihre Wirkung, nämlich Unsterblichkeit zu verleihen und große Macht. Sie aß von den Früchten und bot sie Adam an und er aß. Nach Ansicht einiger Tradenten konnte Eva durch ihre Schönheit und Verführungskünste, die IblÐs ihr gab, Adam überreden, Gottes Gebot zu übertreten, und nach einer anderen Version musste Eva Adam erst betrunken machen. Gott verfluchte daraufhin die Erde, aus der Adam stammt, und verurteilte Eva zu schweren Schwangerschaften und zu Geburten unter Todesgefahr und Er machte sie dumm und töricht. Und Gott verfluchte die Schlange und
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Diese und folgende Überlieferungen sind übersetzt, gekürzt und teilweise zusammengefasst durch die Verfasserin und beziehen sich auf Abu JaÝfar alTabari, The Commentary on the QurÞan, hg. von Wilfried F. Madelung/Alan Jones, Bd. 1, Oxford 1987, 244 ff., 251–255, 257 f.; vgl. auch Franz Rosenthal (Hg.), The History of al-ÓabarÐ, Bd. 1: General Introduction and From the Creation to the Flood, Albany 1989, 273–281.
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nahm ihr die Beine, machte sie und die Menschen zu gegenseitigen Feinden. Unter dem Eindruck dieser dramatischen Schilderungen wurde und wird dann weit verbreitet folgender eher nüchtern klingende koranische Text und seine Parallelstellen interpretiert: »[…] Und Wir sprachen: ›O Adam, weile du und dein Weib in dem Garten, und esset reichlich von dem Seinigen, wo immer ihr wollt; nur nahet nicht diesem Baume, auf daß ihr nicht Frevler seiet.‹ Doch Satan ließ beide daran straucheln und trieb sie von dort, worin sie waren. […]« (Sure 2,36 f.) Eva die Schuld an ihrem und Adams Ungehorsam gegenüber Gott zu geben, ist also nicht koranischer Text, hat aber in der Entwicklung islamischer Anthropologie schwere nachteilige Folgen für Frauen und ihre gesellschaftspolitischen Einflussmöglichkeiten gehabt. Aus ihrem – so überlieferten – Verhalten im Paradies wurde abgeleitet, dass Frauen an sich eine Quelle von fitna22 seien und der Grund für die moralischen Verfehlungen der Männer. In einigen Traditionen wurde daraufhin nicht nur der gesamte Körper der Frau, sondern auch ihre Stimme als Ýaura23 definiert und fungierte als Argument, Frauen aus der Öffentlichkeit heraus in die Sphären der Häuslichkeit einzuschränken. Bemerkenswert ist, dass aÔ-ÓabarÐ selbst an dieser Stelle eine andere, ebenfalls von ihm aufgenommene Überlieferung als wahrscheinlicher einstufte, da sie seiner Ansicht nach eine größere Nähe zum koranischen Text aufweist, eine Überlieferung, in der IblÐs Eva und Adam gleichermaßen überreden konnte, von den Früchten des von Gott verbotenen Baumes zu essen, indem er ihrer beide Schwächen erkannte und ausnutzte. Nur so ist es auch plausibel, dass aÔ-ÓabarÐ wiederum zu den Gelehrten seiner Zeit gehörte, die qualifizierten Frauen wie qualifizierten Männern das Richteramt zutrauten,24 Frauen und Männer als gleichwertige 22
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Wörtl. »a trial or probation, seduction, temptation such as wealth, children and women«. Vgl. Edward William Lane, An Arabic-English Lexicon: Derived from the Best and most Copious Eastern Sources, Bd. 1, Teil 6, Beirut 1997, 2335. Vgl. hierzu auch SaÝdiyya Shaikh, Knowledge, Women and Gender in the ÍadÐ×: A Feminist Interpretation, in: Islam and ChristianMuslim Relations 15 (2004), 99–108, 101 f. Wörtl. Scham, Blöße. Vgl. Wehr, Wörterbuch (s. Anm. 3), 588. Vgl. Mohammed Fadel, Two Women, One Man: Knowledge, Power and Gender in Medieval Sunni Legal Thought, in: International Journal of Middle East Studies 29 (1997), 185–204.
Zeuginnen einstuften und Frauen für die Funktion des Imam geeignet sahen,25 was er bei einer angenommenen, quasi biologisch festgelegten moralischen Schwäche von Frauen nicht hätte ableiten können.
3.2
Kritische Revisionen
Es stellt sich die Frage, wie Material aus der Überlieferung in den islamischen Kanon von verbindlichen Texten kommen konnte, wenn sie inhaltlich nicht durch koranische Texte gestützt sind bzw. im Widerspruch zum Koran und anderen Überlieferungen stehen, in denen nicht nur von einer ontologischen Gleichheit von Frau und Mann gesprochen wird, sondern auch die aktive Partizipation von Frauen in allen Bereichen der frühislamischen Gemeinschaft dokumentiert ist. Bei widersprüchlichem Textbestand stellt sich zudem automatisch die Frage nach der Authentizität des jeweils überlieferten Materials. Eine Analyse bzw. Revision der Frauen marginalisierenden Texte mit traditionellen Mitteln ergibt nun in fast allen Fällen, dass begründete Zweifel über die Echtheit vieler Texte angebracht sind aufgrund ihrer jeweiligen Überlieferer. Ein Beispiel hierfür ist der Überlieferer AbÙ Huraira. Er bezog sich auf die unter den Arabern auf der arabischen Halbinsel bekannte »Rippenerzählung« und überlieferte, dass der Prophet gesagt haben soll, dass Frauen aus einer krummen Rippe seien, wolle man sie gerade biegen, würden sie brechen, ließe man sie aber so (defekt) und kümmere man sich um sie, könne man ein schönes Leben mit ihnen führen.26 Ebenso wird auf ihn zurückgeführt, dass der Prophet beim Anblick einer Gruppe von Frauen gesagt haben soll, dass sie mehr beten sollten, da sie die Mehrheit der Höllenbewohner darstellen würden, eine Versuchung für die Männer seien und mangelhaft an Vernunft und Religion.27 Rekonstruktionen zur Person von AbÙ Huraira ergeben, dass er ein später Konvertit und dem Propheten nicht sonderlich nahe war. Er war nicht 25 26 27
Vgl. Khaled Abou el-Fadl, Conference of the Books. The Search for Beauty in Islam, Lanham u. a. 22001, 392. Vgl. ders., Islamic Law (s. Anm. 9), 224, mit Rückbezug auf Ibn ÍaÊar alÝAsqalÁnÐ, ŠihÁb al-DÐn AÎmad b. ÝAlÐ: FatÎ al-bÁrÐ: šarÎ ÒaÎÐÎ al-buÌÁrÐ, Beirut o. J., Bd. 6, 363. Vgl. ebd. 225.
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verheiratet und bekannt dafür, Frauen nicht wohl gesonnen gewesen zu sein, er ging keiner geregelten Arbeit nach. Es ist mehrfach überliefert, dass sowohl ÝÀÞišÁ als auch ÝUmar und ÝAlÐ ihn für falsche Geschichten, die er über den Propheten in Umlauf brachte, kritisierten und korrigierten. Es finden sich Überlieferungen, in denen er Fehler in der Wiedergabe von Sachverhalten und Aussagen des Propheten eingestanden hatte. Er gilt als jemand, der sehr viel überliefert hat, was ihm eher als Kritik angelastet wurde, während er hingegen sein phänomenales Gedächtnis mit einem magischen Ritual begründete, das der Prophet an ihm zur Gedächtnisstärkung vollzogen haben sollte. Viele der Frauen-feindlichen Texte sind nur über ihn überliefert.28 Aber: An AbÙ Huraira scheiden sich bis heute die Geister. Während die einen durch ihn überliefertes Material durchaus kritisch sehen, hat gerade ein Buch29 über ihn zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu einer Art Renaissance seiner Person geführt.30
3.3
Texte sind Spiegel ihrer Zeit
Fadl sieht die widersprüchliche Textlage im Hinblick auf Genderfragen als Hinweis auf die Kontroversen in der frühislamischen Gemeinschaft über den Einfluss, den Frauen hatten bzw. haben sollten. Wenn man berücksichtigt, dass ein Drittel des Textmaterials, das Grundlagenmaterial für Recht und Theologie wurde, von Frauen überliefert war (und hier ihre Aussage selbstverständlich so viel wie die eines Mannes galt31), 28
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138
Zur kritischen Würdigung von AbÙ Huraira vgl. ebd. 215–217, und Fatima Mernissi, Women’s Rights in Islam, in: Charles Kurzmann (Hg.), Liberal Is-
lam, Oxford 1998, 112–126, 124–126. In der analytischen Aufarbeitung des vorhandenen Materials ist es wichtig zu bedenken, wie dem methodischen Problem des Zirkelschlusses, indem (Hadith)-Texte mit anderen (Hadith)Texten widerlegt bzw. klassifiziert werden, Rechnung getragen werden kann. Ohne das Problem in Gänze lösen zu können, wäre das Darlegen der jeweiligen hermeneutischen Schlüssel eine Hilfe, Ergebnisse nachvollziehen, einordnen und auch kritisieren zu können. Abd al-MunÝim ÑaliÎ al-ÝAlÐ al-ÝUzzi, DifÁ Ýan AbÐ Huraira [In Defense of ÞAbÙ Huraira], Beirut u. a. 1981. Wie durch Anm. 28 angedeutet, soll und kann es nicht darum gehen, AbÙ Huraira persönlich zu diskreditieren, sondern vielmehr darum, ein kritisches Bewusstsein in Bezug auf die Kriterien zu schärfen, nach denen einige Texte einen autoritativen Prozess durchlaufen und andere nicht. Vgl. hierzu auch Kecia Ali, A beautiful Example: The Prophet Muhammad as a Model for Muslim Husbands, in: Islamic Studies 43 (2004), 273–291. Vgl. Fadel, Two Women (s. Anm. 24), 190 f.
patriarchale Strukturen empfindlich beschnitten bzw. aufgebrochen wurden, Frauen wichtige Schlüsselfunktionen in politischen Entscheidungen32, wirtschaftlichen Positionen33 und der Produktion und Vermittlung von Wissen34 einnahmen, dann ist eine Gegenbewegung hierzu nicht verwunderlich und die Bereitschaft, Texte aufzunehmen, die so eine Rückbewegung untermauern könnten, aus patriarchaler Perspektive gut zu verstehen. In der Wechselbeziehung von Text und Haltung lässt sich wie im Fall von AbÙ Huraira rekonstruieren, dass sehr wahrscheinlich eine frauenfeindliche Haltung entsprechende Texte entstehen ließ, die dann ein gesellschaftliches Echo fanden und bis heute über eine nicht unerhebliche Wirkungsgeschichte verfügen.
3.4
Hemeneutischer Gender-ÉihÁd am Beispiel der Arbeit von Amina Wadud-Muhsin
Amina Wadud-Muhsin konzentriert sich in ihrer Entwicklung geschlechtergerechter Lesarten vor allem auf den Koran als Quelle. Sie unterscheidet im Umgang mit dem Koran drei Lesarten.35 Zum einen beschreibt sie einen traditionellen Ansatz, in dem Fragen der Linguistik diskutiert werden, historische Fragestellungen behandelt werden oder Texte unter dem Aspekt rechtlicher Fragen interpretiert werden. Es fehlt nach WadudMuhsin diesem Ansatz insbesondere die Entwicklung von hermeneutischen Prinzipien, die eine Lesart des Korans durch den Koran bewerkstelligen würden. In der reaktionären Lesart werden nach Wadud-Muhsin Koran und Islam für die marginalisierte Situationen der muslimischen Frauen verantwortlich gemacht, ohne, so kritisiert sie, zwischen den Quellen selbst und ihrer Interpretation zu unterscheiden. Sie verfolgt nach eigener Aussage einen holistischen Ansatz: Text und Kontext werden in Beziehung zueinander gesetzt und einzelne Verse im Licht der koranischen Weltanschauung gelesen, die durch die Schlüsselbegriffe der Einheit Gottes, der Rechtleitung, der individuellen Verantwortung und 32 33
34 35
Vgl. Abou el-Fadl, Islamic Law (s. Anm. 9), 229–231. So setzte z. B. der zweite Kalif ÝUmar (634–644) eine Frau, ŠaffaÝ bint ÝAbd AllÁh, als Leiterin der Gewerbeaufsicht in Medina ein. Vgl. Khaled Abou El Fadl, In Recognition of Women, in: http://scholarofthehouse.stores.yahoo.net/ inreofwobykh.html. S. Anm. 31. Vgl. Barbara Stowasser, Gender Issues and Contemporary QurÞan interpretation, in: Yvonne Yazbeck Haddad/John L. Esposito (Hg.), Islam, Gender and Social Change, Oxford 1998, 30–44.
139
der Gleichheit konturiert ist.36 Einen großen Stellenwert in WadudMuhsins Arbeit nimmt auch die sorgfältige Untersuchung der Begriffe, ihrer Bedeutungen und grammatikalischen Funktionen ein. Für WadudMuhsin existieren im Umgang mit dem Koran zwei Textlevel, der Priortext, der sich aus den Perspektiven, Umständen und Hintergründen der jeweiligen Interpreten zusammensetzt, und der Megatext, dem Text des Korans an sich.37 Ihre Interpretation der Sure 4,2 fordert die Vorstellung von Adam als erstem Menschen und einer zweitrangigen Eva heraus, indem sie darauf aufmerksam macht, dass der Begriff für Wesen (nafs) grammatikalisch 36 37
140
Vgl. hierzu Amina Wadud, QurÞan and Woman. Rereading the Sacred Text from a Woman’s Perspective, Oxford 1999, 25 f. In neueren Arbeiten erfährt ihr hermeneutischer Ansatz eine Steigerung: Während sie bislang Texte des Korans an sich als Text bejahte und Modifikationen vornahm, also ein ja, aber zum Text innehatte und dann zu einem vielleicht nein neigte, geht sie jetzt an einigen Stellen zu einem entschiedenen nein. Sie beschreibt diesen neuen Ansatz mit »Textintervention«, to intervene with the Text, was die mögliche Ablehnung expliziter Verse bedeutet. Vgl. Amina Wadud-Muhsin, Inside the Gender Jihad, Oxford 2006, 202–204, und www.muslimwakeup.com/main/archives/2005/02/amina-WadudMuhsin-res.php. Hier scheint Wadud-Muhsin keinen anderen Weg zu sehen, als Texte, die eine überaus nachteilige Rezeptionsgeschichte in Bezug auf Frauenrechte aufweisen, als nicht mehr zu reflektierendes Material abzulehnen, ohne allerdings entsprechende Text an sich aus dem koranischen Kanon streichen zu wollen. Dies lässt sich insofern problematisieren, als dass sie damit indirekt eine bestimmte (Frauen-benachteiligende) Deutungstradition als maßgebend wertet und ihr zusätzliches autoritatives Gewicht gibt und sie somit unantastbarer macht, als sie es in der islamischen Geschichte war und heute ist, weil sie Text und Interpretation an dieser Stelle nahezu gleichsetzt. Darüber hinaus ist diesem Standpunkt implizit mitgegeben, diverse hermeneutische Mittel und rezeptionsgeschichtliche Entwicklungen von bestimmten Texten in ihrer Tragweite zu beschränken. So ließen sich zum Beispiel mit dem Argumentationswerkzeug aus dem islamischen Recht, dass, wenn der Rechtsgrund eines Textes (Ýilla) sich ändert, sich die entsprechende Rechtswirksamkeit (Îukm) dieses Textes ebenfalls ändern muss, unter anderem Erbschaftsgesetze neu modifizieren: Wenn es in einem überwiegend patriarchalen Gesellschaftssystem des 7. Jahrhunderts unter Einbeziehung aller gesellschaftsrelevanten Faktoren gerecht zu sein schien, dass Frauen anteilig weniger erbten als Männer, und diese Strukturen aber im Wandel bzw. in Auflösung befindlich sind und weiterhin Gerechtigkeit gewahrt werden soll, dann wären die Erbschaftsgesetze entsprechend zu modifizieren und würden nicht mehr dem Wortlaut des koranischen Textes entsprechen, wohl aber seines Geistes. Die diesbezüglich zu führenden und geführten Diskussionen können in diesem Rahmen nur angedeutet werden.
feminin ist und konzeptuell geschlechterneutral, während der Begriff für Gefährtin (zauÊ) grammatikalisch maskulin ist und ebenfalls konzeptuell geschlechterneutral. Die Präposition von (min) kann in der arabischen Sprache sowohl für ›aus etwas herausextrahiert‹ bedeuten als auch ›von der gleichen Art‹. Im Vergleich mit allen Parallelstellen im Koran kommt Wadud-Muhsin zu dem Schluss, dass dieser Vers in folgender Übersetzung dem arabischen Original näher kommt: »O Menschen. Seid achtsam in eurem Dienst an eurem Herrn, der euch aus einer einzigen Seele (nafs) geschaffen hat und von der gleichen Art ihren Gefährten, und von diesem Paar ließ Er viele Männer und Frauen sich über die Erde verbreiten. […]«38 Für Wadud-Muhsin gibt es keinen Fall aus dem Paradies, denn Gott wollte die Menschen (Mann und Frau) auf der Erde als seine Treuhänder und nicht im Paradies. Wadud-Muhsin sieht im Baum das Symbol für eine Prüfung Gottes, indem Adam und Eva als Eltern aller Menschen die Erfahrung machen von vergessen, verführt werden, erinnern, bereuen und Vergebung erhalten und Rechtleitung erlangen. Es ist für WadudMuhsin ein Reifeprozess, der die Menschen stärken soll, ihre Bindung zu Gott bewusst zu pflegen.39
4. Möglichkeiten und Grenzen im Dialog zwischen Heiliger Schrift, hermeneutischen Zugängen und interpretatorischen Erkenntnissen Eine der Gerechtigkeit verpflichtete Hermeneutik des Korans kann helfen, die Unangemessenheit Frauen marginalisierender Interpretationen der Heiligen Schrift aufzuweisen. Und trotzdem: Es wäre übertrieben, sachlich falsch und apologetisch, den Koran als feministisches Handbuch zu betrachten. Er ist in eine patriarchale Gesellschaft hinein gesprochen.40 Es wäre aber auch eine Missachtung des Korans, würde man sein reformatorisches und revolutionäres Potenzial nicht bedenken. Moosa 38 39 40
Übersetzung der Verfasserin aus dem Engl., vgl. Wadud, QurÞan and Women (s. Anm. 36), 15–28, vgl. auch die TafÁsÐr von Muhammad Asad und Yusuf Ali zu Sure 4,2. Vgl. Wadud, QurÞan and Women (s. Anm. 36), 23–27. Zur patriarchal geprägten Ausdrucksweise des Korans vgl. Andrew Rippin, QurÞÁn: QurÞÁn and Early TafsÐr, in: Encyclopaedia of Muslim Women and Islamic Culture (s. Anm. 7), Bd. 1, 266–268.
141
formuliert den menschlichen Anteil an diesem Potenzial folgendermaßen: »Textfundamentalism in part perpetuates the fiction that the text actually provides the norms, and we merely ›discover‹ the norms. The truth is that we ›make‹ the norms in conversation with the revelatory text.«41 Das heißt nichts anderes, als dass jede Interpretin und jeder Interpret mit ihren bzw. seinen Fragen, Bedürfnissen und Erkenntnissen der jeweiligen Zeit und geformt durch das Muster der eigenen Persönlichkeit und Erfahrungen Werte und Normen im Koran entdeckt und sie wiederum zu hermeneutischen Schlüsseln ihrer bzw. seiner interpretatorischen Arbeit macht. Es gäbe demnach keinen objektiven Ausgangspunkt und vielleicht auch keinen Referenzpunkt außerhalb der Tradition. Die Vernunft42, als Mittel zu Erkenntnis, hat nach islamischer Philosophie ihren Sitz im Zentrum des Herzens.43 Wenn Gott nun ohne Grenzen ist, der Koran ein Ausdruck von Ihm ist und nach einer Überlieferung es allein das menschliche Herz ist, das Gott fassen kann,44 so liegen im Menschen
41 42
43
44
142
Ebrahim Moosa, The Depths and Burdens of Critical Islam, in: Omid Safi
(Hg.), Progressive Muslims. On Justice, Gender and Pluralism, Oxford 2003, 111–114. »Nevertheless, if a Muslim’s conscience is disturbed, the least that would be theologically expected from thinking beings who carry the burden of free will, accountability and God’s trust, is to take a reflective pause, and ask: to what extent did the Prophet really play a role in the authorial enterprise that produced this tradition? Can I consistently with my faith and understanding of God and God’s message, believe that God’s Prophet is primarily responsible for this tradition? This is not an invitation to the exercise of whimsy and feel-good determinations. The duties of honesty, self-restraint, diligence, comprehensiveness, and reasonableness demand that a Muslim make a serious inquiry into the origin, structure, and symbolism of the authorial enterprise that produced the tradition before simply waving it away and proceeding on his merry way. The conscientious-pause would obligate the Principal’s agent to apply thorough critical thought to the tradition in question, in search for the role of the Prophet in it.« (Abou elFadl, Islamic Law [s Anm. 9], 213) Angedeutet ist dies u. a. in der Bedeutung des koranischen Begriffs lubb/albÁb: Heart, Understanding, Intellect. Vgl. John Penrice, A Dictionary and Glossary of the KorÞÁn with Copious Grammatical References and Explanations of the Text, New York u. a., 130. Dies bezieht sich auf folgende Tradition, die als HadÐ× qudsÐ überliefert ist: »Himmel und Erde umfassen Mich nicht, aber das Herz Meines gläubigen Dieners umfasst Mich.« Vgl. Maulana Dschalaladdin Rumi, Von Allem und vom Einen. FÐhÐ mÁ fÐhÐ, übers. von Annemarie Schimmel, München 1988,
sowohl Grenzen des Verstehens aufgrund seiner menschlichen Natur als auch seine Fähigkeit, diese immer wieder neu zu überschreiten. Dieser Weg würde dann weiterhin durch islamische Prinzipien gekennzeichnet sein, wenn die Bemühungen auf diesem Weg geleitet wären durch die Erkenntnis, dass der Mensch im Beziehungsgeflecht von dÐn45 das Wohl aller Geschöpfe Gottes bedenken sollte.
45
47, mit Rückbezug auf B. FurÙzÁnfar, AÎadÐth-i MathnawÐ, Teheran 1959, Nr. 63. Ein religiöses Leben ohne die Pflege der Beziehungen zu den Mitgeschöpfen ist nach islamischer Überzeugung ein Widerspruch in sich. Im Koran wird die Haltung, in der eine ethisch-motivierte gelebte Praxis nicht gepflegt wird, wohl aber die eigene persönliche spirituelle Dimension, stark kritisiert: »Hast du den nicht gesehen, der die Religion (dÐn) lügenhaft nennt? Das ist der, der die Waisen verstößt und nicht zur Speisung der Armen antreibt. So wehe denen, die Gebete sprechen, doch ihres Gebetes uneingedenk sind, die nur gesehen sein wollen und die […] Dienste nicht erweisen.« (Sure 107,2–8) Vgl. auch Esack, Liberation (s. Anm. 5), Kap. 3: Hermeneutical Keys. The Enganged Interpreter and the Search for Liberating Meaning.
143
Die Leserin entscheide! Chancen und Grenzen feministischer Interpretationsparadigmen Kerstin Rödiger
1. Feministische Hermeneutik Von einer Systematisierung feministischer Hermeneutik kann im deutschsprachigen Raum eigentlich erst seit ca. 30 Jahren gesprochen werden, auch wenn es zuvor Beispiele von Ausnahmefrauen gab, die bereits an und mit einer feministischen Hermeneutik arbeiteten.1 Aber erst durch die Stoßkraft der zweiten Welle der Frauenbewegung seit den 1960er Jahren und den Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde das Studium der Theologie für Frauen unbeschränkt zugänglich und somit zugleich ein institutioneller Rahmen vorgegeben, der es ermöglichte, feministische Forschung kontinuierlich zu betreiben und weiterzuentwickeln. Zwar bedient sich die feministische Hermeneutik keiner anderen oder gar grundlegend neuen Methoden, vielmehr geht es ihr darum, einen in der exegetischen Forschung bisher unterbelichteten Aspekt verstärkt zu fokussieren.2 Die Motivation der christlich-feministischen Hermeneutik entspricht dabei der muslimisch-feministischen: Es geht erstens in theologischer Hinsicht darum, in der Auslegung der jeweiligen heiligen Schriften einen Gott zu zeigen, der Gerechtigkeit unter Menschen – somit auch unter Männern und Frauen – will, und es geht zweitens in gesellschaftspolitischer Hinsicht darum, diese Gerechtigkeit auch durch die Verbesserung der sozialen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern anzustreben. 1 2
144
Vgl. Luise Schottroff/Silvia Schroer/Marie-Theres Wacker, Feministische Exegese. Forschungsbeiträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1997, 3–26. Vgl. ebd. 61.
Für die deutschsprachige Exegese ist das historisch-kritische Instrumentarium immer noch grundlegender Ausgangspunkt. Daneben erstarken jedoch die sozialgeschichtlichen und die am »literary criticism« orientierten literaturwissenschaftlichen Methoden; zunehmend werden auch verschiedene Methoden kombiniert. Am umfangreichsten wurde diese Erweiterung des Methodenspektrums von Elisabeth Schüssler Fiorenza in ihrem sogenannten »Weisheitstanz«, den sie auch hermeneutischen Tanz nennt, erarbeitet.3 Es ist hier nicht möglich, alle ihre hermeneutischen Schritte ausführlich darzustellen. Daher werde ich im folgenden Beispiel vor allem mit dem historisch-kritischen Instrumentarium arbeiten, dieses jedoch um andere Ansätze ergänzen und im Rahmen der Reflexion schließlich auf den »hermeneutischen Tanz« zurückkommen, da dieser Chancen und Grenzen der exegetischen Arbeit zu erhellen vermag.
2. Feministisch ausgerichtete historisch-kritische Hermeneutik am Beispiel des zweiten Schöpfungsberichts (Gen 2,4b–3,24) 2.1
Der biblische Quellentext
Der Quellentext ist von einem Autor geschrieben, der in der Forschung als »Jahwist« bezeichnet wird, da er Gott den Eigennamen »Jahwe« gibt. Die Schöpfungserzählungen stehen am Anfang der Bibel im Buch Genesis und sind somit Teil der jüdischen Tora. Im Unterschied zum Koran werden die Schöpfungsgeschichten zusammenhängend als Erzählungen überliefert. Sie sind Teil der sogenannten Urgeschichte, die bis zum 11. Kapitel reicht und neben den beiden Schöpfungsberichten sowie den Erzählungen des Paradieses und der Vertreibung daraus auch vom ersten Geschwisterpaar Kain und Abel, von der Sintflut und der Sprachenverwirrung handelt. Es werden also genau genommen mehrere »Sündenfälle« berichtet, in denen es immer um die Entfremdung der Menschen
3
Vgl. für eine ausführliche und kritische Darstellung Kerstin Rödiger, Der Sprung in die Wirklichkeit. Impulse aus dem rhetorischen Ansatz Elisabeth Schüssler Fiorenzas für die Rezeption biblischer Texte in narrativer Sozialethik, Münster 2009.
145
untereinander und/oder zwischen den Menschen und Gott geht und die sich insgesamt noch vor jeglicher Zeitrechnung befinden.4
2.2
Kontextualisierung des Genesis-Textes im christlichen Kanon
Feministische Exegese untersucht Texte in ihren verschiedenen Kontexten, wodurch sich auch eine gewisse Systematisierung der hermeneutischen Herangehensweisen nahelegt. So geht eine vornehmlich sozialgeschichtlich ausgerichtete Hermeneutik dem Kontext zur Abfassungszeit eines Textes nach, um zu ergründen, wie der betreffende Text in der damaligen Zeit verstanden wurde bzw. welche Zielsetzungen und Wirkabsichten seitens des Autors mit ihm verbunden waren. Eine damit einhergehende Arbeit besteht darin, auch die Auslegungen der biblischen Texte in wiederum deren eigenem (Auslegungs-)Kontext zu verstehen. Neben der Ursprungssituation, in der ein Text geschrieben wurde, ist aber auch der Gegenwartskontext ausschlaggebend, um die Texte in ihrer heutigen Bedeutung erschließen zu können. Dabei erklärt sich die sehr ausgefeilte und von vornherein plural denkende feministische Hermeneutik vor dem Hintergrund, dass sie von Beginn an gezwungen war, Interpretationen der Urtexte kritisch in Bezug auf den Kontext der Auslegung zu reflektieren.5 Eine interessante Frage scheint mir darüber hinaus im Hinblick auf den islamisch-christlichen Dialog die Gewichtung der sekundären Interpretationen zu sein. So halte ich die Bedeutung der Kirchenväterschriften (und der späterer Theologen) kaum mit der Bedeutung vergleichbar, die etwa im Islam die Hadithe haben.6 Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Ausführungen beschränke ich mich hier zunächst auf den innerbiblischen und sozialgeschichtlichen Kontext, um dann auf den heutigen Kontext einzugehen. Es ist zunächst festzustellen, dass innerhalb der Bibel auf Gen 2 und 3 nur sehr begrenzt Bezug genommen wird. Die vielen prophetischen Bücher etwa, bei denen es immer wieder um das Thema »Sünde« geht, beziehen sich gar nicht auf diese Genesis-Texte. Im Ersten Testament ist es vor allem die weis4 5 6
146
Vgl. Helen Schüngel-Straumann, Die Frau am Anfang. Eva und die Folgen, Freiburg 1989, 96 f. Vgl. Ilse Müllner, Art. Hermeneutik, in: Elisabeth Gössmann u. a. (Hg.), Wörterbuch Feministische Theologie, Gütersloh 22002, 276–280. Dies zeigte sich in der sich an die Vorträge anschließenden Diskussion im Forum.
heitliche Literatur, die an wenigen, aber sehr einflussreich gewordenen Stellen Rückbezüge herstellt:7 In Sir 25,24 wird von der Frau gesagt, dass ihretwegen die Sünde in die Welt kam und wir Menschen ihretwegen sterben müssten, und in Koh 7,26–29 wird das Böse mit dem Tod und dieser mit der Frau gleichgesetzt. Im Buch der Sprichwörter wird die Frau sowohl positiv als auch negativ beschrieben (vgl. Spr 11,16.22). Kennzeichnend ist, dass in den meisten nachbiblischen Interpretationen nur auf frauenfeindliche Bemerkungen Bezug genommen wird, Positives jedoch unter den Tisch fällt. Unter den Jesusworten im Neuen Testament finden wir keine negativen Aussprüche über die Frau im Allgemeinen. Beim Scheidungsverbot bezieht sich Jesus auf die Genesis-Texte und bezeichnet Mann und Frau als von Gott geschaffen und zu einer Einheit zusammengefügt (Mk 10,2– 12 par); er stellt hier also keine direkte Geschlechterhierarchie her. Anders verhält es sich im ersten Brief des Paulus an die Korinther. In 1Kor 11 wird explizit eine hierarchische Schöpfungsordnung angenommen, die sich aus der erst sekundären Erschaffung der Frau, wie sie Gen 2–3 erzählt, ableite. Christus sei das Haupt des Mannes, während der Mann das Haupt des Weibes sei, weil er vor ihr geschaffen wurde.8 Im ersten Timotheusbrief finden wir den zweiten schwerwiegenden Rückbezug auf den Genesis-Text, mit dem die Frau dafür verantwortlich gemacht wird, dass die Sünde in die Welt kam (1Tim 2,11–15).9 Diese beiden Texte markieren den Anfang einer Auslegungsrichtung, die für die christliche Interpretation über Jahrhunderte hinweg bestimmend bleiben sollte. Sie lieferten die Interpretationsschlüssel des Sündenfalls und der hierarchischen Unterordnung. Ich möchte nun auf 7 8
9
Vgl. Schüngel-Straumann, Eva (s. Anm. 4), 79–86. »Ihr sollt aber wissen, dass Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi. [...] Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann.« (1Kor 11,3.7–9, Einheitsübersetzung) »Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen. Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Denn zuerst wurde Adam erschaffen, danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot. Sie wird aber dadurch gerettet werden, dass sie Kinder zur Welt bringt, wenn sie in Glaube, Liebe und Heiligkeit ein besonnenes Leben führt.« (1Tim 2,11–15, Einheitsübersetzung)
147
den eigentlichen biblischen Schöpfungsbericht zu sprechen kommen und auf die in der Interpretationsgeschichte oft wiederholten frauenfeindlichen Optionen eingehen. Diese bezeichne ich als »Widerhaken«, da sie sich durch die Zeiten hindurch als Fallstricke erweisen.
2.3
»Widerhaken« im biblischen Text und feministische Reaktionen darauf
Die Widerhaken befinden sich im zweiten Schöpfungsbericht, Gen 2,4b– 3,24, der Erzählung vom Paradies. Es lassen sich sechs solcher Widerhaken formulieren. Ausführlicher gehe ich jedoch nur auf den ersten ein.
a) Eva ließ sich als Erste verführen und verführte dann den Mann. Dieser gegen Eva gerichtete Vorwurf, durch ihre Verführbarkeit die Sünde in die Welt gebracht zu haben, wiegt wohl letztendlich am schwersten. Wir sahen dies bereits im zitierten Text aus dem Timotheusbrief. Tertullian, der römisch-christliche Schriftsteller aus dem 2./3. Jahrhundert, schreibt bereits: »Du [Eva] bist es, die dem Teufel Eingang verschafft hat, du hast zuerst das göttliche Gesetz im Stich gelassen, du bist es auch, die denjenigen betört hat, dem der Teufel nicht zu nahen vermochte. So leicht hast du den Mann, das Ebenbild Gottes, zu Boden geworfen. Wegen deiner Schuld, das heißt um des Todes willen, musste auch der Sohn Gottes sterben.«10 Diese Argumentation finden wir dann auch im sogenannten Hexenhammer (Malleus maleficarum, 1487) wieder, der an der Wende zur Neuzeit Argumente gegen Frauen sammelte, um diese in den Anklageprozessen gegen sogenannte Hexen einzusetzen: »Es erhellt sich auch bezüglich des ersten Weibes, daß sie von Natur geringeren Glauben haben; sie sagte der Schlange auf ihre Frage, warum sie nicht von jedem Baume des Paradieses äßen: ›Wir essen von jedem, nur nicht etc., damit wir nicht etwa sterben‹, wobei sie zeigt, daß sie zweifle und keinen Glauben habe an die Worte Gottes, was alles auch die Etymologie des Wortes 10
148
Irene Leicht u. a. (Hg.), Arbeitsbuch feministische Theologie. Inhalte, Methoden und Materialien für Hochschule, Erwachsenenbildung und Gemeinde (mit CD-ROM), Gütersloh 2003, hier zit. aus »Blütenlese«, zusammengestellt von Claudia Rakel, CD-ROM, Abschnitt 6.3.2.
sagt: Das Wort femina nämlich kommt von ›fe‹ und ›minus‹ (fe = fides, Glaube, minus = weniger, also femina = die weniger Glauben hat), weil sie immer geringeren Glauben hat und bewahrt, und zwar aus ihrer natürlichen Anlage zur Leichtgläubigkeit [...].«11 Dagegen weisen feministische Argumentationen zunächst auf das Interesse, das hinter der einseitigen Textauswahl steht, hin, denn es gibt, wie bereits erwähnt, mehrere »Sündenfälle« in der Urgeschichte. So wurde der Brudermord von Kain an Abel in späteren Auslegungen nie dazu herangezogen, um Männern eine größere Schuld an der Sünde zu geben.12 Als zweites Gegenargument greift etwa Helen SchüngelStraumann auf den Vergleich mit anderen inner- und außerbiblischen Textzeugnissen zurück. So wird in Ez 28,11–19 eine interessante Parallele zur Erschaffung des Mannes erzählt: Ein Mann – angesprochen ist hier der König von Tyrus – hatte im Garten Eden gelebt, war jedoch wegen seiner Sünde (28,16: Gewalttat) vom einst schützenden Cheruben vertrieben worden. Eine Frau kommt hier gar nicht vor, so wenig wie in der bekanntesten außerbiblischen Geschichte mit ähnlichen Motiven, dem Gilgamesch-Epos.13 Daraus schlussfolgert Schüngel-Straumann ein besonderes Interesse des Jahwisten an der Frau, die im Genesis-Text absichtlich in wohl vorgefundene schöpfungsgeschichtliche Texte eingefügt worden sei. Diese jahwistische Einarbeitung ist allerdings nicht konsequent durchgeführt worden. So ergibt sich innerhalb der Urgeschichte bereits dadurch eine Spannung, dass die Frau auf der Textebene nicht von Gott für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen wird.14 Diese Argumentationsweise greift auf das Instrumentarium der Literarkritik aus dem historisch-kritischen »Handwerkskoffer« zurück, hinterfragt allerdings deren Interpretationsbrillen und kann andere Auslegungsmöglichkeiten plausibel machen. Mit Hilfe altorientalischer Ikonografie lässt sich erklären, warum ausgerechnet die Frau mit der Schlange spricht. Das Baummotiv, das in diesem Textabschnitt zentral ist, wird in der altorientalischen Ikonografie
11 12 13 14
Ebd. Vgl. Schüngel-Straumann, Eva (s. Anm. 4), 136. Vgl. ebd. 101. Im Gilgamesch-Epos wird die Frau als Dirne nur gebraucht, um den wilden Helden in einen Kulturmenschen und Mann zu verwandeln. Vgl. ebd. 108–110. Auch die im Text variierende Anzahl der Bäume lässt sich darauf zurückführen. Vgl. ebd. 102.
149
sehr oft mit einer Frau verbunden.15 Der Schreiber oder Redakteur des vorliegenden Genesis-Textes hat vermutlich auf dieses ihm vertraute Bild zurückgegriffen, da auch er ein Kind seiner Zeit war. In Bezug auf die »Schlange« und in ihren Worten (Gen 3,1 ff.) ist weiterhin ein raffiniertes Wortspiel enthalten, weil aus der hebräischen Wurzel arm sowohl die Worte arom (klug) als auch arum (nackt) gebildet werden können. Wie im Arabischen fehlen im Hebräischen die Konsonanten. Die Schlange ist also klug und/oder nackt, und sie verspricht der Frau, klüger (oder »nackter«?) zu werden. Dieses doppeldeutige Versprechen hält die Schlange in beiderlei Hinsicht: Die beiden ersten Menschen erkennen ihre Nacktheit und sind somit beides, klüger und nackter. Wovon nun aber gar nichts im Text steht, ist eine Verbindung zwischen Schlange und Teufel – im Gegenteil: Die Schlange wird explizit als von Gott geschaffen vorgestellt (Gen 3,1a), und darüber hinaus wird das, was die Schlange verspricht, im Letzten auch erfüllt, allerdings anders, als es sich die Frau vielleicht vorgestellt hatte. Die Brille, mit der die christliche Interpretation über Jahrhunderte den Schöpfungstext las, stammt also nicht aus dem Urtext, sondern aus der neutestamentlichen Interpretation. Die Geschichte über Eva, den Baum und die Schlange erhielt in dieser Interpretation die Vorzeichen der sogenannten Verführung und den expliziten Titel »Sündenfall«. Aber wenn man mit Hilfe der feministischen Exegese genau hinsieht, steht das Wort Sünde, ein Terminus technicus, der in Gen 4 in der Erzählung von Kain und Abel verwendet wird (Gen 4,7), hier nicht im Text. Vielmehr ist immer wieder von einem Gebot und dessen Übertretung die Rede. Für Schüngel-Straumann ist die Aussage, gut und böse zu erkennen, eine ganzheitliche Aussage, die den späteren Einzelsünden vorausgeht. Sie geht davon aus, dass es grundsätzlich darum geht, nicht wie Gott werden zu wollen, und das bedeutet, die Gebote nicht zu übertreten. Dagegen wird weder von Sünde gesprochen noch eine Erklärung für das Böse in der Welt gegeben.16 Letzteres finden wir in keiner der Erzählungen in den elf Kapiteln der Urgeschichte. Die Herangehensweise feministischer Exegese stützt sich auch in diesem Beispiel auf die historisch-kritische Exegese. Es muss »Schicht 15
16
150
Vgl. ebd. 118, und Silvia Schroer, Die Zweiggöttin in Palästina/Israel. Von der Mittelbronze IIB-Zeit bis zu Jesus Sirach, in: Max Küchler/Christoph Uehlinger (Hg.), Jerusalem: Texte – Bilder – Steine, Freiburg/Schweiz 1987, 201–225. Vgl. Schüngel-Straumann, Eva (s. Anm. 4), 120f.
für Schicht abgetragen werden, bis man – vielleicht – auf Fels stößt. Eine ernsthafte feministische Theologie muß diese mühsame Arbeit auf sich nehmen, denn die lange Wirkungsgeschichte gehört mit zur Auslegung des biblischen Textes.«17 Diese mühsame Arbeit übernehmen ExegetInnen auch für die anderen Widerhaken im Text, wobei ich dazu nur exemplarisch die hauptsächlichen Gegenargumente darstellen werde.
b) Die Frau wird besonders schwer bestraft und kann nur durch das Gebären von Kindern gerettet werden. Die eigentliche Konsequenz der Übertretung – wohlgemerkt nicht der Sünde (dieser Begriff wird, wie oben bereits erwähnt, in Gen 2–3 gar nicht verwendet) – ist für die Menschen die Vertreibung aus dem Garten Eden, wie sie auch in Ez 28 geschildert wird. Alle genannten Konsequenzen, auch die für die Schlange, sind eigentlich keine Strafen, sondern Zustandsschilderungen, die so aber nicht gottgewollt sind, da sie im narrativen Ablauf der Schilderung nicht zum Paradies, also dem gottgewollten Zustand, sondern zur Zeit danach gehören. Diese innertextliche Argumentation, die also nicht mit Kontextualisierung durch außerbiblische Zeugnisse arbeitet, sondern eng am Text bleibt und diesen auf seine narrativen Elemente untersucht, gewinnt aktuell an Bedeutung und stellt eine wichtige Bereicherung des historisch-kritischen Instrumentariums dar.18 Im eigentlichen Sinne »verflucht« werden im Text nur die Schlange und der Ackerboden. Über die Frau wird keine Verfluchungsformel ausgesprochen, ebenso wenig wie über den Mann. Vielmehr trifft das, was über den Mann gesagt wird, auch auf die Frau zu: Beide müssen sich unter Mühen ernähren und werden sterben. Was oft mit »große Schmerzen« (bei der Geburt) übersetzt wird, bezeichnet vom Begriff her dasselbe wie beim Mann: die »mühselige Arbeit«. Bereits in der Übersetzung wird also die Konnotation verändert.19 An den Interpretationen dieser Strafaussagen lässt sich zeigen, wie wichtig der Fokus der eigenen Interpretation ist. Claus Westermann interpretiert die Strafaussage gegenüber der Frau – im Gegensatz zu 17 18
19
Ebd. 7. Diese Methoden werden von Schottroff u. a. zum literaturwissenschaftlichen Instrumentarium gezählt und zeichnen sich dadurch aus, dass sie ganz im Text bleiben, ohne auf den Kontext des Autors einzugehen. Vgl. Schottroff, Feministische Exegese (s. Anm. 1), 67–72. Vgl. Schüngel-Straumann, Eva (s. Anm. 4), 131.
151
Schüngel-Straumann – als Ansage, dass der Schmerz der Frau verbunden ist mit ihrer Freude und ihrer Bestimmung, die im Gebären von Kindern und in der Mutterschaft liegen.20 Daraus zieht die Alttestamentlerin Kerstin Ulrich folgenden Schluss: »Die beiden Interpretationen zeigen m. E. die beiden Eckpunkte der Interpretationsmöglichkeiten des Teilverses 16b. Die Interpretin/der Interpret muß sich entscheiden, ob sie/er die Frau in ihrer biologischen Konstitution im Gegenüber zum Mann bestimmt wissen will oder ob sie/er sich den Spiegel vorhalten läßt und in den Herrschaftsverhältnissen eine Bestimmung und zugleich eine Aufgabe, sie zu überwinden, erkennt.«21
c) Der Mann wurde zuerst geschaffen. Dieser Aussage ist entgegenzuhalten, dass nicht zuerst ein Mann, sondern Adam geschaffen wurde. Adam leitet sich vom hebräischen Wort adama (Erde, Erdboden) her, er ist also der »Erdling« – ein Gattungswesen, das in der Übersetzung mit »Mensch« wiederzugeben ist. Zu einem geschlechtlichen Wesen wird Adam erst, als die Frau von Gott geschaffen wird. Im zweiten Schöpfungsbericht erfolgt diese Differenzierung im Verlauf der Erzählung und wird begrifflich gefasst, indem in Gen 2,23 explizit von iš und išah, Mann und Frau, gesprochen wird. So wie die Frau später den Eigennamen Eva erhält, wandelt sich die Gattungsbezeichnung Adam zu einem Eigennamen, was durch einen Artikel vor dem Wort Adam gekennzeichnet, im Text allerdings nicht ganz konsequent durchgehalten wird.
d) Die Frau wurde dem Mann als Hilfe geschaffen. Auch bei dem Begriff der Hilfe aus Gen 2,18.20 gibt es eine starke innerbiblische Tendenz, ihn in Richtung »Hilfsarbeiterin« oder gar »Sklavin« um- und damit abzuwerten. Aber der an dieser Stelle verwendete hebräische Ausdruck ezer k enegdo meint, wie man im Vergleich mit weiteren biblischen Belegstellen feststellen kann, eine sehr professionelle
20 21
Vgl. Claus Westermann, Genesis 1–11, Neukirchen-Vluyn 1974, 357. Kerstin Ulrich, Evas Bestimmung. Studien zur Beurteilung von Schwangerschaft und Mutterschaft im Ersten Testament, in: Hedwig Jahnow u. a., Fe-
ministische Hermeneutik und Erstes Testament, Stuttgart 1994, 149–163, 155.
152
Hilfe, die sonst vor allem von Gott ausgesagt wird.22 Es geht also nicht um Unterordnung, weshalb der Begriff der »Gefährtin« für die Übersetzung sicher angebrachter ist. Die Frau ist dem Mann das lang ersehnte und gesuchte Gegenüber, das er in den Tieren nicht vorfand.
e) Die Frau wurde aus der Rippe des Mannes geschaffen. Die Rippe wurde gegenüber der Erde, aus der der Mann geschaffen worden war, vielfach als minderwertigeres Material angesehen. Aber auch diese Interpretation beruht wieder auf einem Vorverständnis, das der Frau einen minderwertigen Status einräumen möchte, denn das hebräische Wort für »Rippe« in Gen 2,21f. bedeutet auch »Seite«, was auf einen Tragbalken und somit ein festes, stabiles Material hinweist. Die Erschaffung der Frau durch Gott ist ein anderer Vorgang, was sich auch in einem anderen Schaffensverb (bnh [bauen] statt jÒr [bilden, formen]) ausdrückt. Eigentlich lässt sich aus Gen 2,23 keine Hierarchie, sondern vor allem eines herauslesen: die gegenseitige Zuwendung und Angewiesenheit von Mann und Frau, die das Ziel dieser ganzen Erzählung darstellt, in der die Tiere nur als Versuch gelten.23
f)
Die Frau erhält durch den Mann ihren Namen, was einem Herrschaftsanspruch über sie gleichkommt.
Es gibt zwei Stellen, an denen es zu einer Umbenennung kommt. Auf die erste bin ich bereits unter Punkt c) eingegangen; dort wurde deutlich gemacht, dass auch Adam seinen Namen erst im zweiten Schritt von Gott erhält. Wenn sich aus der Reihenfolge eine Wertigkeit ergeben sollte, dann müsste sich in derselben Logik auch eine Vorrangigkeit der Erde ergeben, da diese ja vor Adam da war. Eine derartige Interpretation findet sich jedoch in keinem Kommentar.24 Anders verhält es sich in Gen 3,20. Dort wird die Frau tatsächlich durch den Mann benannt, er gibt ihr den Namen Îawwah, das heißt die »Lebenschaffende«. Der Name wird im Text von hebräisch Îaj (Leben) abgeleitet. Darin sieht Schüngel-Straumann einen sehr alten Namen, 22 23 24
Vgl. Phyllis Trible, Gegen das patriarchale Prinzip in Bibelinterpretationen, in: Elisabeth Moltmann-Wendel, Frauenbefreiung. Biblische und theologische Argumente, München 41986, 93–117, 101. Vgl. Schüngel-Straumann, Eva (s. Anm. 4), 104–106. Vgl. ebd. 143.
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nämlich den einer ursprünglich lebenspendenden (Mutter-)Göttin. Es ist ein Hohn, dass ausgerechnet dieser Name in diesem Herrschaftsakt verwendet wird.25 Damit verlassen wir die Ebene der Textarbeit, das Abtragen der Schichten, wie es Schüngel-Straumann nennt. Im letzten Punkt wollen wir nochmals einen Schritt zurücktreten und auf die Hermeneutik reflektieren, die von den genannten ExegetInnen vertreten wird.
3. Chancen und Grenzen: inspirierte Interpretation Um den Schritt zur Hermeneutik machen zu können, die von den genannten ExegetInnen vertreten wird, möchte ich einige historische Stimmen zu Wort kommen lassen, die andere Interpretationsmöglichkeiten aufzeigen.26 Zunächst zwei Stimmen zum Thema »Hilfe«. Nicht zwangsläufig muss dieser Begriff hierarchisch verstanden werden: »Dabei hat Gott selbst gesagt, ›eine Hilfe, ihm ähnlich‹, und hat damit alle Zweifel an der Gleichheit von Mann und Frau ausgeräumt. Wenn sie Dir ähnlich ist, Du Stolzer, ist sie nicht Dir unterlegen. Wenn sie Dir als Hilfe gegeben ist, hat sie Dir nicht als Sklavin zu dienen.« (Arcangela Tarabotti, 17. Jahrhundert) »[...] auß der schrifft bekannt und wahr daß Eva werender Zeit Ihrer Unschuld dem Adam keinesWegs unterworffen sondern dazu allein erschaffen gewesen daß sie dem Adam (als seines Gleiche) ein freywillige Gehülffin seyn und Ihme allein auß Lieb und affection (ohne einigen zwang oder Schuldigkeit) Beystand leisten solte.« (Wilhelm Ignatius Schütz, 1663) Auch die Verknüpfung zwischen Eva und dem Begriff der »Sünde« wird schon im 16. Jahrhundert von einer italienischen Schriftstellerin in Frage gestellt: »Zum Schluß muß ich noch auf die leichtfertigen Argumente einiger Männer eingehen. Hauptsächlich führen sie an, Eva sei die Ursache 25 26
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Vgl. ebd. 144–146. Vgl. für eine ausführliche Darstellung Kristen E. Kvam u. a. (Hg.), Eve & Adam. Jewish, Christian, and Muslim Readings on Genesis and Gender, Bloomington 1999. Alle folgenden Beispiele sind entnommen aus Rakel, Blütenlese (s. Anm. 10).
für die Sünde Adams und folglich für unseren Fall und unser Elend gewesen. [...] Doch liest man nicht in der Bibel, daß sie ihn mit Bitten, Klagen oder zornigen Worten dazu antrieb, vielmehr glaube ich, sie brachte ihn auf dem Weg des guten Rates dahin. [...] Doch wußte sie nicht, daß zu essen davon eine Sünde war, und ebenso wenig erkannte sie, daß die Schlange, welche ihr diese Größe versprach, der Teufel war. [...] Wie können wir dann sagen, daß sie sündigte? Denn die Sünde setzt ja eine vorangehende Erkenntnis voraus. [...] Und wenn das so ist, und wahrhaftig ist es so, dann kann ich keinen Grund finden, weshalb die Männer der Frau den Grund unseres Elends zuschreiben.« (Lucretia Marinella, 16. Jahrhundert) Als letztes Beispiel dieser durchaus möglichen und logischen Alternativen zu den oben vorgestellten Widerhaken im Genesis-Text hier noch die Argumentation der Märtyrerin Julitta, die uns aus der Feder des Kirchenvaters Basilius dem Großen überliefert ist: »Und zudem ermunterte sie [die Märtyrerin Julitta] noch die umstehenden Frauen, nicht zu verweichlichen, die Leiden um der Frömmigkeit willen zu ertragen und auch nicht die Schwäche des Geschlechts vorzuschützen. ›Wir sind‹, sagte sie, ›aus demselben Stoffe wie die Männer selbst. Nach dem Bilde Gottes sind wir ebenso erschaffen – wie sie. Die Frau ist gleich dem Mann, vom Schöpfer geschaffen, für die Tugend empfänglich.‹« (Basileios über die Märtyrerin Julitta, gest. 303/305) Für einen abschließenden kritischen Blick auf die Chancen und Grenzen der historisch-kritischen Hermeneutik zeigen uns diese Beispiele nochmals auf, dass die hier vorgestellten Tiefengrabungen nicht im luftleeren Raum schweben, sondern vielmehr immer wieder auch schon angedacht und ausgeführt worden sind. Unbezweifelbar sind die Tiefengrabungen notwendig, um alte Interpretationsschichten eines Textes abzutragen und Überraschendes ans Licht zu fördern. Gerade dadurch treten Vorurteile bzw. zugrundeliegende Entscheidungen zu Tage, welche meist unausgesprochen auf die Interpretationen Einfluss nehmen. Diesen individuellen Einfluss auf die Auslegung zeigte im Detail der Vergleich zwischen Westermann und Schüngel-Straumann. Er liegt auch der Gliederung in dem 1999 erschienenen Sammelband »Eve & Adam« zu Grunde, in dem die AutorInnen grundsätzlich unterscheiden zwischen »[t]wo competing worldviews: hierarchical and egalitarian«27.
27
Kvam, Eve (s. Anm. 26), 6–9.
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Jeder Interpretation wohnen also grundlegende Entscheidungen inne, und damit ist jede Leserin gezwungen, sich immer wieder neu zu entscheiden. Die Interpretation muss sich nicht nur Rechenschaft darüber geben, was damals, also unter Berücksichtigung der Ursprungssituation gemeint war, vielmehr ist Interpretation – auch heiliger Schriften – ein Prozess, der sich zwischen dem Text und den Lesenden heute abspielt. Gerade feministische Exegese nimmt diese Herausforderung an und greift dazu auf eine Kombination verschiedener Hermeneutiken zurück. Am weitesten geht bisher der Versuch Elisabeth Schüssler Fiorenzas, die über Jahre hinweg einen »hermeneutischen Tanz« entwickelt hat, in dem die Auslegenden ihre Entscheidungen explizit mitreflektieren.28 Diese Orientierung am Leseprozess und an der Leserin ist inspiriert an der Rezeptionsästhetik. Die Grenze bei dieser Art der Interpretation ist dieselbe wie die Chance: die Leserin. Interpretationen werden durch die Perspektivierung individualisiert. Gerade das macht sie einerseits wertvoll, begrenzt sie aber auch andererseits. Auch wenn hier für eine ausführliche Darstellung des hermeneutischen Tanzes auf die angegebene Literatur verwiesen werden muss, so sollen hier doch wenigstens im Überblick die einzelnen Schritte dieses Tanzes kurz dargestellt werden. Schüssler Fiorenza schlägt sieben Schritte vor, die die Interpretation als Prozess oder – bildlich gesprochen – als Tanz zwischen Lesenden, Text und Wirklichkeit auffächern. Nicht nur der Text an sich, sondern auch der Leseprozess wird damit als inspiriert verstanden. 1.
2.
28
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Hermeneutik der Erfahrung: Sie stellt den Ausgangspunkt dar. Durch die Leserin und ihren gesellschaftlichen Kontext ergeben sich Fragen, die gleichsam als Schlüssel dienen, da sie die Lektüre dieses Textes inspirieren. Hermeneutik der Herrschaft und des sozialen Standortes: Hier werden die im ersten Schritt verbalisierten Erfahrungen kontextualisiert, das heißt auf ihre gesellschaftlich-politische Bedeutsamkeit reflektiert und damit einem rein individualistischen Zugang entrissen. Lesepositionen, so Schüssler Fioreanzas Fokus, haben stark mit Macht und Ohnmachtserfahrungen einer Person in ihrer gesellschaftlichen Position zu tun, wobei diese durch Geschlecht, aber auch Bildung, Alter, Klasse, sexuelle Ausrichtung etc. gekennzeichnet ist.
Vgl. dazu ausführlich Rödiger, Sprung (s. Anm. 3), 87–138.
3.
4.
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6.
7.
29
Hermeneutik des Verdachts: Der Text wird als Ganzes gelesen, in seiner Wirkung ernst genommen – Tendenzen und Ambivalenzen dürfen benannt werden bzw. werden sogar bewusst gesucht, indem auf die Lücken im Text geachtet wird: Wer kommt nicht zu Wort? Wo liegen Handlungsstränge? Wer ist aktiv? usw. Für diesen Schritt eignen sich die Methoden, die sich am »literary criticism« und an den narrativen Textstrukturen orientieren. Hermeneutik der kritischen Beurteilung: Drei Faktoren spielen in der Beurteilung eine Rolle: (1) der Text an sich mit seinem Ziel und Hintergrund, (2) klare Wertvorstellungen29 und (3) die möglichen Konsequenzen für Lesende in ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen (liest ein Herr oder eine Sklavin?). Darauf basierend werden nun mögliche positive wie negative Richtungen der Interpretation benannt. In meinen Ausführungen bezeichne ich dies als eine Interpretationsethik, die den Text einerseits in seiner (narrativen) Form und in seinem Inhalt wahrnimmt, andererseits aber auch den Kontext der Lesenden berücksichtigt. In diesem sogenannten »Raum dazwischen«, also zwischen dem Text und den verschiedenen Kontexten, wird sich die Interpretation entfalten. Hermeneutik der Erinnerung und der Rekonstruktion: Wie im obigen Beispiel dargestellt, werden Schichten und neue Möglichkeiten der Auslegung freigelegt. Hier geht es um das Gewicht des Textes an sich, in seinem Kontext und seiner Zeit. Hermeneutik der Imagination: Dieser Schritt führt nun einen Schritt weiter bzw. bringt den Text zurück in den Kontext der Leserin; diese schreibt nun nämlich mit ihrem Leben, ihren Erfahrungen und ihren Fragen an der Interpretation weiter. Insofern ist hier ein expliziter Ort inspirierter Interpretation. Eine mögliche Orientierungsform ist der jüdische Midrasch, aber auch andere imaginative Formen und Methoden wie z. B. das Bibliodrama können hier zur Anwendung kommen. Erst durch diesen Schritt wird der Text zu neuem Leben erweckt und erhält Sinn und Bedeutung in der Gegenwart der aktuell Lesenden. Hermeneutik des engagierten Handelns: Dieser Schritt führt zurück in den heutigen Kontext, vor allem in einen politischen, am Paradigma der Befreiung orientierten Zusammenhang. So muss gefragt werden: Welche Konsequenzen ergeben sich für mich, für die WisSo formuliert etwa Lucretia Marinella anhand von Gen 1 die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Zitat s. o.).
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senschaft aus der vorausgegangenen Interpretation? Daher kann dieser Schritt sowohl weitere hermeneutische Schritte, etwa die Revision des Gottesbildes, als auch möglicherweise politische Handlungsaufträge in einer befreiend-ethischen Perspektive enthalten. Die Ausgangsfrage im Rahmen des Forums lautete, wie heilige Schriften (in meinem Fall also die Bibel, aber vielleicht birgt dieser hermeneutische Tanz ja auch Anschlussmöglichkeiten für die Koraninterpretation) Frauen aus der Situation der Unterdrückung befreien können. Dazu lässt sich nach meinen Ausführungen abschließend festhalten: Interpretation ist ein Prozess, der sich zwischen den Lesenden, der Wirklichkeit und dem Text abspielt. Um ihn als befreiend zu qualifizieren, braucht dieser Interpretationsprozess gewisse Vorzeichen. Für Elisabeth Schüssler Fiorenza wird in ihrem Modell des hermeneutischen Tanzes der »Sprung in die Wirklichkeit« das Kriterium für Befreiung. Dieser Sprung kann gelingen, wenn die Lesenden in der Lage sind, (1) ihre eigenen Motive beim Interpretieren zu benennen, (2) reale Unterdrückungsverhältnisse zu erkennen und beim Namen zu nennen und schließlich (3) die vorliegenden Texte kreativ weiterzuschreiben und somit eine inspirierte Interpretation im Sinn einer Aktualisierung des Überlieferten in heutiger Wirklichkeit zu leisten.
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Beobachterbericht zum Forum: Feministische Auslegungen Barbara Bürkert-Engel
Im Rahmen einer Tagung, in der keiner der Hauptreferenten weiblichen Geschlechts war (den 22 % Frauen war die Rolle der Teilnehmenden, der Erwiderung, der Kurzreferate und der Beobachtung vorbehalten), hätte ein Forum zu Fragen feministischer Hermeneutik leicht zur Frauenenklave oder Alibi-Arbeitsgruppe mutieren können; die Themenstellung selbst, »Wie können Bibel und Koran Frauen aus Unterdrückung befreien?«, besaß ihre Aporien. Umso erfreulicher: ein kleines, aber engagiertes Forum, gut vorbereitet, mit klaren Impulsreferaten, qualifizierten Referentinnen und Teilnehmenden, Männern und Frauen, die die vorgegebene und traditionelle Frauen-Thematik nahtlos überführten in den modernen Horizont der Gender-Gerechtigkeit. Beide Referate arbeiteten am locus classicus feministischer Hermeneutik, der Schöpfungsgeschichte und ihrer bis heute andauernden Re-Interpretation.1 Die parallele Strukturierung mit Schwerpunkten auf Textarbeit und Auslegungsgeschichte erhöhte die Vergleichbarkeit der Referate und schuf Möglichkeiten christlich-islamischen Quer-Lesens. Die Frage nach den Beziehungen zwischen islamischer und christlicher feministischer Hermeneutik führte zu vier Beobachtungen: (1) Beide Ansätze kommen zu ähnlichen Ergebnissen mit unterschiedlicher Methodik. (2) Sie sind primär textbezogen (Stichwort »Textgrabungen«). (3) Es existiert auf islamischer Seite eine erkennbare Rezeption christlich-feministischer Hermeneutik; ob es auch in umgekehrter Richtung eine Aufnahme von Fragestellungen gibt, ist wenig fassbar. (4) Die jeweiligen hermeneutischen Schlüssel werden aus den Schriften selbst erhoben. Diese methodische Textimmanenz arbeitet mit der Klassifizie1
Vgl. Michael Pohl, Feministische Interpretationen des zweiten Schöpfungsberichts im Lichte der allgemeinen Feminismuskritik Judith Butlers. Europäische elektronische Zeitschrift für Feministische Exegese, Ausgabe 2/2007 (www.lectio.unibe.ch/07_2/inhalt_d.htm).
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rung von Texten: Christlicherseits wurde Texthierarchisierung (Primärbzw. Sekundärtext) betrieben, die islamische Referentin unterschied zwischen allgemeingültigen, ontologisch gleichstellenden Versen einerseits und speziellen, geschlechtsdiskriminierenden Versen andererseits. Die Frage, ob damit alle patriarchalen Verse textimmanent aufgebrochen werden können, erhitzte nicht nur die Diskussion, sie bleibt auch im feministisch-hermeneutischen Diskurs strittig. Gewichtig bleibt darüber hinaus die methodische Kritik Schüssler Fiorenzas, ein solche Textklassifizierung trage erneut einen »kyriarchalen Dualismus«2 in die feministische Hermeneutik ein. Wenn sich die Bezugnahme auf Tradition und Auslegungsgeschichte dort verbietet, wo diese patriarchale Denkmuster begründen und in die Texte hineinlesen, mit welcher Autorität kann feministische Schriftauslegung dann sprechen? Auch diese Frage stand drängend im Raum, die Antworten konnten nicht mehr als Andeutungen sein. Thetisch-christlich: es gibt autoritative Schriftauslegung auch ohne (die alt-ehrwürdigen Gewährsmänner christlicher Bibelexegese und westlicher Hemeneutik) Augustin und Thomas von Aquin. Islamisch: der Rekurs auf den göttlichen Ursprung des koranischen Textes, der dessen Autorität begründet, jenseits aller und gegen alle patriarchale Vereinnahmung. Strukturell ähnlich argumentierte eine katholische Teilnehmerin, die die Heiligkeit des Textes im liturgischen Geschehen gesichert sah. Möglicherweise hätte ein Bogen zu den jeweiligen Schlussteilen der Referate hier neue und interessante Argumentationsstränge eröffnet. Dort benannten beide die Beziehung zwischen der Interpretin als Individuum und ihrer Einbindung in eine Gemeinschaft. Mit der »Gemeinschaft der Gleichgestellten«3 wird eine ekklesiologische Konzeption unmittelbar in die Hermeneutik eingetragen und so eine Größe gewonnen, deren Auslegung kraftvoll (und damit autoritativ) ist, weil sie in der ihr wesensmäßigen Pluralität und mit klarer Option Schrifttexte als Ermutigung zu Gerechtigkeit und einem heilvollem Leben von Frauen und Männern versteht. Die starke Orientierung am Text in seiner zweifachen Form, als Schrifttext und in Gestalt seiner interpretierenden »Außertexte« (in Tradition, exegetischer Überlieferung, religionsgeschichtlichen Belegen oder Wirkungsgeschichte), prägte nicht nur die Tagung insgesamt, sondern 2 3
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Elisabeth Schüssler Fiorenza, WeisheitsWege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Stuttgart 2005, 203. Ebd. 193.
auch das Forum zu feministischen Auslegungen. Diese Textfokussierung mag dem deutschsprachigen Wissenschaftskontext ebenso geschuldet sein wie Vorgaben der Tagungsleitung, offensichtlich ist jedoch, dass beide Referate, zumindest in ihren Hauptteilen, einer Hermeneutik der Revision4 verpflichtet waren. Diese arbeitet mit der Intention einer korrektiv-revisionistischen Textauslegung durchgängig historisch-kritisch. Auch in der feministischen Exegese galt lange Zeit die historischkritische Methodik als Garantie für einen wissenschaftlichen Umgang mit Texten; erst in jüngster Zeit ist die Apologetik dieses Ansatzes kritisiert worden. Obwohl feministische Hermeneutik auch andere Textzugänge kennt, etwa eine befreiungstheologische, sozialgeschichtliche, literaturwissenschaftliche oder tiefenpsychologische Herangehensweise, kamen diese in den Referaten nicht zur Geltung. So stellte sich im weiteren Gesprächsverlauf auch nicht die Frage, ob Methodenvielfalt ein Spezifikum christlich-feministischer Hermeneutik ist oder ob sich unter Musliminnen eine ähnliche methodische Pluralität findet. Die konstatierte Textorientierung mag einer Hermeneutik von Schriftreligionen gut anstehen und das Gespräch zwischen Christen und Muslimen erleichtern; die Tonart war unterschiedlich (Schrift als Literatur oder Schrift als ipsissima vox), der cantus firmus gleichlautend: die Schrift legt sich selbst aus, sie ist Subjekt ihres eigenen Verstehens. Feministische Hermeneutik, zumindest christlicherseits, fordert und vollzieht in der Postmoderne hier einen provokativen hermeneutischen Paradigmenwechsel »von einer textorientierten zu einer emanzipatorischen Methodologie der Bewusstwerdung«5. Ausgangspunkt aller Bemühungen um Verstehen ist der Kontext der Interpretin in der Doppelung von individueller Befindlichkeit und Standort im größeren »Wir«. »Kontext« im Sinne feministischer Befreiungstheologie ist also weit mehr als ein Teil des Gadamer’schen hermeneutischen Bogens, dessen Spitze durch die Zielvorgabe der Horizontverschmelzung jedoch bereits gerundet ist. Feministischer Kontext erhält seine Konturen erst durch wissenschaftliche Genauigkeit, die seine soziologischen, ökonomischen, politischen und lebensgeschichtlichen Faktoren entschlüsselt. So wäre nicht mehr pauschal von »Unterdrückung« (so der Titel) zu reden, sondern diese mit 4
5
Vgl. Luise Schottroff/Silvia Schroer/Marie Theres Wacker, Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995, 38–41; Schüssler Fiorenza, WeisheitsWege (s. Anm. 2), 196–204. Ebd. 15.
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Hilfe des Methodenrepertoires feministischer Sozialanalytik in ihren Dimensionen und Interdependenzen (Choreographie der Unterdrückung6) zu beschreiben. Wer das Insistieren auf die Klärung des InterpretationsKontextes als Abkehr von wissenschaftlicher Methodik oder der den Schriftreligionen eigenen Textbezogenheit brandmarkt, entzieht sich dieser Herausforderung feministischer Hermeneutik oder will sie nicht verstehen. Ob Christinnen und Musliminnen sich darüber verständigen könnten, einem solchen Kontext die hermeneutische Schlüsselrolle zu überlassen und mit welcher Methodik diese dann ausgestattet würde, ist offen; der Dialog darüber könnte ungemein spannend sein. Angesichts des engen Zeitkorsetts mussten Fragen ungestellt bleiben: 1.
2.
6
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Der poststrukturalistische Feminismus hat die verallgemeinernden Topoi »Situation von Frauen« oder die »weibliche Perspektive« als Prolongierungen patriarchalen Denkens und seiner Strukturen heftig kritisiert.7 Wer aber sind nun »die Frauen«, deren Befreiung von Bibel und Koran unterstützt werden soll? Und in welchem Verhältnis stehen sie zur Aufgabe der Interpretation und zu jenen Interpretinnen, die sich hier und andernorts zur Textauslegung versammeln? Sind sie selbst Subjekt oder Forschungsgegenstand? Offensichtlich waren jene, die im Rahmen der Tagung Anliegen feministischer Hermeneutik im interreligiösen Dialog vertraten, alle weiß, (mit Migrationshintergrund) deutschsprachig, europäisch sozialisiert, AkademikerInnen und vermutlich überwiegend heterosexuell. In welcher Weise nehmen aber Frauen, die als Folge sozialer und ökonomischer Verhältnisse oder sexistischer Diskriminierung des Lesens unkundig und von Bildung ausgeschlossen sind, an Interpretationsprozessen teil und welche hermeneutischen Konsequenzen ergeben sich daraus für die Definition von Text bzw. »Megatext« (Tatari S. 139–141, mit Rekurs auf Amina Wadud-Muhsin)? Ihrer Herkunft aus der Befreiungstheologie hat feministische Exegese von Anfang an die Frage nach den Interessen zu verdanken, die sich mit der »Hermeneutik des Verdachts« eine eigene Methodik anVgl. die vielfach rezipierten fünf Kategorien der Unterdrückung der feministischen Philosophin Iris Marion Young (Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990): Ausbeutung, Marginalisierung, Ohnmacht, kultureller Imperialismus und Gewalt. Vgl. Hanna Stenström, Is a Liberating Feminist Exegesis Possible Without Liberation Theology?, in: lectio difficilior 1/2002 (www.lectio.unibe.ch/ 02_1/inhalt_d.htm).
3.
4.
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eignete: Welche Intention verbindet sich mit bestimmten Auslegungstraditionen, wer profitiert? Wie bestärkt Sprache gleichzeitig Herrschaft und Marginalisierung? Aber auch: Welche Interessen leiten uns als Interpretinnen? Lassen sich hier im christlich-islamischen Dialog über einen allgemeinen Wertehorizont hinaus gemeinsame Interessen benennen, die für die jeweilige Textauslegung leitend sein sollen?8 Der Eröffnungsvortrag der Tagung hatte die Liturgie als Ausgangspunkt christlich-orthodoxen Schriftverständnisses genannt.9 Es ergäben sich interessante Rückfragen zur grundlegenden Definition des Korans als Lesung und Rezitation. Doch auch die liturgischen Zusammenhänge sind in beiden Traditionen patriarchal strukturiert; Schriftauslegung von Frauen geschieht also auch in diesem Primärbereich in der Erfahrung doppelter Marginalisierung (in Text und Liturgie). In welcher Weise reflektiert islamisch-feministische Hermeneutik diese Barriere im Verständnis von Texten und Traditionen, die als Teil ritueller Handlungen für die Formung weiblicher Spiritualität bedeutsam sind? Das Übersetzungsprojekt »Bibel in gerechter Sprache«10 hat im christlichen Milieu das Anliegen feministischer Bibelhermeneutik erneut (zumindest kurzfristig) und kontrovers ins öffentliche Bewusstsein getragen. Überzeugungen jüdischen Bibelverständnisses und Erkenntnisse des christlich-jüdischen Gesprächs flossen in den Übersetzungsprozess ein, das christlich-islamische Schriftgespräch fand dagegen keinen Widerhall. In Konsequenz des feministischen Nachdenkens über die biblische Gottes-Rede entschied sich die »Bibel in gerechter Sprache« für eine Vielfalt wechselnder Gottesbezeichnungen. Ergeben sich hier Schnittpunkte zur islamischen Theologie der Gottesattribute? Vielfach wurde selbst dort, wo das Grundanliegen befürwortet wurde, von einer liturgischen Verwendung dieser besonderen Bibelübersetzung abgeraten. Sie sei ein Lern- und Übungsbuch, ein beachtliches Arbeitsdokument, das allerdings die liturgisch-poetische Dimension biblischer Sprache verloren habe. Erleiden muslimische Theologinnen in vergleichbarer Im Tagungsverlauf bot der Vortrag von Enes Karić als Einziger hierzu Überlegungen an und nannte die Friedenssicherung als vordringlichstes Ziel einer möglichen gemeinsamen Hermeneutik, in diesem Band S. 235–243. Vgl. den Beitrag von Assaad Elias Kattan in diesem Band (S. 31–45). Ulrike Bail u. a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006.
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Weise Verfremdungen, etwa in der Spannung von revisionistischer Linguistik und der Ästhetik eines unnachahmlichen Korans oder von mühsamer Textarchäologie und Schriftunmittelbarkeit in Liturgie und Meditation?
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IV. Interdependente Interpretationen
Der Koran als Auslegung der Bibel – die Bibel als Verstehenshilfe des Korans Stefan Schreiner
Die Frage nach dem Verhältnis des Korans zur Bibel bzw. nach dem Zusammenhang zwischen beiden gehört seit der Frühzeit des Islams bis heute zu den vielfach diskutierten Themen und hat in jüngster Zeit weit über den Rahmen der Koranwissenschaften hinaus Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wie die immer zahlreicher werdenden Publikationen zu diesem Thema belegen.1 In einer bemerkenswerten Fatwa vom Dezember 2002 zur Frage nach »der Möglichkeit einer Annäherung zwischen den (monotheistischen) Religionen« vertrat der aus Ägypten stammende und heute einer der einflussreichsten Muftis Scheich YÙsuf ÝAbd AllÁh al-QaraÃÁwÐ die Ansicht, dass es einerseits nicht nur fundamentale Glaubensunterschiede, sondern auch unüberwindliche Gegensätze zwischen den (drei monotheistischen) Religionen gibt. Dazu zählte er u. a. den Gegensatz zwischen tauÎÐd (Monotheismus im Islam) und ta×lÐ× (Trinität im Christentum), den Gegensatz zwischen tanzÐh (Transzendenz Gottes im Islam) und tašbÐh (Anthropomorphismus im Judentum [sic!]) sowie 1
Um nur einige hier zu nennen: Jacques Jomier, Bibel und Koran, Klosterneuburg 1962; Morris S. Seale, QurÞan and Bible. Studies in interpretation and dialogue, London 1978; Ugo Bonanate (Hg.), Bibbia e Corano. I testi sacri confrontati, Torino 1995; Cherubino Mario Guzzetti, Bibbia e Corano. Un confronto sinottico, Cinisello Balsamo 1995; Mondher Sfar, Le Coran, la Bible et l’Orient ancien, Paris 1997; Roberto Tottoli (Hg.), Corano e Bibbia. Atti del Convegno Internazionale »Corano e Bibbia«, Napoli, 24.–26. ottobre 1997, Brescia 2000; Johann-Dietrich Thyen, Bibel und Koran. Eine Synopse gemeinsamer Überlieferungen, Köln 2000; John C. Reeves (Hg.), Bible and QurÞan. Essays in Scriptural Intertextuality, Atlanta 2003; Stefan Jakob Wimmer/Stephan Leimgruber, Von Adam bis Muhammad. Bibel und Koran im Vergleich, Stuttgart 2005; Francis E. Peters, The Voice, the Word, the Books. The Sacred Scripture of the Jews, Christians, and Muslims, Princeton 2007; Karl-Wolfgang Tröger, Bibel und Koran, was sie verbindet und unterscheidet, mit einer Einführung in Mohammeds Wirken und in die Entstehung des Islam, Stuttgart 2008.
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die Tatsache, dass der Koran seiner Meinung nach im Gegensatz zu Tora und Evangelium »vor jeder Veränderung und Vertauschung bewahrt geblieben ist« (maÎfÙÛ min kull taÈyÐr wa-tabdÐl). Dennoch widerspricht er andererseits all den Muslimen, die dieser Glaubensunterschiede und Gegensätze wegen jede Gemeinsamkeit zwischen Muslimen und »dem Volk der Schrift« zurückweisen und den Zusammenhang zwischen Koran und Bibel bestreiten; denn – hier zitiert al-QaraÃÁwÐ den Koran: »Und sagt: Wir glauben an das, was zu uns und was zu euch herabgesandt worden ist. Und unser Gott und euer Gott ist einer. Ihm wenden wir uns zu« (Sure 29,46).2 Natürlich ist al-QaraÃÁwÐ nicht der erste Muslim, der von diesem Zusammenhang zwischen Koran und Bibel spricht. In ähnlicher Weise haben es vor ihm viele andere getan. Selbst ein so konservativer Gelehrter des 13./14. Jahrhunderts und Quelle der Inspiration heutiger muslimischer Fundamentalisten3 wie TaqÐ ad-DÐn AÎmad Ibn TaimÐya (1263– 1328), der jegliche Neuerung (bidÝa) ablehnte und dem überlieferten Korantext (naÒÒ) absolute Vorrangstellung einräumte, dennoch aber auf einen Ausgleich zwischen Vernunft (Ýaql), Tradition (naql) und Willen (irÁda), zwischen Rationalisten, Traditionalisten und Sufis bedacht war, war der Meinung, dass Tora, Evangelium und Koran »eine zusammenhängende Tradition« bilden.
1. Die Bibel des Korans Dass die Bibel in der Tat in die islamische Überlieferung hineingehört und ein Teil von ihr ist, hatte schließlich der Prophet selber erklärt, als er einem von AbÙ Huraira (um 600–678) überlieferten Hadith zufolge einmal gefragt worden war, was der islamische Glaube beinhaltet. Darauf hatte er geantwortet: »Glaube bedeutet, dass du an Gott, Seine Engel, Seine Schriften, Seine Gesandten und die Begegnung mit Ihm (beim Jüngsten Gericht) glaubst, und dass du an die Auferstehung glaubst.«4 2 3
4
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Vgl. www.islamonline.net/fatwa/arabic/FatwaDisplay.asp?hFatwaID=70221. Gemeint ist vor allem sein Buch KitÁb as-siyÁsa aš-šarÝÐya (franz.: Henri Laoust, Le traité de droit public d’Ibn Taimiya, Beirut 1948), in dem Ibn TaimÐya die Untrennbarkeit von Staat und Religion vertrat und das dem Staat u. a. die Aufgabe der Durchsetzung der Religion zuweist. Muslim b. al-ÍaÊÊÁÊ (817/21–875), Al-ÊÁmiÝ aÒ-ÒaÎÐÎ, Buch I: k. al-ÐmÁn, Nr. 4 und 6; MuÎammad b. IsmÁÝÐl b. IbrÁhÐm al-BuÌÁrÐ (810–870), AlÊÁmiÝ aÒ-ÒaÎÐÎ, Buch II: k. al-ÐmÁn, Nr. 47 und Buch 60: k. tafsÐr al-QurÞÁn,
Damit wiederholt der Prophet, was er selbst zuvor als Belehrung angenommen und den Gläubigen verkündet hatte: »Der Gesandte [Gottes] glaubt an das, was zu ihm herabgesandt worden ist von seinem Herrn, und die Gläubigen alle glauben an Gott, Seine Engel, Seine Schriften und Seine Gesandten – wobei wir keinen Unterschied machen zwischen einem Seiner Gesandten [...]« (Sure 2,285; vgl. 2,136). Wenn auch im zitierten Hadith und den beiden Koranversen die Schriften nicht genauer bezeichnet oder beschrieben werden, so ist dennoch festzuhalten, dass es nicht nur eine Schrift ist, an die zu glauben Muslimen Pflicht ihres Glaubens ist, sondern mehr als der Koran allein gemeint ist. Zudem gibt der koranische Kontext selber Auskunft über diese Schriften. Danach zählen zu denen, an die zu glauben ist, solche Schriften, die göttlichen Ursprungs und durch Propheten5 vermittelt worden sind. Namentlich genannt werden als solche im Koran: (1) die »Blätter (ÒuÎuf) Abrahams« (Sure 87,18–19) und anderer Propheten, über deren Inhalt im Koran allerdings nichts Näheres mitgeteilt wird; (2) die »Tora (taurÁ) des Mose«, das ist die Mose gegebene Schrift (Sure 2,53; 11,17; 46,12); (3) die »Psalmen« (zabÙr), die David gegeben worden sind (Sure 4,163; 17,55); (4) die »Schrift« (al-kitÁb), die Johannes (dem Täufer) gegeben worden ist (Sure 19,12); (5) das »Evangelium« (inÊÐl), die Schrift, die Jesus gegeben worden ist (Sure 5,46 u. ö.); und schließlich (6) der »arabische Koran«, der Muhammad gegeben worden ist (Sure 12,2 u. ö.). Mit anderen Worten, bei den Schriften, die nach dem Zeugnis des Korans zum Glaubensgut der Muslime gehören und mit dem Koran eine zusammenhängende Tradition bilden, handelt es sich in der Summe um die Schriften, die andernorts als »Bücher der Bibel« überliefert sind. Allerdings zeigt die Auflistung dieser Schriften zugleich auch, dass der Koran, wenn er von den Schriften oder Büchern der Bibel spricht, darunter offenbar etwas anderes versteht als die Bibel, wie sie aus jüdischer und christlicher Überlieferung bekannt ist. Zwar werden mit der »Tora des Mose« und den »Psalmen Davids« immerhin zwei Teile des dreiteiligen Kanons der hebräischen Bibel (Tora – NeviÞim – Ketuvim) expres-
5
Nr. 300. – Dass hier »nicht von dem Buch, was sich dann einzig auf den Koran beziehen könnte«, sondern im Plural von Büchern bzw. Schriften die Rede ist, hebt auch Muhammad Hamidullah ausdrücklich hervor (Der Islam. Geschichte, Religion, Kultur, Genf 1968 [München 21991], 96 § 146; 87 § 129). Propheten hier im Sinne des Korans.
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sis verbis genannt,6 und das »Evangelium Jesu« könnte immerhin pars pro toto für das Neue Testament stehen, allein von »Blättern Abrahams« oder einer »Schrift Johannes des Täufers« weiß weder die jüdische noch die christliche Überlieferung etwas zu berichten. Das ändert jedoch nichts daran, dass nach dem Koran die Bibel ebenso Teil der Vorgeschichte des Korans ist wie der Koran, davon wird noch zu reden sein, in die Nachgeschichte der Bibel hineingehört und als Teil ihrer Auslegungsund Wirkungsgeschichte zu betrachten ist. Begründet wird dieser Zusammenhang von Koran und Bibel bereits im Koran selber, und zwar zum einen mit der Einheit der Offenbarung und der sich daraus ergebenden Sukzession der Offenbarungsschriften und zum anderen mit der Prophetologie bzw. der Sukzession der Propheten.
2. Die Einheit der Offenbarung und die Einheit der Offenbarungsschrift(en) Wenn Gott nur der Eine und Ausschließliche ist (Sure 112), dann kann nach dem Koran auch Seine Offenbarung, Seine durch Propheten vermittelte Botschaft ebenfalls nur eine sein. Folgerichtig heißt es im Koran: »Er hat zu dir herabgesandt (nazzala) das Buch mit der Wahrheit, bestätigend (muÒaddiqan), was vor ihm da war: Er hat herabgesandt (waanzala) die Tora und das Evangelium zuvor, eine Wegweisung für die Menschen. Und Er hat herabgesandt (wa-anzala) die Unterscheidung (alfurqÁn) etc.« (Sure 3,3–4). »Siehe, Wir offenbarten dir, wie [oder: entsprechend dem, was] Wir NÙÎ und den Propheten nach ihm offenbarten, und Wir offenbarten IbrÁhÐm/Abraham, IsmÁÝÐl/Ismael, IÒÎÁq/Isaak, YaÝqÙb/Jakob und den Stämmen [Israels], ÝÏsÁ/Jesus, AyyÙb/Ijob, YÙnus/Jona, HÁrÙn/Aaron und SulaimÁn/Salomo, und Wir gaben DÁwÙd/ David den Psalter (zabÙr)« (Sure 4,163). Folglich bekennen sich eo ipso alle, die diesen Propheten folgen, indem sie deren Botschaft annehmen, zu ein und demselben Gott als Urheber dieser Offenbarung(en) und prophetisch vermittelten Botschaft(en). Ganz in diesem Sinne kann der Koran denn auch betont sagen: »Unser Gott und euer Gott ist einer [und derselbe], und Ihm wenden wir uns zu (muslimÙna)« (Sure 29,46). Mit diesen Worten verbietet der Koran übri6
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Als Bezeichnung des dritten Teils der hebräischen Bibel werden die »Psalmen« u. a. auch in Lk 24,44 genannt (vgl. dazu Sir, Prolog, und 1Makk 12,9).
gens zugleich auch, dass Muslime, Christen und Juden einander als »Ungläubige« betrachten und behandeln; denn – so schrieb bereits ÉalÁl adDÐn al-MaÎallÐ (gest. 1459) in seinem Korankommentar zur Stelle: »Sie alle befolgen ein und desselben Gottes Wort und Gebot.«7 Da Gott nur der Eine und Seine Botschaft nur die Eine ist, stehen auch alle Propheten, sofern sie Propheten dieses Einen Gottes, d. h. Empfänger Seiner Offenbarung und deren Vermittler sind, in einer Sukzession, wie dem eben zitierten Koranvers Sure 4,163 zu entnehmen ist. Zwar »hat jedes Volk seinen Gesandten« (Sure 10,47); dennoch bilden sie alle eine prophetische Linie, eine Abfolge von Gesandten, zwischen denen kein Unterschied hinsichtlich des Inhalts ihrer Verkündigung gemacht wird (Sure 2,136 und 285). Darum kann es in Sure 41,43 mit Bezug auf Muhammad heißen: »Es wird dir nur gesagt, was den Gesandten vor dir gesagt worden ist«, wie Muhammad an anderer Stelle von sich sagen kann: »Ich bin keine Neuerung unter den Gesandten« (Sure 46,9). Vielmehr ist das, was er verkündet, bereits in den »Schriften der Früheren enthalten« (Sure 26,196). Sukzession der Propheten impliziert nach koranischer Überlieferung des Weiteren, dass jeder Prophet seinen Nachfolger explizit ankündigt, wie umgekehrt, dass der jeweilige Nachfolger auf seinen jeweiligen Vorgänger ebenso explizit Bezug nimmt. So heißt es im Koran, dass Muhammad »in der Tora und im Evangelium vorgezeichnet« ist (Sure 7,157),8 was diejenigen, »die die Schrift richtig lesen (und verstehen)«, auch nicht bestreiten (Sure 2,121). Ein eindrucksvolles Beispiel entsprechender muslimischer Bibellektüre lieferte im 9. Jahrhundert bereits AbÙ l-Íasan ÝAlÐ b. Sahl Rabban aÔ-ÓabarÐ (um 830/8–um 870),9 ein zum 7
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TafsÐr al-ÉalÁlain, hg. von ËÁlid al-ÉÙÊÁ, Damaskus o. J., 531–532; Hamidullah, Der Islam (s. Anm. 4), 209 § 327. – Für die spätere islamische Religionsgesetzgebung war und ist dies von Wichtigkeit; denn wenn Juden und Christen keine »Ungläubigen« sind, dürfen sie rechtlich auch nicht als solche eingestuft und behandelt werden. Vielmehr haben sie auch in der Gemeinschaft der Muslime (umma) Anrecht und Anspruch auf Duldung und das Recht zu freier Religionsausübung; vgl. dazu Stefan Schreiner, »Unser Gott und euer Gott ist ein und derselbe«. Das Verhältnis des Islams zu Judentum und Christentum, in: Judaica 39 (1983), 98–112. Die muslimischen Exegeten führen dafür immer wieder Dtn 18,18 ff.; Jes 5,26–30; Mt 21,33–46 etc. an; vgl. dazu Hava Lazarus-Yafeh, Intertwined Worlds. Medieval Islam and Bible Criticism, Princeton 1992, 75–110. Zur Person: Max Meyerhof, ÝAlÐ b. Rabban aÔ-ÓabarÐ, ein persischer Arzt des 9. Jahrhunderts n. Chr., in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 85 (1931), 38–68.
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Islam konvertierter Christ übrigens, mit seinem Buch KitÁb ad-dÐn wa-ddaula.10 Nach dem Koran hat schon Abraham, Dtn 18,18 zitierend, gebetet: »Unser Herr, erwecke ihnen einen Gesandten aus ihrer Mitte, der ihnen Deine Verse vorträgt, sie die Schrift und die Weisheit lehrt und sie reinigt« (Sure 2,129).11 Doch es war nicht nur Abraham, der so geredet bzw. gebetet hat. Deutlicher noch und unmissverständlicher hat nach dem Koran Jesus Muhammads Kommen vorhergesagt: »Da sagte ÝÏsÁ/Jesus, der Sohn Maryams/Marias: Ihr Kinder Israels, ich bin von Gott zu euch gesandt, um zu bestätigen, was vor mir von der Tora da war, und um einen Gesandten anzukündigen, der nach mir kommen wird, dessen Name AÎmad sein wird« (Sure 61,6). Wie immer dieser Vers zu verstehen und der Zusammenhang zwischen AÎmad und MuÎammad zu erklären ist – darauf näher einzugehen, würde weit über den hier gesetzten Rahmen hinausgehen12 –, die muslimischen Korankommentatoren beziehen ihn auf die Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium, nach denen er die Sendung eines paráklÿtos ankündigt, der nach ihm kommen soll und wird (Joh 14,16–17; 15,26; 16,4b–15 u. ö.).13 Dabei haben sie – spätestens seit Rabban aÔ-ÓabarÐ, der 10
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Hg. Alphonse Mingana, Manchester 1923 (engl.: The Book of Religion and Empire, übers. von Alphonse Mingana, Manchester 1922, repr. New Delhi 1986), in dem er unzählige Stellen in der Bibel ausfindig macht, die seiner Meinung nach das Kommen Muhammads ankündigen. Siehe dazu die Belege bei Martin Accad, MuÎammad’s Advent as the Final Criterion for the Authenticity of the Judeo-Christian Tradition: Ibn Qaiyim al-JawzÐya’s HidÁya al-ÎayÁrÁ fÐ aÊwiba al-yahÙd wa-n-naÒÁrÁ, in: Barbara Roogema/ Marcel Porthuis/Pim Valkenberg (Hg.), The Three Rings – Textual studies in the historical trialogue of Judaism, Christianity and Islam, Leuven/Dudley 2005, 216–236, 228–235. Vgl. dazu Sure 2,251; 3,164; 62,2. Während Verlesen (talÁ) der Verse (ÁyÁt), Lehren (Ýallama) der Schrift und der Weisheit und Reinigen (zakkÁ) die »äußere« Seite der prophetischen Sendung zusammenfassen, weisen Schrift (al-kitÁb) und Weisheit (al-Îikma) auf ihren Inhalt hin (ebenso Sure 3,48 und 5,110); zur Sache: Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, Gräfenhainischen 1931, 159–161. Siehe dazu die Zusammenfassung bei AbÙ l-FidÁÞ IsmÁÝÐl b. Ka×Ðr (1301– 1372), MuÌtaÒar tafsÐr al-QurÞÁn, hg. von MuÎammad A. aÒ-ÑÁbÙnÐ, 3 Bde., Beirut/Mekka 31984, Bd. 3, 493–494. Muhammad Asad, The Message of the QurÞÁn, Gibraltar/Dublin 21992, 861 Anm. 6. Rudi Paret, Der Koran – Kommentar und Konkordanz, Stuttgart u. a. 1977, 476 f. Die spätere muslimische Exegese hat sich intensiv bemüht, dieses – um einen Buchtitel Wilhelm Vischers in abgewandelter Form zu verwenden – »Muhammad-Zeugnis der Bibel« aufzuzeigen: z. B. MuÎam-
paráklÿtos durch das syrische munhamannÁ erklärt, was wie das arabische muÎammad und aÎmad »hochgelobt« bedeutet – die Konsonanten des griechischen paráklÿtos offenbar anders vokalisiert und statt paráklÿtos períklytos gelesen, was wie muÎammad und aÎmad gleichfalls
»hochgelobt« bedeutet.14 Ablesbar ist diese auf Ankündigung und Rückbezug basierende Sukzession der Propheten aber auch daran, dass nach dem Koran alle Propheten inhaltlich ein und dasselbe verkünden, wie die Zyklen der Prophetengeschichten im Koran nicht zuletzt durch ihre stets gleiche parallele Erzählstruktur ebenso wie durch ihre stets gleichen, sich wiederholenden Inhalte zum Ausdruck bringen.15 Was nach koranischer Sicht die Propheten und die durch sie vermittelte Botschaft und darauf fußenden Offenbarungsschriften voneinander unterscheidet, ist nicht ihr Inhalt. Es sind allein »Äußerlichkeiten«, die als Unterscheidungskriterien der Propheten und ihrer Verkündigung voneinander benannt werden (können). Zu diesen »Äußerlichkeiten« zählen: (1) die Adressaten der jeweiligen Propheten, (2) der Ort und (3) die Zeit ihres Auftretens sowie (4) die Sprache ihrer Verkündigung. Ein jeder Prophet hat »zu seiner Zeit, zu seinem Volk, an seinem Ort und in seiner Sprache« geredet (Sure 14,4; 16,36; 21,25) – Muhammad zu den Arabern seiner Zeit in Mekka und Medina in »deutlicher arabischer Sprache« (Sure 12,2; 43,2 u. ö.).
3. Von der Unterschiedslosigkeit der Schrift(en) Die in der Einheit der Offenbarung begründete Einheit und Einheitlichkeit der Botschaft aller Propheten begründet schließlich auch ihre »Unmad ÝIzzat IsmÁÝÐl at-TahtÁrÐ, MuÎammad – nabÐy al-islÁm fÐ t-TaurÁt wa-lInÊÐl wa-l-QurÞÁn, Kairo o. J.; David Benjamin, Muhammad in der Bibel,
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München 1992. – Ebenso haben lange vor dem Islam auch die Manichäer in der Parakletweissagung eine Ankündigung ihres Propheten Mani (216– 276/7) gesehen, vgl. Alexander Böhlig, Die Gnosis – der Manichäismus, Düsseldorf/Zürich 1997, 23 f. u. ö. Unter den europäischen Orientalisten war es Ludovico Marraci (1612– 1700), der als erster in seiner Koranausgabe und -übersetzung dieselbe Idee hatte, vgl. Edward Denison Ross, Ludovico Maracci, in: Bulletin of the School of Oriental Studies, University of London 2 (1921), 117–123. Eine bequeme Zusammenstellung dieser Prophetengeschichten bei William Montgomery Watt, Bell’s Introduction to the QurÞÁn, Edinburgh 1970, 127– 135, Liste dort 132.
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terschiedslosigkeit«. Auch wenn die Eine Offenbarung »zu je verschiedener Zeit, je einem anderen Volk, an je anderem Ort verkündet und in je verschiedener Sprache« überliefert, also Schrift(en) geworden ist (sind) (Sure 3,84; 2,136.285), sind dennoch alle diese Verschriftungen ebenso unterschiedslos wie die ihnen zugrunde liegenden prophetischen Verkündigungen, vorausgesetzt freilich, sie alle wären in ihrer ursprünglichen, authentischen Form erhalten geblieben.16 Beruht doch ihre »Unterschiedslosigkeit« darauf, dass sie alle, jedenfalls in ihrer »ursprünglichen Gestalt«, die nach muslimischer Überlieferung und Überzeugung allerdings nur noch im Falle des Koran gegeben ist,17 auf das »Buch Gottes« (Sure 35,29) bzw. die »Mutter des Buches« (Sure 13,39; 43,4; 47,20) zurückgehen und gleichsam als irdisches Abbild der im Himmel »verwahrten Tafel« (Sure 85,22) als ihrer Urschrift gelten. Die Idee der »Unterschiedslosigkeit« der Schriften kann natürlich nicht darüber hinwegsehen lassen, dass Bibel und Koran in ihrer vorfindlichen Gestalt so »unterschiedslos« nicht sind, wie sie der Theorie nach sein sollten und sein müssten. Denn wer im jüdischen und christlichen biblischen wie nachbiblischen Schrifttum bewandert ist, begegnet bei der Koranlektüre zwar allenthalben Bekanntem, oft jedoch in anderer, abgewandelter Gestalt und ebenso oft auch in anderem Zusammenhang. Schon Muhammads jüdische und christliche Zeitgenossen vermochten in der von ihm verkündeten Botschaft den Inhalt ihrer heiligen Schriften trotz aller Betonung der Einheit der Offenbarung nicht wiederzuerkennen und lehnten es daher ab, die Wahrheit seiner Botschaft anzuerkennen und ihr bzw. ihm zu folgen (Sure 2,145). Stattdessen bestanden sie darauf, »nur an einen (nämlich den ihnen in der Tora bzw. im Evangelium offenbarten) Teil, nicht jedoch an den anderen (die durch Muhammad vermittelte Offenbarung) zu glauben«, wie es in Sure 4,150 ausdrücklich heißt. Derartige »Unterschiede« aber zwischen den Kündern der Botschaft und dem von ihnen Verkündeten zu machen, gilt nach dem Koran als »offenkundiger Unglaube«, und den Vorwurf, »wahre Ungläubige« zu sein, müssen sich jene, die solche »Unterschiede« machen, denn auch gefallen lassen (Sure 4,151). Die Erklärung, die im Koran (und ihm folgend, von der späteren islamischen Überlieferung) für diese Unterschiede gegeben wird, ist ebenso einfach wie logische Konsequenz der Lehre von der Einheit der Offenbarung: Wenn die Offenbarung nur eine und zudem nur im Koran 16 17
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Vgl. Hamidullah, Der Islam (s. Anm. 4), 98 § 150, 145 § 221. Vgl. ebd. 9 f. § 2, 96 f. § 147 u. ö.
»am besten bewahrt worden ist«, kann es sich bei den »Unterschieden« zwischen Bibel und Koran nur um nachträgliche Veränderungen der (des) ursprünglichen Bibel(textes) handeln. Die »echte« Bibel, die es heute freilich nicht mehr gibt, wiese derlei Unterschiede zum Koran nicht auf. Tatsächlich ist denn auch im Koran von »willentlicher Schriftverfälschung« seitens der »Leute der Schrift« (Juden und Christen) mehrfach die Rede (Sure 2,75–79).
4. Der Vorwurf der Schriftverfälschung Die Frage, was hier mit »Schriftverfälschung« gemeint ist, ist so schnell nicht zu beantworten. Bereits im Koran werden mindestens sechs verschiedene Formulierungen gebraucht, um den Sachverhalt der »Schriftverfälschung« anzudeuten,18 ohne dass jedoch eine Erklärung, geschweige denn eine befriedigende Erklärung dafür geboten würde, und ebenso ist es bei den späteren Autoren geblieben. Eine Analyse der verschiedenen koranischen Formulierungen hat schon William Montgomery Watt vorgenommen.19 So viel zumindest ist danach deutlich, dass »Schriftverfälschung« ein ganzes Spektrum miteinander konkurrierender Vorstellungen umfasst, die so einfach nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Dabei scheint »Schriftverfälschung« nach dem Koran zunächst einmal auf den Sinn des Textes, nicht aber auf den Text selber bezogen zu sein. »Schriftverfälschung« bedeutet danach zuerst einmal falsche Interpretation voraufgegangener Offenbarung, also das, was die spätere Exegese Sinnentstellung (taÎrÐf al-maÝnÁ) genannt hat, im Unterschied zu taÎrÐf al-lafÛ, womit die tatsächliche Fälschung des Textes der Offenbarungsschrift gemeint ist. Zudem wird der Vorwurf der »Schriftverfälschung« im Koran interessanterweise zunächst gegen Juden, nicht aber gegen Christen erhoben. Hier taucht der Vorwurf der Schriftverfälschung erst in der späteren nachko18
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(1) den Sinn entstellen (Îarrafa l-kalima Ýan mawÁÃiÝihÐ) (Sure 5,13); (2) ein Wort gegen ein anderes austauschen (baddala qaulan) (Sure 2,58 f. = 7,161 f.); (3) mit der Zunge die Schrift verdrehen (lawÁ lisÁnahÙ bi-l-kitÁbi) (Sure 3,78); (4) das Bedecken der Wahrheit mit Lüge (labisa l-Îaqqa bi-l-bÁÔili) (Sure 2,42; 3,71); (5) das Verbergen oder Geheimhalten eines Teils der Schrift (Sure 6,92) und (6) die Schrift mit der eigenen Hand schreiben (Sure 2,79). Muslim-Christian Encounters: Perceptions and Misperceptions, London/New York 1991.
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ranischen polemisch-apologetischen Literatur auf, wie Thomas F. Michel20 und Martin Accad21 gezeigt haben. Dabei geht es auch hier zunächst und vor allem um taÎrÐf al-maÝnÁ, sinnentstellende Deutung, nicht jedoch um tatsächliche Textverderbnis (taÎrÐf al-lafÛ). Selbst wenn ÝAlÐ b. Rabban aÔ-ÓabarÐ in der Einleitung zu seiner »Antwort an die Christen« (ar-radd ÝalÁ n-naÒÁrÁ) mit Blick auf die Bibel von tanÁquà (»Widersprüchen«), kabÁÞir (»groben Entstellungen«), taÎrÐf und fasÁd (»Textfälschung« und »Textverderbnis«) spricht und diese eine »Täuschung dessen, der sie verfasst hat« (Èašš man allafahÁ), nennt, versteht er im weiteren Verlauf seines Traktates unter »Schriftverfälschung« dennoch »nur« die sinnentstellende Auslegung und sieht es als seine Aufgabe an, »die Worte, die sie [die Christen] gegen ihren [eigentlichen, wahren] Sinn interpretiert haben, sowie den taÎrÐf und den fasÁd, die sich darin finden, mit Gottes Hilfe richtigzustellen«. Erst im 11. Jahrhundert bekommt der Vorwurf der »Schriftverfälschung« und seine Diskussion eine neue Qualität, insofern nämlich als muslimischerseits jetzt nicht mehr nur auf sinnentstellende Auslegung der Bibel verwiesen, sondern »Schriftverfälschung« als tatsächliche Entstellung des ursprünglichen Textes der Bibel (taÎrÐf al-lafÛ) aufgefasst wird. Es war AbÙ MuÎammad ÝAlÐ b. AÎmad b. Íazm (994–1064), der in seinem »Buch der Unterschiede hinsichtlich der Religionen, Sekten und Glaubensgemeinschaften« (KitÁb al-fiÒal fÐ l-milal wa-l-ahwÁÞ wa-nniÎal) als erster »Schriftverfälschung« explizit als Textfälschung deutete und diese zum einen anhand der im Bibeltext enthaltenen Widersprüche (tanÁquÃ) und zum anderen anhand der Abweichungen gegenüber dem Koran nachzuweisen suchte.22 Diesem Beispiel folgten später andere.23 20 21 22 23
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So in seiner Einleitung zu: A Muslim Theologian’s Response to Christianity: Ibn Taymiyya’s Al-JawÁb al-ÑaÎÐÎ, New York 1984. Corruption and/or Misinterpretation of the Bible – The Story of Islamic Usage of TaÎrîf, in: Theological Review 24 (2003), 67–97. Lazarus-Yafeh, Intertwined Worlds (s. Anm. 8), 19–74; Camilla Adang, Muslim Writers on Judaism and the Hebrew Bible: From Ibn Rabban to Ibn Hazm, Leiden u. a. 1996, 223–248. U. a. AbÙ l-MaÝÁlÐ ÝAbd al-Malik b. ÝAbd AllÁh al-ÉuwainÐ (1028–1085), ŠihÁb ad-DÐn al-QarÁfÐ (gest. 1285) mit seinen »Klugen Antworten auf törichte Fragen« (Al-aÊwiba al-fÁÌira Ýan al-asÞila al-fÁÊira), hg. von B. Z. ÝAwaÃ, Kairo 1987, und vor allem Ibn TaimÐyas Schüler Šams ad-DÐn MuÎammad b. AbÙ Bakr b. Qaiyim al-ÉauzÐya (1292–1350) mit seinem Buch »Anleitung der Verwirrten bezüglich der Fragen von Juden und Christen« (HidÁya al-ÎayÁrÁ fÐ aÊwiba al-yahÙd wa-n-naÒÁrÁ), hg. von AÎmad ÍiÊÁzÐ as-SaqÁ, Kairo 1980.
Umso erstaunlicher ist es, dass es im Hinblick auf den Vorwurf der »Schriftverfälschung« im Sinne einer Textfälschung (taÎrÐf al-lafÛ) am Ende dennoch bei einer bemerkenswert ambivalenten Position geblieben ist. So schreibt der mehrfach schon erwähnte Ibn TaimÐya in seiner gleichfalls schon zitierten »Antwort an die Christen« (al-ÊawÁb aÒÒaÎÐÎ): »Wenn sie [Juden und Christen] meinen, dass der Koran die Verlässlichkeit des Bibeltextes (alfÁÛ) bestätigt, den sie heute besitzen – das ist die Tora und das Evangelium –, dann ist dies etwas, was ihnen manche Muslime zubilligen, viele Muslime jedoch bestreiten.«24 Hingegen besteht im Hinblick auf »Schriftverfälschung« als Sinnentstellung (taÎrÐf al-maÝnÁ) Einmütigkeit. Um noch einmal Ibn TaimÐya zu zitieren: »Hinsichtlich der sinnentstellenden Deutung der heiligen Schriften [Bibel] durch ihre [der Juden und Christen] Auslegungen und Interpretationen [...] und ihre Ersetzung von deren Satzungen durch ihre eigenen Rechtsentscheide bezeugen Muslime, Juden und Christen gleichermaßen deren [der Bibel] Fälschung (taÎrÐf) und – damit Abrogation.«25 Wie YÙsuf al-QaraÃÁwÐs eingangs zitierte Fatwa zeigt, hat sich daran bis heute zwar nichts geändert; doch trotz des Vorwurfs der »Schriftverfälschung« hat die Bibel ihre Bedeutung für den Koran und damit für die islamische Überlieferung nicht verloren oder – wie Muhammad Hamidullah sagt – ist »es für den Muslim verpflichtend, nicht nur an den Koran zu glauben, sondern auch an die gesamten Offenbarungen der vorislamischen Propheten«26.
5. Sukzession als aufeinander folgende Bestätigungen der Offenbarungsschriften Die Sukzession der Propheten und Offenbarungsschriften sowie die Anschauung von der Einheit der Offenbarung und der Unterschiedslosigkeit der (echten) Offenbarungsschriften bedeutet nach koranisch-islamischer Prophetologie aber weder deren Gleichwertigkeit noch deren Gleichrangigkeit. Vielmehr weist das Stichwort Sukzession zugleich darauf hin, dass es eine zeitliche Abfolge, ein Nacheinander der Propheten wie der Offenbarungsschriften gibt: Die »Blätter Abrahams« gingen der »Tora 24 25 26
Nach Thomas F. Michels Übersetzung (s. Anm. 20), 213. Nach ebd. Zum Problem der Abrogation von Tora und Evangelium durch den Koran vgl. Adang, Muslim Writers (s. Anm. 22), 192–222. Vgl. Hamidullah, Der Islam (s. Anm. 4), 97 § 147.
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des Mose«, diese dem »Evangelium Jesu« und dieses wiederum dem Koran voraus (vgl. Sure 3,65). Wie dieser Sukzession der Propheten gemäß Mose und Jesus – und bei den Manichäern ebenso auch Mani – zu je ihrer Zeit »das Siegel der Propheten« waren,27 so ist Muhammad nun allerdings nicht mehr nur »das Siegel der Propheten« zu seiner Zeit, sondern »das Siegel der Propheten« überhaupt (Sure 33,40). Ebenso gilt: Wie die Tora (taurÁ) und das Evangelium (inÊÐl) zu je ihrer Zeit »Wegweisung und Licht« (hudÁ wa-nÙr) waren (Sure 5,44.46), so ist die von Muhammad vermittelte Offenbarung nicht nur die zeitlich letzte, sondern damit zugleich auch die letztgültige (Sure 3,3). Die zeitliche Abfolge der Propheten und Offenbarungsschriften ist dabei zugleich Ausdruck ihrer Rangfolge. Dies bedeutet nun aber nicht, dass die jeweils voraufgegangenen Offenbarungsschriften deswegen belang- und bedeutungslos geworden und durch die ihnen jeweils nachfolgenden entwertet worden wären. Im Gegenteil – Sukzession heißt zugleich auch »Bestätigung« (taÒdÐq) und »Bekräftigung« (haimana) der voraufgegangenen Offenbarungsschriften durch ihre jeweils nachfolgenden und damit »Bestätigung« und »Bekräftigung« ihrer – freilich temporären, zeitlich begrenzten – Wahrheit als »Wegweisung und Licht«, wie aus Sure 5,44–48 hervorgeht. Die zuvor in Tora und Evangelium ergangene Botschaft wird im Koran indessen nicht nur ohne Neuerung in arabischer Sprache wiederholt (Sure 41,43; 46,9), sondern damit zugleich auf die in ihnen enthaltene Wahrheit und Bedeutung als Wegweisung und Licht hin bestätigt. Wie das Evangelium die Tora bestätigt, so bestätigt der Koran das Evangelium: »Und Wir sandten herab zu dir die Schrift mit der Wahrheit, bestätigend (muÒaddiqan), was ihr von der Schrift vorausging, und sie bekräftigend (muhaiminan Ýalaihi 28)« (Sure 5,48; vgl. 2,91). Auf das Verhältnis von Bibel und Koran bezogen meint taÒdÐq (»Bestätigung« und »Bekräftigung«) im Sinne dieser Sukzession viererlei: (1) Zuerst verweist taÒdÐq darauf, dass der Koran Vorgänger hat, deren Existenz nicht nur nicht bestritten, sondern anerkannt und positiv 27
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So nennt Ibn Ka×Ðr Jesus »das Siegel der Propheten der Kinder Israel« (MuÌtaÒar tafsÐr [s. Anm. 12], Bd. 3, 493); zur Sache ausführlich Carsten Colpe, Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam, Berlin 1990, 15–37 und 227–243. Wörtlich: »Amen darüber sagend«. Das heißt nach Ibn ÝAbbÁs (bei Ibn Ka×Ðr, MuÌtaÒar tafsÐr [s. Anm. 12], Bd. 1, 523): »Der Koran ist das Amen über jede Schrift vor ihm.«
gewürdigt wird. Den Koran zu verstehen, setzt biblisches Vorwissen nachgerade voraus. Viele biblische Erzählungen sind im Koran so weit verkürzt, dass sie ohne Bezug auf ihren biblischen Ursprung in ihrer Aussage kaum erfassbar sind. Die Kenntnis der biblischen Überlieferung ist hier eine notwendige Verstehenshilfe. So muss sich Muhammad sagen lassen: »So du im Zweifel bist über das, was Wir dir hinabsandten (im Koran), so frage diejenigen, welche die Schrift vor dir lasen [Juden und Christen]« (Sure 10,94). »Und Wir haben vor dir nur Männer gesandt, denen Wir eine Offenbarung eingegeben haben. So fragt die Leute der Überlieferung (ahl aÆ-Æikr), wenn ihr etwas nicht wisst« (Sure 16,43 = 21,7).29 (2) Sodann bedeutet taÒdÐq »Bestätigung« und »Bekräftigung« sowohl des göttlichen Ursprungs der dem Koran voraufgegangenen Schriften als auch ihres damit verbundenen Wahrheitsgehalts und Wahrheitsanspruchs: Die voraufgegangenen Schriften sind ebenso »Wegweisung und Licht« wie der Koran. Damit erhalten sie für den Koran zugleich eine legitimatorische Funktion. Und ganz in diesem Sinne haben jahrhundertelang muslimische Autoren, Korankommentatoren ebenso wie Historiker, biblische Texte benutzt,30 nicht um sie typologisch auszunutzen, sondern als dicta probantia. Ein eindrückliches Beispiel für den Rückgriff auf die Bibel im Sinne einer Verstehenshilfe liefert AbÙ MuÎammad ÝAbd AllÁh b. Muslim b. Qutaiba (828–889), der nach der Niederlage der MuÝtazila der Vertreter der sunnitischen Hauptrichtung im abbasidischen Kalifat seiner Zeit (ahl as-sunna wa-l-ÊamÁÝa) gewesen ist. In seinem »Buch der Erklärung der Divergenzen im Hadith« (KitÁb taÞwÐl muÌtalif al-ÎadÐ×)31 ebenso wie in seinen exegetischen Werken zum Koran zitiert er immer wieder die Bibel, sowohl um die Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit eines Hadith zu 29
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Zum Begriff siehe Sure 21,7; 12,109; 17,101; 26,197. Ahl aÆ-Æikr steht hier für das sonst übliche ahl al-kitÁb (»Leute der Schrift«) und meint die Anhänger früherer Offenbarungsreligionen, wie Ibn Ka×Ðr meint (MuÌtaÒar tafsÐr [s. Anm. 12], Bd. 2, 333). Zur Sache vgl. David R. Thomas, The Bible in Early Muslim Anti-Christian Polemics, in: Islam and Christian-Muslim Relations 7 (1996), 29–38; Jane D. McAuliffe, The QurÞanic Context of Muslim Biblical Scholarship, in: ebd. 141–158; Martin Accad, Corruption and/or Misinterpretation of the Bible, in: Peter F. Penner (Hg.), Christian Presence and Witness Among Muslims, Schwarzenfeld 2005, 36 –86, 72 ff. Hg. von ÝAbd AllÁh FaraÊ ZakÐ al-KurdÐ/MaÎmÙd ŠukrÐ al-AlÙsÐ/MaÎmÙd ŠÁbandÁrzÁde, Kairo 1362 (franz. Gérard Lecomte, Le traité des divergences du hadÐ× d’Ibn Qutayba [mort en 276/889], Damaskus 1962).
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beweisen als auch Aussagen des Korans verständlich zu machen.32 Und er begründet sein Vorgehen damit, dass er der Bibel göttlichen Ursprung bescheinigt und erklärt, dass nur »das, was offenbart worden ist«, herangezogen werden kann und darf, um andere Teile der Offenbarung auszulegen. Das gleiche Ziel verfolgen auch die unter dem Begriff IsrÁÞÐlÐyÁt zusammengefassten Überlieferungen, von denen viele auf den rabbinischen Midrasch zurückgehen. Bernard Lewis hatte sie einmal als eine »Sammlung von frühem islamischem religiösem Material« charakterisiert, »das weder zum Koran gehört noch zum akzeptierten und authentisierten Hadith, sondern zu deren Ergänzung benutzt wird«33. Sie bilden gleichsam den Kern der in diesem Zusammenhang nicht minder wichtigen, freilich eher (volkstümlichen) »Prophetenerzählungen« (qiÒaÒ al-anbiyÁÞ ), in denen Geschichten von den bzw. über die Propheten der (hebräischen) Bibel oder – um genauer zu sein – Gestalten der biblischen Geschichte erzählt werden, die im Koran als Propheten oder Gesandte aufgefasst werden.34 Auch wenn die Stellung dieser IsrÁÞÐlÐyÁt innerhalb der islami32 33
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Said Karoui, Die Rezeption der Bibel in der frühislamischen Literatur am
Beispiel der Hauptwerke von Ibn Qutayba (gest. 276/889), Heidelberg 1997. Die Juden in der islamischen Welt – Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, München 1987, 69; dazu ferner Georges Vajda, Art. IsrÁÞÐlÐyÁt, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Leiden 1978, Bd. 4, 211 f.; Menahem J. Kister, »Îaddi×Ù Ýan BanÐ IsrÁÞÐla wa-lÁ Ìaraja« – A Study of an Early Tradition, in: Israel Oriental Studies 2 (1972), 215–239, und Gordon Newby, TafsÐr IsrÁÞÐlÐyÁt – The Development of QurÞan-Commentary in Early Islam and its Relationship to Judaeo-Christian Traditions of Scriptural Commentaries, in: Journal of the American Academy of Religion 47 (1979), 685–697. Vgl. dazu Tilman Nagel, Art. qiÒaÒ al-AnbiyÁÞ, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Leiden 1986, Bd. 5, 180 f. Überblicke bieten u. a. Haim Schwarzbaum, Biblical and Extra-Biblical Legends in Islamic FolkLiterature, Walldorf 1982, 46–75 mit 142–162 Anm. 107–192; Rachel Milstein/Karin Rührdanz/Barbara Schmitz, Stories of the Prophets. Illustrated Manuscripts of Qisas al-Anbiya, Costa Mesa 1999; Scott B. Noegel/Brannon M. Wheeler, Historical Dictionary of Prophets in Islam and Judaism, Lanham 2002; Brannon M. Wheeler, Moses in the QurÞan and Islamic exegesis, London 2002; vgl. ferner al-KisÁÞ Ð, The tales of the prophets of al-KisÁÞÐ, transl. from the Arabic, with notes by William M. Thackston, jr., Boston 1978; Sayyed Abul Hasan Ali Nadwi, Stories of the prophets, London 1990; Ibn Mutarrif al-Tarafi, The Stories of the Prophets, hg. von Roberto Tottoli, Berlin 2003; AbÙ IÒÎÁq AÎmad b. MuÎammad b. IbrÁhÐm a×-ÕaÝlabÐ, Islamische Erzählungen von Propheten und Gottesmännern. QiÒaÒ al-anbiyÁÞ oder ÝArÁÞis al-maÊÁlis, übers. und kommentiert von Heribert Busse, Wiesbaden 2006.
schen Überlieferung zugegebenermaßen ambivalent geworden ist, wie Roberto Tottoli gezeigt hat,35 bestätigen sie doch auf je ihre Weise ebenso wie die »Prophetenerzählungen« die Unverzichtbarkeit der biblischen Überlieferung als Verstehenshilfe des Korans. Jahrhunderte später belegt dies noch einmal eindrucksvoll der Korankommentator BurhÁn ad-DÐn IbrÁhÐm b. ÝUmar al-BiqÁÝÐ (1406–1480), und zwar zu einer Zeit, in der die IsrÁÞÐlÐyÁt längst durch Ibn TaimÐya in Frage gestellt und von Ibn Ka×Ðr geradezu verworfen worden sind.36 Dagegen schreibt al-BiqÁÝÐ seinen umfangreichen Korankommentar, in dem er immer wieder sowohl die hebräische Bibel als auch das Neue Testament (»Evangelium«) heranzieht, um den Koran auszulegen. Und nicht nur das; mit seinem Werk al-AqwÁl al-qawÐma fÐ Îukm an-naql min alkutub al-qadÐma (»Die rechten Worte zum Verdikt, aus den alten Schriften zu zitieren«) verfasste er sogar eine Schrift zur Rechtfertigung der Notwendigkeit des Gebrauchs der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments in der Koranauslegung.37 (3) Drittens heißt »Bestätigung« und »Bekräftigung« der voraufgegangenen Schriften: Sichtung und kritische Prüfung des Voraufgegangenen. Von Prüfung und Bestätigung spricht übrigens auch der hier schon mehrfach zitierte Ibn Ka×Ðr in seinem Kommentar zu Sure 5,48.38 In der Tat erhebt der Koran den Anspruch, die »Schriftverfälschung« der »Leute der Schrift« (ahl al-kitÁb) zu korrigieren, indem er zum einen das bringt, was jene verborgen haben, und zum anderen das zurechtrückt, was sie verkehrt haben: »O Leute der Schrift, Unser Gesandter ist nunmehr zu euch gekommen, um euch vieles von dem klarzumachen, was ihr von der Schrift verborgen gehalten habt (mimmÁ kuntum tuÌfÙna mina l-kitÁbi). Und er verzeiht vieles. Gekommen ist nunmehr zu euch von Gott ein Licht und eine klare Schrift.« (Sure 5,15) »Bestätigung« und »Bekräftigung« in diesem Sinne meinen Auslegung 35 36
37 38
Biblical Prophets in the QurÞÁn and Muslim Literature, Richmond 2002. Vgl. Henri Laoust, Art. Ibn KathÐr, in: Encyclopedia of Islam, Bd. 3, 817 f. Mit dieser negativen Sicht liegt Ibn Ka×Ðr übrigens ganz auf der Linie der späteren islamischen Tradition, die – um nochmals Bernard Lewis zu zitieren – die »IsrÁÞÐlÐyÁt fast als Synonym für abergläubischen Unsinn benutzt, um Geschichten, Interpretationen und Bräuche zu verwerfen, die nicht als Bestandteil des authentischen Islam galten, sondern jüdischem und insofern unannehmbarem äußerem Einfluss zuzuschreiben waren« (Die Juden [s. Anm. 33], 69 f.). Vgl. Walid A. Saleh, In Defense of the Bible. A Critical Edition and an Introduction to al-BiqÁÝÐ’s Bible Treatise, Leiden/Boston 2008. Vgl. MuÌtaÒar tafsÐr (s. Anm. 12), Bd. 1, 523 f.
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und Kommentar zur Bibel. Damit wird der Koran zur relecture der Bibel, wie sich mühelos an einer ganzen Reihe von Beispielen illustrieren lässt.39 Doch damit nicht genug; denn die Idee der Sukzession besagt schließlich auch, dass (4) jede nachfolgende Offenbarungsschrift die jeweils voraufgegangene überbietet, sie damit auf eine Stufe der Vorläufigkeit stellt und letztendlich abrogiert, wie aus Sure 2,91 hervorgeht: »Und wenn man zu ihnen sagt: ›Glaubt an das, was Gott herabgesandt hat‹, sagen sie: ›Wir glauben an das, was zu uns [zuvor schon] herabgesandt worden ist (unzila ÝalainÁ)‹, und leugnen (wa-yakfurÙna) das, was nach ihm [herabgesandt worden ist], wo es doch die Wahrheit ist, das bestätigend, was sie bereits haben. Sag: Warum habt ihr dann zuvor Gottes Propheten getötet, wenn ihr Gläubige seid?« (vgl. Sure 5,68). Die gleiche Frage, die sich im Blick auf das Verhältnis des Christentums zum Judentum bzw. – koranisch gesprochen – des Evangeliums Jesu zur Tora des Mose als Frage nach der Gültigkeit der Tora post Christum natum stellt (vgl. dazu Mt 5,17 versus Röm 10,4: einerseits fällt von der Tora nichts weg; andererseits ist »Christus das Ende der Tora«), stellt sich auch für die islamische Tradition, und zwar im Blick auf das Verhältnis von Koran und Bibel, Islam, Christentum und Judentum zueinander. 39
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Stefan Schreiner, Das Zehnwort vom Sinai nach RashÐd ad-DÐn’s »Ge-
schichte der Kinder Israel«, in: Frankfurter Judaistische Beiträge 28 (2001), 21–77; ders., Die »Bindung Isaaks« in islamischem Gewande, in: Judaica 59 (2003), 49–55; ders., Kalif Gottes auf Erden. Zur koranischen Deutung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, in: Ulrike Mittmann-Richert/Friedrich Avemarie/Gebern S. Oegema (Hg.), Der Mensch vor Gott. Forschungen zum Menschenbild in Bibel, antikem Judentum und Koran (Festschrift Hermann Lichtenberger), Neukirchen-Vluyn 2003, 25–37; Stefan Schreiner, Das Sabbatgebot im Koran. Ein Beitrag zum Thema ›Der Koran als Auslegung der Bibel‹, in: Julia Männchen/Thomas Reiprich (Hg.), »Mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker genannt werden« (Jes 56,7). Judentum seit der Zeit des Zweiten Tempels in Geschichte, Literatur und Kult (Festschrift Thomas Willi), Neukirchen-Vluyn 2007, 333–345; Stefan Schreiner, Die »Bindung Isaaks«. Die ÝAqeda in jüdischer und islamischer Überlieferung, in: Stefan Meißner/Gunther Wenz (Hg.), Über den Umgang mit den Heiligen Schriften. Juden, Christen und Muslime zwischen Tuchfühlung und Kluft, Münster 2007, 140–157; zur Sache ferner: John Kaltner, Ishmael Instructs Isaac. An Introduction to the QurÞan for Bible Readers, Collegeville 1999; Reeves, Bible and QurÞan (s. Anm. 1); Jane D. McAuliffe (Hg.), With Reverence for the Word. Medieval Scriptural Exegesis in Judaism, Christianity, and Islam, New York 2003.
Nach Muhammad Hamidullah ist »Muhammad […] nicht nur der letzte der Propheten, sondern auch derjenige, dessen Verkündigung am besten bewahrt worden ist«. Zugleich stellt sie »die letzte göttliche Botschaft dar, die jüngste Gesetzgebung. Und ein späteres Gesetz hebt – wie bekannt – frühere Anordnungen des gleichen Gesetzgebers auf«. Wie einerseits »die den alten Propheten […] zuteil gewordenen Offenbarungen auch für die Muslime Gültigkeit haben« (vgl. Sure 6,91–92), freilich in der Beschränkung auf das, »was durch Koran oder hadith als glaubwürdiger Teil der an die vor-islamischen Propheten ergangenen Offenbarungen anerkannt ist«40, so kann sich ein Muslim andererseits »bei aller Hochachtung für die früheren Propheten […] nur der allerletzten Äußerung des göttlichen Willens gegenüber dem Menschen unterordnen. Der Muslim verehrt die Tora, den Psalter, das Evangelium als Wort Gottes, aber er richtet sich nach den letzten und allerjüngsten Worten des Herrn, d. h. nach dem Koran«41. Die Bibel enthält zwar Gottes Wort, der Koran aber ist es.42
40 41 42
Hamidullah, Der Islam (s. Anm. 4), 209 § 327. Ebd. 145 f. § 221. Vgl. ebd. 45 § 63; 201 § 317.
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Offenbarung als »Erinnerung« (aÆ-Æikr) Die Einheit der Offenbarungsreligionen und die Funktion der biblischen Erzählungen im Koran Abdullah Takım
»Verlies, was dir vom Buch offenbart wird.« (Sure 29,45)
1. Die Multireferentialität des Korans und die anderen Offenbarungsschriften Der Koran gibt viele Hinweise, wie er selbst und andere heilige Schriften zu verstehen sind. Er bringt seine Stellung innerhalb der Offenbarungsschriften deutlich zum Ausdruck, er bezieht sich auf sich selbst und auf andere Schriften, bewertet sie und ordnet sie in die Offenbarungsgeschichte ein, ohne bestimmte historische Daten zu nennen. Dadurch erlangt die Offenbarung an vielen Stellen eine überzeitliche und universelle Dimension.1 Nach Josef van Ess reflektiert der Koran über sich selbst.2 Stefan Wild3, Navid Kermani4, Jane Dammen McAuliffe5 und Mohamad 1
2 3
4
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Vgl. Stefan Wild, The Self-Referentiality of the QurÞan: Sura 3:7 as an Exegetical Challenge, in: Jane Dammen McAuliffe (Hg.), With Reverence for the Word. Medieval Scriptural Exegesis in Judaism, Christianity, and Islam, Oxford 2003, 422–36, 422; Stefan Wild, We have sent down to thee the Book with the Truth, in: ders. (Hg.), The QurÞan as Text, Leiden 1996, 136–153, 140. Vgl. Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra: eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Berlin 1991–1997, Bd. 4, 647. Vgl. Stefan Wild, The Self-Referentiality of the QurÞan (s. Anm. 1), 422 f.; ders., We have sent down (s. Anm. 1), 140; ders., Mensch, Prophet und Gott im Koran. Muslimische Exegeten des 20. Jahrhunderts und das Menschenbild der Moderne, Münster 2001, 33. Vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000, 97. Angelika Neuwirth bezieht sich auf diese Textstelle in
Nur Kholis Setiawan6 haben ebenfalls auf diesen Charakter des Korans hingewiesen, wobei sie dies mit den Ausdrücken Selbstreferentialität, Selbstreflektion oder Meta-Textualität wiedergegeben haben. Man kann den Koran somit als ein multireferentielles, schriftlich fixiertes mündliches Wort bezeichnen, das über sich und die anderen heiligen Schriften reflektiert. Dies kann der Koran nur leisten, weil er nach seinem Selbstverständnis den Abschluss und Höhepunkt der heiligen Schriften darstellt.7 Dies bedeutet nicht, dass andere heilige Schriften abgewertet sind oder keine Gültigkeit mehr besitzen. Ganz im Gegenteil, dadurch wird ihre göttliche Herkunft vom Koran noch einmal unterstrichen und werden die Anhänger in ihrem Glauben an ihre Schriften gestärkt. Schließlich wird durch die inklusive Perspektive des Korans auch der Dialog zwischen den Offenbarungsreligionen angestoßen und erleichtert.
5 6 7
Kermanis Buch und weist auf die Implikationen der Selbstreferentialität des Korans hin. Denn wenn man eine Selbstreferentialität des Korans annimmt, dann »muß man auch eine historische Entwicklung zugestehen. Denn nur ein Text, der um einen Nucleus herum anwächst, kann sich selbst kommentieren« (Angelika Neuwirth, Erzählen als kanonischer Prozeß. Die MoseErzählung im Wandel der koranischen Geschichte, in: Rainer Brunner [Hg.], Islamstudien ohne Ende. Festschrift für Werner Ende zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, 323–344, 326). Vgl. Jane Dammen McAuliffe, Text and Textuality. Q. 3:7 as a Point of Intersection, in: Issa J. Boullata (Hg.), Literary Structures of Religious Meaning in the QurÞan, London 2000, 56–76, 56 f. Vgl. Mohamad Nur Kholis Setiawan, Die literarische Koraninterpretation: Eine Analyse ihrer frühen Elemente und ihrer Entwicklung, Bonn 2003, 42– 50. Wilfred Cantwell Smith hat in einer Reihe von Schriften seine kumulative Sicht der heiligen Schriften entwickelt, nach der sich die heiligen Schriften selbst (Form) und der Begriff der »Heiligen Schrift« (Konzept) in der Geschichte allmählich entwickeln und im Koran ihren Gipfelpunkt erreichen, vgl. dazu Wilfred Cantwell Smith, Scripture as Form and Concept. Their Emergence for the Western World, in: Miriam Levering (Hg.), Rethinking Scripture: Essays from a Comparative Perspective, Albany 1989, 29–57, 29–32 f.; ders., A Note on the QurÞan from a Comparativist Perspective, in: Wael B. Hallaq/Donald P. Little (Hg.), Islamic Studies Presented to Charles J. Adams, Leiden 1991, 183–192.
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2. Die Multireferentialität des Korans im zeitgenössischen Korankommentar von Süleyman Ate¢ Der selbst- oder multireferentielle Charakter des Korans wird im Zusammenhang mit den anderen Offenbarungsreligionen und -schriften vom türkischen Koranexegeten Süleyman Ate¢ in seinem Korankommentar unter anderem bei der Interpretation des Begriffs Æikr oder aÆÆikr (wörtlich: die Erinnerung, Ermahnung) sehr gut dargestellt.8 Aus diesem Grunde stütze ich mich in diesem Beitrag hauptsächlich auf die Ausführungen von Süleyman Ate¢. Ate¢ ist einer der renommiertesten und zugleich umstrittensten islamischen Theologen der heutigen Türkei. Er gehört zu den Theologen, die den Islam und den Koran neu verstehen und deuten wollen. In seinen koranexegetischen Werken9 versucht Ate¢ die ursprüngliche Bedeutung des Korans herauszuarbeiten, um dadurch die koranischen Wahrheiten ans Tageslicht zu bringen, die durch die Jahrhunderte hindurch durch verschiedene Interpretationen zugedeckt wurden. Zu diesen koranischen Wahrheiten, die Ate¢ wiederentdeckt hat, gehört auch die geistige Einheit der Offenbarungsreligionen, die intertextuelle Lesarten der heiligen Schriften erleichtert und für die moderne Koranexegese von erheblicher Bedeutung ist. Mit seinen neuen koranexegetischen Ansätzen und Ergebnissen ist Ate¢ auf Widerstand gestoßen, hat aber auch Erfolge verzeichnet. Er glaubt, dass sein Werk »in der Türkei auf dem religiösen Gebiet eine gedankliche Revolution zustande gebracht hat«10. Tatsächlich kann man sagen, dass der Ansatz von Ate¢ Früchte getragen und in der Türkei dafür gesorgt hat, dass man über das Verständnis des Korans neu nachgedacht hat und als Folge davon neue Ansätze entwickelt wurden. Außerdem zeigen die Diskussionen um den Korankommentar von Ate¢ in der türkischen Öffentlichkeit und in anderen europäischen Ländern, dass Ate¢ sich gegen die Hauptströmungen des Islams rechtfertigen musste, um erfolgreich zu sein. Denn wer zur Quelle gelangen will, muss oft gegen den Strom schwimmen.11 8 9 10 11
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Abdullah Takim, Koranexegese im 20. Jahrhundert: Islamische Tradition und neue Ansätze in Süleyman Ate¢’s »Zeitgenössischem Korankommentar«, Istanbul 2007. Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (= Die zeitgenössische Interpretation des Erhabenen Korans), Istanbul 1988–1992; KurÞân Ansiklopedisi (= Enzyklopädie des Korans), Istanbul 1997–2003. Ate¢, KurÞân Ansiklopedisi (s. Anm. 9), Bd. 25, 485. Vgl. auch Abdullah Takım, Eine neue Koranexegese. Der bekannte türki-
3. Der Begriff aÆ-Æikr und seine Deutung im Korankommentar von Süleyman Ate¢ Der Begriff aÆ-Æikr ist für Ate¢ ein Schlüsselbegriff, um den Offenbarungsprozess, das Verhältnis und die Kontinuität der Offenbarungsreligionen und -schriften darzustellen. So führt Ate¢ folgende Koranstelle an, die als locus classicus für den Begriff aÆ-Æikr gilt: »Wir senden die Engel nur mit der Wahrheit hinab. Dann wird ihnen kein Aufschub gewährt. Wir, ja Wir haben die Ermahnung (aÆ-Æikr) hinabgesandt, und Wir werden sie gewiss bewahren.« (Sure 15,8 f.) Hier wird gesagt, dass aÆ-Æikr von Gott durch Vermittlung der Engel herabgesandt worden ist und von Gott geschützt wird. Nach den klassischen Koranexegeten ist mit aÆ-Æikr hier der Koran gemeint, der von Gott nach seiner Herabsendung fortwährend geschützt wird. Nach Ate¢ dagegen spricht Sure 15,9 nicht vom Zustand des Korans nach seiner Offenbarung, sondern während seiner Offenbarung. Es wird also der Offenbarungsprozess beschrieben, der vor dem Satan, der sein eigenes Wort einflüstern könnte, geschützt wird. Dies geschieht immer dann, wenn die Engel mit der Offenbarung hinabsteigen (vgl. auch Sure 19,64; 72,26–28).12 Da in Sure 15,9 mit aÆ-Æikr nicht nur der Koran gemeint ist, sondern auch die anderen heiligen Schriften, ist hier laut Ate¢ nicht nur vom Schutz des Korans, sondern auch der anderen heiligen Schriften die Rede. Aus den folgenden Versen wird deutlich, dass mit aÆ-Æikr auch die Tora bezeichnet wird:13 »Wahrlich nach dem aÆ-Æikr haben Wir auch im Psalter geschrieben: ›Meine rechtschaffenen Diener werden das Land erben‹.« (21,105) Hier kann mit aÆ-Æikr unmöglich der Koran gemeint sein, weil der Koran geschichtlich gesehen nach dem Psalter offenbart worden ist und vor dem Psalter die Tora offenbart wurde. An einer anderen Stelle wird die Beziehung zwischen den Besitzern der Ermahnung (ahl aÆ-Æikr) und dem aÆ-Æikr, das auf Muhammad herabgesandt wurde, hergestellt: »Und Wir haben vor dir nur Männer gesandt, denen Wir Offenbarungen eingegeben haben. So fragt die Besitzer der Ermahnung
12 13
sche Koranexeget Süleyman Ate¢ und sein zeitgenössischer Korankommentar, in: CIBEDO-Beiträge 2 (2009), 51–60. Vgl. Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 5, 54–57. Vgl. ders., KurÞân Ansiklopedisi (s. Anm. 9), Bd. 12, 144–148; ders., Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 11, 345–347.
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(ahl aÆ-Æikr), wenn ihr nicht Bescheid wisst. (Wir haben sie gesandt) mit den deutlichen Zeichen und den Schriften. Und Wir haben zu dir die Ermahnung (aÆ-Æikr) herabgesandt, damit du den Menschen deutlich machst, was zu ihnen herabgesandt worden ist, und damit sie vielleicht nachdenken.« (16,43 f.) Mit den ahl aÆ-Æikr sind hier die Gelehrten der Schriftbesitzer, mit aÆ-Æikr ist die »Tora oder generell ausgedrückt die vorkoranische Heilige Schrift (Tora, Psalter, Evangelium) gemeint«14. Zusammenfassend kann man sagen, dass Gott gemäß Sure 15,9 den aÆ-Æikr herabgesandt hat und ihn fortwährend schützt. Der Schutz (ÎifÛ) des aÆ-Æikr wird auch dadurch gewährleistet, dass er in Form des Korans auf Muhammad herabgesandt worden ist und der Koran die vorkoranischen heiligen Schriften bestätigt (muÒaddiq) und beschützt (muhaimin). Zuerst hat Gott den aÆ-Æikr Moses (und den anderen Propheten) gegeben oder offenbart, danach hat Er den Grundinhalt des aÆ-Æikr Muhammad offenbart. Somit bewahrt Gott seine Offenbarung (aÆ-Æikr) durch die fortwährende Herabsendung des aÆ-Æikr an seine Gesandten. Damit werden auch die früheren Offenbarungsinhalte der heiligen Schriften wiederbelebt und aktualisiert, was ihre Wirkung stärkt.
4. Wer ist mit den »Besitzern der Ermahnung« gemeint? Die Deutungen der klassischen Koranexegeten Vers 43 der Sure 16, der wie folgt lautet: »Und Wir haben vor dir nur Männer gesandt, denen Wir Offenbarungen eingegeben haben. So fragt die Besitzer der Ermahnung, wenn ihr nicht Bescheid wisst«, zeigt laut Ate¢, dass die Polytheisten eine Beziehung zu den Gelehrten der Juden und Christen hatten und diese Gelehrten schätzten. Diese Gelehrten werden hier als »Besitzer der Ermahnung« bezeichnet und wegen dieser Anerkennung als Referenz angeführt. Hätten diese Gelehrten in den Augen der Polytheisten keinen hohen Rang, so wäre die Argumentation des Korans nicht überzeugend. Ate¢ weist kurz darauf hin, dass auch der bekannte und Autorität genießende Koranexeget FaÌr ad-DÐn ar-RÁzÐ (gest. 1209) in der Auslegung dieses Verses den Standpunkt vertritt, dass mit »Besitzer der Ermahnung« die gelehrten Juden und Christen gemeint sind.15 Außerdem zitiert
14 15
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Ders., Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 11, 347. Vgl. ebd. Bd. 5, 108.
er, sich auf die bekannten Koranexegeten aÔ-ÓabarÐ16 (gest. 923) und ašŠaukÁnÐ17 (gest. 1839) stützend, frühere Koranexegeten aus dem 7./8. Jahrhundert (z. B. Ibn ÝAbbÁs, aš-ŠaÝbÐ, MuÊÁhid b. Éabr und aÃÂaÎÎÁk), die den Begriff aÆ-Æikr mit der Tora oder den vorkoranischen heiligen Schriften gleichsetzen.18 In FaÌr ad-DÐn ar-RÁzÐs Kommentar findet sich eine weitere Interpretation dieses Ausdrucks, die Ate¢ jedoch nicht erwähnt. Ar-RÁzÐ sagt in der Auslegung des Verses 7 der Sure 21, welcher dem obigen Vers gleicht, dass mit dem Ausdruck »Besitzer der Ermahnung« die Schriftbesitzer gemeint sind, also Juden oder Christen. Er weist darauf hin, dass die Auslegung der Gelehrten, die diesen Ausdruck (»Besitzer der Ermahnung«) auf den Koran beziehen und im Sinne von »Leute des Korans« verstehen, falsch sei. Grund dafür sei, dass der Ausdruck in dieser Form, nämlich als »Leute des Korans«, im Koran nicht die Anhänger des Propheten bezeichnen könne, weil die »Besitzer der Ermahnung« im Koran auch der Lüge bezichtigt und kritisiert werden.19 As-SuyÙÔÐ (gest. 1505) stimmt mit ar-RÁzÐ überein und sagt in seinem Standardwerk zu den Koranwissenschaften, dass in diesem Vers mit aÆ-Æikr die Tora gemeint und folglich die ahl aÆ-Æikr die Gelehrten der Tora seien.20 Auch nach Rudi Paret sind mit »Besitzer der Ermahnung« (Sure 16,43) die »Angehörigen früherer Offenbarungsreligionen gemeint«21.
16 17 18 19 20 21
Vgl. aÔ-ÓabarÐ, ÉÁmiÝ al-bayÁn Ýan taÞwÐl Áy al-QurÞan (= Die Sammlung der Erklärungen zur Deutung der Koranverse), Kairo 21953, Bd. 14, 108 f.; Bd. 17, 103 f. Vgl. MuÎammad b. ÝAlÐ aš-ŠaukÁnÐ, FatÎ al-qadÐr, Ägypten 21964, Bd. 3, 164, 430. Vgl. Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 11, 345–347. Vgl. FaÌr ad-DÐn ar-RÁzÐ, at-TafsÐr al-kabÐr (= Der große Korankommentar, bekannt als MafÁtÐÎ al-Èaib = Die Schlüssel des Verborgenen), hg. von AÎmad EfendÐ, BÙlÁq 1861–62, Bd. 4, 490 (Kommentar zu Sure 21,7). Vgl. ÉalÁl ad-DÐn ÝAbd ar-RaÎmÁn as-SuyÙÔÐ, al-ItqÁn fÐ ÝulÙm al-QurÞan (= Die Vollendung in den Koranwissenschaften). TaqdÐm wa-taÝlÐq MuÒÔafÁ DÐb al-BuÈÁ, Beirut 1996, Bd. 1, 452. Rudi Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 41989, 286.
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5. Der Begriff Æikr und die Funktion der koranischen Erzählungen: ein Vergleich der Erzählstile von Koran und Bibel Der Begriff Æikr spielt auch in den koranischen Erzählungen, die sich auf biblische oder außerbiblische Überlieferungen beziehen, eine wichtige Rolle. Die Erzählstoffe und Geschichten der Bibel werden jedoch vom Koran nicht eins zu eins übernommen, sondern in einen neuen Kontext eingebettet. Der Koran bewertet den Inhalt der heiligen Schriften oder anderer Quellen oder Traditionen und gibt diesen in arabischer Sprache den Zeitumständen entsprechend wieder. Was den Erzählstil des Korans betrifft, so herrscht laut Ate¢ im Koran nicht der Geschichtsstil vor wie in der Bibel, sondern der Ermahnungs- und Erinnerungsstil. Im Koran heißt es zum Beispiel am Ende der Sure Joseph (12,111): »Wahrlich, in der Erzählung über sie ist eine Ermahnung (Lehre) für die Einsichtigen. Es ist keine Geschichte, die erdichtet wird, sondern die Bestätigung dessen, was (an Offenbarung) vor ihm (dem Koran) vorhanden war, und eine ins einzelne gehende Darlegung aller Dinge, und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben.« Der Koran will nicht nur eine Geschichte von Anfang bis zum Ende nacherzählen, sondern durch diese Geschichten, die er ausgewählt hat, die Menschen an die vergangenen Propheten und Völker erinnern, ermahnen und schließlich dadurch rechtleiten. Dies setzt voraus, dass die Zeitgenossen des Propheten viele Geschichten kannten,22 auf die der Koran anspielen konnte. Denn man kann sich nur an etwas erinnern, das man kennt. Der Koran bezeichnet deswegen seinen Erzählstil als taÆkÐr und ÆikrÁ (Erinnerung und Ermahnung).23
22
23
190
Der Offenbarungsbegriff waÎy war den Arabern zur Zeit des Propheten Muhammad auch bekannt (vgl. Navid Kermani, Offenbarung als Kommunikation. Das Konzept waÎy in Nasr Hamid Abu Zaids MafhÙm an-naÒÒ, Frankfurt 1996, 42–50). Vgl. Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 1, 47, 438; Bd. 3, 368–71; Bd. 4, 312, 415, 418–20; Bd. 5, 428, 432; Bd. 6, 464–5; Bd. 10, 23 f.; Bd. 11, 530–532. Vgl. außerdem William Montgomery Watt, Bell’s Introduction to the QurÞan. Completely Revised and Enlarged by W. Montgomery Watt, Edinburgh 1970, 185; Jacques Jomier, Aspects of the QurÞan Today, in: Alfred F. L. Beeston (Hg.), The Cambridge History of Arabic Literature. Arabic Literature to the End of the Umayyad Period, Cambridge 1983, 260–270, 262; Rotraud Wielandt, Offenbarung und Geschichte im Denken moderner Muslime, Wiesbaden 1971, 20 ff., 30.
Es wird immer wieder in nicht-muslimischen Schriften behauptet, dass Muhammad der Autor des Korans ist und damit die biblischen Geschichten aus der Bibel oder aus anderen schriftlichen oder mündlichen Quellen von ihm entnommen und teilweise umformuliert und so in den Koran integriert worden sind. Doch laut dem Koran hat Gabriel den ganzen Koran in arabischer Sprache ins Herz des Propheten Muhammad offenbart (vgl. Sure 26,192–196). Folglich sind auch die biblischen Geschichten und Stoffe, die im Koran enthalten sind, von Gabriel mit der Erlaubnis Gottes Muhammad offenbart worden. Der Prophet selbst hat also den Koran so verkündet, wie er ihn erhalten hat (vgl. Sure 26,192–196). Der Koran knüpft natürlich an die früheren Schriften an, wenn er in der Sure 26,196 sagt, dass Teile des Korans in den Schriften der Früheren enthalten sind. Diese intertextuelle Beziehung wird allerdings durch Gabriel hergestellt, indem er die Inhalte der früheren Schriften den Zeitumständen entsprechend Muhammad offenbart. Insofern trifft die religionsgeschichtliche Aussage von Annemarie Schimmel zumindest teilweise auf den Koran zu, nämlich dass »keine Religion […] in einem Vakuum wachsen [kann] und der religiöse Führer, der Stifter oder der Prophet […] nur die Sprache benutzen [kann], an die seine Hörer zumindest bis zu einem gewissen Grade gewöhnt sind und deren Bilder und Umfeld sie verstehen, […] denn eine Religion nimmt nur solche Ideen, Sitten und Tendenzen auf, die auf irgendeine Weise mit ihrem innersten Wesen vereinbar sind.«24 Der Koran nahm Erzählstoffe aus den heiligen Schriften und dem Erzählschatz der Araber auf und formte sie, ohne ihr wahres Wesen zu verändern, so um, dass sie mit dem Hauptprinzip des Korans, nämlich mit dem Monotheismus, in Einklang standen. Dabei haben viele Geschichten des Korans den Charakter einer Anspielung: »Um es wieder zu sagen, viele der koranischen ›Erzählungen‹ haben den Charakter einer Anspielung, was voraussetzt, dass die Zuhörer bereits einige Kenntnisse über die Geschichte besitzen.«25 Der Koran benutzt nicht nur die Sprache, sondern auch das Weltbild der Araber, um sich verständlich zu machen.26 Wenn der Koran von den sieben Himmeln spricht, so deswegen, weil er nicht unbedingt sagen will, 24
Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam,
25
William Montgomery Watt, Bell’s Introduction (s. Anm. 23), 185. Vgl. Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 1, 47 f.; vgl. auch Bd.
26
München 1995, 11.
4, 382, 415; Bd. 6, 525 f. Vgl. Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 5, 221.
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dass sieben Himmel existieren, sondern weil die Araber an die Existenz der sieben Himmel geglaubt haben. So werden auch die Gaben des Paradieses mit den Begriffen erklärt, die die Menschen verstehen können. Andernfalls würde der Mensch die intendierte Botschaft nicht begreifen.27 Ansätze in dieser Richtung findet man auch bei ar-RÁzÐ, denn er sagt, dass »Gott die Menschen (im Koran) in der Weise anredet, wie sie es gewohnt sind«. So bezeichnet sich Gott im Koran als der König und besitzt auch einen Thron, der seine Herrschaft symbolisiert und von dem er auch das Universum regiert. Man findet laut ar-RÁzÐ viele solcher anthropomorphen Aussagen im Koran, die den Menschen das Verständnis der koranischen Aussagen erleichtern sollen.28
6. Die Komposition der koranischen Erzählungen und ihr Bezug zum Leben und zur Mission des Propheten Stefan Wild hat treffend die Beziehung zwischen Offenbarungskontext und dem speziellen Aufbau der koranischen Erzählungen herausgearbeitet, die ohne ein Vorverständnis der Ersthörer nicht ganz zu verstehen sind. Diese Erzählungen stellen eine Beziehung zum damaligen geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext her und aktualisieren die biblischen oder außerbiblischen Geschichten: »Der koranische Text [verweist] in vielen Fällen auf ein Vorverständnis des Hörers. Der Koran enthält bekanntlich nur wenige Gesamtkompositionen im Stil der Josephs-Sure. Er verweist vielmehr in vielen erzählenden Passagen z. B. mit seinem iÆ, ›damals, als …‹ auf den Hörern bekannte Geschichten und Motive, die für die aktuelle Gelegenheit ausgedeutet wurden. […] Die koranische Offenbarung hatte die Aufgabe, deren Sinn für die Gegenwart des Propheten und seiner Zeitgenossen zu erschließen. Nicht die Geschichte selbst war das Wesentliche, sondern die göttlich verbürgte Deutung. […] Der europäische Leser wird in den Geschichten allzu leicht hauptsächlich Lücken in der Führung der Erzählung erkennen. Und er mahnt, die biblische Parallele gewohnt, Differenzen an.«29 27 28 29
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Vgl. ebd. Bd. 4, 111. Vgl. ar-RÁzÐ, at-TafsÐr al-kabÐr (s. Anm. 19), Bd. 6, 347 f. (Kommentar zu Sure 69,17); vgl. auch Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 10, 44. Stefan Wild, »Die schauerliche Öde des heiligen Buches«. Westliche Wertungen des koranischen Stils, in: Alma Giese/J. Christoph Bürgel (Hg.),
Auch Süleyman Ate¢ vertritt die Auffassung, dass die Geschichten im Koran, »insbesondere die Hiobsgeschichte mit dem Leben des Propheten eine Parallelität (wörtlich: näheren Zusammenhang) aufweisen«30. Im Koran dienen also die Geschichten über andere Propheten unter anderem als Modelle, um Muhammad bei seiner Mission zu unterstützen. So weist die Geschichte Abrahams, der die Menschen zum Monotheismus aufrief und ihre Götzen zerschlug und viel leiden musste, ebenfalls Parallelen zu Muhammads Leben auf. Schließlich wurde er jedoch mit Gottes Hilfe nach seiner Auswanderung in ein fruchtbares Land der Führer seines Volkes. Fast in gleicher Weise sind Parallelen zwischen der Mission von Moses und Muhammad festzustellen. Beide sind auf starken Widerstand gestoßen, haben zusammen mit ihrem Volk gelitten und mussten auswandern.31 Der Koran wählt also von den Lebensgeschichten der Propheten diejenigen Aspekte aus, die mit dem Leben und Wirken Muhammads Gemeinsamkeiten haben, um so in indirekter Weise die Araber zu ermahnen und sie von ihren schlechten Taten abzubringen. Dies kann für die Koranauslegung fruchtbar gemacht werden.
7. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bibel in der islamischen Geschichte Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass sich in der islamischen Geschichte eine ganze Reihe von Gelehrten mit der Bibel auseinandergesetzt haben. BurhÁn ad-DÐn al-BiqÁÝÐ (gest. 885/1480) war laut Hava Lazarus-Yafeh der erste Muslim, der im wissenschaftlichen Sinne korrekt aus der Bibel zitierte. Dies sei aus seinem Korankommentar NaÛm ad-durar fÐ tanÁsub al-Áy wa-s-suwar (= Die Anordnung der Perlen: die gegenseitige Beziehung und Harmonie der Koranverse und -suren) ersichtlich, wo er Passagen aus der Bibel, ohne diese zu entstellen, zitiert,
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Gott ist schön und er liebt die Schönheit. Festschrift für Annemarie Schimmel zum 7. April 1992, Bern 1994, 429–447, 442. Vgl. für die folgenden Ausführungen auch Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri (s. Anm. 9), Bd. 5, 518. Vgl. ebd. Bd. 5, 491 ff., 512, 522; Bd. 6, 319–20. Diese Parallelen werden auch von Angelika Neuwirth mit einer kanon-genetisch orientierten Lesung (326), die in der Bibelwissenschaft als canonical approach bekannt ist, herausgearbeitet (vgl. Neuwirth, Erzählen [s. Anm. 4], 323–344).
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um sie mit dem Koran zu vergleichen.32 Doch diese Vorgehensweise von BurhÁn ad-DÐn al-BiqÁÝÐ wurde von seinen Zeitgenossen kritisiert, was Lazarus-Yafeh nicht erwähnt. In einer Verteidigungsschrift rechtfertigt al-BiqÁÝÐ deswegen seine Auslegungsmethode.33 Auch NaÊm ad-DÐn aÔ-ÓÙfÐ (gest. 1316) gehört zu denjenigen Muslimen, die die Bibel vollständig gelesen und kritisch dazu Stellung genommen haben. Er hat einen polemisch-kritischen Kommentar zu den Evangelien (at-TaÝÁlÐq ÝalÁ l-anÁÊÐl al-arbaÝa = Kommentar zu den vier Evangelien) geschrieben und zudem viele Bücher aus dem Alten Testament kurz kommentiert.34 Aus diesem Grunde kann er vielleicht als der erste muslimische Bibelkommentator gelten. In der Moderne hat der islamische Reformer Sayyid AÎmad Khan (1817–1898), der nicht an die systematische Verfälschung der Bibel glaubt, ebenfalls von der Bibel Gebrauch gemacht und einen dialogisch ausgerichteten Bibelkommentar in Urdu mit einer englischen Zusammenfassung verfasst.35 Ursprünglich hatte Sayyid AÎmad Khan vor, in diesem Werk die ganze Bibel zu kommentieren, doch konnte er dies aus verschiedenen Gründen nicht realisieren. Sayyid AÎmad Khan vertritt in diesem und in seinen anderen Werken die These, dass der Text der Bibel nicht verfälscht (taÎrÐf al-lafÛ), sondern durch Fehldeutungen (taÎrÐf almaÝnÁ) entstellt wurde. Die Echtheit der Bibel bedeute aber nicht, dass alle Teile der Evangelien authentische Offenbarungen seien, die Jesus verkündet habe, denn die Offenbarungen, die Jesus erhielt, seien später durch Anhänger von Jesus aufgeschrieben worden. Dennoch könne man 32 33
34 35
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Vgl. Hava Lazarus-Yafeh, Art. TawrÁt, in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. 10, 394. Vgl. AbÙ l-Íasan al-BiqÁÝÐ, Al-aqwÁl al-qawÐma fÐ Îukm an-naql min-a lkutub al-qadÐma (= Die richtigen Lehrmeinungen bei der Bestimmung des Rechtsurteils, ob man aus den alten Schriften überliefern kann). TaÎqÐq Dr. MuÎammad MursÐ al-ËÙlÐ, in: Revue de l’Institut des Manuscrits Arabes: RIMA 26,2 (1980), 37–96. Vgl. zum Leben und Werk von BurhÁn ad-DÐn al-BiqÁÝÐ Suat Yıldırım, Art. BikÁî, in: Türkiye Diyanet Vakfı £slâm Ansiklopedisi, Bd. 6, Istanbul 1992, 149 f. — Der Inhalt dieser Schrift wurde meines Wissens zuerst von Moritz Steinschneider, der sich wiederum auf andere Quellen stützt, beschrieben und bekannt gemacht (vgl. dazu Moritz Steinschneider, Polemische und apologetische Literatur in arabischer Sprache. Zwischen Muslimen, Christen und Juden, nebst Anhängen verwandten Inhalts. Mit Benutzung handschriftlicher Quellen, Leipzig 1877, 389–392). Vgl. Wolfhart P. Heinrichs, Art. al-ÓÙfÐ, Nadjm al-DÐn, in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. 10, 588. TabyÐn al-kalÁm fÐ tafsÐr at-tawrÁt wa-l-inÊÐl ÝalÁ millat al-islÁm. The Mohamedan Commentary on the Holy Bible, Ghazipur 1862.
mit kritischen Methoden aus den vier Evangelien das Evangelium (inÊÐl), von dem der Koran berichtet, herausarbeiten. Die Aufgabe der Muslime bestehe weiterhin darin, die Fehldeutungen des Christentums festzustellen und sie zu korrigieren. Der Koran hat somit für ihn einen Korrektivcharakter.36 MaulÁnÁ AbÙ l-WafÁÞ ThanÁÞ AllÁh Amritsari (1868–1948) hat einen Korankommentar in Urdu geschrieben und gehört zu den Kritikern von Sayyid AÎmad Khan. Er akzeptiert die Bibel auch als unverfälscht und damit als gültige theologische Quelle. Aus diesem Grunde benutzt er ebenfalls Bibelzitate in seinem Korankommentar, insbesondere um Sayyid AÎmad Khans Positionen damit zu widerlegen.37 Neben RašÐd RiÃÁ hat auch MuÒÔafÁ MaÎmÙd in seinem modernen, koranzentrierten Werk von der Bibel Gebrauch gemacht.38 Es gibt noch weitere islamische Gelehrte, die eine positive Haltung gegenüber der Bibel haben. Jedoch ist deren Zahl insgesamt gering, denn das Verhältnis der Offenbarungsreligionen zueinander war im Laufe der Geschichte sehr spannungsgeladen und sorgte dafür, dass apologetische Schriften gegen die jeweils andere Religion verfasst wurden. Deswegen wird es noch eine Weile dauern, bis eine wissenschaftlich fundierte muslimische Bibelexegese entsteht und muslimische »Christianologen« ausgebildet werden.39 36
37 38
39
Vgl. dazu auch Christian W. Troll, Sayyid Ahmad Khan on Matthew 5,17– 20, in: Islamochristiana 3 (1977), 99–105. Zum Ganzen auch Andrew Rippin, Interpreting the Bible through the QurÞan, in: Gerald R. Hawting/AbdulKader A. Shareef (Hg.), Approaches to the QurÞan, London 1993, 249–259, 256 f. Rippin bietet in diesem Artikel einen kurzen, aber sehr nützlichen Überblick über die Schriften der Muslime, die sich auf die Bibel beziehen. Vgl. Christian W. Troll, A Note on the TafsÐr-i ThanÁÞi of ThanÁÞ AllÁh Amritsari and his Criticism of Sayyid AÎmad KhÁn’s TafsÐr-i AÎmadi, in: Islamic Culture 59 (1985), 29–44, 41 f. Al-QurÞan: muÎÁwala li-fahm ÝaÒrÐ (= Der Koran: Versuch eines zeitgenössischen Verstehens), 1970. Vgl. Ali Merad, Revelation, Truth and Obedience, in: Stanley J. Samartha/John B. Taylor (Hg.), Christian-Muslim Dialogue. Papers presented at the Broumana Consultation, 12–18 July 1972, Geneva 1973, 58–72, 70; vgl. zu MuÒÔafÁ MaÎmÙd generell Stephan Conermann, MuÒÔafÁ MaÎmÙd (geb. 1921) und der modifizierte islamische Diskurs im modernen Ägypten, Berlin 1996; vgl. zu seinem Korankommentar: Karim Fahmy el-Yazzi, MuÒÔafÁ MaÎmÙd und der Koran. Beispiel eines modernen Korankommentars, Freiburg 2000 (unveröffentl. Magisterarbeit). Zur Feststellung weiterer Gelehrter, die eine positive Haltung gegenüber der Bibel haben, sollten folgende Schriften näher untersucht werden: AdelTheodor Khoury/Ludwig Hagemann, Christentum und Christen im Denken zeitgenössischer Muslime, Altenberge 1986; Jacques Waardenburg (Hg.),
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8. Schlussbetrachtung Was den Dialog betrifft, so ist der gegenseitige Verfälschungsvorwurf ein großes Hindernis, der nicht weiterführen kann. Juden, Christen und Muslime müssen neue intertextuelle Ansätze entwickeln, um die Heilige Schrift der jeweils anderen Religion vorurteilsfrei und wissenschaftlich zur Kenntnis zu nehmen. Der Ansatz von Süleyman Ate¢, den ich hier vorgestellt habe und ganz teile, bietet dafür eine gute Grundlage aus muslimischer Sicht. Denn Ate¢ vertritt aus seinen jahrelangen Koranstudien heraus den Standpunkt, dass die Offenbarungsschriften aufeinander aufbauen und Gültigkeit für die jeweilige Religionsgemeinschaft besitzen. Das heißt, die Tora und die Evangelien, die zur Zeit Muhammads im Umlauf waren, sind für ihn keine systematisch verfälschten Werke. Alle diese heiligen Schriften bestätigen sich gegenseitig und stimmen in der Essenz überein. Die Bestätigung der Tora und des Evangeliums durch den Koran bedeutet, dass diese heiligen Schriften die Menschen durch ihre Grundprinzipien rechtleiten können. Diese geistige Einheit der Offenbarungsreligionen bietet verschiedene Möglichkeiten, die heiligen Schriften intertextuell zu lesen und damit das Verhältnis der Offenbarungsreligionen und -schriften neu zu bestimmen. Da im Koran zahlreiche Anspielungen und Geschichten aus den heiligen Schriften und aus anderen mündlichen oder schriftlichen Traditionen vorhanden sind, öffnet das Prinzip der Intertextualität auch neue Welten für die Theologien der Offenbarungsreligionen. Denn dadurch werden verschiedene Lesarten der Geschichten rekonstruiert oder dekonstruiert, womit neue oder vergessene Deutungen der Geschichten in den jeweiligen Religionstraditionen zutage treten können, die wiederum neue Dialogperspektiven eröffnen. Der intertextuelle Zugang bereichert also sowohl die eigene als auch die andere Theologietradition. Er spielt auch für die Begriffsgeschichte der Theologien eine wichtige Rolle, denn dadurch werden wichtige Begriffe rekonstruiert und neue Begriffsnuancen können ebenfalls entdeckt werden. All dies kann dazu führen, dass durch Dekonstruktion und Rekonstruktion neue theologische Gebäude entstehen, die die Basis für eine zukünftige dialogorientierte Theologie bilden. Muslim Perceptions of Other Religions. A Historical Survey, Oxford 1999; Isabel Stümpel-Hatami, Das Christentum aus der Sicht zeitgenössischer iranischer Autoren: Eine Untersuchung religionskundlicher Publikationen in persischer Sprache, Berlin 1996; Camilla Adang, Muslim Writers on Judaism and the Hebrew Bible. From Ibn Rabban to Ibn Hazm, Leiden 1996.
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Beobachterbericht zum Forum: Interdependente Interpretationen Ya¢ar Sar¤kaya
Die Beziehung des Korans zur Bibel bildete von Anfang an einen wichtigen Gegenstand der apologetischen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen. Nach islamischem Grundverständnis sind die Erzählungen im Koran, die an biblische, nach- und außerbiblische jüdische und christliche Überlieferungen erinnern, authentische Offenbarungen, die Gott seinem letzten Propheten Muhammad zukommen ließ. Die traditionelle christliche Apologetik sieht darin eine zum Teil veränderte Übernahme biblischer Erzählungen. Auch muslimische Theologen entwickelten – im Zuge dieser Apologetik – eine ablehnende Haltung hinsichtlich der Authentizität der Bibel. Nach mehrheitlicher muslimischer Sicht wurde die heutige Bibel von Juden und Christen verzerrt und kann daher nicht als vollständige göttliche Offenbarung anerkannt werden. Was bei diesem Disput außer Acht gelassen wird, ist eine emotionsfreie Würdigung der betreffenden Darstellungen des Korans und der Bibel.1 In dem Forum ging es um die Frage nach den Beziehungen zwischen biblischen und koranischen Texten sowie nach Möglichkeiten einer intertextuellen Auslegung und deren Bedeutung für das christlich-islamische Verhältnis. In meinen Beobachtungen zu den zwei Referaten und der anschließenden Diskussion möchte ich hier nun folgende Aspekte hervorheben:
1
Vgl. hierzu Abdoljawad Falaturi, Der Koran: ein bislang verkannter Bibelkommentar?, in: Der Islam im Dialog – Aufsätze von Professor Abdoldjawad Falaturi, Hamburg 1996, 214–220; Karl-Wolfgang Tröger, Bibel und Koran, was sie verbindet und unterscheidet, mit einer Einführung in Mohammeds Wirken und in die Entstehung des Islam, Stuttgart 22008.
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1. Chronologisch-historische Zusammenhänge zwischen Bibel und Koran Die weit verbreitete arabischsprachige Formel des islamischen Glaubens (Ámantu: »ich glaub(t)e«), die aus dem Koran (Sure 2,285) und dem Hadith entwickelt wurde und in fast allen katechetischen Kompendien zu finden ist, handelt von zwei Elementen, die das Verhältnis des Islams zu früheren Offenbarungsschriften verdeutlichen: Der Glaube an die Schriften Gottes und an Seine Propheten. In einem verbreiteten Katechismus lesen wir zu diesen Punkten Folgendes: »Einige dieser Bücher werden als Seiten bezeichnet, weil sie tatsächlich aus lediglich ein paar Seiten bestanden. Vier von ihnen sind wirkliche Bücher. Was die Heiligen Schriften unter den Büchern betrifft, so erhielt Moses die Thora, David den Psalter und Jesus das Evangelium. Der Koran ist das vierte Buch und ist unserem Propheten Muhammad offenbart worden. […] Gott hat diese Bücher seinen Propheten offenbart. […] Der Glaube an Gottes Bücher ist eine Verpflichtung für jeden Gläubigen.«2 Dass es enge Beziehungen zwischen Koran und Bibel gibt, ist somit eine Grundtatsache, auf die seit der Frühzeit des Islams auch zahlreiche muslimische Gelehrte hinwiesen und immer noch hinweisen. Stefan Schreiner nennt hierzu stellvertretend zwei Gelehrte, Ibn TaimÐya (gest. 1328) und YÙsuf al-QaraÃÁwÐ, die in Bezug auf Tora, Evangelium und Koran von »einer zusammenhängenden Tradition« sprechen. Sie begründen dieses Gefüge mit einer Reihe von Koranversen, zu denen beispielsweise auch der 46. Vers der Sure 29 herangezogen wird: »Und sagt: Wir glauben an das, was zu uns und was zu euch herabgesandt worden ist. Und unser Gott und euer Gott ist einer. Ihm wenden wir uns zu.« Dieser nähere Zusammenhang lässt sich besonders in koranischen Erzählungen veranschaulichen. Der Koran enthält viele Geschichten, die sich auf biblische und außerbiblische Geschichten beziehen. Es handelt sich dabei keineswegs um eine direkte Übernahme und Weitergabe. Abdullah Takım bemerkt in diesem Zusammenhang, dass der Inhalt des Korans nach chronologischer Geschichtenabfolge konzipiert ist und in arabischer Sprache einen neuen Stil hervorbringt. Der Koran nahm diese Erzählstoffe und formte sie so um, dass sie mit der Botschaft und dem
2
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Ö. Nasuhi Bilmen, Feinheiten islamischen Glaubens: Islamischer Katechismus, hg. von Ahmet Tunc, übersetzt von Ahmed Erdem, Bochum 2004, 31.
Hauptprinzip des Korans, nämlich dem Monotheismus, in Einklang standen.3 Hinsichtlich der Beziehung des Korans zu den anderen Schriften spielt der Begriff Æikr oder aÆ-Æikr (»Erinnerung«) nach Takım eine wichtige Rolle. Seiner Meinung nach bezeichnet er (z. B. Sure 15,8 f.) nicht nur den Koran, sondern auch weitere heilige Schriften. So wird auch die Tora in der Sure 21,105 als Æikr bezeichnet: »Wahrlich, nach dem ad-Æikr haben wir auch im Psalter geschrieben …«. So kann man festhalten, dass das Wort Æikr die göttliche Offenbarung bezeichnet, die in die Menschheitsgeschichte unter verschiedenen Namen wie taurÁ und inÊÐl eingegangen ist und immerwährend von Gott geschützt wird. Der Schutz wird nach Takım auch dadurch gewährleistet, dass er in Form des Korans auf Muhammad herabgesandt worden ist und der Koran die vorkoranischen Schriften bestätigt (muÒaddiq) und beschützt (muhaimin).
2. Die Einheit der Offenbarungsschriften Schreiner und Takım wiesen beide darauf hin, dass dieser nähere Zusammenhang mit der Lehre der Einheit Gottes zu begründen ist. Sure 4,163 beispielsweise dokumentiert diese Einheit der Offenbarung wie folgt: »Siehe, Wir offenbarten dir, wie Wir Nuh und den Propheten nach ihm offenbarten, und Wir offenbarten IbrÁhÐm, IsmÁÐl, IÒÎÁÝq, YaqÙb und den Stämmen (Israels), ÝÏsÁ, AyyÙb, YÙnus, HÁrÙn und SulaimÁn, und Wir gaben DÁwÙd den ZabÙr.«4 Auch Sure 5,48 wiederholt diese Auslegung: »Dir haben Wir das Buch (den Koran) mit der Wahrheit geschickt. Es bestätigt die davor geoffenbarten Schriften und bewahrt sie.« Ein weiterer Aspekt dieser »Einheit der Offenbarungsschriften« sind die Propheten Gottes. Angefangen von Adam über Abraham, Moses und Jesus bis auf Muhammad bilden sie alle eine »prophetische Linie«. Sie sind wie Perlen einer Kette, und hinsichtlich des Inhalts ihrer Botschaft gibt es keine Unterschiede zwischen ihnen. Denn sie verkündeten im Wesen inhaltlich dieselbe Botschaft und dieselbe Religion mit denselben Zielen. Für Muslime demonstriert der Islam daher nicht nur die Botschaft 3 4
Abdullah Takım, Koranexegese im 20. Jahrhundert. Islamische Tradition und neue Ansätze in Süleyman Ate¢’s »Zeitgenössischem Korankommentar«, Istanbul 2007, 162 ff. Siehe auch Sure 3,3 f.
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Muhammads, sondern er ist der gemeinsame Nenner der Religion, die Gott den Menschen von Adam bis zu dem Propheten Muhammad verkündet hat. Zwar sind die heiligen Schriften zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten entstanden, sind aber keineswegs voneinander getrennt. Sie bilden keine konträren Wege und beinhalten auch keine gegensätzlichen Inhalte. Vielmehr stammen sie aus einer Urschrift bei Gott und ihre Quelle ist daher auch nur Gott. Sie folgen aufeinander, und die nachfolgende Offenbarungsschrift bestätigt die voraufgegangene. Nach Takım ist der Koran daher »ein multireferentielles, schriftlich fi-
xiertes mündliches Wort … , das über sich selbst und die anderen Heiligen Schriften reflektiert«5.
3. TaÒdÐq oder taÎrÐf Auch wenn der Glaube an frühere Schriften und Propheten ein wesentlicher Bestandteil der islamischen Glaubenslehre ist und wenn auch von der Einheit der Offenbarungsschriften die Rede ist, entwickelten sich in der islamischen Geschichte gegensätzliche Positionen hinsichtlich der Authentizität der »Heiligen Schrift«. Nach der ablehnenden Position, die von der großen Mehrheit der bekannten muslimischen Theologen und Religionsgelehrten in Vergangenheit und Gegenwart vertreten wird, sind die Tora und die Evangelien, die zur Zeit Muhammads im Umlauf waren, Verfälschungen der ursprünglichen Botschaft. Sie sind durch den Koran abrogiert und besitzen daher keine Gültigkeit mehr. Vertreter dieser Meinung stützen sich hierbei auf folgende Koranstellen: 2,79; 3,19; 3,85. Einzelne Theologen wie aÔ-ÓabarÐ, S. Ate¢, A. Falaturi hingegen lehnen die pauschale Auffassung ab, wonach die Bibel verfälscht sei. Auf Sure 2,62; 5,48; 5,69 stützend konstituieren sie eine anerkennende Konzeption in Bezug auf die Bibel. Nach S. Ate¢ beispielsweise handelt es sich bei der Verfälschung um eine sinnentstellende Auslegung des Textes durch jüdische und christliche Religionsgelehrte.6 Nach Schreiner etablierte sich jedoch insbesondere ab dem 11. Jahrhundert die ablehnende Position, der zufolge die »echte«, »ursprüngliche« Bibel nicht mehr existiert und der vorhandene Bibeltext eine tatsächliche Entstellung und Verunstaltung des ursprünglichen Textes 5 6
Takım, Koranexegese (s. Anm. 3), 157. Vgl. Süleyman Ate¢, KurÞân Ansiklopedisi (= Enzyklopädie des Korans), Istanbul 1997–2003, Bd. 19, 459 ff.
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darstellt. Dabei sollen vor allem die Stellungnahmen von Ibn Íazm (gest. 1064), al-ÉuwainÐ (gest. 1085) und Ibn Qaiyim al-ÉauzÐya (gest. 1350) die entscheidende Rolle gespielt haben. Ibn TaimÐya stellt in einem Gutachten fest, dass Muslime bezüglich der Verlässlichkeit des Bibeltextes unterschiedlicher Auffassung sind. Dass die Bibel durch Auslegungen und Interpretationen entstellt wurde, sei jedoch eine Tatsache, die sowohl Muslime als auch Juden und Christen nicht leugnen sollten.7 Die Diskussion im Forum fokussierte sich auf die Frage nach dem Verhältnis des Korans zur Bibel bzw. nach dem Zusammenhang zwischen beiden. Beide Referenten und auch die Teilnehmer des Forums erörterten die Frage vorwiegend auf der Grundlage der Aussagen im Koran. Wie diese Beziehung aus der Perspektive der Bibel bzw. der christlichen Theologie zu behandeln ist, blieb dabei offen. Zudem rückten einige der für dieses Forum gestellten Fragen, wie die nach der Bedeutung und dem Ziel der intertextuellen Lektüre für die jeweils andere Seite sowie nach deren Konsequenzen, in den Hintergrund. In der Diskussion wurden daneben Fragen gestellt, die einen christlichen Einfluss auf den Koran implizieren. Hierzu gehörten beispielsweise die Fragen, wer Autor des Korans ist, welches Material Muhammad zuvor zur Verfügung stand, oder ob der Prophet Muhammad Analphabet (ummÐ) war und ob er Kenntnisse über biblische Texte hatte, die zur Modifizierung des Korans beigetragen haben könnten. Offensichtlich ist, dass es zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Teilnehmern bezüglich dieser Fragen unterschiedliche Auffassungen gibt. Dennoch kann betont werden, dass die Beschäftigung mit der jeweils anderen Heiligen Schrift vorteilhaft, ja sogar notwendig ist, um zu einer korrekten, emotionsfreien und gegenseitigen Annäherung zu gelangen. Es wurden Beispiele von muslimischen Gelehrten genannt, die sich mit der Bibel beschäftigten, sie kommentierten oder zitierten: Ibn Qutaiba (gest. 889), BurhÁn ad-DÐn al-BiqÁÝÐ (gest. 1480) und NaÊm ad-DÐn aÔÓÙfÐ (gest. 1316). Auch in unserer heutigen Zeit haben sich viele muslimische Gelehrte mit biblischen Schriften beschäftigt. Man vermisste jedoch Beispiele auch von jüdischen und christlichen Gelehrten, die den Koran (teilweise oder komplett) kommentiert oder in ihrer Bibelexegese aus dem Koran zitiert haben. Wie bereits Takım bemerkte, war und ist das Verhältnis der Offenbarungsreligionen aus historischen Gründen mit Spannung behaftet. Umso unabdingbarer ist es heute, die jeweiligen Religionen vorurteilsfrei 7
Vgl. den Beitrag von Stefan Schreiner in diesem Band S. 167–183.
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zu betrachten und sie im Miteinander zu erfahren. Die intertextuelle Interpretation, die Analyse der Beziehungen zwischen Koran und Bibel, eignet sich besonders gut für einen dialogischen und kritischen Umgang. Durch die Betonung der Gemeinsamkeiten sowie durch die Sammlung der Erfahrungen an Unterschieden beider Religionen ist ein friedliches, gemeinsames Leben möglich.
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V. Deutungsmonopole
Hermeneutik als Generalschlüssel Zum Verlauf einer Verschiebung vom Rand in die Mitte des theologischen Diskurses Serdar Güne¢
Sprich: »Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, wahrlich, das Meer wäre erschöpft, bevor die Worte meines Herrn versiegen, selbst wenn wir noch einmal soviel dazu brächten.« (Sure 18, 109) Die Interpretation ist eine menschliche Tätigkeit in Bezug auf Texte, auf Regeln und überhaupt auf das Leben an sich. Dominanz des Wortes, der Schrift und des Buches bedeutet Dominanz der Sprache. Eine Fixierung auf die Sprache zeigt sich sowohl in exegetischem als auch philologischem Denken,1 beides ist in der arabischen Kultur aufs Äußerste entwickelt. Die Dominanz der Sprache findet ihre Parallele in der spezifisch islamischen Konzeption des reinen, verschriftlichten Gotteswortes, als das der Koran gilt. Die existentielle Motivation, Gottes Wohlgefallen konkret in der Tradition des Propheten Muhammad zu erringen, stellt den Verstehensprozess in die Mitte der islamischen Theologie. Auch wenn der Begriff Hermeneutik eher selten in islamischen Werken vorkommt, war doch die islamische Kultur schon immer eine Tätigkeit des Verstehens und der Umsetzung. Die arabisch-islamische Kultur ist daher wie kaum eine andere Menschheitskultur am Buch und am Wort und damit unweigerlich auf Exegese ausgerichtet.
1. Der Gegenstand des Verstehens: der Koran Es ist falsch, Hermeneutik nur auf Texte einzuengen, vielmehr besitzt diese eine Relevanz für die Bemühung des Muslims, ein gottgefälli1
Vgl. dazu Paul Ricœur, Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen, in: Walter L. Bühl (Hg.), Verstehende Soziologie, München 1972, 252–283.
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ges Leben zu führen. Die Ergebenheit in Gottes Schöpfung und seine Gebote ist nichts als das Verstehen (und Einleben) dieser Existenz. Die Basis hierzu ist der Koran. In 23 Jahren entstanden, unterteilt in 114 Suren, reflektiert er die Situation der Menschen auf der arabischen Halbinsel im siebten Jahrhundert,2 auf die er immer wieder Bezug nimmt. Der primäre Adressat ist der Prophet Muhammad, der als Vorbild eine sehr große Rolle spielt hinsichtlich des Verständnisses dieses Textes. Obwohl der Koran sich selbst unter anderem auch als »Buch« bezeichnet, hat er zur Lebenszeit des Propheten (ca. 570–632) noch nicht die Gestalt eines Buches besessen.3 Hier fällt der Unterschied zum Christentum auf. Denn es besteht eine direkte Beziehung zum Text, zum Koran. Die Propheten erhalten als Menschen Offenbarungen. Folglich ist Offenbarung ein menschliches Erlebnis, welches aber nur von Gott erwählten Menschen, also Propheten widerfährt, was natürlich auch eine Debatte über die Eigenheit der Offenbarung anregt. Allerdings erscheint es sinnvoll, nicht über die Eigenheit der Offenbarung zu reden, sondern über das Resultat der Offenbarung, über das Wort also, und dann lässt sich überprüfen, wie weit die Persönlichkeit des Propheten hierin Eingang gefunden hat. Wenn man bedenkt, dass die Person des Propheten als erster Adressat der Offenbarung zumindest bedacht wurde, dann wird bereits deutlich, wie wichtig es für das Verstehen des Inhaltes der Offenbarung ist, diese Person und ihr Leben – also die Sunna – zu kennen. Die Gründe, die die Person des Propheten in den Offenbarungsinhalt einbringen, bringen auch die Personen um den Propheten in diesen Kontext ein. Das stete Anwachsen von Traditionen als Aussagen Muhammads und seiner Gefährten in allen geistigen Zentren der islamischen Welt im 8. und 9. Jahrhundert begünstigte die Entstehung kontroverser Lehrmeinungen sowohl im islamischen Recht (fiqh) als auch in der Interpretation des Korantextes.4 Die frühislamische Rechtstradition war reich an kontroversen Lehrmeinungen, und in dem im Zuge des iÊtihÁd entstandenen Meinungsunterschied wurde eine Gnade Gottes gesehen. Entsprechend lässt Mu2 3 4
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Vgl. Gudrun Krämer, Geschichte des Islam, München 2005. Eine nützliche Einführung bietet Hartmut Bobzin, Der Koran. Eine Einführung, München 2007. Besonders hervorzuheben ist das Buch von Hans-Thomas Tillschneider, Die Entstehung der juristischen Hermeneutik (uÒÙl al-fiqh) im frühen Islam, München 2006. Es bietet einen sehr guten Einblick in die Frühphase des islamischen Rechts. Für die Rechtsquellen des Islams auch in seiner späteren Entwicklung eignet sich Birgit Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin 2002.
hammad den Wegweiser bei der Rechtsfindung verkünden, dass die Ausübung dessen, was im Koran und in der Sunna befohlen ist, uneingeschränkt einzuhalten sei. Ansonsten soll man sich an die Aussagen seiner Gefährten halten, denn »meine Gefährten sind wie die Sterne am Himmel: Welchen von ihnen ihr auch befolgt, werdet ihr recht geleitet sein. Denn iÌtilÁf meiner Gefährten ist Gottesgnade (raÎma)«5.
2. Hermeneutik I: das klassische Verstehen Solange ein Text primär aufgrund der Annahme seiner göttlichen Herkunft und Wahrheit tradiert wird, wird auch die Interpretation dieses Textes auf diese Merkmale hin angelegt sein bzw. diese als Sinn und Bedeutung des Textes zum Ausdruck bringen. Das hermeneutische Dilemma begann schon zu Muhammads Lebzeiten. Die meisten Koranverse wurden zwar schon damals aufgeschrieben, doch das erste Koranmanuskript war aufgrund der defektiven arabischen Schrift ein schwer lesbarer Text, der beim Rezitieren der Verse lediglich als Gedächtnisstütze dienen sollte. Später initiierten verschiedene Kalifen jeweils eigene Fassungen des Buches, die nicht die Chronologie der offenbarten Verse beibehielten. Der dialogische Charakter des Korans – die Offenbarung vollzog sich auf eine diskursive, dialogische und argumentative Weise – trat damit in den Hintergrund und ist nur noch bei einer genauen linguistischen Analyse der einzelnen Suren ersichtlich. Die islamische Frühzeit war dadurch gekennzeichnet, ausgefeilte und praktische Mechanismen herzustellen, um Koranverse zu verstehen, sie konkret auf Situationen anzuwenden. Koranexegese (arab. tafsÐr) konzentriert sich – außer in der Mystik und in der Schia – im Unterschied zur Bibelexegese im Christentum auf den »äußeren Sinn« (Literalsinn) und weniger auf den inneren Sinn (allegorische Exegese). Von Anfang an diente sie der Erklärung einzelner Wörter und Sätze: Es ist oft nicht die Frage, welche Bedeutung eine koranische Aussage hat oder haben könnte, sondern zunächst, welche Aussage überhaupt vorliegt. In den ersten Jahrhunderten herrschte die glossierende Exegese vor, die nur kurze Erklärungen gibt, wobei Synonyme genannt oder Passagen paraphrasiert wurden. 5
Rudi Paret, Innermuslimischer Pluralismus, in: Ulrich Haarman/Peter Bachmann (Hg.), Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Fest-
schrift für Hans Robert Roemer zum 65. Geburtstag, Beirut 1979, 523–529, 524.
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Daneben entstanden Lexika, die sich mit dem schwierigen Vokabular des Korans beschäftigen. Die Interpretation des Literalsinns ist bis heute zentral, obwohl dogmatische Verengung und nachlassende sprachliche Kompetenz oft dazu führen, dass weniger genau und unbefangen mit dem Text umgegangen wird. Vorherrschend war Koranexegese als fortlaufender Kommentar: Einer oder mehrere Verse werden im Wortlaut zitiert, anschließend folgen die Erläuterungen. Bis in die Moderne gab es keine Schriften, die den Koran nach thematischen Gesichtspunkten kommentierten. Selbst die exegetischen Techniken waren lange Zeit unsystematisiert, erst seit dem 14. Jh. wurden Handbücher der Koranexegese verfasst, etwa »al-ItqÁn fÐ ÝulÙm al-QurÞÁn« (»Die Vollendung der Koranwissenschaften«) von as-SuyÙtÐ (gest. 1505), das bis heute als Standardwerk gilt.6 Außerdem wurden die »Gründe der Offenbarung« (arab. asbÁb annuzÙl) gesammelt, d. h. Überlieferungen, die von den Ereignissen berichten, die zur Offenbarung von Koranversen geführt hatten. Diese Überlieferungen geben Hinweise darauf, was in einem Vers konkret gemeint ist; die meisten von ihnen sind Teil der Sunna und der Prophetenbiographie. Das erklärt auch die Abneigung der Muslime, die Quellen über das Leben Muhammads kritisch zu untersuchen, denn die Preisgabe der Prophetenbiographie hätte indirekt zur Folge, dass der koranische Wortlaut an vielen Stellen unklar bliebe. Eine weitere Disziplin in der Bemühung, den Intentionen des Korans und der Tradition des Propheten gerecht zu werden, ist, wie oben schon angedeutet, die islamische Jurisprudenz. Das islamische Recht (Fiqh) beinhaltet zwei Wissenschaften, die eine nennt sich uÒÙl (die Methode), die andere furÙÝ (die Regeln). Die uÒÙl-Wissenschaft lehrt die Methode zur Ableitung von Vorschriften aus den Quellen des islamischen Rechts unter Berücksichtigung bestimmter Kriterien. FurÙÝ sind die entsprechend dieser Vorgaben von den rechtswissenschaftlichen Quellen abgeleiteten Regeln, die in al-ÝibÁdÁt (Gebete) und al-muÝÁmalÁt (zwischenmenschliche Beziehungen) unterteilt werden. Am Anfang wurden die beiden Zweige des islamischen Rechts nicht getrennt verhandelt. Als erstes uÒÙl-Werk wird allgemein das Werk »ar-RisÁla« des aš-ŠÁfÐ (gest. 204/819) angesehen. Das heißt allerdings nicht, dass die uÒÙlWissenschaft des islamischen Rechtes erst zu dieser Zeit entstanden wäre. 6
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Vgl. Angelika Neuwirth, Koran, in: Helmut Gätje (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie, Bd. 2: Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1987, 120–126.
3. Hermeneutik II: das moderne Verstehen Die besagten islamischen Wissenschaften sind die Grundpfeiler gewesen, anhand derer man versucht hat, den Koran, die Sunna und auch das kosmische Gefüge zu verstehen. Eingebettet war das meistens in einen sozialen, politischen und auch kulturellen Kontext. Nicht unbeeindruckt war man natürlich auch von der Vormachtstellung des Islams. Allerdings hat sich das Blatt mit der Zeit gewendet. Obwohl das islamische Auslegungsgeschäft schon immer im Spannungsfeld von Offenbarung und Realität agierte, ist mit dem politischen Niedergang der islamischen Reiche eine Erschütterung eingetreten, die sich auch in den religiösen Disziplinen zeigte. Mit dem Einbruch der Moderne, dem Kolonialismus und dem immer stärker werdenden Abendland zeichnete sich Ratlosigkeit im Erklären der Gründe ab. So fühlte sich die muslimische Welt seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr in ihrer Identität bedroht. Diese definierte sich in nicht geringem Maß durch politische Macht. Mit dem damals immer stärker spürbar werdenden Verlust der Vormacht der muslimischen Gesellschaften geriet eine durchaus auf dem Koran basierende Theologie des diesseitigen Erfolgs in eine tiefe Krise, ohne dass diese Erfahrung je seriös theologisch aufgearbeitet wurde.7 Im 19. Jahrhundert sind zwei Persönlichkeiten hervorgetreten, die in dieser Misere einen Ausweg finden wollten: ÉamÁl ad-DÐn al-AfÈÁnÐ (gest. 1897) und MuÎammad ÝAbduh (gest. 1920). Al-AfÈÁnÐs Anliegen waren die islamische Einheit und der Ruf nach einem reformierten und modernisierten Islam, der sich westliche Technologie und Wissenschaft zu eigen macht und sich damit gegen westliche politische und wirtschaftliche Abhängigkeit wehrt. Den Grund für die Schwäche der Muslime sah al-AfÈÁnÐ in der fehlenden Einigkeit unter den Muslimen sowie in der orthodoxen Form des Islams, wie er von den Rechtsgelehrten und Philosophen des 19. Jahrhunderts gepredigt wurde. Nach Meinung der Orthodoxie blieben Moderne, d. h. Wissenschaft und technischer Fortschritt, unvereinbar. Al-AfÈÁnÐ wehrte sich gegen diese Ansicht: Der Islam und moderne Technik und Wissenschaft seien selbstverständlich vereinbar, alte Vorstellungen müssten aufgebrochen, der Islam modernisiert wer-
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Bülent Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft. Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen, Würzburg 2005, 54 ff.
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den.8 Sein Schüler MuÎammad ÝAbduh verfolgte das Ziel, Ägypten durch höhere Bildung und richtig gelebte Religiosität in die Moderne zu führen. Er verfasste eine Reihe theologischer, juristischer und philologischer Schriften und begann außerdem die Arbeit an einem umfassenden Korankommentar, der auch in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde.9 Während diese islamischen Reformer noch in einem klassischen Rahmen agierten, kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts Denker zur Geltung, die auch die Lektüre von westlichen Werken genossen. Sowohl in der Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und der Literaturwissenschaft haben westliche Theorien und Schulen muslimische Ideologen und Intellektuelle beeinflusst und ihre Sicht der religiösen Quellen bestimmt.10 Im Gegensatz zum westlichen Kontext des »Fortschritts« spricht man von Reform im islamisch-religiösen Kontext eher als »Rückbesinnung«. Denn islamische Reformbemühungen der letzten eintausend Jahre sind vor allem als Versuch aufzufassen, jene alten Werte wieder herzustellen, die als im Laufe der Jahrhunderte verfälscht bzw. für »verloren« gehalten wurden, und neue Einflüsse, die als »unislamisch« angesehen werden, zu beseitigen. Dies führte zur Übernahme von Begrifflichkeiten, Theorien (Demokratie, Sozialismus etc.) oder Technologien und deren Einarbeitung in andere, bessere, weil »islamische« Theorien bis hin zu ihrer kompletten Ablehnung. Was die islamischen Reformdiskurse so schwierig macht, ist die anfangs erwähnte Zersplitterung und teilweise völlig gegensätzliche Auffassung, kombiniert mit dem religiös begründeten Anspruch einiger Strömungen, den »einzig wahren« Islam zu vertreten (und durchsetzen zu müssen). Es haben sich für das Verständnis des Korans bestimmte Tendenzen entwickelt. Zu nennen wären die »objektivistische« und »subjektivistische« Position:11 Erstere beruht auf der Annahme, dass die ursprüngliche Bedeutung des Korantextes erkannt werden kann. Ihr zufolge liegt die Richtigkeit einer Exegese darin, dass sie im Einklang mit dem steht, was die erste Generation des Islams verstanden hat. Diese Position wird von Philolo8 9 10 11
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Nikki Keddie, An Islamic Response to Imperialism: Political and Religious
Writings of Sayyid Jamal al-Din al-Afghani, Berkeley 1968. Anke von Kügelgen, Art. ÝAbduh, MuÎammad, in: Encyclopaedia of Islam, 3. Aufl., Leiden 2008. Vgl. Charles Kurzman, Liberal Islam and Its Islamic Context, in: ders. (Hg.), Liberal Islam, New York 1998, 3–26. Bei dieser Einteilung orientiere ich mich an Sahiron Syamsuddins, Die Koranhermeneutik Muhammad Sahrurs und ihre Beurteilung aus der Sicht muslimischer Autoren. Eine kritische Untersuchung, Wiesbaden 2009.
gen und Wissenschaftlern des klassischen Arabisch vertreten und ist auch heute noch bei der Mehrheit der islamischen Gelehrten verbreitet. Der »subjektivistischen« Position zufolge besteht die exegetische Aufgabe nicht darin, die ursprüngliche Textbedeutung zu entdecken, sondern zu erläutern, welchen Sinn der Text hat, wenn der Leser ihn liest. Von daher sei die Interpretation ein Ergebnis der lebendigen Kreativität des Interpreten. Als »quasi-objektivistische« Vertreter dieser Richtung könnte man Wissenschaftler wie Amin al-Huli (1885–1967), Fazlur Rahman (1911–1988)12, Mohammad at-Talibi (geb. 1921) und Nasr Hamid Abu Zaid (geb. 1943)13 bezeichnen. Besonders Fazlur Rahman nimmt hier eine besondere Rolle ein. In seinem Buch »Islam and Modernity« hat er versucht, anhand einer hermeneutischen Theorie der »Doppelbewegung« die koranischen Normen mit der Moderne in Einklang zu bringen. Dieser Vorschlag, der viele gegenwärtige Denker beeinflusst hat, beruht einerseits auf dem Glauben an die Ewigkeit der koranischen Botschaft, die sich nicht immer in der wörtlichen Bedeutung der Vorschriften finde, und andererseits auf der Notwendigkeit einer Verschmelzung der koranischen Weltanschauung mit den Werten der Moderne. Fazlur Rahman betont hier die moralischen Werte, die als Rechtsgründe (rationes legis) der konkreten koranischen Vorschriften zu betrachten seien. Die »subjektivistische Position« im Vollsinn wird von islamischen Denkern wie dem afrikanischen Wissenschaftler Farid Esack14, dem Ingenieur Muhammad Shahrur15 sowie einigen Exponenten der »Schule von Ankara« vertreten.16
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Vgl. Abdullah Saeed, Fazlur Rahman: A Framework for Interpreting the Ethico-Legal Content of the QurÞan, in: Soha Taji-Farouki (Hg.), Modern Muslim Intellectuals and the QurÞan, New York 2004, 37–65. Vgl. Ein Leben mit dem Islam. Das Leben von Abu Zaid erzählt von Navid Kermani, Freiburg u. a. 1999; Nasr Hamid Abu Zaid, Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran, Freiburg u. a. 2008. Vgl. Farid Esack, QurÞan, Liberation and Pluralism, Oxford 1997. Er vertritt in diesem Buch eine »Hermeneutik der Befreiung«. Vgl. Muhammad Shahrur, al-Kitab wa-l-QurÞan, Damaskus 1990. Sahrur kommt aus der Naturwissenschaft, was sich auch in seinen Methoden der Koranexegese niederschlägt. Einen guten Einblick liefert Felix Körner, Revisionist Koran Hermeneutics in Contemporary Turkish University Theology. Rethinking Islam, Würzburg 2005; ders. (Hg.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg u. a. 2006.
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4. Konflikt der Hermeneutiken Die ganze Geschichte zeigt, wie sehr das Verstehen im Mittelpunkt des Islams liegt und dass die Hermeneutik-Debatte heute keine künstliche, sondern eine notwendige Reflexion der eigenen Verstehenskultur ist. Es stellt sich natürlich die Frage, ob Hermeneutik im abendländischen Diskurs überhaupt Relevanz für die islamische Auslegungskultur besitzt. Die Tatsache, dass dieser Diskurs der Hermeneutik und der historischkritischen Methode in einem anderen Kulturkreis und mit Bezug auf die Bibel entstanden ist, die sich vom Koran literarisch unterscheidet und theologisch anders gewichtet, wird gerne als Argument benutzt, um diese Relevanz der Hermeneutik abzustreiten. Wie können Methoden und Auslegungskonzepte dem Koran als Gottes Wort gerecht werden, wenn sie diese Tatsache relativeren, indem sie den Koran rein als Ergebnis menschlicher Tätigkeit auffassen und sich dem Koran mit denselben Maßstäben und Methoden nähern wie anderen historischen Quellen auch? Jeder hermeneutische Ansatz, der Bedeutung durch Rückführung auf einen historischen Kontext und Verstehensrahmen rekonstruiert, bestreitet, dass sich solche Bedeutungen ohne weiteres in einen anderen Kontext übertragen lassen. Die Bedeutung, die etwa ein historischer Text in einem neuen Kontext bekommt, liegt eben nicht, wie der naive Objektivismus meint, als »die« Bedeutung des Textes in ihm selber, sondern ergibt sich daraus, mit welchen Fragen und unter welchen Gesichtspunkten er rezipiert wird. Es ist daher naiv, mit »historischen« Methoden die »richtige« oder »wahre« und zugleich für »uns« heute relevante Bedeutung herauszudestillieren. Der Text ist offen, jedenfalls offener, als es vielen Muslimen lieb ist. Für die Frage nach der Hermeneutik hat das zur Folge, dass im Hinblick auf den Begriff selbst deutlich unterschieden werden muss zwischen Hermeneutik als Lehre vom »Verstehen« und Hermeneutik als Kunst des »Übersetzens«, also zwischen dem Herausarbeiten von meaning und der Reflexion auf relevance, zwischen der Frage nach der historischen »Bedeutung« des Textes und der nach seiner heutigen »Bedeutsamkeit« für den jeweiligen Leser, zwischen (wissenschaftlicher) »Exegese« und »Applikation«. Letzeres, die Applikation, ist ein Merkmal der uÒÙl al-fiqh, die eine Art juristische Hermeneutik ist. Ihre Aufgabe ist es, Regeln des kunstgemäßen Deutens darzustellen. Die reichhaltige juristische Literatur mit all ihren ausgefeilten Techniken zeugt davon. Was uns aber heute verstört, ist die Verschiebung der Hermeneutik von einem Randbereich in die Mitte des Denkens, indem sie über die 212
Bedingungen des Verstehens und die Bewältigung von existentiellen Nöten reflektiert. Außerkoranische und außerislamische Impulse spielen somit eine viel größere Rolle im heutigen Weltbild vieler Muslime. Auch wenn sie den Anspruch haben, sich vorwiegend über den »Islam« zu definieren, ertappen sie sich dabei, wie »modern« sie denken und leben und ihnen ein gutes Leben im »Westen« mehr ermöglicht als nominell islamische Länder, deren politische und ökonomische Situation so ein Leben nicht zulässt. Es ist gerade die nicht-islamische Umgebung, die ihnen die Möglichkeit eröffnet, mehr über ihre Religion zu erfahren, frei zu forschen und ohne Angst vor Zensur und Repressalien ihre Meinung zu äußern. Eine paradoxe Situation. Die islamische Theologie bietet zur Zeit keine Perspektiven, weil sie durch mangelnde Relevanz gekennzeichnet ist. In arabischen Ländern ist sie immer mehr zum Instrument von politischen Mächten verkommen. Wissenschaftliche Diskurse und Weiterentwicklungen spielen keine Rolle mehr oder sind zugunsten einer technisch-naturwissenschaftlichen Motivation untergeordnet. Das existentielle Band, das der Koran im Islam darstellt, wird überlagert durch einen verknöcherten Formalismus der Interpretation. Die Hermeneutikdiskussion kann hier Abhilfe schaffen durch das Reflektieren der eigenen Lebensbedingungen und die damit entstehende Verknüpfung mit dem Koran.
5. Ausblick Es geht nicht darum, alte Methoden durch neue zu ersetzen, sondern um das Bewusstwerden der eigenen Verstehenskultur. Im Grunde genommen sind die meisten Debatten eher erkenntnistheoretische Reflexionen, die bitter nötig sind. Die islamische Auslegungskultur mit all ihren Exegesemethoden ist selbst Ergebnis einer Bemühung, den Text in Bezug zur Realität zu setzen, ihn lebendig zu machen. Sei es, um die historische Kontingenz zu bewältigen, oder auch nur, um praktische Belange einzulösen, die einer Handlungsmotivation geschuldet sind. Insofern unterscheiden sich abendländische Impulse in der Hermeneutik nicht grundsätzlich von denen des islamischen Raums. Sie haben gemeinsam, dass ihnen die conditio humana vorausgeht. Insofern sind Diskussion über Historizität, Hermeneutik, historisch-kritische Methoden das Symptom für das Bedürfnis nach erkenntnistheoretischer und existenzieller Klärung. Hermeneutik ist daher zu einem Generalschlüssel geworden, sei es nun, um sich dem Zeitgeist anzupassen oder um Lösungen für aktuelle 213
Probleme zu ermitteln. Die Geschichte des Islams zeigt die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit auf, mit denen diese Religion von Anfang an zu kämpfen hatte. Entgegen vieler Meinungen, dass der Islam nicht reformfähig sei, zeigt uns die Geschichte eindrücklich, wie sehr der Islam immerwährende Reform ist. Es wäre falsch zu denken, dieses beständige Reflektieren und Erneuern sei irgendwann zu einem Abschluss gekommen. Die Dynamik hat aufgrund der Krisen und Herausforderungen immer mehr zugenommen. Verspricht es schnelle Lösungen? Nein, leider liegt die islamische Welt in einer Starre, abhängig von anderen Ländern und unfähig, die eigenen geistigen Ressourcen zu aktiveren. Im Gegenteil, so wie es aussieht, hat der Islam eine Zukunft im Westen. Impulse und Provokationen aus dem »Westen« sind verstörend und unerhört, aber sie tragen ein Potential in sich, das über das der Empörung hinausgeht. In dem Bestreben, sich anzupassen, sich rechtfertigen zu müssen oder Anschluss zu finden, suchen viele Muslime nach Anknüpfungspunkten in der eigenen Tradition und kommen oft zu einem überraschendem Ergebnis: dass sie historisch und existenziell eng mit dem Abendland verbunden sind. Das, was uns als fertiges Produkt der islamischen Tradition vorliegt, ist gewachsene Interaktion mit dem Abendland. Daher denke ich, dass die Debatten um Hermeneutik ein hoffnungsvolles Bild zeigen, auch wenn die Diskussion noch am Anfang ist. So ist es doch ein wichtiger Schritt, mit den Errungenschaften der Menschheitsgeschichte die Heiligen Schriften nochmals mit anderen Augen zu betrachten. Ist das für den Islam etwas Neues? Nein, es ist eine Rückbesinnung auf seine Wurzeln, die nie ganz unbeeindruckt waren durch andere Religionen und Kulturen. Es ist wichtig, sich der eigenen Tradition bewusst zu sein, um sie weiterzuentwickeln. Denn nach Thomas Morus ist »Tradition […] nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme«. Islamische Gelehrte in der Vergangenheit haben nichts anderes gemacht und sich dabei ihres Verstandes bedient, was auch der Koran von jedem Muslim verlangt: »Schau, wie mannigfach Wir die Zeichen dartun, auf dass sie (sie) verstehen mögen.« (Sure 6, 65)
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Kirche als Einheit pluraler Instanzen des Glaubenszeugnisses Schriftauslegung in der Perspektive katholischer Theologie Roman A. Siebenrock
In diesem Beitrag sollen die konsensfähigen Orientierungen für die Schriftauslegung in der römisch-katholischen Tradition thesenhaft und möglichst prägnant dargestellt werden.1 Den einzelnen Thesen werden Erläuterungen beigefügt, um deren Bedeutung im Rahmen der verschiedenen Entwicklungen innerhalb der christlichen Tradition kurz auszulegen. Es ist unvermeidlich, dass viele Aspekte nur angedeutet werden können und bisweilen etwas formal bleiben.2 1
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Wegen der Begrenzung des Beitrags kann auf die anderen christlichen Konfessionen weniger eingegangen werden. Die traditionellen Hauptunterschiede betrafen das Verhältnis von Schrift, Überlieferung und lehramtlich normativer Tradition. Die Differenz wurde zugespitzt durch die These von der sola scriptura, der die hermeneutische These entsprach, dass sich die Schrift, die in sich klar sei, selber auslegen würde. Die Entwicklung der historisch-kritischen Fragestellungen und die Vertiefung des hermeneutischen Bewusstseins haben die traditionellen Gegensätze aufgehoben. In der heutigen Diskussion können diese Unterschiede noch als unterschiedliche Akzentsetzungen bemerkt werden. Die heutige Diskussion wird dokumentiert in Theodor Schneider/Wolfhart Pannenberg (Hg.), Verbindliches Zeugnis. I: Kanon – Schrift – Tradition. Dialog der Kirchen 7 (1992); II: Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption. Dialog der Kirchen 9 (1995); III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch. Dialog der Kirchen 10 (1998). Freiburg/Basel/Wien/Göttingen. Quer zu den Konfessionen aber entwickelte sich durch den Einfluss des englischsprachigen Biblizismus eine neue Problemstellung, die hier nur genannt werden kann: die Frage der Verbalinspiration und die Zurückweisung der Vernunft als eine Instanz der Wahrheitsfindung im Glauben. Besonders im letzten Falle lässt sich bis heute eine klare Differenz zur römisch-katholischen Option der Konkordanz von Glauben und Denken (fides et ratio) feststellen. Weiterführend sei auf folgende Literatur generell verwiesen. Einschlägig zu
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1. Christlich glauben als Leben mit Christus bedeutet »existentielle Schriftauslegung« These: Christlich an Gott glauben bedeutet, durch die Kraft des Geistes in das Gottes-, Menschen- und Weltverhältnis Jesu als des Christus in der Weise immer inniger einbezogen zu werden, dass die Glaubenden dadurch »Leib Christi« als »Sein in Christus« werden. Nicht die Beziehung zu einem Text oder zu satzhaft dargelegten Wahrheiten prägt den christlichen Glauben in seiner Mitte, sondern das Verhältnis zur Person Jesu Christi in der Einheit des geschichtlichen und des erhöhten Auferstandenen. Der historische Ursprung des christlichen Glaubens bleibt bis heute sein zentraler Grund: die Erfahrung und Vergegenwärtigung des Gekreuzigten als erhöhter Herr des Kosmos und unser Bruder. Die Christusfrage ist die geschichtliche und biographische Konkretheit der Gottesfrage. Weil die Schrift die Zeugnisse dieser Urerfahrung in mannigfaltigen Brechungen dokumentiert, kann in jedem christlichen Leben die Schrift ausgelegt werden. Die Schrift wird daher im Leben der Glaubenden »weiter geschrieben«, bis sich die Pilgerschaft der Menschheit einmal im Reich Gottes vollendet haben wird. Daher steht nicht das Buch und der Buchstabe, sondern der diesen Text inspirierende Geist im Zentrum der Schriftauslegung. Diese aber stellt das Herz des Lebens der Kirche als Gemeinschaft aller Glaubenden und der einzelnen glaubenden Personen dar. Deshalb müssen kritisch alle Vollzüge der Kirche auf ihre Schriftgemäßheit hin geprüft werden; d. h. es ist immer neu zu fragen, ob tatsächlich das Licht Christi auf dem Antlitz der Kirche widerscheinen kann.3
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den hier angesprochenen Fragen: Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965). Vgl. Roman A. Siebenrock, Die Kirchlichkeit der Theologie. Orientierungen, in: Bulletin ET 10 (1999), 117–137. Zur Erkenntnislehre und Schriftauslegung vgl. Walter Kern/Franz-Josef Niemann, Theologische Erkenntnislehre, Düsseldorf 1981; Walter Kern/Hermann Josef Pottmeyer/Max Seckler (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 4: Traktat Theologische Erkenntnislehre. Schlußteil: Reflexion auf Fundamentaltheologie, Tübingen 22000; Peter Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube – Überlieferung – Theologie als Sprach- und Wahrheitsgeschehen, Münster 2003; Markus Knapp, Die Vernunft des Glaubens. Einführung in die Fundamentaltheologie, Freiburg u. a. 2009, 327–404, bes. 329–336. Die dogmatische Konstitution über die Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils (Lumen gentium) definiert dies im Artikel 1: »Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist
Dadurch wird der Text der Schrift nicht entwertet oder gar überflüssig. Die Orientierung am Text der Schrift als apostolischem Ursprungszeugnis stellt deshalb das Fundament der Glaubensgemeinschaft dar, weil er die Unbeliebigkeit des Glaubensbezugs verbürgt und deshalb stets dessen kritische Instanz bleibt. Die vom Geist getragene und befähigte Verantwortung des Einzelnen, die sakramental in Taufe und Firmung von der Kirche anerkannt und gestärkt wird, eröffnet in ihren sozialen Bezügen und Verflechtungen eine legitime und von vornherein nicht eingrenzbare Pluralität der anzuerkennenden Glaubenswege. Die Kirche ist auf vier Evangelien und weitere Grundauslegungen der Bedeutung des Lebens, Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi gegründet. Dazu sind das Buch des Paulus, die Kulttheologie des Hebräerbriefes und die apokalyptische Verschärfung im Zeichen des Lammes als eigenständige Grundauslegungen des Ereignisses Jesu hinzuzunehmen. Die Vermittlung von Pluralität und Normativität in diesem von Jesus eröffneten neuen, umfassenden Verständnis kann als roter Faden im Ringen um die angemessene Schriftauslegung angesehen werden.
2. Schriftwerdung als kirchengründender Vorgang These: Die Instanzen des Glaubenszeugnisses bilden sich in der Genese der Heiligen Schrift selbst heraus. Die Heilige Schrift ist deshalb das Buch der Kirche in doppeltem Sinne. Einerseits wird die Kirche im Werden der Schrift, andererseits ist die Kirche nur Kirche in der Anerkennung der Priorität der Schrift. Diese Anerkennung stellt einen freien Glaubensakt der Kirche und der einzelnen Glaubenden dar. Genese und Priorität der Schrift haben so bleibende Bedeutung für die Identität der Kirche. Historisch gesehen waren die heiligen Schriften Israels und deren Glaubenspraxis der werdenden christlichen Gemeinde vorgegeben. Wenn im Neuen Testament von den »heiligen Schriften« die Rede ist, dann ist die Schriftüberlieferung Israels gemeint. Der Stellenwert und die Normativität derselben waren aber lange Zeit umstritten. Denn streng normativ vorgegeben ist der christlichen Glaubensgemeinschaft allein das Leben, versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet (vgl. Mk 16,15). Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.«
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Sterben und die Auferstehung Jesu Christi – und die Erfahrung seiner Gegenwart als erhöhter Herr – im Brechen des Brotes, im Gebet, in der Erfahrung seines Geistes und an anderen Orten, die in der Geschichte – auch heute – entdeckt werden müssen: »Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.« (1Kor 3, 11)4 Von der umstürzend neuen Gottes- und Glaubenserfahrung in der Begegnung mit Jesus von Nazareth deutet die junge judenchristliche Gemeinde die Glaubensüberlieferung Israels als Verheißung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, aber auch Moses und der ProphetInnen auf Christus, den Gesalbten hin. Später wird die heidenchristliche Gemeinde die gesamte Wirklichkeit in der Kraft des Geistes christologisch unter der Kategorie des »Logos« deuten. Der Logos, in dem alles geschaffen worden ist und der jeden Menschen erleuchtet in dieser Welt, ist in Jesus von Nazareth Fleisch geworden. Diese »Logostheologie« kann in einer universalen Vision aller Wirklichkeit und natürlich auch allen Menschen einen Beitrag in der Auslegung des Geheimnisses Christi einräumen. Aus dieser christologisch-pneumatischen Erfahrung werden nicht nur die Glaubenszeugnisse der jungen Gemeinde verfasst und tradiert, sondern auch die Überlieferung (paradosis oder traditio – Tradition) des Evangeliums Jesu Christi selbst. Glauben bedeutet dann Eintreten in die Sendung Jesu Christi, die darin besteht, den ganzen Kosmos mit Gott zu versöhnen (Eph 1–2). Daher werden Glaubende zu einer neuen Schöpfung, die in der Vision vom Leibe Christi bei Paulus ihre ausdrucksstarke Gestalt gewinnt (1Kor 12,12–31). Die existentiale und gemeinschaftliche Annahme der forma Christi (Gestalt Christi) in der Taufe bedeutet Anteilbekommen an dem Tod und der Auferstehung Jesu, Glied im geheimnisvollen Leib Christi zu werden. Weil die Kirche als Leib Christi mit der Menschheit, ja mit dem ganzen Kosmos korreliert (vgl. Joh 1), werden die Glaubenden zu allen Menschen und der gesamten Wirklichkeit in ein neues Verhältnis gesetzt (siehe These 1). Der prägnante Ausdruck hierfür ist die Thoraregel Jesu, in der er die Thora mit folgenden Worten zusammenfasst: »Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all
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Der Epheserbrief, später verfasst, wählt eine andere Zuordnung, die für die römisch-katholische Tradition bis in die Architektur des Kirchenbaus hinein bestimmend geworden ist: »Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein ist Christus Jesus selbst.« (Eph 2,20)
deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.« (Mk 12,29–31) Trotz dieser Grundorientierung war die Sammlung und Anerkennung der normativen (d. h. kanonischen) Schriften von heftigen Kämpfen und oftmals unheiligem Eifer geprägt. Da das Christentum mit nichts Vollendetem begonnen hat, musste es auch seine bleibenden Grundstrukturen erst »hervorbringen«. Aus Erinnerung und gegenwärtiger Erfahrung entwickeln sich im Ringen unterschiedlicher Optionen nicht nur der Kanon der Schrift, sondern auch die normativen Orientierungen für dessen Auslegung. In dem dadurch angestoßenen Prozess der Schriftwerdung entsteht die normative Kirchenstruktur mit ihren Instanzen: Taufbekenntnis (regula fidei), wechselseitige Anerkennung der Schriften durch ihre Aufnahme in den Gottesdienst, kritisch-reflexive Auslegung der Schrift unter Aufnahme der allgemein gültigen Formen der Hermeneutik (Theologie als Übersetzung der Überlieferung in je neue Kontexte unter dem Anspruch der Wahrheit) sowie Reflexion und Ausformung einer verbindlichen Auslegungsinstanz (Synode und Episkopat). Das bedeutet: Die Sammlung normativer Schriften bedarf einer hermeneutischen Regel der Auslegung, normativen Entscheidungsinstanzen und einer kritisch-reflexiven Begleitung dieser Prozesse. Die Schrift ist der Kirche also nicht ›genetisch‹ vorgegeben, sondern entsteht ebenso in ihr, wie die Kirche mit der Schrift wird. Die Kirche ist aber nur Kirche Jesu Christi, wenn sie diese ihre Schrift, als normative Vorgabe, der sie sich unterstellt, anerkennt. Daher spiegelt sich in der Kirchenstruktur selbst die Vorgabe Jesu Christi und des Evangeliums: in der Eucharistie (liturgisch), in der Geisterfahrung (spirituell), in der Normativität des Lehramtes und der regula fidei (strukturell und lehrmäßig).5
3. Schriftauslegung als universaler, heilsgeschichtlicher Prozess in der gesamten Menschheit These: Die Kirche im Dialog mit der gesamten Menschheit legt die Schrift aus: die Implikationen der loci theologici für die Schriftauslegung und das Glaubenszeugnis von der angebrochenen und kommenden Gottesherrschaft. 5
Diese These baut auf der ekklesialen Inspirationstheorie von Karl Rahner auf. Vgl. Karl Rahner, Über die Schriftinspiration (1958), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 12, Freiburg u. a. 2005, 3–58.
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Schriftlegung war nie nur die Angelegenheit von christlich-glaubenden Personen. Immer haben »fremde oder andere« Faktoren mitgespielt. Die seit Melchior Cano entwickelte Lehre der loci theologici kann mit Max Seckler als ekklesiale Struktur der theologischen Erkenntnisbildung betrachtet werden.6 Da aber die »Loci-Lehre« durch ihre spannungsreiche Zuordnung von loci proprii und loci alieni (»eigene und fremde Orte«) geprägt wird und gerade in dieser wechselseitigen Durchdringung und Bereicherung die Besonderheit dieser Lehre liegt, kann gesagt werden, dass die Kirche nur im Dialog mit der ganzen Menschheit die Schrift auslegen kann (und auch soll). Folgende Argumente sprechen dafür: a)
b)
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Jesus Christus kann nur auf dem Hintergrund des Glaubens Israels verstanden werden. Daher ist die Kirche immer in besonderer Weise an Israel verwiesen. In der Geschichte war diese besondere Beziehung die längste Zeit durch eine negative Identität geprägt. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird ein Verhältnis entwickelt, das die bleibende Differenz in Anerkennung einer gemeinsamen Ausgangsproblematik zu verstehen sucht. In der Beziehung zu den heiligen Schriften – trotz leichter kanonischer Unterschiede – können sich die verschiedenen christlichen Kirchen und Gemeinschaften von Christus her tief verbunden wissen. Daher kommt der wechselseitigen Aufmerksamkeit der Getauften untereinander höchste Priorität zu. Für die Auslegung der Schrift hat die Kirche selbstverständlich stets auf die hermeneutischen Regeln ihrer Zeit zurückgegriffen. In der Antike kann auf den drei- bzw. vierfachen Schriftsinn verwiesen werden, den Philo von Alexandrien aus griechischen Vorgaben für die Schriftauslegung fruchtbar gemacht hat. In der Neuzeit sei auf die historisch-kritische Methode verwiesen. Das Christentum hat keine Sonderhermeneutik entwickelt, vielmehr hat es ausdrücklich oder faktisch immer eine Pluralität der Schriftauslegungsformen anerkannt.7 Vgl. hierzu Bernhard Körner, Melchior Cano – De locis theologicis. Ein Beitrag zur theologischen Erkenntnislehre, Graz 1994. Eindrucksvoll dokumentiert dies ein Dokument der päpstlichen Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche, Bonn 1993. Dabei denke ich nicht allein an die dort genannten akademischen Formen, sondern auch jene Schriftauslegung, die in zahllosen Bibelkreisen, aber auch Andachtsformen und Frömmigkeitsentwicklungen sich ausprägen.
Zwei theologische Meinungen können diese These unterstützen: (1) Theologie als kritisch-reflektierte Form der Schriftauslegung ist eine unverzichtbare Entwicklung des christlichen Glaubens, insofern dieser Wahrheit in der Religion beansprucht. Das frühe Christentum hat sich deshalb mit der religionskritischen Philosophie verbunden und selbst als vera philosophia verstanden.8 Hierfür rezipiert die Glaubensgemeinschaft unausweichlich die »Philosophie« ihrer Zeit. Es gibt daher keine ›philosophiefreie‹ Schriftauslegung oder Theologie, weil allein schon der Sprache kulturell-philosophische Implikationen eigen sind. Prägnanter aber wird diese Einsicht, wenn gesehen wird, dass die Selbstreflexion des Glaubens, sich immer allen Fragen und Kritiken der Zeit zu stellen hat. (2) Da Jesus Christus als Heiland der Welt über die Kirche und ihren Wirkungskreis nach der oben kurz skizzierten Logos-Theologie hinausreicht, können die Glaubenden je neu den unbekannten Christus (Mt 25) auf überraschenden Wegen entdecken. Was für die Erkennbarkeit Gottes gilt, ist auch für die Christologie nicht abzuweisen. Insofern Gott nicht nur Autor der Schrift ist, sondern auch der eine Schöpfer und Erlöser aller Menschen, kann jede Erfahrung eines jeden Kindes Gottes ein neues Licht auf die unerschöpfliche Sinnfülle der Schrift werfen. Daraus folgt: Der Sinn der Schrift kann heute (wie schon in den ersten Jahrhunderten der Kirche) nicht ausgelegt werden, ohne sich dem Anspruch der verschiedensten Wahrheitsinstanzen (Wissenschaft) und Optionen für das gute Leben (Weisheitsformen in allen Kulturen) auszusetzen.
4. Verbindlichkeitsstufen in der existentiellen Schriftauslegung These: Alle Glaubenden legen in der Form mystisch-personaler Beziehung zu Jesus Christus, als dem Herrn und Erlöser, die Schrift grundsätzlich durch ihr und in ihrem Leben aus. Die für die Glaubensgemeinschaft verbindliche (d. h. normative) Form der Schriftauslegung ratifiziert im Hören auf den Konsens der Glaubenden und der Bischöfe (in und durch 8
Dies ist die kontinuierlich vorgetragene These (nicht nur) der letzten beiden Päpste, Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die das bestimmende Thema auch seiner Regensburger Rede war (vgl. Hans Waldenfels, Mit zwei Flügeln. Kommentar und Anmerkungen zur Enzyklika »Fides et ratio« Papst Johannes Pauls II., Paderborn 2000; sowie Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, Freiburg u. a. 2006).
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die Zeit) das höchste kirchliche Lehramt, das seine höchste, unmittelbare und volle Verbindlichkeit im Konzil zusammen mit dem Papst findet. Die Schriftauslegung als Leben mit und aus Christus ist die Essenz jedes christlichen Lebens. Insofern schreiben alle Glaubenden als einzelne Personen die Geschichte Jesu Christi fort – und Christus ist selber die Lebensgestalt der Glaubenden (siehe These 1). Paulus formuliert gültig bis heute: »Ich bin mit Christus gekreuzigt worden: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.« (Gal 2,19 f.) Der Wahrung der evangeliumsgemäßen Christusgestalt dient die wissenschaftliche und amtliche Schriftauslegung in einem doppelten, aber unterschiedlich ausgeprägten Magisterium, die beide auf wachsende Konsense hin angelegt sind. In ihrem normativen Zueinander haben sich beide Instanzen auf gewisse Eigenarten spezialisiert. Während die wissenschaftliche Theologie der Wahrheitsfrage verpflichtet bleibt (oder bleiben sollte), ist das Lehramt der Kirche pastoral, d. h. es steht primär im Dienst an der Einheit der Glaubenden. Weil die Liebe aber die Form der Wahrheit darstellen soll, hat das pastorale Lehramt einen gewissen Vorrang. Die Erfahrung der Geschichte hat aber gezeigt, dass Konsense nicht immer erzielt werden können, weil Sünder und leidenschaftliche Menschen Gottes Werk in dieser Geschichte treiben. Auch hat es sich als illusionär erwiesen, dass (noch) die unterschiedlichsten Formen des Glaubens (d. h. der Schriftauslegung) in die Glaubensgemeinschaft integrierbar sein könnten. Schließlich ist es für eine wachsende Gruppe institutionell auf Dauer notwendig, verbindlich für alle Entscheidungen treffen zu können. Ohne solche Kompetenzen würde nicht nur die Glaubwürdigkeit des Glaubenszeugnisses in Mitleidenschaft gezogen werden, sondern der Träger dieses Zeugnisses, die Gemeinschaft, müsste um ihre Existenz und Kontinuität bangen. Der Kanonprozess hat mit der Anfrage von Markion (ca. 100–160) begonnen, der der Meinung war, dass das gesamte Alte Testament und große Teile der neutestamentlichen Schriften deshalb nicht anerkannt werden könnten, weil sie das Gottesbild Jesu, den liebenden Gott, nicht repräsentierten. Deshalb kann gesagt werden: Dem Ausschluss aus der Kirche durch das kirchliche Lehramt geht zumeist ein Ausschluss (»Häresie« – Auswahl) voraus. In der alten Kirche entwickelt sich für diese Entscheidungsfragen eine letzten Endes ungeklärte dramatische Verknüpfung von synodalen und hierarchischen Entscheidungsformen: Synoden, Konzilien, Bischöfe, Patriarchen und der Bischof von Rom, der Papst. Dabei wird dem Papst 222
ein Ehrenvorrang, aber keine alleinige Entscheidungskompetenz zugebilligt. Unter den Bedingungen der Konstantinischen Wende wird zudem die weltliche Macht mit diesen Entscheidungsverfahren betraut. Damit aber gerät das Evangelium der gewaltfreien Liebe Gottes selber unter die Logik der Gewalt, und kann nur noch entstellt vorgefunden werden. In der Neuzeit wird unter dem Einfluss politischer und geistesgeschichtlicher Subjekts- und aufgeklärter, absolutistischer Staatstheorien der synodale Prozess, der letztmals normativ in Konstanz 1415 wirksam wurde, bis ins 20. Jahrhundert immer stärker zu Gunsten der Entscheidungsgewalt des Nachfolgers Petri zurückgedrängt. Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870) wird deshalb konsequent in dieser Modernisierungslinie der Jurisdiktionsprimat und die Unfehlbarkeit des Papstes definiert.9 Die Konzentration der Entscheidungsfindung auf das Papstamt war zudem von dem Versuch getragen, nationale und politische Einflüsse zurückzudrängen, und wurde gerade von jenen Glaubenden »ultramontan« gefordert, die von einem umfassenden Staatskirchentum bedrängt wurden. Das Papstamt war aber auch nicht davor gefeit, selber politische Ansprüche in einem eminenten Sinne zu stellen, die von vielen nicht akzeptiert werden konnten. Auch hat es sich als Illusion herausgestellt, dass mit diesem Instrument das mühsame Suchen oder prekäre Entscheidungssituationen hätten verhindert werden können. Im Zweiten Vatikanischen Konzil werden die Entwicklungen des ersten mit dem zweiten Jahrtausend in spannungsreicher Verschärfung als Vorbereitung für eine neue kirchengeschichtliche Epoche, in der die Kirche tatsächlich Weltkirche sein wird, entworfen.10 Die Unfehlbarkeitsinstanzen in der Kirche sind: grundlegend der consensus fidelium (die Übereinstimmung aller Glaubenden nach Lumen gentium 12), das Kollegium der Bischöfe und/oder der Papst (Lumen gentium 22–25). Dazu aber sind Außenkriterien gekommen, wie z. B. die Anerkennung von Wahrheit und Heiligkeit in allen Religionen (Nostra aetate 2), die Bedeutung der ökumenischen Bewegung (Unitatis redintegratio), die Anerkennung profan-säkularer Entwicklungen als inspirativ für die Kirche selbst (in der Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae ausdrücklich anerkannt) und die strukturelle Vermittlung des Wesens 9 10
Vgl. Hermann Josef Pottmeyer, Unfehlbarkeit und Souveränität. Die päpstliche Unfehlbarkeit im System der ultramontanen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts, Mainz 1975. Die Texte der Konzilsdokumente mit Kommentaren finden sich bei Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, 5 Bde., Freiburg 2005.
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und der Haltung der Kirche in der Nachfolge Christi in der Form des Dialogs (vor allem nach Gaudium et spes 92). Die heutigen Spannungen und »Unfälle« in der katholischen Kirche rühren epistemologisch von dieser neuartigen Verortung her, die in ihrer wechselseitigen Durchdringung und inneren Kohärenz noch nicht selbstverständlich gelebt werden kann. Damit hat aber das Konzil uns nur die Komplexität der katholischen Kirche selber zugemutet, deren Geschichte nicht mit der Französischen Revolution in Europa beginnt.
5. Schriftauslegung als offener Prozess des pilgernden Volkes Gottes These: Weil die Kirche als Volk Gottes aus endlichen, sündigen und (immer auch) vergesslichen Menschen in der Geschichte unterwegs ist und immer wieder neu und tiefer in die Wahrheit eingeführt wird (oder durch ständige Umkehr zu ihr gerufen wird), kann diese Schriftauslegung und ihr Glaubenszeugnis nur »geschichtlich« (d. h. bedingt, veränderlich und fragmentarisch) sein. Deshalb übersteigt die Schrift die Schrift. Aus all dem ist evident, dass die Weise der Schriftauslegung, die Schwerpunktsetzungen des christlichen Lebens sowie die Ausgestaltung der allgemeinen und normativen Auslegungsinstanzen selber der Geschichte unterliegen. Die Kirche mit allen ihren Sakramenten und Einrichtungen unterliegt ja jenem Äon, der vergehen wird und erlöst werden muss (Lumen gentium 48). Wie es in der katholischen Kirche kein normatives Christus-Bild gibt und geben kann, so müssen die verschiedensten Auslegungen die jeweils anderen als mögliche anerkennen, mittragen und – soweit möglich – auch für sich selber aufnehmen. Das urkatholische Prinzip des Nicht-Ausschließens lautet et – et (sowohl – als auch). Seine stärkste Ausprägung hat dieses Prinzip in der Anerkennung einer unauflösbaren Konkordanz von Glauben und Denken gefunden. Daher sucht der Glaube immer sein Verstehen: fides quaerens intellectum. Die Geschichte der Schriftauslegung ist aber nicht nur eine Geschichte der Entwicklung als Vertiefung des Glaubens, sondern auch eine Geschichte des Vergessens, der Entstellung und des Gegenzeugnisses. Sie muss also immer auch eine Geschichte sein und werden, die zu einer ständigen Umkehr und Erneuerung wird. Die Kirche bleibt so lange in der Wahrheit der Schrift, als sie als Zentrum ihres Lebens Christus den Herrn anerkennt und feiert (Sacrosanctum Concilium 7; 10) und täglich neu auf das Geschenk der »Metanoia« (der Umkehr) einzugehen vermag. 224
Die Kirche ist nur als ecclesia semper reformanda heilig. Das Sinnbild hierfür ist die prekäre Geschichte des heiligen Petrus in der Schrift. Dadurch wird deutlich, dass die Kirche gegenüber der Schrift immer in der Kritik steht und dass gerade diese Spannung, in der die Kirche als Glaubensgemeinschaft und Institution immer »schlecht aussehen« muss, ihre eigentliche Identität ausdrückt (vgl. Lumen gentium 1). Gerade diese Differenz ist der entscheidende Gradmesser für die Qualität der jeweiligen Schriftauslegung. Denn nur so bleibt die Kirche unter der Schrift und daher in der Nachfolge des Herrn. Da sie sich aber gerade in ihrer Zerbrechlichkeit ihrem Meister zuwendet, steht sie wie die Ehebrecherin vor ihrem Bräutigam: »Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!« (Joh 8,11; vgl. 8,1–11). Alle Schriftauslegung ist eine Selbstauslegung der Glaubenden in ihrer innigen Verbindung und Einheit mit Gott in Jesus Christus durch den Heiligen Geist.
6. Epilog: Einige Konsequenzen für den interreligiösen Dialog Drei Aspekte dieses Ansatzes scheinen mir für den interreligiösen Dialog, insbesondere für den Dialog mit Muslimen von Bedeutung zu sein: die Bedeutung der Vernunft, die Vermittlung von Schriftwerdung und Kirchengenese und die gestufte Verbindlichkeit der Schriftauslegung. Die eigenständige Bedeutung der Vernunft als universales Prinzip in der Hermeneutik der Schrift kann deshalb allen Menschen prinzipiell eine Kompetenz nicht nur in der Erkenntnis Gottes, sondern auch in der Auslegung der Heiligen Schrift einräumen, weil Gott mit allen Menschen einen Dialog des Heils führt und wir ChristInnen in unserer eigenen Sendung immer zunächst auf diesen universalen Heilsdialog verwiesen sind.11 Aus dieser Perspektive wird »Vernunft« dann nicht verstanden aus dem Kontext einer akademischen Philosophie, sondern aus der lebensweltlichen Kompetenz aller Menschen, mit der sie ihr Leben nach bestem Wissen und Gewissen führen. Daher hat die Kirche immer für ihr eigenes Verständnis der eigenen Tradition zu hören, was ihr der Geist durch die Menschen guten Willens mitteilen möchte – auch als Korrektur und Kritik ihrer eigenen Tradition und ihres eigenen Verständnisses. 11
Zum Hintergrund dieser These vgl. ebd. Bd. 5: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Theologische Zusammenschau und Perspektiven, Freiburg 2005, 311–379.
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Die hier vertretene These von Schriftwerdung und Kirchengenese wird zwei unhintergehbaren Einsichten gerecht, die ansonsten verdrängt werden müssten. Die Schriftwerdung ist historisch gesehen kein linearer Prozess, der mit individualistischen AutorInnen rechnen kann, sondern ein komplexer Vorgang, in den viele AutorInnen involviert sind. Es ist nicht nur faktisch nicht möglich, den Urtext mangels an Funden realiter zu erreichen, sondern auch unnötig, von der Bedeutung der Glaubensgemeinschaft abzusehen. Mindestens in der Frage der Anerkennung eines bestimmten Textes als Text in der Gemeinde und ihren verbindlichen Vollzügen, vor allem im Gottesdienst, kann die Glaubensgemeinschaft nicht übersprungen werden. Die Moderne neigt, auch in anderen religiösen Traditionen, nicht allein zu einem Verbalismus, den die traditionellen Instanzen nie kannten, sondern auch zu einer Zusammenfassung dessen, was in der Schrift nun verbindlich sei, in einer Lehrdoktrin. Vor beiden Aspekten ist zu warnen, weil damit die Bedeutung des gelebten Glaubens in seiner grundsätzlich pluriformen Art nicht gewürdigt werden kann. Keine Inspirationslehre kann die Aufgabe der Auslegung suspendieren. Die Heilige Schrift soll nicht zu einer Lehre in Glauben und Sitten primär führen, sondern zu einer Auslegung der Schrift als Leben mit Christus im Alltag. Die lebendige Schrift, die Glaubenden, ist das Ziel der Schrift. Daher ist das »Lesen der Schrift« nicht primär ein intellektueller, zumal akademischer oder philosophischer Vorgang, sondern besagt, dass jene Wirklichkeit, die die Heilige Schrift bezeugt, nämlich die Geschichte Gottes mit den Menschen mit ihrem hermeneutischen Höhepunkt in der selbstlosen Hingabe Jesu Christi, nicht Historie ist, sondern Gegenwart sein will. Diese Gegenwart ereignet sich, wenn Menschen ihr Leben im Leben Jesu Christi auslegen und beginnen, ihn in ihrem Leben auszulegen. Damit diese wiederum plurale Exegese nicht zerfällt und ihre bewegende Mitte verliert, gibt es das Lehramt, das den Rahmen dessen, was christliche Lebensfülle bedeuten kann, zu klären verpflichtet ist. Gerade in diesem Dienst aber ist das Lehramt auf das Glaubenszeugnis der Wolke von ZeugInnen verwiesen. Insofern ist die Auslegung der Heiligen Schrift immer ein lebendiger Zirkel, in dem Leben zu neuem Leben inspiriert. Das nennt der heilige Paulus Leben im Geist. Dadurch aber kann es zu einer »Konspiration« aller vom Geist bewegten Menschen kommen. Doch dieses letzte Moment scheint mir eine Erfahrung darzustellen, die wir gerade zu buchstabieren beginnen. Wir stehen ganz am Anfang eines neuen epochalen Lernprozesses. Die Treffen in Stuttgart-Hohenheim eröffnen hierfür einen bewegenden Lernort.
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Beobachterbericht zum Forum: Deutungsmonopole Michael Bongardt
Der Koran ist für Muslime nicht das, was die Bibel für Christen ist. Diese Einsicht wird in jüngster Zeit von christlichen wie muslimischen Theologen häufig betont. Auch in den Kurzreferaten, die im Rahmen des Forums gehalten wurden, findet sie sich:1 Die Bibel ist für Christen das Zeugnis von Gottes Weisungen und seinem Wirken in der Geschichte, Zeugnis seiner Offenbarung in Leben und Geschick Jesu Christi. Indem Gott die Menschen zu diesem Zeugnis befähigt, wird die Bibel zum »Gotteswort im Menschenwort«. Dabei wird in der christlichen Theologie durchaus darüber gestritten, wie groß oder klein der eigene Anteil des Menschen an diesem von Gott bewirkten Zeugnis ist. Der Koran dagegen gilt Muslimen als unmittelbare Offenbarung Gottes, nicht »nur« als deren Zeugnis, und gewinnt von dort seine höchste Autorität. Es ist wichtig, dass dieser Unterschied im christlich-muslimischen Dialog beachtet wird. Denn so lassen sich Missverständnisse vermeiden, die das Gespräch miteinander und das Lernen voneinander auf lange Zeit blockieren könnten. Und doch muss, ja kann man nicht bei diesem Unterschied beginnen, wenn die jeweilige Auslegung der Heiligen Schrift auf ihre Hermeneutik befragt wird. Denn das so unterschiedliche Verständnis vom Charakter der Bibel oder des Korans liegt nicht nur jeder gläubigen Deutung der Texte voraus, sondern ist selbst bereits Ergebnis eines bestimmten Verstehens dieser Texte. Sobald man sich dies vor Augen führt, wird eine sehr grundlegende Gemeinsamkeit zwischen beiden Religionen klar: Im Zentrum und am Anfang des christlichen wie des muslimischen 1
Wegen der übersichtlichen Gliederung und Kürze der beiden Eingangsreferate wird hier wie im Folgenden darauf verzichtet, Rückgriffe auf diese Texte im Einzelnen zu belegen. Ebenso sei pauschal auf die dort zitierte Literatur verwiesen. So werden in diesem Beobachterbericht nur an einigen besonders wichtigen Stellen weitere Publikationen benannt.
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Selbstverständnisses steht die Auseinandersetzung mit einem Text. Das verbindet sie über alle Unterschiede hinweg. Und es lässt erwarten, dass es weit reichende Gemeinsamkeiten im Umgang mit den jeweils grundlegenden Texten gibt: Die Anliegen der Lektüre sind vergleichbar, die hermeneutischen Probleme über weite Strecken dieselben, sogar die Lösungsstrategien für die Probleme lassen erstaunliche Analogien erkennen. Diesen Gemeinsamkeiten galt in der hier zu dokumentierenden Diskussion wesentlich mehr Aufmerksamkeit als den Unterschieden, die damit selbstverständlich nicht verleugnet werden sollten. So wurde auch die Frage nach möglichen »Deutungsmonopolen« allein vor dem Hintergrund der grundlegenden hermeneutischen Überlegungen diskutiert, die es nun zusammenzufassen gilt.
1. Unvermeidliche Deutung Jede Lektüre, jedes Verstehen eines Textes ist eine Deutung. In sie fließt nicht nur der Text, sondern fließen auch die Kontexte der Rezipienten ein. So entsteht eine Vielfalt von Deutungen, die jeden Text als mehr-, ja vieldeutig erkennen lässt. Diese Grundeinsichten jeder Hermeneutik dürfen als unbestreitbares Faktum gelten. In Frage steht aber, ob und inwieweit sich die Exegeten eines Textes der Faktizität und Kontingenz ihrer jeweiligen Deutung bewusst sind. Es gibt keinen Grund, nicht einmal die Möglichkeit, religiöse Texte und ihre Rezeption diesen Grundbedingungen menschlichen Verstehens zu entheben. Selbst die Deklaration und Anerkennung eines Textes als normative Grundlage des Glaubens durchbricht den hermeneutischen Zirkel nicht: Denn auch die als verbindlich akzeptierte Norm muss verstanden, muss auf die aktuelle Entscheidungssituation, die je neue theologische Frage angewandt, also gedeutet werden. Die muslimische wie die christliche Tradition war sich dieser Tatsache nahezu durchgängig bewusst. Selbst als Luther um des Glaubens willen in polemischer Einseitigkeit die Autorität der Schrift, ihre Klarheit und ihre Kraft, sich selbst auszulegen, betonte, hat er gesehen, dass die Schrift in unterschiedlichen Situation je situationsbezogene Klarheit brachte.2 Im Blick auf die lange exegetische Tradition in beiden Religionen wird man genau hier die Grenze zum so genannten Fundamentalismus ziehen können: Sie 2
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Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, 75–79, 302–307.
ist in dem Moment überschritten, in dem die faktische Vieldeutigkeit der Heiligen Schrift explizit bestritten wird.3 In den breiten Strömungen des Islams und des Christentums war man sich aber nicht nur der Faktizität und Notwendigkeit eines fortwährenden Deutungsprozesses bewusst, wie schon Verse in Koran und Bibel selbst erkennen lassen. In der Regel war auch akzeptiert, dass diese Deutung sich nicht in einem von seiner Umwelt abgeschotteten Raum vollziehen kann – dass vielmehr die hermeneutischen Einsichten und Regeln der jeweiligen Zeit zum Instrumentarium auch theologischer Exegese zählen müssen. So war die frühe Exegese undenkbar ohne die Regeln der antiken Rhetorik und Dialektik; so ist aktuelle Exegese kaum möglich, ohne auf die erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Standards der Gegenwart zumindest kritisch Bezug zu nehmen.
2. Vielfalt und Grenzen Wie aber wurde und wird der hermeneutische Prozess, wenn er denn schon als gegeben angenommen wird, im Einzelnen verstanden? Auch hier zeigen sich deutliche Ähnlichkeiten zwischen Islam und Christentum. Soll der Blick auf die Schriftdeutung in beiden Religionen nicht zu eng werden, muss er stets weit über die Kommentierung des Textes durch Texte, so zentral diese ist, hinausgehen. So wie die heiligen Texte das Leben der Gläubigen und ihrer Gemeinschaft auslegen, muss dieses Leben seinerseits als die vermutlich wichtigste Auslegung der Texte gelten: Was Koran und Bibel bedeuten, zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in der Weise, in der Menschen ihr Leben nach ihnen ausrichten. Von hoher Bedeutung ist aber auch die gottesdienstliche Verwendung der heiligen Schriften, die bis hinein in die ästhetische Form des Vortrags den als Wort Gottes verstandenen Text auf ihre Weise auslegt. Und selbst die Auslegung im engeren Sinne des Kommentars nimmt ganz unterschiedliche Formen an: Sie kann – wie im Islam vorrangig – nach der lebenspraktischen, ja rechtlichen Bedeutung der Koranverse fragen oder auch – wie im Christentum üblich – stark an dogmatischen Aussagen über Gottes Wirklichkeit interessiert sein. Daneben stehen schließ3
Vgl. Reinhard Hempelmann, Sehnsucht nach Gewissheit – neue christliche Religiosität, in: ders. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 2005, 410–511.
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lich Exegesen, die sich mit linguistischen, philologischen, historischen, ästhetischen oder anderen Fragestellungen den Texten nähern. Doch nicht nur durch die verschiedenen Formen der Deutung entsteht eine Vielzahl von Auslegungen und Verständnissen. Jeder Mensch, der Koran oder Bibel liest, versteht deren Texte aus seiner je eigenen, von niemand anders einzunehmenden Perspektive. Es fließen individuelle, kulturell, historisch und biographisch geprägte Vorverständnisse in die Lektüre ein und bestimmen deren Ergebnis. Und wer läse die Schrift in jeder Situation und Phase seines Lebens auf gleiche Weise? Was für die Einzelnen gilt, ist ebenso für bestimmte Gruppen innerhalb der Kirchen und der umma in Rechnung zu stellen – sie grenzen sich von anderen ja nicht selten gerade durch ihr spezifisches Schriftverständnis ab. Hinzu kommt, dass Bibel wie Koran als Bücher geschrieben sind, die sich an die Öffentlichkeit, an jeden Menschen richten, also nicht Reservate eines arkanen Wissens sein wollen. Deshalb sind Gläubige keineswegs deren einzige Interpreten. Die Schriften werden auch von Menschen gelesen, die ihnen keine Verbindlichkeit zugestehen, denen der Glaube an Gott fremd ist oder die ihn gar explizit ablehnen. Auch ihre Lesarten sind Teil der Auslegungsgeschichte. Spätestens an dieser Stelle muss die Frage aufbrechen, ob die Möglichkeit der Auslegungen, ob der hermeneutische Prozess nicht auch Grenzen hat. Rein faktisch besteht eine solche Grenze nicht. Es gibt eine unermessliche Zahl bereits erfolgter Deutungen, unendlich zahlreich sind die noch nicht genutzten Interpretationsmöglichkeiten. Es ist also sinnlos, nach einer Grenze von Textverständnissen zu fragen. Sehr wohl aber stellt sich die Frage, ob nicht angemessene Deutungen von unangemessenen zu trennen und in dieser Weise zu begrenzen sind. Die höchst kontroverse Diskussion, ob ein Text selbst bestimmte seiner Deutungen zurückweist, kann hier nicht weiter verfolgt werden.4 An dieser Stelle ist es wichtiger, dass Islam und Christentum schon in ihren Anfängen die Notwendigkeit sahen, solche Grenzen zu setzen. Es wurde unterschieden zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Auslegungen – seien sie theologischer oder lebenspraktischer Natur. Nur so schien es möglich, der Glaubensgemeinschaft selbst jene Grenzen zu setzen, ohne die sie ihre Identität und Erkennbarkeit verlieren würde. Es ist hinreichend bekannt, dass diese Grenzziehungen in den meisten Fällen kontrovers verliefen: dass sich Menschen immer wieder selbst als Christen bzw. Mus-
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Vgl. Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 32004.
lime verstehen, obwohl ihnen genau diese Zugehörigkeit zu Kirche oder
umma von anderen abgesprochen wird. Doch wer unterscheidet, wer spricht bestimmten Auslegungen ihre Angemessenheit ab? Selbst auf diese Frage gibt es nicht eine, sondern viele Antworten. Der Rückzug auf den Text selbst, der »als solcher« verbindlich und eindeutig sei, trägt nicht weit. Denn auch ein normativer Text muss, wie bereits erwähnt, gedeutet werden, um als Norm fungieren zu können. Es bedarf also weiterer Instanzen. Die wohl weitestgehende Begrenzungskompetenz wird von der römisch-katholischen Kirche der »Tradition« in Gestalt des bischöflichen Lehramts unter Leitung des Papstes zugesprochen.5 Dieses Lehramt setzt die Grenzen legitimer Auslegung und ist befugt, andere Deutungen zu verurteilen – im Extremfall mit Konsequenzen für die monierten Exegeten oder Gruppen, die bis zum Kirchenausschluss reichen. Andere christliche Konfessionen kennen eine solche Zentralinstanz nicht. Doch bei ihnen weiß man sich ebenso angewiesen auf exegetisches Expertenwissen, auf Instanzen, die im Notfall die Kompetenz haben, unangemessen erscheinende Deutungen zurückzuweisen. Auch die Geschichte des Islams lässt sich schreiben als Geschichte von Auslegungskonflikten. Diese konnten in eine anerkannte Pluralität münden – aber auch durch die Bestreitung der gegnerischen Positionen, durch die gewaltsame Unterdrückung der Andersdenkenden beendet werden. Es sei dahingestellt, ob ein Streit um die Grenzen angemessener jemals allein mit der Kraft der Argumente entschieden wurde – in Christentum und Islam lässt sich erkennen, dass die Diskussionen in der Regel in einen Machtkampf, nicht selten in einen politisch dominierten Machtkampf führen oder für einen solchen instrumentalisiert werden. Es bleibt eine unauflösbare Dialektik: So notwendig auf der einen Seite Grenzziehungen sind, um einer Glaubensgemeinschaft als Auslegungsgemeinschaft Gestalt und Identität zu geben, so sehr sind diese machtvoll gesetzten Grenzen ihrerseits wiederum Teil des fortschreitenden, auch sie wieder verändernden hermeneutischen Prozesses. Ein bekannter katholischer Dogmatiker brachte diese Dialektik treffend auf den Punkt, als er sagte: »Natürlich gibt es eine Unfehlbarkeit des Papstes. – Aber damit wir uns recht verstehen: eine selbstverständlich zeitlich befristete.« Was angesichts des Wechsels und Wandels selbst etablierter Deutungsmonopole übrig bleibt, ist allein die Hoffnung, dass es der Auslegungsprozess selbst ist, der sich korrigiert, unangemessene, einseitige 5
Vgl. Rainer Kampling, Art. Tradition, in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 5, München 1991, 169–182.
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Deutungen nicht nur hervorbringt, sondern auch zurücknimmt. Zahlreiche Beispiele für eine solche Selbstkorrektur, die dann durchaus durch Autoritäten selbstkritisch bestätigt werden kann, gibt es in beiden Religionen mehr als genug. Je deutlicher wird, dass sich der hermeneutische Prozess nicht abbrechen lässt, desto stärker drängt sich die Frage auf, wie er selbst theologisch gedeutet wird. So offen wie das Judentum, in dem nahezu jede Deutung der Thora der »mündlichen Thora« – und damit der göttlichen Offenbarung – zugeordnet wird,6 sind Islam und Christentum nicht. Doch auch in ihnen findet sich der Glaube, dass die Vielstimmigkeit der Deutungen von Gott gewollt ist, dass die Geschichte der gläubigen Auslegungen von Bibel und Koran von Gott geleitet, von seinem Geist begleitet wird. Die eingangs betonte Differenz zwischen Bibel und Koran erscheint vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen in neuem Licht: Das unterschiedliche Verständnis vom Charakter ihrer heiligen Schriften wurde von Christen und Muslimen in der Rezeption von Bibel und Koran herausgebildet und wird unterschieden bleiben. Doch gerade deshalb muss es beide Religionen nicht strikt voneinander trennen. Denn es ist nicht zu sehen, dass die Bibel für die Christen weniger verbindlich wäre als für Muslime der Koran; genauso wenig ist dem Islam der Blick auf die historischen Entstehungsbedingungen und die menschlichen Deutungen seiner Heiligen Schrift unmöglich oder auch nur fremd. Deshalb darf die Achtung der Unterschiede nicht den Blick verstellen auf die beiderseitigen ernsthaften und reflektierten Versuche, das Wort Gottes zu bewahren und je neu zu verstehen.
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Vgl. Almut Sh. Bruckstein, Die Maske des Moses. Studien zur jüdischen Hermeneutik, Berlin/Wien 2001, bes. 51–80.
VI. Gemeinsame Hermeneutik
Eine gemeinsame Hermeneutik der Verständigung für unsere gegenwärtige Zeit∗ Enes Karić
In der heutigen Welt bedeutet die Verständigung zwischen den verschiedenen Religionen vor allem die Möglichkeit und die Ermutigung dazu, dass sich verschiedene Menschen treffen. Durch derartige Begegnungen entstehen neue geistige Räume zwischen den Menschen, Glaubenssystemen, Religionen, Kulturen, Gewohnheiten sowie in den Menschen selbst. Diese Dialogräume sind nicht Räume, die ein für alle Mal in Eisen gegossen sind und dann als solche für die gesamte Ewigkeit anhalten. Um diese Räume der Begegnung muss man sich kümmern, sie pflegen, so wie man eine empfindliche Pflanze hegt und pflegt.1 Ich bin der Überzeugung, dass es die Aufgabe nicht nur der Religionsgemeinschaften, der gegenwärtigen religiösen Führer und Theologen, sondern auch der Philosophie und der Politik ist, sich der Schaffung von geistigen und mentalen Räumen für Menschen verschiedener Religionen, Kulturen und Weltanschauungen zu widmen.2 Wenn diese offenen Räume in den Mentalitäten der verschiedenen Menschen entstehen, ist es einfacher, zu Verständigung und Frieden zu kommen und darüber zu wachen.
∗ 1
2
Übersetzung von Erdin Kadunic. Die Menschheit gleitet häufig in Kriege, Konflikte und Verbrechen ab. Der Frieden zwischen den Völkern ist kein Zustand, der für immer da ist, sondern ein Wert, den man ewig pflegen muss. Es scheint so, als müsste man in der heutigen Zeit noch mehr auf den Frieden hinarbeiten, da sich die teils gegenläufigen Interessen der Menschen in enormem Maße vervielfältigen. Vgl. Jane Dammen McAullife (Hg.), The Encyclopaedia of the QurÞan, 6 Bde., Leiden 2001–2006. Dieses am Dialog orientierte Werk stellt eine Begegnung von Muslimen und Nicht-Muslimen dar.
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1. Unsere gegenwärtige Zeit Unsere gegenwärtige Zeit, die einige auch als modernes Zeitalter bezeichnen, ist eine besondere Epoche, welche nicht zu vergleichen ist mit vorherigen Epochen. Zuallererst haben wir, die wir hier versammelt sind, die wir unsere eigenen Religionen studieren, die wir den Religionen angehören, eine besonders wichtige Aufgabe zu erfüllen: Jeden Tag müssen wir uns daran erinnern, dass auf der Erde fast sieben Milliarden Menschen leben und dass niemals zuvor so viele Menschen in einer Zeit voller Zeichen zusammengelebt haben.3 Dabei muss nicht eigens hervorgehoben werden, dass sich die Menschheit bezüglich des Geistes, der Sprachen, Religionen, Kulturen und Zivilisationen auf eindrucksvolle Weise entwickelt hat. Die heutige Menschheit ist ein enormes Zeugnis dieser Diversitäten. Ich denke, dass es nicht unverantwortlich ist zu sagen, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit Zeugen all dieser Unterschiede sind, in denen die Menschheit lebt. Die Medien, die Kommunikationsmittel und leider auch die blutigen Kriege und Eroberungen haben es ermöglicht, dass wir die Menschheit als etwas Kompliziertes, Verworrenes, reich an Unterschieden kennenlernen. Dieses Bild trägt den heutigen Religionen und ihren gegenwärtig verfassten Theologien auf, dass sie die in Verschiedenheiten verwurzelte und erkennbar pulsierende Menschheit im Auge behalten.4 Die heutigen Religionen haben ein enormes »Menschheitspublikum« unter sich, mit sich und vor sich. Wenn auch die Religionsgründer mit einer kleinen Anzahl von Anhängern begonnen haben, die sich untereinander alle gut kannten und die, wie man sagen würde, eine große Familie waren, so erstreckt sich in den heutigen Religionsgemeinschaften die geistige Menschheit in transkontinentalen Dimensionen. Und in diesem Kontext muss man die Rolle der gemeinsamen Hermeneutik der Verständigung betrachten.5 Heute gibt es
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Vgl. Noreen Herzfeld, Technology and Religion, West Conshohocken 2009. Vgl. Tone Bringa, Being Muslim the Bosnian Way. Identity and Community in a Central Bosnian Village, Princeton 1995, die den praktisch gelebten Islam und den praktisch gelebten Katholizismus analysiert hat. Religionen sind Religionen in der Zeit, die auf die Zeit Einfluss haben wollen. Jedoch hat die Zeit auch Einfluss auf sie. Weder die Religionsgründer noch die Anhänger der Religionsgemeinschaften der ersten Generationen konnten die Fragen vorhersehen, welche die Zeit den Religionen stellen wird. Das müssen wir im Auge haben. Vgl. hierzu in Bezug auf Bosnien-
eine Vielzahl von Religionsgemeinschaften, deren Anhänger hunderte von Sprachen sprechen und in verschiedenen kulturellen und sprachlichen Zonen leben. Hier können wir nicht einmal in Ansätzen alle Möglichkeiten der kulturellen Verflechtungen zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen und Glauben erwähnen.6 Mein persönliches Beispiel illustriert, wie heute eine Vielzahl von Identitäten einander überlappen. Ich bin ein traditioneller Moslem aus Bosnien, des Weiteren bin ich Bosniake, jemand vom Balkan, Europäer, jemand, der in al-ÇazÁlÐ und al-ÍÁfiÛ aš-ŠÐrÁzÐ verliebt ist, ebenso ein treuer Anhänger der deutschen Philosophie, ein Leser von Goethe und der Dichtung von Hölderlin usw. Die gegenwärtige Zeit (oder Moderne), welche mit dem 19. Jahrhundert begann und in seinen Geschehnissen überging in das 20. Jahrhundert, ist eine Epoche, in der sich die Möglichkeiten für das Übel, aber auch für das Gute vervielfältigt haben. Beziehen wir uns dabei auf die Möglichkeiten für das Übel, so sehen wir, dass sich gerade in dieser Zeit zwei Weltkriege ereignet haben. Schauen wir aber auf die Möglichkeiten für das Gute, so sehen wir sie in den angemessenen Reaktionen der Medien und nicht nur dieser auf das Blutvergießen und die Gewalt, in Reaktionen gegen die Unterdrückung der menschlichen Würde. Man kann sogar zu dem Schluss kommen, dass sich zeitgleich das Gute und das Schlechte vor unseren Augen abspielt.7 Dies sind nur einige Beispiele für die Widersprüchlichkeit unserer gegenwärtigen Zeit, die eine besondere Wachsamkeit von den Philosophen, Theologen und geistlichen Würdenträgern erfordert. In all diesen Dingen liegt der Ausgangspunkt für die entscheidende Rolle einer Hermeneutik der Verständigung der großen Weltreligionen.
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Herzegowina besonders Fikret Kar¦ić, The Bosniacs and the Challenges of Modernity. Late Ottoman and Habsburg Times, Sarajevo 1999. Ich erinnere hierbei daran, dass die heutige Kulturzone des Islams sehr gut erforscht ist. Vgl. Sayyed Hossein Nasr, The Heart of Islam, San Francisco 2002, der zeigt, dass man immer sowohl die innerislamischen Verschiedenheiten als auch die gemeinsamen Elemente aller Kulturzonen des Islams im Auge behalten muss. Man muss nicht besonders betonen, dass wir mit Hilfe der Kommunikationsmittel in unseren Wohn- oder Arbeitszimmern in nur wenigen Sekunden erfahren, was in der Welt geschieht, egal ob dies nun schlecht oder gut ist. So wie wir die Verantwortung gegenüber der Welt in der Gesamtheit haben müssen, so müssen wir ebenso verantwortlich mit den Nachrichten oder Informationen über die Welt umgehen.
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2. Was haben wir heute gemeinsam? An dieser Stelle möchte ich zuerst die Frage stellen: Was ist den Menschen heute gemeinsam? Was hat die Menschheit an Gemeinsamkeiten?8 Dürfen wir uns auf dieses Feld vorwagen, diese wichtige Frage zu stellen und Antworten auf sie zu geben? Ich beginne mit dieser entscheidenden Frage sowie mit der Andeutung möglicher Antworten motiviert durch die neue Ordnung der Dinge, wenn es um die heutige Geographie der Religionen in der Welt geht. Wie es Sayyed Hossein Nasr beschreibt, ist das Zusammentreffen vieler Religionen eine große Erfahrung und Entdeckung des 20. Jahrhunderts.9 Im 20. Jahrhundert wurden quasi alle Weltreligionen für die gesamte Menschheit sichtbar. Ebenso sind viele Religionen aus ihren Traditionen herausgetreten und erlebten vielfältige Transformationen, in einigen Fällen auch modernisierende und modernistische Modifikationen. Viele Faktoren haben diese Prozesse befördert und sind bekannt als die Entwicklung der Kommunikationsstrukturen, die Ausweitung der Industrie und die Entwicklung der Medien. Kurz gefasst kann man sagen, dass es zu einem technologischen Aufstieg des Westens gekommen ist. Andere traditionelle religiöse und kulturelle Welten sind mehr oder minder diesem Trend des technologischen Aufstiegs des Westens gefolgt. Wie allgemein bekannt ist, sind die Religionen des semitischen Kreises einander bereits in anderen Formen einer begrenzten Globalisierung begegnet.10 Schauen wir uns dabei das Judentum und Christentum an, die zu Zeiten der letzten Jahrhunderte im Römischen Reich gemeinsam existierten. Alsbald tauchte dann der Islam auf, so dass die drei monotheistischen Religionen semitischen Ursprungs (Judentum, Christentum, Islam) zu Zeiten der großen islamischen Kalifate miteinander lebten.11 Aber der damalige Prozess der Vermischung von unterschiedli8
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Ich denke, wir werden keinen Fehler begehen, wenn wir sagen, dass die Religionen schon immer nach den gemeinsamen Eigenschaften aller Menschen und der Menschheit in der Gesamtheit gesucht haben. Religion an sich bedeutet unter anderem auch die Suche des Einzelnen nach dem Allgemeinen und der Allgemeinheit. Vgl. Sayyed Hossein Nasr, Religion and Religions: The Challenge of Living in a Multi-Religious World, Charlotte 1991. Vgl. zum Zusammentreffen des Islams mit anderen Religionen ders., Islam and the Encounter of Religions, in: ders., Sufi Essays, Albany 1985, 123–152. Vgl. in Bezug auf das Osmanische Reich Ekmeleddin Ihsanoglu, A Culture of Peaceful Coexistence, Sarajevo 2006.
chen Glaubensweisen und Anhängern unterschiedlicher Religionen war um einiges langsamer. Er war jedoch »natürlicher«, da er sich schrittweise vollzog und manchmal mehrere Jahrzehnte oder Jahrhunderte andauerte. Heute beschleunigt der ökonomische und technologische Wandel die globale Verbreitung verschiedener Glaubenssysteme und der Gläubigen. Natürlich beginnt diese Folge auf ihre Ursache zu wirken. Verschiedene Religionen und Gläubige treffen sich in aller Herren Länder. Sie selbst bedienen sich moderner Technologien, Kommunikationsmittel, Medien und Bildungssysteme. Verschiedene Religionen und Gläubige nehmen in Gemeinschaft mit Menschen, die nicht ihrer Religion zugehören, intensiver am Leben der heutigen Welt teil. Dieser Prozess ist immer noch am Laufen. Aber wird er auch von einer Hermeneutik der Verständigung unserer Weltreligionen begleitet? Das ist die Frage, die man heute stellen muss. Vor den Augen unserer traditionell ausgerichteten Theologien, vor den Blicken unserer traditionellen Religionen, ist eine neue Situation entstanden: Die eigene Religion erklären wir nicht mehr nur uns selbst und für uns selbst und auch nicht mehr nur für unsere Gläubigen!12 Den eigenen Glauben erklären wir nun auch den anderen, mit denen wir gemeinsam leben. Dabei möchte ich betonen, dass die Erklärung der eigenen Religion nicht proselytischen Zwecken dienen darf! Fakt ist, dass wir nicht mehr in hermetisch abgeschlossenen Welten leben, so dass die Eigeninterpretation unseres Glaubens viele Implikationen nicht nur für uns und unser traditionelles religiöses Universum besitzt, sondern auch für Gläubige anderer Religionen.13 In der Hermeneutik sind die Hauptgründe beheimatet, wieso wir gerade heute besonders umsichtig mit den Folgen der Interpretation unserer Religionen und ihrer religiösen Bücher umgehen müssen. Diese Folgen müssen wir heute umso mehr in Betracht ziehen, als dies Geistliche, Theologen und Philosophen vorheriger Epochen getan haben und verpflichtet waren es zu tun, als die Kulturen noch in ihren teilweise isolierten traditionellen Universen lebten. 12
13
Es ist sehr häufig anzutreffen, dass Angehörige einer Religion Werke über die heiligen Bücher anderer Religionen schreiben. Vgl. beispielweise Kenneth Cragg, The Mind of the QurÞan. Chapters in Reflection, London 1973. Auf dieses Werk berufen sich viele Muslime. Das Buch von Tariq Ramadan, Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München 2009, hat unter anderem das Ziel, den Europäern die dynamischen, reformfähigen Ressourcen im historischen Islam zu erklären.
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In diesem Kontext der gemeinsamen Hermeneutik der Verständigung möchte ich an die anfangs gestellte Frage meines Essays erinnern: Was ist uns heute gemeinsam? Und sofort würde ich wie folgt antworten: Erstens ist uns der Wunsch nach Frieden gemeinsam. Im Frieden gewinnt man eine Menge, der Frieden eröffnet große Chancen, der Frieden befreit. Wie ich in einem meiner Bücher erwähnte, ist der Krieg ein Übel, der Krieg ist das Schlimmste, was aus dem Menschen hervorkommen kann, im Krieg ist alles kriegerisch!14 In einem wütenden Krieg sind die Bestrebungen für einen Frieden erzwungen und nicht normal, sie sind nicht natürlich und nicht gut gemeint. Zweitens ist uns die Welt gemeinsam. Verschiedene Welthorizonte kommen uns nahe. Diese Horizonte werden uns gemeinsam, wir nehmen an ihnen teil, tauschen sie aus, arbeiten in Bezug auf sie miteinander. Drittens sind uns in dieser Epoche des Zusammentreffens der Religionen die allgemein geltenden Werte des Menschen und der Menschheit gemeinsam. Das Leben und das Recht auf Leben, die Freiheit, die Menschenwürde, das Bewusstsein, das Eigentum, das Kommunizieren usw. gehören dazu. Unsere heutige Hermeneutik der heiligen Texte muss dies im Auge behalten, um nicht zu sagen, dass dies an die erste Stelle gehört. All das, was wir in Bezug auf die allgemeinen Werte des Menschen gesagt haben, muss erweitert werden auf das Recht der Erde, auf das Recht der Natur, auf das Recht der Lebensumstände, sowie auch der Kosmos ein Recht auf seine Würde hat und auf den Schutz vor bösen Taten von Menschenhänden.15 Kurz gesagt, unsere heutige Interpretation unserer Religion, unsere heutige Hermeneutik, muss vielfältige Aspekte des Anderen und des Andersseins einbeziehen.
14 15
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Vgl. Enes Karić, Essays on our European Never-Never Land, Sarajevo 2004, 54 f. Vgl. auch ders., Essays on Behalf of Bosnia, Sarajevo 1999, 53– 62. Heute muss man alle Gläubigen erziehen, dass sie Verantwortung nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Natur übernehmen. Vgl. zur Ökologie in der islamische Tradition Sayyed Hossein Nasr, An Introduction to Islamic Cosmological Doctrines, Cambridge/MA 1964.
3. Die gemeinsame Hermeneutik der Verständigung – Aufgaben der Hermeneutik Wenn wir die These bekräftigen, dass der Friede uns gemeinsam ist, dass uns die Welt gemeinsam ist, kommen wir unumgänglich zu einer gemeinsamen Hermeneutik heiliger Texte unterschiedlicher Religionen. Die gemeinsame Hermeneutik aller grundlegenden heiligen Schriften ist heute eine Frage des Friedens zwischen den einzelnen Religionen. Ich glaube, dass ein ehrenhafter Frieden das Hauptziel der gemeinsamen Hermeneutik der Verständigung aller heiligen Texte heute ist. Mit anderen Worten, all das, was uns heute gemeinsam ist, ist die allgemeine Verantwortung in Bezug auf den Frieden gegenüber den anderen Religionen. Hierbei möchte ich an die ehrenvolle These von Hans Küng erinnern. Der Frieden ist nicht möglich, wenn es keinen Frieden zwischen den Religionen gibt, ebenso ist der Frieden nicht möglich, wenn es keinen Dialog gibt, und der Dialog ist nicht möglich, wenn es keine Verständigung gibt.16 An dieser Stelle muss hinzugefügt werden, dass eine der Hauptaufgaben der gemeinsamen Hermeneutik der Verständigung der Religionen darin besteht, die Botschaften der heiligen Bücher auf universale Art und Weise anzubieten. Ich denke, dass es die besondere Aufgabe der muslimischen Intellektuellen, Philosophen und Theologen in Europa ist, den Koran mit einer universalen Hermeneutik zu interpretieren. Erstens hat die universale Interpretation des Korans alle Menschen im Blick. So wendet sich der Koran in vielen Abschnitten der gesamten Menschheit zu: »Oh ihr Menschen (yÁ aiyuhÁ n-nÁs)!« (vgl. z. B. Sure 2,21 u. ö.) Wir alle können bestätigen, dass diese Anreden im Koran universell annehmbar sind. Die Aufgabe der gegenwärtigen muslimischen Korankommentatoren sollte es sein, diese universellen Anreden und Aufforderungen des Korans in den aktuellen Kontext zu stellen, so dass sie in heutiger Perspektive die koranischen Botschaften nicht nur bei den Muslimen, sondern auch bei den Nichtmuslimen bejahen und bekräftigen. Das Ziel einer solchen Bekräftigung des Korans sollte die Friedenssicherung, die Bejahung des Rechts auf Leben aller Menschen, das Recht auf Freiheit, das Recht auf Besitz, das Recht auf die menschliche Würde sein. Wenn wir gesetzesmäßig all diese Rechte genießen, wenn wir sie wie verantwortungsvolle menschliche Wesen schützen, fügen wir 16
Vgl. Hans Küng, Christianity and World Religions: the Dialogue with Islam as One Model, in: The Muslim World 77 (1987), 80–95.
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niemandem Schaden zu – weder Muslimen noch Christen, Buddhisten, Hindus oder Atheisten. Ebenso bin ich der Meinung, dass in der Koraninterpretation – und dies gilt besonders für die heutige Zeit – Hierarchien benötigt werden. Die auf die Allgemeinheit bezogenen Koranverse müssen dabei Vorrang haben. Die anderen Koranverse haben ihre Wichtigkeit innerhalb des Kontextes der auf die Allgemeinheit bezogenen Koranverse, die mit ihrer universellen Art und Weise hervorstechen. Zweitens können Muslime durch das Lesen des Korans auf eine universelle Art und Weise diejenigen Teile der Bibel verstehen, die ebenso von Universalität geprägt sind. Die Muslime haben das – auf ihre Art und Weise – bisher auch so immer gemacht und fanden diese wichtigen Stellen in der Bibel. Ich will sie hier kurz an das Interpretationsmuster und die Hermeneutik der sogenannten IsrÁÞÐlÐyÁt erinnern. Muslimische Kommentatoren nutzten jüdische und christliche Geschichten über biblische Helden oder Teile der Bibel selbst, um mit diesen Fakten viele Koranstellen zu interpretieren. Ich selbst habe mich mit den IsrÁÞÐlÐyÁt beschäftigt und habe einige Texte und Aufsätze über sie geschrieben.17 In fast jedem der IsrÁÞÐlÐyÁt, der sich auf den Seiten der Koraninterpretationen fand, drückt sich eine der Jaspers’schen Grenzsituationen des Menschen aus: die Geburt, der Tod, der Kampf, die Liebe, die Arbeit, der Krieg, die Krankheit usw. Damit haben muslimische Kommentatoren bestätigt, dass in der Bibel eine Art universelle Wahrheit existiert, die sie bei der Kommentierung des Korans übernommen haben. Umgekehrt erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an zwei christliche Namen, die mit ihrem christlichen Hintergrund eine Vielzahl universeller Botschaften im Koran gefunden haben: Annemarie Schimmel und Johann Wolfgang von Goethe. Ich denke, dass es heute umso wichtiger ist, dass wir den Koran und die Bibel im Licht eines gegenseitigen muslimisch-jüdisch-christlichen Vertrauens lesen und deuten. Mit dieser Einstellung habe ich persönlich ein besonderes Ziel: Dass die heutige Zivilisation nicht nur eine jüdisch-christliche Zivilisation ist, sondern eine jüdisch-christlich-muslimische. 17
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Vgl. Enes Karić, Talmud i starije tuma¦enje KurÞana (= Der Talmud und die ältere Interpretation des Korans), in: Glasnik Vrhovnog islamskog starješinstva u Socijalisti¦koj Federativnoj Republici Jugoslaviji 47/2 (1984), 137–145; ders., Price Komentara KurÞana (= Geschichten der Korankommentare), in: ders., Kako tumaciti KurÞan (= Wie man den Koran auslegt), Sarajevo 2005, 317–335.
4. Die traditionelle Privatsphäre des Religiösen und wie man sie erhält Für mich ist Folgendes wichtig: Erstens darf die gemeinsame Hermeneutik der Verständigung nicht den Platz der Religion übernehmen! Die Aufgabe der Hermeneutik ist es, dass sie die Verständigung zwischen den verschiedenen religiösen Traditionen der Welt absichert. Die gemeinsame Hermeneutik ist keine neue Religion. Dies niemals! Zweitens darf die gemeinsame Hermeneutik der Verständigung zwischen den verschiedenen Religionen nicht dazu verwendet werden, dass traditionelle Formen und Rituale unserer Religionen zerstört werden. So wie der Körper der Raum für die Seele ist, so sind auch die Rituale Räume der heiligen Tradition für den Glauben. Heute führt man an vielen Orten Dialoge zwischen den Religionen. Hervorzuheben ist das Projekt, welches der Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, unter dem Titel »Building bridges« leitet.18 Ebenso ist uns das Projekt »A Common Word« bekannt, an dem zahlreiche muslimische, christliche und jüdische Theologen teilgenommen haben.19 All diese und ähnliche Dialoge zwischen den Religionen, die Treffen von religiösen Würdenträgern, das Verständnis zwischen den Religionen usw. sollten weder eine neue Ideologie werden noch ein künstlicher Glauben oder eine Metareligion. Das Ziel der heutigen gemeinsamen Hermeneutik der Verständigung liegt nicht darin, die traditionellen religiösen Universen zu zerstören, sondern sie im Kontext der heutigen Zeit besser zu verstehen. Und dass alle Menschen in Frieden und in Würde leben.
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Vgl. den neuesten Band mit den Beiträgen einer Konferenz, die in Sarajevo stattgefunden hat: Michael Ipgrave (Hg.), Building a Better Bridge. Muslims, Christians and the Common Good, Washington 2008. Die Dialoge zwischen den Religionen müssen ernsthafte und gut gesinnte Menschen führen, die sowohl in ihren eigenen als auch den anderen religiösen Traditionen ausgebildet sind. In den Dialogen muss sich die Rolle der Religionen in der heutigen Zeit bewähren. Die Dialoge zwischen den verschiedenen Religionen dürfen nicht nur auf die Geschichte ausgerichtet sein, auf die Dinge, die bereits geschehen sind. Die heutige Zeit ist für uns die wichtigste.
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Wahrheit und Methode Auf der Suche nach gemeinsamen Kriterien des rechten Verstehens heiliger Schriften Klaus von Stosch
Christen und Muslime gehen gleichermaßen davon aus, dass es eine universale Wahrheit über Gott gibt, die sich ihnen in ihrer jeweiligen Heiligen Schrift erschließt. Muslime sehen diese Wahrheit und den Willen Gottes direkt im Koran offenbart. Christen betrachten die Bibel als Zeugnis von der in Christus Gestalt gewordenen Weltzuwendung Gottes. Somit ist im Christentum das Buch nur indirekt das Wort Gottes, insofern es Zeugnis vom Logos Gottes gibt. Aber wie Muslime gehen auch Christen davon aus, dass durch das schriftlich fixierte Wort Gottes Wahrheit den Menschen zugänglich ist. Von daher stellt sich Christen wie Muslimen gleichermaßen die Frage, wie das von ihnen behauptete Wort Gottes verstanden werden kann. Es ist also zu fragen, mit welcher Methode und welchen Kriterien ein rechtes Verstehen der jeweiligen Heiligen Schrift sichergestellt werden kann. Denn selbst wenn man die Wahrheit der Schrift für unantastbar und definitiv hält, muss man erst ihre Bedeutung eruieren, um diese Wahrheit verstehen zu können. Denn nicht erst um die Wahrheitsbehauptung eines Textes prüfen zu können, sondern schon um seine Wahrheit vernehmen zu können, muss man seine Bedeutung verstehen. Wie kann ich also – ganz allgemein gewendet – die Bedeutung eines Textes verstehen?
1. Vorbemerkungen zur Hermeneutik heiliger Texte Spätestens seit der Hermeneutik Gadamers sollte klar sein, dass das Verstehen der Bedeutung eines Textes nicht möglich ist, wenn ich den Text aus der Tradition seiner Interpretation herauslöse.1 Die Idee Schleierma1
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Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990, 285–290.
chers, dass man einen Text erst dann richtig versteht, wenn man seinen Autoren besser versteht als er sich selbst, ist ein hermeneutisches Ideal, das ganz offensichtlich in die Irre führt.2 Man kann Texte nicht verstehen, indem man in die Zeit ihrer Entstehung hineinspringt und sie in ihrer ursprünglichen Form rekonstruiert und dabei so tut, als habe es die ganze Geschichte seiner Interpretation bis heute nicht gegeben. Diese allgemeine hermeneutische Einsicht gilt a forteriori für heilige Texte, die die Sprache und das Denken ganzer Kulturen geprägt haben und die man nicht außerhalb des Traditionsstroms verstehen kann, dem man das eigene Denken und Sprechen verdankt. Ziel der Hermeneutik kann es also nicht sein, ohne alle Vorurteile und ohne alle Verstehenshilfen der Tradition an die heiligen Texte heranzugehen, sondern es muss vielmehr darin bestehen, sich darüber bewusst zu werden, aus welcher Traditionsgemeinschaft man die Texte warum und wie versteht. Gerade wenn mir klar wird, dass ich einen Text nur verstehen kann, wenn ich ihn in bestimmte kulturelle und sprachliche Zusammenhänge einbette, aus denen auch ich nicht heraus kann, so dass jedes Verstehen eine Verschmelzung der Horizonte des Textes und meiner selbst erfordert, gerade dann wird die Frage virulent, warum ich einen Text vor einem bestimmten Hintergrund und in einer bestimmten Interpretationsrichtung verstehe. Dabei ist es bei heiligen Texten unerlässlich, für ihr rechtes Verstehen die Perspektiven derjenigen einzubeziehen, die sich von diesen Texten ansprechen und durch sie ihr Leben verändern lassen. Die scheinbar neutrale Außensicht vermag nicht zu verstehen, welche Bedeutung diese Texte für Glaubende zu haben vermögen. Das bedeutet nicht, dass ich einer bestimmten Glaubensgemeinschaft angehören muss, um ihre heiligen Texte verstehen zu können.3 Aber ich muss verstehen, wie heilige Texte aus der Teilnehmerperspektive religiöser Sprachspiele heraus wahrgenommen werden, um sie richtig zu verstehen. Rechtes Verstehen des Korans ist also nicht an dem Verstehen dieses Buches durch Muslime 2 3
Vgl. die entsprechende Kritik ebd. 195–201. Diese überzogene Schlussfolgerung teilen so unterschiedliche Denker wie Peter Steinacker und Raimon Panikkar (zu Steinacker vgl. den Beitrag von Eckart Reinmuth in diesem Band, S. 46–66; zu Panikkar vgl. Raimon Panikkar, Der neue religiöse Weg. Im Dialog der Religionen leben, München 1990, 61 f.). Dass die Bedeutung einer Überzeugung adäquat nur aus der Binnenperspektive nachvollziehbar ist, bedeutet nicht, dass ich die Binnenperspektive existenziell übernehmen muss, um zu verstehen, sondern nur dass ich sie empathisch zur Kenntnis nehmen und nachvollziehen muss.
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und die muslimische Tradition vorbei möglich (so wie ein rechtes Verstehen der Bibel nicht am Verstehen der Christen vorbei möglich ist). Das bedeutet nicht, dass ich die Wahrheit des in den jeweiligen Glaubensgemeinschaften Bekannten übernehmen muss, um verstehen zu können – wohl aber die Bedeutung. Nun ist es aber auch innerhalb der Glaubensgemeinschaften umstritten, wie der jeweilige heilige Text zu verstehen ist. Welchem Verstehen darf man hier folgen? Kann man hier Regeln für ein rechtes Verstehen aufstellen, die es erlauben, angemessenes von weniger angemessenem Verstehen zu unterscheiden? Die gängige Antwort muslimischer Tradition auf diese Frage besteht darin, darauf zu verweisen, dass der Koran selbst zu seinem Verstehen heranzuziehen ist. So lautet die oberste Regel des muslimischen tafsÐr, dass der Koran aus sich selbst heraus zu verstehen ist, d. h. dass schwierigere Verse mit eindeutigen erklärt werden.4 Kann man dadurch noch keine Klarheit erlangen, so wird die zweite Regel in Anschlag gebracht, wonach Muhammad als erster Exeget und Hermeneut der Schrift genannt wird, d. h. die Sunna wird zur Interpretation des Korans herangezogen. Gibt es auch bei Muhammad selbst keine Antwort, greift man auf möglichst alte Schultraditionen zurück.5 Diese Vorgehensweise greift Interpretationsregeln auf, die auch in den christlichen Kirchen gängig sind. Eckart Reinmuth hat in seinem Beitrag bereits auf Luthers Gedanken hingewiesen, dass die Schrift für sich selber sprechen muss und keine Apologetik braucht. Christlich wird man dieses Verstehen, das alle weiteren Rückfragen überflüssig macht, durch die Autorität des Heiligen Geistes erklären. Wenn ich von Gottes Geist und Kraft ergriffen die Schrift lese, dann verstehe ich sie richtig und dann erübrigen sich alle Rückfragen. Was aber, wenn mich der Geist nicht ergreift? Und vor allem was ist, wenn ich nur meine, dass mich der Geist ergriffen hat, ich mich aber täusche? Woher weiß ich, dass die mich ergreifende Gewissheit in der Auslegung wirklich geistgewirkt ist und nicht nur eine Selbsttäuschung ist, die mir genauso subjektiv gewiss ist, wie es manchen Ver4
5
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Jacques Waardenburg, Gibt es im Islam hermeneutische Prinzipien?, in: Hans-Martin Barth/Christoph Elsas (Hg.), Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen Dialog. Rudolf-Otto-Symposium 1996, Hamburg 1997, 51–74, 55. Vgl. Shabbir Akhtar, The Limits of Internal Hermeneutics. The Status of the QurÞan as Literary Miracle, in: Hendrik M. Vroom/Jerald D. Gort (Hg.), Holy Scriptures in Judaism, Christianity and Islam. Hermeneutics, Values and Society, Amsterdem/Atlanta 1997, 107–112, 107.
rückten gewiss zu sein scheint, dass sie von der CIA verfolgt werden? Die klassische katholische Antwort hier ist der Hinweis auf die Autorität des authentischen Lehramts und die Tradition der Kirche, die meine subjektive Gewissheit kriterial prüfen kann. Doch woher kommt die Gewissheit, dass ich dieser Tradition trauen darf, dass sie nicht ganz und gar geistverlassen ist? Diese Frage lässt sich ganz analog auch der muslimischen Tradition stellen und sie kann noch radikaler auch auf die jeweilige Heilige Schrift selbst rückgewendet werden. Wer verbürgt, dass dieses Wort tatsächlich das Wort Gottes ist und als solches verstanden werden kann? Will man nicht in einer anti-liberalen oder neo-konservativen Stoßrichtung derartige Fragen für unzulässig erklären oder sie nur innerhalb des eigenen Glaubenszirkels beantworten, bleibt nur das Forum der Vernunft, um sie zu klären. Aber darf man ein Offenbarungszeugnis durch Mittel der Vernunft kritisch prüfen? Werden an dieser Stelle nicht die Orthodoxen beider Religionen aufschreien und sagen, dass die kritische Prüfung des Wortes Gottes eine Blasphemie ist?6 Gott darf – so ist auch christlicherseits etwa in der Theodizeedebatte immer wieder zu hören – nicht vor den Gerichtshof der Vernunft gezerrt werden.7 Wichtig ist, sich angesichts dieser Einwürfe klar zu machen, dass es nicht um ein Gericht über Gott oder sein Wort geht, sondern um den (als universal behaupteten) Anspruch von Menschen, dieses Wort glauben zu dürfen. Wenn es Gott gibt und er uns die Vernunft geschenkt hat – ein Glaubensinhalt, der Christentum und Islam beiden eigen ist –, dann wäre es doch merkwür6
7
Vgl. ebd. 122–127, 122: »Revelation judges men, men do not judge revelation. […] The idea of critical QurÞanic scholarship is blasphemous.« – S. Parvez Mansoor, Method against Truth. Orientalism and QurÞanic Studies, in: Colin Turner (Hg.), The Koran. Critical Concepts in Islamic Studies I: Provenance and Transmission, New York 22006, 253–262, weist darauf hin, dass nicht wenige Muslime den Eindruck haben, dass die Methode (der nur scheinbar neutralen westlichen Islamwissenschaften) verwendet wird, um die Wahrheit (des muslimischen Glaubens) zu verdunkeln. Mir geht es deswegen darum, hier zu zeigen, dass die Herausforderung der Vernunft beide Religionen in gleicher Weise angeht. Denn Vernunft ist per definitionem nicht westlich oder christlich, sondern universal. Sollte das beschriebene Unbehagen also einen berechtigten Kern haben – und den Eindruck wird man haben müssen –, so liegt das an der fehlenden Vernunftgemäßheit eines bestimmten Strangs der Orientalistik. Vgl. etwa Werner Otto, Verborgene Gerechtigkeit. Luthers Gottesbegriff nach seiner Schrift »De servo arbitrio« als Antwort auf die Theodizeefrage, Frankfurt u. a. 1998, 252.
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dig, wenn die Ergebnisse der kritischen Selbstprüfung der Vernunft den Glauben widerlegen würden. Es wäre – etwas salopp gesprochen – ziemlich fies von Gott, uns eine Vernunft zu schenken, die falsche Einsichten produziert, sobald sie über ihn nachdenkt. Es ist jedenfalls eine ziemlich sichere Regel, dass die Schrift, wenn sie wirklich von Gott kommt, dazu in der Lage sein sollte, die skeptischen Nachfragen der Vernunft überzeugend zu beantworten.8 Mir scheint es im Übrigen auch auf muslimischer Seite wichtige Stimmen zu geben, die eine glaubensexterne Überprüfung des glaubensintern gewonnenen Verständnisses der Schrift zulassen oder sogar fordern.9 Verzichtet man auf eine solche Prüfung, ist religiöser Glaube jedenfalls nicht mit den Ansprüchen der Vernunft vereinbar und wird willkürlich und beliebig. Es braucht also so etwas wie externe bzw. religions- und sprachspielübergreifende Kriterien für die Geltungsansprüche des Islams und des Christentums. Wie könnte man diese erreichen?
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Vgl. Shabbir Akhtar, Critical QurÞanic Scholarship and Theological Puzzles, 123: »It is in general a safe rule that, if the scripture is authentic, it should be able to withstand to some degree the tests of sceptical secularity.« Vielleicht – so überlegt Akhtar weiter – braucht es ja die kritische Herangehensweise, um dem modernen Menschen zuallererst die Relevanz des Korans zu zeigen (vgl. ebd.). Denn zunächst einmal scheint der Koran dem modernen säkularen Menschen wenig überzeugend zu sein, wenn er etwa – entgegen der Forschungsergebnisse der Religionsgeschichte – behauptet, dass die Menschen zum Beginn der Menschheit Monotheisten waren und dass es in der Natur des Menschen liegt, an Gott zu glauben. Wenn man derartige Überlegungen nicht historisch einbettet, wird es für Außenstehende schwierig, den Koran weiter ernst zu nehmen (vgl. 125–127). In diesem Sinn verstehe ich etwa die bei Waardenburg referierte muslimische Position, dass bei einem offenen Widerspruch zur Vernunft eine Koran-Stelle allegorisch zu interpretieren ist (vgl. Jacques Waardenburg, Prinzipien [s. Anm. 4], 56), oder den Gedanken von Smail Balić, dass die Religion aus der Sicht des Korans eine Lebenshilfe für den Menschen sein will. So schreibt er: »›Gott will für euch Erleichterung. Er will nicht Erschwernis.‹ (Sure 2,185) Diese Dimension der Religion aufzuzeigen ist u. a. die Aufgabe der hermeneutischen Forschung.« (Smail Balić, Hermeneutik zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, in: Barth/Elsas, Hermeneutik [s. Anm. 4], 96–107, 107)
2. Bedingungen des Verstehens des Unbedingten im Bedingten. Zur Hermeneutik in der Tradition liberaler Theologie Ich möchte hierzu im Folgenden einen Vorschlag unterbreiten, der von einer deskriptiven Analyse der Überzeugungen von Muslimen und Christen ausgeht und daraus Kriterien zu ihrer Bewertung abzuleiten versucht.10 Er steht in der Tradition liberaler christlicher Theologie und ist an einigen Stellen von Paul Tillich,11 an anderen von Ludwig Wittgenstein inspiriert.12 Er ist so formuliert, dass er sich an Christen und Muslime gleichermaßen richtet, ist aber aus Diskussionserfahrungen der christlichen Theologie heraus inspiriert und muss sich erst noch im interreligiösen Gespräch bewähren. Muslime und Christen glauben gleichermaßen, dass sich durch das Hören auf einen Text ein Zugang zu Gott gewinnen lässt. Beide gehen damit davon aus, dass sich das Unbedingte in etwas Bedingtem offenbart bzw. dass sich durch das Bedingte hindurch ein Weg zum Unbedingten (oder zum Tun seines Willens) gewinnen lässt. Denn ein Text ist per definitionem zumindest auch etwas Bedingtes und Gott ist in jedem Fall ebenfalls per definitionem etwas Unbedingtes. Wie kann nun aber das Bedingte etwas Unbedingtes anzeigen? Dies ist nur in einer anzeigend-verweisenden bzw. symbolischen Struktur denkbar, weil das Bedingte sonst aufhören würde, etwas Bedingtes zu sein, und damit nicht mehr Teil dieser Welt wäre. Das Bedingte kann nur dadurch das Unbedingte repräsentieren, das es von sich weg auf das Unbedingte selbst hin verweist. Es kann das Unbedingte und das Bedingte zusammenhalten, indem es ganz und gar zum Zeichen des Unbedingten wird und mit all seinem bedingten Sein das Unbedingte bezeichnet. In der Macht des Unbedingten mag es sogar liegen, dass es in dem Bedingten als es selbst, also als Unbedingtes da sein kann. Gott kann im Anderen seiner selbst er selber sein, Gott kann auch in etwas Endlichem Gott sein – darin liegt seine Allmacht. Aber er kann nicht bewirken, dass etwas Endliches, Bedingtes zugleich etwas Endliches ist 10 11 12
Diese Ableitung ist selbstverständlich nicht zwingend, da sie sonst einen Sein-Sollen-Fehlschluss begehen würde. Sie sei hier lediglich als naheliegendes Angebot eingeführt. Vgl. etwa Paul Tillich, Offenbarung und Glaube, Stuttgart 1970, 31–46. Vgl. Klaus von Stosch, Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz. Untersuchungen zur Verortung fundamentaler Theologie nach Wittgenstein, Regensburg 2001, 277–320.
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und es nicht ist – jedenfalls wäre es sinnlos, dies zu behaupten, weil wir keine intelligible Vorstellung von etwas haben (können), was zugleich und in derselben Hinsicht a und non-a ist. Gott kann also, wenn er es will, in dem endlichen Zeichen eines Textes in der Weise realsymbolisch präsent sein, dass er da ist und richtig bezeichnet wird. Aber er kann nicht strikt mit diesem Zeichen identifiziert oder gar auf dieses reduziert werden. Wenn das (bedingte) Zeichen des heiligen Textes (oder die menschliche Gestalt Jesu von Nazareth) nicht strikt bzw. material identisch mit dem Unbedingten ist, sondern nur auf es verweist, muss es daraufhin befragt werden können, wie es geworden ist und wie es die Bedeutung gewonnen hat, die es hat. Die historisch-kritische Rückfrage an seinen Anspruch ist unausweichlich. Seine Bedeutung darf zwar nicht auf das auf diese Weise Eruierbare reduziert werden. Aber es sollte dem hier Erhobenen auch nicht widersprechen. Denn wenn das Bedingte gar nicht ursprünglich als Zeichen des Unbedingten verstanden werden will und kann, wäre es unredlich, es als solches zu behaupten. So wie das Selbstverständnis des historischen Jesus nicht im direkten Widerspruch zum verkündigten Christus stehen darf und die Rückfrage nach ihm eine korrektivische Funktion für die christliche Verkündigung hat, so muss im muslimischen Kontext geprüft werden, ob die heutige Auslegung des Korans seiner historisch-kritisch rekonstruierbaren ursprünglichen Bedeutung widerspricht. Zugleich gilt, dass der Glaube, dass die jeweilige Heilige Schrift Zeichen des Unbedingten ist, nicht durch seine historischen Entstehungsbedingungen verbürgt werden kann. Denn diese vermögen ja nur zu zeigen, wie es das Bedingte geworden ist, das es auch ist. Dass in ihm das Unbedingte aufscheint, lässt sich gerade nicht durch seine Rückführung auf anderes Bedingtes feststellen, sondern nur, indem mir in ihm das Unbedingte selbst zugänglich wird.13 Soll dieses Zugänglichwerden des Unbedingten im Bedingten aber keine reine Projektion sein, wäre zu überprüfen, ob es sich nicht lückenlos aus dem Bedingten heraus erklären lässt – etwa als Projektion der Wünsche und Sehnsüchte der Menschen. Lässt es sich vollkommen und überzeugend aus dem Bedingten ableiten, wäre es nur ein Bedingtes, nur ein Götze, der nicht mit Gott verwechselt werden darf und nach der Überzeugung beider Religionen zerstört werden muss.
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Hierin liegt die Wahrheit der oben referierten Einsicht Luthers, dass nur der Heilige Geist bzw. die Schrift selbst einen Zugang zu ihr eröffnen kann.
Es lassen sich also zwei Kriterien aus der hier vorgeschlagenen Analyse ableiten. Einerseits ein Kriterium, das man als Götzenkritik bezeichnen könnte. Dieses Kriterium stellt sicher, dass der Text, der als Zeichen des Unbedingten behauptet wird, tatsächlich möglicherweise das Unbedingte selbst anzeigt. Dazu kann untersucht werden, ob er sich problemlos aus dem Bedingten erklären lässt. Denn nur das Unbedingte selbst kann verbürgen, dass eine Bezugnahme auf das Unbedingte gelingt. Ist ein Text eindeutig aus dem Bedingten ableitbar, kann nicht das Unbedingte sein Grund sein und er kann von daher nicht zu Recht als Verweis auf dieses Unbedingte behauptet werden. Das bedeutet nicht, dass nachzuweisen wäre, dass keine Ableitung des Textes aus dem Bedingten möglich ist, sondern nur, dass die Behauptung ihrer Unableitbarkeit nicht unvernünftig und unplausibel ist. Natürlich ist es möglich, das Leben Jesu von Nazareth und damit den Kern dessen, was die christliche Schrift ausmacht, historisch zu rekonstruieren, ohne ein Handeln Gottes anzunehmen. Der christliche Glaube lebt jedoch aus der Erfahrung, dass es die Wirklichkeit Jesu nicht genügend würdigt, wenn man eine solche naturalistische Ableitung vornimmt, d. h. die Würdigung der Sache selbst erfordert hier eine nicht-naturalistische Erklärung. Ebenso kann auch ein Muslim getrost zugeben, dass es theoretisch möglich wäre, die Entstehung des Korans rein naturalistisch zu erklären. Aber – so dürfte hier der ähnlich gelagerte Anspruch lauten – eine solche Erklärung würde ihn nicht in rechter Weise verstehen. Es müsste also gezeigt werden, an welcher Stelle eine solche Ableitung aus dem Bedingten das Wesen des Korans nicht genügend würdigt. Während also einerseits zu zeigen ist, dass der heilige Text nicht überzeugend lückenlos aus dem Bedingten abgeleitet werden kann, muss umgekehrt im Blick bleiben, dass er (gerade um einen Zugang zum Unbedingten im Bedingten eröffnen zu können) Bedingtes unter Bedingtem bleibt und bleiben muss. In diesem Zusammenhang wäre zu zeigen, dass die Entstehung von ihm als Bedingtem nicht dem widerspricht, was er als Unbedingtes zu sein behauptet. Dieses zweite Kriterium möchte ich das Kriterium der historischen Rückfrage nennen. Es beinhaltet die Behauptung, dass die historische Rückfrage nicht zu Ergebnissen führen darf, die dem Geltungs- und Wahrheitsanspruch der jeweiligen Religion widerspricht, ohne dass dadurch die Rationalität des Glaubens erschüttert würde. Damit hätten wir zwei Kriterien zum rechten Verstehen heiliger Schriften: Götzenkritik und historische Rückfrage. Ich will nicht behaupten, dass diese Kriterien die einzigen sind, die man beachten sollte. Im 251
Gegenteil habe ich an anderer Stelle eine Reihe von weiteren Kriterien zu entwickeln versucht.14 Aber ich meine, dass man bereits mit diesen beiden Kriterien einiges erreichen kann, und ich meine, dass man diese beiden ganz unabhängig von der eigenen religiösen Zugehörigkeit anerkennen sollte. So weit ich die Lage übersehe, scheint es mir derzeit im Islam mindestens zwei Weisen der Rekonstruktion der Offenbarung im Koran zu geben, die den beiden genannten Kriterien Genüge tun oder zumindest Genüge zu tun versuchen. Ich möchte diese beiden Rekonstruktionsweisen die ethische und die ästhetische Rekonstruktion der Offenbarung nennen. Beide Rekonstruktionsformen sind von ihrem Grundcharakter her auch der christlichen Theologie bekannt, ohne auf sie zurückgeführt werden zu können. Die ethische Rekonstruktion entspricht weitgehend dem Grundanliegen der liberalen Theologie und Hermeneutik im Gefolge Schleiermachers und ließe sich gut von Kant her begründen. Die ästhetische Rekonstruktion geht dagegen in eine Richtung, die man vielleicht als postliberal oder postmodern qualifizieren kann.15
3. Ethische Rekonstruktion des Offenbarungsanspruchs. Ein Modell liberaler Hermeneutik im Islam Beliebter bei der gegenwärtigen intellektuellen Elite der Muslime ist, soweit ich das aus meinen Dialogerfahrungen heraus sehen kann, die ethische Rekonstruktion des muslimischen Offenbarungsanspruchs.16 Diese ethische Rekonstruktion geht dabei in der Regel von einer Denkfigur aus, die in sehr einprägsamer Weise Fazlur Rahman vorgegeben hat. Rahman sah den Koran als »Handbuch der Ethik, das nicht Einzelanweisungen, sondern Prinzipien bietet«17. Er schlägt folgendes dreischrittige Verfah14
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Vgl. Klaus von Stosch, Das Problem der Kriterien als Gretchenfrage jeder Theologie der Religionen. Untersuchungen zu ihrer philosophischen Begründbarkeit, in: Reinhold Bernhardt/Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Kriterien interreligiöser Urteilsbildung, Zürich 2005, 37–57. Vgl. zum schillernden Projekt theologischer Konzeptionen im Gespräch mit der Postmoderne: Peter Hardt/Klaus von Stosch (Hg.), Für eine schwache Vernunft? Beiträge zu einer Theologie nach der Postmoderne, Ostfildern 2007. Vgl. zur Kritik der hiermit konkurrierenden ästhetischen Rekonstruktion beispielsweise Akhtar, Limits (s. Anm. 5), 107–112. Felix Körner, Einleitung, in: ders. (Hg.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg u. a. 2006, 11–14, 12.
ren zur Eruierung des rechten Verstehens des Korans vor – ein Verfahren, das die sog. Ankaraner Schule übernommen hat. Im ersten Schritt gehe es um die Rückkehr in die Offenbarungszeit. »Weil sich jede Koranstelle auf Geschichte bezieht, muss man, um die ursprüngliche Bedeutung von Koranstellen festzustellen, jede Stelle in ihrer eigenen geschichtlichen Situation lesen.«18 Ausgehend von der genauen Analyse der geschichtlichen Umstände gelte es dann in einem zweiten Schritt, die hinter den einzelnen Regeln stehenden ethischen Prinzipien zu identifizieren. »Ziel ist […], die universale Botschaft hinter den Urteilen zu fassen zu bekommen und diese Botschaft auf heute, auf neue geschichtliche Umstände zu übertragen.«19 Diese Übertragung ist schließlich der dritte Schritt. Um diesen Schritt leisten zu können, gelte es zuvor klar herauszuarbeiten, was der Kern der Texte ist und was als den geschichtlichen Umständen geschuldet zu vernachlässigen ist. Nur wenn dies geschehen ist, kann man die herausgearbeiteten ethischen Prinzipien in angemessener Weise auf Fragestellungen der Gegenwart anwenden und so zu neuen Antworten kommen. Will man die Wahrheit des Korans verteidigen, so muss man dieser Lesart zufolge also seine ethischen Grundnormen erarbeiten und verteidigen. Der Kern des muslimischen Glaubens besteht in dieser Deutung demnach in einem rechten Tun bzw. in der durch ihn ermöglichten Rechtleitung, die dazu führt, dass er eine rational verantwortbare Grundorientierung für das gesamte menschliche Leben anbietet. Offensichtlich gibt es viele Christen und auch christliche Theologen, die sich durch die hier angedeutete ethische Rekonstruktion angesprochen fühlen. Hans-Martin Barth etwa sieht sich »durch die Klarheit der ethischen Weisung, wie sie der Muslim dem Koran entnimmt, in seinem Vorgehen bestärkt […], bei eigener verantwortlicher ethischer Urteilsbildung das biblische Zeugnis radikal ernstzunehmen«20, und hofft: »Der Christ könnte dabei erneut dessen gewahr werden, daß die ›Bibel‹ ihm ›Heilige Schrift‹ sein kann und will, als ›Seil Gottes‹, an dem man sich gemeinsam festhalten darf (Sure 3,103).«21 Auch Christian Zippert meint, dass wir Christen in puncto »Ehrfurcht« im Umgang mit der 18
Ömer Özsoy, Die Geschichtlichkeit der koranischen Rede und das Problem
19
Mehmet Paçac¤, Der Koran und ich – wie geschichtlich sind wir?, in: ebd.
der ursprünglichen Bedeutung von geschichtlicher Rede, in: ebd. 78–98, 86.
32–69, 67. 20 21
Hans-Martin Barth, »Nimm und lies!« Die spirituelle Bedeutung von Bibel und Koran, in: ders./Elsas, Hermeneutik (s. Anm. 4), 9–23, 21. Ebd. 22.
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Schrift noch einiges von den Muslimen lernen können.22 Und auch Gisbert Greshake sieht offensichtlich in der Radikalität, mit der Muslime die ethische Rechtleitung Gottes in ihrem Leben umsetzen, einen der entscheidenden Anziehungspunkte des Islams.23 Ich gestehe, dass ich mit dieser ethischen Auslegung recht wenig anfangen kann, möchte sie aber auf keinen Fall diskreditieren. Für unseren Zusammenhang ist sie allerdings insofern nicht unproblematisch, als sie dem Kriterium der Götzenkritik zu widersprechen scheint. Die ethischen Prinzipien des Korans scheinen mir nämlich auch aus der Perspektive autonomer Moral zu gewinnen zu sein. Damit wird aber die Frage, ob der Koran nicht als Projektion menschlicher Lebensentwürfe durchschaut werden müsste, virulent. Bestreitet man die Konvergenz (und damit auch die Ableitbarkeit) der ethischen Prinzipien des Korans mit den ethischen Prinzipien der praktischen Vernunft und betont, dass der Koran ein höheres Ethos als die Vernunft fordert, das aus ihr nicht ableitbar ist, gerät man in eine gefährliche Nähe zur Denkfigur der Möglichkeit einer »teleologischen Suspension des Ethischen«24, die für fundamentalistische Deutungen missbraucht werden kann. Mit anderen Worten: Entweder der Koran verkörpert nur das Ethische, das dem Menschen auch ohne ihn bekannt wäre, so dass er letztlich überflüssig ist. Oder er widerspricht dem Ethischen und wird dadurch aus der Sicht neuzeitlich-autonomer Vernunft suspekt. Ich weiß nicht, wie man aus diesem Dilemma entkommen kann, und habe deswegen den Eindruck, dass eine ethische Rekonstruktion von Religion keine überzeugende Strategie darstellen kann.25 Aber das mag an meiner Auffassung liegen, dass Ethik gänzlich 22 23 24 25
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Vgl. Christian Zippert, Probleme im Zusammenhang mit der Übersetzung der Bibel, in: Barth/Elsas, Hermeneutik (s. Anm. 4), 34–43, 43. Gisbert Greshake, Göttliches und vergöttlichendes Wort, in: Andreas Bsteh (Hg.), Hören auf sein Wort. Der Mensch als Hörer des Wortes Gottes in christlicher und muslimischer Überlieferung, Mödling 1992, 118. Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, Gütersloh 21986, 57. Gegen Rahmans hermeneutisches Modell sprechen außerdem die beiden folgenden Punkte, die beide auch auf der Tagung thematisiert wurden: Zum einen kann man wie Assaad Elias Kattan in seiner Antwort auf einen Redebeitrag von Michael Bongardt fragen, ob denn wirklich jeder Abschnitt der Schrift einen lebenspraktischen bzw. ethischen Sinn haben muss. Zum anderen kann man mit Burhanettin Tatar fragen, wie man denn in der Geschichte zum übergeschichtlichen Wesen eines Textes Zugang finden soll (vgl. Burhanettin Tatar, Das Problem der Koranauslegung, in: Körner, Koranhermeneutik [s. Anm. 17], 104–124, 114). Hiergegen könnte man darauf bestehen, dass die Bedeutung des Korans sich je nach Interpretationssituation
autonom von Religion konzipiert werden müsste, und ich will hier nicht weiter insistieren. Ich will die Aufmerksamkeit einfach auf eine andere mögliche Rekonstruktion einer Hermeneutik des muslimischen Offenbarungsdenkens lenken, die mir persönlich gewinnbringender zu sein scheint, zumindest aber das Tableau möglicher Rekonstruktionen ergänzen kann. Wenden wir uns also einer Rekonstruktion von Offenbarung zu, die in der Schönheit Gottes und der Unnachahmlichkeit seiner Offenbarung gründet.
4. Ästhetische Rekonstruktion des muslimischen Offenbarungsanspruchs. Ein Modell postliberaler Hermeneutik im Islam Die Unnachahmlichkeit des Korans (ÝiÞÊaz al-qurÞÁn) wird in der muslimischen Theologiegeschichte anfangs primär inhaltlich, dann aber mehr und mehr mit der sprachlich-stilistischen Gestalt des Korans begründet.26 Der Ursprung dieses Gedankens liegt in Muhammads Herausforderung seiner Gegner zum Wettstreit, sie sollten doch eine ähnliche Offenbarung wie den Koran hervorbringen. So lange ihnen das nicht gelinge, sei seine Behauptung der Göttlichkeit des Korans berechtigt27 – eine Begründungsstrategie übrigens, die in interessanter Weise die Vorgehensweise der reformed epistemology vorwegnimmt. Interessant an dieser Begründungsstrategie ist, dass die ihr zu Grunde liegende Herausforderung historisch zunächst gar nicht oder zumindest nicht primär die sprachlich-stilistische Ebene im Blick hat, dass sie von den späteren Muslimen aber im Sinne einer ästhetischen Herausfor-
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ändert und nicht hypostasiert werden sollte (vgl. ebd. 126). Schließlich könnte man noch fragen, ob das Ankaraner Verstehensmodell nicht zu sehr einem hermeneutischen Modell verpflichtet ist, das einer theologischen Elite die Deutungshegemonie über die Schrift zusichert – was gerade im Blick auf das Anliegen der Demokratisierung von Verstehensprozessen ein problematischer Punkt sein dürfte. Vgl. Heinz Grotzfeld, Der Begriff der Unnachahmlichkeit des Korans in seiner Entstehung und Fortbildung, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), 58–72, 63; Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Bd. 4, Berlin/New York 1997, 608. Vgl. Grotzfeld, Unnachahmlichkeit (s. Anm. 26), 60 f.
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derung verstanden wurde.28 Spätestens seit dem 10. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung gehört der Glaube, dass es niemand geschafft hat, dem Koran etwas Schöneres, Besseres und Hinreißenderes entgegenzusetzen, zu den identitätsstiftenden Elementen der muslimischen Gemeinden.29 Zur Logik dieser Art der Begründungsstrategie gehört nicht nur, dass »die Araber den Koran aufgrund seiner stilistischen Vollkommenheit als göttliches Werk anerkannt haben, sondern auch, daß diese Araber das Dichtervolk schlechthin und gerade sie es waren, welche das Sprachwunder eingestehen mußten, dasjenige Volk also, das die Kunst der Beredsamkeit über alles schätzte und nur durch ein sprachliches Wunder überzeugt werden konnte«30. Vielleicht könnte man insofern die Eigenart der muslimischen Offenbarung in einem personal-dialogischen Verhältnis Gottes zu Muhammad und seinem Volk sehen. Gott teilt sich den Muslimen in einer ästhetisch vermittelten Weise mit, weil er von diesem Volk gerade so verstanden zu werden hofft. Wenn Gott nicht blinden Gehorsam, sondern verstehende Anerkennung will, muss er einem an dieser Stelle empfänglichen Volk auf ästhetische Weise begegnen. Denn – so zumindest die These von Navid Kermani – das religiöse Erkennen ist im Islam ästhetisch vermittelt »als ein Schauder erregendes, Gänsehaut verursachendes Hören einer als schön bezeichneten Rede, [...] eine Schönheitserfahrung«31. Wie genau diese ästhetische Besonderheit zu fassen ist, ist natürlich ohne Kenntnisse des Arabischen unmöglich. Al-GurÊani würde sagen, dass die Besonderheit eben in der Struktur der Verse, in der sinnvollen Verknüpfung von Wortzeichen zur Übermittlung einer Intention liege, dass alles eben einfach genau an seinem Platz sei. Vers für Vers gebe es kein Wort, das angemessener oder passender ersetzt werden könnte.32 Auch wenn wir in diesem Zusammenhang solche Behauptungen nicht prüfen können, so bieten sie doch Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Rekonstruktion der muslimischen Offenbarungsbehauptung, die den oben genannten Kriterien standzuhalten vermag, ohne den Koran auf seine ethische Dimension zu reduzieren. Von einer Reduzierung auf seine Ästhetik kann schon deshalb keine Rede sein, weil die ästhetische Wirkung nur im Zusammenspiel von Form und Inhalt erreicht werden 28 29 30 31 32
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Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999, 20. Vgl. ebd. 19. Ebd. 23. Ebd. 25 f. Vgl. ebd. 256.
kann. Es geht also nicht um die Reduzierung des Korans auf seine Ästhetik, sondern um die These, dass die Gegebenheitsweise der Offenbarung im Islam primär ästhetisch vermittelt und entsprechend auf dieser Ebene zugänglich ist. Natürlich darf die Unterscheidung verschiedener Gegebenheitsweisen der Offenbarung nicht dazu führen, die jeweiligen Religionen auf ihre primären Gegebenheitsweisen festzulegen. Auch im Christentum spielen ästhetische Vermittlungsfiguren eine große Rolle, und es wäre eine eigene Untersuchung wert, warum diese Art der Vermittlung gerade in den orthodoxen Kirchen so ausgeprägt ist und gerade in den Kirchen der Reformation so sehr vernachlässigt wird. Ebenso ist gerade der Blick auf die Gestalt Christi ein wichtiges ästhetisches Ereignis, das allerdings eher in der Weise des Sehens als des Hörens beheimatet ist. Und wenn beispielsweise Eckart Reinmuth in diesem Band Wege zum Verständnis der Offenbarung als Literatur zeigt, so sieht man auch hier eine große Affinität zum hier skizzierten postliberalen hermeneutischen Modell. Umgekehrt stellt auch der Koran kognitiv-propositionale Ansprüche, die nicht in das ästhetische Hörerlebnis aufgelöst werden dürfen, sondern gerade in ihm erst angemessen erfasst werden. Eben diese Überlappungen könnten ein entscheidender Grund dafür sein, warum sich Christentum und Islam so sehr in einer Konkurrenzsituation wahrnehmen. Es kann also nicht darum gehen, im Islam eine rein ästhetische Weise der Offenbarung zu sehen und diese von einer rein personal-leiblichsakramentalen Gegebenheitsweise im Christentum abzusetzen. Verzichtet man auf solche einseitigen Pauschalurteile, scheint mir für das interreligiöse Gespräch dennoch die Wahrnehmung hilfreich zu sein, dass der Modus der Offenbarung im Islam offensichtlich in erster Linie im Hören zugänglich ist und dabei in der Regel nicht ohne ästhetische Elemente auszukommen scheint. Schon Muhammad selbst bekommt kein Schriftstück ausgehändigt, sondern hört die Offenbarung vom Erzengel Gabriel. Bis heute ist der Koran ein Vortragstext und gewissermaßen die liturgische Rezitation der direkten Rede Gottes. »Gott spricht, wenn der Koran rezitiert wird, sein Wort kann man genau genommen nicht lesen, man kann es nur hören.«33 Entsprechend ist im Islam nicht das Darstellen und Berühren, sondern das Hören im Mittelpunkt des liturgischen Vollzuges: Sein zentraler Kult ist »das Hören oder Aufsagen der göttlichen Rede, 33
Ebd. 173; vgl. ebd. 189: »Unmöglich sei es, zitiert Lamya al-Faruqi einen Azhar-Absolventen, den Koran bloß zu lesen. Eine korrekte Wiedergabe der Worte und Phrasen erzwinge eine musikalische Ausgestaltung.«
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die salat, das tägliche drei- bis fünfmalige Ritualgebet«34. Das Erleben der Nähe Gottes scheint im Islam durch die Begegnung mit seinem Wort vermittelt zu sein, so dass das Hören des Korans als sakramentale Handlung verstanden werden kann.35 Nicht umsonst herrschte in der islamischen Welt lange ein mitunter heute noch zu beobachtendes Misstrauen gegen ausschließlich schriftliche Überlieferungen der Offenbarung.36 Letztlich war und ist es die von Generation zu Generation immer neu vermittelte mündliche Rezitation des Korans, die die Authentizität der Offenbarung verbirgt und sie neu erlebbar macht.37 Selbst die MuÝtaziliten geben zu, dass Gott in der Rezitation so zu einem spricht wie zu Mose auf dem Berg Sinai,38 und selbst die Gegner des iÞÊaz nehmen den Koran als Literaturdenkmal sehr ernst39 – so wie auch von Nichtchristen Jesus wegen seiner Menschlichkeit bewundert wird. Die Rede vom iÞÊaz ist zwar eine apologetische Theorie, die in den Theologenstuben geboren wurde, aber erzeugt wurde sie von den Koranrezitatoren und ihren Zuhörern40 und entsprechend kann sie auch historisch-kritisch befragt werden. Dabei ist zu bedenken, dass die besondere ästhetische Gegebenheitsweise der Offenbarung im Islam es nahezu unmöglich machen muss, den Koran zu übersetzen. So wie das Christentum an die jüdische Tradition gebunden ist und ohne sie nicht verstanden werden kann, kann auch 34 35
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Ebd. 217. Vgl. ebd. 218, sowie zur Sakramentalität im Islam Andreas Renz, Die »Zeichen Gottes« (ÁyÁt AllÁh). Sakramentalität im Islam und ihre Bedeutung für das christlich-islamische Verhältnis, in: Theologische Zeitschrift 61 (2005), 239–257. Vgl. Tilman Nagel, Der Koran. Einführung – Texte – Erläuterungen, München 1998, 19: »Noch weit in islamische Zeit hinein hielt sich bei Gelehrten, die sich mit den normsetzenden Taten und Worten (sunna) Muhammads beschäftigten, ein starkes Misstrauen gegen ausschließlich schriftlich Überliefertes; eine Kette von rechtschaffenen Gewährsmännern, die eine bestimmte Nachricht auf mündlichem Wege von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben hatten, galt ihnen als verlässlicher als papierene Belege.« Vgl. im Blick auf die Tradition ebd. 27: »Die allgemein anerkannte Rezitationsweise eines bestimmten Verses konnte bei der mangelnden Eindeutigkeit der Konsonantenschrift ohnehin oft ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen als eine noch so gescheite, aber durch den mündlichen Gebrauch eben nicht bestätigte Interpretation der Konsonantenfolge des betreffenden Verses.« Vgl. Kermani, Gott ist schön (s. Anm. 28), 222. Vgl. ebd. 304. Ebd. 313.
der Koran nicht ohne die arabische Sprache verstanden werden. Die Bedeutung der ästhetischen Dimension des Korans für die Glaubensverantwortung verdeutlicht im Übrigen die Vielzahl von Bekehrungsberichten der muslimischen Tradition, die von einer Metanoia durch das ästhetische Erleben des Wortes berichten.41 Im Christentum ist mir keine Bekehrungsgeschichte bekannt, in der allein das (ästhetisch vermittelte) Hören des Wortes Gottes zur Konversion führt, während die muslimische Tradition voll von Berichten ist, die die Sprachgewalt des Offenbarungstextes illustrieren. Die hier angedeutete, ästhetisch perspektivierte Hermeneutik könnte man an dieser Stelle noch weiter ausführen und etwa – wie Enes Karić – die Schönheit der klassischen muslimischen Kultur als Kommentar zur koranischen Idee der Schönheit verstehen.42 Man könnte die Erfüllung der Scharia als ästhetische Stilisierung des muslimischen Lebensvollzugs einsichtig machen. Und man könnte sogar den muslimisch-orthodoxen Verzicht auf eine Reflexion über das Wesen Gottes als ästhetisch begründete »Geste der Trennung«43 begreifen, die die eigene Hingabe an Gottes Selbstzuwendung im Koran verdeutlicht. All das würde hier zu weit führen. Es kam mir nur darauf an, einen Interpretationsweg des Korans anzudeuten, der es erlaubt, seinen Unbedingtheitsanspruch so zu fassen, dass er den Rückfragen der Vernunft standhält und mir als Christen Bedeutsames zu sagen hat. Denn die auch im östlichen Christentum so wichtige ästhetische Seite der christlichen Liturgie wird mir in ihrer Bedeutsamkeit und ihrem Reichtum für meinen Glauben gerade in der Begegnung mit dem Islam neu bedeutsam. Für mich als Christen wird dieser Zugang vor allem dann bewegend, wenn die ästhetische Gegebenheitsweise mit dem Gedanken der Liebe verbunden wird – so wie es bei meinem Forschungsaufenthalt in diesem Winter in Boston ein muslimischer Student tat. Gerade Schönheit entzündet ja Liebe, wie wir alle aus dem zwischenmenschlichen Bereich wissen. Wenn ich durch die Schönheit Gottes überwältigt für seine Liebe entzündet werde, so kann es ein Zeichen meiner antwortenden Liebe sein, Gott durch das Erfüllen seiner Rechtleitung im Vertrauen auf sein Wort Platz im eigenen Leben einzuräumen. Die Gebote der Scharia wären dann nicht mehr ethisch zu rekonstruieren, sondern würden als Instanz im 41 42 43
Vgl. ebd. 32 f. Vgl. Enes Karić, Essays (on Behalf) of Bosnia, Sarajevo 1999, 199. Von Stosch, Glaubensverantwortung (s. Anm. 12), 184, mit Verweis auf Michel Foucault.
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Leben des Gläubigen fungieren, die mitten in dessen Alltag Platz für die Liebe Gottes macht. Wäre das nicht eine Interpretation von Geboten Gottes, die auch uns Christen einen neuen Weg zur Tora eröffnen kann? Ich will nicht sagen, dass die hier angedeutete Interpretation alternativenlos ist. Im Gegenteil! Selbst innerhalb postliberaler Modelle gibt es auch ganz andere, ebenfalls hochinteressante Zugangsweisen zum Koran, wie etwa der spannende Deutungsversuch Burhanettin Tatars in diesem Band deutlich macht. Der Islam lebt, vielleicht noch mehr als andere Religionen, von der Vielfalt seiner Interpretationen. Die Vielfalt der Interpretationen des Korans, die in der muslimischen Welt vertreten und akzeptiert wurden, und die Offenheit, mit der um sie gerungen wurde, waren – wie Enes Karić m. E. zu Recht hervorhebt – einer der Schlüssel für die Blüte der muslimischen Welt in ihrem ersten Jahrtausend.44 Und gerade diese Vielfalt lässt sich ja vielleicht noch einmal als ästhetisches Phänomen würdigen. Natürlich darf diese Würdigung nicht in Beliebigkeit abdriften. Deshalb kommt es darauf an, dass diese große Bandbreite und die beschriebenen ästhetischen Zugänge kriterial durch die oben skizzierten normativen Rückfragen orientiert bleiben. Die hier präsentierten Überlegungen sollten einfach nur deutlich machen, dass eine ästhetische Lesart des Korans, wie sie etwa Navid Kermani vorlegt, eine durchaus überzeugende und auch für Nichtmuslime verständliche Hermeneutik seines Unbedingtheitsanspruchs ermöglicht, der zudem im christlich-muslimischen Gespräch Wege zu einer gegenseitigen Wertschätzung eröffnet.
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Vgl. Karić, Essays (s. Anm. 42), 193. »It can be said with certainty that the important position which the Muslims once enjoyed in the world and which they could revive in the present times is that of interpretation.« (Karić, 189)
Schriftauslegung in Christentum und Islam Zusammenfassende und weiterführende Reflexionen Andreas Renz/Abdullah Takım
Einleitung: Hermeneutik als Schlüsselfrage Die bisherigen Tagungen des Theologischen Forums Christentum – Islam sind naturgemäß immer wieder auf hermeneutische Probleme und Fragen gestoßen, so dass es an der Zeit war, die Frage nach der Auslegung von Bibel und Koran auf einer Tagung eigens zu thematisieren. Das Thema Hermeneutik stellt eine Schlüsselfrage in den christlich-muslimischen Beziehungen dar. Christentum und Islam sind in ihren Lehren und alltäglichen Glaubenspraktiken wesentlich von ihren »heiligen Schriften« her geprägt.1 Beide Religionen werden in der Religionsphänomenologie wie umgangssprachlich häufig als »Buch- oder Schriftreligionen« bezeichnet. Die kanonischen Schriften von Christen und Muslimen aber sind zumindest zum Teil Texte einer vergangenen und fremden Sprache, Kultur und Lebenswelt (Reinmuth). Ein direkter sprachlich-semantischer Zugang zu den Schriften ist den meisten Gläubigen nicht mehr möglich (Obermann, Özsoy, Ragab). Selbst die Mehrheit der Muslime sind heute keine arabischen Muttersprachler und müssen den Koran in Übersetzungen oder mit Hilfe von Kommentaren lesen, wenn sie ihn verstehen wollen, und letztlich ist jede
1
Da die Bezeichnung »Heilige Schrift« für den Koran im Islam eher ungebräuchlich ist, wird sie hier und im Folgenden im religionsphänomenologischen Sinn verwendet; vgl. dazu Carsten Colpe, Art. Heilige Schriften, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 14, 184–223; Udo Tworuschka, Vom Umgang mit Heiligen Schriften, in: ders. (Hg.), Heilige Schriften. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 1–28, 4.
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Übersetzung bereits Interpretation.2 Gleichzeitig glauben Christen wie Muslime, dass ihre heiligen Schriften das Wort Gottes wiedergeben, dass diese eine zeitlos und universal gültige Lebensorientierung zu bieten haben, zu der jeder Mensch einen Zugang haben soll. Die Bedeutung dieser Wahrheit muss aber erst ermittelt werden, um sie verstehen zu können (von Stosch). Diese Distanz zwischen Geschichtlichkeit und aktuellem Lebensbezug, zwischen Universalität und Kontextualität bewusst zu machen, ist Aufgabe einer theologischen Hermeneutik.
1. Asymmetrien im Offenbarungs- und Schriftverständnis Zunächst galt es, die grundlegenden Asymmetrien im Verhältnis von Bibel und Koran zu reflektieren: Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz, dass Bibel und Koran nicht dieselbe Funktion und Bedeutung in ihrer jeweiligen Religion haben.3 Während der Koran aus islamischer Sicht das zentrale Offenbarungsereignis darstellt und damit »Schriftreligion« im engeren Sinn ist, ist das für das Christentum die Menschwerdung des Wortes Gottes in der Person Jesu Christi.4 Der Koran ist für Muslime bis heute unmittelbares Wort Gottes (Yavuzcan), die Bibel dagegen gibt inspiriertes Zeugnis vom eigentlichen Offenbarungsereignis, ist »Gotteswort im Menschenwort«5: »Der Grundcharakter der biblischen Texte ist Antwort, nicht Wort.«6 Eine dem islamischen »Dogma« von der »Un-
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Vgl. Abdullah Tak¤m, Koranexegese im 20. Jahrhundert. Islamische Tradition und neue Ansätze in Süleyman Ate¢’s »Zeitgenössischem Korankommentar«, Istanbul 2007, 425–432. Vgl. Adel Theodor Khoury, Probleme im Zusammenhang mit der Übersetzung des Koran, in: Hans-Martin Barth/Christoph Elsas (Hg.), Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen Dialog, Hamburg 1997, 24–33. Vgl. dazu auch Francis E. Peters, The Voice, the Word, the Books. The Sacred Scripture of the Jews, Christians, and Muslims, Princeton/Oxford 2007, bes. 271–276. So bereits Nathan Söderblom, Einführung in die Religionsgeschichte, Leipzig 21928, 124. Viele sind ihm darin gefolgt, auch muslimische Denker. Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, Nr. 13, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg u. a. 352008. Hans-Martin Barth, »Nimm und lies!« Die spirituelle Bedeutung von Bibel und Koran, in: ders./Elsas, Hermeneutik (s. Anm. 2), 8–22, 20.
nachahmlichkeit des Korans«7 entsprechende Auffassung in Bezug auf die Bibel hat sich im Christentum nicht entwickelt. Andererseits hat sich die Offenbarung in der Person Jesu Christi in einem Kanon von Texten niedergeschlagen, die gelesen, gehört und interpretiert werden.8 Christen wie Muslime haben es also mit Texten zu tun, wenn sie sich auf die Urkunden ihres Glaubens beziehen. Dies erlaubt es, ja macht es notwendig, Bibel und Koran doch miteinander zu vergleichen und denselben hermeneutischen Fragestellungen zu unterziehen (Bongardt). Dies schließt die Rückfrage nach der mündlichen Vor- und Nachgeschichte des verschriftlichten Textes ein (Ragab). Eine weitere Asymmetrie besteht darin, dass der Koran einen in sich weitgehend geschlossenen Textkorpus aus einem relativ kurzen Zeitraum mit einheitlichem gesellschaftlich-kulturellem Hintergrund darstellt, während die Bibel eine »Bibliothek« von Schriften ist, die hinsichtlich Stil, Thematik, zeitlicher und räumlicher Ausdehnung sehr heterogen sind.9 Darüber hinaus besteht die eine Bibel aus zwei Teilen, deren theologisch-hermeneutische Zueinanderordnung keineswegs eindeutig und deren erster Teil zugleich die kanonische Schrift einer anderen Religion ist.10 Eine andere, folgenreiche und prinzipiell nicht überwindbare Asymmetrie liegt in der Tatsache, dass der Koran nach der Bibel entstanden ist und sehr häufig implizit wie explizit – jedoch in einer häufig paraphrasierenden, anspielenden und verändernden Form – auf die Bibel Bezug nimmt (etwa die Hälfte des Korans besteht aus biblischem Material). Der Vorwurf der »Schriftverfälschung« war deshalb nicht nur ein zentraler Topos der mittelalterlichen Apologetik, sondern spielt in christlich-islamischen Diskursen bis in die Gegenwart eine wichtige Rolle.11
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Vgl. dazu Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000, bes. 240–248. Vgl. Werner G. Jeanrond, Text und Interpretation als Kategorien theologischen Denkens, Tübingen 1986, 8. Vgl. Hans Zirker, Der Koran: Zugänge und Lesarten, Darmstadt 1999, 41. Vgl. dazu Christoph Dohmen (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen biblischer Theologie, Paderborn/München 1995; Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152), 2001. Vgl. dazu Jean-Marie Gaudeul/Robert Caspar, Textes de la Tradition musulmane concernant le tahrÐf (falsification) des Ecritures, in: Islamochristiana 6 (1980), 61–104.
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2. Der wechselseitige Vorwurf der Schriftverfälschung Der Vorwurf der Schriftverfälschung – gleich, ob sich dieser auf die Fälschung des Textes selbst oder nur auf die sinnentstellende Interpretation bezieht – ist durchaus auf beiden Seiten anzutreffen und entstammt einer apologetisch-polemischen Grundhaltung.12 Eine am Dialog interessierte und wissenschaftlich verantwortete Theologie jedoch sollte eine solche Grundhaltung überwinden.13 So wurde auf der Tagung von beiden Seiten der in der gegenwärtigen Literatur- und Bibelwissenschaft verwendete Begriff der »Intertextualität« als ein weiterführendes Konzept erachtet (Schreiner, Tak¤m, Sar¤kaya), der die dialogische Beziehung und dynamische Transformation zwischen Texten bezeichnet.14 Bibel und Koran stehen in einem inhaltlichen Beziehungsgeflecht15: Die Bibel ließe sich als unabdingbare Verstehenshilfe des Korans und der Koran als eine aktualisierende Auslegung, als Relecture der Bibel sehen (Schreiner).16 Ob und inwieweit sich Letzteres mit dem islamischen Offenbarungsverständnis vereinbaren lässt, wird künftig weiter zu klären sein (vgl. dazu Sure 10,37). Aber auch die christliche Theologie ist herausgefordert zu klären, ob und inwieweit diese koranische Relecture der Bibel theologisch gewürdigt werden kann.
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Vgl. dazu die kritische Aufarbeitung durch die Muslim-Christian Research Group (GRIC), The Challenge of the Scriptures. The Bible and the QurÞan, Maryknoll 1989, 47–86. Vgl. Takım, Koranexegese (s. Anm. 2), 169; vgl. auch den Kommentar zur Bibel von Sayyid Ahmad Khan, The Mohommedan Commentary on the Holy Bible, Ghazeepore 1862. In Bezug auf die innerbiblische Intertextualität vgl. Horst Klaus Berg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, München/Stuttgart 1991, 304–330; Sipke Draisma (Hg.), Intertextuality in Biblical Writings, Kampen 1989; in Bezug auf das Verhältnis von Bibel und Koran John C. Reeves (Hg.), Bible and QurÞan. Essays in Scriptural Intertextuality, Atlanta 2003. Zu diesem Beziehungsgeflecht gehören auch die außerkanonischen jüdischen und christlichen Überlieferungen, die sog. alt- und neutestamentlichen Apokryphen. So ist etwa auch Abdoljavad Falaturi, Zusammenhänge zwischen Koranexegese und Bibelinterpretation, in: Barth/Elsas, Hermeneutik (s. Anm. 2), 108–112, 110, der Überzeugung, dass »der Koran prinzipiell Kommentare und Fußnoten zu den gleichartigen Inhalten der Bibel abgibt«. Vgl. auch Andrew Rippin, Interpreting the Bible through the QurÞan, in: Gerald R. Hawting/Abdul-Kader Shareef (Hg.), Approaches to the QurÞan, London/New York 1993, 249–259.
Die christliche und islamische Bezugnahme auf die Bibel wird dabei von einer bleibenden Differenz geprägt sein, analog zum Verhältnis von jüdischen und christlichen Lektüren der hebräischen Bibel. Diese differente Bezugnahme könnte für beide Seiten aber eine bereichernde Perspektive sein und vielleicht sogar – wenn auch nicht in jeder Hinsicht – als jeweilige Treue zur Offenbarung gewürdigt werden. Die Betonung des Erinnerungscharakters des Korans und der Offenbarungsschriften generell (Tak¤m) ist in diesem Sinne zu verstehen und konstruktiv zu nutzen. Solche Fragen aber können erst in einem Klima erörtert werden, in dem nicht a priori die »Häresie« des anderen feststeht und in dem man über Fragen möglicher geschichtlicher Abhängigkeiten hinauskommt. Methodisch müsste aus diesen veränderten Grundvoraussetzungen für die Zukunft folgen, dass christliche Bibelauslegung den Koran und islamische Koranauslegung stärker einbezieht, und dass islamische Koranexegese ohne Bibel und christliche Bibelauslegung nicht auskommen kann.17 Mit Hans Zirker wäre deshalb eine »interdependente Interpretation biblisch-koranischer Motive« zu fordern.18 In diesen Prozess wäre dann auch das Judentum einzubeziehen, wie es mit der Methode des »Scriptural Reasoning« in der englischsprachigen Welt seit einigen Jahren praktiziert wird.19 Damit würde an die Praxis der Intertextualität angeknüpft, die vor allem zwischen dem siebten und zehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung zwischen Juden, Christen und Muslimen – wenn auch nicht selten mit apologetischer Zielrichtung – lebendig war.20
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So auch die Forderung von Falaturi, Koranexegese (s. Anm. 16), 110; vgl. Michael Ipgrave, Scriptures in Dialogue, in: ders. (Hg.), Scriptures in Dia-
logue. Christians and Muslims Studying the Bible and the QurÞan Together, London 2004, 144–146; Christoph Elsas, Religionswissenschaftliche Vermittlung gemeinsamer Arbeit von Christen und Muslimen an Texten aus Bibel und Koran, in: Elsas/Barth, Hermeneutik (s. Anm. 2), 180–196; Morris S. Seale, QurÞan and Bible. Studies in Interpretation and Dialogue, London 1978. Hans Zirker, Interdependente Interpretation biblisch-koranischer Motive, in: Barth/Elsas, Hermeneutik (s. Anm. 2), 113–126. Vgl. dazu Matthias Müller, Geistliche Übungen interreligiöser Begegnung. Was verbirgt sich hinter der Methode Scriptural Reasoning?, in: Herder Korrespondenz 63 (2009), 294–298. Vgl. z. B. Hava Lazarus-Yafeh, Intertwined Worlds. Medieval Islam and Bible Criticism, Princeton 1992.
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3. Die Notwendigkeit eines vieldimensionalen Schriftverständnisses Eine Auslegung und Aktualisierung der Schriften hat es sowohl im Christentum21 wie im Islam22 von den frühen Anfängen an gegeben, und zwar durchaus in vergleichbaren Formen, wie der instruktive Beitrag von Kattan anhand von drei geschickt ausgewählten geographischen Doppelstationen gezeigt hat. In beiden Religionen gibt es die Tradition wortwörtlicher Auslegung, die sich auch weltlicher Hilfsmittel wie Philologie und Grammatik bedient.23 Beide Religionen kennen daneben die allegorisch-spirituelle Auslegung, die vor allem im mystischen und schiitischen Islam in Form des taÞwÐl oder at-tafsÐr al-išÁrÐ (Auslegung durch Hinweise oder Zeichen) breite Anwendung fand und die Begrenztheit des Literalsinns bewusst machte.24 So lassen sich auch im Islam Parallelen zur patristischen und mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn finden,25 und die islamische Mystik kennt sogar noch mehr Schriftsinne, weil das Wort Gottes unendlich ist. Wie Kattan betonte, haben Bibel und Koran aber auch eine »metaexegetische Ebene«: Der ursprüngliche Sitz im Leben von Bibel und Koran ist die Liturgie bzw. der Ritus in Form von Schriftlesung und -rezitation. Die feierliche Schriftlesung im christlichen Gottesdienst26 ver-
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Vgl. dazu Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, 4 Bde., München 1990–2001. Zur frühesten Koranauslegung vgl. Fred Leemhuis, Origins and Early Development of the tafsÐr Tradition, in: Andrew Rippin (Hg.), Approaches to the History of the Interpretation of the QurÞan, Oxford 1988, 13–30; außerdem Angelika Neuwirth, Koran, in: Helmut Gätje (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie, Bd. 2, Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1987, 96–135, 119–126; Claude Gilliot, Art. Exegesis of the QurÞan: Classical and medieval, in: Encyclopaedia of the QurÞan, Bd. 2, 99–125; John Wansbrough, Quranic Studies. Sources and Methods of Scriptural Interpretation. Forword, Translations, and Expanded Notes by Andrew Rippin, Amherst 2004, 119– 246. Vgl. Andrew Rippin, Art. TafsÐr, in: Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., Bd. 10, 83–88. Vgl. dazu Hussein Ali Akash, Die sufische Koranauslegung: Semantik und Deutungsmechanismen der išÁrÐ-Exegese, Berlin 2006. Vgl. Gilliot, Exegesis (s. Anm. 22), 100. Vgl. Peter C. Ploth, Art. Schriftlesung I. Christentum, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 30, 520–558; Christoph Markschies, Liturgisches Lesen und die Hermeneutik der Schrift, in: Peter Gemeinhardt/Uwe Küh-
weist ebenso wie die feierliche Koranrezitation27 im islamischen Ritualgebet und in der privaten Frömmigkeit auf die ästhetische und kommunikative Dimension von Offenbarung und Schrift. Jede Form von Schriftauslegung in Christentum und Islam muss diese liturgisch-ästhetische und kommunikative Dimension berücksichtigen, will sie nicht am Selbstverständnis ihres Gegenstandes vorbeigehen. Umgekehrt ist der konkrete Umgang mit der Schrift in der Liturgie immer wieder kritisch zu befragen, werden doch häufig nur bestimmte Perikopen gemeinschaftlich gelesen und damit nicht selten aus dem Gesamtzusammenhang gerissen.28 Damit aber kommt ein weiterer wichtiger Aspekt ins Spiel: die ursprüngliche Mündlichkeit des Offenbarungsgeschehens. Wie Nasr Hamid Abu Zaid29 betonen Ömer Özsoy und Burhanettin Tatar, dass der Koran zuerst Rede, Diskurs, Kommunikationsgeschehen in einem bestimmten Kontext ist; erst in einem späteren Stadium wird er zum Text. Und selbst nach der Verschriftlichung und Kanonisierung blieb der mündliche Charakter der »Schrift« in beiden Religionen von entscheidender Bedeutung.30 »Schriftlesung« bedeutete eben für die große Mehrheit der Rezipienten lange Zeit das »Sprechen und Hören des heiligen Wortes«; und im Islam gilt das auswendige Rezitieren des Korans bis heute als größte zu erstrebende Kunst.31 In der ästhetischen Dimension wurde deshalb zu neweg (Hg.), Patristica et Oecumenica (Festschrift Wolfgang A. Bienert), 27 28
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Marburg 2004, 77–88. Vgl. dazu Kermani, Gott ist schön (s. Anm. 7), bes. 172–198. Mit Angelika Neuwirth, Vom Rezitationstext über die Liturgie zum Kanon, in: Stefan Wild (Hg.), The QurÞan as Text, Leiden u. a. 1996, 67–105, bes. 80 f., ist an dieser Stelle auf einen wichtigen Unterschied hinzuweisen: Das islamische Ritualgebet kennt im Unterschied zum jüdischen und christlichen Gottesdienst keine zyklische »Leseordnung«. Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran. Ausgew., übers. und eingel. von Thomas Hildebrandt, Freiburg u. a. 2008, bes. 122–158, 162–165; ders./Hilal Sezgin, Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam, Freiburg u. a. 2008, 36, 42, 44, 66; vgl. auch Zirker, Koran (s. Anm. 9), 51– 102. Vgl. Wilfred Cantwell Smith, What is Scripture? A Comparative Approach, Minneapolis 1993, 8, 50; William A. Graham, Beyond the Written Word. Oral Aspects of Scripture in the History of Religion, Cambridge/New York 1987; Takim, Koranexegese (s. Anm. 2), 23. »Scripture is meant to be recited, memorized, and repeated; it is meant to be listened to, meditated upon, and internalized. It is written word that is spoken, because it is (ontologically as well as chronologically) spoken word be-
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Recht ein wichtiges gemeinsames Kriterium angemessenen Verstehens heiliger Schriften gesehen, ohne dass dabei deren kognitiv-propositionaler Anspruch ausgeklammert werden darf (von Stosch). Damit aber wird klar, dass das Thema Schriftauslegung nicht auf eine reine Methodendiskussion reduziert werden kann. Während vom Islam im Hinblick auf seine »Moderneverträglichkeit« und »Integrationsfähigkeit« immer wieder die Notwendigkeit der historisch-kritischen Auslegung von Koran (und Sunna) gefordert wird, wird in der christlichen Theologie der »Alleinvertretungsanspruch« der historisch-kritischen Exegese heute zunehmend bestritten und werden stattdessen die Grenzen dieser Methode betont.32 Dass der Vorgang des Verstehens und Auslegens des Korans ein menschlicher und damit geschichtlicher Prozess ist, war auf der Tagung breiter innermuslimischer Konsens; ob und inwieweit jedoch der Korantext selbst inhaltlich als geschichtlich und kontextuell bedingt verstanden und ausgelegt werden muss, war unter den muslimischen Teilnehmern umstritten (Yavuzcan, Özsoy).33 Aus der christlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte ist als ein Ergebnis festzuhalten, dass die historisch-kritische Methode zwar unverzichtbar ist, aber durch eine theologische Hermeneutik ergänzt werden muss: Geht es der historisch-kritischen Exegese um die Erschließung des ursprünglichen Textsinns, so bedarf es der theologischen Hermeneutik,
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fore it is written.« (William A. Graham, QurÞan as Spoken Word. An Islamic Contribution to the Understanding of Scripture, in: Richard C. Martin [Hg.], Approaches to Islam in Religious Studies, Tucson 1985, 23–40, 28) Vgl. Josef Ratzinger (Hg.), Schriftauslegung im Widerstreit, Freiburg u. a. 1989; Thomas Sternberg (Hg.), Neue Formen der Schriftauslegung?, Freiburg u. a. 1992; Thomas Söding, Zugang zur Heiligen Schrift. Der Ort der historisch-kritischen Exegese im Leben der Kirche, in: Geist und Leben 66 (1993), 47–70. Vgl. dazu Ömer Özsoy, Darf der Koran historisch-hermeneutisch gelesen werden?, in: Urs Altermatt/Mariano Delgado/Guido Vergauwen (Hg.), Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart u. a. 2006, 153–159; Hamid Kasiri, Historisch-kritische Koranhermeneutik aus der Sicht der Schiatheologie, in: ebd. 161–175; Felix Körner (Hg.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg u. a. 2006; Ismail Albayrak, Der historische Status des Koran. Aktuelle Diskussionen unter türkischen Theologen und Wissenschaftlern, in: CIBEDO-Beiträge 3 (2007), 12–20; Abu Zaid, Menschenwort (s. Anm. 29), bes. 91–121; Rotraud Wielandt, Wurzeln der Schwierigkeit innerislamischen Gesprächs über neue hermeneutische Zugänge zum Korantext, in: Wild, Text (s. Anm. 28), 257–282.
um den Sinn des Textes für die Gegenwart zu erschließen und letztlich die Wahrheitsfrage zu stellen. Keine Methode der Schriftauslegung darf deshalb verabsolutiert werden (Schmid/Ucar), vielmehr sind die verschiedenen hermeneutischen Ansätze als komplementär zu betrachten.34 Dabei muss das Verstehen und Auslegen eines Textes als Interaktionsprozess zwischen Text und Leser verstanden werden (Reinmuth, Tatar): Der Leser schafft einerseits die Bedeutung des Textes im Akt des Lesens bzw. legt diese fest.35 Interpretieren heißt »nicht, die Texte wiederholen, ihre Wahrheit nachsagen. Interpretieren heißt vielmehr, die Wahrheit dieser Texte neu schaffen in der jeweils anderen Situation des Interpreten und seiner Lebensgemeinschaft.«36 Angesichts des Geltungsanspruchs heiliger Schriften kann – oder sollte – sich andererseits aber auch eine hermeneutische Umkehrung einstellen: »Im Vollzug kritischer Interpretation wird der Interpret aus dem Subjekt der Auslegung zu dem, der ausgelegt wird, und der Text aus einem Objekt zum Beweggrund der Auslegung oder gar einer neuen Möglichkeit des Verstehens.«37 Heilige Schriften haben das Ziel, eine verändernde Wirkung zu haben. Deshalb müssen diese Texte als etwas »real vorgegebenes Anderes, vom Ausleger Unterschiedenes«38 ernst genommen werden.
4. Die Notwendigkeit ideologiekritischer Ansätze Die Notwendigkeit einer (ideologie-)kritischen Auslegung von Texten und deren Auslegungs- und Wirkungsgeschichte wurde am Beispiel frauenemanzipatorischer Themenstellungen und der Frage nach der In34 35 36 37
38
Vgl. dazu Berg, Wort (s. Anm. 14), 8, 407 f., 442–449. Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 15, 83. Jeanrond, Text (s. Anm. 8), 149 f. Gerd Schunack, Hermeneutische Prinzipien im Christentum, in: Barth/Elsas, Hermeneutik (s. Anm. 2), 44–50, 48 f.; vgl. Hans Zirker, »Bedeutung zu schaffen ist ein gemeinsamer Akt zwischen Text und Leser« (Nasr Hamid Abu Zaid). Zur Hermeneutik heiliger Schriften, in: Günter Risse u. a. (Hg.), Wege der Theologie: An der Schwelle zum dritten Jahrtausend, Paderborn 1996, 587–600; Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 24–45, bes. 33. Stefan Alkier, Ethik der Interpretation, in: Markus Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen, Würzburg 2003, 21–41, 35.
269
terpretationshoheit diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass in beiden Religionen sowohl theologisch-ethische Potentiale für eine solche Ideologiekritik bestehen (z. B. Kritik an Vergötzung innerweltlicher Instanzen, Prinzip der Gerechtigkeit) als auch ein Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Disziplinen (z. B. Kulturanthropologie) geschieht. Frauenemanzipatorische Ansätze im Islam berufen sich gegenwärtig verstärkt auf die eigene Urteilsbildung (iÊtihÁd) und setzen sich auf dieser Basis kritisch mit patriarchalen Auslegungstraditionen und Wirkungsgeschichten auseinander, arbeiten Prinzipien der Egalität und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern aus den religiösen Quellen und der frühislamischen Geschichte heraus, verstehen diskriminierende Aussagen der Quellen auf ihrem historischen Hintergrund oder stellen – in Bezug auf die Sunna – sogar die Authentizität bestimmter Überlieferungen in Frage (Tatari). Die islamische Diskussion nimmt dabei nicht selten direkt Bezug auf christliche Ansätze, doch auch im christlichen Raum ist die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit keineswegs endgültig aufgearbeitet und erledigt. Am Beispiel feministischer Exegese wird deutlich, dass Interpretation ein komplexer Prozess zwischen Text, Wirklichkeit und Rezipient ist (Rödiger). Keine dieser Ebenen ist »neutral« oder »objektiv«: Die Rezipienten müssen immer wieder neu Rechenschaft über ihre Motive geben, reale Unterdrückungsverhältnisse müssen erkannt und benannt werden, der vorliegende Text muss mit seinem Hintergrund und Ziel kritisch befragt und kreativ-befreiend weitergeschrieben werden.39 Für beide Religionen bildet die Gemeinschaft der Glaubenden eine Lese- und Interpretationsgemeinschaft und in beiden Religionen gibt es Instanzen, die eine Interpretationshoheit beanspruchen, an der der einzelne Gläubige nicht vorbeigehen kann.40 Diese normativen Auslegungsinstanzen unterliegen jedoch ebenso der Geschichtlichkeit und Kontextualität, und so ist die Geschichte der Schriftauslegung – in beiden Religionen – »nicht nur eine Geschichte der Entwicklung als Vertiefung des Glaubens, sondern auch eine Geschichte des Vergessens, der Entstel39
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Vgl. Luise Schottroff, Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments, München 1990; Asma Barlas, Amina Wadud’s Hermeneutics of the QurÞan: Women Rereading Sacred Texts, in: Suha TajiFarouki (Hg.), Modern Muslim Intellectuals and the QurÞan, London 2004, 97–124; Farid Esack, QurÞan, Liberation and Pluralism. An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity Against Oppression, Oxford 1998. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn 1993, 46, 81–89.
lung und des Gegenzeugnisses« (Siebenrock). Die »Frage wahrer, Leben bewahrender oder falscher, zerstörender Interpretation ist in Machtansprüche verwickelt und wird nicht selten zur Machtfrage«.41 Ansprüche auf exklusive Interpretationshoheit führen zu Fundamentalismus und sind aus hermeneutischen wie auch theologischen und ethischen Gründen zurückzuweisen (Bongardt).42 Deshalb wurde auf beiden Seiten betont, dass jeder einzelne Gläubige das Recht hat, seine Heilige Schrift auszulegen.
5. Die Frage nach religionsübergreifenden Kriterien angemessener Schriftauslegung Eine wesentliche Fragestellung der Tagung war, ob es angesichts der Unterschiede im Offenbarungs- und Schriftverständnis, aber auch der internen Pluralität beider Religionen, religionsübergreifende Kriterien angemessener Schriftauslegung gibt oder geben könnte. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als systematisierender Versuch der Überlegungen und Diskussionen.
5.1
Die Schrift als »norma normans«
In beiden Religionen gilt zunächst das Prinzip, dass die Heilige Schrift selbst Kriterium der Auslegung ist: Nach traditioneller islamischer Auffassung ist der Koran durch den Koran auszulegen, das heißt für das Verständnis der mehrdeutigen Verse müssen die eindeutigen herangezogen werden.43 Dem entspricht das traditionelle lutherische Prinzip des »sola scriptura«, wonach »die Heilige Schrift sich selbst auslegt« (Reinmuth). Dieses Prinzip ist allerdings gerade durch die historisch-kritische Exegese in Frage gestellt worden, insofern die Entstehung und Kanonisierung der Schrift selbst als Ergebnis eines kirchlichen Traditionsprozesses erkannt wurde.44 Umgekehrt hat die katholische Lehre anerkannt,
Schunack, Prinzipien (s. Anm. 37), 45. Vgl. Jeanrond, Text (s. Anm. 8), 121. Vgl. Jaques Waardenburg, Gibt es im Islam hermeneutische Prinzipien?, in: Barth/Elsas, Hermeneutik (s. Anm. 2), 51–74, 55. 44 Vgl. dazu Ulrich H. J. Körtner, »Sine glossa«? Die historisch-kritische 41 42 43
Exegese als konstitutives Element der biblischen Hermeneutik, in: Religionen unterwegs 15/2 (2009), 11–18, 11 f.
271
dass die Schrift »oberste(r) Autorität in Sachen des Glaubens«45 ist, an der sich die anderen Bezeugungsinstanzen des Glaubens (kirchliche Tradition, kirchliches Lehramt, wissenschaftliche Theologie, Glaubenssinn des Gottesvolkes) stets und immer wieder neu messen (lassen) müssen (Siebenrock). Ein »reiner« Zugriff auf den Text aber ist nicht möglich: Nach Gadamer steht jeder Interpret in einem Geflecht von Traditionen und Autoritäten.46 Jeder Interpret liest die Schrift immer als schon interpretierte Schrift. Im Islam gilt Muhammad als erster Exeget, dann die Prophetengefährten, darunter die ersten vier Kalifen (Güne¢).47 So greift die klassische islamische Koranauslegung auf die prophetische und nachprophetische Überlieferung zurück, was tafsÐr bi-r-riwÁya (Auslegung durch Überlieferung) genannt wird.48 Doch die Sunna des Propheten in den Hadithen bedarf ebenso der kritischen Überprüfung und Interpretation. Und noch pointierter wird von christlicher Seite gefragt: Ist der Koran in seiner heutigen Textgestalt nicht selbst ein Ergebnis von Traditionsbildung (Schreiner), wenn man die Redaktion und Kodifizierung, den jahrhundertelangen Prozess der Festlegung des Konsonantengerüstes durch diakritische Zeichen und die Vokalisierung berücksichtigt?49
5.2
Die unhintergehbare Pluralität und Kontextualität
Als weiteres Kriterium ist die Anerkennung der letztlich unhintergehbaren Vielfalt und Kontextualität von Auslegungen und ihren Methoden zu nennen (Bongardt), die zum einen in der prinzipiellen Geschichtlichkeit menschlichen Verstehens, zum anderen in der prinzipiellen Unauslotbarkeit der göttlichen Offenbarung begründet ist.50 Diese Unauslotbarkeit 45 46 47 48 49 50
272
Vgl. Papst Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121), Bonn 1995, Nr. 79. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990. Vgl. dazu R. Marston Speight, The Function of hadÐth as Commentary on the QurÞan, as Seen in the Six Authoritative Collections, in: Rippin, Approaches (s. Anm. 22), 63–81. Vgl. Süleyman Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri, Istanbul 1988–1992, Bd. 1, 52–55. Vgl. Abu Zaid, Menschenwort (s. Anm. 29), 131; ders., Mohammed (s. Anm. 29), 77. Vgl. GRIC, Scriptures (s. Anm. 12), 37, 46, 62; Söding, Schrift (s. Anm. 32), 52; Jeanrond, Text (s. Anm. 8), 118 f. Aus christlicher Perspektive sind die vier Evangelien Ausdruck dieser Unausschöpflichkeit der Offenbarung.
hat inhaltliche Gründe (das Unbedingte kommt im Bedingten zur Sprache) und formale Gründe (Narrativität, Metaphorik, Symbolik etc.). Die Pluralität51 und Unabschließbarkeit52 von Auslegung erfordert und schafft zugleich stets neue, offene Diskursräume53, die durch den interreligiösen Dialog und den säkularen Kontext nochmals geweitet und vervielfacht werden. Jede Interpretation und Methode muss sich ihrer Standortgebundenheit (kulturell, sozial, politisch etc.) bewusst sein und diese immer wieder kritisch reflektieren und offen legen. Deshalb sind alle Lektüren und Methoden zu kritisieren, die einen Exklusivanspruch für sich erheben und damit in der Gefahr stehen, fundamentalistisch zu werden: »Eine Interpretation ist gut, wenn sie sich als ein Beitrag zu einer gemeinschaftlichen Wahrheitssuche versteht und andere Interpretationen, auch wenn sie inhaltlich nicht geteilt werden, als Beitrag zu dieser vom dynamischen Objekt motivierten Wahrheitssuche respektiert.«54 Schriftauslegung kann deshalb heute nicht mehr nur im Binnenraum einer Religion geschehen: Christen und Muslime müssen ihre heiligen Schriften vor dem jeweils Anderen und mit dem Anderen auslegen (Siebenrock, Karić). Damit geht es bei der Schriftauslegung immer auch um das eigene Selbstverständnis im Angesicht des Anderen und um das Zeugnis vor dem Anderen.
5.3
Ethik der Interpretation
Beide Religionen stehen damit aber vor derselben Aufgabe der »Vermittlung von Pluralität und Normativität« (Siebenrock): Pluralität der Interpretationen darf nicht subjektivistische Willkür oder Beliebigkeit bedeuten – auch radikaler Pluralismus droht im Fundamentalismus und vor allem in Sprachlosigkeit zu enden. Als formales Kriterium ist deshalb zu fordern: Der methodische Umgang mit religiösen Texten muss öffentlich 51
52 53 54
Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Interpretation (s. Anm. 40), 80. Eine wichtige Erkenntnis der Tagung war – und dies trifft auf alle bisherigen Tagungen des Forums zu –, dass die Vielfalt an Positionen innerhalb der beiden Religionen mindestens so groß ist wie die Unterschiede zwischen beiden Religionen. »Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text […] gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß.« (Gadamer, Wahrheit [s. Anm. 46], 303) »Hermeneutik hat sicherzustellen, dass die Auslegung der Texte für Diskussionen offen bleibt.« Waardenburg, Prinzipien (s. Anm. 42), 74; vgl. Kasiri, Koranhermeneutik (s. Anm. 33), 172. Alkier, Interpretation (s. Anm. 38), 37.
273
verantwortbar, das heißt intersubjektiv überprüfbar und nachvollziehbar sein. Dies misst sich vor allem an der logischen Konsistenz, also inneren Schlüssigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Interpretation.55 Mehrfach wurde in den Referaten auch von einer »Interpretationsethik« (Reinmuth, Yavuzcan, Rödiger) gesprochen. Es gibt kein ethisch neutrales Lesen und Interpretieren: Es geht darum, unterdrückerische und zerstörende Auslegungen zu kritisieren und zu überwinden. Als ein gemeinsames inhaltliches Kriterium wurde deshalb betont, die jeweilige Heilige Schrift als »norma normans« stets zugleich von einer »externen«, von der Vernunft erhobenen Norm – die inhaltlich freilich ebenso auch von der »Mitte« der heiligen Schriften her begründet werden kann – kritisch zu befragen: nämlich der Würde und dem Wohl jedes einzelnen Menschen wie auch des menschlichen Gemeinwohls, des Friedens und der Gerechtigkeit zwischen den Menschen (Karić).56 Dass dieses ethische Kriterium zumindest in einem allgemeinen Sinn tatsächlich von beiden Religionen erhoben werden kann, war das Ergebnis der vorangegangenen Tagung über die »Verantwortung für das Leben«.57 Auch der Offene Brief der 138 islamischen Gelehrten lässt sich hierfür ins Feld führen, der das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe als gemeinsame Basis von Christentum und Islam zu begründen versucht.58 Vor diesem Hintergrund ist die These von Stosch’, wonach das ethische Kriterium dem Kriterium der Götzenkritik widerspräche und die Gefahr einer »teleologischen Suspension des Ethischen« im kierkegaardschen Sinn heraufbeschwöre, aus unserer Sicht nicht nachzuvollziehen. Für beide Religionen bilden Götzenkritik und Ethik die untrennbaren Seiten ein und derselben Medaille.
55 56
57 58
274
Vgl. Armin Kreiner, Rationalität zwischen Realismus und Relativismus, in: Reinhold Bernhardt/Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Kriterien interreligiöser
Urteilsbildung, Zürich 2005, 21–35, 31 f. Vgl. auch Andreas Renz, »So eilt in den guten Dingen um die Wette« (Sure 5,48). Zur Kriteriologie interreligiöser Urteilsbildung im Verhältnis von Christentum und Islam, in: Bernhardt/Schmidt-Leukel, Kriterien (s. Anm. 55), 171–209, bes. 201–209. Vgl. Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Abdullah Tak¤m/Bülent Ucar (Hg.), Verantwortung für das Leben. Ethik in Christentum und Islam, Regensburg 2008. Vgl. www.acommonword.com; dazu Andreas Renz, Ein »neuer Geist« des christlich-islamischen Dialogs? Eine kritische Sichtung der beiden Offenen Briefe islamischer Gelehrter, in: CIBEDO-Beiträge 4 (2008), 14–23, 19–22.
5.4
Schrift und Schriftauslegung als Mittel der Gottesbegegnung
Heilige Schriften sind einerseits Texte, die denselben hermeneutischen Gesetzen und Regeln unterliegen wie alle anderen Texte. Sie aber nur als Texte wie alle anderen Texte zu lesen und zu interpretieren, ginge am Selbstverständnis der heiligen Schriften und am Selbstverständnis der gläubigen Menschen vorbei.59 Letztes Ziel theologischer Schriftauslegung muss daher sein, das Leben im Lichte der Offenbarung und des Glaubens zu deuten und damit Wege gelingenden Lebens zu eröffnen: Gottes Rede und Gegenwart ist nach christlicher wie nach muslimischer Überzeugung nicht mit dem Offenbarungsereignis abgeschlossen. Die Schrift ist vielmehr Mittel der Vergegenwärtigung, der Aktualisierung der Gegenwart Gottes im Wort und damit Mittel der Begegnung und Gemeinschaft von Gott und Mensch.60 »Indem der Gläubige die Rede Gottes hört, hört er den Sprecher selbst – er hört Gott. Gott wird ihm gegenwärtig, und gleichzeitig vergegenwärtigt er sich selbst im Angesicht dieses göttlichen Sprechers.«61 Mehrfach wurde von christlicher Seite in diesem Zusammenhang auch von der Inspiriertheit des Lesers oder Auslegers – und es wäre zu ergänzen: des Übersetzers – gesprochen (Reinmuth, Rödiger, Siebenrock).62 Ähnlich könnte man islamischerseits sagen, dass Gott dem gläubigen Menschen das Herz für bestimmte Bedeutungen der Koranverse öffnet, sprich: ihn inspiriert und dadurch rechtleitet. Bei der sufischen Koranauslegung (at-tafsÐr al-išÁrÐ) wird der Koran durch Hinweise und Zeichen, die dem Eingeweihten beim Gottesgedenken (Æikr) oder im normalen Leben eingegeben werden (ilhÁm), ausgelegt. Jede theologische Schriftauslegung wird sich daran messen lassen müssen, ob es ihr gelingt, Glauben zu evozieren. Dann ist sie vom Geist Gottes inspirierte Schriftauslegung, dann wird die Schrift zum »Wort des lebendigen Gottes«, das dem Menschen ins Herz geschrieben ist.
59 60 61 62
Vgl. Smith, Scripture (s. Anm. 30), 220 f. Vgl. ebd. 239; Kermani, Gott (s. Anm. 7), 215–225. Nasr Hamid Abu Zaid, Ein Leben mit dem Islam. Aus dem Arab. von Chérifa Magdi. Erzählt von Navid Kermani, Freiburg u. a. 2001, 19. Vgl. Körtner, Leser (s. Anm. 35), 111 f.
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Autorinnen und Autoren
Michael Bongardt, Dr. theol., Professor für Vergleichende Ethik an der Freien Universität Berlin Barbara Bürkert-Engel, Dr. theol., Hochschulpfarrerin und Lehrbeauftragte, Ludwigsburg
Serdar Güne¢, M.A., Wiss. Mitarbeiter an der Professur für Islamische Religion an der Universität Frankfurt Enes Karić, Dr. phil., Professor für Koranwissenschaften an der Fakultät für Islamische Studien der Universität Sarajevo Assaad Elias Kattan, Dr. theol., Professor für Orthodoxe Theologie am Centrum für Religiöse Studien der Universität Münster
Beate Kowalski, Dr. theol., Professorin für Neues Testament an der Technischen Universität Dortmund Andreas Obermann, Dr. theol., Privatdozent an der Universität Bonn, Pfarrer in Wuppertal Ömer Özsoy, Dr., Professor für Islamische Religion an der Universität Frankfurt
Abd el-Halim Ragab, Dr. phil., Lektor für Arabisch an der Universität Bamberg
Eckart Reinmuth, Dr. theol., Professor für Neues Testament an der Universität Rostock
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Andreas Renz, Dr. theol., Fachreferent im Referat Ökumene und Interreligiöser Dialog des Erzbischöflichen Ordinariats in München, Lehrbeauftragter an der Universität München Kerstin Rödiger, Dr. theol., Theologin, Binningen/Schweiz Ya¢ar Sarikaya, Dr. phil., Direktor der Islamischen Religionspädagogischen Akademie, Wien Wolfgang Schäuble, Dr. iur., Bundesminister des Innern, Berlin Hansjörg Schmid, Dr. theol., Referent an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart Stefan Schreiner, Dr. theol., Professor für Religionswissenschaft und Judaistik an der Universität Tübingen
Roman A. Siebenrock, Dr. theol., Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Universität Innsbruck Klaus von Stosch, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Universität Paderborn Abdullah Takım, Dr. phil., Professor für Islamische Religion an der Universität Frankfurt Burhanettin Tatar, Dr., Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Samsun/Türkei Muna Tatari, M.A., Islamwissenschaftlerin, Hamburg Bülent Ucar, Dr. phil., Professor für islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück
Ismail H. Yavuzcan, Dr. phil., Wiss. Mitarbeiter an der Professur für islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück
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Zum Buch Bibel und Koran sind in einem kulturellen Umfeld entstanden, das heute vielen Menschen fremd ist. Gleichzeitig erheben sie den Anspruch, eine universal gültige Lebensorientierung zu bieten. Trotz des unterschiedlichen theologischen Stellenwerts von Koran und Bibel steht die Schriftauslegung vor vergleichbaren Aufgaben. Christliche und muslimische Wissenschaftler beschäftigen sich mit hermeneutischen Grundfragen, historischen Querverbindungen, feministischen Auslegungen und Deutungsmonopolen. Sie nehmen die Bibel als Verstehenshilfe des Korans und den Koran als eine Auslegung der Bibel in den Blick. In seiner Vielstimmigkeit steht der Band auch für die Pluralität der Schriftauslegung in beiden Religionen. Zur Reihe Die Reihe „Theologisches Forum Christentum – Islam“ bietet eine neuartige Diskussionsplattform mit dem Ziel einer theologischen Verhältnisbestimmung von Christentum und Islam. Zu den Herausgebern Andreas Renz, Dr. theol., ist Fachreferent für Ökumene und interreligiösen Dialog im Erzbischöflichen Ordinariat München; Lehrbeauftragter an der Universität München. Hansjörg Schmid, Dr. theol., ist Referent an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit Arbeitsschwerpunkt christlich-islamischer Dialog. Bülent Ucar, Dr. phil., ist Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück.
Theologisches Forum Christentum – Islam im Verlag Friedrich Pustet
Hansjörg Schmid/Andreas Renz/ Jutta Sperber (Hg.) „Im Namen Gottes …“ Theologie und Praxis des Gebets in Christentum und Islam Theologisches Forum Christentum – Islam Regensburg 2006 (Pustet) 246 S., 19,90 €, ISBN 978-3-7917-1994-8 „ein gelungenes Beispiel für einen theologisch-wissenschaftlichen Dialog“ (Zeitschrift für Mission)
Andreas Renz/Hansjörg Schmid/ Jutta Sperber/Abdullah Tak¤m (Hg.) Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam Theologisches Forum Christentum – Islam Regensburg 2008 (Pustet) 280 S., 19,90 €, ISBN 978-3-7917-2113-2 „Wer nach mehr sucht als nach klischeegefährdetem Verwertungswissen, der wird in diesem Band sicher eine bereichernde Lektüre finden.“ (Zeitschrift für medizinische Ethik) Bestellung: Verlag Friedrich Pustet, Gutenbergstraße 8, 93051 Regensburg, www.pustet.de, Tel.: 0941 92022-0
Theologisches Forum Christentum – Islam im Verlag Friedrich Pustet
Hansjörg Schmid/Andreas Renz/ Jutta Sperber/Duran Terzi (Hg.) Identität durch Differenz Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam Theologisches Forum Christentum – Islam 2. Aufl. Regensburg 2009 (Pustet) 264 S., 19,90 € ISBN 978-3-7917-2065-4 mit Beiträgen von Bekim Agai, Peter Antes, Ulrike Bechmann, Michael Bongardt,Tahsin Görgün, Klaus Hock, Muhammad Kalisch, Assaad E. Kattan, Gritt Klinkhammer, Ömer Özsoy, Arnulf von Scheliha, Stefan Schreiner, Olaf Schumann, Abdullah Tak¤m, Christian W. Troll, Bülent Ucar, Jacques Waardenburg und Thomas Würtz. „Der Konferenzband enthält kein Sammelsurium, er spiegelt vielmehr die gelungene Struktur der Tagung in jeweils von Christen und Muslimen im Wechsel geführter Rede.“ (Theologische Literaturzeitung) „ein lesenswertes Handbuch der christlich-islamischen Beziehungen mit starkem analytischem Potential“ (CIBEDO-Beiträge) „Die immer noch lebendige Abgrenzungsgeschichte wird bis in die gegenwärtigen Spielarten muslimischer wie christlicher Fundamentalismen kompeten und überaus lesbar aufgearbeitet“ (Schweizer Kirchenzeitung) Bestellung: Verlag Friedrich Pustet Gutenbergstraße 8, 93051 Regensburg
www.pustet.de, Tel.: 0941 92022-0
Theologisches Forum Christentum – Islam im Verlag Friedrich Pustet
Hansjörg Schmid/Andreas Renz Abdullah Tak¤m/Bülent Ucar (Hg.) Verantwortung für das Leben Ethik in Christentum und Islam Theologisches Forum Christentum – Islam Regensburg 2008 (Pustet) 280 S., 19,90 € ISBN 978-3-7917-2113-2 mit Beiträgen von Ahmet Hadi Adanal¤, ¡efik Alp Bahad¤r, Heike Baranzke, Ay¢e Ba¢ol-Gürdal, Ulrike Bechmann, Daniel Bogner, Ulrich Dehn, Thomas Eich, Maysam J. al-Faruqi, Johannes J. Frühbauer, Mechthild Herberhold, Dževad Hodžić, Wiebke Krohn, Hamideh Mohagheghi, Kays Mutlu, Halit Öztürk, Nader Purnaqcheband, Simone Rappel, Arnulf von Scheliha. „ein ebenso aktueller wie umsichtiger, hilfreicher wie wertvoller Band dieser wagemutigen und zukunftsweisenden Reihe“ (evangelische Aspekte) „Die systematisch entfalteten Lehren und Standpunkte von Christentum und Islam zu einzelnen Themen werden ergebnisoffen verglichen.“ (Christ in der Gegenwart) „ein wichtiger Beitrag zum ethischen Diskurs und zur Annäherung zwischen Christentum und Islam“ (EZW-Materialdienst)
Bestellung: Verlag Friedrich Pustet Gutenbergstraße 8, 93051 Regensburg www.pustet.de, Tel.: 0941 92022-0