Prudentiana: Band II Exegetica [Reprint 2012 ed.]
 9783110959390, 9783598774379

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Christian Gnilka Prudentiana II

Christian Gnilka Prudentiana II Exegetica

Κ · G · Saur München · Leipzig 2001

Titelvignette dieses Bandes ist die crux monogrammatica (nach einem Marmorfragment in Rom).

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gnilka, Christian: Prudentiana / von Christian Gnilka. München ; Leipzig : Säur 2. Exegetica. - 2001 ISBN 3-598-77437-0 © 2001 by Κ. G. Saur Verlag GmbH. München und Leipzig Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza

VORWORT Dieser Band faßt Aufsätze zusammen, die, auf mehr als dreißig Jahre verteilt, an verschiedener Stelle erschienen waren. Sie werden hier, abgesehen von den beiden letzten Nummern, in chronologischer Reihenfolge geboten. Ergänzend treten wieder Addenda hinzu. Die Gestalt der originalen Publikationen wurde im Wesentlichen beibehalten. Allerdings habe ich es nicht über mich gebracht, diejenigen Verse, die im ersten Bande als unecht erwiesen wurden, im zweiten weiterhin als echt zu behandeln. Die dadurch bedingten Veränderungen des Texts wurden durch spitze Klammern: < . . . > kenntlich gemacht. Betroffen ist in nennenswertem Maß nur Nr. XII. Aus demselben Grunde wird aber Nr. XV in einer Neubearbeitung vorgelegt. In der Reihe der Prudentiana erscheint ein Catullianum (Nr. III), weil es Licht auf eine Szene der Psychomachie wirft. Zwei der Arbeiten (Nr. XIV und Nr. XXI) greifen weit über Prudentius hinaus. Fortgelassen wurden dafür fast alle Rezensionen, auch die recht ausführlichen Besprechungen im Gnomon (1968. 1979. 1986. 1987). Lediglich die Verteidigung des Dichters, die mir eine Schmähkritik seiner Poesie abnötigte, wurde aufgenommen (Nr. XX). Die Zahl der Tafeln ist gegenüber den Erstpublikationen vermehrt. Ich danke den Bibliotheken, Instituten und Museen für die gewährte Unterstützung. Geschlossen wird der Band durch ein Stellen- und ein Wortregister. Das Stellenregister hat wieder Markus Mülke gemacht, dem ich außerdem für die Erarbeitung der Druckvorlage und überhaupt für treue Hilfe sehr zu danken habe. Anders als im Vorwort zu den Prudentiana I angekündigt, wird das Verzeichnis der Namen und Sachen für die Critica und für die Exegetica in einem Supplement-Bändchen gesondert vorgelegt werden.

Münster i.W. August 2001

Christian Gnilka

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort I.

Das Einwachsen der Götterbilder. Ein MißVerständnis heidnischer Kultübung bei Prudentius

1

II.

Notizen zu Prudentius

9

III.

Lynchjustiz bei Catull

20

IV.

Interpretation frühchristlicher Literatur. Dargestellt am Beispiel des Prudentius

32

V.

Die Natursymbolik in den Tagesliedern des Prudentius

91

VI.

Exegetische Bemerkungen zu Prudentius' Hamartigenie

142

VII.

Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs bei Prudentius

170

VIII. Prudentiana

192

IX.

Züge der Mündlichkeit in spätlateinischer Dichtung

201

X.

Zur Rede der Roma bei Symmachus rel. 3

222

XI.

Satura tragica. Zu Juvenal und Prudentius

230

XII.

Prudentius über die Statue der Victoria im Senat

263

XIII. Verkanntes quod bei Prudentius

318

XIV. Der neue Sinn der Worte. Zur frühchristlichen Passionsliteratur .... 322 XV. Der Gabenzug der Städte bei der Ankunft des Herrn

364

XVI. Der Mensch als Hausherr der Schöpfung bei Prudentius

428

XVII. Verkannte Genitive bei Prudentius

431

XVIII. Dulce et decorum

440

XIX.

Das puer senex-Ideal und die Kirchenbauten zu Nola

443

XX.

Die frühe Kirche und die antike Kultur. Zu einem neuen Prudentiusbuch

457

XXI.

Die vielen Wege und der Eine. Zur Bedeutung einer Bildrede aus dem Geisteskampf der Spätantike

474

XXII. Addenda

522

Corrigenda zu Band I

598

Register I.

Stellen 1. Bibel 2. Prudentius 3. Andere Autoren 4. Kirchliche Dokumente neuerer Zeit II. Wörter Zu den Abbildungen Tafel I-XVI

599 599 604 616 637 638 646

I.

DAS EINWACHSEN DER GÖTTERBILDER * Ein Mißverständnis heidnischer Kultübung bei Prudentius

In seiner Gebetssatire (sat. 10) geißelt Juvenal die Torheit der Menschen, die in unbedachtem, naivem Glücksstreben solche Güter wie Macht, Beredsamkeit, Kriegsruhm, langes Leben und Schönheit, deren Besitz mitunter recht gefährlich sein kann, von den Göttern erflehen. Dieses Thema der Satire wird in den Versen 54/55 bündig formuliert: ergo supervacuo auf perniciosa petuntur, propter quae fas est genua incerare deorum. Auf die vielen Schwierigkeiten, die diese beiden Verse, namentlich der korrupt überlieferte Vers 54, den Textkritikern bereiteten, wollen wir nicht eingehen. Der oben ausgeschriebene Text folgt dem Herstellungsversuch von Bickel, auf dessen eingehende Behandlung der Stelle hier verwiesen sei1. Uns interessiert in erster Linie der Sinn des Ausdrucks genua incerare deorum. Was heißt das: die Knie der Götterbilder "einwachsen"? Aufgrund des Zusammenhangs - Gebet an die Götter - kann es als sicher gelten, daß Juvenal hier auf die Vota anspielt. Freilich müssen nicht unbedingt die Wachstäfelchen selbst gemeint sein, auf die man die Gelübde schrieb; wohl noch näher liegt es, an den Brauch zu denken, die Vota entsprechend ihrem Charakter als

* Jahrbuch für Antike und Christentum 7, 1964, 52/57. ι E. Bickel, Zur Gebetssatire Juvenals und dem Interpolationenproblem: RhMus 92 (1944) 89/94. Bickel verteidigt die Echtheit der Verse 54/55 gegen U. Knoche, Handschriftliche Grundlagen des Juvenaltextes = PhilolSuppl 33, 1 (1940) 31, worin ihm G. Highet, Juvenal the satirist (Oxford 1954) 278 beistimmt. Für unsere Untersuchung ist entscheidend, daß Prudentius jedenfalls V. 55 in seinem Juvenalexemplar las. Darüberhinaus entspricht die Kühnheit des Ausdrucks incerare, wie im folgenden zu zeigen sein wird, so sehr der Art Juvenals, daß man auch unter diesem, in der Diskussion um die Echtheit der Verse bisher vernachlässigten Gesichtspunkt nur sehr ungern an eine Interpolation - und sei es auch an die eines Zeitgenossen - wird denken mögen. Beachtung verdient hier ferner, daß G. Jachmann, Studien zu Juvenal = NGGött 1943, 6, 263f. im Gegensatz zu Knoche die Athetese auf V. 54 beschränkt, wie das vor ihm auch F. Leo: Hermes 45 (1910) 49ff. tat.

2

Prudentiana II. Exegetica

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Verträge mit der Gottheit2 auf den Statuen zu versiegeln3. So erwähnt Philostrat einmal eine alte Statue, deren Schönheit mit der Zeit arg gelitten habe; daran seien u.a. diejenigen schuld, die ihre Gelübde (darauf) versiegeln4, und von Apuleius erfahren wir, daß die Schenkel der Statuen ein bevorzugter Platz für die versiegelten Vota waren5. Allerdings kommt nicht viel darauf an, ob Juvenal nun die Wachstäfelchen oder die Siegel meint. Entscheidend für das Verständnis der Stelle ist vielmehr die Tatsache, daß incerare weder für das Bedecken der Statuen mit Wachstafeln noch für das Versiegeln der Vota | auf den Götterbildern eine geläufige Bezeichnung gewesen sein kann; denn incerare heißt sonst "mit Wachs bestreichen", "mit Wachs überziehen" oder kurz: "einwachsen"6. Die Wahl gerade dieses Verbums kann daher hier nur eine ironische Übertreibung bedeuten. Welch wichtige Rolle Hyperbeln und übertreibende Metaphern bei dem Satiriker spielen, weiß jeder Leser Juvenals; daß es jedoch auch verkannte Fälle gibt, deren Verständnis erst durch eine einfühlende Interpretation wieder erschlossen werden muß, hat Harrison überzeugend dargetan7. Den von ihm behandelten Beispielen ließe sich die Junktur genua incerare durchaus zur Seite stellen8. Vielleicht darf man aber hier noch einen Schritt weiter gehen: nicht nur in der Übertreibung scheint der Witz zu liegen, son-

2 Vgl. G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer2 (1912) 381f.; K. Latte, Rom. Religionsgeschichte (1960) 46f. 3 So verstand wohl auch der Scholiast (165 Wessner): genua incerare deorum: in signis; insignare (σφραγίζειv? so Du Cange 4, 379); votafacere. Vgl. im übrigen L. Friedländer, Juvenalis Saturae (1895) zSt., dessen Notiz allerdings insofern irreführend ist, als er gerade das Siegeln der Vota nicht erwähnt und die darauf bezüglichen Stellen auf ein Ankleben bestimmter Tafeln mit Wachs deutet. 4 Philostr. her. 9, 6: περιτρίψας δέ αυτό (sc. τό άγαλμα) ό χρόνος καν νή Δι' οί άλείφοντές τε καν ον έπνσφραγιζόμενον τάς εύχάς έξηλλάχασν τοΰ είδους. 5 Apul. apol. 54: votum in alicuius statuae femore signasti. Bei Lucian. philops. 20 ist von Silbermünzen und Silberblättern (πέταλα) die Rede, die als Votivgaben an den Schenkel einer Statue mit Wachs angeklebt sind. 6 Vgl. Varro Men. 76; Cels. med. 8, 8, 1; Porphyr. Hör. sat. 2, 3, 8 (297 Holder). Die Prudentius-Stellen sind wegen ihrer besonderen Problematik hier zunächst absichtlich fortgelassen. 7 E. L. Harrison, Neglected Hyperbole in Juvenal: ClassRev 74 (1960) 99/101. 8 Die ironische υπερβολή des "Einwachsens" wird von den modernen Erklärern und Lexikographen meistens verkannt, von den Übersetzern durch eine allzu freie Wiedergabe zerstört, worin sie das Schicksal der von Harrison behandelten Hyperbeln voll und ganz teilt. Nur selten finden sich in der Literatur Hinweise auf den satirischen Gehalt des Ausdrucks. So notiert C.F. Heinrich im Juvenalkommentar (2 [1839] 384) zu incerare·. "Komisch" und Georges im lat.-dt. Wörterbuch: "Scherzhaft, übertragen". Auch Bickel hat zweifelsohne den Witz erkannt, wie seine Bemerkung aO. 91 zum Ausdruck fas est beweist.

I. Das Einwachsen der Götterbilder

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3

dem darüberhinaus auch in dem parodistischen Anklang von incerare an inaurare. Es war ja ein allgemein geübter frommer Brauch der Antike, die Bilder der jeweils besonders verehrten Götter ganz oder teilweise vergolden zu lassen9; so ist z.B. bei Juvenal von dem Schenkel eines vergoldeten Herkules die Rede (sat. 13,151). Gewinnt nicht erst auf diesem Hintergrund die Pointe, die das Wort "einwachsen" enthält, ihren vollen Sinn? Im Deutschen läßt sich freilich der Gleichklang der Verben incerare und inaurare wegen der verschiedenen Vorsilben nicht nachahmen - wir müßten etwa "einwachsen" und "eingolden" sagen. Noch ein weiteres bleibt zu beachten: nicht allein auf dem Verbum incerare beruht der Eindruck des Satirischen, sondern die Wirkung dieser parodistischen Hyperbel lebt ganz aus dem Gegensatz zur feierlichernsten Wendung^αϊ est. Dieser Gegensatz ist es, der dem Witz das eigentlich ironische Feuer verleiht. Man höre nur: "Also überflüssigerweise und als verderbenbringend wird das erbeten, dessentwegen es (Brauch und) Recht ist, die Knie der Götter einzuwachsen"! Es leuchtet nun ohne weiteres ein, daß sich eine solche recht raffinierte Pointe kaum aus dem Zusammenhang lösen und verpflanzen läßt; dafür ist ihr Verständnis viel zu eng an Eigenart und Stil des Satirikers gebunden. Um so mehr wird man sich wundern müssen, bei dem christlichen Dichter Prudentius das Verbum incerare gleich zweimal in ähnlichem Kontext anzutreffen. In der Apotheosis (449ff.) erinnert sich Prudentius an Julianus Apostata, den er selbst noch als Knabe erlebte; er lobt seine militärische und staatsmännische Tüchtigkeit, tadelt jedoch heftig seine Verehrung der falschen Götter (apoth. 454ff):

455

perfidus ille deo, quamvis non perfidus orbi, augustum caput ante pedes curvare Minervae, fictilis et soleas Iunonis lambere, plantis Herculis advolvi, genua incerare Dianae, quin et Apollineo frontem submittere gypso aut Pollucis equum suffire ardentibus extis. \

Eine der absurden kultischen Handlungen, die der poeta christianus hier anprangert, lautet: genua incerare Dianae (457, Schluß). Der wörtliche Anklang an gleicher Versstelle läßt erkennen, daß Prudentius die Junktur tat-

9

Vgl. L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms 310 (1923) 196.

4

Prudentiana II. Exegetica

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sächlich von Juvenal übernimmt10. Prudentius ersetzt lediglich den allgemeinen Begriff deorum durch den Namen einer bestimmten Gottheit. Gerade diese äußerlich geringfügige Abweichung ist aber charakteristisch. Bei Juvenal steht der Ausdruck genua incerare deorum als kraftvolle Hyperbel am Ende eines zwei Verse füllenden Satzes, der das gesamte Thema der Satire ("verhängnisvolles Gebet") zusammenfaßt; bei Prudentius dagegen tritt incerare gleichwertig neben verschiedene andere Äußerungen heidnischer Götterverehrung, wobei der Dichter aus Gründen der Variation innerhalb der Aufzählung bei jedem Glied den Götternamen wechselt. Im einzelnen zählt er auf: Beugen des Hauptes vor den Füßen der Minerva (1), Küssen der Sandalen der tönernen Juno (2), Niederfallen vor den Fußsohlen des Herkules (3), Einwachsen der Knie der Diana (4), Neigen der Stirn vor dem Apollo aus Gips (5), Beräuchern des Pferdes des Pollux mit brennenden Eingeweiden (6). Offenbar kam es Prudentius hier darauf an, das Entwürdigende der heidnischen Götterverehrung in einen möglichst scharfen Kontrast zur sonst so strahlenden Erscheinung des Kaisers Julian zu bringen. Er erreicht dieses Ziel hauptsächlich dadurch, daß er die Verehrung sich fast überall auf die Füße der Götterstatuen, bzw. in einem Fall auf das Standbild eines Tieres richten läßt. Das Motiv genua incerare, das er bei Juvenal vorfand, wird ihm gerade unter diesem Gesichtspunkt als weiterführende Variation des Themas "kriecherische Verehrung der Füße" willkommen gewesen sein. Auf dem Wort genua liegt also innerhalb der Reihe pedes (455) - soleas (456) - plantis (456) - genua (457) der besondere Nachdruck. Von der Handlung her gesehen steht demgegenüber das Verbum incerare zwischen den sehr wenig signifikanten Aussagen (plantis) advolvi und (frontem) submittere. Überhaupt scheint Prudentius hier mehr um Abwechslung in der Wahl der Worte als der Sache bemüht (vgl. bes. v. 455 und v. 458). In diesem Kontext ist man auf eine so ausgefallene Hyperbel, wie sie das "Einwachsen" bei Juvenal bedeutet, nicht gefaßt". Die formale Juvenal-Reminiszenz bietet daher nur einen schwachen Anhaltspunkt für das richtige Verständnis, mag man sich auch vielleicht darüberhinaus, wie

10 Die formale Übereinstimmung ist immer gesehen worden, schon Ar6valo führt in seiner Prudentiusausgabe (Rom 1788/89: PL 59, 961 C/D) den Juvenalvers an, ebenso wie die modernen Editoren Bergman (CSEL 61 [1926] 458) und Lavarenne (2 [Paris 1945] 19); auch F. X. Schuster, Studien zu Prudentius (1909) 92 verzeichnet die Imitation. Unlängst hat Stella Marie, Prudentius and Juvenal: Phoenix 16 (1962) 43 die Apotheosis-Stelle neben ham. 404f. und Symm. 1,203f. als besonders eindeutigen Fall wörtlicher Juvenal-Imitation bei Prudentius hervorgehoben, ohne jedoch hier über die rein formale Ähnlichkeit hinaus weiter vorzudringen. 11 Wieviel sinnfälliger steht doch lambere (456) in der Bedeutung von oscularil

I. Das Einwachsen der Götterbilder

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5

öfters bei Prudentius, durch den allgemeinen Ton der Passage 455/59 an die Satire erinnert fühlen12. Selbst ein sehr aufmerksamer Prudentius-Leser, der mitten in dieser ziemlich breiten Schilderung verschiedener Akte der Götterverehrung auf das "Einwachsen" stößt, wird Mühe haben, das Wort im Sinne Juvenals zu begreifen. Wenn Prudentius wirklich die Pointe | Juvenals reproduzieren wollte, dann hat er das, so müssen wir folgern, nicht eben geschickt angestellt. Aber schon angesichts dieser ersten Stelle müssen sich Zweifel regen, ob das seine Absicht gewesen sein kann. Wenden wir uns nun der zweiten Stelle zu! In der Hamartigenie (389ff.) schildert Prudentius die menschlichen Laster, die dem Teufel und seiner Dienerschar als "schreckliche Waffen" im Kampf gegen die Seelen dienen. Auf eine drei Verse füllende asyndetische Reihung allgemeiner Lasterbegriffe (395/ 97) folgt eine ausführlichere Darstellung menschlichen Treibens. Die entscheidenden Verse lauten (ham. 40Iff.):

405

inde caninaforo latrat facundia toto, hinc gerit Herculeam vilis sapientia clavam ostentatque suos vicatim gymnosofistas, incerat lapides jumosos idololatrix religio et surdis pattens advolvitur ans.

Wie in der Apotheosis erscheint auch hier das Einwachsen der Statuen innerhalb einer Schilderung gottlosen, verkehrten Verhaltens. Doch in diesem Fall beschränkt sich die Erörterung nicht auf das Gebiet heidnischer Religion, sondern greift viel weiter aus. Neben törichte Beredsamkeit und entartete Philosophie tritt als selbständiges Glied heidnische Superstition. Das Einwachsen der Statuen steht somit als Charakteristikum heidnischer Kultübung überhaupt, wie denn auch die idololatrix religio selbst als handelndes Subjekt auftritt. Auf den wörtlichen Anklang an Juvenal hat Prudentius hier verzichtet, wobei der Ersatz des Details genua durch den allgemeineren Begriff lapides besonders aufschlußreich ist. Mit dem Verzicht auf den formalen Anklang an Juvenal

12 Vgl. Α. H. Weston, Latin Satirical Writing Subsequent to Juvenal, Diss. Yale (Lancaster/ Pa. 1915) 43/56; A. Salvatore, Studi Prudenziani (Napoli o.J.) 372S. Freilich steht es hier doch insofern etwas anders, als Prudentius' Bewunderung für den Kriegshelden, Gesetzgeber und Redner Julian aufrichtig ist; der Ausdruck augustum caput (455) hat sicher nichts Ironisches. Zum Einfluß Juvenals auf die christliche Spätantike im allgemeinen s. neben Highet aO. 183ff. jetzt auch D. S. Wiesen, St. Jerome as a Satirist (Ithaca/New York 1964) = Cornell Studies in Class. Philology 34, Reg. s.v. Juvenal.

Prudentiana II. Exegetica

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fällt nun einerseits die letzte Stütze für das Verständnis des hyperbolischen Charakters von incerare, andererseits scheidet aber auch die Möglichkeit einer bloß ungeschickten Verwendung der übernommenen Junktur aus. Es kann sich hier also nicht etwa um ein Versagen dichterischer Gestaltungskraft handeln, der Unterschied des Gebrauchs von incerare bei Juvenal und Prudentius muß vielmehr tiefer im Sachlichen begründet sein. Kurzum: man wird den Verdacht nicht los, daß Prudentius die Hyperbel bei Juvenal ebenso wie manche moderne Interpreten nicht erkannte und infolgedessen an ein wirkliches Einwachsen der Götterbilder glaubte. Dieser Verdacht wird zur Gewißheit durch eine dritte Stelle, an der Prudentius nicht das Verbum incerare gebraucht, sondern umschreibt, was er darunter versteht. Im ersten Buch des Gedichts gegen Symmachus erörtert Prudentius den Grund für das lange Fortbestehen des Heidentums (197ff.). Er sieht den Grund in der starken Wirkung, die die heidnische Religiosität schon in früher Kindheit auf den Menschen ausübt, und unterscheidet unter diesem Gesichtspunkt drei Stufen der Einflußnahme: die Eindrücke des Säuglings in der Wiege (201/07), die Zeit erster Teilnahme an der Götterverehrung im Hause (208/14) und schließlich die Erlebnisse des Kindes, wenn es das Haus verläßt (215/44). Den Einfluß paganer Religiosität auf den Säugling schildert er folgendermaßen (Symm. 1, 201ff.):

205

... puerorum infantia primo errorem cum lacte bibit, gustaverat inter vagitus de farre molae, saxa inlita ceris viderat unguentoque lares umescere nigros; formatum Fortunae habitum cum divite cornu \ sacratumque domi lapidem consistere parvus spectarat matremque illic pallere precantem.

Das Kosten vom Opfermehl, der Anblick der mit Wachs bestrichenen Statuen (203: saxa inlita ceris) sowie der schwarzen öltriefenden Hausgötter und der Mutter, die vor dem Bild der Fortuna mit dem Füllhorn inbrünstig betet, - das sind also nach Prudentius die ersten nachhaltigen Eindrücke heidnischer Superstition auf das kindliche Gemüt. Was den Ausdruck saxa inlita ceris angeht, der uns hier vornehmlich interessiert, so dürfte aus dem Zusammenhang von vorneherein ersichtlich sein, daß er sich auf einen kultischen

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I. Das Einwachsen der Götterbilder

7

Vorgang beziehen muß, nicht auf einen technischen, wie Blümner glaubte13; er wertet die Stelle als Beleg für die Wachstränkung, jenes kunstvolle Verfahren der Alten, den Marmorstatuen, namentlich deren nackten Teilen, durch eine Salbe aus Öl und Wachs einen glatten, gelblichen Firniß zu geben. Doch kann das hier eben nicht gemeint sein: der Zusatz inlita ceris (sc. saxa) ist an dieser Stelle überhaupt nur sinnvoll, wenn er mit dem Einfluß des Götzendienstes auf das Kind in unmittelbarem Zusammenhang steht. An Wachstäfelchen zu denken, verbietet sich natürlich ebenfalls14. Aber auch die Siegel der Vota kommen nicht in Frage; denn das hieße doch die Beobachtungsgabe des "schreienden Säuglings" beträchtlich überschätzen: Prudentius nennt ja auch sonst hier nur ganz große, einfache Impressionen. Überdies paßte das kaum zur gewählten Formulierung15. Da Prudentius zudem die mit Wachs bestrichenen Statuen in einem Atemzug mit den öltriefenden Laren nennt, kann man schwerlich umhin festzustellen, Prudentius habe an ein dem bekannten "Ölen" der Statuen entsprechendes "Wachsen" der Götterbilder geglaubt16, eine kultische Handlung, deren Absurdität ihn offensichtlich tief beeindruckte, da er dreimal in verschiedenen Gedichten darauf zu sprechen kommt. Hat man dieses Mißverständnis einmal erkannt, dann ergibt sich für alle drei Passagen eine zwanglose Interpretation. Daß ein solches Mißverständnis bei Prudentius nicht völlig unerhört ist, beweist ein anderer Fall, den bereits Lavarenne notierte17. Es war römischer Brauch, zu bestimmten Gelegenheiten Rasenaltäre zu errichten. Bei Prudentius

13 H. Blümner, Technologie und Terminologie 3 (1884) 202,. Auch der dort zitierte Juvenalvers (sat. 12, 88) hat mit der Wachstränkung nichts zu tun, wie Blümner selbst an anderer Stelle nachweist (aO. 2 [1879] 155 t ): in diesem Fall muß es sich um κήρινα πλάσματα, Figuren der Laren aus Wachs handeln; denn sonst wäre das Attribut fragili (sc. cera) unverständlich. 14 Wohl nur versehentlich weist Lavarenne auch zu dieser Stelle auf die Wachstafeln hin (Prudentiusausgabe 3 [Paris 1948] 1433). 15 Der Versschluß inlita ceris stammt übrigens aus Ovid (met. 8, 670) und wäre im Index imitationum bei Bergman noch nachzutragen. Dort ist von Holzbechern die Rede, die innen mit Wachs überzogen sind. Vgl. Gow zu Theocr. id. 1, 27. Notiert ist die Reminiszenz in der freilich recht unkritischen Zusammenstellung von M. Liguori Ewald, Ovid in the Contra orationem Symmachi of Prudentius = The Catholic University of America, Patristic Studies 66 (Diss. Washington 1942) 60. 16 Schon Ardvalo (PL 59, 961 C/D) zog aus Symm. 1, 203 den richtigen Schluß, daß ein tatsächliches Wachsen gemeint sein müsse, ohne allerdings das Mißverständnis zu erkennen: er nahm den Irrtum des Dichters für bare Münze und glaubte an die Existenz eines solchen Brauchs! Zum Salben der Statuen mit Öl vgl. etwa Arnobius 1, 39: si quando conspexeram lubricatum lapidem et ex olivi unguine sordidatum ... eqs. Die übrigen Belege s. bei J. Martin zu Min. Fei. 3,1 (Ausgabe [1930] 13 = Florilegium Patristicum 8). 17 M. Lavarenne, Prudentiusausgabe 4 (Paris 1951) 752; 223 (note 5 zu p. 126).

8

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jedoch erscheint Rasen | neben Weihrauch als Opfergabe für die Götter18! Es ist eine ansprechende Vermutung Lavarennes, daß Prudentius dabei solche Stellen wie Hör. carm. 1,19,13/16 vor Augen hatte, wo caespes metonymisch für ara e caespite facta steht, und zwar in einer Reihe mit Kräutern, Weihrauch und Wein. Derartige Mißverständnisse sind nun innerhalb des ganzen prudentianischen Werkes gewiß nur Kuriosa. Aber auch sie können etwas über die Situation und Arbeitsweise des Dichters aussagen. Das Heidentum war zu der Zeit, als Prudentius schrieb, zwar noch keineswegs tot, aber ganz entschieden auf dem Rückzug. Die Tempel waren zerstört oder geschlossen, die Ausübung des heidnischen Kultus nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Leben durch kaiserlichen Erlaß verboten19. In dieser Umwelt konnte sich der spanische Christ kaum eine lebendige Anschauung aller Details des alten römischen Kultus erwerben. Für ihn blieb die Literatur, und da vor allem die Poesie, die Hauptquelle seines Wissens über die Bräuche des heidnischen Rom. Die Mißverständnisse beweisen, wie fern Prudentius dem alten Götterglauben in Wirklichkeit schon stand.

18 Die Formulierung per. 5,50/52 ist ganz eindeutig, da hier ara von caespes unterschieden wird: der Märtyrer soll auf dem Altar mit Weihrauch und Rasen opfern! Vgl. ferner apoth. 186f.; per. 10, 186f. 19 Cod. Theod. 16, 10, 20; vgl. Latte, Religionsgesch. 370f.

II. NOTIZEN ZU PRUDENTIUS *

Trotz des wiedererwachten Interesses an Prudentius ist für die Einzelinterpretation seiner Gedichte noch wenig geleistet worden. Immer wieder trifft man bei der Lektüre auf ungeklärte "dunkle" Stellen. Angesichts des Mangels an modernen Kommentaren sieht sich der Leser in solchen Fällen meist auf die spärlichen Anmerkungen der gängigen Ausgaben angewiesen, die allerdings das Unbefriedigende der bisherigen Interpretation oft nur noch deutlicher hervortreten lassen. Auch die alten Kommentare von Weitz (1613) und Arevalo (1788/89), so dankbar man sie mitunter zu Rate ziehen wird, reichen bei weitem nicht aus. Einen kleinen Beitrag zu der hier dringend notwendigen Detailarbeit wollen die folgenden Beobachtungen liefern.

1. Mensis Ianuarius Symm. I 237/40: ... Iano etiam celebri de mense litatur auspiciis epulisque sacris, quas inveterato - heu miseri! - sub honore agitant et gaudia ducunt festa Kalendarum. ... eqs. Hier ist vom Januskult an den Kaienden die Rede, d.h. an den Kalendae Ianuariae; denn auf das Neujahrsfest, dessen Ausgelassenheit die Kirchenväter so oft angreifen1, müssen sich natürlich die erwähnten epulae und gaudia beziehen. Schwierigkeiten | bereitet innerhalb der oben ausgeschriebenen Verse

* Rheinisches Museum 109, 1966, 84/94. l Vgl. die Kalendenhomilien des Asterius v. Amas. (PG 40, 216ff.), Johannes Chrys. (PG 48, 953ff.), Ambrosius (PL 17, 637ff.), Augustinus (PL 38, 1021ff.; 1024ff.), Petrus Chrysol. (PL 52, 609ff.). Hauptquellen unseres Wissens über das Kaiendenfest sind die beiden Schilderungen bei Libanios or. 9 und descr. 5. Das weitere s. bei M.P. Nilsson, Studien zur Vorgeschichte des Weihnachtsfestes: Archiv f. Religionswiss. 19 (1916/19) = Opuscula Selecta (Lund 1951)214/311.

10

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allein der Ausdruck celebri de mense. Lavarenne, und mit ihm alle anderen Übersetzer, fassen ihn als Zeitangabe nach dem Muster von de die, de nocte ("noch im Verlauf des Tages, der Nacht"); als nächste Parallele gilt Cicero ad Qu. fr. II 1, 3 : f a c ..., ut... naviges de mense Decembri. Aber damit kommt man hier nicht durch. Lavarennes Übersetzung, die als repräsentativ für die übrigen stehen mag, zeigt die Schwierigkeit deutlich: "... on offre ä Janus, quand arrive un mois fameux, des festins sacres en observant les presages..." usw. Selbst wenn man mensis celeber als Umschreibung für den Ianuarius noch gelten lassen wollte, so ergibt doch de, temporal gefaßt, keinen Sinn: zu Beginn des Monats, eben an den Kaienden, nicht im Verlauf des Januar findet das Fest statt2. Lavarenne bemüht sich daher, die zeitliche Fixierung des Festes auf den Monatsanfang in seiner Wiedergabe zu berücksichtigen (quand arrive un mois fameux), entfernt sich aber damit weit von der angenommenen Bedeutung der Präposition3. Wie der Ausdruck de mense zu verstehen ist, zeigt die anschließende Bemerkung über den Augustuskult (V. 245ff.): die Nachwelt folgte dem Beispiel der Alten (hunc morem veterum ... secuta Posteritas) und ehrte Augustus: mense atque adytis etflamine et aris. Hier steht der bloße Instrumentalis, oben die Präposition im gleichen Sinn; de mense hängt vom Adjektiv celebri ab, das seinerseits als Dativ zu Iano gehört. Der Ersatz des Instrumentalis durch Präpositionen, namentlich durch de, ist eine bekannte sprachliche Erscheinung des Spätlateins4, begegnet jedoch auch schon früher. Ovid am. III 5 , 6 {area) umida de guttis | liefert ein besonders klares Beispiel5. Freilich läßt

2 Auch wenn sich das Kaiendenfest über fünf Tage hinzieht (vgl. Nilsson a.O. 217f.) das liegt hier in ducunt -, so bleibt es selbstverständlich immer ein Fest des Monats- und Jahresanfangs! 3 Daß seine Übersetzung im Grunde ohne eine solche Präzisierung gar nicht verständlich wäre, beweisen die in Klammern beigefügten Zusätze, mit denen er in der Etude (§ 389 p. 162) die wörtliche Wiedergabe zu verdeutlichen sucht: "On offre ä Janus, en un mois solennel (c'estä-direaumoisdejanvier, le premier janvier), des mets consacres,...". - Falsch ordnet übrigens auch Probst im ThLL III 738, 73 s.v. celeber die Prudentiusstelle ein. 4 S. dazu Leumann-Hofinann-Szantyr, Lat. Gramm. II 125f. mit der gesamten dort aufgeführten Literatur, die jetzt noch durch G.A. Beckmann, Die Nachfolgekonstruktionen des instrumentalen Ablativs im Spätlatein und im Französischen = Zeitschr. f. roman. Philol., Beih. 106 (1963) zu ergänzen wäre. 5 Ebenso Ov. trist. III 3, 82 deque tuis lacrimis umida serta dato; vgl. Löfstedt, Kommentar zur Peregr. Aeth. 104. Weitere Belege gibt der ThLL V 62, 18ff. Aus dem Bereich der christlichen Poesie seien noch hinzugefügt Juvenc. II 245 (fundus) Iacob de nomine pollens und Sedul. carm. pasch. II 23 (Dei imago) dissimilis de morte (vgl. ebd. 226).

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II. Notizen zu Prudentius

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sich die instrumentale Bedeutung von der kausalen oft nicht trennen6; das gilt vor allem dann, wenn es nicht ein Verbum, sondern ein Adjektiv ist, das durch den Präpositionalausdruck näher bestimmt wird. Bei Prudentius findet sich de statt des bloßen kausalen bzw. instrumentalen Ablativs ungemein häufig7; vgl. z.B. cath. 6, 81f. agnum de caede purpurantem, ham. 417 (tela) de sanguine tincta, ebd. 374 hilaram defunere plebem. Als Beispiel für die gleiche Konstruktion eines mit celeber bedeutungsverwandten Adjektivs sei schließlich noch Tert. resurr. 13,2 (avem Phoenicem) de singularitate famosum genannt. Es geht Prudentius hier um die Monatsnamen. Wie die Alten dem latinischen König (vgl. V. 233) Janus, also einem Sterblichen, einen eigenen Monat weihten und den Januar nach ihm benannten, so verfuhren auch die "gelehrigen" Nachfahren bei der Vergottung des Augustus. In beiden Fällen war die Ehrung ungerechtfertigt und unerhört. Der Gedanke paßt ganz in die euhemeristische Beweisführung des ersten Buches gegen Symmachus, und der Verlust dieses charakteristischen Zuges ist der größte Nachteil der herkömmlichen Interpretation. Erst jetzt erhält auch etiam in V. 237 seinen vollen Sinn. War Janus schon vorher (V. 233) innerhalb einer Aufzählung der reges prisci genannt, so werden nun mit etiam die ihm allein erwiesenen, weit höheren Ehrungen steigernd eingeführt: Tros, Italus, Sabinus, Saturnus und Picus besitzen nur je eine Statue und eine vetusta arula, Janus ist darüberhinaus sogar titulo mensis celebratus und erhält an den Kaienden des Januar festliche Opfer. Etiam gehört ebenso zum Attribut celebri wie zur ganzen Aussage litatur auspiciis epulisque sacris ... eqs.8. Mit V. 237 und 246 berührt Prudentius die Thematik der ovidischen Fasten; denn auf die αϊτια der Monatsnamen legt ja Ovid stets großen Wert. Es wird daher wohl kaum ein Zufall | sein, daß dort eine ähnliche Junktur begegnet wie bei Prudentius9. Zu Beginn des vierten Buches der Fasten heißt es (fast. IV 13): venimus ad quartum, quo tu (sc. Venus) celeberrima mense.

6 Hierzu vgl. etwa Schrijnen-Mohrmann, Studien zur Syntax der Briefe des hl. Cyprian I (Nijmegen 1936) 111. 7 Vgl. Lavarenne, Etude §§ 391/93. 8 Die Ablative auspiciis und epulis sind modal zu fassen; Lavarennes Übersetzung fuhrt, was den Ausdruck epulisque sacris anlangt, auch in diesem Punkte irre. 9 M. Liguori Ewald, Ovid in the c. or. Symm. of Prudentius (Washington 1942) = The Catholic University of America, Patristic Studies vol. 66, 5 Iff. trägt zu dem hier behandelten Passus reiches Material zusammen, das sich jedoch bei kritischer Prüfung viele Abstriche gefallen lassen muß. Die Fastenstelle erscheint (S. 55) zudem in so gekürzter Form, daß unklar bleibt, ob die Parallelität von fast. IV 13 und Symm. II 237 voll erkannt ist.

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Die Kommentatoren fassen quo ... mense temporal10, doch ist das zumindest unnötig; ja im Hinblick auf den Kontext erscheint die Interpretation des Ausdrucks als instrumentaler oder kausaler Ablativ sogar entschieden besser; Ovid kommt es hier zunächst auf die Etymologie des Aprilis an, der von dem griechischen Namen Aphrodite abgeleitet wird", und in diesem prägnanten Sinne versichert er, der Monat gehöre Venus (14) und dürfe ihr nicht streitig gemacht werden (85; 115). Wenn Prudentius, wie wir vermuten dürfen, den Ovidvers im Kopfe hatte, dann verstand er ihn zweifellos richtig.

2. Di cognati Symm. I 180/85: haec Italos induxit avos vel fama vel error, Martia Romuleo celebrarent ut sacra campo, utque Palatinis Capitolia condita saxis signarent titulo proavi Iovis atque Pelasgae Palladis et Libyca Iunonem ex arce vocarent, cognatos de Marte deos, ... eqs. An der eben besprochenen Stelle hatte das Mißverständnis der Präposition de die Interpreten irregeführt. Hier sei nun ein ähnlicher Fall angeschlossen. Innerhalb des Ausdrucks | cognatos de Marte deos (V. 185) wird de Marte als Umschreibung des Genitivs Mortis aufgefaßt12. Wenn das zuträ-

10 "In dem du besonders verehrt wirst" (Börner); ebenso erklärt R. Cornali (I Fasti [Torino 1926] 65 ad loc.). Ob das überhaupt sachlich zu rechtfertigen wäre, mag dahingestellt bleiben. Immerhin fallen die Stiftungstage der Venus Ubitina und der Venus ad Circum Maximum (19. Aug.) sowie der Venus Genetrix (26. Sept.) außerhalb des April, für den somit nur noch die Dedikationstage der Venus Verticordia (1. April) und Venus Erucina (23. April) übrig sind. Vgl. dazu den Festkalender bei Latte, Rom. Religionsgesch. π Fast. IV 61ff. Vgl. dazu Börner in der Einleitung seiner Ausgabe (Bd. 141f.). 12 So Brakman: Mnemosyne 49 (1921) 107, dem die modernen Übersetzer folgen; vgl. auch Rodriguez-Herrera in der spanischen Prudentiusausgabe von Guillen (Madrid 1950) 376. Lavarenne, Etude § 383 gibt eine andere Erklärung, die jedoch in sich nicht schlüssig ist: "dieux parents de Mars (Jupiter et Junon, son p£re et sa m£re)". Die Apposition bezieht sich ebenso auf Pallas, ganz abgesehen davon, daß cognatos die angenommene Bedeutung (parents) niemals haben könnte.

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II. Notizen zu Prudentius

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fe, so stünde dieses Beispiel bei Prudentius ganz allein; denn de vertritt zwar mitunter einen partitiven Genitiv13, für den Ersatz eines Genitivus subiectivus durch die Präposition findet sich jedoch bei Prudentius kein einziger eindeutiger Beleg14. Aber auch an dieser Stelle empfiehlt sich eine andere Lösung. De ersetzt einfach ab, wie das ja eine ganz allgemeine Erscheinung des späteren Lateins ist15: a Marte hieße es für gewöhnlich, nach dem Muster von a patre, a matre (προς μητρός)16. Zu cognatos ist in Gedanken sibi (sc. Italis avis) zu ergänzen. In Jupiter, Juno und Pallas erblickten die italischen Vorfahren, d.h. in diesem Kontext: die Römer der Vorzeit, ihre Verwandten "von Mars her"! Glänzend bewährt sich hier der alte Kommentar von Arevalo, der als einziger das Richtige getroffen hat; im Anschluß an die Erörterung der Konjekturen Früherer - sie zeigen, welche Schwierigkeiten die Stelle seit jeher bereitete - , bemerkt er (PL 60,133 D): Ego puto, a Prudentio clare vocari Iovem, Palladem et Iunonem deos Romanorum cognatos de Marte, sive ex parte Martis. So verstanden wird die Apposition überhaupt erst sinnvoll. Es ist wichtig, sich den Zusammenhang mit dem Voraufgehenden (V. 164ff.) zu vergegenwärtigen: Mars und Venus gelten als parentes Romae, beide hält man obendrein für Götter, obgleich die Tatsache ihrer | Vereinigung mit Sterblichen das Unwürdige einer solchen Vorstellung zur Genüge beweist; dieser Wahn brachte die Römer dazu, Mars kultisch zu verehren, und nicht nur ihn, sondern zugleich auch den "Ahnherrn" Jupiter (V. 183), Minerva und Juno, mit denen sie sich durch Mars verwandt glaubten. Die Apposition cognatos de Marte deos gibt also die Motivierung für den Kult der kapitolinischen Trias. Das ist der präzise Sinn. Auch der Venuskult - das ist im folgenden ausgeführt (185ff.) - zog die Verehrung anderer Götter, der Magna Mater und des Bacchus, nach sich. In diesem Fall beruht die Verbindung der Gottheiten wohl auf einer allgemeinen Assoziation seitens des christlichen Dichters (Stichwort: orgia in V. 188!).

13 Vgl. Lavarenne, Etude § 387. Seine Stellensammlung muß freilich kritisch benutzt werden; apoth. 687, ditt. 132 {de fonte lavari) gehören kaum hierher: Ersatz des Instrumentalis ist wahrscheinlicher. Zur Verwendung der "Teilungsformel" im allgemeinen vgl. Leumann-Hofmann-Szantyr, Lat. Gramm. II 58f. 14 Auch Brakman a.O. bringt keine überzeugende Parallele; in per. 6, 130 de corporibus sacris favillae bezeichnet de die Herkunft (so auch Lavarenne, Iitude § 384) und ham. 212 iam non obstanti locuples de corpore praedo gehört zu den oben S. 9f. [85f.] besprochenen Fällen, in denen de den kausalen, bzw. instrumentalen Ablativ vertritt (locuples de ...). 15 Vgl. Leumann-Hofmann-Szantyr, Lat. Gramm. II 263. 16 Vgl. etwa Gaius inst. 1156 α patre cognati; de steht im gleichen Sinne z.B. bei Apuleius Plat. I I de utroque (sc. de patre et matre) nobilitas satis clara und bei Prudentius psychom. 75 (Christum) mortali de matre hominem, sed cum patre numen [vgl. Prudentiana I 486, Anm. 68],

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Der oben ausgeschriebene Passus enthält noch eine zweite Auffälligkeit, die nicht ganz übergangen werden soll. Das Kapitol, so lesen wir in V. 182, ist auf "Palatinischem Felsen" erbaut17. Palatinus kann hier ebenso wie Romuleus im vorhergehenden Vers nur gesuchter Ausdruck für das Urrömische sein18, der freilich auf Kosten der topographischen Exaktheit geht. < Derlei findet sich auch sonst. Zwar darf der rätselhafte ductor Tuscus in dem unechten Vers Symm. II 302 nicht der Ungenauigkeit des Dichters zugeschrieben werden19, aber > einen groben Verstoß gegen die Geographie, der seltsamerweise bisher völlig unbemerkt blieb, enthält die Apotheosis. In V. 426ff. beschreibt Prudentius die weltweite Wirkung der vox evangelica, deren Glut das Eis Skythiens und Hyrkaniens schmelzen lasse, ut exutus glacie iam mollior amnis Caucasea de cote fluat Rhodopeius Hebrus. Hier wird nicht nur der Hebrus an den Kaukasus verlegt, sondern auch das Adjektiv Rhodopeius nicht verstanden oder wenigstens unbeachtet gelassen. Allein die Häufung geographischer Namen, an die sich die Vorstellung von Winter, Eis und Kälte knüpft, ist dem Dichter wichtig. |

3. Homo exterior Ham. 12/13: exterior terrenus homo est, qui talia cernens conicit esse duo variarum numina rerum. Stam erklärt in seinem Kommentar zur Hamartigenie20 exterior als exterior, quam verae fidei cultor und übersetzt dementsprechend: "Heretical is the human being who ..." usw. Auch Hiltbrunner: ThLL V 1992,26ff. ordnet das

π Guillen mag die Schwierigkeit erkannt haben; er versucht sie, allerdings ohne Erfolg, in seiner Übersetzung zu umgehen: "el Capitolio, erigido con las piedras del Palatino"; condere wird überdies in der Bedeutung von aedificare nie mit dem Ablativ des Mittels verbunden. 18 S. dazu die Fußnote in der Ausgabe von Thomson vol. I (Loeb Library [1949]) 364. Vgl. auch Symm. I 550 Euandria curia als Bezeichnung für den Senat. 19 < Vgl. dazu Prudentiana 1219/27, besonders 225, wo auf diesen Aufsatz Bezug genommen wird. > 20 Prudentius, Hamartigenia with introduction, translation and commentary by J. Stam (Amsterdam 1960) p. 138 ad loc.

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II. Notizen zu Prudentius

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Wort so ein (exterior = alienus ab ecclesia). Freilich sind die anderen dort genannten Belege nicht völlig kommensurabel; denn sonst wird exterior überall durch den Zusammenhang, bisweilen auch durch einen Ablativus separ. hinreichend gestützt, wie z.B. bei Prosper epigr. 42, 4: a vera semper luce fit exterior (sc. peccator)21. Es liegt hier gewiß näher, an 2 Cor. 4, 16 zu denken: etsi exterior homo noster corrumpitur, sed interior renovatur ... eqs. (Itala). Die Junktur homo interior gebraucht Prudentius Symm. II 184f. im gleichen Sinn; zur Verbindung von exterior und terrenus wäre etwa Faustus Rei. epist. 3, 9 (CSEL 21, 212) exterior et terrenus homo zu vergleichen. Zur Konstruktion: terrenus steht nicht prädikativ, denn das ergäbe einen unerträglich trivialen Sinn. Es handelt sich vielmehr um eine hervorhebende Periphrase vom Typ: ipse ego sum, ... quifacio (Symm. II 220f.). Beide Adjektive stehen attributiv zu homo. Der Satz muß also folgendermaßen verstanden werden: exterior, terrenus homo est (sc. non interior, caelestis), qui... eqs.

Die Antinomie Leib-Seele spielt bei Prudentius überhaupt eine entscheidende Rolle, - es mag genügen, an psychom. 899/909 und cath. 10, 21/ 32 zu erinnern. Besonders bezeichnend jedoch für die tiefe Wirkung dieser anthropologischen Vorstellung auf Prudentius ist die Tatsache, daß er sogar

21 Tert. praescr. 42, im Thesaurus als Parallele zu ham. 12 notiert (exterior = haereticus), bietet an der entscheidenden Stelle einen unsicheren Text. 22 Unter den modernen Prudentius-Übersetzern kommt Thomson der Wahrheit am nächsten, wenn er auch die Konstruktion verkennt: "The outer man is of the earth, and seeing such things ..." usw.; Guillen übersetzt exterior nicht mit. Am weitesten weicht Lavarenne ab (Prudence tome II, Paris 1945): "II faut etre superficiel et terre ä terre pour conjecturer ..." usw.

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das Thema der Hamartigenie in dem Gegensatz Körper-Seele fundiert sein läßt, hat er doch ansonsten gerade in diesem Gedicht die Macht der bösen Geister sowie die freie Entscheidung der Seele selbst zur Sünde stark hervorgehoben (vgl. harn. 509/16; 553/61).

4. Visus conspicui Harn. 863/66: nec mirere locis longe distantibus inter damnatas iustasque animas concurrere visus conspicuos meritasque vices per magna notari intervalla, ... eqs. Zur Junktur visus conspicuos äußert sich Stam nicht; auch im Thesaurus s.v. conspicuus ist sie nicht verzeichnet. Faßt man visus — oculi (acies) wie wenige Verse später (883f.) nostris ... visibus, so muß man eine neue, aktive Bedeutung des Adjektivs conspicuus ansetzen ("deutlich sehend"), soll jedoch dem Adjektiv sein geläufiger Sinn erhalten bleiben, ist man zur Annahme des in dieser Bedeutung ganz ungewöhnlichen Plurals visüs = aspectüs (sc. animarum) gezwungen. Eine Enallage des Adjektivs schließlich wäre in dem Fall kaum verständlich. Hier hilft Boethius cons. 3 carm. 9, 23f. weiter: da (sc. pater) fontem lustrare boni, da luce reperta In te conspicuos animi defigere visus. Die Junktur conspicuos visus darf angesichts ihrer Seltenheit und des ähnlichen Zusammenhangs, in dem sie hier | steht (oculi animi\), getrost als sichere Prudentius-Reminiszenz in den Indices imitationum unserer Boethiusausgaben nachgetragen werden. Damit steht fest, daß Boethius jedenfalls conspicuus als Adjektiv mit aktiver Bedeutung faßte. Hinzukommt noch eine weitere Stelle bei Paulinus von Nola (carm. 16,89f.): qui (sc. Felix)prope conspicuo subductus ab ore sequentum Infestos utcumque timens vitaverat enses. Dazu hat bereits v. Härtel im Index verborum seiner Ausgabe das Richtige notiert23. Man geht

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Conspicuus = videns (CSEL 30 [1894] 421).

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II. Notizen zu Prudentius

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also wohl auch bei Prudentius kaum fehl, wenn man conspicuus zu den gar nicht wenigen Adjektiven mit veränderter Bedeutung rechnet24.

5. Apotheosis Den Titel Apotheosis erklärt Manitius25 folgendermaßen: "Der Titel ist zu Apotheosis Christi zu ergänzen, da sich das Gedicht mit der Göttlichkeit Christi befaßt und sie ihren Leugnern gegenüber zu erweisen sucht." Diese Auffassung konnte sich bis heute durchweg behaupten26. Freilich hat αποθέωσης eine solche Bedeutung, wie sie bei Prudentius gemeinhin angenommen wird, niemals gehabt. Schon darin liegt eine empfindliche Schwäche der herkömmlichen Interpretation des Titels. Aber auch die Berufung auf den Inhalt des Gedichts geschieht auf Kosten der dort entwickelten Gedankenfülle; denn um den Erweis der wahren Menschheit Christi geht es Prudentius kaum weniger als um den Beweis seiner Gottheit. Wenn nun weder Wortsinn noch Inhalt die angenommene Bedeutung des Titels hinreichend stützen, wird man fragen müssen, welches Publikum so überhaupt das geforderte Verständnis aufbringen konnte. Der Interpret tut besser daran, von dem geläufigen Sinn "Vergottung" auszugehen, wobei natürlich ein anderer Genitiv zu ergänzen ist: άποθέωσις sc. του άνθρώπου (της άνθρωπίνης φύσεως). Rodriguez-Herrera ist, soweit wir sehen, der einzige gewesen, der diese Auflösung gegeben hat, freilich an so verstecktem | Ort und in solcher Kürze, daß sich das richtige Verständnis nicht durchzusetzen vermochte27. Der Gedanke von der Vergöttlichung des Menschen durch Christus stammt aus der griechischen Theologie28 und ver-

24 Vgl. Lavarenne, Etude §§ 1332ff. 25 M. Manitius, Gesch. d. christl.-lat. Poesie (Stuttgart 1891) 67; vgl. auch 0 . Bardenhewer, Gesch. d. altkirchl. Lit. III (Freiburg 1912) 448: "etwa Gotteserweis". 26 Vgl. K.-E. Henriksson, Griech. Büchertitel in d. röm. Lit. (Helsinki 1956) 83; Kurfeß, Prudentius: PW 23 (1957) 1055; Lavarenne, Prudence, tome II p. VI 1 : "la nature de Dieu"; Thomson, Prudentius, vol. I (Seitenüberschriften): "the Divinity of Christ". 27 Rodriguez-Herrera in der Fußnote auf S. 176 der Prudentiusausgabe von Guillen: " Va a tratar de la divinizaciön (άποθέωσις) de la naturaleza humana en la Persona augusta del Verbo, ...". 28 S. dazu A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengesch. II (Tübingen 1931) 46'. Für den lateinischen Bereich vgl. bes. Ambras, de virginibus I I I (Ende): et verbum caro factum est, ut caro fieret deus.

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dankt seine besondere Ausgestaltung der Auseinandersetzung mit dem Arianismus. Namentlich Athanasius sah in der θεοποίησις des Menschen den eigentlichen Zweck der Inkarnation Christi29. Als locus classicus mag Athanas. or. c. Arian. 2,70 (PG 26,296 A/B) gelten: ούτω γαρ και προσελάβετο (sc. ό Λόγος) τό γενητόν και άνθρώπινον σώμα, ϊνα, τοΰτο ώς δημιουργός άνακαινίσας, έν έαυτω θεοποιήση ... και ώσπερ οΰκ αν ήλευθερώθημεν άπό της άμαρτίας και της κατάρας, εί μη φύσει σαρξ ην άνθρωπίνη, ην ένεδύσατο ό Λόγος· ουδέν γαρ κοινόν ην ήμΐν προς τό άλλότριον· ούτως οΰκ άν έθεοποιήθη ό άνθρωπος, εί μη φύσει έκ του Πατρός και άληθινός και ϊδιος αύτού ήν ό Λόγος, ό γενόμενος σάρξ. Entscheidend für die so verstandene θεοποίησις ist Christi Doppelnatur; von seinem wahren Menschund Gottsein hängt die Vergöttlichung der menschlichen Natur gleichermaßen ab. Diesem Grundsatz trägt auch der Aufbau des prudentianischen Lehrgedichts Rechnung, dessen antihäretische Argumentation man - freilich ohne Rücksicht aufs Detail - in drei Abschnitte gliedern kann: im ersten (1/320) wendet sich Prudentius gegen die Leugner der Existenz des Gottessohnes überhaupt (Patripassianer), im zweiten (321/781) gegen die Leugner seiner Gottheit (Juden, Ebioniten), im dritten (956/1061) gegen die Leugner seiner Menschheit (Manichäer)30; den Schluß des Gedichts bildet ein Preis der durch Christi Auferstehung garantierten Unsterblichkeit (1062ff.), - auch das steht ganz in der Tradition dieses Lehrtopos, denn θεοποίησις und αθανασία gehören zusammen31. Es würde hier freilich zu weit führen, die Darstellung des durch den Titel angekündigten Gedankens innerhalb des Werks selbst Schritt | für Schritt zu verfolgen. Als besonders charakteristische Formulierungen des Grundkonzepts seien lediglich die Verse 164/70 hervorgehoben. Daß auch andere Gedichte gelegentlich die Idee der Apotheosis zum Ausdruck bringen32, zeigt, wieviel Prudentius gerade daran gelegen war. Die bisherige Interpretation des Titels irrte also nicht etwa nur in der Wiedergabe eines einzelnen Wortes,

29 Vgl. Unger: Franciscan Studies 6 (1946) 41/46; über die Verwendung von θεοποίησις und θεοποιεΐν unterrichtet das Lexicon Athanasianum von G. Müller (Berlin 1952). 30 Zwischen Teil II und III steht ein längerer Exkurs über die Seele (782/951); vgl. Bardenhewer a.O. Lavarennes detailliertere Inhaltsübersicht (tome II p. XVIIIf.) läßt die Gliederung nicht ganz klar hervortreten. 31 Vgl. Harnack a.O. 32 Vgl. psychom. 71/86, bes. V. 76: inde omnis iam diva caro est, quae concipit illum (sc. Christum)·, man könnte divus hier geradezu im "technischen" Sinne fassen (s. dazu Wissowa, Religion und Kultus d. Römer 343); vgl. ferner Symm. II 265/69, cath. 11, 45ff.

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II. Notizen zu Prudentius

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sondern verkannte den "humanistischen" Leitgedanken33 des christologischen Lehrgedichts. Wenn sich auch die Grundidee der Apotheosis auf die Lehre der griechischen Väter zurückfuhren läßt, so wird Prudentius das Wort selbst wohl kaum aus den griechischen Texten herausgesucht haben34. Römisches lag ihm näher. Wir wissen aus Herodian (TV 2, 1), daß apotheosis eine in Rom geläufige Bezeichnung der Herrscherapotheose war, und so gebraucht auch Tertullian das Wort einmal (apol. 34); weiterhin beruht der Titelwitz von Senecas Apocolocyntosis wohl auf dem Gleichklang mit apotheosis35, so daß das Wort als bekannt vorausgesetzt werden darf, auch wenn es nicht wie consecratio offizieller Terminus wurde36. Die Bedeutung von apotheosis im paganen Bereich war Prudentius, dem Eiferer gegen den Kaiserkult (vgl. Symm. I 245ff.), gewiß nicht unbekannt, und so betrachtet mag die Wahl des Titels eine gleichsam programmatische Pointe gewinnen: De vera apotheosi könnte man verdeutlichend sagen.

33 Über die Berechtigung, auch solchen christlichen Gedanken ihren Platz in der Geschichte des Humanismus anzuweisen, s. F. Klingner, Humanität und Humanitas: Rom. Geisteswelt (München 19614) 702f. 34 Das Substantiv ist nach Ausweis des patristischen Lexikons von Lampe überhaupt recht selten; das Verbum άποθεόω kommt häufiger vor, steht jedoch in ganz verschiedenen Zusammenhängen; des öfteren gebrauchen es die Häretiker in ihrer Polemik gegen die orthodoxe Lehre von der Gottheit Christi - ein Beweis dafür, in welchen Widerstreit der Meinungen man mit der Annahme eines Titels Apotheosis sc. Christi geriete! 35 Unter den vielen Deutungsversuchen des Titels Apocolocyntosis, der nur durch Cass. Dio LX 35, 3 erhalten ist, scheint uns diese am plausibelsten; sie wurde u.a. von O. Weinreich, Senecas Apocolocyntosis (Berlin 1923) l l f . und C.F. Russo in seiner Ausgabe (Florenz 19552) 17ff. vertreten. 36 So urteilt auch Henriksson a.O. 732; bei ihm findet man einen bequemen Überblick über die bisherigen Interpretationen des Titels der Satire.

III. LYNCHJUSTIZ BEI CATULL * Otto Hiltbrunner mm sechzigsten Geburtstag

In dem berühmten Aufsatz "Italische Volksjustiz" behandelte einst Hermann Usener die altitalische Sitte der öffentlichen Bescheltung1. Eines der schönsten Ergebnisse dieses Aufsatzes war es, daß er das Verständnis des Catullgedichts 42 Adeste hendecasyllabi erschloß, wie es umgekehrt einen der bedauerlichsten Mängel des Catullkommentars von Fordyce ausmacht, daß er die Beobachtungen Useners im Gegensatz zu seinem Vorgänger Kroll gänzlich mißachtete2; denn ohne den Zusammenhang mit jener volkstümlichen Sitte bleibt das Catullgedicht 42 gleichsam blutleer. Doch auch noch ein anderes Gedicht will als Abbildung einer - freilich ganz andersgearteten! - volkstümlichen Strafe verstanden sein: c. 108, und auch hier steht der englische Kommentar hinter dem Krollschen zurück. Denn eine wenigstens teilweise treffende Einsicht Krolls geht bei Fordyce völlig verloren. Doch wenden wir uns zunächst dem Epigramm selbst zu: Si, Comini, populi arbitrio tua cana senectus spurcata inpuris moribus intereat, non equidem dubito, quin primum inimica bonorum lingua execta avido sit data vulturio, effossos oculos voret atro gutture corvus, intestina canes, cetera membra lupi. Das Gedicht bietet der Sache nach eine Verwünschung des Cominius, deren Anlaß sich aus V. 3/4 ungefähr erraten läßt. Aber der Aussageweise nach ist das Gedicht keine κατάρα, sondern eher so etwas wie ein Räsonnement: die Verwünschung ist in die Form einer kühl berechnenden Feststellung gegossen. Darin liegt der eigentümliche Reiz des kleinen Stücks und Catulls künstlerische Leistung, wie denn überhaupt das bei | aller inneren Bewegung

* ι 2

Rheinisches Museum 116, 1973, 254/69. Rh. Mus. 56 (1901) 1/28 = Kl. Schriften 4 (Leipzig/Berlin 1913) 356/82. Vgl. Ed. Fraenkel: Gnomon 34 (1962) 263.

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III. Lynchjustiz bei Catull

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scharf rechnende Gedankenspiel das wesentliche Merkmal der catullischen Epigramme bildet3. Einen Gutteil seiner Wirkung verdankt das Gedicht dem syntaktischen Bau. Es besteht aus einer einzigen Periode: einem Hauptsatz und einem untergeordneten hypothetischen Gefüge. Doch die Anordnung der Sätze weicht vom Normaltypus ab: Catull hat den hypothetischen Vordersatz ganz an den Anfang gerückt und vom Nachsatz durch den dazwischengestellten Hauptsatz getrennt4. Diese ungewöhnliche Satzfolge erzielt im vorliegenden Fall eine besondere Wirkung. Die Protasis (si... intereat), die doch eigentlich der Sache nach schon die ganze Verwünschung enthält, erfüllt mit ihrer Anrede an Cominius gleichsam nur die Funktion eines Auftakts; der Tod des Cominiuspopuli arbitrio wird wie eine nebensächliche Tatsache, die keinerlei Frage und Bedenken bedarf, vorweggenommen. Aller Nachdruck der Aussage fällt einseitig auf die Apodosis (primum... lupi). Erst die Details des Todes, ja noch genauer: in welcher Reihenfolge die Teile des verhaßten Leibes vernichtet werden und durch welche Tiere jeweils, das erst scheint dem Dichter eine Betrachtung wert, allein dazu will er sich äußern, das bildet scheinbar den Grund des Gedichtchens. Die betonte, fast ein wenig umständliche Aussage des eingeschobenen Hauptsatzes: non e quid em dubito ... eqs. ist gerade in dieser Form für den Gesamteindruck des Gedichts entscheidend. Ihr vor allem verdankt das Epigramm eben jenen Charakter einer Reflexion, eines Kalküls5. Zugleich bewirkt die nachdenkliche Wendung ein 'Ritardando' in V. 3, das bis zum Ende des Verses anhält; denn der Sinn der nachfolgenden Worte bleibt zunächst noch in der Schwebe, bis er durch den wuchtigen Einsatz: lingua execta zu Beginn von V. 4 geklärt wird. Von nun an folgen die kräftigsten Aussagen gewissermaßen Schlag auf Schlag, und zwar gegen Ende hin mit deutlicher Beschleunigung des Tempos: | vorangeht die Vernichtung der Zunge als des hauptschuldigen Glieds, sie beansprucht - alles in allem mehr als einen Vers; die Vernichtung der Augen füllt immerhin noch einen ganzen Hexameter; aber die beiden letzten Aussagen über die Eingeweide und die "übrigen Glieder" müssen sich einen Pentameter je zur Hälfte teilen. Immer rascher also, immer gedrängter folgen die einzelnen Aussagen aufeinan-

3 Vgl. F. Klingner, Catull: Rom. Geisteswelt (München 19653) 218ff., bes. 220/2. 4 Es ist dies der seltenere Stellungstypus α : A : a (nach dem üblichen System), d.h. Nebensatz 2. Grades : Hauptsatz : Nebensatz 1. Grades. Vgl. Nägelsbach, Latein. Stilistik9, 642f.; Leumann-Hofmann-Szantyr, Latein. Grammatik 2, 734. 5 Ihrer Funktion nach ungefähr vergleichbar ist die Wendung fortasse requiris in Catulls berühmtem Monodistichon Odi et amo: auch sie ist nur scheinbar entbehrlich, in Wahrheit verdankt der Zweizeiler gerade ihr viel von seiner Wirkung. Vgl. O. Weinreich, Die Distichen des Catull (Tübingen 1926 [Nachdr.: Darmstadt 1972]) 38f.

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der. Wollte man die innere Bewegung des Gedichts graphisch darstellen, so müßte man eine Kurve zeichnen, die zunächst kräftig, dann sachte ansteigt, ihren Scheitelpunkt erreicht, hierauf aber sogleich steil abfällt. Denn dem Ganzen nach wird das Epigramm von einer Spannung durchzogen, die zur Mitte hin stetig zunimmt, um sich zum Ende hin in einem raschen 'Decrescendo' zu lösen. Eben dieses 'Decrescendo' bedingt aber nun eine weitere Eigentümlichkeit der catullischen Darstellung: ich meine die zunehmende V e r k n a p p u n g des Ausdrucks im zweiten Teil des Gedichts. Besonders fühlbar wird sie im letzten Vers. Hier sind nicht nur die Verben aus dem Voraufgehenden zu ergänzen, sondern auch die signifikanten Partizipien execta (sc. lingua) und effossos (sc. oculos) in V. 4/5 finden keine Entsprechung mehr (denkbar wäre dilaniata o. dgl.). Ich würde darauf nicht so großen Wert legen, wenn es nicht gerade diese Knappheit der Ausdrucksweise in der die Detailschilderung enthaltenden zweiten Gedichthälfte wäre, die wesentlich dazu beigetragen hat, Einheit und Anschaulichkeit des vom Dichter entworfenen Bildes vor dem modernen Betrachter zu verhüllen. Denn es wird sich gleich zeigen, wie wichtig der Einblick in die Struktur des Epigramms für das rechte Erfassen der dargestellten Situation ist. Wenden wir uns also jetzt der Sache zu: was soll mit Cominius geschehen? Das Verständnis des Gedichts steht und fällt mit dem Ausdruck populi arbitrio in V. 1, und eben in diesem Punkte unterscheidet sich Krolls Auffassung vorteilhaft von derjenigen des englischen Kommentators. Um zunächst einem möglichen Irrtum vorzubeugen: der Ausdruck gehört nicht der juristischen Sprache an, bezeichnet überhaupt keinen eigentlich rechtlichen Vorgang. So verschieden auch die Bedeutungen des Substantivs in der Fachsprache sind: eine Wendung wie arbitrio populi interire kennt sie nicht6. Dasselbe gilt für die außerfachliche Literatur: | niemals wird die fragliche Junktur in Zusammenhang mit einer Kapitalstrafe oder sonst einer ordnungsgemäßen Rechtsentscheidung gebraucht7. Die lateinischen Autoren nennen zwar das Volksgericht, genauer: die Findung der komitialen Endentscheidung eines Strafjprozesses, welche auf die Provocatio folgt, öfters iudicium populidoch das Wort arbitrium begegnet in derlei Bedeutung niemals, und daß ausgerechnet Catull einen magistratisch-komitialen Strafprozeß so bezeichnet habe, ist ganz und

6 1903) s.v. 7 8

Vgl. bes. den Artikel arbitrium im Vocabularium Iurisprudentiae Romanae I (Berlin oder auch Heumann-Seckel, Handlexikon zu den Quellen des röm. Rechts (Jena 19079) Vgl. Hey: ThLL 2, 410/15. Th. Mommsen, Röm. Strafrecht (Leipzig 1899) 1613.

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gar unglaubhaft. Andrerseits jedoch ist es unerlaubt, den catullischen Ausdruck so stark zu verwässern, wie Fordyce dies tut. Er hält die Wendung für eine "vage Phrase" und übersetzt: "universal verdict". Gewiß ist Catull kein Jurist: aber wenn er davon spricht, Cominius werde populi arbitrio umkommen, so muß er sich doch - vom weiteren Verlauf des Gedichtchens abgesehen! - irgendeine konkrete Vorstellung gemacht haben9. Dies tat er auch, und was er meinte, liegt ja geradezu auf der Hand: populus bezeichnet einfach die Volksmenge wie etwa c. 15, 6 oder 95 b, 2, der ganze Ausdruck die Willkür der Menge: vgl. z.B. Cie. Lael. 41 multitudinis arbitrio res maximas agi. Nur erfordert es der Zusammenhang hier, an eine bestimmte Aktion der Menge zu denken, an einen Willkürakt (p. arbitrio interireiy0. Diesem Erfordernis trug bislang einzig Kroll Rechnung - im Prinzip richtig, im Konkreten freilich falsch: "C. malt sich aus, daß Cominius etwa gesteinigt wird, was als volkstümliche Strafe auch in Rom vorkam". Richtig daran ist die Einsicht, Catull habe einen bestimmten Akt der Volksjustiz im Auge, unhaltbar dagegen die Vermutung, die Steinigung könne gemeint sein; denn darauf deutet im Folgenden nichts. Hier berühren wir ein weiteres Manko der üblichen Interpretation. Sie raubt dem Gedicht die Anschaulichkeit, indem sie es in zweierlei oder - wie Kroll - gar in dreierlei Szenen auflöst. Alle Erklärer sind der Auffassung, im Schlußdistichon | sei einfach nur die Verweigerung des Grabrechts für Cominius ausgedrückt: sein Leichnam bleibe unbeerdigt liegen, den Tieren zum Fraß. Das Motiv ist uralt, begegnet häufig und liegt überdies einer Passage in Ovids Ibis (165/72) zugrunde, die man als besonders enge Parallele zu unserem Catullepigramm zu zitieren pflegt. Hier gilt es nun freilich, die vermeintlichen 'Parallelen' klar zu scheiden, soll nicht durch unkritische Häufung des Materials das Eigentümliche der von Catull entworfenen Situation zugedeckt werden! Insbesondere die Schilderung im Ibisgedicht ist fernzuhalten, weil sie sachlich auf einer anderen Basis ruht und demzufolge von einer verschiedenartigen Anschauung ausgeht11. Und überhaupt: daß Leichen sonst einfach

9 Das heißt: der beliebte 'quasijuristische' Gebrauch des Worts (latiore sensu: ThLL 2, 410f.) enthebt nicht der Notwendigkeit, den Ausdruck auf seinen jeweiligen sachlichen Gehalt zu befragen, besonders dann nicht, wenn es sich um eine singuläre Junktur handelt wie in diesem Fall. 10 Wohl zu scheiden davon sind gewisse gesetzliche Exekutionsformen, deren moderne Bezeichnungen irreführen könnten: die sog. 'populäre Exekution', d.h. die Achtung, und die 'Volksfesthinrichtung', etwa bei der Tierhetze. Ihnen geht ein Urteil voraus; vgl. Mommsen, Strafrecht 925/28. 934". 11 Der Henker schleift die Leiche unter Beifall des Volks an einem Haken fort: sie bleibt

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unbeerdigt liegen bleiben oder Raben Toten die Augen aushacken, dies sind verwandte Vorstellungen, die jedoch das catullische Bild nicht scharf wiedergeben. Denn jene zunehmende Verknappung der Ausdrucksweise bei Catull, die, wie wir sahen, in der Gesamtanlage des Epigramms gründet, darf nicht dazu verleiten, die beiden Schlußverse aus ihrem engen Zusammenhang mit dem Voraufgehenden zu lösen: sie führen die in V. 4 begonnene Schilderung fort, beruhen auf der gleichen Anschauung, malen dieselbe Szene - schon die in V. 4 einsetzende und bis zum Ende fortgeführte Variation der Tiernamen beweist es12. Es ist nicht so, als würde nur die Zunge von der aufgebrachten Menge herausgeschnitten, dann der Leichnam (?) liegen gelassen: der ganze Leib wird vom Mob z e r s t ü c k e l t , die einzelnen Körperteile werden den verschiedenen | Tieren zum Fraß vorgeworfen! Wie zu ergänzen ist: lingua execta sc. a populo, so auch: oculos effossos sc. a populo. Allein der Kommentator Ellis hat einst diese Auffassung ernsthaft erwogen, sie jedoch ohne hinreichenden Grund wieder fallen lassen13. Was zu Gedichtbeginn durchpopuli arbitrio angekündigt wird, führen die Verse 3/6 aus. Dabei werden eigentlich getrennte, doch zur selben Aktion gehörige Vorgänge (divellere corpus et spargere: vgl. die unten zitierten Stellen aus Vergil und Seneca) so zusammengezogen, daß die beiden Kola des Schlußverses nur noch einen Teil des Gesamtbildes ausdrücken. Doch erhellt eben der Sinn durch den engen Zusammenschluß des Ganzen. Nur so verstanden gewinnt die Darstellung bei aller Knappheit Kraft und - freilich grausige - Anschaulichkeit.

unbeerdigt, wird von Geiern, Hunden und Wölfen vertilgt. Derlei passiert nicht populi arbitrio! Der hier geschilderte Vorgang folgte in Rom auf die Hinrichtung im Kerker, die natürlich ein Urteil voraussetzte: vgl. dazu Mommsen, Strafrecht 988. Die wohl beste Parallele bietet Juv. sat. 10, 66/89 (vgl. Mayor zu V. 66). Auch bei Juvenal begleitet das Volk das Ereignis mit Beifall: Seianus ducitur unco Spectandus, gaudent omnes (66f.). Aber ein Willkürakt des Volks liegt hier ebenso wenig vor wie bei anderen Exekutionsformen, welche eine Verweigerung des Grabrechts nach sich zogen, etwa bei der Kreuzigung (vgl. Mommsen a.O.) Schon aus diesem Grunde kann V. 5 nicht die Anschauung wiedergeben, wie sie bei Horaz epist. I 16, 48 (non pasces in cruce corvos) u.ö. vorliegt. 12 Auch die Zeitfolge, d.h. die Gleichzeitigkeit im Bedingungsgefüge (si ... intereat, sit data... voret) verdient immerhin Erwähnung, wenn man auch darauf nicht entscheidenden Wert wird legen dürfen. Zum Ersatz der periphrastischen Form des Konj. Fut. durch den Konj. Praes. bzw. Konj. Perf. vgl. Leumann-Hofmann-Szantyr 2, 550, wo gerade Catull 108 besprochen ist. 13 Vgl. R. Ellis (Kommentar: Oxford 18892) 488 z.St.: "It is not easy to decide whether Effossos refers like voret to the raven, or is the preliminary punishment inflicted by m e n . . . . But the two lines together (5. 6) suggest a single picture ..." - und deswegen entscheidet er sich für die erste Möglichkeit. Indes hätte gerade dieser Gesichtspunkt den umgekehrten Schluß nahelegen müssen: denn V. 4 drückt ja einen doppelten Vorgang aus, und so liegt es gerade im Sinne der Einheitlichkeit des Bildes, b e i d e Vorgänge im folgenden fortgesetzt zu sehen.

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Die geschilderte Szene konnte dem antiken Leser Catulls schon deshalb nicht undeutlich bleiben, weil die Sache - der Tod durch Zerstückelung durchaus in seinem Vorstellungsbereich lag. Einer der Freunde Catulls endete so: auf die Nachricht von Caesars Tod hin zog die wütende Menge durch Rom, um die Mörder in Stücke zu reißen; sie stießen auf C. Helvius Cinna, den sie mit Cornelius Cinna verwechselten: ώρμησαν εύθύς και διέσπασαν έν μέσω τον ανθρωπον (Plut. Caes. 68, dazu Brut. 20, 8ff.; Val. Max. IX 9, 1: populi manibus discerptus est). Zu Catulls Zeit dürfte der Fall des Sempronius Asellio, auf den noch Seneca anspielt (de ira I 2, 2; ausführlicher Val. Max. IX 7,4), in frischem Gedächtnis gewesen sein, ebenso der des M. Baebius (Floras II 9, 26; Lucan II 118/21): Asellio hatte sich als Praetor i.J. 89 der Sache der Schuldner angenommen und wurde darob von der Menge der Gläubiger, die der Volkstribun L. Cassius aufgehetzt hatte, nahe beim Forum zerstückelt (Val. Max.: praetextatum discerpserunt); den Baebius traf das gleiche Schicksal zwei Jahre später beim Einzug des Marius in Rom. Nur knapp entging L. Vettius, der es gewagt hatte, Caesar der Teilnahme an der catilinarischen Verschwörung zu beschuldigen, dem Tod auf dem Forum: Suet. Iul. 17, 2 | {Caesar Vettium)pro rostris in contionepaene discerptum coniecit in carcerem. In den politisch bewegten Jahren, die Catulls Leben füllten, mögen sich derart turbulente Vorkommnisse öfter ereignet haben, als wir dies im einzelnen nachweisen können. Wenn wir Livius XLV 38, 2 beim Worte nehmen, so hätte einst M. Servilius vor der Volksversammlung zu solchem Gewaltakt aufgerufen: aliquis est Romae praeter Persea, qui triumphari de Macedonibus nolit; et eum non iisdem manibus discerpitis, quibus Macedonas vicistis ? Zur Zeit der Ständekämpfe mag eine Version über das plötzliche Entschwinden des Romulus aufgekommen sein, die der Haß gegen die Patrizier diktiert hat: discerptum regem patrum manibus (Liv. 116, 4). Spuren solcher Volksjustiz führen aber nicht nur in die Vergangenheit zurück, sie lassen sich auch zeitlich weit hinabverfolgen, ja reichen bis in die Spätantike. Als i.J. 20 n.Chr. dem Cn. Calpurnius Piso, der im Verdacht stand, den Germanicus auf Veranlassung des Tiberius vergiftet zu haben, im Senat der Prozeß gemacht wurde, rottete sich das Volk vor der Curie zusammen und gab durch Rufe zu erkennen, was mit dem Angeklagten geschehen würde, falls er ungeschoren davonkäme: non temperaturos manibus, si patrum sententias evasisset (Tac. ann. III 14; vgl. Suet. Cal. 2: paene discerptus a populo sc. Cn. Piso). Zugleich machten sie Miene, die Standbilder Pisos zu zerstückeln (divellebantl), und hätten ihre Absicht auch in die Tat umgesetzt, wären nicht die Statuen auf kaiserlichen Befehl in Sicherheit gebracht worden (Tac. I.e.). Den Standbildern Domitians blieb sol-

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ches Schicksal allerdings nicht erspart. Sie wurden, wie Plinius paneg. 52, 4f. berichtet, nach dem Tode des verhaßten Herrschers zerstückelt, wobei sich die Phantasie der Rachedurstigen ausmalte, sie habe es mit dem noch Lebenden zu tun14 - die Schilderung des Plinius zeigt zugleich, was aus der Sache werden kann, wenn sich ein Rhetor des Themas annimmt. Auch Nero hatte derlei zu befürchten gehabt, weshalb er den Plan aufgab, kurz vor dem drohenden Untergang noch mit einer reumütigen Rede vor das Volk hinzutreten: ne prius quam in forum perveniret discerperetur (Suet. Nero 47, 2). Daß übrigens solche Akte öffentlicher Willkür auch 'organisiert' werden konnten, zeigt Suetons Bericht Cal. 28: aus purer Lust, einen Senatoren auf diese Weise sterben zu sehen | (senatorem discerpi), inszenierte Caligula vor der Curie so etwas wie 'Volksjustiz', um sich darauf am Anblick der verstümmelten Glieder zu weiden. Den Gipfel in der Darstellung des Grausigen einer solchen Tat bietet wohl Claudians Invektive gegen Rufin. Von seinen eigenen Truppen wird der Reichsfeind umstellt. Die Soldaten zerstückeln ihn mit ihren Waffen. Hieran schließt sich eine Detailschilderung des Vorgangs, die - beim Herausreißen der Augen beginnend - mit geradezu anatomischer Genauigkeit das Zerteilen des Leibes verfolgt (in Ruf. II 407/17). Der Kenner der griechischen Mythologie versäumt auch nicht, zu guter Letzt den Vergleich mit dem Schicksal des Pentheus und des Aktaion zu ziehen (418/20)15. Alle sog. 'Volksjustiz' gehört nicht zum geltenden Recht Roms. Gewisse ihr allein eigentümliche Formen sind deshalb in unseren Darstellungen des römischen Rechts, insbesondere in Mommsens "Strafrecht", nicht behandelt, ja nicht einmal erwähnt16. Doch der Philologe, der es mit der ganzen Vielfalt der antiken Texte zu tun hat, sieht sich, anders als der Jurist, gelegentlich sehr

14 Daß sich Volkswut statt an die Person an die Sache hält, ist nichts Unerhörtes: vgl. auch Joh. Chrys. hom. ad pop. Antioch. 21, 3 (PG 49, 216) über die Steinigung der Bildnisse Konstantins. 15 Andere Fälle aus dem Osten des Reichs erwähnt Ammian, darunter den des Statthalters Theophilus, den das hungernde Volk von Antiochien zur Zeit des Constantius Gallus zerstückelte (XIV 7, 6; vgl. XV 13, 2; ferner: XIV 10, 2; XV 3, 1). Die lateinischen Berichterstatter mögen freilich hier und da vertraute Farben auftragen. Nachweisbar ist dies in Rufins Übersetzung der Kirchengeschichte Eusebs. Von Origenes heißt es dort (h.e. VI 4, 1: GCS 9/2, 531):

discerpere eumpaene et interficere vulgus inruerat, nisi... efurentum manibusfiiisset ereptus dem entspricht bei Eusebius nur σμικρού δεΐν ... υπό των αύτοΰ πολιτών άνήρητο. Bezeichnend auch ebd. VI 41, 4 (a.Ο. 601), wo Rufin, die Steinigung durch das Volk unterdrückend,

discerpunt einsetzt! 16 Von der 'Volksjustiz* wohl zu scheiden ist der moderne Begriff des 'Vulgarrechts'. Denn das Vulgarrecht, dessen gegenständlichen Bereich in der Hauptsache das Privatrecht bildet, setzt immer einen stofflichen Bezug zum klassischen Recht voraus; vgl. M. Käser, Art. Vulgarrecht: PW 9 A 2 (1967) 1283/1304, bes. 1291.

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wohl veranlaßt, auf derlei Erscheinungen zu achten. Eben dieser Umstand rief auch Useners oben erwähnte Abhandlung hervor: Usener wollte ein Stück aus dem von Mommsen ausgesparten Felde bearbeiten. Er beschränkte sich dabei ausdrücklich auf die Strafe der Vernichtung des Leumunds: sämtliche Formen der 'exekutiven Volksjustiz', der sog. L y n c h j u s t i z , Schloß er aus, doch nicht ohne gleichzeitig anzudeuten, daß die Antike solcherlei Gewalttaten sehr wohl gekannt habe. Als Beispiele nannte er (a.O. 3571) gewisse Fälle vollzogener bzw. angedrohter Verbrennung verhaßter Personen | durch das Volk. Aber nur eine Form volkstümlicher Strafe, die Steinigung, vermögen wir dank Hirzeis bekannter Untersuchung vollständig - soweit es die Quellen gestatten - zu überblicken; sie ist übrigens bei den Griechen mehr gewesen als bloße Lynchjustiz, hat überhaupt dort eine größere Rolle gespielt als bei den Römern17. Anderes liegt dagegen noch im Dunkeln, so eben die discerptio™. Daß sie nach antiker Anschauung tatsächlich einen bestimmten Akt der Volksjustiz darstellte, bezeugen außer den schon beigebrachten Stellen auch noch andere, mehr 'literarische' Erwähnungen der Sache. In einer der pseudoquintilianischen Declamationen (12, 1), die gegen einen Mann gerichtet ist, der von der hungernden Vaterstadt um Brot ausgeschickt zu spät heimkam, so daß seine Mitbürger die eigenen Toten verzehren mußten, ruft der Ankläger: non publicis manibus exeuntem discerpsimus ? Dido, der Flotte des treulosen Aeneas nachblickend, stellt sich in rasendem Schmerz eine ähnliche Frage (Verg. Aen. IV 600f.): non potui abreptum divellere corpus et undis Spargere

17 Denn bei jenen war sie nicht bloß ein tumultuarisches Verfahren, sondern eine politisch wie religiös anerkannte Strafe. Nur noch wenige Spuren deuten darauf, daß sie dies einst auch bei den Römern war: R. Hirzel, Die Strafe der Steinigung: Abhandl. der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wiss., Philol.-histor. Kl. 27/7 (1909 [ Nachdr.: Darmstadt 196η) 223/66. Ebd. 258f. über die Steinigung bei den Römern. 18 Sicher belegt ist das Substantiv erst spät (vgl. ThLL 5/1, 1309, 66ff.), z.B. Ruf. Euseb. h.e. ΠΙ 36, 9: GCS 9/1, 279 (doch hier von der Folter: discerptiones membrorum - συγκοπαΐ μελών!). Aber das Verbum discerpere bildete offenbar die übliche Bezeichnung dieses Akts der Volksjustiz (der nützliche Artikel im Thesaurus 5/1, 1308f. [Graeber] ist mit strenger Blickrichtung auf die Sache auszuwerten!). Seltener begegnen divellere, lancinare, laniare, dilacerare. Der beliebte Zusatz manibus sc. discerpere, lancinare o. dgl. macht klar, daß man gewöhnlich mit bloßer Hand zupackte (vgl. bes. Floras an der oben S.25 [261] genannten Stelle [II 9, 26]: Baebium sine ferro rituferarum inter manus lantinatum). Aber es wäre gewiß unrealistisch, wollte man jeglichen Werkzeuggebrauch bei einem dermaßen tumulthaften Vorgang ausschließen: die von Caligula bestellten Senatsmitglieder (Suet. Cal. 28, vgl. oben S. 26 [262f.]) durchbohren den Unglücklichen beim Betreten der Curie zuerst mit ihren Griffeln, dann erst überlassen sie ihn den anderen zur Zerstückelung; die Soldaten Rufins nehmen natürlich zunächst ihre Waffen (407f.: laniant hastis artusque trementes Dilacerant), greifen dann aber offenbar auch mit den Händen zu (vgl. vellunt, rapuere, quatit). Daß die Statuen Domitians mit Schwert und Beil zerstückelt werden, erklärt sich aus der Sache.

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... eqs.? Mag auch vielleicht Vergil die unmittelbare Anregung zu diesem Bilde aus der Mythologie empfangen | haben19, den Zusammenhang mit der Ebene volkstümlicher Justiz wird man kaum gänzlich ausschließen dürfen. Deutlicher zu spüren ist er an der Parallelstelle Aen. III 604/06: der Grieche Achaemenides, den die Trojaner an der Küste der Cyclopen vorfinden, bekennt, Ilions 'Penaten' bekriegt zu haben, obgleich er weiß, wie dies auf die Heimatlosen wirken muß: pro quo, si sceleris tanta est iniuria nostri, Spargite me in fluctus ... Sipereo, hominum manibus (!)periisse iuvabit. Hierher zu ziehen ist wohl auch ein Vers in Senecas Phoenissen. Iocasta, die sich als Mutter des feindlichen Brüderpaars vor dem Volke schuldig fühlt, fordert Feinde und Mitbürger auf (448): haec membra passim spargite ac divellite! Instruktiv sind die zuletzt genannten Stellen, weil sie zeigen, wie jene volkstümliche Vorstellung gelegentlich auch in der hohen Literatur hervorbrechen kann. Von Lucan und Claudian, die sich aber auf historische Ereignisse beziehen, war schon die Rede. Es ließen sich vielleicht noch mehr Fälle beibringen, doch wird man danach suchen müssen; denn unsere Kommentatoren besitzen bislang keinen Blick für das Typische solcher Szenen20. Darüberhinaus gilt es stets zu bedenken, daß | die wenigen Akte tatsächlich vollzogener Lynchjustiz, von denen wir Kunde erhalten, nicht unbedingt ein zuverlässiges Richtmaß für die Lebendigkeit der Vorstellung als solcher abgeben.

19 Daß freilich der Dido hier, wo es um Aeneas geht (von Ascanius ist erst danach die Rede!), ausgerechnet der kleine Bruder der Medea, Apsyrtos, einfallen soll, halte ich für eine wenig glücldiche Kombination der Kommentatoren (vgl. Pease im Kommentar zu Aen. IV p. 480, dessen Material überhaupt kritisch zu sichten ist). Da wäre es schon probabler, wenn sie sich wie eine der thrakischen Frauen fühlte, die den Orpheus, weil er sie verschmähte, in bacchantischer Raserei zerstückelten; vgl. Verg. georg. IV 520/22. Der Gedanke mag aber auch einfach der sein, daß Dido die Macht hatte, den Fremdling, der sich inmitten ihres Volks befand, zerreißen zu lassen. Man wird wohl die Vorstellungen nicht scharf trennen dürfen. Interessant in diesem Zusammenhang auch Liv. XXXIX 13, 5: die Freigelassene Hispala zögert, über die Vorgänge bei den Bacchanalien auszusagen, aus Furcht vor den Göttern, mehr noch vor den Menschen, qui se indicem manibus suis discerpturi essent. Das Schicksal des Pentheus oder anderer Feinde des Dionysos, vielleicht aber auch jene Form der Lynchjustiz schlechthin mochten ihr vor Augen schweben. 20 Nicht einmal die besonders ausgeprägte Situation in Claudians Invektive gegen Rufin ist richtig erkannt und beurteilt. Im neuen Kommentar zu diesem Gedicht von H.L. Levy (Philological Monographs of the American Philological Association Nr. 30 [1971] 203) wird die Zerstückelung für eine "episches Thema" erklärt, gemeint sind aber, wie der Hinweis auf die Arbeit von P.-J. Miniconi (Etude des thfcmes "guerriers" de la poesie epique gr6co-romaine [Paris 1951] 126/29. 172) beweist, nur schlechthin grausame Schilderungen des nachklassischen Epos. Infolgedessen bieten auch die von Levy angeführten 'Parallelen', soweit sie sich ohnehin nicht bloß auf sprachliche Erscheinungen beziehen, außer Lucan 2, 119/21 nichts Passendes. Fernzuhalten sind schließlich auch alle Folterberichte, z.B. die der christlichen Martyrologien, weil sie die Situation nicht treffen.

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Besondere Beachtung verdient eine Bemerkung in der Lobrede des Pacatus auf Kaiser Theodosius (paneg. 2 [12], 44, 1). Der Panegyriker ist bemüht, die überaus große Milde des Kaisers gegenüber dem Usurpator Maximus ins rechte Licht zu rücken. Bei der Vernehmung habe Maximus sofort gestanden, die ihm ergebenen Truppen getäuscht zu haben: et post hatte tu vocem non ilium in crucem tolli, non culleo insui, non discerpi in frusta iussisti? non postremo illam tanti ream mendacii linguam radicitus erui praeeepisti ... eqs.? Bisher lernten wir die Zerstückelung nur als eine Art der Lynchjustiz kennen; hier erscheint sie neben alten Formen der gesetzesmäßigen Exekution, neben Säckung und Kreuzigung21. Weiterhin erweckt der Redner den Eindruck, jede dieser drei Exekutionsformen wäre eine angemessene Strafe gewesen, die der Kaiser eigentlich sogleich hätte verhängen sollen. Daß allerdings die Zerstückelung damals wirklich eine anerkannte Form der Hinrichtung darstellte, wird man aus dieser Stelle kaum folgern wollen. Vielmehr dürfte der Rhetor einfach nur verschiedene Formen verschärfter Todesstrafe zusammengestellt haben, darunter jenen bekannten Akt der Volksjustiz22. Auch die hinzugesetzte talionsähnliche Strafe am hauptschuldigen Gliede spricht dafür. Lehrreich immerhin, daß discerpi in frusta offenbar eine so feste Vorstellung war, daß der Begriff selbständig neben jene anderen beiden treten konnte! Ähnliches lehrt ein Bericht aus ganz anderer Zeit, der außerrömische Verhältnisse betrifft. Curtius Rufus erzählt (VI 11, 8), auf die Kunde von der Conspiration des Philotas gegen Alexander hin habe die ganze Heeresversammlung wütend den Tod des Verräters durch Zerstückelung gefordert (discerpendum esse parricidam manibus eorum). Philotas seinerseits habe das sogar mit einer gewissen Beruhigung vernommen, | da er schlimmere Strafen (graviora supplicia) befürchtete; schließlich jedoch sei die Meinung geteilt gewesen, ob man ihn nach makedonischer Sitte steinigen oder durch Folterung zum Geständnis zwingen sollte. Also auch dieser declamatorische Bericht aus flavischer Zeit erweckt durchaus den Eindruck, daß man die Zerstückelung als besondere Exekutionsform ansah. Zugleich kommt darin auch der ihr eigene tumultuarische Charakter gut zum Ausdruck: die erboste Versammlung schreit zu allererst nach dieser Strafe. Kehren wir zu unserem Catullepigramm zurück! Catull hat den Vorgang der discerptio künstlerisch gestaltet. Dazu gehörte, daß er nicht nur die

21 Über diese Mommsen, Strafrecht 918/23. 22 Immerhin hat der Kaiser Pescennius Niger tatsächlich einmal eine rechtlich nicht anerkannte, volkstümliche Exekutionsform, die Steinigung, anbefohlen, wenn auch nur den nichtrömischen Hilfstruppen (Ael. Spart., Pesc. Niger 3; vgl. Hirzel a.O. 259).

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einzelnen Körperteile aufzählte, sondern zugleich das Bild durch die Erwähnung der verschiedenen Tiere bereicherte. Er verfolgt gewissermaßen die Vernichtung bis zu ihrem äußersten Ende. Zugleich bot sich ihm so die Möglichkeit, durch zusätzliche Variation im Detail seiner Aussage noch mehr den Charakter einer 'Berechnung' der einzelnen Faktoren des Strafvollzugs zu verleihen. Dem antiken Leser Catulls wird darum die Situation nicht weniger klar gewesen sein. Der moderne mag sich dagegen durch die breitere Darstellung einer solchen Szene bei Prudentius in seinem Verständnis des Catullgedichts gefördert fühlen. Prudentius schildert in der Psychomachie (705/17), wie das verhaßte Laster der Discordia, die soeben einen heimtückischen Anschlag verübte, vom Heer der personifizierten Tugenden umringt und gezwungen wird, sich zu erkennen zu geben. Ihre Antwort enthält eine Gotteslästerung, so daß Fides zuerst die Zunge (!) der Häresie mit ihrer Lanze durchbohrt. Dann pakken alle zu (719/25): carpitur innumeris feralis bestia dextris; frustatim sibi quisque rapit, quod spargat in auras, quod canibus donet, corvis quod edacibus ultro offerat, inmundis caeno exhalante cloacis quod trudat, monstris quod mandet habere marinis. discissumfoedis animalibus omne cadaver dividitur, ruptis Heresis pent horrida membris. Diese Verse bieten die beste Erklärung des catullischen Epigramms. Der andere Zusammenhang bei dem poeta christianus darf nicht über die Ähnlichkeit der Situation hinwegtäuschen: auch hier handelt es sich um eine Darstellung jener volkstümlichen Exekutionsform, und auch diese Passage gewinnt erst | durch die Erkenntnis ihres Zusammenhangs mit der Volksjustiz die rechte Lebendigkeit und Wirklichkeitsnähe23. Wie Catull hat auch Prudentius die Szene dadurch noch bunter gestaltet, daß er das Verteilen der zerstückelten Glieder an die "häßlichen Tiere" (und noch anderes: in auras ... cloacisl) mit ins Bild

23 In diesem Sinne sind meine Ausführungen: Studien zur Psychomachie des Prudentius ( = Klass. Philol. Studien 27 [Wiesbaden 1963]) 72f. zu ergänzen. Auch manche der dort genannten Kirchenväterstellen, die das Zerstückeln des Leibes Christi durch die Häretiker anschaulich vorführen, setzen vielleicht den bekannten Akt der Lynchjustiz voraus, bes. Cypr. de unitate eccl. 23: (corpus unum) divulsis laceratione visceribus in frusta discerpi vgl. dazu die oben S. 29 [266] genannte Stelle im Panegyricus des Pacatus. Doch mögen hier auch Folterberichte einwirken.

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hineinnahm. Prudentius dürfte jedoch kaum von Catull abhängen: er hat wohl nur eine Todesart, die er aus spezifischen Gründen des allegorischen Epos brauchen konnte, aufgegriffen und breit ausgeführt. Wie dem auch immer sei: es kommt im Grunde nicht viel darauf an, ob Prudentius das Catullgedicht vor Augen hatte - wie vielleicht Antonio Salvatore anzunehmen geneigt wäre24 oder ob er nur dieselbe Situation als geschickter Stilist mit ähnlichen Farben, aber im übrigen frei, ausstattete - wie ich glauben möchte. Denn in diesem Fall zeigt er, wie Catull richtig zu verstehen ist, in jenem, daß er ihn richtig verstand! Die beigefügte Abbildung, ein mittelalterliches Mosaik aus Pavia (Tafel I), mag unsere Anschauungskraft stützen25, wenn auch vielleicht mancher solche gelehrte Hilfestellung lächelnd ablehnen wird: Tennessee Williams mutet seinem Publikum gegen Ende von "Suddenly last summer" eine ähnliche Szene mit noch makabrerem Ausgang zu26. | Fassen wir zusammen! Der Gewinn für die Würdigung des catullischen Gedichts, der sich aus dem Vorstehenden ergibt, ist ein doppelter: die Darstellung erhält einmal, wie schon des öfteren hervorgehoben wurde, szenische Einheitlichkeit, Lebendigkeit; zum anderen tritt erst jetzt - bei voller Anschaulichkeit des wilden, grausigen Akts - der Kontrast zur kühl rechnenden Formulierung, die Catull für diese Verwünschung wählte, in seiner ganzen Schärfe hervor. Das Epigramm bietet eben weit mehr als "a commonplace vituperation" (Fordyce).

24 Vgl. A. Salvatore, Studi Prudenziani (Napoli o.J.) 25/31 über vermeintliche CatullReminiszenzen. 25 Es handelt sich um ein Fußbodenmosaik aus S. Maria del Popolo zu Pavia (11./12. Jh.), jetzt im Museo Civico. Der Bildstreifen zeigt - von rechts nach links fortschreitend - zunächst die Discordia, vom Lanzenstoß der Fides niedergestreckt (diese selbst ist nicht mehr erhalten), dann die Szene der Zerstückelung: zwei Gestalten repräsentieren die Menge des Tugendvolks, außer Wolf und Rabe gehört vielleicht auch noch der Fisch mit dem grimmigen Gebiß unterhalb des Bildstreifens zur Gesamtszene (vgl. monstris ... marinis im Text V. 723). 26 "When we got back to where my Cousin Sebastian had disappeared in the flock of featherless little black sparrows, he - he was lying naked as they had been naked against a white wall, and this you won't believe, nobody has believed it, nobody could believe it ... They had devoured parts of him. Torn or cut parts of him away with their hands or knives or maybe those jagged tin cans they made music with ..." (zitiert nach der Ausgabe in den Penguin Plays PI. 82, p. 158f.).

IV. INTERPRETATION FRÜHCHRISTLICHER LITERATUR * Dargestellt am Beispiel des Prudentius

GRUNDLAGEN

Diakritische Interpretation Wenn ich die Aufmerksamkeit auf ein Thema aus der christlichen Literatur der Spätantike lenke, so tue ich dies in der Überzeugung, daß jener Bereich auch für die Ausbildung unserer Schüler und Studenten einen besonderen Wert besitzt. Ein bestimmtes Programm, eine neue Theorie für den Unterricht aufzustellen, liegt mir freilich fern. Auch wage ich es nicht, festumrissene Aussagen über die praktische Durchführbarkeit meiner Anregungen zu machen - besonders nicht im Hinblick auf die Schule, deren Verhältnisse andere weitaus besser beurteilen können als ich. Andrerseits steht für mich fest, daß wir als Lehrer und Erzieher Dinge hohen Werts aus dem von uns vertretenen Kulturgebiet nicht aus dem Auge verlieren dürfen, nur weil es schwierig ist, sie im schulischen oder akademischen Unterricht weiterzugeben, und gewiß noch viel verkehrter wäre es, wollte man aus der Not eine Tugend machen, das heißt: für gut und vorteilhaft erklären, was uns die Verhältnisse aufzwingen. Was nun gerade die christliche Spätantike betrifft, so sind es allerdings gar nicht die modernen Verhältnisse, die dazu geführt haben, daß dieses Gebiet in der Ausbildung unserer Schüler weit hintan steht. Allenfalls läßt sich sagen, daß die praktischen Gegebenheiten - die Struktur von Schule und Universität, die Lehr- und Studienpläne - heute einer Einführung dieses Gebiets in den Unterricht ärgere Hindernisse in den Weg legen denn je zuvor. Aber verursacht haben sie dessen Vernachlässigung nicht. Die Wurzeln reichen, wie wir alle wissen, viel weiter zurück. Als ich kürzlich vor dem Gebäude des

* Impulse für die lateinische Lektüre. Von Terenz bis Thomas Morus. Herausgegeben von Heinrich Krefeld, Frankfurt am Main 1979, 138/80. Die folgenden Ausführungen wurden teilweise am 29.9.1977 anläßlich der Fortbildungstagung des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen im DAV in Mülheim/Ruhr vorgetragen. Die Abhandlung in der vorliegenden Form widme

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Gymnasiums stand, in dem ich die ersten Klassen besuchte, betrachtete ich die wohlbekannten Namen antiker Geistesgrößen, die den Hauptbau der Schule auf den drei vom Schulhof umschlossenen Seiten zieren1. Hochoben an den Wänden, auf steinerne Tafeln gemeißelt, sind die folgenden Namen zu lesen: HOMERUS PINDARUS · SOPHOKLES - THUKYDIDES · DEMOSTHENES · P L A T O • ARISTOTELES · CICERO - HORATIUS · VERGILIUS • TACITUS. Auf viele Generationen junger Gymnasiasten haben diese strengen Tafeln mahnend herabgeblickt, und man kann nicht sagen, daß die Verfasser eine schlechte Auswahl trafen. Es wäre unbillig, wollte man das Weglassen dieses oder jenes Namens bemängeln. Jeder von uns hätte gewiß eine Reihe von Namen vorzuschlagen, die er gerne in gleicher Weise geehrt sehen würde. Was mir auffiel, war etwas anderes, etwas Allgemeineres: es fehlt in der Namenskette überhaupt irgendein Vertreter christlichen Geists aus der Antike, es fehlt etwa der eine Name "Augustinus", der allein genügt hätte, die Notwendigkeit einer Erweiterung des Schulprogramms in jener Richtung anzudeuten. So aber bezeugen diese Inschriften symbolhaft die traditionelle Ausrichtung der neuhumanistischen Bildung auf die Klassiker der vorchristlichen Antike. | Ich habe behauptet, die Beschäftigung mit der frühchristlichen Literatur besitze für unsere Schüler einen besonderen Wert. Zur Begründung könnte ich mancherlei anfuhren: etwa die Qualität vieler literarischer und denkerischer Leistungen schlechthin oder ihre Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte. Aber alle diese wohlbekannten Gesichtspunkte will ich hier hintansetzen und stattdessen nur einen Vorteil hervorkehren: den der Erziehung zur diakritischen Interpretation. Ich sage: 'diakritische' Interpretation, nicht 'kritische', um dem Mißverständnis vorzubeugen, als sei es mir um eine Form der modernen Literaturkritik zu tun2. Die Sache, um die es mir geht, ist vielleicht nicht einfacher, aber jedenfalls elementarer. Mit der diakritischen Interpretation meine ich eine bestimmte Unterscheidungsfähigkeit im geistigen Bereich: die Fähigkeit zu sehen, daß Worte, Sätze, Gedanken, Gedankenverbindungen - wie übrigens auch Elemente der bildenden Kunst - mit äußerlich geringfügi-

ich Paul Hacker zum 65. Geburtstag am 6.1.1978. Sie verdankt dem Gedankenaustausch mit ihm mehr, als die einzelnen Hinweise zu erkennen geben. ι Ich spreche von dem Franz Ludwig-Gymnasium in Bamberg, dem ehemals "Neuen Gymnasium". Es wurde i.J. 1890 gegründet zur Entlastung des - fortan so genannten - "Alten Gymnasiums", dessen Tradition es fortfiihrte (vgl. den Bericht über die Gründungsfeier in der Festschrift: "50 Jahre Neues Gymnasium Bamberg ...", Bamberg 1940, 21/23). Die Inschriften an diesem Gebäude repräsentieren also den Geist der humanistischen Bildung des ganzen 19. Jhs. 2 Denn "kritisches Interpretieren" meint dort etwas anderes. Vgl. etwa N . Mecklenburg, Kritisches Interpretieren. Untersuchungen zur Theorie der literarischen Wertung und Literaturkritik, München: Nymphenburger Verlagshandlung 21976.

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gen Änderungen oder gar äußerlich unverändert übernommen werden können und doch, in einen anderen Zusammenhang gestellt, einen ganz anderen, neuen Sinn erhalten können. Ich will nicht leugnen, daß sich diese Fähigkeit, deren Besitz mir heute wertvoller und notwendiger erscheint denn je3, auch auf anderen Gebieten und anhand anderer Gegenstände einüben läßt, aber kein Gebiet ist dafür so geeignet wie das der christlichen Spätantike. Diese Epoche ist in dieser Hinsicht einzigartig. Denn das Christentum hat unter Nutzung ungezählter Formen- und Gedankenelemente aus allen Bereichen des antiken Geisteslebens eine weit- und tiefreichende Umorientierung der antiken Kultur bewirkt, deren Ergebnisse uns eben in den Werken der frühchristlichen Denker und Künstler vorliegen. In diese Werke einzudringen, vergleichend Antikes neben Christliches haltend, den jeweils unterschiedlichen Aussagewert prüfend: das ist eine hervorragende Schulung jener diakritischen Interpretation, von der eben die Rede war.

Prudentius und Vergil Ich möchte das anhand einiger Prudentiusinterpretationen dartun, die Art und Absicht der Vergilbenutzung in der Psychomachie des Prudentius erhellen sollen. Den äußeren Anlaß dazu bietet mir das Erscheinen eines neuen Prudentiusbuchs, das derselben Thematik nachgeht: Macklin Smith, Prudentius' Psychomachia. A Reexamination (Princeton, New Jersey 1976). Doch zunächst ein paar allgemeine Bemerkungen zu beiden Dichtern! Aurelius Prudentius Clemens wurde i. J. 348 in Spanien geboren, brachte es bis zum Provinzialstatthalter und weiter bis zur Stellung eines hohen Beamten am kaiserlichen Hof. Dann aber, in schon vorgerücktem Alter, erkannte er das Unnütze seines bislang diesseitsgerichteten Strebens und zog sich aus dem Amt zurück: er wollte den Rest seines Lebens darauf verwenden, etwas Nützliches zu leisten, zur Ehre Gottes und zum eigenen Heil. Die Möglichkeit dazu wies

3 Heute, das heißt: im Zeitalter der "semantischen Revolution" (zum Begriff vgl. K. Steinbuch, Ja zur Wirklichkeit, Stuttgart 1975 [Heyne-Buch Nr. 7026: München 1976] 13). Sachlich ist allerdings der verwandelnde Umgang christlicher Denker mit antiken Begriffen nicht vergleichbar: er unterscheidet sich durch die Voraussetzungen und das Ziel grundlegend von dem latenten 'Umfunktionieren' der Sprache, wie es heute auf vielen Gebieten des Geisteslebens geübt wird.

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ihm sein dichterisches Talent. Die Poesie sollte seine Opfergabe sein4. Prudentius gehört also zu jenen gar nicht seltenen Männern, die damals angesichts einer glänzenden Karriere der Welt entsagten. Man erinnere sich nur der Geschichte von den beiden kaiserlichen Beamten zu Trier, die den hl. Augustinus so tief bewegte! Bei einem Spaziergang in der Nähe des Palasts stießen sie auf eine Mönchsklause, fanden darin ein Buch: die Vita des hl. Antonius, lasen und erkannten: Freund Gottes zu sein ist besser, als die Stellung eines amicus imperatoris zu erstreben5. Wir wissen nicht, ob sich Prudentius ebenso wie die beiden Trierer Beamten zu einem klösterlichen Leben entschied6, und auch sonst bleiben die näheren Umstände jener Wende im Dunkeln7, aber seine Dichtung zeugt von dem Ernst seiner Absicht. Alle seine Werke - die lyrischen Tagesgebete und Festlieder, die beiden Lehrgedichte gegen die Häresien, das Streitgedicht Contra Symmachum, die Märtyrerhymnen, das allegorische Epos vom Seelenkampf, die Inschriften zu Szenen des Alten und Neuen Testaments - entsprechen der Aufgabe, die sich der Verfasser gestellt hatte. Zu dieser Aufgabe gehörte es auch, von den besten Dichtern der Antike den besten Gebrauch zu machen, und die Bewältigung dieser Teilaufgabe trug ihm seit Richard Bentley den Ehrennamen Christianorum Maro et Flaccus ein8. |

4 Hauptquellen für das Leben des Prudentius und für seine Auffassung von der Aufgabe der Dichtung sind die Praefatio·. das Eröffnungsgedicht, das er als Sechsundfünfzigjähriger - im Jahr 404 oder 405 - schrieb und den abgeschlossenen Dichtungen voranstellte, sowie der sog. 'Epilogus', in dem man heute meist das Schlußwort zum Gesamtwerk sieht (dazu vgl. unten Anm. 98). Der Versuch, wesentliche Selbstaussagen des Dichters, etwa die über seine Poesie als Opfergabe (epil. Iff.), zu literarischen Klischees ohne neue religiöse Bedeutung herabzuwürdigen, ist von W. Steidle überzeugend zurückgewiesen worden: Die dichterische Konzeption des Prudentius und das Gedicht contra Symmachum: Vigiliae Christianae 25 (1971) 241/81, ebd. 242f. Im Sinne Steidles äußert sich auch P.G. van der Nat, Die Praefatio der Evangelienparaphrase des Iuvencus: Romanitas et Christianitas (Festschrift J.H. Waszink: Amsterdam/ London 1973) 249/57, ebd. 256". 5 Aug. conf. VIII 6, 15. 6 Seine Gedichte erteilen darüber keinen Aufschluß. Entsprechende Mutmaßungen in Ausgaben und Handbüchern ruhen auf einer falschen Interpretation der Verse cath. 2, 45ff. (die richtige vertritt, wenn auch nicht entschieden genug, Michele Pellegrino: A. Prudenzio demente, Inni della Giornata, a cura di M.P., Alba 1954, 209/11). 7 Daß sie überhaupt nur eine literarische Fiktion sei, kann ich trotz der chronologischen Schwierigkeiten, welche die Praefatio aufwirft (vgl. Fuhrmann a.O. [unten Anm. 100] 82f.), nicht recht glauben. Die bewußte Abkehr von der Welt ist jedenfalls der Kern der Selbstaussage: er muß bleiben. Weshalb soll Prudentius' Karriere, wie Fuhrmann vermutet, mit 56 Jahren aus Altersgründen beendet gewesen sein, so daß er sie gar nicht erst abzubrechen brauchte? Als Ausonius sich zurückzog, war er etwa .73 Jahre alt, noch mit ca. 69 Jahren (i.J. 379) bekleidete er das Konsulat. Ausonius hatte seine Ämterlaufbahn unter Gratian in einem Alter begonnen, da Prudentius sich schon fast ein Jahrzehnt zurückgezogen hatte: als Mittsechziger. 8 Bentley in der Horazausgabe, Cambridge 1711, zu Hör. carm. II 2, 15.

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Es ist, wie bereits angedeutet, die Psychomachie, die Prudentius in besonderer Weise mit Vergil verknüpft. Dieses Gedicht, das einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf Kunst und Literatur des Mittelalters ausgeübt hat, besteht aus einer metrisch selbständigen Praefatio in 68 jambischen Trimetern und dem Hauptgedicht in 915 Hexametern . Die Praefatio schildert den Krieg, den Abraham zur Befreiung Lots führte (Gen. 14, 12ff.), und deutet das biblische Geschehen im Sinne des Seelenkampfs. Das Hauptgedicht wird durch einen hymnenartigen Anruf Christi eingeleitet. Hieran schließt sich die farbige Darstellung von sechs bewegten Einzelkämpfen: hehre Frauengestalten, die Tugenden Fides, Pudicitia, Patientia, Mens Humiiis und Spes, Sobrietas, Ratio und Operatio, besiegen an der Spitze ihrer Scharen die entgegengesetzten Laster, böse, dämonische Wesen. Ein siebtes Treffen ereignet sich bei der triumphalen Rückkehr des Tugendheeres, als es der heimtückisch lauernden Discordia (alias Heresis) gelingt, die Concordia leicht zu verletzen. Nachdem auch diese letzte Feindin getötet ist, erbauen die Tugenden einen Tempel aus kostbaren Steinen, in dessen Innern Sapientia thront. Ein Dankgebet steht am Schluß. Das Gedicht birgt bei aller Anschaulichkeit eine eigentümliche Gedankenfülle, weil sich das Geschehen gleichsam in mehreren Dimensionen abspielt, die der Dichter zusammenschaut: zum äußeren Handlungsablauf tritt die doppelte geistige Beziehung sowohl auf den stets sich wiederholenden Kampf jedes einzelnen Menschen als auch auf das große Heilsgeschehen insgesamt, d. h. auf den Sieg der Seele und den Sieg der Kirche9. Vergil ist namentlich in den Kampfschilderungen vielfach gegenwärtig, im Kleinen wie im Großen: in einzelnen Wendungen und Motiven, im Aufbau ganzer Szenen und Reden. Das Material ist in zwei Dissertationen aus den dreißiger Jahren zusammengestellt, die unabhängig voneinander entstanden: einer amerikanischen Dissertation von Brother Albertus Mahoney (Vergil in the Works of Prudentius: Washington 1934) und der bei Friedrich Klingner in Leipzig angefertigten Arbeit von Christian Schwen (Vergil bei Prudentius: Leipzig 1937). So hilfreich diese beiden Arbeiten auch sind, sie lassen die

9 Vgl. dazu meine "Studien zur Psychomachie des Prudentius" (Wiesbaden 1963) = Klassisch-Philologische Studien 27, 27/46; 125/28. Im folgenden zitiere ich sie abgekürzt "Studien". Daß die Psychomachie auch eine eschatologische Dimension besitzt, hebt Steidle a.O. (oben Anm. 4) 262 mit Recht hervor. Diese Dimension wird übrigens nicht nur im Tempelbau am Schluß des Gedichts deutlich, sondern auch in der Schwertweihe der Pudicitia: vgl. bes. V. 107f.

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tieferreichenden Fragen nach Grund und Ziel, teilweise auch die nach Art und Weise der Vergilbenutzung des christlichen Dichters unbeantwortet. Diese Lücke hat unlängst der Amerikaner Macklin Smith gesehen und durch sein vorhin erwähntes Buch zu füllen versucht. Einer der Vorzüge dieses Buchs besteht darin, daß sich der Verfasser immun zeigt gegen eine Modekrankheit der Literaturwissenschaft: gegen den Formalismus der sog. 'Toposforschung'10. Dieses Übel ist längst auch auf die frühchristliche Literatur übertragen worden und wirkt sich hier besonders verheerend aus, weil es die tiefen geistigen Schnittlinien, die Antike und Christentum trennen, mit einem Wust von Formalien überkrustet, so daß nichts mehr sichtbar bleibt als eine durchgehende graue Fläche öder Topoi'. Smith besitzt einen wachen Sinn für die innere Spannung zwischen Antike und Christentum, er nimmt die biblische Fundierung der Psychomachie ernst und erkennt den christlichen Geist des Ganzen. Diese Sicht der Dinge macht ihn auch zum entschiedenen Gegner der These, es sei dem Dichter schlechthin um die ehrfürchtige Bewahrung des Schatzes antiker Kultur bzw. um die "Synthese zwischen der Bibel und Vergil, zwischen seinem Gott und seiner Kultur" zu tun gewesen11. Man hat in diesem Zusammenhang vom "christlichen Humanismus" des Prudentius gesprochen12. Es muß zugegeben werden, daß Smith wesentliche Schwächen dieser Position aufdeckt. Er erkennt treffend, daß die antiken Bildungsgüter für einen Christen wie Prudentius keine Gegenstände darstellen, die ihren Wert in sich selbst tragen und die es etwa verdienten, um ihrer selbst willen erhalten zu werden. Smith (S. 5) urteilt: "It seems to me that no 'synthesis' occurs precisely because the poet cannot conceive his culture apart from his God, that his cultural orientation is exclusively Christian". Solche Sätze sind heutzutage selten und darum geradezu Goldes wert. Leider bringt sich der amerikanische Philologe um die Frucht, die solche Ansätze

10 Vgl. seine Bemerkungen 15f. Hier übt Smith auch Kritik an der Prudentiusdeutung von Charles Witke, Numen litterarum. The Old and the New in Latin Poetry from Constantine to Gregory the Great, Leiden/Köln 1971 = Mittellatein. Studien u. Texte 5, 102/44. Witke legt ebenfalls allen Nachdruck auf das Traditionelle und Konventionelle der Dichtung des Prudentius. Herausfordernd wirken Sätze wie diese (144): "Almost every aspect of his poetry is classical in basis. (...) Prudentius' rather lengthy detailing texts, his relish for grotesque injury in the Peristephanon, and his Christian subjects themselves have put off critical judgement". Wie der christliche Gehalt ein Hindernis rechter Beurteilung christlicher Poesie sein sollte, ist in der Tat nicht einzusehen. 11 So Witke 105 - s. die vorige Anmerkung. 12 Hauptvertreter dieser Prudentiusdeutung ist E.K. Rand, Prudentius and Christian Humanism: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 51 (1920) 71/83 - vgl. Smith 27. Aber diese Auffassung findet sich auch sonst.

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erwarten lassen, weil er auf die unglückliche Idee verfällt, die Vergilbenutzung des Prudentius sei ironisch zu verstehen! So fähren ihn alle Schritte, die er selbst zur Lösung der aufgeworfenen Fragen unternimmt, weit in das entgegengesetzte Extrem der von ihm bekämpften Humanismus-These. Prudentius erscheint | bei Smith als eine Art feingeistiger Ikonokiast: überall, wo er Worte, Versstücke oder Vorstellungen aus der Aeneis übernehme, wolle er Vergil durch den neuen Kontext, in dem das Vergilische auftritt, gleichsam ad absurdum führen. Der christliche Dichter arbeite also nicht an der Bewahrung, sondern im Gegenteil: an der Zerstörung der antiken Kultur. "AntiVergilian irony" lautet das neue Rezept13. Da aber nun einmal Prudentius viele ernste und entscheidende Gedanken so ausdrückt, daß darin zugleich Vergil faßbar wird, muß das neue Rezept notwendig eine Auflösung der ästhetischgeistigen Einheit des Gedichts bewirken. Smith kalkuliert diese Konsequenz sogar ein. Das Nebeneinander, meint er, der ironisch-destruktiven Elemente und des positiven biblischen Gedankenguts erzeuge in der Psychomachie eine "literarische Turbulenz" (22: "literary turbulence"), eine "Schlacht zwischen den Literaturen" (23: "a battle between literatures"). Natürlich ist das alles nichts anderes als eine Gedankenspielerei, die eine ausführliche Widerlegung nicht verdient. Die neue Theorie scheitert, sobald man sie auf den Text anzuwenden versucht. Denn - von anderem einmal abgesehen - es ist unmöglich, die beiden Elemente: das Vergilische und das Biblische, das angeblich Ironische und das Ernstgemeinte, innerhalb des Dichtertextes zu diagnostizieren und zu trennen. Alle Anstrengungen, die Smith in dieser Hinsicht unternimmt, enden in purer Willkür14. Kurzum: es ist dem Verfasser dieses neuen Prudentiusbuchs nicht gelungen, das rechte Mittel zu finden, um mit den erkannten Schwächen der Prudentiusdeutung fertig zu werden. Daß der ausgedehnte Gebrauch Vergils in der Psychomachie etwas anderes sein kann als eine Art kultureller Rettungsaktion, ohne doch irgendwie abgewertet werden zu müssen, sieht Smith nicht. Er sieht nur Weiß und Schwarz: "(...) the Word of God and the words of Satan's followers"15. Die christlichen Denker und Künstler haben sich aber

13 Smith 7. 27. 276, vgl. 20 ("anti-Vergilianism"). Auch von Parodie (5. 281) und Satire (164) ist die Rede. 14 Das zeigt gerade seine Behandlung des ersten Kampfs (psych. 21/39: Smith 282/85), der auch hier S. 61/69 [152/56] als Interpretationsbeispiel gewählt ist. Im übrigen ist das ziemlich umfangreiche Buch von Smith - bezeichnenderweise - relativ arm an konkreten Textinterpretationen. 15 Smith 23: "If the Psychomachia is such a battle between literatures, between the Word of God and the words of Satan's followers ..." etc. Gemeint ist wohlgemerkt nicht etwa der

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die Sache viel weniger einfach gemacht. Ich muß an dieser Stelle weiter ausholen, denn die rechten Grundlagen der Prudentiusinterpretation werden erst in einem größeren Zusammenhang deutlich.

Das christliche Prinzip der Nutzung Der Begriff (χρήσις) Der hl. Paulus predigte auf dem Areopag, daß Gott das ganze Menschengeschlecht aus einem Menschen erschaffen und ihm die Aufgabe gestellt habe, Gott zu suchen, obschon er einem jeden von uns nahe sei. "Denn" - so lautet die wohlbekannte Stelle (Act. 17, 28) - "in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: 'wir sind ja von seinem Geschlechte' (του γαρ και γένος έσμέν)". Der Apostel zitiert hier seinen Landsmann, den Kilikier Aratos aus Soloi, der dem 3. Jahrhundert v. Chr. angehört. Die Worte stammen aus dem Proöm seines Sterngedichts, der Phainomena (V. 5), das im Altertum große Wirkung hatte. Was bedeutet dieses Zitat? Es bedeutet zunächst nicht, daß der Apostel etwa der Ansicht gewesen sei, der griechische Dichter habe die ganze Wahrheit über das Verhältnis der Menschen zu Gott gekannt. Wäre dies seine Auffassung gewesen, so hätte er es kaum für nötig erachtet, vor den Athenern über die Erschaffung des Menschengeschlechts zu predigen. Das Zitat bedeutet auch nicht, daß Paulus sich die Denkrichtung Arats zu eigen machte16. Denn der Zeusanruf zu

Kampf der Tugenden und Laster, sondern eben jener vermeintliche "Kampf der Literaturen"! Dem Verfasser fehlt eine ganze geistige Dimension, und zwar die bei Beurteilung der Verhältnisse entscheidende: die Dimension der christlichen χρησις, worüber im Text oben S. 39ff. [141ff.] gehandelt ist. 16 Entsprechende Mißverständnisse auszuschließen, sah sich schon Hieronymus genötigt. Im Hinblick auf die Zitate aus Arat, Epimenides und Menander bei Paulus - die Stellen s. S. 42 [142] - bemerkt er (in Eph. III 5, 14: PL 26, 558 B): nec tarnen (...) tota quae scripsere sunt sancta, quia eos vere aliquid dixisse testatus est (sc. Paulus). Daß tatsächliche Fehlinterpretationen der paulinischen Dichterzitate den Anlaß solcher Richtigstellungen boten, beweist eine Erörterung im Tituskommentar (in Tit. 1, 12ff.: PL 26, 606/08). Vgl. bes. 608 B: wenn Paulus je einen Vers des Menander, Arat und Epimenides (bzw. Kallimachos) "benützt hat" - ab u s us est: der Begriff uti (abuti) begegnet hier fünfmal dann hat er damit nicht etwa eine ganze Komödie Menanders oder die Werke des Arat und Epimenides in toto gutgeheißen und hat sich infolgedessen auch nicht die Anschauungen der Dichter über Zeus zu eigen gemacht. Wie man sieht, war die Fähigkeit zur diakritischen Interpretation auch in der Antike nicht allgemein verbreitet.

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Beginn der Phainomena ruht auf der Grundlage des stoischen Pantheismus; Paulus hingegen meint ja, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, und insofern gilt der Satz: "wir sind von seinem Geschlecht"17. Das Zitat bedeutet vielmehr, daß Paulus in den Aratversen - oder zumindest in dem zitierten Versstück - ein E l e m e n t der Wahrheit entdeckte18 und dieses Element benutzte, um die Athener zu überzeugen. Dabei erhält das Übernommene einen Sinn, den es im originalen Kontext nicht hatte. Vom christlichen Standpunkt aus geurteilt: es erhält jetzt erst seinen vollen Sinn. | Wenn moderne Gelehrte Phänomene der geschilderten Art in christlichen Texten beobachten, gebrauchen sie meist Begriffe wie 'Adaptation', 'Appropriation', 'Akkommodation', 'Assimilation', 'Transformation', 'Umformung', 'Umdeutung', 'Aneignung', 'interpretatio Christiana' u. dgl. Die Kirchenväter selbst hatten zwar keine ganz feste Terminologie, verwandten aber mit Vorliebe den Ausdruck χρήσις - usus (iustus, bonus) bzw. χρήσθαι - (recte, bene) uti19, und ihnen folgend spreche ich von "Nutzung". Der Ausdruck hat nicht nur den Vorzug der Klarheit und Nüchternheit, er entspricht vollkommen der Theologie, auf der die vielfach geübte Praxis der Väter ruht.

π Vgl. G. Stählin, Die Apostelgeschichte (Göttingen 101962) = Das Neue Testament deutsch, Bd. 5, 236. Ob der Plural: ώς καί τίνες των καθ* υμάς ποιητών είρήκασνν darauf deutet, daß Paulus außer Arats Proöm auch den Zeushymnus des Kleanthes (SVF 1, 537, V. 3ff.) vor Augen hatte, ist umstritten. Interessant, daß auch der Jude Aristobulos (bei Euseb. praep. ev. ΧΠΙ 12, 3ff.: GCS 43, 2, 191ff.) die Aratverse dazu gebrauchte, den jüdischen Gottesglauben zu erklären! Denn hieran knüpft sich die weiterreichende Frage, inwiefern die christliche Nutzung antiken Geistesguts die Praxis des hellenistischen Judentums fortführen konnte (vgl. auch Philo leg. alleg. ΙΠ 4). 18 Justin apol. II 13, 3 sagt über die antiken Philosophen, Dichter (!) und Historiker: έκαστος γάρ τις άπό μέρους τοΰ σπερματικοΰ θείου λόγου τό συγγενές όρων καλώς έφθέγξατο. Hier wird unter christlicher Nutzung der stoischen Lehre vom σπερματικός λόγος theologisch entfaltet, was in der Hl. Schrift (Rom. 1, 19/21; Act. 17, 23/24. 28) über die (verdunkelte) Erkenntnis der Wahrheit durch die Heiden ausgesagt ist. Vgl. hierüber die beiden Aufsätze von Paul Hacker: The Religions of the Nations in the Light of Holy Scripture: Zeitschrift für Missionswiss. und Religionswiss. 1970, 161/85; The Religions of the Gentiles as viewed by Fathers of the Church: ebd. 253/78. 19 Vgl. dazu Hacker, The Religions of the Gentiles, passim, bes. 265f. 268. 270. An der Kernstelle Aug. doctr. ehr. II 40, 60f. treten die Begriffe in solcher Dichte auf, daß sie eine terminologische Färbung erhalten. Man begegnet ihnen aber auch sonst allenthalben, vgl. etwa zu Hieronymus oben Anm. 16 sowie die Stellen aus Prudentius und Paulinus v. Nola S. 44 [143] bzw. 48 [145], Ich bringe hier nur noch zwei Belege aus Augustins Confessionen: Augustin kritisiert den Lernzwang auf der Elementarschule und die falschen Lernziele des Unterrichts (I 9, 14), bereut jedoch gleichzeitig seine kindliche Lernunwilligkeit: poteram enim postea bene uti litteris, quas volebant ut discerem quocumque ammo illi mei (10, 16). Auf seine Jahre als junger Lehrer der Rhetorik in Thagaste und Karthago zurückblickend fragt Augustin nach dem Wert von Bildung und Begabung überhaupt (IV 16, 28/31), und eine seiner Fragen lautet: (...) Quid mihi proderal bona res non utenti bene ? (16, 30).

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Diese Theologie näher zu erläutern, ist hier nicht der Ort. Sie wurde von Justinus Martyr, Clemens v. Alexandrien, Origenes u. a. auf der Grundlage der Hl. Schrift entfaltet20. Die Quintessenz läßt sich kurz und bündig durch ein Zitat aus Augustins Confessionen (V 6, 10) wiedergeben: "(...) niemand außer Dir (außer Gott) ist der Lehrer der Wahrheit, wo immer und von woher auch immer sie aufleuchtet." Weil es nur eine Quelle der Wahrheit gibt, nämlich Gott, gehört alles Wahre (Gute, Schöne) Gott und den Christen als den Verehrern des wahren Gottes21. Es ist ihr Recht und ihre Pflicht, das Wahre (Gute, Schöne), das in den nichtchristlichen Bildungsgütern enthalten ist, "zu benutzen", "richtig zu benutzen". Seit Origenes stützten und erklärten die Väter diese Lehre durch eine allegorische Auslegung des biblischen Berichts über die Schätze der Ägypter, welche die Israeliten beim Auszug auf Geheiß Gottes mitnahmen (Exod. 3, 22; 11, 2; 12, 35f.). Wie die Ägypter von ihrem Goldund Silbergerät und von ihren Gewändern keinen guten Gebrauch machten, so auch nicht die Heiden von ihren Schätzen: deswegen muß der Christ sie fortnehmen und dem rechten Gebrauch zuführen22. Betrachtet man, wie billig und notwendig, die moderne Begrifflichkeit vor diesem Hintergrund, dann erscheint sie zumindest schwächlich, teilweise auch in der Sache schief. Der Ausdruck "interpretatio Christiana" z.B. kann den Eindruck einer gewissen Unredlichkeit erwecken, gleichsam als solle etwas Nichtchristliches durch nachträgliches Herumdeuteln für christlich ausgegeben werden, während doch die Väter nicht aus Heidnischem Christliches

20 Grundlegend hierfür Hackers Aufsatz: The Religions of the Gentiles (oben Anm. 18). 21 Klar und knapp schon Justinus Martyr: δσα ουν παρά πασι καλώς εϊρηται, ήμών των Χριστιανών έστι (apol. II13, 4). 22 Die oft herangezogenen Hauptstellen sind in den rechten Zusammenhang gerückt bei Hacker, The Religions of the Gentiles 265 (zu Orig. epist. ad Greg. 2: PG 11, 89); 270 (zu Aug. doctr. chr. Π 40, 60f.). Was Augustin in dem Alterswerk De doctrina Christiana lehrte, hatte er bereits in seinen frühen Mannesjahren gelebt: seine Bekehrung vollzog sich teilweise durch die rechte χρήσις antiken Geistesguts. Das ganze Kapitel VII 9 der Confessiones bietet ein großes Beispiel für 'gelebte χρήσις': Augustin schildert, wie er gewisse christliche Lehren bei den Neuplatonikern wiederfand, anderes aber, das notwendig zum Christentum gehört, dort vermißte. Die Antithese: ibi legi... non ibi legi wird viermal wiederholt und variiert (vgl. Justin, apol. Π 13, 2: Χριστιανός εύρεθήναι (...) όμολογώ, οϋχ δτι άλλότριά έστι τά Πλάτωνος διδάγματα τοΰ Χριστοΰ, άλλ' ότι ούκ έστι πάντη δμοια). Abschließend stellt er fest, daß sein durch Gottes Gnade gelenkter Umgang mit den neuplatonischen Schriften ganz der Mahnung entsprochen hatte, das 'Gold' der 'Ägypter', das in Wahrheit Gott gehört, 'fortzuschaffen', und er erkennt in seinem Verhalten weiterhin eine Übereinstimmung mit der von Paulus in der Areopagrede vertretenen Einstellung zu den antiken Geistesgütern. Die Stelle ist bedeutsam durch die Kombination der Exodusexegese mit Act. 17, 28.

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machen, sondern bereits bestehende Wahrheiten dorthin stellen wollten, wohin sie gehören und wo jene Wahrheiten reiner erstrahlen als an ihrem früheren Platz! Gegen die übrigen Begriffe, besonders gegen den beliebten Begriff der "Adaptation", lassen sich ähnliche Einwände erheben23. Kurzum: "Nutzung" bleibt das Beste.

Teilaspekte der Sache Der Vorgang der Nutzung umgreift mehrere geistige Teilvorgänge, die eng zusammengehören und sich nur theoretisch sondern lassen. An erster Stelle ist die bewußte kritische A u s w a h l des Nutzbaren zu nennen. Dieses Prinzip tritt besonders klar in den Anweisungen hervor, die christliche Erzieher ihren Schülern über den Umgang mit der antiken Literatur erteilten (siehe den Exkurs). Die christliche Nutzung umschließt aber sehr häufig auch die Eliminierung des Fremden, oder besser gesagt: die R e i n i g u n g 2 4 . Darüber spricht der hl. Hieronymus im 70. Brief. Er verteidigt sich dort gegen Vorwürfe, die ihm daraus entstanden waren, daß er in seine Schriften Beispiele aus der nichtchristlichen Literatur einfügte. Nachdem er darauf hingewiesen hat, daß Paulus dreimal griechische Dichter zitiere - den Kreter Epimenides (Tit. 1, 12), Menander (1 Cor. 15, 33), Arat (Act. 17, 28) - , begründet er dieses Verfahren des Apostels, welches zugleich auch sein eigenes ist, durch eine allegorische Schriftauslegung (epist. 70, 2). Obwohl diese Sätze modernen Ohren recht fremdartig, vielleicht gar anstößig klingen mögen, weil wir an das allegorische Schriftverständnis nicht mehr | gewöhnt sind, führe ich sie dennoch vor; denn sie sind in unserem Zusammenhang höchst aufschlußreich: "Gelesen hatte er (Paulus) im Deuteronomium, daß durch die Stimme des Herrn befohlen ward, das Haupt einer gefangenen Frau zu scheren, die Augenbrauen, alle Haare und Nägel des

23 Darüber handelt Paul Hacker in einem Aufsatz, der an passender, aber leider schwer zugänglicher Stelle erschienen ist: Adaptation, Indigenization, Utilization: The Laity. Journal of Christian Thought and Action, vol. 5 Nr. 9, New Delhi 1977, 392/402. 24 Sie zählt zu den Bedingungen, die eine gelungene Nutzung antiken Geistesguts vom christlichen Standpunkt aus erfüllen muß: vgl. Paul Hacker, 'Topos* und chresis. Ein Beitrag zum Gedankenaustausch zwischen den Geisteswissenschaften: Kleine Schriften, hrsg. von L. Schmithausen, Wiesbaden 1978, 338/59, ebd. 349.

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Körpers zu beschneiden und so sie zur Frau zu nehmen (Dtn. 21, 10/13). Was ist also seltsam daran, wenn ich die profane Weisheit wegen ihres Reizes im Ausdruck und der Schönheit ihrer Glieder aus einer Sklavin und Gefangenen zu einer Israelitin machen will, wenn ich, was an ihr abgestorben ist: Götzendienst, Sinnenlust, Irrtum, Leidenschaften, abschneide oder abschere, und, vereint mit dem vollkommen g e r e i n i g t e n Leib (mixtus pur i ssimo corpori) Diener aus ihr zeuge für den Herrn Gott Sabaoth?" Natürlich wäre es ganz verkehrt, wollte man mit Smith (242) in diesem Passus etwas Zynisches entdecken. Zynismus wäre in diesem Zusammenhang geradezu Blasphemie. Hier wird klar gesagt: was der Christ übernehmen will, muß nicht etwa nur mechanisch aus der ursprünglichen Umgebung herausgelöst, es muß auch gereinigt werden. Alles Nekrotische, das die sapientia 25 saecularis mit sich führt, hat der Christ, der sich ihrer bedient, auszumerzen . Dann ist sein Verfahren erlaubt und förderlich, und zwar nicht bloß in der Auseinandersetzung mit den Heiden. Hieronymus warnt gegen Schluß des Briefs (epist. 70, 6) ausdrücklich vor dem Mißverständnis, daß die Bildung nur gegenüber den Heiden zu gebrauchen, sonst aber zu verleugnen sei. Das Prinzip der Reinigung gilt überall da, wo Christen antike Güter nutzen, so auch in der bildenden Kunst. Wir besitzen hierfür ein schönes Zeugnis bei Prudentius. Er läßt im ersten Buch c. Symm. den Kaiser Theodosius eine Mahnrede an die Stadt Rom halten (I 415/505), die mit folgenden Versen schließt:

25 Noch in zwei weiteren Briefen (epist. 21, 13 [1, 93f. Labourt]; 66, 8 [3, 175 Lab.]) bietet Hieronymus die Allegorie von der jungen Kriegsgefangenen. Die Aussage ist im wesentlichen dieselbe: vgl. R. Eiswirth, Hieronymus' Stellung zur Literatur und Kunst, Wiesbaden 1955 = Klass-Philol. Studien 16, 30/39. Bemerkenswerte Formulierungen enthält vor allem der Brief an Papst Damasus (epist. 21). Ähnlich wie an der S. 44 [143] ausgeschriebenen Prudentiusstelle begegnen hier die Begriffe des Nutzens (sowie der 'Umorientierung') und der Reinigung im selben Zusammenhang: itaque et nos hoc facere solemus, quando philosophos legimus, quando in manus nostras libri veniunt sapientiae saecularis: si quid in eis utile repperimus, ad nostrum dogma convertimus (...) aut si certe fuerimus eius (sc. captivae) amore decepti, mundemus eam et omni sordium horrore purgemus. Im 66. Brief drückt er den Reinigungsvorgang bildhaft so aus: lava eam (sc. captivam) prophetali nitro. Wenn Hieronymus an der oben übersetzten Stelle nur die formal-ästhetische Seite antiker Bildung zu schätzen scheint, so ist das nicht allzu wörtlich zu nehmen. Auch der 70. Brief eröffnet insgesamt eine viel weitere Perspektive: vgl. ebd. 4 fin. über die Nutzung der antiken Philosophie durch die griechischen Kirchenväter.

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"marmorn tabenti respergine tincta lavate, ο proceres! liceat statuas consistere pur as, artificum magnorum opera; haec pulcherrima nostrae ornamenta fiant patriae nec decolor usus 505 in Vitium versae monumenta coinquinet artis." "Die mit Blutjauche getränkten Marmorbilder wascht ab, ihr Senatoren! Erlaubt sei's, r e i n e Statuen aufzustellen, die Werke großer Künstler; sie mögen herrliche Zierden unseres Vaterlandes werden: kein entarteter G e b r a u c h soll sie besudeln, soll die Kunst zum Bösen wenden!" Hier finden wir also die Begriffe der Reinheit und der (rechten bzw. falschen) Nutzung in einem Text vereint. Prudentius drückt den Vorgang der Reinigung bildhaft, symbolisch aus: das Blut der Opfertiere, das die Kunstwerke bespritzte, soll abgewaschen werden. Das ist, wie gesagt, ein Symbol: natürlich bedeutet christliches Reinigen mehr als bloßes Waschen, sogar dann, wenn es sich, wie hier, nicht um Vorgänge schöpferischer Nutzung handelt, nicht um das Schaffen christlicher Kunstwerke, sondern nur um die Aufstellung antiker Statuen. Denn die empfohlene Maßnahme gründet nicht in einem kulturellen Patriotismus bloß weltlicher Art: wenn es heißt, die Statuen sollten Zierden nostrae ... patriae abgeben, so muß der Begriff patria recht verstanden werden, was freilich nur aus dem Gesamtzusammenhang möglich ist. Es geht um das christliche Rom, um die Stadt, die dem Ruf Christi folgt (509f.), die zum Glauben an Christus übergeht pleno ... amore (523). Die Kunstwerke, die dieses bekehrte, christliche Rom schmücken, dienen der Ehre Gottes: das steht hinter den Worten des Prudentius26. Damit ist zugleich gesagt, daß

26 Augustin schildert die Freude des christlichen Rom über die Bekehrung des greisen Rhetors Victorinus und schließt mit den Worten (conf. VIII 4,9): (...) et videbant vasa eius (sc. diaboli) erepta mundari et aptari in honorem tuum (sc. Dei) et fieri ' uti Ii α Domino ad omne opus bonum' (2 Tim. 2, 21). Das ist wieder eine ähnliche Vereinigung der Begriffe der Reinheit und des Nutzens, diesmal auf eine Person gewandt. Aber das macht keinen prinzipiellen Unterschied. Es ist gemeint, daß der Bekehrte künftig seine Fähigkeiten zur Ehre Gottes gebrauchen wird. Die Stelle zeigt zugleich, daß der Begriff des utile fiir den Christen in der Hl. Schrift verankert ist. Das vielleicht schönste Zeugnis dafür besitzen wir im sog. 'Epilogus' des Prudentius: s. unten Anm. 98. Der Märtyrer Laurentius sagt voraus (Prud. per. 2, 473ff.), es werde ein princeps kommen, der den heidnischen Kult verbieten und die Tempel schließen werde: Tunc pur α ab omni sanguine Tandem nitebunt marmorn, Stabunt et aera innoxia, Quae nunc habentur idola (ebd. 481/84).

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der ästhetische Reiz hier nicht als Selbstzweck aufgefaßt wird. Was Prudentius hier über die rechte Nutzung der bildenden Kunst feststellt, läßt sich übrigens gerade auch auf sein eigenes Gebiet: die Poesie übertragen27. Gewiß erfassen auch die beiden genannten Teilaspekte der kritischen Wahl und der Reinigung nicht das lebendige Ganze der christlichen χρήσις. Diese Teilaspekte machen es uns nur | klarer. Das Ganze selbst ist, im vollendeten Fall, eine Art N e u s c h ö p f u n g , die sich nur im Konkreten offenbart. Nicht alle christlichen Autoren waren, wie wir wissen, zu einer Nutzung antiken Geistesguts bereit, und nicht alle, die dazu bereit waren, praktizierten sie in derselben Weise und mit demselben Erfolg28. Aber wenn große Kirchenväter aus der Blütezeit der christlichen Literatur von ihrer Höhe auf ihre Vorgänger zurückblickten, entdeckten sie eine imponierende Kontinuität dieser christlichen Haltung zur Antike. Augustinus sah, daß der usus bonus, wie er ihn vertrat, ebenso geübt worden war von Lateinern wie Cyprian, Lactanz, Victorinus, Optatus, Hilarius und von "unzähligen Griechen" (doctr. ehr. II 40, 61). Hieronymus stellt sich in dem eben erwähnten Brief (epist. 70) in eine lange Reihe griechischer und lateinischer Kirchenschriftsteller. In dieser Reihe erscheint nun auch der Dichter Juvencus, was uns ausdrücklich daraufhinweist, daß auch die christliche Poesie eine Art der Nutzung profaner Weisheit bietet. Allerdings ergeben sich auf dem Gebiet der Dichtung gewisse Sonderprobleme.

Die Antithese von Form und Inhalt Hieronymus erwähnt den Juvencus in einer Weise, die den Eindruck erweckt, daß er die Nutzung der sapientia saecularis seitens dieses Dichters

27 Treffend bemerkt von Jacques Fontaine, Le m61ange des genres dans la podsie de Prudence: Forma Futuri. Studi in onore del cardinale Michele Pellegrino, Torino 1975, 755/77, ebd. 769f. 28 Die positive, d.h. reinigende und umorientierende χρήσις ist nicht die einzige Form des christlichen Umgangs mit den antiken Geistesgütern. Diese können auch polemisch zur Destruktion des Heidentums eingesetzt werden. Aber beiderlei ist unverwechselbar. Ein Beispiel: Theophil. ad Autol. Π 8 spielt das Aratproöm gegen andere Äußerungen paganer Autoren, z.B. gegen Sophokles Oed. rex 978f. aus, um die Widersprüchlichkeit der heidnischen Aussagen über die πρόνοια zu dokumentieren. Einem Paulus kam es auf die den Aratworten innewohnende Wahrheit an, einem Theophilus auf den kritischen Vergleich dieser Aussage mit anderen. Wie gesagt: beiderlei Arten des Umgangs mit antiken Gütern sind nicht zu verwechseln, obzwar gerade Hieronymus im 70. Brief Zeugnisse beiderlei Art mischt, weil er möglichst viele christliche Vorgänger, die heidnische Bildung überhaupt verwandten, anführen will.

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allein in der metrischen Form des Bibelepos gegeben sah29. Damit werden wir auf das Problem der unterschiedlichen Bewertung von 'Form' und 'Gehalt' antiker Dichtung geführt. Diese Unterscheidung wird in der modernen Forschung immer wieder gemacht, wenn von christlicher Poesie und ihrem Verhältnis zur antiken Dichtung die Rede ist, und sie kann sich in der Tat bis zu gewissem Grade auf Zeugnisse frühchristlicher Autoren stützen. Zwar läßt sich nicht behaupten, die Christen hätten den Gehalt antiker Dichtung pauschal verurteilt: Justin etwa rechnet außer den Philosophen und Historikern auch die Dichter zu denjenigen, die zu partiell richtigen Einsichten gelangt seien30, Clemens v. Alexandrien führt das Aratzitat der Areopagrede zum Beweis dafür an, daß der Apostel καν ποιητικοΐς χρώμενος παραδείγμασιν wahre Aussagen der Heiden bestätige31. Aber wenn derselbe Clemens an anderer Stelle versichert32, die Dichtung habe es gänzlich mit der Lüge zu tun und deshalb dürften Zeugnisse für die Wahrheit, welche mitunter selbst die Dichter, von der Wahrheit bezwungen, lieferten, besonderes Gewicht beanspruchen, so zeigt sich hierin bereits die starke Skepsis, die man auch später immer wieder der Poesie entgegenbrachte. Diese Skepsis führte dazu, daß christliche Denker, die den Wert einer Nutzung der antiken Bildungsgüter erkannt hatten, zwischen 'Form' und 'Inhalt' der Poesie einen Trennstrich zogen. Als sich Augustinus der Dichterlektüre seiner Jugend entsann, schauderte ihn ob all der Torheit und Verwerflichkeit, die er einst unter der Fuchtel des grammaticus so gierig in sich aufgenommen hatte. Aber er anerkannte, daß er auf diese Weise "viele nützliche Worte" gelernt habe, die er in den Dienst Gottes stellen könne. "Nicht die Worte klage ich an", sagt er, "sie sind erlesene kostbare Gefäße, sondern den Wein des Irrtums, der uns darin von trunkenen Lehrern kredenzt wurde"33. Eine ähnliche Unterscheidung macht

29 Hier, epist. 70,5: Iuvencus presbyter sub Constantino historiam Domini salvatoris versibus explicavit, nec pertimuit evangelii maiestatem sub metri leges mittere. Natürlich hätte Hieronymus nicht bestritten, daß der Gebrauch des Hexameters mindestens auch die Nutzung der lateinischen Dichtersprache miteinschließt. Wenn er an anderer Stelle (vir. ill. 84) sagt, Juvencus habe die vier Evangelien nahezu wörtlich in hexametrische Verse "umgesetzt" (transferre), so hat man an einen vielfältigen Vorgang der sprachlichen, stilistischen und metrischen Transposition zu denken. Zu wenig gibt dem Juvencus in dieser Hinsicht Reinhart Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike I, München 1975, z.B. 105: "Epische Tradition (...) manifestiert sich in mechanisch rezipierten Versatzstücken..." usw. 30 Vgl. oben Anm. 18. 31 Clem. Alex, ström. I 91 (GCS 15, 58f.). 32 Clem. Alex, protr. 73, 1 (GCS 12,. 55). 33 Aug. conf. 1 15, 24. 26. In diesen Äußerungen wird impliziert, daß die Worte in gewisser Weise vom Inhalt ablösbar und eben deswegen "nützlich" sind: sie können ganz anderen

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Amphilochius in einem poetischen Mahnschreiben an einen jungen Mann (siehe den Exkurs). Er unterscheidet zwei Typen heidnischen Schrifttums und dementsprechend zwei Arten ihrer christlichen Nutzung. Von den moralisch wertvollen soll der Adressat sowohl den Sinn als auch den reizvollen Ausdruck festhalten, in den Schriften mythischen Inhalts dagegen - und hierbei werden wir hauptsächlich an die Dichtung zu denken haben - soll er nur die λόγοι achten, nicht die θεοί: | "wie bei einem einzigen Strauch meide die Dornen und pflücke die Rose"34. Beide Autoren trennen also die verba, die λόγοι als nutzbar von dem Inhalt ab, der nicht nutzbar ist. Freilich zeigt sich auf der höheren Ebene der schöpferischen Nutzung, nämlich in der christlichen Poesie selbst, daß die Scheidung von 'Form' und 'Inhalt' gar nicht scharf durchführbar ist. Es ist kaum möglich, Worte und Metrum: die griechische bzw. die lateinische Dichtersprache zu gebrauchen, ohne zugleich eine Fülle von Begriffen, Bildern und Vorstellungen der antiken Vorgänger mit zu verarbeiten. Von einem der bedeutenderen Dichter der christlichen Latinität, vom hl. Paulinus v. Nola, besitzen wir zwei Texte, einen Prosabrief und ein Gedicht, die uns deswegen wertvoll sind, weil sie gewisse theoretisierende Äußerungen enthalten, die wir von Prudentius nicht haben. Beide Schriftstücke sind an denselben Adressaten, einen hochgebildeten, aber dem Christentum noch ferner stehenden Mann namens Jovius gerichtet und vielleicht gleichzeitig abgefaßt35.

Aussagen dienen als denen des originalen Zusammenhangs. Das Bild von Gefäß und Inhalt kehrt conf. V 6, 10 wieder: iam ergo abs te (sc. a Deo) didiceram (...) perinde esse sapientiam et stultitiam sicut sunt cibi utiles et inutiles, verbis autem omatis et inomatis sicut vasis urbanis et rusticanis utrosque cibos posse ministrari. 34 Amphil. iambi ad Seleucum V. 57/61 (ed. Oberg, vgl. unten Anm. 102). Den Begriff der λόγοι έράσμιοι (V. 58) fasse ich enger als Oberg (JbAC 16 [1973] 79), allein im Sinne des Stils, der χάρις της λέξεως (V. 52). Der Gedankengang des Autors ist fiir mein Empfinden von zwingender Klarheit. 35 Paul. Nol. epist. 16 (CSEL 29, 114/25); carm. 22 (CSEL 30, 186/93). Den Brief hat unlängst W. Erdt kommentiert: Christentum und heidnisch-antike Bildung bei Paulin von Nola, Diss. Hamburg 1976, Meisenheim am Glan 1976 = Beiträge zur Klassischen Philologie 82. In der geistesgeschichtlichen Auswertung des Befunds (288ff., aber auch zuvor, etwa 254f.; 240f.; 159f.) ist Erdt nicht immer glücklich. Er ist bemüht, Ernsthaftigkeit und Tiefe der von Paulinus empfohlenen - und in dem Brief selbst exemplarisch dargestellten - Nutzung antiken Geistesguts zu verkleinern, und er verkennt ihr Wesen, wenn er in diesem Zusammenhang vom "Einlenken" (256), von der "Konzilianz" (303f.; 240f.; 288), von "Zugeständnissen" (308; vgl. 241. 305f.) Paulins spricht. Selbst wenn die Textherstellung in epist. 16, 11: potior esse copiam tibi in nostris quoque studiis (so Erdt 239ff. nach Claverius) statt: potior est copia ... eqs. (Härtel) richtig sein sollte - Erdts Argumente liegen hier allerdings hauptsächlich in den eigenen Prämissen der Interpretation -, folgt daraus fiir die Sache kaum das, was Erdt will. Gewiß gibt es Unterschiede in der Auffassung und Durchführung der χρήσις, aber kritische Vorsicht, Hinwendung zum Wesentlichen (Christlichen) sind überhaupt feste Grundsätze des Verfahrens.

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Der Brief bildet ein hervorragendes Dokument des christlichen Prinzips der χρήσις. Sein Tenor lautet: Jovius braucht philosophisches Streben, Beredsamkeit und poetisches Talent nicht zu verleugnen; er soll vielmehr sein Denken und seine Fähigkeiten "umwenden", "auf Christus ausrichten", "weiser nutzen", um so "ein Philosoph Gottes und ein Dichter Gottes" zu werden36. Die Schlußsätze des Briefs sind die für unser Problem wichtigen37: "Dir möge es genügen, Fülle und Schmuck der Rede von jenen genommen zu haben gleichsam wie Beutestücke von feindlichen Waffen, damit du, frei von ihren Irrtümern und ausgestattet mit sprachlicher Kunst, jenen Putz der Beredsamkeit, mit dem die nichtige Weisheit täuscht, für lebensvolle Gegenstände verwendest, damit du nicht den leeren Körper von erdichteten Dingen ausschmückst, sondern den markigen Körper der Wahrheit (...)." Auch hier also auf den ersten Blick wieder die Scheidung von 'Form' und 'Inhalt'! Die "Beutestücke" (spolia), die Jovius nehmen und christlich nutzen soll, heißen: "Fülle und Schmuck der Rede" (linguae copia et oris ornamentum), "sprachliche Kunst" (eloquia), "Putz der Beredsamkeit" (fucus facundiae). Ihnen stehen die "lebensvollen Gegenstände" (plenae res) und "der markige Körper der Wahrheit" (medullatum veritatis corpus) gegenüber. Das Gedicht an Jovius verfolgt dasselbe Ziel wie der Brief, und wie dieser ein Prosabeispiel für die christliche Nutzung der facundia darstellt, so bietet jenes ein poetisches Musterstück dafür. Wer nun die Texte liest, wird finden, daß manche der "Beutestücke" des Autors selbst alles andere als bloße Formalien sind. Uns interessiert hier das Gedicht mehr als der Prosabrief. Ich greife einige Verse heraus. Paulinus drängt, Jovius möge Themen wie die Weltschöpfung Gottes, Tatsachen der biblischen Geschichte oder die Lehre Christi besingen. Hierauf geht es so fort (carm. 22):

36 Paul. Nol. epist. 16, 6(CSEL29, 120f.): verte potius sententiam, verte facundiam. nam animi philosophiam non deponas licet, dum earn fide condias et religione; conserta (sc. philosophia cum fide et religione) utare sapientius ut sis Dei philosophus et Dei votes ... eqs. Vgl. ebd. 11 (124): tua vero mens, quae ignita de caelesti semine divinum iam spiral ardorem, in ipsam arcem sapientiae Christum fide praevia dirigatur. Der Brief ist reich an prägnanten Formulierungen, vgl. etwa noch ebd. 7(121): et quia licet quaedamplerumque (...) in us um veri (...) adsumere. 37 Paul. Nol. epist. 16, 11 (CSEL29, 124).

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157 tunc te divinum vere memorabo poetam et quasi dulcis aquae potum tua carmina ducam cum mihi nectareos summis afontibus haustus 160 praebebunt Dominum rerum recinentia Christum atque tuam pollere Deo testantia mentem ... eqs. "Dann werd' ich dich einen wahrhaft göttlichen Dichter heißen und wie einen Trunk süßen Wassers deine Verse schlürfen, wenn sie mir Nektarzüge aus höchster Quelle gewähren: preisend Christus, den Herrn der Welt, und Zeugnis gebend, daß dein Sinn voll der Kraft Gottes ist." Diese Verse mußten Jovius und jeden Gebildeten überhaupt an Vergils Daphnisgedicht erinnern. Der Hirt Menalcas rühmt den Hirten Mopsus (ecl. 5): | 45

tale tuum carmen nobis, divine ρ ο et a, quale sopor fessis in gramine, quale per aestum dulcis aquae saliente sitim restinguere rivo.

"So ist dein Lied für mich, göttlicher Dichter, wie Schlaf im Grase für den Erschöpften, wie in Sommershitze den Durst zu löschen durch eines hüpfenden Bachs süßes Wasser." Was hat Paulinus aus Vergil genommen? Nur Metrum, Worte, Wortverbindungen? Doch sicher nicht! I d e e n sind es, die hier wiederkehren: die der Göttlichkeit des echten Dichters und die der Erquickung, welche echte Poesie gewährt. Aber Paulinus hat diese Ideen nicht nur fortgenommen, er hat sie genutzt, schöpferisch genutzt. Welche Unterschiede offenbart doch der Vergleich beider Versreihen! Die Ideen sind verändert, erneuert, vertieft. Dem Ausdruck poeta divinus bei Vergil - hier vom Hirten Mopsus gebraucht, in Ekloge 10,17 vom Elegiker Gallus, in Ekloge 6, 67 ähnlich vom mythischen Sänger und Hirten Linus - eignet etwas Vages, Unverbindliches. Das zeigen auch die Notizen der antiken und modernen Erklärer38. Ein hohes Lob liegt

38 Bezeichnend ist die blasse Bemerkung des Filargyrius zu ecl. 10, 17 (3/2, 179 ThiloHagen): divine poeta, id est Gallus poeta optimus (!). Die Wendung: divino carmine in ecl. 6, 67 veranlaßte zwar Servius und Servius auctus zu spezielleren Erwägungen (3/1, 77 Th.-H.), aber im Ganzen hat Gudemann recht, wenn er alle diese Stellen unter dem Lemma: "translate, i.q. praeclarus (...) nec non instinctus, praecipue depoetis" einordnet (ThLL 5, 1624, Z. 24f.).

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jedenfalls darin, daneben mag noch der alte Gedanke göttlicher Inspiration der Dichter mitschwingen. Bei Paulinus ist die Idee kräftig betont, prall gefüllt, und durch den Hinweis: vere sc. divinus klar vom antiken Vorbild abgehoben: Jovius wird ein "wirklich göttlicher Dichter" heißen, weil 1. seine Dichtung Gott preist, Sinn und Gehalt seiner Poesie "göttlich" sind (zu vergleichen ist Vers 19: divinos concipe sensus\)·, 2. weil er von der Kraft des Einen Gottes, den er besingt, erfüllt werden wird (deutlicher noch sagen das die einleitenden Verse des Gedichts, besonders V. 7f.: intrabitque Sacer (...) Spiritus et laeto quatiet tua viscera flatü). Der letztere Gedanke enthält eine neue Konzeption des dichterischen Enthusiasmus39. Mit einem Wort: der christliche Dichter ist ein "wirklich göttlicher Dichter", weil er Dei vates ist - so Paulinus im Brief an Jovius40. Und weiter! Die Idee der Erquickung durch die Poesie wird bei Vergil mit dem Gedanken der Göttlichkeit des Dichters nicht verknüpft, es sei denn in der allgemeinen Weise, daß das lobende Praedikat divinus für den hohen Reiz des Mopsus-Liedes bürgt. Bei Paulinus dagegen besteht die Erquickung, die der göttliche Dichter gewährt, gerade darin, daß er Göttliches kosten läßt. Damit verändert sich natürlich auch das Wesen der Erquickung: sie besteht nicht mehr nur im ästhetisch-geistigen Genuß, sondern in der spirituellen Labsal41. Äußerlich hat Paulinus diese enge Verbindung beider Ideen dadurch erreicht, daß er von den beiden Vergleichen - Vergils Ruhe im Grase und frischer Wassertrunk - nur den letzteren auswählte und seinem Zweck entsprechend ausgestaltete.

39 Darüber handelt Helena Junod-Ammerbauer, Le pofcte chrötien selon Paulin de Nole: Revue des Etudes Augustiniennes 21 (1975) 13/54, ebd. 28/31. Die Arbeit kann aufgrund des zusammengestellten Materials tiefe Einblicke in die verwandelnde Nutzung antiker Vorstellungen durch Paulinus vermitteln. Leider bewegt sich die Verfasserin selbst viel zu sehr im Fahrwasser der modernen Toposforschung, als daß es ihr gelingen könnte, über die Feststellung der geistigen und formalen Traditionsstränge hinaus das spezifisch Christliche klar zu erfassen. Vgl. ebd. 31 zu unserem Thema: "Chez Paulin, Γ Esprit Saint se confond [sie!] avec le pneuma divin [gemeint ist: "avec la conception classique du pneuma"] et le remplace dans Γ interpretation chrdtienne de l'enthousiasme". In solchen Formulierungen geht der Unterschied der Sache verloren. Äußeres Merkmal: in dem ganzen Abschnitt findet sich viel über antike Dichtung, Piaton und Gnosis, aber kein einziges Zitat aus der Hl. Schrift! Der Name "Esprit Saint" bleibt ein Schemen, über dessen Auftritt in dieser Umgebung man fast verwundert ist. 40 S. oben Anm. 36. 41 Die spirituelle delectatio als Zweck literarischen Schaffens z.B. auch bei Augustin conf. X 3,4, hier auf den besonderen Gehalt dieses Werks bezogen: et delectat bonos audire praeterita mala eorwn, quia iam carent eis, nec ideo delectat, quia mala sunt, sed quia fue runt et non sunt. Der geistliche Fortschritt des Adressaten bildet auch bei Paulinus ein wesentliches Moment der Freude, die er aus der christlichen Dichtung des Jovius zu gewinnen hofft (vgl. bes. V. 163f.), und insofern sind beide Stellen durchaus vergleichbar.

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Was eben mehr angedeutet, denn ausgeführt wurde, dürfte genügen, um darzutun, daß jene Antithese: 'Form' - 'Inhalt', die von modernen Gelehrten immer wieder zu grob gefaßt wird42, bei sorgfältiger Interpretation der Texte ständig differenziert werden muß. Wir wollen jedoch Paulinus noch nicht sogleich verlassen. Die zitierten Verse sind noch in anderer Hinsicht lehrreich.

Antike Imitationskunst und christliche Nutzung Manchem mag schon längst der zweifelnde Gedanke aufgestiegen sein, ob es denn berechtigt sei, christliche und antike Dichterimitation prinzipiell zu trennen und erstere als Teilphänomen in den weiten geistesgeschichtlichen Rahmen der christlichen χρήσις antiken Bildungsguts zu stellen. Haben denn, so könnte man fragen, nicht auch antike Dichter ihre dichterischen Vorbilder nachgeahmt, variiert, zu übertreffen versucht? Hat sich denn nicht | so ein Kallimachos von Homer, ein Vergil von Lukrez abgesetzt? Besteht denn nicht die gesamte antike Dichtung spätestens seit dem Zeitalter des Hellenismus wesentlich in der gestaltenden Abwandlung der Vorbilder? Ist denn dies nicht gerade jene Art der Originalität, welche alle lateinischen Dichter erstrebten, alle ihre Leser erwarteten? Man erinnere sich an die Worte jenes Gesprächspartners in den Saturnalien des Macrobius, der nach langer, uns eintönig anmutender Aufzählung vergilischer Verse und ihrer homerischen Vorbilder ausruft: quid (...) suavius quam duospraecipuos vates audire idem loquentes?43 Was also ist Besonderes daran, wenn Paulinus Vergilverse aufgreift?

42 Hier nur ein Beispiel, das gerade Paul. Nol. carm. 22 betrifft: Erdt a.O. (Anm. 35) 274 bemerkt: "(Es ist bedeutsam), wie sich Paulin hier an die dem Jovius gestellte Forderung hält, nur das rein Formale von den Klassikern zu übernehmen (...) (epist. 16, 11). Denn Inhaltliches, wie es in heidnischer Mythologie oder Philosophie zum Ausdruck kommt, hat P.N. in XXII nicht für die positive Darstellung seiner christlichen Gedanken verwendet." Junod-Ammerbauer ist anderer Meinung (s. oben Anm. 39), und mit gewissem Recht: es kommt darauf an, beide Aspekte in der richtigen Weise zu verbinden. Paulinus will gewiß nur Christliches sagen, aber er verwendet auch alte Ideen, indem er sie christlich nutzt, ihnen eine neue Richtung gibt. Dichterischer Enthusiasmus, Göttlichkeit des Dichters, Erquickung durch die Poesie u.a. - das alles ist benutztes Gedankengut, also "Inhaltliches", nicht bloß "rein Formales". 43 Macrob. sat. V 3, 16. Weiter heißt es dort: hic (sc. Vergilius) opportune in opus suum, quae prior vates (sc. Homerus) dixerat, transferendo fecit, ut sua esse credantur. Dazu vgl. Ulrich Knoche, Erlebnis und dichterischer Ausdruck in der lateinischen Poesie: Gymn. 65 (1958) 157f.: "Bei einem lateinischen Dichter wird man grundsätzlich gerade dann am ehesten ein echtes Bekenntnis erwarten dürfen, wenn er sich einer vorgeprägten Form bedient."

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Auf alle diese Fragen ist folgende Antwort zu erteilen: Tradition und Technik der antiken Dichterimitation wiesen den christlichen Dichtern die äußeren Möglichkeiten, die Bahnen, auf denen sich in diesem Bereich des Geisteslebens die christliche Nutzung zu vollziehen hatte. So betrachtet bildet allerdings die dichterische Imitationstechnik aller Dichter des Altertums, zumindest des römischen, eine gewisse Einheit. Was es jedoch erlaubt, die sog. 'Imitation' antiker Vorbilder seitens christlicher Dichter zu scheiden und sie dem umfassenden geistigen Vorgang der χρήσις zuzuordnen, ist der innere Aspekt der Sache: der Umgang des vates Dei mit antiken Vorbildern ist auf die christliche Lehre zentriert, ist eingebunden in das geistige Ganze des Christentums. Der antike Dichter imitiert frei, je nach eigenem Empfinden, nach dem wechselnden Zweck seiner einzelnen Aussagen, nach den Erfordernissen des Gedichts, den Gesetzen der Gattung usw. In der inhaltlichen Aussage, in der Qualität der Aussage herrscht kein Gesetz. Der vates Dei wählt und nutzt in Übereinstimmung mit dem Glauben, dem er dienen will. Daher rührt es, daß ungezählte sog. 'Imitationen' christlicher Dichter den Sinn des Vorbilds in einem Maße verwandeln, wie dies innerhalb der antiken Dichtung niemals vorkommt. Eben dafür liefern die zitierten Paulinusverse ein treffendes Beispiel. Denn auch das Vorbild des Paulinus, jene Vergilstelle aus der fünften Ekloge, hat ja ihrerseits ein Vorbild: den Beginn des theokritischen Thyrsis, und so sind wir zu einer Synkrisis der Imitationen förmlich eingeladen. Bewundernd vergleicht der Gefährte den Gesang des Hirten Thyrsis mit dem Rauschen eines nahen Wasserfalls (id. 1): 7

αδιον, ώ ποιμήν, τό τεόν μέλος ή τό καταχές την' άπό τας πέτρας καταλείβεται ΰψόθεν ύδωρ.

"Lieblicher, ο Hirt, rinnt dein Lied als das Wasser dort, das von der Höhe des Felsens herabfällt". Das ist der Gedanke der Erquickung, gekleidet in einen ähnlichen Vergleich wie bei Vergil, der diese Stelle zweifellos nachbildete. Allerdings vergleicht Vergil nicht wie Theokrit Gesang und Wasserrauschen, also Klang mit Klang, sondern Gesang und Wassertrunk, also "Gefühl mit Gefühl, Erquickung mit Erquickung", wie F. Klingner treffend formuliert44. Klingner bemerkt weiter:

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F. Klingner, Virgil, Zürich/Stuttgart 1967, 91.

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"Virgil hat das Motiv äußerlich leicht verändert und dabei tief verwandelt [!]." Gewiß: der Vergleich beider Passagen zeigt die feine, überlegene Kunst Vergils, und wer nur Theokrit und Vergil im Auge hat, der mag so empfinden wie Klingner. Aber, frage ich, wenn das schon "tiefe Verwandlung" sein soll, was sind dann die Verse des Paulinus im Verhältnis zu Vergil? An diesem Fall wird offenbar, daß die schöpferische Nutzung christlicher Dichter eine totale Umorientierung in sich schließen kann, die sich mit den Maßstäben der Imitationskunst antiker Dichter gar nicht mehr messen läßt. Aber die äußeren Bahnen der Imitationskunst blieben, wie gesagt, dieselben. Dazu gehört auch, daß die Imitation stets auf dem Hintergrund des Vorbilds gewürdigt sein will. Gewiß: man kann die vorhin besprochenen Paulinusverse auch ohne Kenntnis des vergilischen Vorbilds verstehen, der wesentliche Gehalt bleibt. Aber es liegt andrerseits doch in der Absicht | des Autors, daß das Vorbild erkannt und mit der eigenen abwandelnden Verarbeitung verglichen wird. Je deutlicher der imitierende Dichter auf das Vorbild weist, desto eindringlicher wirkt die Aufforderung zum Vergleich. Das heißt: auch die christliche Nutzung eines poetischen Vorbilds setzt wie jede bewußte dichterische Imitation in der Antike beim Leser die Kenntnis des (heidnischen) Vorbilds und damit objektiv Existenz und Fortbestand des benutzten Werks voraus. Letzteres zu betonen, ist nicht etwa müßig. Denn moderne Gelehrte sprechen gerne davon, die christlichen Dichter hätten Werke oder Gattungen der vorchristlichen Poesie "ersetzen" wollen. Demnach hätte also z.B. Prudentius die Aeneis, das heidnische Epos, durch die Psychomachie, das christliche Epos "ersetzt". Der Begriff des "Ersatzes" ist aber recht problematisch (s. auch S. 81 [161f.]), unter anderem deswegen, weil er leicht zu der falschen Vorstellung verleiten kann, als solle das christliche Werk in der Weise an die Stelle des nichtchristlichen treten, daß es dieses völlig auslösche, geistig und literarisch ausmerze. Ich zweifle, ob Prudentius zu seiner Zeit überhaupt nur im entferntesten damit rechnen durfte, Vergil gleichsam überflüssig zu machen. Daß er dies auch gar nicht beabsichtigte, folgt schon daraus, daß gerade die Psychomachie den Vergleich mit der Aeneis, also die lebendige Existenz des vergilischen Epos, allenthalben voraussetzt: die christliche Nutzung jenes Vergilverses zu Beginn der Psychomachie (vgl. darüber S. 58ff. [150ff.]) setzt die Kenntnis des Vorbilds nicht weniger voraus als sonst eine antike aemulatio, ja sie würde ohne Vergil sogar einen Teil ihrer Aussagekraft einbüßen. Der christliche Dichter ist zwar überzeugt, etwas Neues, ungleich Wertvolleres zu bieten als Vergil, aber er zeigt das nicht selten gerade dadurch, daß er an Vergil erinnert.

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Wie frühchristliche Dichter die eigene Leistung im Verhältnis zu Vergil beurteilten, darüber belehrt Juvencus in der Praefatio zu seinem Bibelepos. Der Ruhm Homers und Vergils ist "ewigem Ruhm ähnlich" (12: quae, sc. gloria, manet aeternae similis): er wird dauern, so lange die Welt besteht. Das eigene Gedicht, das nicht wie die heidnische Epik ein Geflecht aus Tatsachen und Lügen bildet, sondern Christi lebensspendende Taten besingt und den Völkern ein göttliches Geschenk macht, erwirbt wahrhaft ewigen, d. h. überirdischen Ruhm und ewiges Verdienst; es wird den Dichter selbst vielleicht am Jüngsten Tag vor dem Straffeuer erretten. Juvencus zweifelt also nicht im mindesten am Fortbestand der vergilischen Poesie: sie gilt ihm viel. Sie ist zusammen mit der homerischen im Bereich der heidnischen Dichtung das Höchste, ihr Ruhm im Rahmen des Natürlichen der denkbar dauerhafteste. Doch er selbst, Juvencus, dichtet die Wahrheit, nützt den Völkern und sich selbst, erwirbt wirklich ewigen, übernatürlichen Ruhm. Prudentius wird ähnlich gedacht haben. Gewisse Gedanken bei Juvencus erinnern an Praefatio und 'Epilogus' seines großen spanischen Landsmannes: daß die Dichtung eine Opfergabe an Gott ist, daß der Dichter etwas Nützliches schaffen und dadurch den Himmel erwerben will, diese Gedanken des Prudentius stimmen zu denen des Juvencus, und was Vergil anlangt, so beweist Prudentius seine entsprechende Einstellung durch die Praxis. Die vergilische Dichtung dient ihm nicht bloß als Steinbruch, sondern liefert oft auch beabsichtigte Vergleichspunkte. Eine 'damnatio memoriae' bezweckt er keineswegs: er will die Aeneis nicht vergessen lassen, er will vielmehr demonstrieren, wie das Wahre, Gute, Schöne der vergilischen Dichtung zur Ehre Gottes, zum Heil der Gläubigen und zum eigenen Heil gebraucht werden kann. Wie gesagt: der Fortbestand der Vergleichsmöglichkeit ist von den christlichen Dichtern, wenn auch in unterschiedlichem Grade, einkalkuliert. Es verhält sich hier anders als etwa bei der Nutzung paganer Philosopheme in der frühchristlichen Lehre. Die aemulatio ist ein elementarer Bestandteil der literarischen Ästhetik der Antike: es gibt keine Leistung ohne Vergleich mit dem Vorbild. Das ästhetische Prinzip bleibt in der christlichen Poesie erhalten, wird aber eben in den Dienst einer neuen, tiefen geistigen Auseinandersetzung gestellt. Natürlich gilt das nicht überall in demselben Grade. Gewisse Bauelemente des vergilischen Hexameters übernimmt auch der vates Dei ohne tieferreichende Absichten. Aber selbst dann | gebraucht er nichts unbereinigt, wofern er sich des Störenden bewußt ist. Schöpferische Leistungen in der Nutzung Vergils finden sich bei keinem christlichen Dichter in solcher Zahl und Qualität wie eben bei demjenigen, der seit jeher mit Recht der größte christliche Dichter

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des Altertums genannt wurde45. Damit schließt sich der Ring unserer allgemeinen Betrachtungen, und wir können uns nunmehr den oben angekündigten exemplarischen Prudentiusinterpretationen zuwenden.

INTERPRETATIONEN

Meine Interpretationsproben beschränken sich auf die ersten 39 Verse der Psychomachie: auf das Bittgebet (1/20) und den ersten Zweikampf: Fides gegen veterum Cultura deorum (21/39). Doch biete ich keine fortlaufende Interpretation. Da es um die Vergilbenutzung des christlichen Dichters geht, wähle ich aus dem bezeichneten Textstück vier Interpretationsbeispiele aus, die das Thema in vierfacher Abstufung beleuchten sollen. Ich behandle das Vergilische 1. innerhalb eines Einzelverses; 2. in einer Szene; 3. in einem das ganze Gedicht prägenden - darstellerischen Zug; 4. in seiner Bedeutung für die Konzeption der Psychomachie. Ich gebe zunächst den Text und einen Übersetzungsversuch46.

45 Leider besitzt ein Prudentiuskenner wie Maurice Lavarenne, dem wir auch einen Psychomachiekommentar verdanken (s. die folgende Anmerkung), dafür keinen Sinn. Er verteidigt (ebd. 45) die Verarbeitung dichterischer Vorbilder durch Prudentius unter Hinweis auf die Praxis Vergils, die andere Auffassung von Originalität in der Antike, den Geschmack des zeitgenössischen Publikums und resümiert (46): "La forme dans laquelle la Psychomachie est 6crite etait done bien faite pour plaire aux contemporains de Prudence." Das ist nicht falsch, aber viel zu wenig. 46 Ich zitiere Prudentius nach der Ausgabe von Johan Bergman (1926) = CSEL 61. Sie ist noch immer unentbehrlich. Die neue Ausgabe von Maurice P. Cunningham (1966) = CCL 76 hat sie nicht zu ersetzen vermocht. Der am meisten benützte Lesetext ist der zweisprachige von Maurice Lavarenne, Prudence, 4 Bde. (Paris: Belies Lettres 2 1955. 1945. 1948. 1951). Lavarenne hat außerdem durch seine großangelegte "Etude sur la langue du poöte Prudence" (Paris 1933) ein wichtiges Hilfsmittel geschaffen. Durchgehende Kommentare gibt es nur aus älterer Zeit. Ich nenne vor allem die kommentierte Ausgabe von F. Ar6valo (Rom 1788/89: wiederabgedruckt bei Migne, PL 59/60). Zur Psychomachie besitzen wir zwei Spezialkommentare: einen von Bergman (Upsala 1897) und einen von Lavarenne (Paris 1933), hinzutreten meine "Studien" (s. oben Anm. 9). Leider ist die einzige deutsche Psychomachieübersetzung aus neuerer Zeit, die von Ursmar Engelmann (Basel/Freiburg/Wien: Herder 1959) wegen ihrer Ungenauigkeiten und Fehler fast unbrauchbar. Gute Dienste leistet die zweisprachige Gesamtausgabe in der Loeb-Library (2 Bde.: London/Cambridge, Mass. 1949. 1953) von H.J. Thomson.

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Christe, graves hominum semper miserate labores, qui patria virtute cluis propriaque sed una unum namque Deum colimus de nomine utroque, non tarnen et solum, quia tu Deus ex patre, Christe dissere, rex noster, quo milite pellere culpas mens armata queat nostri de pectoris antro, exoritur quotiens turbatis sensibus intus seditio atque animam morborum rixafatigat, quod tunc praesidium pro libertate tuenda quaeve acies funis inter praecordia mixtis obsistat meliore manu, nec enim, bone ductor, magnarum virtutum inopes nervisque carentes christicolas vitiis populantibus exposuisti; ipse salutiferas obsesso in corpore turmas depugnare iubes, ipse excellentibus armas artibus ingenium, quibus ad ludibria cordis obpugnanda potens tibi dimicet et tibi vincat. vincendi praesens ratio est, si comminus ipsas virtutum fades et conluctantia contra viribus infestis liceat portenta notare. Prima petit campum dubia sub sorte duelli pugnatura Fides agresti turbida cultu, nuda umeros, intonsa comas, exerta lacertos; namque repentinus laudis calor ad novaferuens proelia nec telis meminit nec tegmine cingi, pectore sed fidens valido membrisque retectis provocat insani frangenda pericula belli. | ecce lacessentem conlatis viribus audet prima ferire Fidem veterum Cultura deorum. ilia hostile caput falerataque tempora vittis altior insurgens labefactat et ora cruore de pecudum satiata solo adplicat et pede calcat elisos in morte oculos animamque malignam pacta intercepti commercia gutturis artant difficilemque obitum suspiria longa fatigant. exultat victrix legio, quam mille coactam martyribus regina Fides animarat in hostem. nunc fortes socios parta pro laude coronat floribus ardentique iubet vestirier ostro.

IV. Interpretation frühchristlicher Literatur "Christus, der Menschen schwerer Leiden steter Erbarmer, dessen Ruhm in der Macht des Vaters gründet und in der eigenen, doch nur in einer einzigen - denn einen einzigen Gott verehren wir unter beiden Namen, nicht aber auch nur eine Person allein, da auch Du Gott aus dem Vater bist, Christus - , sag' an, unser König, wer sind die Soldaten, durch die der Geist, gewappnet, die Sünden zu vertreiben vermag aus unseres Herzens Grund, sooft aus verwirrten Gedanken innen drin der Aufruhr losbricht und der Streit der Leidenschaften die Seele quält? Welche Wachmannschaft zur Verteidigung der Freiheit, welches Heer leistet dann mit stärkerer Macht den Furien Widerstand, die in der Brust toben? Denn, guter Führer, nicht ohne die Hilfe großer Tugenden und bar aller Kraft hast Du die Christen der Verwüstung durch die Laster ausgesetzt. Du selbst heißt die rettenden Schwadronen im belagerten Leibe kämpfen, Du selbst wappnest den Geist mit herrlichen Mitteln, damit er, fähig zum Angriff auf die Feinde, die mit dem Herzen ihren Spott treiben, für Dich kämpfe und für Dich siege. Wie der Sieg zu erringen ist, steht klar vor Augen, wenn ich die Gestalten selbst der Tugenden und die Ungeheuer gegenüber zeichnen darf, wie sie mit feindlichen Kräften im Handgemenge gegeneinander stehen. Als erste eilt aufs Schlachtfeld, wo ungewisses Kriegsgeschick regiert, kampfbereit die Fides: erregt, in bäurischem Aufzug, nackt die Schultern, ungeschnitten das Haar, frei die Arme. Denn plötzlich aufwallendes Verlangen nach Ruhm läßt sie nicht daran denken, sich mit Speer und Wehr zu wappnen, sondern auf ihre starke Brust und die entblößten Glieder vertrauend, fordert sie des wilden Kriegs Gefahren heraus, um sie zu zerbrechen. Da, als erste wagt's die alte Götterverehrung, mit geballter Kraft die herausfordernde Fides zu schlagen. Die richtet sich höher auf und bringt das Haupt der Feindin und die mit Binden geschmückten Schläfen zum Wanken. Den vom Blut des Viehs triefenden Mund stößt sie zu Boden, tritt mit dem Fuß auf die im Tode hervorquellenden Augen. Den bösen Odem engen die unterbrochenen Atemwege der abgeschnürten Kehle ein: langes Keuchen läßt sie qualvoll einen schweren Tod sterben. Es frohlockt die siegreiche Legion, die aus tausend Märtyrern Königin Fides zusammengezogen und gegen den Feind ermutigt hatte. Nun krönt sie die tapfren Gefährten dem Ruhm entsprechend, den sie erwarben, mit Blumenkränzen und heißt sie sich in flammenden Purpur kleiden."

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Der erste Vers der Psychomachie Die Psychomachie beginnt mit einem Vers, der fast nach Art der Centonen einen Aeneisvers aufnimmt: psych. 1:

Christ e, graves ho mi η um semper miserate labores, qui... eqs.

Aen. VI 56: Phoebe, gravis Troiae qui... eqs.

semper miserate labores,

Vergilanklänge in solcher Deutlichkeit sind auch bei Prudentius selten, und es ist nicht zu verkennen, daß dieser Auftakt wie ein Signal wirkt und wirken soll. Gleich zu Beginn soll der Leser auf Vergil hingewiesen werden: er ist es, den der christliche Dichter vorzugsweise nutzen | will. Vergil wird als eines der Fundamente vorgestellt, auf dem sich das Werk des Prudentius erheben wird. Äußerlich hat Prudentius in dem Vergilvers nur zwei Eingriffe vorgenommen: die beiden Eigennamen Phoebe und Troiae sind ersetzt worden. Das war die notwendige 'Reinigung' des Benutzten, die wir als Prinzip christlicher χρήσις bereits oben S. 42/44 [142f.] kennengelernt haben. Durch den Anruf Christe wird das Übernommene auf das Ziel christlichen Glaubens hin 'ausgerichtet', wie es etwa Paulinus verlangt (s. oben S. 48 [145]); durch den Ersatz des Genitivs Troiae durch hominum wird die Aussage überdies aus ihrer geschichtlichen Beschränktheit gelöst und in eine universale Weite gehoben. Aber diese scheinbar partiellen Veränderungen bewirken es, daß der ganze Vers in ein anderes Licht getaucht ist. Denn auch die Begriffe labores und miserate drücken nun nicht mehr dasselbe aus wie zuvor. Die Leiden, deren sich Christus erbarmt, das sind nicht mehr nur äußere Fährnisse wie die Kämpfe vor Troja oder die Strapazen des Aeneas und seiner Gefährten. Der Begriff drückt zwar bei Prudentius so viel aus, daß die äußeren Leiden der Menschheit nicht geradezu ausgeschlossen werden, aber er sagt eben viel mehr als bei Vergil: die spirituellen labores, die labores der ψυχομαχία, stehen bei Prudentius im Vordergrund, wie der Fortgang des Gebets deutlich macht. Und das Erbarmen, das miserari·. ist es etwa dasselbe hier wie dort? Doch gewiß nicht! Der Christ kann des Erbarmens Christi so nicht gedenken, ohne die Erlösertat miteinzuschließen, und damit geraten die Dinge - Phoebi und Christi Erbarmen - dermaßen weit auseinander, daß sie geradezu unvergleichlich werden.

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Das ist aber noch nicht alles. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß der gebildete Römer - ob Christ oder Nichtchrist - seinen Vergil kennt wie der Grieche seinen Homer. Von Kindheit an, seit Beginn des Unterrichts beim grammaticus, hatte er Vergil gelesen, erklärt, in Prosarede umgesetzt, auswendig gelernt - Augustinus entwirft in den Confessiones ein lebendiges Bild davon47. Unsere Bildung besitzt kein gemeinsames Fundament dieser Art, und daher fällt es uns nicht ganz leicht, die Wirkung eines Vergilzitats recht einzuschätzen. Aber der Leser, für den Prudentius schrieb, konnte den ersten Vers der Psychomachie kaum zur Kenntnis nehmen, ohne daß nicht, wenigstens für einen Augenblick, zugleich mit dem Aeneisvers auch die berühmte Situation, in der jener Anruf Apollons getan wird, an ihm vorüberglitt: Aeneas steht vor der Grotte der Sibylle; die wilde Ekstase der Seherin bezeugt die Anwesenheit des Gottes, doch des Helden eigenes Gebet ist Bedingung, damit die Grotte ihren Schlund auftut und die Zukunft offenbar wird; da bittet er, schaudernd zwar, doch aus innerstem Herzen.funditquepreces rexpectore ab imo: 'Phoebe, graves Troiaesemper miserate labores ...' eqs. Was Prudentius nutzt, das sind nicht nur die Worte des Aeneas. Es ist der tiefe, echte religiöse Ernst des pius Aeneas, den der christliche Dichter als ein συγγενές τη άληθεία empfindet48

47 Aug. conf. I 13, 20/17, 27. Vergilerinnerungen sind für den gebildeten Römer Kindheitserinnerungen, und dieser Faktor wurde von den Theoretikern der Erziehung bewußt in Rechnung gestellt, vgl. Quintil. inst. I 8, 4f.; Aug. civ. I 3. Treffend urteilt Henri-Ir6n6e Marrou, Geschichte der Erziehung im klass. Altertum (hrsg. von Richard Harder: Freiburg/ München 1957) 368: "(Vergil) ist der Schatz von Weisheit und Schönheit, der in der Tiefe des Gedächtnisses ruht, dessen Verse jedesmal ins Bewußtsein gehoben werden, wenn man das Bedürfnis empfindet, eine Empfindung oder eine Idee zu unterstreichen oder zu bestätigen". Ein Beispiel: nach dem Fall Roms i.J. 410 pflegten die Christengegner ihrer Meinung durch ein Zitat aus Vergils Iliupersis (Aen. II 351 f.) Ausdruck zu verleihen, und sie durften sicher sein, verstanden zu werden (Aug. civ. II 22). Denn auch der gebildete Christ hatte seinen Vergil als Schuljunge traktiert (Hier. c. Ruf. I 16: PL 23, 428f.), und wie gerade das Werk Augustins beweist, blieb Vergil ein lebendiger geistiger Besitz: Karl Hermann Schelkle, Virgil in der Deutung Augustins (Stuttgart und Berlin 1939) = Tübinger Beiträge 32. Es ist nicht unwichtig, diese weite kultur- und geistesgeschichtliche Bedeutung Vergils, die erheblich über den Bereich des rein Literarischen hinausragt, recht zu erfassen, will man die Vergilbenutzung des Prudentius angemessen beurteilen. 48 Der Ausdruck gehört dem hl. Basilius, zitiert S. 86 [164]. Sogar der hl. Augustinus konnte Gebetsworte an Apollon aus Vergil: sic pater ille deus faciat (...)! (Aen. X 875) zum Ausdruck eigener religiöser Überzeugung nutzen (de ord. 14, 10: CSEL 63, 128). Die andere Haltung gegenüber Vergil in De civitate Dei erklärt Harald Hagendahl, Augustine and the Latin Classics (Göteborg 1967) 457 biographisch: in einem scharfen Bruch vollziehe sich bei Augustin der Ubergang von der Hingabe an die kulturelle Tradition zur Feindschaft ihr gegenüber (ebd. 714). Hagendahl verkennt, daß auch Stellen wie de ord. I 4, 10 nicht einfach Ausdruck unreflektierter Hingabe, sondern Beispiele christlich verwandelnder Nutzung Vergils sind: der Kontext läßt daran keinen Zweifel. Der polemische Gebrauch Vergils in De civ. muß vor allem von der Absicht des großen Werks her verstanden werden. Welch bedeutende Aufmerksamkeit

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und den er in seinem Gebet auf Christus wendet. Jawohl, meint Prudentius, die Frömmigkeit, das Gebet um göttliche Hilfe, das Vertrauen auf das Erbarmen eines allzeit gnädigen Gottes: das alles ist gut und ein χρήσιμον für den Christen, wofern man es richtig nutzt! So etwa könnte man erklärend ausführen, was der Vers andeutet. Weiter würde ich allerdings auch nicht gehen: detailliertere Kongruenzen zwischen dem Inhalt der beiden Gebete bei Vergil und Prudentius herzustellen, halte ich zumindest für gewagt49. Auch der hl. Paulinus v. Nola hat den Aeneisvers einmal benutzt, und zwar in einem Gebetsanruf an den von ihm besonders verehrten hl. Felix. Paulinus schildert, wie ein armer Bauer durch Diebstahl das Vieh verliert und in seinem Schmerz mit dem Heiligen hadert (carm. 18): 260 Felix sancte meos semper miserate labores, nunc oblite mei, cur me, rogo, vel cute nudum deseris? ... eqs. | Ich habe oben S. 45 [144] bemerkt, daß nicht alle christlichen Schriftsteller die χρήσις mit gleich gutem Erfolg übten. Ergänzend ist festzustellen, daß auch von Fall zu Fall der Gebrauch des antiken Formen- und Gedankenguts besser und schlechter geraten, vollkommen gelingen und auch gänzlich mißlingen kann. Das gilt im philosophischen Bereich, aber auch in jedem anderen, z.B. eben auch in der christlichen Poesie. Damit will ich nicht sagen, daß der Gebrauch, den hier Paulinus von jenem Vergilvers macht, unberechtigt oder gar gedanklich mißglückt wäre. Der Kontext bei Paulinus ist ja insgesamt ein ganz anderer als bei Prudentius. Paulins Gedicht zeichnet sich durch die christliche Nutzung der Bukolik aus und muß in diesem Zusammenhang inter-

die Christen gerade dem sechsten Aeneisbuch zuwandten, hat Pierre Courcelle gezeigt: Les pfcres de l'eglise devant les enfers virgiliens: Archives d'histoire doctrinale et litt6raire du Moyen Age 3 (1955) 5/74. Hier liegt mancherlei Material bereit, das einer vertiefenden Deutung harrt. 49 Smith 271/76 macht etliche gute Beobachtungen zum ersten Psychomachievers, aber er zieht die Parallele zu Vergil teilweise zu stark aus. Daß die Verse psych. 2/4 (Einheit Christi mit dem Vater) dem Anruf: dique deaeque omnes bei Verg. Aen. VI 64 entsprechen sollen - Smith 275: "The two prayers have a basic similarity of movement ..." etc. - , ist haltlos. Deutliche Übernahmen verleiten nicht selten zu exzessiven Folgerungen. Ein weiteres Beispiel: Antonio Salvatore, Studi Prudenziani (Napoli o.J. [1958] 63f.) zu der χρήσις Horazens (carm. IV 5) bei Prud. cath. 5, 1/4! Auch Salvatore wollte die Strukturen - in diesem Fall der ganzen Gedichte in Parallele setzen, was zu weit geht: vgl. dazu den neuen Kommentar von Marion M. van Assendelfit, Sol ecce surgit igneus. A Commentary on the Morning and Evening Hymns of Prudentius (cath. 1, 2, 5 and 6), Groningen 1976, 126f. Zu dem ausgezeichneten Beispiel dichterischer χρήσις bei Prud. cath. 5, Iff. wäre mehr zu sagen, als ich hier vorbringen kann.

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pretiert werden50. Aber vergleicht man nun einmal Vers mit Vers: Paulinus einerseits mit Vergil und Prudentius andrerseits, dann muß man zugeben, daß der Gebrauch des Vergilischen bei Paulinus in diesem speziellen Fall sehr viel schwächer wirkt als bei Prudentius. Nicht etwa nur deswegen, weil Paulinus sich mehr vom Wortlaut des Aeneisverses löst, sondern weil bei ihm nichts mehr zu spüren ist von dem großen Pathos Vergils, das bei Prudentius erhalten, ja gesteigert wird. Aeneas steht in entscheidungsvoller Stunde als Vertreter seines Volks vor Apollon, Prudentius bittet Christus im Namen der Menschheit um Hilfe! Damit ist natürlich das Jammern des bestohlenen Bauern nicht vergleichbar: er denkt nicht an die graves (!) labores der um ihre Rettung kämpfenden und leidenden Menschen, sondern nur an seinen privaten Kummer (vgl. meos [!] ... labores). Der Vergleich des verschiedenen Gebrauchs, den Prudentius und Paulinus von dem Vergilvers machen, ist also weniger für Paulinus abträglich als für Prudentius erhellend. Man sieht auf diese Weise noch besser, wie tief Prudentius das Vergilische begriffen und verwandelt hat. Kann man wirklich das Ziel so weit verfehlen, daß man hier im ersten Vers der Psychomachie "anti-vergilische Ironie" am Werke sieht? Smith (276) beweist, daß heute solche Verirrung tatsächlich möglich ist, aber er wird - hoffentlich! - keinen Glauben finden.

Der Auftritt der Fides (Verse 21/27) Eine reizvolle, aber gewiß nicht immer leichte Aufgabe, die sich dem Dichter der Psychomachie stellte, bestand darin, jene unsinnlichen Wesen, die er wie Personen auftreten ließ51, zu lebensvollen Gestalten zu formen. Prudentius entledigte sich der Aufgabe mit solchem Erfolg, daß mehr als ein Jahrtausend

50 Dazu s. W. Schmid, Tityrus Christianus: RhM 96 (1953) lOlff., jetzt in überarbeiteter Form: Europäische Bukolik und Georgik, hrsg. von K. Garber, Darmstadt 1976, 44/121, bes. 62/67. 51 Die sog. 'Personifikationen' waren für den Dichter und sein Publikum weit mehr als bloße Abstrakta. Vgl. darüber "Studien" 35f.; 78f. Hier fiige ich nur noch zwei Beispiele hinzu: 1. In der Psychomachie (305/08) wird geschildert, wie die übrigen Tugenden sehnsuchtsvoll der zum Himmel emporfliegenden Spes nachblicken. Poetische Fiktion? Gewiß: aber dem hl. Gregor v. Nazianz erschienen nachts zwei jungfräuliche Gestalten, die, nachdem sie sich als Άγνεία und Σωφροσύνη zu erkennen gegeben, himmelwärts entschwanden, von den sehnsüchtigen Blicken des Heiligen begleitet. Gregor erwähnt diese Vision als ein sein Leben bestimmendes Ereignis (carm. 2, 1, 45, 231/66; 2, 1, 92, 5f.: PG 37, 1369/72 bzw. 1447). - 2. Libido wird

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hindurch die Künstler der verschiedensten Epochen - von der Spätantike über's Mittelalter bis hin zu Renaissance und Barock - durch dieses Gedicht direkt oder indirekt Anregungen empfingen52. Die Szenerie der späteren Kämpfe fällt allerdings reicher aus als hier beim ersten. Denn das Ganze gehorcht dem Gesetz der Steigerung: die Einzelkämpfe werden immer länger, die Schilderungen immer bunter, Reden gehen hin und her. Die Kunst des Dichters gibt dem Geschehen stets neue Wendungen, umkleidet Tugend- und Lastergestalten mit immer neuen charakteristischen Rüstungen und Gewändern. Szenen wie etwa der Auftritt der Luxuria (310/43) bilden Prunkstücke poetischer Darstellungskraft. Demgegenüber nimmt sich der erste Kampf, den der christliche Glaube {Fides) gegen den heidnischen Götzendienst (veterum Cultura deorum) führt, verhältnismäßig einfach aus53. Doch zeigt sich die Meisterschaft nicht nur im prachtvollen Gemälde, sondern auch in der bescheidenen Skizze. Mit wenigen sicheren Strichen entwirft Prudentius das Bild der Fides. Sie erscheint als amazonenhafte Kämpferin. Ein Zug tritt besonders hervor: der Verzicht auf jegliche Waffe. Schultern und Arme sind nackt, das Haupt ist unbedeckt (23). Sie führt keine Schutz- und keine Angriffswaffe (25). Sie vertraut allein auf ihre Stärke (26). Wie selbstverständlich, unauffällig fast und kaum vom Ganzen abzulösen, verbindet sich mit diesem Hauptzug ein anderer: die Einfachheit des Äußeren. Sie wird durch die Wendung agresti... cultu (22) betont. Die im folgenden Vers (23) genannten descriptiven Details sollen den Begriff der bäurischen Schlichtheit erläutern, passen aber eben, wie gesagt, gleichzeitig auch zu dem Mut der Kämpferin. Das ungeschnittene, das Haupt frei umgebende Haar (vgl. intonsa comas) erinnert an die caesaries epischer

psych. 42/48 als eine mit Schwefel und Feuer hantierende Furie vorgestellt. Nur eine poetische Einkleidung der Vorstellung von der Feuersglut der Sinnenlust? Aber bei Cassian (coll. II 13: CSEL 13, 55) beobachtet ein Abt, wie der Dämon der Sinnlichkeit einen Asketen bedroht: cernit Aethiopem taetrum contra illius cellulam stantem atque ignita adversus eum iacula dirigentem das sind die ignea tela der Libido (psych. 46f.). 52 Vgl. A. Katzenellenbogen, Die Psychomachie in der Kunst des Mittelalters, Diss. Hamburg 1933. In überarbeiteter Form erschienen unter dem Titel: Allegories of the Virtues and Vices in Mediaeval Art (London 1939) = Studies of the Warburg Institute 10, wiederabgedruckt als Taschenbuch: New York (The Norton Library) 1964. Einen Überblick gibt Lavarenne in der Einleitung seiner Spezialausgabe der Psychomachie 74/78 (wiederabgedruckt in der leichter zugänglichen Gesamtausgabe Bd. 3: ebd. 41/45 zur Kunst). 53 Zu dem langen Namen: veterum Cultura deorum s. "Studien" 31. Smith 283 macht hierzu auf den Vergilvers Aen. VIE 187 aufmerksam: vana superstitio veterumque ignara deorum. Die Folgerungen jedoch, die er aus der formalen Ähnlichkeit der Ausdrücke zieht, sind mehr als gewagt, zumal hier, wie oft bei Smith, die Möglichkeiten des Verständnisses selbst seitens eines antiken Lesers überschätzt werden. Die "arte allusiva" der antiken Dichter (vgl. Giorgio Pasquali: Stravaganze quarte e supreme, Venezia 1951, 11/20) ist bei allem Raffinement doch keine dunkle Tüftelei.

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Helden, mag es auch zunächst die rusticitas der Fides | unterstreichen - den Gegensatz dazu bildet etwa die zu einer Turmfrisur emporgesteckte, durch fremdes Haar aufgefüllte Lockenpracht der Superbia (183/85). Prudentius hat es nun weiter verstanden, Erscheinung und Verhalten der Fides zu einer Einheit zu verbinden, indem er das für eine Kämpferin höchst ungewöhnliche Äußere durch die Eile ihres Auftritts erklärt, die ihrerseits wiederum in der mutigen Zuversicht und dem brennenden Verlangen nach Ruhm gründet (24: namque repentinus laudis calor ... eqs.; vgl. auch 22: turbida)54. Zugleich erreicht er so, betrachtet man die Dinge unter dem Gesichtspunkt der poetischen Technik, einen schwungvollen, ruckartigen Beginn der Handlung. Gewiß wird niemand erwarten dürfen, für diese eigenartige Szene ein vollkommenes Vorbild in der antiken Poesie zu entdecken. Und doch begegnet gerade in den vergilischen Schlachtenschilderungen ein Held, dessen Erscheinung in mancher Beziehung an den Auftritt der Fides erinnert: der Etrusker Herminius. Ich zitiere die Stelle (Aen. XI 640ff.): 640

(...) Catillus Iollan ingentemque animis, ingentem corpore et armis deicit Herminium, nudo cui verticefulva caesaries nudique umeri, nec volnera terrent: tantus in arma patet. Latos huic hasta per armos 645 acta tremit duplicatque virum transfixa dolore. "Catillus streckt den Iollas nieder und den Herminius: den Herminius gewaltig an Mut, gewaltig durch Wuchs und durch Waffen, den helmlosen Scheitel von Blondhaar umwallt, nackt die Schultern; Wunden schrecken ihn nicht: solche Blößen bietet er den Waffen. Ihm fährt die Lanze durch die breiten Schultern, erzittert und beugt, hindurchgestoßen, den Helden schmerzvoll zusammen." Zwar heißt Herminius auch ingens armis (641), aber das hervorstechendste Merkmal seiner Erscheinung bildet doch die mangelhafte Wappnung: tantus in arma patet (644). Darin gleicht er der Streiterin, die uns bei Prudentius entgegentritt membris retectis (vgl. 26). Das gilt nicht nur grosso modo,

54 Turbida hat hier seine übliche Bedeutung, wie Lavarenne, Komm. 217 z. St. richtig gegen Bergman bemerkt: "Son trouble provient de son indignation contre PIdolätrie". Der Ablativ agresti... cultu ist modal zu fassen.

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sondern auch hinsichtlich bedeutender Details: die nackten Schultern (Verg.: nudique umeri - Prud.: nuda umeros) und das unbedeckte Haar haben beide gemein. Auch die Körperstärke (Verg.: ingentem corpore·, latos ... armos Prud.: pectore ... valido) teilen sie miteinander. Vor allem aber verbindet sie die Motivation ihrer Achtlosigkeit: das Vertrauen auf die eigene Stärke, der Mut, die Furchtlosigkeit vor Wunden. Das Ruhmesverlangen wird bei Herminius zwar nicht sonderlich betont, eignet aber dem Helden des Epos schlechthin. Magno laudum percussus amore erscheint etwa der junge Euryalus im 9. Buch der Aeneis (197f.). Es war leicht, diesen Zug dem Bilde hinzuzufügen. Mit einem Wort: es ist, wie schon Schwen sah, wahrscheinlich, daß Prudentius den Herminius Vergils vor Augen hatte, als er seine Fides Gestalt werden ließ. Daß der vergilische Held sein Selbstvertrauen bitter büßen muß, brauchte Prudentius nicht zu stören. Vielleicht reizte ihn sogar der ganz andere Ausgang des Kampfs hier und dort, vielleicht suchte er absichtsvoll den Kontrast, um den spirituellen Sinn seines Zweikampfs zu unterstreichen. Man muß sich dabei vorstellen, daß es, wie bereits gesagt, nicht eben einfach war, die Fides Christiana als Einzelkämpferin nach epischem Muster auftreten zu lassen. Das gilt übrigens von fast allen Tugenden der Psychomachie, in manchen Fällen - so bei der Demut und der Eintracht - war die Aufgabe noch schwieriger, ja fast unlösbar55. Was lag näher, als sich im Epos, zumal im bekanntesten und gefeiertsten, nach brauchbaren Vorlagen umzusehen? Die poetische Imitationskunst der Antike, gerade auch die Vergils selbst, wies hierfür den Weg, wie schon vorhin S. 51/53 [147f.] bemerkt wurde. Aber was ich dort für die christliche Poesie im allgemeinen in Anspruch nahm - daß sie nämlich das Übernommene in einer neuen zielgerichteten | Weise nutzt - das trifft auf das allegorische Gedicht des Prudentius in ganz besonderem Maße zu. Alle übernommenen Einzelzüge der descriptio, die bei Vergil der reinen poetischen Veranschaulichung dienen, erhalten in der Psychomachie eine tiefe geistige Leuchtkraft. Ich darf hier vielleicht einen Vergleich mit der Kunst einschalten. Wir besitzen eine Reihe illustrierter Psychomachiehandschriften56, darunter ein

55 Vgl. "Studien" 42. 47. 56 Die umfassende Bearbeitung und Publikation wird Richard Stettiner verdankt: Die illustrierten Prudentiushandschrifiten (Berlin 1895; Tafelband: Berlin 1905). Seine Ergebnisse sind kritisch gemustert von Helen Woodruff, The Illustrated Manuscripts of Prudentius: Art Studies (Cambridge/Mass. 1929) 33ff. Die Bilder der Sanktgaller Psychomachie (Stiftsbibliothek St. Gallen, Nr. 135, 11. Jh.) hat Engelmann im Anhang seiner doppelsprachigen Ausgabe (s. oben Anm. 46) wiedergegeben.

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Prachtexemplar: den Berner Prudentiuscodex karolingischer Zeit57. Alle diese Miniaturen gehen auf einen künstlerischen Archetypos und über ihn hinaus auf den ersten Entwurf, eine illustrierte Psychomachie der Spätantike, wohl noch des 5. Jahrhunderts, zurück. Original und Archetypos sind verloren, doch gestatten die erhaltenen Illustrationen besonders in zweien der mittelalterlichen Handschriften sichere Rückschlüsse auf die Art der ersten Miniaturen58. Auch der spätantike Illustrator arbeitete nach Vorlagen. Obwohl es die lückenhafte Erhaltung der Kunstwerke, zumal der römischen Monumentalund Buchmalerei, nicht gestattet, alle möglichen Vorbilder des ersten Miniators auszumachen, darf man annehmen, daß die Reliefdarstellungen der Trajans- und der Marcussäule in Rom eine seiner Hauptquellen waren59. Die beiden Triumphsäulen boten sozusagen einen Thesaurus antiker Schlachtenszenen.

57 Die hier (Tafel Π, ΠΙ und IV) zur Abbildung ausgewählten Seiten der Berner Bilderhandschrift (cod. 264 der Burgerbibliothek Bern, 1. Hälfte des 10. Jh. = cod. U der Ausgaben von Bergman und Lavarenne) zeigen den Angriff der veterum Cultura deorum auf Fides (fol. 34v = p. 68 [Ausschnitt]), ihre Tötung durch Fides (fol. 35r = p. 69: vgl. dazu unten Anm. 84) und den Triumph der Fides, die Bekränzung der Märtyrer (fol. 35" = p. 70: das Bild im oberen Teil der Seite vor Vers 36). Zur näheren Beschreibung der Abbildungen, zum Vergleich mit den übrigen Illustrationen derselben Szenen usw. verweise ich auf den Textband von Stettiner (235/ 43). Ich hebe hier nur einen Punkt hervor. Die Tugend erscheint in dem dritten Bild anders gekleidet als auf den beiden vorhergehenden Seiten derselben Handschrift: nicht mit entblößtem Oberkörper, sondern in einem langen, langärmeligen Gewand, was im Text keine direkte Stütze hat. Offenbar sollte der Verschiedenheit der Situation Rechnung getragen werden: die krönende Fides ist eine andere als die kämpfende! Dieselbe Veränderung in der Gewandung der Figur läßt auch der Vossianus in Leiden, ein Hauptvertreter der anderen Miniaturengruppe (s. die folgende Anmerkung), erkennen, dessen sehr skizzenhafte Zeichnungen ich kürzlich im Original betrachten konnte (vgl. Stettiner Tafel 19, 2). Vielleicht gehört also diese verschiedene, den Text frei interpretierende Behandlung der triumphierenden Fides zu denjenigen Zügen der Psychomachieillustrationen, die bis auf den Archetypos oder sogar auf den ersten Entwurf selbst zurückreichen. Im Vossianus ist auch das Haar verschieden gegeben: lang und wild in den beiden Kampfszenen, kurz und ordentlich in der Krönungsszene - und nur in dieser trägt die Tugend einen Heiligenschein (sowohl im Vossianus als auch in der Berner Handschrift). Die Farbigkeit der Miniaturen verdient, soweit vorhanden, ebenfalls Beachtung, worauf ich hier nicht weiter eingehe. Die Seite 69 des Berner Codex ist auch abgebildet bei W. Braunfels, Die Welt der Karolinger (1968) Abb. 300, die Seite 70 bei Otto Homburger, Die illustrierten Handschriften der Burgerbibliothek Bern, 1962, Tafel 9 (farbig) und bei J. Hubert - J. Porcher - W.F. Volbach, L'empire carolingien, Paris 1968, Abb. 303. Herrn Bibliothekar Dr. Chr. v. Steiger, Bern, danke ich für freundliche Auskunft und für die Erlaubnis zur Reproduktion der Miniaturen. 58 Es sind dies ein Parisinus des 10. Jh. (lat. 8318) und ein Leidensis des 11. Jh. (Voss. lat. Oct. 15), mit denen sich noch weitere Hss. zu einer Gruppe zusammenfügen: ihnen steht eine zweite Gruppe gegenüber, deren Illustrationen auf einer karolingischen Zwischenquelle fußen und stärker überarbeitet sind. Vgl. Stettiner a.O. 151ff. (ebd. 201 ein Stemma). Zur letzteren Gruppe gehört der Berner Codex, s. die vorige Anmerkung. 59 Katzenellenbogen a.O. (oben Anm. 52, ich zitiere die Dissertation) 12. Über die Wirkung der Marcussäule auf die Kunst der Spätantike und des Mittelalters vgl. M. Wegner, Die kunstgeschichtliche Stellung der Marcussäule: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 46 (1931) 61/174, bes. 107/11 zum Adlocutionsschema.

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Der Künstler mag angesichts der Monumente selbst, vielleicht aber auch nach einer illustrierten Beschreibung der Säulen, die er als Musterbuch benutzte, gearbeitet haben. Wie Prudentius selbst sich seine Anregungen aus Vergil holte, so der Miniator aus den Zyklen der Säulenreliefs, und wie das Vergilische bei Prudentius neu gestaltet wird und einen neuen Sinn erhält, so auch das künstlerische Formengut der Antike durch den Zusammenhang mit dem Dichtertext und die Anpassung der Malereien an die Aussage des Textes. Ein Beispiel: Auf der Marcussäule ist dargestellt, wie ein Barbar auf zügellosem Pferd in wilder Flucht auf zwei ruhig stehende römische Soldaten lossprengt, von denen der eine auf den heranjagenden Reiter deutet, das Geschehen aufmerksam, doch ohne Erregung verfolgend. Diese oder eine ähnliche Szene hatte der Miniator vor Augen, als er den Angriff der Superbia auf Mens Humiiis und Spes illustrierte. Das Motiv der Flucht war für ihn freilich nicht brauchbar - ebenso wenig wie etwa für Prudentius der Tod des Herminius an der besprochenen Vergilstelle. Denn Superbia greift ja an, flieht nicht. Löste er die Szene jedoch aus dem originalen Zusammenhang, so bot sie eine treffende Vorlage. Ein Kenner der Materie bemerkt dazu60: "Die typische Komposition einer profanen Kriegsdarstellung wird in das Bild einer allegorischen christlichen Kampfszene übernommen und umschließt, textentsprechend abgewandelt, einen christlichen Inhalt, der darin seinen vollkommenen Ausdruck findet." Mit fast denselben Worten könnte man das Verfahren des Prudentius beschreiben, obschon die Leistungen von Dichter und Miniator nicht voll kommensurabel sind. Denn der Maler arbeitet ja auf der vorgegebenen festen Grundlage des Textes. Die literarische Leistung ist in diesem Fall komplizierterer Natur. Welcher innere Sinn liegt nun in der Darstellung der Fides bei Prudentius? Welchen Begriff hatte der Dichter vom christlichen Glauben, daß er sich durch eine Schilderung wie die des Herminius bei Vergil anregen lassen konnte? So viel lehrte uns bereits der erste Augenschein: es sind auch in diesem Fall nicht bloße Formalien, die der Dichter der Vorlage entnimmt, es ist ein Gedanke, den er auf seine Weise nutzt! Der Gedanke nämlich, daß sich Mut und Zuversicht eines Kämpfers im Verzicht auf schützende Wappnung offenbaren können. Aber was für einen Mut und was für eine Zuversicht meint Prudentius? Worin liegt das Neue? Schwen (5) erklärt lapidar: "Das Bild des nicht gepanzerten Kämpfers: bei Vergil ein Zeichen frevelnden Leichtsinnes

60 Vgl. Katzenellenbogen 13. Ebd. weitere Beispiele samt der dazugehörigen Bildernachweise.

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(...), bei Prudentius eines besonderen Mutes". Das ist im Falle des Herminius schief, im Falle der Fides zu wenig. In solchen dürren Feststellungen zeigen sich die | Grenzen dieser in ihrer Art tüchtigen Dissertation. Smith sieht schärfer hin, verfehlt aber trotzdem das Ziel. Er meint (162), Fides repräsentiere den Enthusiasmus des Neophyten, also des Neugetauften, da ja Fides als erste Kämpferin auftrete. Aber die Psychomachie bietet keine chronologisch geordnete Seelengeschichte. So läßt sich die Reihenfolge der Tugenden nicht erklären. Die Anfangsstellung gerade der Fides hat zwar einen guten Sinn, aber einen viel allgemeineren und tieferen: der Glaube ist Anfang, Fundament und Mutter allen christlichen Lebens und muß daher allem vorangehen: άπάντων πραγμάτων ή πίστις προηγείται (Theophil, ad Autol. I 8)61. Im übrigen wäre es schlimm, wenn der Neophyte mehr Begeisterung zeigte als der im Glauben Fortgeschrittene! Das wäre nicht christlich gedacht, derlei dürfen wir einem Prudentius nicht zutrauen. Auch würde so die Personifikation nicht ihrer Aufgabe gerecht, den dargestellten Begriff zur Gänze und in typischer Weise auszudrücken. Nein: jene Sicherheit, die uns in Gestalt der Fides bei Prudentius bildhaft entgegentritt, ist die πληροφορία πίστεως (Hebr. 10,22): die feste Überzeugung, die volle Zuversicht des gläubigen Christen schlechthin. Von ihr spricht z.B. Paulus an einer Stelle, die sein eigenes Auftreten als Apostel beschreibt (1 Thess. 1,5): "Denn unsere Heilsbotschaft erging an euch nicht nur in Worten, nein auch mit Macht, im Hl. Geiste und mit großer Zuversicht (έν πληροφορία πολλή)". Der erste Clemensbrief charakterisiert so das Auftreten aller Apostel (1 Clem. 42, 3): "Sie empfingen also den Befehl, und von Zuversicht erfüllt (πληροφορηθέντες) ob der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus und im Glauben festgegründet (πιστωθέντες) durch das Wort Gottes, gingen sie hinaus mit der vollen Sicherheit des Hl. Geistes (μετά πληροφορίας πνεύματος άγίου), um die frohe Botschaft zu verkünden, daß das Reich Gottes kommen werde." Der Begriff πληροφορία (πληροφορεΐσθαι) kommt auch sonst vor62 und erst recht natürlich die Sache, für die er steht. Die Plerophorie zeichnet insbesondere die Märtyrer aus, deren Kämpfe Prudentius in den Hymnen περί στεφάνων (Peristephanon) vorführt. Hier hat die πληροφορία πίστεως auf andere Weise einen vollkommenen Ausdruck gefunden.

61 Vgl. "Studien" 31f. 62 Ich verweise noch besonders auf Ign. ad Magn. 11,1 und ad Smyrn. 1,1: ένόησα γαρ ύμας κατηρτισμένους έν άκινητω πίστει (...) πεπληροφορημένους εις τον κύριον ήμών ... κτλ.

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Es wundert daher nicht, wenn sich typische Züge der Märtyrerkämpfe gegen Richter und Folterknecht - die Unerschütterlichkeit der Überzeugung, die freie, ja herausfordernde Sicherheit des Auftretens trotz aller Bedrohung - in der besprochenen kurzen Szene der Psychomachie wie in einem Brennspiegel konzentrieren63. Auch das Verlangen nach Ruhm gehört dazu: Fides bekränzt nach errungenem Sieg die Märtyrer porta pro laude (psych. 38). Das sagt genug. Es ist der "unverwelkliche Kranz der Herrlichkeit", den sie empfangen (vgl. 1 Petr. 5, 4: τον άμαράντινον της δόξης στέφανον). So hat auch das epische Motiv des Schlachtenruhms in der Psychomachie eine verwandelnde Nutzung erfahren. Daß übrigens Fides dubia sub sorte duelli antritt (21), soll nicht etwa Zweifel an dem Ausgang des Kampfes wecken64 - der Sieg der Tugenden ist in der Psychomachie niemals ernstlich gefährdet - , geschweige denn eigene Unsicherheit der Kämpferin andeuten. Der Ausdruck kennzeichnet vielmehr das insanum bellum (27) im allgemeinen, wie schon ältere Erklärer richtig sahen65, und dient dazu, einen Kontrast zu schaffen, vor dem sich der siegreiche Mut der Fides desto wirkungsvoller abheben kann. Bleibt schließlich noch der agrestis cultus der Tugend. Hierzu ist ebenfalls längst das Nötigste gesagt: non enim adpraedicandum philosophos, sedpiscatores elegit46. Noch zu Arnobius' Zeiten mußte sich der Christ das Schimpfwort rusticus gefallen lassen67, und für alle Zeiten blieb der Glaube von der feinen Kultur unabhängig: surgunt

63 Vgl. "Studien" 32f. 64 Smith 161 legt auf dieses Detail zu viel Gewicht. 65 Antonius Nebrissensis bemerkt: Dubia sub sorte, non quod victoria sit dubiafortiterpro fide pugnanti; sed ad naturam respexit, in qua fortuna plerumque dominari solet. Ich zitiere nach der in der Prudentiusausgabe von M.J. Weitzius (Hanau 1613) angefügten "Sylloge annotationum" (121). Auch Johannes Sichard empfand das Richtige: Commissurus ingeniosissimus poeta Fidem cum Idololatria utriusque vires (...) describit, ita ut exprimo Fidei aspectu facile tibi victoriampollicearis (...) (Weitz, Sylloge 160). Daran ist festzuhalten, auch wenn man mit Arevalo einen geistigen Sinn in der Wendung erblickt (er denkt an die freie Willensentscheidung des Menschen). Prudentius selbst hat ja unmittelbar zuvor (V. 18) die ratio vincendi (!) als Thema seiner Darstellung benannt. Vgl. auch "Studien" 48'. 66 So die Notiz des Iso von St. Gallen ( = Glossae veteres bei Ar6valo: PL 60,23 A). Auch was der anonyme Kommentar bemerkt, den John M. Burnam herausgegeben hat (Commentaire anonyme sur Prudence, Paris 1910, 89), geht etwa in dieselbe Richtung: agresti, quia fides in rusticis et pauperibus maxime viget. Man wird sich allerdings am besten sogleich an die einschlägigen Schriftstellen erinnern, bes. an Je. 2, 1/5 und 1 Cor. 1, 26f.: βλέπετε γαρ την κλήσιν υμών, άδελφοί, δτι οϋ πολλοί σοφοί κατά σάρκα, ού πολλοί δυνατοί, ού πολλοί ευγενείς ... κτλ. 67 Vgl. Arnob. adv. nat. V 32 (CSEL 4, 202), ferner: Porphyrios bei Hieran, tract, ps. 81 (CCL 78, 89). Den Christen selbst galten rusticitas und simplicitas der Apostel als Beweis dafür, daß die Ausbreitung des Evangeliums dem Wirken Gottes verdankt werde (einiges dazu aus Hieronymus bei Eiswirth a.O. [oben Anm. 25] 35f.).

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indocti et caelum rapiunt, et nos cum doctrinis nostris sine corde ecce ubi volutamur in carne et sanguine? (Aug. conf. VIII 8, 19). Für die ästhetischkünstlerische Wirkung der Szene bei Prudentius entscheidend ist, wie bereits bemerkt, die Tatsache, daß dieses descriptive | Detail mit dem der mangelnden Wappnung unlösbar verknüpft erscheint. Der Dichter war eben allenthalben bemüht, verschiedene Seiten der Fides Christiana, die in der Sache ihre Einheit besitzen, auch äußerlich zu einer Gesamtgestalt zu verbinden.

Die Grausamkeit (Verse 28/35) Es gibt wohl kaum einen modernen Prudentiusleser, der nicht angesichts solcher Szenen wie der Tötung der Idololatrie schockiert wäre, und es fehlt denn auch nicht an negativen Urteilen über diese Seite der prudentianischen Darstellung68. Denn alle Tötungsszenen der Psychomachie fallen mehr oder minder grausam aus. Dabei ist es gar nicht so sehr die Grausamkeit an sich, die überrascht und abstößt. Das antike Epos ist voll von Crudelitäten aller Art. Ich will hier darauf verzichten, eine Sammlung epischer Horrorstücke vorzuführen. Aber man lese nur einmal, welches Blutbad Nisus und Euryalus nachts im feindlichen Lager anrichten (Aen. IX 324ff., z.B. 329/34), welche Taten die Aristie der Camilla (Aen. XI 648ff., z.B. 666/69) oder die des Turnus und des Aeneas (Aen. XII 500ff., z.B. 51 lf. 537) schmücken! Ein blutsprudelnder Rumpf ohne Kopf; ein blutspeiender Krieger, der sich im eigenen Blute wälzt und in den blutigen Boden beißt; ein gespaltener Schädel, über den warme Hirnmasse herabfließt; abgeschlagene, bluttriefende Häupter am Streitwagen befestigt: dies und anderes gehörte auch für Vergil zur epischen Schlachtenschilderung. Dabei muß man Vergil gegenüber Homer in der Behandlung des μιαρόν sogar noch besondere Zurückhaltung zubilligen, wie uns Heinzes Buch gelehrt hat69. Was muten uns erst die nachvergilischen Dichter zu, namentlich Lucan und Seneca tragicus, jene "Virtuosen des grausigen Pathos"70! Nein: nicht die Grausamkeit der prudentianischen Tötungsszenen

68 Vgl. "Studien" 48. 69 Richard Heinze, Virgils epische Technik, Leipzig und Berlin 3 1915, 214. 492. 70 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und latein. Mittelalter, Bern 3 1961, 28 nennt Lucan den "Virtuosen des grausigen Pathos". Spezialliteratur zu dieser Seite der nachvergilischen Dichtung ist in den "Studien" 49 genannt. Hinzutritt jetzt noch M. Fuhrmann, Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung: Poetik und Hermeneutik 3 (1968) 23/66.

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als solche kann befremden, sondern vielmehr die Tatsache, daß sie in einem christlichen Gedicht vorkommt, ja sogar beherrschend hervortritt: daß fast alle christlichen Tugenden grausame Kriegstaten verüben. Was frühere Interpreten zur Erklärung des Tatbestands beitrugen, enthält nichts Überzeugendes. Man erinnerte an den angeblich grausamen spanischen Nationalcharakter, der sich bei Prudentius ebenso äußere wie bei seinen Landsleuten Seneca und Lucan71, rechnete auch wohl mit dem allgemeinen Einfluß der dichterischen Tradition. Ein Gelehrter meinte wiederum, das Grausige der Psychomachie sei Ausdruck der persönlichen Veranlagung des Dichters72, ein anderer entdeckte darin den natürlichen, von keinerlei moralischen Bedenken eingeschränkten Trieb des Menschen73. Smith behauptet nun sogar, zwischen dem Auftritt der von warmen Gefühlen bewegten Fides und der Brutalität, deren sie sich fähig erweist, herrsche "ein Widerspruch" ("a clash"). Natürlich muß dieser vermeintliche Widerspruch dazu herhalten, die Theorie des "Anti-Vergilianismus" bei Prudentius zu stützen, worauf ich hier nicht weiter eingehe74. Gegenüber all diesen weithergeholten, teils auch einander zuwiderlaufenden Erklärungsversuchen ist festzuhalten, daß der Grund für die Grausamkeiten der Psychomachie ein sachlicher, d.h. ein im Anliegen des Gedichts selbst begründeter sein muß. Will man ihn recht erfassen, hat man von der Tradition der antiken Dichtung, insbesondere des lateinischen Epos, auszugehen, aber eben nicht in der Weise, daß man dem christlichen Dichter unterstellt, er habe sich dem "Einfluß" der vorchristlichen Epik geöffnet, gehorche den Gesetzen des Genos oder dem Zeitgeschmack, ohne auch nur zu bemer-

71 Vgl. "Studien" 48f. Die dort u.a. genannte Untersuchung von Ramön Menendez Pidal, Die Spanier in der Geschichte (übersetzt von Κ. A. Horst) liegt jetzt in einem Nachdruck vor (Darmstadt 1973). Der spanische Gelehrte glaubt zwar, Charakterzüge seines Volks schon in vorrömischer Zeit nachweisen zu können, und entdeckt typisch Spanisches auch in den Märtyrerhymnen des Prudentius, aber gerade die Grausamkeit rechnet er nicht zu den Eigenarten spanischen Wesens. Curtius* Kritik an Men6ndez Pidal (Europ. Lit. 426f.) läßt im übrigen ahnen, wie wenig stichhaltig solche allgemeinen, den Volkscharakter betreffenden Vermutungen im Falle des Prudentius sind. Ob sie überhaupt je die Textinterpretation stützen können? Wenn jedenfalls heute sogar moderne Scheußlichkeiten wie das Bühnenstück "Garten der Lüste" von Fernando Arrabal mit dem spanischen Nationalcharakter erklärt werden (so war es in einer Theaterkritik zu lesen), dann zeigt das die Dehnbarkeit eines solchen interpretatorischen Prinzips. 72 Italo Lana, Due capitoli Prudenziani, Rom 1962, 89. 73 Emanuele Rapisarda in der Einleitung seiner Spezialausgabe der Psychomachie, Catania 1962, 17. Die vage geistesgeschichtliche Linie, die er von den Kampfszenen der Psychomachie zum Ritterroman des Mittelalters zieht, hilft dem konkreten Bedürfnis des Prudentiusinterpreten wenig. 74 Smith 162, vgl. 282: "This sudden transformation of Faith's conduct ..." etc. Es gibt nichts dergleichen. Die ganze Szene ist eine vollkommene Einheit.

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ken, wie unchristlich das doch alles sei! Prudentius ist ein so entschiedener Christ, die Psychomachie ein so sorgsam durchdachtes geistiges Gebilde, daß eine naive Hingabe an Tradition, Gattungszwang oder Zeitgeschmack, noch dazu in einem dermaßen auffälligen Punkt, gar nicht in Frage kommt. Prudentius läßt sich von diesen Kräften nicht treiben, er nutzt sie voll bewußt für seine Zwecke75. Welches sind diese Zwecke? Es ist wichtig, sich gegenwärtig zu halten, daß in der Psychomachie nicht | Menschen gegeneinander kämpfen, sondern übersinnliche Wesen, 'personifizierte Abstrakta', wie wir sagen. Nicht vergilische Helden töten und werden getötet, sondern Tugenden und Laster. Zwar erscheinen im Gefolge der einen oder anderen Hauptgestalt auch Menschen - etwa die Märtyrer im Heer der Fides - , aber in das Geschehen des allegorischen Gedichts greifen sie nicht ein. Die Auseinandersetzung wird auf einer höheren, allgemeineren Ebene geführt. Gegen das Gute, dargestellt in den verschiedenen Tugenden, steht das Böse in Gestalt der Laster. Das Gute und das Böse sind unversöhnliche Gegensätze76. In der allegorischen Einkleidung können darum die Vertreter des Guten und des Bösen nur bedingungslose, gnadenlose Feinde sein. Aeneas ist geneigt, den Bitten des besiegten Turnus nachzugeben; da erblickt er an Turnus die Waffen des getöteten Pallas, und erbittert senkt er das Schwert in die Brust des Gegners (Aen. XII 940ff.). Superbia bittet, aber ungeachtet ihres Bittens schlägt ihr die Tugend das Haupt ab (282f.). Die beiden Ereignisse sind trotz einer gewissen Ähnlichkeit im äußeren Handlungsablauf grundverschieden. Aeneas kann Mitgefühl zeigen, kann zwischen wechselnden Empfindungen schwanken: er ist ein Mensch. Die Tugend kann und darf das nicht, sonst wäre der geistige Sinn des Geschehens zerbrochen. Daß die Demut zögert und erst von der Hoffnung ermuntert werden muß, die gefallene Gegnerin zu töten (278f.), ist mit dem Zaudern des Aeneas (I.e. 940) nicht vergleichbar: das Zögern der Demut wird nicht durch die Bitten der besiegten Feindin hervorgerufen, ist überhaupt nicht durch die Gegnerin, sondern allein durch das eigene Wesen der Tugend moti-

75 Es kann daher durchaus nützlich sein, die Ästhetik heidnischer und christlicher Autoren im Zusammenhang eines gemeinsamen, der Spätantike eigentümlichen Geschmacks zu betrachten, wie dies Fontaine a.O. (oben Anm. 27) 758' fordert. Aber derlei wird für denjenigen Interpreten christlicher Texte und Denkmäler, der das Wesen der Phänomene erfassen will, niemals etwas anderes sein als eine bloße Vorarbeit. 76 Vgl. etwa Ruf. Orig. comm. in Rom. ΠΙ 1 (PG 14, 925 A): istae enim (sc. iustitia et iniustitia) sibi naturaliter adversantur. Vom Standpunkt der paganen Ethik aus: Cie. Lael. 47. Jede bildhafte Gestaltung des Gedankens fuhrt sofort in die Nähe der Psychomachie, z.B. Ruf. Orig. 1. c. II 1 (873 B): (...) iustitia iniustitiam trudet et sapientia stultitiam et sobrietas luxuriam jugabit. Vgl. unten Anm. 96.

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viert77. Vor diesem Hintergrand muß man die Grausamkeiten der Psychomachie insgesamt sehen: sie sind das ästhetische Mittel zur Darstellung eines elementaren moraltheologischen Faktums, nämlich der Tatsache, daß nichts Böses mit dem Heiligen Gemeinschaft haben, nichts Unreines in den Himmel eingehen kann78. Man könnte trotzdem fragen, ob die Nutzung der Grausamkeit epischer Schlachtenschilderungen durch Prudentius nicht ein Fall von mißglückter χρήσις ist, und mancher moderne Betrachter wird geneigt sein, die Frage zu bejahen. Aber an diesem Punkt muß das historische Verständnis einsetzen. Die moderne Welt bietet nicht weniger Grausamkeiten als die antike, und genug davon wird in Wort und Bild festgehalten. Aber wir besitzen keine kulturelle, keine literarische oder ikonographische Tradition, in der die Grausamkeit einen althergebrachten und anerkannten Platz hätte. Eben dies war jedoch in der Antike der Fall79, und es ist gerade eine der großen Leistungen des Prudentius, daß er diese Tradition nicht ignorierte oder auszuschalten versuchte, sondern im Gegenteil: fest ergriff und seinem Zweck dienstbar machte. Statt auf jenes Element der weltlichen Ästhetik seiner Kultur und seiner Epoche zu verzichten, formte er es christlich: er nutzte es, statt es fortzuwerfen. Darin spiegelt sich die Leistung des alten Christentums insgesamt. Prudentius leistete hier auf ästhetischem Gebiet, was andere Christen auf dem Gebiet des Kultus (der Liturgie) oder der Philosophie oder der Rhetorik oder der bildenden Kunst leisteten, indem sie vorgefundene Güter zur Darstellung der christlichen Lehre gebrauchten. Die Grausamkeiten der Psychomachie sind ein Beitrag zur totalen Umorientierung der antiken Kultur, zur καθολική μετάθεσις, um mit Clemens v. Alexandrien zu reden80.

77 Wir vernehmen nicht einmal die Worte der besiegten Superbia. Daß sie bittet, liegt nur in einem Wort der Schilderung beschlossen (282f.): Tunc caput orantis flexa cervice resectum Eripit (sc. Mens Humiiis)... eqs. 78 Besonders hervorzuheben ist hier Apc. 21, 27: και ού μή εΐσέλθη εις αύτήν (sc. εις τήν πόλιν) παν κοινόν καν ό ποιών βδέλυγμα καΐ ψευδός ... κτλ. Denn der Tempel, den die Tugenden in der Psychomachie nach Tötung der Laster errichten, wird in engem Anschluß an die Stadt der Apokalypse geschildert (vgl. "Studien" 93ff.). Ferner s. 1 Cor. 6, 9f.; Apc. 21, 8; 22, 15. 79 Für die ikonographische Tradition mag es genügen, wiederum an die beiden antiken Triumphsäulen in Rom zu erinnern: heransprengende Reiter, die dem Feldherrn mit ausgestrecktem Arm abgeschlagene Barbarenhäupter weisen, an Pfählen aufgespießte Köpfe, Gefallene sich unter Pferdehufen windend, Folterszenen im feindlichen Lager u.a. bilden feste Bestandteile der Bilderzyklen - obwohl aufs Ganze gesehen nicht zu verkennen ist, daß der Kunst in der Darstellung grausiger Details engere Grenzen gezogen sind als der Literatur. 80 Clem. Alex, ström. VI 47, 1 (GCS 52, 455): γέγονεν άρα τις καθολική κίνησις και μετάθεσις κατά την οίκονομίαν τοΰ σωτήρος. Die Äußerung steht bei Clemens in anderem

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In diesem weiten Zusammenhang müssen die Kampfschilderungen der Psychomachie gesehen werden. Aber die Interpretation darf sich nicht auf das Allgemeine beschränken. Prudentius hat nicht einfach wahllos Crudelitäten gehäuft, er hat den verschiedenen Kampf- und Sterbeszenen auch jeweils ein spezielles moralisches Interesse zu geben versucht. Er stellte das Selbstzerstörerische des Lasters dar - wie im Selbstmord der Ira, aber auch im Grubensturz der Superbia er brachte die Idee der Wiedervergeltung in mannigfacher Variation zur | Anwendung81 und verlieh vielen Details, etwa den Wundbeschreibungen, einen tieferen Sinn, wobei er bereits Ansätze Vergils nutzen konnte82. Auch die Todesart der Idololatrie ist nicht willkürlich gewählt83. Schon Schwen (a.O. 7) bemerkte, daß der erste Kampf seltsam unrealistisch wirkt. Das recht vage 'Schlagen' der beiden Gegnerinnen mag man noch aus der Kürze der Darstellung erklären, und Fides trägt ja auch keine Waffe, weshalb ihre kämpferische Aktion kaum konnte näher beschrieben werden. Aber daß Prudentius mehr als drei Verse aufwendet, um in merkwürdiger Kombination der Motive des Zertretens und des Erdrosseins den Tod des Lasters als Erstikkungstod unter dem Fuß der Fides zu schildern, muß in der Tat auffallen84. Solche Auffälligkeiten haben aber in der Psychomachie gewöhnlich einen besonderen Grund. So auch hier: der lange, qualvolle Tod (vgl. bes. V. 35)

Zusammenhang, doch in einem, der die Übertragung auf unser Thema nicht ausschließt. Vgl. auch die Sätze aus Paulinus oben Anm. 36, wo vertere (dirigere) neben uti vorkommt. 81 Dazu s. "Studien", bes. 51/81, wo ich allerdings - bei noch beschränkter Einsicht in die wahren Verhältnisse - das Talionsprinzip als die alleinige Möglichkeit ansah, das in der Grausamkeit der Tugenden liegende sachliche Problem zu lösen. Der hier dargestellte, weitere und tiefere Sinn dieses ästhetischen Mittels ist dort (47f.) nicht klar genug entfaltet. 82 Turnus bittet Aen. XII 97ff.: da (sc. hasta) sternere corpus (...) Semiviri Phrygis et foedare in pulvere crinis Vibratos calido ferro murraque madentis. Was Turnus hier dem 'Weichling' Aeneas wünscht, läßt Prudentius beim Tode der Luxuria Wirklichkeit werden: ihr parfümiertes Haar (psych. 312) wird mit Schmutz besudelt: comamque madentem Pulvere foedatur (413f.). Solche Züge des vergilischen Gedichts mußten den christlichen Dichter, der überall darauf bedacht war, die Tötungen als dem Laster angepaßte Strafaktionen erscheinen zu lassen, zu eigenem Gebrauch anregen. Anderes dieser Art: "Studien" 58". 83 Zum folgenden vgl. "Studien" 7460, wo auch darauf aufmerksam gemacht wird, daß bereits ein mittelalterlicher Erklärer den tieferen Sinn der Szene erkannte. 84 Das merkwürdig Unanschauliche dieses Tötungsakts bereitete denn auch den Prudentiusillustratoren erhebliche Schwierigkeiten. Beachtenswert, daß in der Berner Handschrift das Laster mit einem Strick erdrosselt wird (siehe die Abbildung Tafel III), was sich durch ein Mißverständnis der künstlerischen Vorlage, aber auch des Texts erklären dürfte (Stettiner, Textband 241)! Ein ähnliches Mißverständnis begegnet übrigens in der Darstellung der Tötung der Avaritia (psych. 589/95), wo die kühne Ausdrucksweise des Dichters die Miniatoren an Fesselung des Lasters bzw. an Erdrosselung mit einem Band (statt, wie richtig, an Erdrosselung mit bloßen Armen) denken ließ. Die Beischrift zu diesem Bild lautet in fast allen Handschriften: Largitas avaritiam ligat (!). Vgl. dazu Stettiner, Textband 354f. Derlei Mißverständnisse können sich nicht etwa nur bei mittelalterlichen Buchmalern bilden: hierüber s. W. Richter, Vergil, Georgica, München 1957, 386 zu Verg. georg. 4, 405.

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symbolisiert das langsame Absterben des Heidentums, trägt also historischen Sinn. Diese Erklärung wird gestützt durch die unmittelbar folgenden Verse (36f.): nach dem Tod der veterum Cultura deorum frohlocken die "ungezählten" Märtyrer - mille steht als finitus numerus pro infinito. Hier überschneidet die ekklesiologische Dimension deutlich die psychologische. In der Vielzahl der Märtyrer kommt auch innerhalb der ekklesiologischen Dimension das Moment der Dauer des Kampfs zum Ausdruck. Trotzdem mag man sich fragen, weshalb Prudentius das langsame Ersticken nicht einfacher und zugleich wirklichkeitsgetreuer darstellte, z.B. durch eine Würgeszene wie im Fall der Avaritia (589/95). Doppelung der Motive hat er zwar vermieden, aber nicht gänzlich ausgeschlossen85. Nun wird man sich gewiß hüten müssen, schlechthin alles erklären zu wollen. Ein Zuviel schadet der Interpretation. Aber mir drängt sich eine Vermutung auf, die ich immerhin der Mitteilung für wert halte. Ich glaube, daß Prudentius auch hier nach einer ganz bestimmten Vorlage arbeitete, keiner vergilischen zwar, aber einer lukrezischen. Zu den eindrucksvollsten Bildern Lukrezens gehört die Darstellung der Religio innerhalb des Lobpreises auf Epikur im ersten Buch: 62

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Humana ante oculosfoede cum vita iaceret in terris oppressa gravi sub religione, quae caput a caeli regionibus ostendebat horribili super aspectu mortalibus instans, ... eqs.

"Als das Leben der Menschen - ein elendes Schauspiel - auf der Erde darniederlag, niedergedrückt durch die Last der Religion, die ihr Haupt aus den Regionen des Himmels zeigte, mit gräßlichem Anblick über den Menschen stehend (...)",

85 Ein merkwürdiger Fall, der noch einer befriedigenden Erklärung harrt, ist der folgende: die Tugend Pudicitia trägt herrliche Waffen (41) und tötet ihre Gegnerin mit dem Schwert (49f.). Aber seltsamerweise wehrt sie die Fackelstöße der Libido mit einem saxum (47) ab! Das epische Motiv des Steinwurfs braucht Prudentius für die Sobrietas (417ff.), dort jedoch mit gutem Grund, denn Sobrietas ist waffenlos. Warum nahm Prudentius die Doppelung des Motivs in Kauf? Warum wird der Stein von Pudicitia zudem noch auf höchst unrealistische Weise (vgl. Schwen 9) als Defensivwaffe benutzt? Es muß ein spezieller, allegorischer Bezug vorliegen. Das Richtige ist, wie gesagt, noch nicht gefunden. Giselinus - selbst Arzt - führte eine Galenstelle an: De sanitate tuenda VI 14, 11 (Weitz, Sylloge 478), die nicht trifft, aber immerhin zeigt, daß der Gelehrte die Notwendigkeit eines speziellen Bezugs zwischen saxum und pudicitia bzw. libido erkannte (Lavarenne, Kommentar 219f. macht es sich zu einfach).

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da wagte es zuerst Epikur, die Augen zu erheben und gegen sie anzutreten (66f.). Er blieb Sieger (75: victor): 78

quare religio pedibus subiecta vicissim opteritur, nos exaequat victoria caelo.

"Daher wird die Religion zur Vergeltung unter die Füße geworfen und zertrampelt, uns hebt der Sieg zum Himmel empor." Prudentius kannte Lukrez86, gewiß also auch diese berühmte Stelle, auf die Vergil in seinem Preis Lukrezens in den Georgica (II 492) anspielt. Sie wird ihren Eindruck auf den christlichen Dichter nicht verfehlt haben, und ich meine, unser Passus zeugt davon. Natürlich darf man hier nicht bloß auf die Worte sehen, man muß vielmehr die Vorstellung im Ganzen begreifen. Da ist zunächst das drohende caput der lukrezischen Religio, das die Menschen schreckt horribili ... aspectu. Prudentius seinerseits konzentriert Beschreibung und Kampfhandlung ganz auf das caput der veterum Cultura deorum: er stellt es uns als Haupt eines Ungeheuers vor, dessen Schläfen die Binden der heidnischen Priester schmücken (30) und dessen Mund vom | Blut der Opfertiere gesättigt ist (3 lf.). Die Religio wird bei Lukrez zertreten pedibus subiecta-, dasselbe Schicksal erleidet die Götterverehrung in der Psychomachie, nur daß Prudentius die Vorstellung wiederum detaillierter ausführt (pede calcat elisos ... oculos). Die Vergeltungsidee übrigens, die bei Lukrez besonders durch vicissim (sc. subiecta, opteritur) hervorgehoben wird, mußte dem christlichen Dichter ganz im allgemeinen sehr sympathisch sein. Weiter: auch bei Lukrez handelt es sich um einen Kampf (67), auch hier gibt es einen siegreichen Vorkämpfer (75) und einen Sieg, der die Menschen zum Himmel emporhebt (79). Was aber schwerer wiegt: die Gegnerin ist dieselbe. Zwar kommt das völlig andere Ziel der Kämpfe hier und dort durch den verschiedenen Namen der Feindin zum Ausdruck - gegen die religio schlechthin konnte Fides natürlich nicht antreten - , aber Prudentius mochte mit gewissem Recht in der lukrezischen religio die veterum Cultura deorum erblicken, auf deren Konto Lukrez Greueltaten wie die Opferung Iphigenies (das 'exemplum religionis, : Lucr. I 84/101) setzt.

86 Vgl. Emanuele Rapisarda, Introduzione alia lettura di Prudenzio, Bd. 1 Catania 1951: Influssi lucreziani. Hier stehen begreiflicherweise die dogmatischen Lehrgedichte des Prudentius im Vordergrund, die Psychomachie ist nicht behandelt.

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Trifft unsere Vermutung das Richtige, dann fassen wir hier ein exzellentes Beispiel christlicher χρήσις: die furchtbare Götzendienerei wird zertreten, wie Lukrez empfand und schilderte, aber nicht dank der Heilslehre Epikurs, sondern durch den christlichen Glauben. Zugleich lassen sich so die unrealistischen Züge der prudentianischen Darstellung plausibel erklären. Die Vernichtung des scheußlichen Haupts und die Strafe des pedibus subicere, 87 opterere wurden verbunden und unter Verwendung vergilischer Ausdrücke zu einer epischen Kampfhandlung gestaltet, wobei auch - wegen des angestrebten symbolischen Gehalts - die Langsamkeit des Sterbens mit zu berücksichtigen war. Eine Folge solchen kombinatorischen Verfahrens ist das eigentümlich Wirklichkeitsfremde der Handlung, das einst Schwen zu denken gab. Prudentius hat derlei Nachteile, falls er sie als solche betrachtete, hier wie auch sonst in der Psychomachie in Kauf genommen. Die Kraft der vielfältigen geistigen Bezüge, die er in das Werk senkte, wird bisweilen so stark, daß das darübergespannte Netz des äußeren Geschehens zu zerreißen droht.

Das Gebet (Verse 1/20) Die Erklärer bemerken, Prudentius rufe hier Christus an, wie Homer und Vergil zu Beginn ihrer Epen die Muse anrufen, und wirklich erinnert der Imperativ: dissere, rex noster (5) an jene vertrauten Wendungen: "Ανδρα μοι έννεπε, Μοΰσα - Musa, mihi causas memoraM\ Schwen notiert zudem die stilistischen Übereinstimmungen dieses Gebets mit den hymnenartigen Götterund Musenanrufen etwa zu Beginn der Aeneis und der Georgica. Der Vokativ (Christe), gefolgt von der Begründung des Anrufs in der Macht Gottes, formal durch Partizip (miserate) und Relativsatz ( q u i . . . cluis) ausgedrückt, dann der Imperativ: "sag' an!" {dissere) mit den anschließenden indirekten Fragesätzen {quo.... quod...), welche das Thema des Gedichts angeben, endlich die nochma-

87 Es entsprechen sich: altior insurgens (psych. 31 ~Aen. ΧΠ902); solo adplicat (32 ~ Aen. XII303 terrae adplicat)·, elisos oculos (33 ~ Aen. VIII261); difficilemque obitum (35 - Aen. IV 694 difficilisque obitus [ebenfalls zu Versbeginn]). Smith 284f. hat aus diesen versprengten Verselementen unhaltbare Folgerungen gezogen, die seine Hypothese der antivergilischen Ironie bei Prudentius stützen sollen. 88 Lavarenne, Kommentar 215: "Prudence commence son έρορέε all6gorique par Γ invocation initiale traditionelle des dpopdes classiques (...). Mais tandis qu' Homere et Virgile s'adressent ä la Muse, notre po£te prie naturellement le Christ." Ähnlich Bergman im Kommentar z.St. Das ist zu wenig. Es werden bei Prudentius nicht einfach Namen ausgetauscht! Man muß sagen, was sich inhaltlich verändert.

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lige Begründung des Anrufs (nec enim ...) samt näherer Beschreibung des Gegenstands: all das findet sich ähnlich in den Invocationes zu Anfang und an wichtigen Stellen innerhalb antiker Dichtungen. Den Gedanken also, daß der Dichter sein Werk mit dem Anruf göttlicher Hilfe und der Bezeichnung seines Themas beginnen müsse, und die stilistische Formung des Gebets hat Prudentius mit der antiken Tradition gemein. Aber was ist bei ihm daraus geworden! Um zunächst nur einzelne Punkte hervorzuheben: Die Musen rief der antike Epiker an, damit sie ihm Ereignisse aus grauer Vorzeit in Erinnerung brächten: et meministis enim divae et memorare potestis, | sagt Vergil (Aen. VII 645). Nur das ist ihre Aufgabe: dem Gedächtnis des epischen Dichters aufzuhelfen, damit er sich weit zurückliegender Vorgänge erinnere; sie sind ja die Töchter des Zeus εϊρεΰσαι τά τ' έόντα τά τ' έσσόμενα πρό τ' έόντα (Hes. theog. 38). Aber bei Prudentius wird derjenige um Beistand angerufen, der selbst Lenker und Herr des Geschehens ist. Die Anreden rex noster und dux bone sagen genug. Das Thema vollends, dem Prudentius sich zuwendet, bedarf in ganz anderer Weise der göttlichen Offenbarung: denn es ist ein täglich sich erneuerndes, aber tief verborgenes, geistliches Geschehen. Sucht man nach Vergleichbarem in der Antike, so wären die Götteranrufe zu Beginn der Lehrgedichte des Lukrez und Vergil in gewisser Beziehung passender als die epischen Musenanrufe. Denn dort sind es jeweils auch die Beherrscher der vom Dichter behandelten Bereiche, deren Hilfe in hymnenartiger Invocatio erbeten wird, und die Themen selbst sind von überzeitlicher, dauernder Bedeutung. Venus ist die Herrin der Natur, und deswegen möchte Lukrez sich ihres Beistands bei Abfassung des Gedichts versichern (12Iff.). Vergil ruft die ländlichen Gottheiten an, deren Gaben er besingen will (georg. 15/23; vgl. II 2/8). Aus dem epischen Genos könnte man immerhin Claudians mythologisches Gedicht De raptu Proserpinae anführen: hier bittet der Dichter die Götter der Unterwelt, ihm das Innere ihres Reichs zu erschließen (I 20ff.). Aber auch nach dieser Richtung hin tritt der Unterschied zu Prudentius klar zu Tage. Er liegt - unter anderem - in dem völlig anderen, tiefen Interesse, das Gott an dem Geschehen der Psychomachie nimmt: er selbst (ipse: 14) befiehlt dem Tugendheer, für den Menschen zu streiten, er selbst (ipse: 15) wappnet die Seele89, die wiederum für ihn (tibi... tibi: 17) kämpft und siegt. So entsteht eine neuartige Bindung zwischen Gott, dem Dichter, seinem Thema und sei-

89 Zu diesem Gedanken vgl. Palladius dial. 20 (PG 47, 75): Gott hat jedem Laster eine Tugend entgegengesetzt - eine Aufzählung folgt nur dem τΰφος nicht: diesem widersteht er selbst.

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nem Publikum: es gibt nichts voll Vergleichbares in den Beistandsbitten der antiken Dichter. Weder Lukrezens Herrin der Natur noch Claudians Unterweltsgötter sind so an dem Schaffen des Dichters beteiligt, auch nicht die vielen Landgottheiten Vergils, obschon hier eine intimere, empfindsamere Beziehung zwischen dem Dichter und den göttlichen Beherrschern des behandelten Bereichs der Natur zu bestehen scheint. Man begreift jetzt erst recht, wieviel mehr dem christlichen Dichter die Bitte des Aeneas um Apollons Erbarmen bedeuten mochte als einer der Musen- und Götteranrufe antiker Proömien. Die paradigmatische Nutzung jenes Aeneisverses zu Gedichtbeginn beweist es. Aber den auffälligsten und wesentlichsten Unterschied haben wir noch gar nicht berührt. Er liegt in den Eingangsversen ausgedrückt, welche - auch hierin den äußerlichen Anschluß an die antike Tradition wahrend - die Macht Gottes loben (1/4). Was für eine Macht ist das? Christus wird angerufen, weil er der Erlöser ist, der sich der Menschen stets erbarmt - über den christlichen Sinn des Erbarmens wurde schon oben S. 58 [151] gesprochen90. Aber die Macht des erbarmenden Gottes ist zugleich die des einzigen Gottes, denn Christus ist mit dem Vater wesensgleich91. Die zu Gedichtbeginn in Form einer Parenthese eingeschobene dogmatische Aussage (3f.) darf nicht als eine Art

90 Eines der großen Gedichte des Prudentius, die Apotheosis (über den Sinn des Titels s. RhM 109 [1966] 92/94 [in diesem Bande S. 17/19]), ist zum wesentlichen Teil der Darstellung der Erlösertat Christi gewidmet. Hier findet sich auch der Satz (apoth. 155f.): semper in auxilium Sermo Patris omnipotentis Descendit servando homini... eqs. Das heißt: Christus hat sich auch vor der Inkarnation den Gerechten des Alten Bundes als Helfer sichtbarlich gezeigt (apoth. 22/170). Der Vokativ: semper miserate in der Psychomachie impliziert tiefreichende christliche Gedanken. 91 Lavarenne, Kommentar 215 z.St. zeigt sich irritiert ob des Umstands, daß der Hl. Geist hier nicht wie sonst an vergleichbaren Stellen bei Prudentius mitgenannt wird. In der Tat erklärt Prudentius apoth. 241 f.: (hoc sequimur) numquam, nisi Sanctus et unus Spiritus intersit, Natum Patremque vocare. Wenn der Dichter hier von dieser Regel abwich, kann man das mit Bergman, Kommentar z.St. daraus erklären, daß die Person Christi hier in besonderer Weise in den Mittelpunkt gerückt wird. Es mochte Prudentius in diesem Fall ausreichend erscheinen, die Macht des Erbarmers durch die Betonung der Wesensgleichheit mit dem Vater hervorzuheben. Der Anstoß, den Lavarenne nimmt, ist im übrigen alt. Die varia lectio: de nomine trino (statt: utroque) stellt einen bewußten Harmonisierungsversuch dar, wie denn auch sonst Interpolamente - auch solche größeren Umfangs - , deren Motiv im Dogmatischen liegt, bei Prudentius nicht unerhört sind. Hinter der pointierten Distinktion von unus (3) und solus (4), die Lavarenne für eine entschuldbare Subtilität hält (" ... la subtilit6 est excusable"), steht in Wahrheit eine lange geistige Tradition: die Abwehr des Gedankens einer solitudo Gottes, den bereits der philosophische Monotheismus hervorrief (vgl. Cie. Hortensius frg. 30, bei Lact. inst. 17, 4), den die Christengegner aufgriffen (Min. Fei. 10, 3) und den die christlichen Theologen insbesondere durch Entfaltung der Lehre von der Hl. Trinität widerlegten (vgl. bes. Hilar, trin. IV 17/21). Die Begriffe unus - solus (solitarius) spielen dabei eine wichtige Rolle. Die sog. Fides Damasi (Nr. 71 bei Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum) hält fest: non tres Deos, sed Patrem et Filium et Spiritum Sanctum unum Deum colimus et confitemur: non sie unum Deum quasi solitarium ... eqs. Vgl. Thomas v. Aquin, Summa Theol. I 31, 2f.

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Pflichtübung des Dichters mißverstanden werden. Sie erklärt vielmehr den Charakter des ganzen Gebets, das von dem Glauben an das Erbarmen und die Macht des Einen Gottes geprägt wird. Der Unterschied zu den epischen Götteranrufen, auch zu Aeneas' Gebet an Apollon, kann gar nicht groß genug gedacht werden. Aeneas wendet sich nach der Beistandsbitte an den Schutzgott Trojas auch den bislang feindseligen Gottheiten zu: dique deaeque omnes ... eqs. (Aen. VI 64)! Der Kreis unserer Interpretationen beginnt sich zu schließen. Es bleibt noch die Aufgabe, von den einleitenden Versen her einen Blick auf das Ganze der Psychomachie zu werfen. Zweck der Psychomachie ist es zu zeigen, wie der Christ das Böse in sich selbst besiegen kann, kurz gesagt: die ratio vincendi (18). Der Zweck ist also ein didaktischer92, und wenn | moderne Gelehrte dazu neigen, Apotheosis, Hamartigenia und Psychomachia zu einer Trilogie zusammenzufassen93, so hat das hierin, in dem didaktischen Charakter auch der Psychomachie, eine gewisse Berechtigung. Die Psychomachie ist ein moralisches Lehrgedicht, jene anderen beiden Werke sind dogmatische Lehrgedichte94. Allerdings hat Prudentius den Zweck der Psychomachie sogleich in stark bildhafter Sprache beschrieben (5ff.): Christus möge künden, quo milite pellere culpas Mens armata queat... eqs. In den drei Schlußversen des Proöms (18/20) - der Editor Lavarenne setzt sie im Druck leicht ab, weil sie schon einen Übergang zum Hauptteil markieren - gibt nun Prudentius expressis ver-

92 Klar ausgedrückt ist dies bereits in den Versen 50ff. der Praefatio zur Psychomachie, welche die typologische Auslegung des Siegs Abrahams geben: haec adfiguram praenotata est linea, Quam nostra recto vita resculpatpede: Vigilandum in armis pectorumfidelium ...eqs. Das sind Forderungen, die dem Leben des Christen gelten: die dichterische Darstellung der Psychomachie soll sie erfüllen helfen. 93 In jüngerer Zeit hat besonders Steidle a.O. (oben Anm. 4) 261f. einen planvollen Zusammenhang der drei Gedichte - vor allem der Psychomachie mit der Hamartigenie - zu erweisen versucht. W. Ludwig ist jetzt auf diesem Wege weiter vorangeschritten (Die christliche Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Gattungen: Entretiens sur Pantiquit6 classique 23 [1977] 303/72). Er sieht in dem Gesamtwerk ein planvoll strukturiertes Gebilde - eine Art "Supergedicht" - , wobei sowohl inhaltliche wie metrische Analysen angestellt werden. Ein innerer Connex der einzelnen Werke, besonders der großen hexametrischen Gedichte, ist unverkennbar. Es fragt sich nur, wieviel davon auf das Konto systematischer Planung und Anordnung zu setzen ist: die Einheit der literarischen Produkte hat in der Einheit des Glaubens, dem sie entspringen, ihren tiefsten Grund. 94 Das gilt nicht ausschließlich. Die Psychomachie enthält mancherlei Dogmatisches. Prudentius hat besonders die Reden - die Nutzung der traditionellen Reden des Epos, der Hohnund der Triumphreden etwa, bildet ein besonderes Kapitel der Psychomachiedeutung - dazu gebraucht, dogmatische Tatsachen darzustellen (vgl. 66/75: Geburt Christi aus der Jungfrau; 216/27: Erbsünde; 764/68: Gottmenschheit Christi). Umgekehrt bietet z.B. die Hamartigenie ein großes, dunkles Sittengemälde (ham. 250/329).

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bis an, auf welche Weise er das lehrhafte Ziel seines Werks zu erreichen gedenkt: durch Darstellung der kämpfenden Gestalten. Das Bildhafte der Behandlung wird so sehr hervorgehoben (vgl. bes.: ipsas virtutum fades... notare), daß ein Erklärer vermutet, Prudentius selbst habe von vorneherein an eine Illustration der Psychomachie durch Miniaturen gedacht95. Wie stark Bilder in der moralischen Paränese wirken, wußte man längst, die antike Moralphilosophie hatte ausgiebigen Gebrauch davon gemacht. Besonders interessant für uns ist eine Senecastelle (epist. 59,6): invenio imagines (sc. in epistula tua), quibus si quis nos uti vetat et poetis illas solis iudicat esse concessas, neminem mihi videtur ex antiquis legisse (...) illi qui simpliciter et demonstrandae rei causa eloquebantur, parabolis referti sunt, quas existimo necessarias, non ex eadem causa qua poetis, sed ut imbecillitatis nostrae adminicula sint, ut et dicentem et audientem in rem praesentem adducant. Seneca nimmt für die moralphilosophische Unterweisung den Gebrauch von Bildern in Anspruch, den andere nur den Dichtern zugestehen wollten. Als Beispiel eines Bildes, das ihn stark beeindruckte, bringt er im folgenden ein militärisches Bild aus Sextius (ebd. 7: movit me imago ab illo posita ... eqs.). Den Nutzen der Bilder erblickt Seneca darin, daß sie die Anschauung stützen: (...) in rem praesentem adducant. Ein solches Bild kann eine Personifikation sein, so bei Seneca De ira II 35: er zeichnet ein gräßliches Bild der Ira, und unmittelbar danach (II 36) erwähnt er eine Anweisung des Sextius zur Zornestherapie: vielen Jähzornigen habe ein Blick in den Spiegel geholfen: perturbavit illos tanta mutatio sui, velut in rem praesentem adducti non agnoverunt se. Ebendies (in rem praesentem adducere) versucht Seneca mit literarischen Mitteln, durch Vergegenwärtigung der dira facies jenes Lasters, und nichts anderes meint Prudentius mit den Worten: vincendi praesens ratio est, si(...) virtutum facies et (...) portenta notare (liceat). Natürlich soll damit nicht etwa gesagt sein, daß Prudentius die Anregung zu der bildhaften Ausführung seines moralischen Lehrgedichts aus der antiken Moralphilosophie empfing. Paulus selbst, der im Epheserbrief (6,13/18) die geistliche Waffenrüstung des Christen beschreibt, und die Kirchenväter, die öfters Tugenden und Laster

95

Bergman, Kommentar 4 zu V. 19f.

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als personifizierte Gestalten im Kampf vorführen, boten dem Christen näherliegende und passendere Vorbilder96. Aber die oben ausgeschriebene Senecastelle weist uns darauf hin, welche Möglichkeiten bildhafter Darstellung moralischer Tatsachen sich gerade dem Dichter boten: in der Dichtung ist der Gebrauch von imagines sozusagen zu Hause. Prudentius ist der erste Dichter, der die in der Dichtung liegenden Möglichkeiten voll genutzt, Morallehre und Anschauung zu einem durchgängigen Ganzen geformt hat. Die Mittel dazu holte er sich aus dem antiken Epos, vor allem aus Vergil. Darin ruht die Bedeutung Vergils für's Ganze der Psychomachie. Prudentius nutzte das Epische zu didaktischem Zweck. Das Ergebnis ist eine eigenartige Gattungskreuzung: das epische Lehrgedicht oder das didaktische Epos97. Es wäre daher falsch, wollte man Prudentius' Absicht darin sehen, eine antike Literaturgattung zu "ersetzen". Auch von dieser Seite her erweist sich der beliebte Begriff der "Ersatzfunktion" | christlicher Poesie - darüber s. oben S. 53 [148] - als wenig förderlich, ja teils sogar als irreführend. Denn erfahrungsgemäß erweckt er leicht den schiefen Eindruck, als seien antike Gattungen, gattungsgebundene Inhalte (Schlachtenschilderungen!) oder Ausdrucksformen gewissermaßen geistige Notwendigkeiten, deren Fortfall unbedingteinen "Ersatz" erfordere. So denken, heißt zu literarisch denken. Nein: der Christ "ersetzt" nicht, er schafft unter freier Nutzung des Alten etwas Neues - weil er neue Ziele hat. Hier liegt der eigentliche Grund für das Phänomen der Gattungsmischung bei Prudentius, wobei das zunehmende Verfließen der Gattungsgrenzen auch in der paganen Literatur befördernd gewirkt haben mag. Durch die Unterordnung des Ästhetischen unter den moralisch-religiösen Zweck fügt sich die Psychomachie in das Gesamtwerk des Prudentius ein und darüberhinaus in die christliche Literatur überhaupt. Der Christ hat alles

96 Vgl. "Studien" 9 mit Anm. 2. Lehrreich, wie bei Hieronymus epist. 54, 16 fin. das Beispiel der Tötung des Holofernes durch Judith ins Allgemeine, Typologische übergeht: castitas truncat libidinem (vgl. psych. 60ff.). Eine besonders eindrucksvolle Parallele zum ganzen Konzept der Psychomachie, gerade auch zu den Gedanken der Eingangsverse, bietet später der hl. Leo d. Gr. in einer seiner Predigten (serm. 18,2: PL 54, 183 B/184 A). Es ist nicht auszuschließen, daß sich hier auch die Wirkung des prudentianischen Gedichts zeigt: Sed his atque aliis destruendis habet acies Christiana potentes munitiones et arma victricia (vgl. psych. 9/13), dum instruentemilitessuosSpirituveritatis(\gl. psych. 14/16), mansuetudo iram, largitasavaritiam, benignitas extinguit invidiam (...) subegit luxuriam continentia, humilitas arrogantiampropulsavit, et qui impudicitia sorduerant, castitate nituerunt. 97 Damit sei nicht bestritten, daß dieses Gedicht unter allen Werken des Prudentius den epischen Charakter am reinsten wahrt: "par son titre, son contenu, par l'homog£n£ite meme de sa composition" (Fontaine a.O. [oben Anm. 27] 757). Aber der inneren Aussage und dem Zweck nach ist es doch etwas anderes als ein antikes Epos.

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Tun auf den σκοπός, das τέλος des irdischen Daseins hin auszurichten, wie es Basilius in der Mahnschrift προς τους νέους eindringlich darlegt, und so auch das literarische Schaffen. Man lese nur, wie ernst Augustinus (conf. X 2, 2/4, 6) über Zweck und Nutzen selbst eines Werks wie der Confessiones reflektiert! Prudentius wollte als Dichter erreichen, was er als Beamter zeitlebens nicht erreicht hatte: etwas Nützliches zu leisten (vgl. praef. 28ff.; epil. 2Iff.). Die Psychomachie liefert ein eindrucksvolles Beispiel für die Zweckhaftigkeit christlicher Literatur98.

AUSBLICK

"Prudentius in the classroom?" lautet der Titel eines Aufsätzchens aus der Feder eines englischen Philologen99. Der Verfasser kommt zu dem Schluß, daß Prudentius sich für eine Schullektüre in extenso nicht eigne, doch empfiehlt er die Lektüre ausgewählter Stücke als anregend und nützlich. Seine Begründung: "They would widen the range and vocabulary of the pupils and convince them that Latin poetry did not expire with the Emperor Hadrian." Ich mache mir keine Illusionen über die heutige Situation des altsprachlichen Unterrichts. Aber eins scheint mir sicher: wenn der Gewinn einer Prudentiuslektüre nur in dem bestünde, was der englische Kollege nennt, sollte man sich

98 Die Bedeutung des sogenannten 'Epilogus' liegt nicht zuletzt darin, daß er den Grundsatz des utile christlicher Literatur durch 2 Tim. 2, 20 biblisch verankert. Vgl. bes. V. 21ff.: omne vas fit util e, Quod est ad us um congruens herilem; (...) Me paterno in atrio Ut obsoletum vasculum caducis Christus aptat us ib us ... eqs. Die uralte Streitfrage, ob der 'Epilogus' das Schlußwort zum Gesamtwerk des Prudentius bilde oder nicht, hat in neuerer Zeit wieder lebhaftes Interesse gefunden. Für mich entscheidet sie sich durch V. 7f. des Gedichts, und zwar negativ. Denn daß Prudentius rückblickend auf das Ganze seines Werks erklären soll, er bringe Jamben und Trochäen als Opfergabe dar, wo doch der überwiegende Teil seines Oeuvre - Apotheosis, Hamartigenie, Psychomachie, contra Symm. I und Π: zusammen ca. 4800 Hexameter! - im versus heroicus gehalten ist, kann ich wenigstens nicht glauben. Dieses alte Argument des Giselinus (vgl. Weitz, Sylloge 439f.) steht noch immer. Nicolaus Heinsius beachtete es nicht, als er, seine frühere Entscheidung widerrufend und seinen Blick allein auf das Zeugnis der Handschriften heftend, für die Schlußstellung des Gedichts eintrat (mir ist nur die Kölner Ausgabe vom Jahre 1701 greifbar: Aurelii Prudentii Clementis v.c. opera cum notis Nicolai Heins», Dan. filii et variorum doctorum virorum, Addenda p. 951), und was Arevalo hierzu vorbringt (PL 60, 592 A. 593 B), geht an der Sache vorbei. Aber seine hohe Bedeutung für die Beurteilung der prudentianischen Poesie behält der 'Epilogus' unabhängig davon, welcher Platz ihm ursprünglich zugedacht war. 99 H.J.W. Tillyard, Prudentius in the Classroom?: Greece and Rome 5 (1958) 192/95.

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und den Schülern die hierfür notwendigen Anstrengungen lieber ersparen. Im übrigen geht es nicht um Prudentius und schon gar nicht bloß um die Psychomachie100. Die Prudentiusinterpretationen sollten lediglich ein Beispiel bieten. Es gibt unzählige Möglichkeiten des diakritischen Interpretierens und ungezählte christliche Texte aller Schwierigkeitsgrade, die dafür geeignet sind.

EXKURS: D A S PRINZIP DER KRITISCHEN A U S W A H L

Unsere Betrachtung der altchristlichen Literatur ruht auf der Erkenntnis, daß sich die bedeutenden christlichen Schriftsteller nicht unbewußt der literarischen Tradition der Antike und überhaupt dem vorchristlichen Geist öffneten, sondern von ihrem eigenen Standpunkt aus voll bewußt und sorgfältig prüften, was für sie verwendbar war und was nicht. Deutlich bezeugen dies, wenn auch gleichsam auf einer unteren Stufe des Denkens, die Mahnschreiben großer christlicher Erzieher an ihre Schüler. Ich nenne deren zwei: einmal die Rede des hl. Basilius d. Gr. "An die jungen Männer" - vielleicht an seine Neffen - darüber, "wie sie aus den heidnischen Schriften Nutzen ziehen können": προς τους νέους όπως αν έξ 'Ελληνικών | ώ φ ε λ ο ΐ ν τ ο λόγων101, und zum anderen das schon oben S. 46f. [144f.] erwähnte Gedicht des Amphilochius an einen jungen Mann namens Seleukos102. Die Schrift des Basilius erfreut sich in der modernen Forschung besonderer Beliebtheit. Man schätzt sie als "Apologie" und "Lob" der klassischen Studien, man rühmt die "Liberalität" und "Aufgeklärtheit" des Verfassers103. Diese Urteile verfehlen allerdings den wahren Gehalt der Schrift. Schon der

100 Man könnte für den Schulunterricht auch an die Lektüre eines der Tageslieder des Prudentius denken, und M. Fuhrmanns Aufsatz im "Altsprachlichen Unterricht" (1971) 82/106 über den Hymnus Ad galli cantum (cath. 1) soll wohl diesem Ziel dienen. Aber ich bezweifle, ob das Gedicht, falls es wirklich, wie Fuhrmann glaubt (102), "keine Einheit der Szenerie, der Situation, des äußeren Ablaufs" erkennen ließe, sondern eine Einheit nur in der "Person Christi" besäße, etwas wäre, mit dem ein Gymnasiast auch nur einigermaßen fertig werden könnte. Über den Aufbau des Gedichts, seine künstlerische Einheit und sein geistiges Fundament handelt mein Aufsatz: Die Natursymbolik in den Tagesliedern des Prudentius (JbAC Erg.-Bd. 8 = Festschrift B. Kötting [1980]) [in diesem Bande S. 91/141]. ιοί Ich zitiere nach Kapitel- und Zeilenzahl der Ausgabe von F. Boulenger (Paris: Beiles Lettres Ί935 [1965]). 102 Amphil. iambi ad Seleucum, ed. E. Oberg (Berlin 1969) = Patristische Texte und Studien 9; mit dt. Übersetzung: ders., JbAC 16 (1973) 76ff. Ebd. 68ff. über Basilius als Vorbild des Amphilochius. 103 Ich verzichte darauf, diese Urteile zu belegen. Niemand wird Mühe haben, solche und ähnliche Äußerungen in der reichen Sekundärliteratur aufzuspüren.

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Titel, recht verstanden, belehrt eines Besseren104. Der Begriff des Nutzens, der im Titel enthalten ist und später im Text öfters wiederkehrt105, bildet einen Schlüsselbegriff der Schrift. Basilius schärft seinen Schützlingen ein, aus der heidnischen Literatur nur das "Nützliche" zu nehmen, womit schon zur Genüge ausgedrückt wäre, daß es auch das Gegenteil gibt: das Schädliche. In der Tat aber betont Basilius die Gefahren der Lektüre so stark, daß seine Schrift zugleich auch den Charakter einer Warnung trägt106. Er setzt dabei die Tatsache voraus, daß die jungen Leute heidnische Schulen besuchen oder doch Schulen, in denen die heidnischen Autoren gelesen wurden. Das waren die damaligen Verhältnisse. Was dem jungen Christen not tut, das ist der kluge, vorsichtige Gebrauch jener Autoren, das heißt: die Scheidung des Nützlichen vom Schädlichen, sowie die bereitwillige Aufnahme des ersteren und die entschiedene Abwehr des letzteren, also ein k r i t i s c h e s Verfahren. Darüber zu belehren, ist das erklärte Ziel des christlichen Pädagogen: τίνα οΰν έστι ταΰτα και δπως δ ι α κ ρ ι ν ο ΰ μ ε ν , τοΰτο δή και διδάξω ... κτλ. (1, 28ff.). Der Nutzen ist etwas Relatives, und wer streng auf den Nutzen einer Sache achten soll, der braucht ein Ziel, auf das er blickt. Es zeugt von der gedanklichen Klarheit und Festigkeit der Darstellung, daß Basilius gleich zu Beginn umreißt, wonach sich der Nutzen für den Christen bemißt (2, Iff.): nichts ist gut oder nützlich, dessen Zweck sich innerhalb der Grenzen des irdischen Daseins hält, nützlich ist nur, was der Vorbereitung auf das künftige Leben dient. Denn der Zweck des menschlichen Lebens auf Erden besteht darin, das ewige Leben zu erlangen: προς έτερου βίου παρασκευήν απαντα πράττομεν (2, 9f.). Um diesen Zweck einsichtig zu machen, sucht der Kirchenvater den jungen Leuten das unermeßliche Glück des künftigen Lebens wenigstens andeutungshaft vorzustellen (2, 13/25): es ist unendlich größer als alles Glück zusammengenommen, das Menschen je auf Erden erlebten. Von dem Gedanken an diesen Zweck ist die ganze Schrift geprägt. Er wird an

104 Gut erfaßt S. Giet den Sinn des Ganzen (Les Id6es et Taction sociales de Saint Basile, Paris 1941,229), den ich bei D.B. Saddington (The function of education according to Christian writers of the latter part of the fourth century: Acta Classica 8, 1965 , 86/101, ebd. 88) zitiert finde: "'Le Discours aux Jeunes Gens' n'a directement pour objet 'la culture classique' ni, en g6n6ral, Tutilit6 de la lecture des auteurs h6116niques', mais la manifre d'en tirer profit pour la fin essentielle de notre vie qui est le salut de l'äme." 105 Bezeichnend ist vor allem der Begriff des χ ρ ή σ ι μ ο ν (1, 27; 4, 50; 8, 3), der in Amphilochius' Gedicht an betonter Stelle im Vers zweimal wiederkehlt (vgl. das unten S. 85f. [164] ausgeschriebene Textstück): der alte christliche Leitbegriff der χρησις scheint darin durchzuschimmern. 106 In neuerer Zeit richtig bemerkt z.B. von Saddington a.O. (oben Anm. 104) 88".

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späterer Stelle noch einmal nachdrücklich wiederaufgenommen und durch Vergleiche veranschaulicht: der Steuermann lenkt sein Schiff zum Hafen, der Schütze schießt nach dem Ziel, und jeder Handwerker verfolgt mit seiner Kunst einen Zweck usw.107 - so muß erst recht das menschliche Dasein insgesamt auf einen Zweck (σκοπός, πέρας, τέλος) hin ausgerichtet sein (8, 6ff.), und der besteht eben darin, daß wir jene wunderbaren, unbeschreiblichen "Kampfpreise des Lebens" (8, 54ff., vgl. 1 Cor. 9, 25; Hebr. 12, 11; 1 Petr. 5, 4) zu erlangen streben. Diesen Zweck gilt es nun auch beim Studium der heidnischen Literatur im Auge zu behalten. Auch dabei kommt es auf den Nutzen an, und das Nützliche, das sich dort finden läßt, das ist das moralisch Wertvolle, das sind die Lehren und Beispiele, die zum Guten anspornen. Alles, was der Wahrheit verwandt ist und einen "gewissen" Nutzen verspricht (2, 39; 4, 40), soll der Schüler sich aneignen. Einen "gewissen" Nutzen: denn die heidnische Literatur bietet im Vergleich zur Hl. Schrift in jedem Fall nur "eine Art Schattenriß der Tugend" (10, 2f.). Deshalb eignet sich die Beschäftigung mit den heidnischen Autoren auch nur als Vorübung für diejenigen, die aufgrund ihres jugendlichen Alters noch nicht fähig sind, in den tiefen geistigen Gehalt der Hl. Schrift einzudringen (2,26ff.). Um das richtige Verfahren im Umgang mit der heidnischen Literatur zu verdeutlichen, gebraucht Basilius einen hübschen Vergleich (4, 36/54)108: | "Denn wie an den Blumen die übrigen Geschöpfe keinen weiteren Genuß als den des Geruches oder der Farbe haben, den Bienen es aber gegeben ist, auch Honig von ihnen zu nehmen, so können auch hier diejenigen, welche nicht bloß dem Süßen und Angenehmen in solchen Schriften nachgehen, auch einen gewis-

107 Nicht diese Vergleiche an sich sind neu und spezifisch christlich, und auch die Vorstellung, daß man ein Ziel brauche, ist es nicht (vgl. Aristot. EN I 1 [1094a 22ff.] &ρ' οΰν και προς τον βίο ν ή γνώσις αϋτοΰ (sc. τοΐ> τέλους) μεγάλην έχει £οπήν καί καθάπερ τοξόται σκοπόν εχοντες μάλλον &ν τογχάνοιμεν του δέοντος - Gedanke und Bild ebenso verbunden bei Persius sat. 3, 60), aber das Ziel selbst ist neu und, was damit zusammenhängt, die totale Umorientierung der Werte. 108 Auch diesen Vergleich hat Basilius nicht selbst erfunden - er begegnet außerhalb der christlichen Literatur mehrmals in Plutarchs Moralia (die Stellen bringt Boulenger in seiner Ausgabe p. 64: Note zu p. 45, ligne 30; vgl. bes. Plut. moral. 79 C/D) sondern wiederum im Zusammenhang seiner christlichen Darstellung passend benutzt. Auch Harald Fuchs hat die Stelle aus Basilius einer Übersetzung für wert gehalten: Die frühe christliche Kirche und die antike Bildung: Ant. 5 (1929) 107/19 (jetzt wiederabgedruckt: Das frühe Christentum im römischen Staat = Wege der Forschung 267, hrsg. von R. Klein, Darmstadt 1971, 33/46), ebd.

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sen Nutzen von ihnen in ihrer Seele hinterlegen. Ganz nach dem Bild von den Bienen also müssen wir die Schriften benützen. Jene nahen sich nämlich weder allen Blumen gleichermaßen, noch suchen sie von denen, die sie anfliegen, alles wegzutragen, sondern sie nehmen, so viel davon für ihre Arbeit tauglich ist; das übrige lassen sie unberührt stehen. Auch wir werden, wenn wir vernünftig sind, so viel für uns passend (οίκειον) und mit der Wahrheit verwandt ist (συγγενές τη άληθεία), von ihnen nehmen und das übrige übergehen, und wie wir, wenn wir die Blüten des Rosenstrauchs pflücken, den Dornen ausweichen, so werden wir auch von diesen Schriften, so viel n ü t z l i c h ( χ ρ ή σ ι μ ο ν ) ist, pflücken, vor dem Schädlichen uns hüten. Demnach ist es gut, gleich am Anfang jedes der Werke, die Gegenstand des Unterrichts sind, zu prüfen und mit unserem Ziel in Einklang zu bringen (συναρμόζειν τω τ έ λ ε ι ) . . . " Allein diese wenigen Zeilen genügen, um die verbreitete Ansicht zu widerlegen, Basilius sei der heidnischen Literatur gegenüber "weitherzig". Nein: er verlangt Wachsamkeit, Bereitschaft zur Unterscheidung, Festhalten des Ziels. Was in Basilius' Abhandlung den Eindruck der Großzügigkeit gegenüber den antiken Bildungsgütern erwecken kann, ist die Tatsache, daß er keinerlei stoffliche Beschränkung der Lektüre verlangt. Die ganze Weite der antiken Literatur wird zur Nutzung empfohlen. Ausdrücklich genannt sind Dichter, Redner, Historiker und Philosophen. Also: bei Wahrung des Prinzips kritischer Selektion ist hinsichtlich der stofflichen Grundlage große Weite nicht nur geduldet, sondern sogar ans Herz gelegt. Basilius schreibt (10, 4ff.): "... wer sorgfältig (!) von jeder Sache den Nutzen sammelt, zu dem gelangen wie zu großen Strömen von vielen Seiten viele Zuflüsse." Darin liegt aber eben nicht schlechthin Großzügigkeit und Weite. Vielmehr offenbart sich hier der entschiedene Wille, das beschriebene Selektionsverfahren auf das Gesamtgebiet der vorchristlichen Literatur auszudehnen.

113f. Wenn er freilich bemerkt, Basilius' Schrift zeuge von der Erkenntnis, daß die heidnische Literatur "für die freie Entfaltung eines sich selbst und seine Zeit erfüllenden Menschen Unersetzbares bot" (112), so offenbart sich hieran, wie gering die Bereitschaft zu sein pflegt, das τέλος des Christenlebens so darzustellen, wie es Basilius tat. An "freier" Entfaltung, Erfiillung des "Selbst" und der "Zeit" (!) war dem Kirchenvater nichts gelegen, geschweige denn, daß er die heidnische Literatur für "unersetzbar" gehalten hätte! Ich erwähne das alles nur deswegen, weil gerade Fuchs die wahren Verhältnisse in mancher Hinsicht besser trifft als andere.

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In diesem Punkte wie überhaupt in allen wesentlichen Zügen zeigt der zweite Text, der des Amphilochius, völlige Übereinstimmung. Der junge Seleukos soll bedenken, daß Gott Anfang und Ziel des Lebens ist (6f.), und er soll unter allen Umständen die sittliche Reinheit bewahren (8ff.). Das sind die ersten beiden Weisungen seines Ratgebers. Eingefügt in die zweite dieser beiden Vorschriften wird die Aufforderung zur Beschäftigung mit der heidnischen Literatur (33/61): statt den Lockungen des Lebens zu erliegen, soll sich der junge Mann in den Wissenschaften üben, und zwar in den Schriften der Dichter, Historiker, Redner und Philosophen. Doch soll er dabei mit Bedacht vorgehen, was wiederum durch den Bienenvergleich verdeutlicht wird109. Es lohnt sich, die Versreihe im Original vorzuführen:

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τούτοις δ' απασιν έμφρόνως έντύγχανε, σοφώς άπ' αυτών συλλέγων τό χ ρ ή σ ι μ ο ν , φεύγω ν δ' εκάστου την βλάβην κ ε κ ρ ι μ έ ν ω ς , σοφής μελίττης έργον έκμιμούμενος, ήτις έφ' απασιν ανθεσιν καθιζάνει, τρυγά δ' εκάστου πανσόφως τό χ ρ ή σ ι μ ο ν αυτήν έχουσα τήν φύσιν διδάσκαλον. σύ δ' έκ λογισμού των μεν άφθόνως δρέπου των ώφελούντων· ει δέ τι βλάβην φέρει, συνεις τό φαΰλον όξέως άφίπτασο· ώκύπτερος γάρ έστιν άνθρώποις ό νους.

"All diesem aber nähere dich mit Verstand, klug hiervon das B r a u c h b a r e sammelnd, k r i t i s c h bei jedem das Schädliche meidend: der weisen Biene Arbeit ahme nach, die sich zwar auf allen Blüten niederläßt, doch sehr klug von j eder nur das Brauchb a r e aberntet! Sie hat die Natur selbst zur Lehrmeisterin | , du aber gebrauche die Vernunft: reichlich pflücke von dem, was nützt, wenn aber etwas Schaden bringt, erkenne das Schlechte und fliege rasch davon, denn schnelle Schwingen hat der Menschengeist!"

109 Weitere Parallelen bei Oberg (Ausgabe: s. oben Anm. 102) 53. Auch Gregor v. Naz. hat den Vergleich. Hieronymus verwendet ihn, um Pauli Gebrauch der heidnischen Dichterverse und der Inschrift für den άγνωστος θεός zu illustrieren: in Tit. 1, 12ff. (PL 26, 607 B).

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Zweierlei gibt dieser Text her: einmal läßt er die Ausrichtung auf die ganze Weite der heidnischen Literatur erkennen, denn mit allen μαθήματα soll sich der junge Seleukos befassen (vgl. 38: απασιν; 42: απασιν; 43: εκάστου); und τό χρήσιμον (39. 43) reichlich - άφθόνως (45) - pflücken; andrerseits prägt er die Notwendigkeit ein, dabei klug und kritisch vorzugehen: έμφρόνως (38), σοφώς (39), κεκριμένως (40), πανσόφως (43). Somit kehren zwei entscheidende Momente, die wir schon bei Basilius beobachteten, auch hier wieder: kein Bezirk der heidnischen Bildung bleibt dem jungen Christen verschlossen, alles kann ihm nützen, wofern er kritische Vorsicht walten läßt. Ja, sogar aus den Darstellungen der δαιμόνων διδάγματα (54), aus der mythologischen Poesie, vermag er noch Gewinn zu ziehen, wenn auch nur im Hinblick auf die λόγοι (dazu s. oben S. 46f. [144f.]). Wie wir sahen, erschöpft sich die christliche Nutzung antiken Geistesguts bei weitem nicht in einem bloßen Auswählen, und sie ist inhaltlich auch nicht auf das Gebiet der Moral beschränkt. Man darf nicht vergessen, daß sich die Ratschläge in beiden Fällen auf eine rezeptive Beschäftigung mit der heidnischen Literatur beziehen. Eine kreative Verarbeitung des Gelesenen wäre ja auch von den jungen Leuten um so weniger zu verlangen gewesen, als sie in die christliche Lehre noch nicht voll eingeführt waren. Denn auch darin stimmen die beiden Pädagogen überein, daß die Lektüre der antiken Literatur nur progymnastischen Wert habe (Bas. 2, 26ff.; Amphil. 183ff.). Dennoch ist das schöpferische auch hier gegenwärtig, und zwar in doppelter Weise. Einmal lassen sich das Rezeptive und das Kreative bei dem beschriebenen Auswahlverfahren nicht völlig trennen. In der Praxis muß das eine vielfach in das andere übergehen. Das wird besonders deutlich, wenn Basilius sagt (3, Iff.), daß beim Vergleichen von Christlichem und Nichtchristlichem nicht nur die Erkenntnis eventueller Verwandtschaft, sondern auch die des Unterschieds nützlich sein könne, weil auch diese viel "zur Begründung des Besseren" beizutragen vermöge. Der Lernende soll also nicht nur sondern und sichten, er soll auch über die Unterschiede reflektieren. Hier zeigt sich, daß jenes Auswahlverfahren ein Element geistiger Sprengkraft enthält, dessen Wirkung über die Aussonderung des dem Christentum Fremden oder Widersprechenden hinausreicht. Zwei geistige Vorgänge: das Unterscheiden und das (stillschweigende) Korrigieren sind in diesem Verfahren verknüpft. Letzteres aber kann unter Umständen bereits einen Schritt hin zum gestaltenden Umgang mit den antiken Bildungselementen bedeuten. Insofern darf man vielleicht sagen, daß die beiden Erzieher auch in dieser Hinsicht ein gewisses προγυμνάζειν einleiten, mag das auch unausgesprochen bleiben. Zum zweiten ist die schöpferische Nutzung antiken Gedan-

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kenguts bei Basilius und Amphilochius in der Art gegenwärtig, wie sie selbst schreiben. Es ließe sich zeigen, daß z.B. Basilius in seiner Abhandlung eine Fülle von Gedanken, Begriffen und Bildern - von den Zitaten ganz zu schweigen - übernimmt, die sich bei antiken Autoren, bei Piaton etwa oder bei Plutarch, ebenfalls finden, nur eben so übernimmt, daß das Übernommene im neuen Zusammenhang einen neuen Sinn erhält. Dieses Andere, Neue herauszuarbeiten, wäre die eigentliche Aufgabe der Interpretation. Freilich kann die Aufgabe nicht allein auf der Basis der beiden hier herangezogenen Werke befriedigend gelöst werden. Erste Hinweise liefert allerdings auch eine immanente Betrachtung der Texte. Wenn etwa Basilius (a.O.: S. 85 [163]) betont, die heidnische Literatur vermittle nur σκιαγραφίαν τινά της αρετής, dann ist zumindest angedeutet, daß er unter der άρετή etwas anderes versteht als die heidnische Philosophie, und wenn er mahnt, man müsse sich durch | die Tugend einen Schatz für das andere (!) Leben erwerben110, so ist damit schon ein wesentlicher Unterschied zum Verständnis des Tugendbegriffs in der antiken Philosophie aufgewiesen. Auch andere Zentralbegriffe wie ψυχής έπιμέλεια (9, 2), κάθαρσις ψυχής (9, 35) erhalten bei dem Christen einen neuen Sinn, was aber eben nur in einem weiteren Zusammenhang deutlich würde. Schließlich erinnert das Auswahlverfahren selbst, um das es uns hier hauptsächlich ging, an die Weisungen, die Piaton (rep. 376 E/392 C) und Plutarch {De audiendispoetis) über die Dichterlektüre erteilen. Aber den christlichen Erziehern geht es nicht nur um die Dichter, und das oberste Ziel der Erziehung ist verschieden. Ein neuer Geist steht als Ganzes gegen einen alten111. Daß jedenfalls die beiden Pädagogen genau wußten, was sie ihre Schüler lehrten - ich meine: daß ihre praktischen Regeln tatsächlich auf der Grundlage theologischer Reflexion ruhen, sei hier noch durch eine weitere Passage dargetan, die zwar den bisher herangezogenen ähnelt, aber eben jene theologische Basis deudicher erkennen läßt. Sie hat wiederum für zwei Kirchenväter Geltung: das Stück steht in Gregors Grabrede auf Basilius. Es liefert überdies einen eindrucksvollen Beleg dafür, wie angemessen und treffend die χρήσις als hermeneutisches Prinzip bei der Interpretation frühchristlicher Texte ist (vier-

no Basil. 5, 1: ... δι' άρετης έπί τον βίον ήμΐν καταθεΐναι (καθένναι, codd.) δει τον έτερον ... κτλ. πι Eben dies wird in den modernen Betrachtungen oft übersehen oder doch zu gering bewertet. Wer etwa über Basilius' Rat zu kritischer Selektion bei der Lektüre urteilt: "Every educator from Plato down has maintained similar views" (Leo V. Jacks, St. Basil and Greek Literature, Diss. Washington 1922 = Patristic Studies 1,113), hat das Neue in Ziel und Anwendung des Selektionsprinzips nicht erfaßt.

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mal hintereinander begegnet in diesem Passus der Begriff des Nützlichen bzw. des Nutzenziehens). Gregor erörtert den hohen Wert der παίδευσις. Der Wert der christlichen steht außer Frage, aber auch die heidnische darf nicht pauschal abgelehnt werden112: "Denn wie wir Himmel und Erde und Luft und alles, was dazu gehört, nicht deswegen verachten dürfen, weil einige verkehrt darüber geurteilt haben, die statt Gott Gottes Werke verehrten, sondern wie wir, was n ü t z l i c h davon ist (χ ρ ή σ ι μ ο ν), uns fruchtbar machen zum Leben und Genuß, aber vermeiden, was Gefahren bringt, da wir nicht wie die Unverständigen dem Schöpfer die Schöpfung feindlich gegenüberstellen, sondern aus den Werken den Werkmeister erfassen und, wie der heilige Apostel sagt (vgl. 2 Cor. 10, 5), alles Denken gefangen nehmen für Christus; wie bekanntlich von Feuer und Nahrung und Eisen und was es sonst noch gibt, nichts an und für sich s e h r n ü t z l i c h ( χ ρ η σ ι μ ώ τ α τ ο ν ) oder sehr schädlich ist, sondern je nachdem, wie diejenigen darüber befinden, die davon G e b r a u c h m a c h e n (δπως αν δοκή τοις χ ρ ω μ έ ν ο ι ς ) - und selbst von den Kriechtieren hat der Mensch schon einige in den Arzneien zu Heilzwecken verarbeitet: so nun haben wir auch von jenen (den heidnischen Bildungsgütern) das aufgenommen, was sich mit der Erforschung und der Erkenntnis der Dinge befaßt, verabscheut aber haben wir alles, was zu den Dämonen, zum Abgrund des Verderbens führt. Immerhin aber haben wir sogar daraus für unsere Gottesverehrung N u t z e n gezogen ( ώ φ ε λ ή μ ε θ α ) , indem wir durch das Schlechte das Gute erkannten und die Schwachheit jener Anschauungen zur Stärke unserer eigenen Lehre machten." Auch die heidnischen Bildungsgüter gehören zur Schöpfung Gottes: das ist der Grundgedanke. Der Christ darf und muß daher diese Güter zur Ehre und Anbetung Gottes einsetzen: das ist die Konsequenz. Aber da das Wahre und Gute in der heidnischen Bildung nicht rein erhalten ist, muß der Christ den rechten Gebrauch von ihr machen: das ist die Methode.

112 Greg. Naz. or. 43 (in laudem Basilii Magni), 11: PG 36, 508 A/509 A. Der Text ist ebenfalls von Fuchs a.O. (oben Anm. 108) 114f. herausgegriffen und übersetzt worden. Ich folge seiner Übertragung mit einigen Abweichungen.

V.

DIE NATURSYMBOLIK IN DEN TAGESLIEDERN DES PRUDENTIUS * 1.

Die Hymnen der Sammlung Cathemerinon des Prudentius sind nicht zuletzt dadurch Ausdruck christlicher Frömmigkeit1, daß sie mit den künstlerischen Mitteln der lateinischen Poesie eine bestimmte Art gläubiger Naturbetrachtung einprägen: wir sollen Vorgänge der Natur als Zeichen übernatürlicher Tatsachen begreifen und daraus Stützen unseres Glaubens gewinnen. Besonders in den drei Gedichten cath. 1 (Ad galli cantum), 2 (Hymnus matutinus) und 5 (Ad incensum lucernae) bildet diese Naturbetrachtung eine der wichtigsten geistigen Grundlagen der prudentianischen Poesie. Leider ist sie in dem neuen Teilkommentar, den die Holländerin Marion M. van Assendelft zu den Morgen- und Abendhymnen des Prudentius vorgelegt hat, ihrem Wesen nach arg verkannt worden, was nicht ohne Folgen auch für die Einzelerklärung der Stücke bleiben konnte2. Ja, man behauptet nicht zuviel, wenn man feststellt, daß die den erwähnten Gedichten zugrunde liegende Naturanschauung für Prudentius bislang überhaupt noch nicht klar herausgearbeitet worden ist. Ich nehme nun das Erscheinen des neuen Kommentars zum Anlaß, um das Versäumte in bescheidenem Rahmen, aber doch eingehender, als dies in einer

* Pietas. Festschrift fiir Bernhard Kötting = JbAC Suppl. 8, 1980, 411/46. ι Sie sind es in vielerlei Hinsicht, ohne daß die Frage, ob die Hymnen für liturgische Zwecke bestimmt waren, hierbei entscheidend ins Gewicht fiele (der hohe Kunstwert dieser Poesie gibt übrigens kaum ein Argument gegen solche Annahme her). Es mag hier genügen, daran zu erinnern, daß man die Gedichte beten kann und tatsächlich jahrhundertelang gebetet hat. Teile der prudentianischen Hymnen, so des ersten und zweiten Tageslieds, bilden auch nach dem Zweiten Vaticanum weiterhin Bestandteile des Römischen Breviers. Vgl. Consilium ad exsequendam constitutionem de sacra liturgia: Hymni instaurandi Breviarii Romani (Cittä del Vaticano 1968) nr. 31. 32. 33 u.a. 2 Marion M. van Assendelft, Sol ecce surgit igneus. A commentary on the morning and evening hymns of Prudentius (Cathemerinon 1 , 2 , 5 and 6) (Groningen 1976). Da sich die Kommentatorin das Prudentiusbuch von R. Herzog (Die allegorische Dichtkunst des Prudentius = Zetemata 42 [München 1966]) zum methodischen Vorbild der Interpretation erwählt hat (12), ist die neuerliche Auseinandersetzung auch mit dieser Arbeit unvermeidbar geworden (vgl. im übrigen: Gnomon 40 [1968] 361/70). Beide Bücher werden im folgenden nur mit Verfassernamen und Seitenzahl zitiert.

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Rezension möglich ist3, nachzuholen. Die Notwendigkeit einer klärenden Darstellung der Verhältnisse scheint mir schon deswegen gegeben, weil angesichts des Mangels an modernen Kommentaren zu den Tagesliedern alle, die sich für Prudentius interessieren - und das sind heute nicht mehr wenige - , zu diesem Hilfsmittel greifen werden. Der wahrhaft kardinale Irrtum der Prudentiuserklärung liegt hier darin, daß man die Zeichenhaftigkeit der Natur, die für Prudentius ebenso wie für die Alte Kirche überhaupt etwas von Gott Gewolltes, in der Schöpfung selbst Enthaltenes, also etwas Reales und Objektives ist, auf der sprachlichen, künstlerischen Darbietung dieser Zeichenhaftigkeit durch den Dichter beruhen läßt: daß man also dem Dichter zuschreibt, was der Dichter selbst Gott zuschrieb, daß man für Ausgeburten dichterischer Phantasie hält, was der Dichter selbst als Element der natürlichen Ordnung der Dinge begriff, daß man rhetorische Kunstmittel findet, wo der Dichter Realitäten sah. Der Irrtum ist, wie gesagt, alt. Der verdiente Prudentiuseditor J. Bergman, dem wir auch eine einführende Abhandlung zu den Tagesliedern verdanken, äußert sich | folgendermaßen zur Sache4: "... die größere oder geringere Genialität zeigt sich in der Art der Ausnutzung der poetischen [!] Symbolik und der Bildersprache [!]. ... Eine Allegorie kann leer und langweilig sein, sie kann aber auch eine Welt der Phantasie [!] mit großen und begeisternden Ausblicken eröffnen. Solche finden wir häufig gerade bei Prudentius." Nein: Begriffe wie Bildersprache, poetische Symbolik, Phantasie treffen nicht das Wesen der Naturbetrachtung des christlichen Dichters, sie deuten allenfalls die Hilfsmittel an, die der Künstler bei der Gestaltung der Natursymbolik einsetzte. Die Kommentatorin van Assendelft ist trotz aufrichtigen und in mancherlei Hinsicht auch erfolgreichen Bemühens, den christlichen Charakter der behandelten Gedichte sichtbar zu machen, in der bezeichneten Kernfrage kaum über Bergman hinausgelangt. Einleitend bespricht sie (13/21) die Vieldeutigkeit des Begriffs "Allegorie" in moderner Verwendung, gibt einen Überblick über die umstrittene Bedeutungsgeschichte des Worts, erörtert den Begriff "Typos" ("Typologie") und sein teils kompliziertes Verhältais zu "Allegorie", aber alle diese Auslassungen enden mit der ernüch-

3 Vgl. Gnomon 51 (1979) 136/44. 4 J. Bergman, Aurelius Prudentius Clemens ... I. Eine Einfuhrung in den heutigen Stand der Prudentiusforschung und eine Studie über die Hymnensammlung "Die Stunden des Tages" ... (Dorpat 1921) 101.

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V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern

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ternden Feststellung (20), daß die Kommentatorin den Begriff "Allegorie" im Sinne Quintilians gebrauchen wolle: άλληγορίαν facit continua μεταφορά (inst. 9, 2, 46). Demnach wäre es also eine Gedankenfigur, eine figura mentis (sensus, sententiarum), wenn Prudentius den Hahnenschrei als Zeichen des Weckrufs des göttlichen Richters, die Nacht als Symbol der Sünde, das anbrechende Tageslicht als Zeichen der Ankunft Christi darstellt! Das alles wäre also nur rhetorisch, gehörte in den Bereich des ornatus dicendü Aber die Kommentatorin hat ihren Ansatz wohl kaum bis zur letzten Konsequenz durchdacht. Im Kommentarteil gehen ihr die Begriffe durcheinander, es fehlt kaum einer der möglichen: "allegory", "imagery", "symbolism", "metaphor" stehen bisweilen auf einer einzigen Seite zusammen5. Daß die quintilianische Definition der Allegorie nicht das rechte Mittel ist, um die Dichtung des Prudentius interpretatorisch zu erschließen, hat bereits Herzog in seinem Prudentiusbuch betont (19f.), und man mag sich zunächst wundern, weshalb die neue Kommentatorin in diesem Hauptpunkt von Herzogs Darstellung, die sie sich ansonsten zum Vorbild nimmt, unbeeindruckt bleibt. Aber gar so verwunderlich ist das vielleicht doch nicht: Herzogs eigener Versuch, eine neue Definition christlicher Allegorie zu geben, die für Prudentius und die christliche Poesie allgemein gelten soll, verschwimmt ins Wesenlose, und mit dem Begriff der "sakramentalen Allegorie", den er bei Interpretation der Tageslieder anwandte, steht es nicht anders6. Verständlich, daß die Kommentatorin mit derlei Definitionen nichts anzufangen wußte! In Fragen der Terminologie hält man sich am besten an die Texte selbst. Denn Begriffe, die ein Autor gebraucht, hängen unauflöslich mit der Sache zusammen, die er im Auge hat, und nur gezwungenermaßen wird man sie zugunsten anderer Termini aufgeben. Prudentius verwendet zum Ausdruck übernatürlicher Bedeutung natürlicher | Vorgänge die Wörter figura, forma, signum (cath. 1, 16. 26. 45), und in Anlehnung an den letztgenannten spreche ich von "Zeichen" oder "Symbol". Man könnte auch "Muster", "Beweis"

5 Diese terminologische Freiheit wäre nicht weiter schlimm, wenn nicht einleitend eine Definition versucht, und vor allem: wenn das Wesen der Sache klar erfaßt worden wäre. Auch Clem. Alex, ström. 4, 141, 4 (GCS Clem. 2, 310) gebraucht bei Erörterung von Rom. 13, 1 lf. hintereinander die Begriffe: άλληγορεΐν, μεταφορικώς, σύμβολον, είκών. Aber es empfiehlt sich nicht, solche freie Terminologie nachzuahmen, weil uns nicht mehr selbstverständlich ist, was dem frühen Christentum selbstverständlich war: daß Natursymbolik (bzw. allegorischer Schriftsinn) etwas objektiv Wahres, Reales ausdrückt. S. unten Anm. 20. 6 Vgl. Gnomon 40 (1968) 362f. 365f.

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sagen; denn exemplum, τεκμήριο ν begegnen ebenfalls in einschlägigen Texten. Diese Wörter deuten im übrigen schon an, wie auch jene anderen zu verstehen sind: forma, figura gehören nicht zur antiken Rhetorik, sondern zur christlichen Ontologie7. 2.

Symbolik und Physik bildeten für die kirchlichen Denker keinen Widerspruch. Sie glaubten, daß Gott ebenso der Schöpfer der Zeichen wie der Gesetze der Natur ist. Einwände von Seiten einer rein physikalischen Weltbetrachtung haben sie daher nicht gelten lassen8. Aber der moderne Interpret dürfte es in der Regel schwer haben, sich mit dieser ihm fremden Anschauung der Natur zu befreunden. Noch schwerer wird es, wenn er den Zugang zu ihr zuerst bei einem Dichter sucht. Der einfachere Weg führt von den christlichen Lehrschriften zur Poesie. Dieser Weg ist auch insofern der richtige, als Prudentius selbst im Großen wie im Kleinen von der Natursymbolik der Väter abhängt. Das hier näherhin auszuführen, ist unmöglich und auch unnötig. Hat man sich das Wesentliche dieser Denkweise an einem Fall klargemacht, wird man es stets wiedererkennen, auch wenn es im Gewände der Poesie auftritt. Zur Stärkung des Glaubens an die Auferstehung wiesen die Kirchenväter gerne auf das Werden und Vergehen in der Natur hin. Am Anfang stehen die Worte Christi Joh. 12, 24 und Pauli 1 Cor. 15, 34ff. (das Samenkorn, das erst absterben muß, ehe es zum Leben kommt). Aber es ist faszinierend zu beobachten, wie dieser Gedanke im christlichen Schrifttum immer reicher entfaltet wird9. Zu dem Beispiel des Samenkorns gesellen sich weitere σημεία: das Sterben und Wiederaufleben des Tages und der Nacht, der Vegetation, der

7 Auch wenn etwa Tert. res. earn. 14, 1 parabola gebraucht, meint er doch, wie der Zusammenhang beweist, ein von Gott in die Natur gelegtes "Gleichnis": talia interim divinarum virium liniamenta non minus parabolis operate Deo quam locuto ... eqs. Deshalb darf auch Prudentius gelegentlich Symbol und Erklärung des Symbols äußerlich in der Form eines Vergleichs (eingeleitet durch sie: cath. 2, 9; 10, 121 oder ceu: cath. 1, 27. 91) verknüpfen: die ontologische Basis wird dadurch nicht berührt. 8 Vgl. Theophil, ad Autol. 1, 13 fin.; Prud. c. Symm. 2,203: nil vos, οmiseri, physicorum dogmata fallant (in dem unten S. lOlf. [417] behandelten Kontext); s. auch Aug. conf. 5, 3, 3/5, 4, 7 über die Nutzlosigkeit aller Naturforschung ohne Gotteserkenntnis. 9 Belege stellt Pellegrino zu Min. Fei. 34,11 zusammen(M. Pellegrino, M. Minucii Felicis Octavius [Turin 1967] 249). Ihre Zahl ließe sich, namentlich durch Stellen aus den späteren, großen Kirchenvätern, leicht vermehren: vgl. unten Anm. 16 und 19.

[413/414]

V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern

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Jahreszeiten, des Mondes, der Gestirne. Das sind die am häufigsten genannten Zeichen10. Gelegentlich treten besondere hinzu: das Samenkorn, das vom Spatzen gefressen und ausgeschieden, dennoch wieder auflebt; das Abmagern und Zunehmen des menschlichen Körpers bei Krankheit und Genesung11; die Wiedergeburt des Vogels Phoenix - letztere nach dem Wissensstand der betreffenden Autoren ein Faktum der Natur und daher ein wunderbares, doch gültiges Symbol (παράδοξον σημεΐον)12. Aber die Leistung der Kirchenväter erschöpfte sich nicht in einer quantitativen Erweiterung der Symbolik. Zugleich präzisierten sie den Charakter des natürlichen | Zeichens als eines von Gott zur Belehrung der Menschen geschaffenen Beweises der übernatürlichen Tatsache. Clemens v. Rom leitet den betreffenden Abschnitt folgendermaßen ein: κατανοήσωμεν ... πώς ό δεσπότης έπιδείκνυται διηνεκώς ήμΐν την μέλλουσαν άνάστασιν εσεσθαι (1 Clem. 24, 1). Ähnlich prägnante Formulierungen bietet Theophilos v. Antiochien: ό μεν οΰν θεός σοι πολλά τεκμήρια έπιδείκνυσιν εις τό πιστεύειν αύτω ... ταΰτα δέ πάντα ενεργεί ή του θεοΰ σοφία [1 Cor. 12, 11] εις τό έπιδεΐξαι και δια τούτων δτι δυνατός έστιν ό θεός ποιήσαι την καθολικήν άνάστασιν άπάντων άνθρώπων (ad Autol. 1, 13). Tertullian nennt in demselben Zusammenhang die Welt, die Gott aus dem Nichts erschuf, ein "mit dem Siegel (Gottes) versehenes Muster der menschlichen Auferstehung zum Zeugnis für euch" (apol. 48,7: signatum et ipsum [sc. corpus mundi] humanae resurrectionis exemplum in testimonium vobis). Die Auferstehungssymbolik in der Natur hat Tertullian noch ein zweites Mal behandelt, in dem Werk De resurrectione carnis. Die betreffende Passage verdient aus mehrfachem Grund besondere Aufmerksamkeit. Tertullian schildert hier (res. earn. 12) das Sterben und Wiederaufleben von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Vegetation unter Aufbietung seiner ganzen Sprachgewalt. Ich zitiere nur die ersten Sätze, um einen ungefähren Eindruck zu geben: Aspice nunc ad ipsa quoque exempla divinae potestatis. dies moritur in noctem et tenebris usquequaque sepelitur; funestatur mundi honor, omnis substantia denigratur: sordent, silent, stupent cuncta: ubique iustitium est, quies rerum: ita lux amissa lugetur. et tarnen

10 Vgl. 1 Clem. 24f.; Theophil, ad Autol. 1, 13; Tert. apol. 48, 7f.; res. 12f.; Min. Fei. 34, 11 - um nur die frühen Belege zu nennen. Iren. haer. 5, 2, 3 (2,322 Harvey) verknüpft die Symbolik des Samens mit der Eucharistielehre, n Beides bei Theophil. I.e. (s. die vorige Anm.). 12 1 Clem. 25; vgl. Tert. res. 13 und dazu unten S. 98f. [416].

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rursus cum suo cultu, cum dote, cum sole eadem et integra et tota universo orbi revivescit, interficiens mortem suam noctem, rescindens sepulturam suam tenebras, heres sibimet existens, donee et nox revivescat cum suo et ilia suggestu. "Blick nun auch auf die Muster selbst der göttlichen Macht! Der Tag vergeht sterbend zur Nacht und wird allenthalben von Finsternis begraben; Trauer legt an die Schönheit der Welt, jede Substanz wird geschwärzt: trübe, stumm und starr ist alles: überall Stillstand, Ruhe der Dinge: so wird der Verlust des Lichts beklagt. Und dennoch: dasselbe Licht lebt mit seiner Pracht, seinem Schmuck, mit der Sonne unversehrt und ganz für den gesamten Erdkreis wieder auf. Es tötet den eigenen Tod: die Nacht, es reißt sein Grab wieder auf: die Finsternis, als Erbe seiner selbst tritt es hervor, bis auch die Nacht ihrerseits wiederauflebt mit all ihrer Ausstattung." In gleicher Weise geht es noch ein gutes Stück weiter fort. Wer dieses Prunkstück lateinischer Prosa vor sich sieht, ohne doch mit der frühchristlichen Denkweise genügend vertraut zu sein, wird daran vielleicht den Metaphernreichtum rühmen oder gar eine Allegorie im quintilianischen Sinne zu erkennen glauben. Aber das wäre falsch. Falsch deswegen, weil der Untergang des Lichts und das Sterben des Menschen, der Aufgang des Lichts und die Auferstehung des Menschen zueinander nicht in dem Verhältnis eines literarischen Vergleichs, sondern in dem einer wesenhaften Analogie stehen. Ich will es deutlicher sagen: wenn Tertullian das Verschwinden des Lichts unter Aufbietung aller Mittel, welche ihm seine Kunst zur Verfügung stellt, als Sterben, seinen Aufgang als Wiederaufleben darstellt, so zieht er nicht einen Vergleich aus, den er selbst oder überhaupt irgendein Menschengeist erfunden hat, sondern er drückt auf möglichst angemessene Weise eine natürlich-übernatürliche Realität aus, die von Gott stammt, Teil der Schöpfung und damit objektiv vorhanden ist. Das Exemplum bietet nicht Tertullian, sondern Gott: ebenso real wie der Anbruch der Nacht oder der Anbruch des Tages ist die Symbolik, die nach Gottes Willen mit diesen natürlichen Vorgängen verbunden bleibt - unabhängig davon, wer oder wie viele Menschen das Exemplum | beachten. An diesem Fall wird deutlich, worin künstlerische Leistung, künst-

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lerische Originalität bei Darstellung der Natursymbolik beruhen: in der möglichst angemessenen und vollständigen Wiedergabe des Sachverhalts. Sie kann den Einsatz auch solcher Mittel erfordern, welche die antike Rhetorik bereithält. Aber indem diese Mittel eingesetzt werden, verändert sich ihr Sinn. Die Bilder sind nicht mehr nur flgurae mentis vel orationis: sie haben teil an der Realität des Symbols, das sie ausdrücken. Wenn Tertullian die Finsternis das "Grab" des Lichts nennt, so trifft er mit diesem Wort die Zeichenhaftigkeit, die Gott in die Dinge gelegt hat. Es ist seine Leistung, daß er sie so gut trifft und ihr in seiner Sprache zu so vollem, prallem Ausdruck verhilft. Aber es sind nicht nur Stileme, die Tertullian zu neuem, christlichem Zweck verwandelnd nutzt. Er bedient sich auch vorchristlichen Gedankenguts, um die Natursymbolik zu entfalten. Das mag schon für die vorhin genannten griechischen Autoren gelten, tritt aber bei Tertullian mit unübersehbarer Deutlichkeit hervor. Ich meine den Gedanken des Kreislaufs aller Dinge als des steten Weltgesetzes: universa conditio recidiva est... nihil non iterum est: omnia in statum redeunt, cum abscesserint, omnia incipiunt, cum desierint (res. 12; vgl. noch ebd.: ordo revolubilis rerum). Es ist unmöglich, solche Sätze zu lesen, ohne sich der heraklitisch inspirierten stoischen Kosmologie zu erinnern, wie sie etwa Seneca im 36. Brief zur Beseitigung der Todesfurcht einsetzt, und zwar ebenfalls unter Hinweis auf den Ablauf der Jahreszeiten, den Wechsel von Tag und Nacht, den Aufgang und Niedergang der Gestirne (ep. 36, 10f.; vgl. auch 102, 23f.). Aber während der Stoiker sich damit tröstet, daß im unabänderlichen Kreislauf der Weltperioden alles bis aufs kleinste wiederkehrt, entnimmt der Christ derselben Naturbeobachtung eine andere, neue Wahrheit13: der ständig sich vor unseren Augen vollziehende Wechsel von Werden und Vergehen in der Natur ist dauerndes Zeichen der einen Auferstehung (Clem. Rom. I.e.: ό δεσπότης έπιδείκνυται διηνεκώς [!]... κτλ.). Die Permanenz des symbolischen Geschehens in der Natur begreift der Christ als Permanenz der Belehrung des Menschen durch die Natur. Diese Belehrung wird einst ihr Ende finden zugleich mit der Natur selbst, und sie richtet sich auf ein einmaliges übernatürliches Ereignis, das nicht wiederholbar ist. Doch genug! Es dürfte überflüssig sein, die Unterschiede zwischen Christentum und

13 Vgl. Verf., Neues Alter, neues Leben: JbAC 20 (1977) 5/38 passim, wo anhand eines bestimmten Gedankens, aber in großem Zusammenhang, die christliche Nutzung des heraklitischen, in der Antike weitverbreiteten Philosophems der steten Veränderlichkeit der Dinge dargestellt ist. Zu Seneca ebd. l l f . , zur christlichen Auferstehungslehre ebd. 30/36.

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Stoa noch weiter auszuziehen14. Tertullian liefert einen Musterfall christlicher χρήσις: er nahm, was er gebrauchen konnte - ja gebrauchen mußte, entsprechend den Gesetzen, welche die christlichen Denker für den usus iustus vorchristlichen Geistesguts aufgestellt und praktisch befolgt haben. Er erkannte, daß in dem alten Philosophem etwas Gutes, Wahres lag und nutzte es zur Darstellung der christlichen Lehre: durch den neuen Zusammenhang erhielt das Übernommene einen neuen Sinn. Vom christlichen Standpunkt aus geurteilt: es erhielt erst jetzt seinen vollen, reinen Sinnls. | Das 12. Kapitel der tertullianischen Schrift schließt mit allgemeineren Erörterungen, die zugleich zu einem weiteren, letzten Exemplum der Auferstehung überleiten, zur Phoenix-Legende. Zu ihr ist oben (S. 95 [413]) bereits das Nötige bemerkt worden. Aber das Überleitungsstück erheischt größte Beachtung. Wohl selten sind Wesen und Zweck der Natursymbolik so klar dargestellt worden wie hier (res. earn. 12, 7/13, 1): totus igitur hic ordo revolubilis rerum testatio est resurrectionis mortuorum: operibus eam praescripsit deus ante quam litteris, viribus praedieavit ante quam voeibus. praemisit tibi naturam magistram, submissurus etiam prophetiam, quo facilius credas prophetiae diseipulus ante naturae, quo statim admittas cum audieris quod ubique iam videris, nec dubites deum carnis etiam resuscitatorem quem omnium noveris restitutorem ... si parum universitas resurrectionem figurat, si nihil tale conditio signat, quia singula eius non tarn mori quam desinere dicantur nec redanimari sed reformari existimentur, aeeipe plenissimum atque firmissimum huius rei specimen ... eqs. (sc. avem Phoenicem). "Also dieses ganze hin- und zurückrollende System der Dinge ist ein Zeugnis für die Auferstehung der Toten: durch seine Werke hat Gott sie zuerst vorgezeichnet, dann durch Schriften, durch

14 Immerhin hat sie selbst ein Forscher wie J. Geffcken (Zwei griech. Apologeten [Leipzig/Berlin 1907] 244f.) bei Behandlung dieses Themas nicht gesehen. Er besaß aber auch sonst keinen Sinn für christliche χρήσις, wie seine Beurteilung der Märtyrerliteratur bezeugt: vgl. Verf., UJtima verba: JbAC 22 (1979) 610. 15 Über Begriff und Wesen christlicher χρήσις s. Verf., Neues Alter (oben Anm. 13) 37f. u.ö. sowie Verf., Interpretation frühchristlicher Literatur: H. Krefeld (Hrsg.), Impulse für die latein. Lektüre. Von Terenz bis Thomas Morus (Frankfurt 1979) 141ff. [in diesem Bande S. 39/ 42], In beiden Aufsätzen sind Gedanken Paul Hackers fortgeführt.

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seine Macht hat er sie gepredigt, dann erst durch Worte. Vorausgesandt hat er dir die Natur als Lehrmeisterin, in der Absicht, auch die Prophetie folgen zu lassen, damit du, zuvor ein Schüler der Natur, leichter der Prophetie glauben mögest; damit du sogleich zur Aufnahme bereit seiest, wenn du hörst, was du schon überall gesehen hast; damit du nicht zweifeln mögest, daß Gott auch der Erwecker des Fleisches ist, den du als Wiederhersteller aller Dinge kennengelernt hast. ... Wenn das Universum die Auferstehung zu wenig vorbildet, wenn die Schöpfung nichts derartiges anzeigt, weil ihre einzelnen Bestandteile, wie es heißt, weniger sterben denn aufhören zu sein und weil man annimmt, sie würden nicht neu belebt, sondern neu gestaltet, so vernimm das vollkommenste und sicherste Zeichen dieser Hoffnung ..." usw.! Tertullian scheint hier zuletzt den Zweiflern oder Gegnern ein Stück entgegenzukommen, aber er tut das offenbar nur, um das Exemplum des Phoenix desto wirkungsvoller ausspielen zu können. Eine Abschwächung der Natursymbolik, die er zuvor mit erheblichem Aufwand herausarbeitete, liegt gewiß nicht in seiner Absicht. Folgende Hauptpunkte lassen sich dem ausgeschriebenen Stück entnehmen: die Zeichenhaftigkeit der Natur ist von Gott geschaffen; sie bietet ein Zeugnis, ein Muster (testatio, specimen wie zuvor exemplä), das objektiv vorhanden ist16; die Natur soll nach Gottes Willen die Lehrmeisterin des Menschen sein (natura magistral.), der Mensch ihr Schüler (discipulus ... naturae\); doch stellt sie keine vollständige, von der Hl. Schrift unabhängige Glaubensquelle dar, ihre Lehren erfüllen vorbereitenden Zweck, leisten Hilfsdienste, welche die Annahme der übernatürlichen Wahrheit in der Offenbarung erleichtern sollen; Tertullian gebraucht die Verben figurare, signare (13, 1) - Prudentius sagtfigura, signum, und meint klärlich dasselbe, nämlich eine "Figur" der Natur, nicht der Rede. In welchem geistigen Abstand zu dem

16 Zum Begriff testatio vgl. Hier. hom. de nativitate Domini: Anecdot. Maredsol. 3, 2, 397 ( = CCL 78, 528, Z. 153ff.): praedicationi nostrae etiam natura consentit, mutidus ipse testis [!] est voci nostrae. usque ad hanc diem tenebrae crescunt, ab hac die decrescunt tenebrae ... eqs. Die Stelle führt Herzog 552S an. Ferner s. Ambros. exc. Sat. 2, 53 (CSEL 73, 277): prima igitur resurrectionis fides [!] usus est mundi rerumque status omnium, generationum series, successionum vices, obitus ortusque signorum, diei et noctis occasus eorumque cottidie tamquam rediviva successio. Hierher gehören auch die έλεγκτικοι λόγοι, die Greg. Nyss. in s. Pascha 254ff. Gebhardt zum Beweise der Auferstehung anführt (dazu s. Verf., Neues Alter [oben Anm. 13] 33/36).

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Dichter steht doch seine jüngste Kommentatorin, | die sich auf eben diese Begriffe beruft, um ihre Feststellung zu stützen (21): "There can be no doubt that Prudentius uses many words metaphorically [!]. He says so himself in his writings ..." etc. Wir sind nun vorbereitet, den ersten Schritt hin zu Prudentius zu tun. Aus einer der berühmtesten Partien der Cathemerinongedichte stammen die beiden folgenden Strophen des Grabhymnus Circa exsequias defuncti (cath. 10, 117/24): 117

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lam maesta quiesce querella, lacrimas suspendite, matres! nullus sua pignera plangat: mors haec reparatio vitae est. sie semina sicca virescunt iam mortua iamque sepulta, quae reddita caespite ab imo veteres meditantur aristas.

"Nun, Trauerklage, verstumme; den Tränen, Mütter, tut Einhalt! Niemand soll seine Kinder beweinen: dieser Tod ist Erneuerung des Lebens. So ergrünen die trockenen Samen, schon tot und schon begraben: vom tiefsten Rasengrund17 zurückgegeben, sinnen sie18 auf die (Erneuerung der) alten Ähren."

17 Caespes steht auch bei Fachschriftstellern für die Erdscholle (Colum. 2 , 4 , 6 ; vgl. ThLL 3, 112, Z. Iff.) und für den Acker (Colum. 9, 4, 4; ThLL ebd. Z. 65ff.). Das Wort ist also korrekt gebraucht, dennoch nicht ohne tiefere Absicht. Gräber wurden mit lebender Grasnarbe bedeckt (Tac. ann. 1, 62), weshalb caespes geradezu für sepulcrum stehen kann (Hier. ep. 1, 13; ThLL 3, 111, Z. 19ff.). So dient der Ausdruck dazu, die Symbolik, die schon durch mortua und sepulta (sc. semina) unterstrichen war, weiter herauszuarbeiten. 18 "Schön sagt der Hymnus: sie sinnen auf die einstigen, frühem Ähren, d.h.: ist der Keim aus dem Boden hervorgedrungen, so hat das Korn keine Ruhe, es liegt in ihm das Streben, wieder ganz das zu werden, was es früher gewesen - Ähren, die sich im Lichte der Sonne schaukeln. In ähnlicher Weise sagt Min. Felix von der ganzen Natur, daß sie uns zum Tröste auf die künftige Auferstehung sinne" (Min. Felix 34, 11: vide adeo, quam in solacium nostri resurrectionem futuram omnis natura meditetur ... eqs.): J. Kayser, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der ältesten Kirchenhymnen2 (Paderborn 1881) 329f. Ebenso Paul. Nol. carm. 31, 231 f.: cuncta resurgendi fadem meditantur in omni Corpore et in tenis germina et astra polo (CSEL 30, 315).

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Die Strophen gehören in einen Zusammenhang tröstenden Charakters. Die Auferstehung ist für den Christen das solatium schlechthin. Trotz der Einleitung mit sie steht die Symbolik des Samens zu jener Glaubenstatsache nicht etwa im Verhältnis des literarischen Vergleichs, sondern erfüllt die Aufgabe eines specimen, exemplum, τεκμήριον19. Jeder Zweifel daran wird durch eine Parallele im Werk contra Symmachum ausgeschlossen. Der Dichter läßt hier (c. Symm. 2, 123ff.) Gott selbst sprechen: 195

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non desunt exempla meae virtutis in ipsis seminibus: natura docet revirescere cuncta post obitum. siccantur enim, pereunte vigore quo vixere prius; tunc sicca et mortua sulcis aut foveis mandata latent, et more sepulcri obruta de tumulis redivivo germine surgunt. \

"Muster meiner Macht enthalten allein schon die Samen: die Natur lehrt, daß alles wiedererblüht nach dem Tode. Denn sie werden getrocknet, die Kraft vergeht, durch die sie vordem lebten. Dann übergibt man sie Furchen oder Gruben, wo sie verborgen liegen, trocken und tot. Und obwohl sie wie im Grabe verschüttet sind, erheben sie sich aus den Grabhügeln: die Keime leben wieder auf." Also verhält es sich bei Prudentius nicht anders als bei Tertullian und in der Alten Kirche überhaupt: die Natur lehrt (natura docet), und zwar lehrt sie übernatürliche Tatsachen des christlichen Glaubens20. Die Natur kann Lehr-

19 Vgl. dazu oben Anm. 7. Die Verse Paul. Nol. carm. 31,231/50 (CSEL 30, 315f.) bieten eine ausführliche poetische Darstellung der Symbolik des Samens und ein aufschlußreiches Gegenstück zu den beiden im Text ausgeschriebenen Prudentiusstellen. Wörtliche Zitate aus der Passage bei Paulinus: oben Anm. 18 und unten Anm. 71. 20 Womit der tiefe Unterschied zur stoischen Anschauung von der Lehrmeisterin Natur schon genügend bezeichnet ist. Der Grundsatz des naturgemäßen Lebens (όμολογουμένως τη φύσει ζην), dessen Beachtung dem Stoiker Tugend und Glückseligkeit gewähren soll, enthält nichts, was über die Natur hinausweist. Der christliche Sinn des "Lernens" von der Natur kommt gut auch bei Greg. Nyss. in s. Pascha 262f. Gebhardt (Bd. 9 der Gesamtausgabe) heraus: Schlaf und Erwachen sind ein "Lehrstück" (διδασκάλιον) für die Auferstehung; denn der Schlaf ist ein "Bild" (εΐκών) des Todes, das Erwachen eine "Nachahmung" (μίμημα) der Auferstehung! Die Stelle zeigt außerdem, daß "Bild" hier in einer Weise gebraucht wird, die es verbietet, solchen Begriff einfach im Sinne sprachlich-stilistischer (literarischer) Bildhaftigkeit zu verstehen. Dasselbe gilt für imago in dem entsprechenden Zusammenhang bei Paulinus v. Nola: s. das Zitat unten Anm. 71. Vgl. ferner oben Anm. 7.

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meisterin des Übernatürlichen sein, weil sie von Gott so geordnet ist. Läßt sich die Wahrheit dieses Sachverhalts noch mehr einschärfen als dadurch, daß man ihn Gott selbst in den Mund legt? Der Dichter, ebenso wie der Sprachkünstler in Prosa, paßt seine Darstellung der gottgewollten Realität an. Seine Bildersprache malt das wirkliche, aller Subjektivität enthobene Bild des Übernatürlichen in der Natur. Man beginnt zu ahnen, welchen Reiz die Zeichenkraft der Natur gerade auf einen christlichen Dichter ausüben mußte.

3. An das bisher Bemerkte läßt sich nahtlos eine Betrachtung der Eingangsstrophen des fünften Gedichts (cath. 5, Iff.) anfügen. Es trägt den Titel: Hymnus ad incensum lucernae. Gemeint ist das allabendliche Lichtanzünden21. Den Zusammenhang altchristlicher Frömmigkeit, in den das Gedicht gehört, hat F.J. Dölger dargestellt22. Ich gebe zunächst den Text - wie immer nach J. Bergman (CSEL 61 [1926] 25) - und einen Übersetzungsversuch: Inventor rutili, dux bone, luminis, qui certis vicibus tempora dividis, merso sole chaos ingruit horridum, lucem redde tuis, Christe, fidelibus! 5

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Quamvis innumero sidere regiam lunarique polum lampade pinxeris, incussu silicis lumina nos tarnen monstras saxigeno semine quaerere, \ ne nesciret homo spem sibi luminis in Christi solido corpore conditam, qui did stabilem se voluit petram, nostris igniculis unde genus venit, ... eqs.

21 Nicht - wie z.B. F. Ardvalo in seiner Ausgabe (Rom 1788/89: prolegom. 12 [PL 59, 677ff.]) annahm - die Karsamstagsliturgie; vgl. F.J. Dölger, Lumen Christi: ACh 5 (1936) 30. Womit freilich nicht gesagt ist, daß die Feier der Osternacht darin überhaupt nicht vorkommt! Auf die Ostervigil gehen klärlich die Verse cath. 5, 137/48 - Herzog (80) und van Assendelft (186) hätten das nicht verkennen dürfen. Ich kann das Problem hier nicht weiter verfolgen. 22 Dölger, Lumen Christi 1/43.

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"Erfinder des rötlichen Lichts, guter Führer, der Du durch bestimmten Wechsel die Zeiten teilst: die Sonne ist untergetaucht, das schreckliche Chaos bricht herein, Licht schenke wieder, Christus, Deinen Gläubigen! Obwohl Du mit zahllosen Sternen den königlichen Palast, mit der Fackel des Mondes den Himmel geschmückt hast, lehrst Du uns dennoch, durch Schlagen des Kieselsteins Licht aus dem steingeborenen Samen zu suchen, damit der Mensch wohl wisse, daß für ihn die Hoffnung auf Licht in Christi festem Leibe gründet, der unverrückbarer Fels heißen wollte: von Ihm stammen unsere Feuerchen her,..." usw. Das symbolische Geschehen ist hier kein Vorgang der Natur, sondern eine Handlung des Menschen: das Feuerschlagen aus dem Stein23. Prudentius achtet aber die alltägliche Verrichtung hinsichtlich ihres symbolischen Werts einem Vorgang in der Natur, etwa dem Sonnenaufgang, gleich. Schon der Gebetsanruf: lucem redde! (V. 4) deutet das an24. Die nähere Begründung liegt in monstras (V. 8): der "Erfinder" des Lichts "zeigt" den Menschen die Gewinnung des Lichts aus dem Stein. Das heißt: die abendliche Verrichtung ist ebenso Teil der göttlichen Ordnung wie eins der großen täglichen Ereignisse in der Natur. Inventor (V. 1) zusammen mit monstras evoziert die der Antike

23 Vergleichbar ist in etwa die Kreuzessymbolik bei Justinus Martyr apol. 1, 55: auch hier sind die σύμβολα des Kreuzes nicht nur von Gott geschaffene Dinge wie die Gestalt des Menschen und seine Gesichtsform, sondern auch zivilisatorische Errungenschaften wie Schiffssegel, Pflug, Spaten, schließlich gar die heidnischen vexilla und τρόπαια (im Sinne der retorsio des heidnischen Vorwurfs der σταυρολατρεία: Min. Fei. 29, 6/8; Tert. apol. 16; ad nat. 1, 12). Ob Prud. per. 10, 623 (crux) expressa signis auf die signa naturalia geht, bleibt fraglich, obschon die Stelle bisweilen so gefaßt wurde. 24 Berühmt ist die erste Strophe ob der darin enthaltenen Benutzung von Hör. carm. 4,5, 5: lucem redde tuae, dux bone, patriae. Die horazische Zeile - ein Asclepiadeus minor, also in demselben Maß gehalten, das Prudentius stichisch verwandte - enthält einen Gebetsanruf an Augustus, und es liegt auf der Hand, daß ihre Verarbeitung bei Prudentius mehr bedeutet als eine äußerliche Entlehnung horazischen Versguts. Etwas Apologetisches oder Polemisches wird man darin allerdings nicht erkennen dürfen (vgl. A. Salvatore, Studi prudenziani [Napoli o.J. (1958)] 64), und der heute beliebte Begriff der "Kontrastimitation" ist viel zu grob, als daß er die Absicht des christlichen Dichters treffen könnte. Seine Intention läßt sich etwa so umschreiben: die gelungene, dem Gebildeten vertraute Formulierung Horazens muß zum Preise Gottes eingesetzt werden, weil Ihm das Beste und Schönste gebührt und weil jener Gebetsanruf erst in seiner neuen Orientierung auf Gott den rechten Sinn erhält, der dem antiken Dichter verborgen war. Ähnlich ist die Vergilimitation im ersten Vers der Psychomachie zu verstehen: vgl. Verf., Interpretation frühchristlicher Literatur (s. oben Anm. 15) 150ff. [in diesem Bande S. 58/61]. Beide Stellen bilden Musterbeispiele dichterischer χρήσις.

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geläufige Vorstellung des πρώτος εύρετής. Doch zugleich mit dem Gebrauch dieser Vorstellung durch den Christen ändert sich ihr Sinn. Es ist der Schöpfer selbst (vgl. cath. 4, 9: rerum conditor et repertor orbis), der den Menschen das Feuerschlagen zeigt, und er lehrt sie damit nicht bloß einen kulturellen Fortschritt, sondern eine übernatürliche Wahrheit. Die Unterweisung dient weniger dem irdischen Wohl als vielmehr dem ewigen. Der Gedanke von V. 5 an läuft so (ich hebe das Wesentliche hervor): Gott hat die Nacht durch die Sterne und die Fackel des Mondes beleuchtet - genügend beleuchtet (vgl. innumero siderel); trotzdem zeigt er den Menschen, wie man Feuer und Licht durch Funkenschlagen aus dem Stein gewinnt. Wozu? (Das muß einen geistlichen | Zweck haben, da das natürliche Bedürfnis nach nächtlicher Beleuchtung von Gott schon durch die Erschaffung der Gestirne berücksichtigt war:) Der Mensch soll dadurch auf Christus, den Felsen, hingewiesen werden, in Ihm ruht unsere Hoffnung auf Licht, Heil, ewiges Leben25. Der geistige Kern christlicher Natursymbolik, über den wir uns auf den vorstehenden Seiten Klarheit verschafften, ist in diesen Versen unschwer wiederzuerkennen: die Zeichenhaftigkeit der Dinge stammt von Gott selbst, sie hat den Zweck, dem Menschen übernatürliche Glaubenstatsachen einzuprägen. Der Finalsatz: ne nesciret ... (V. 9ff.) macht das ganz deutlich. Prudentius drückt die Verhältnisse sogar mit einer gewissen Zuspitzung aus, indem er die Erschaffung der Gestirne in den konzessiven Nebensatz (V. 5f.: quamvis ... eqs.) stellt und diese logische Beziehung durch tarnen im Hauptsatz (V. 7) betont. So entsteht eben jener Eindruck, als sei die Hausbeleuchtung bei Nacht gleichsam etwas Überflüssiges, etwas, das weniger der praktischen Bedürfnisse wegen als zum Zweck der Belehrung da sei. Die Symbolik erscheint als der eigentliche Sinn des abendlichen Lichts. Das Stück sagt aber auch etwas über das Verhältnis von Natursymbolik und Hl. Schrift. Nur der Christ ist in der Lage, das Zeichen des Feuerschlagens zu erfassen, denn nur er weiß, daß "Christuspetra heißen wollte" (vgl. 1 Cor. 10, 4; Eph. 2, 20f., auch an den "Eckstein" wird man denken: Mt. 21, 42 par.). Ohne die Offenbarung durch Wort und Schrift ergäbe das natürliche Geschehen nicht den angenommenen symbolischen Sinn. Wir werden hier

25 Vgl. die Iuxtaposition der Begriffe in cath. 1, 42: s. unten S. 131 [439], Der Ausdruck cath. 5, 10: in Christi solido corpore impliziert die Abwehr häretischer Christologie (vgl. Prud. apoth. 956ff. und Tert. adv. Marc. 4, 18, 9, wo derselbe Ausdruck begegnet); zugleich stellt er eine Beziehung zwischen der Person Christi und dem Namen petra her, begründet also die Symbolik.

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also auf dieselbe Anschauung zurückgeführt, die wir in dem oben (S. 98f. [416]) behandelten Tertulliantext antrafen. Daß die Natursymbolik im Verhältnis zur Hl. Schrift propädeutischen Zweck erfülle, kann man allerdings dem Dichtertext nicht ohne weiteres entnehmen. Derlei braucht zwar für Prudentius nicht geradezu ausgeschlossen zu werden, aber näher liegt doch etwas anderes. Prudentius schreibt Hymnen für bestimmte Stunden des Tages, er führt uns in die Situation, in der wir die natürlichen Vorgänge erleben, hier also: Sonnenuntergang, Nachtdunkel, Feuerschlagen, Lichtanzünden. Die Betrachtung der Symbolik dieser Vorgänge gewinnt daher bei ihm eher den Wert einer ständigen Beherzigung und Vertiefung der christlichen Lehre. V. 12 hat den Interpreten arges Kopfzerbrechen verursacht - gänzlich unnötigerweise. Mit den igniculi sind weder die Seelen gemeint noch sonst irgendwelche psychisch-geistigen Erleuchtungen, sondern die bescheidenen Beleuchtungen im Hause, die "Feuerchen", die durch Lampen, Fackeln und Kerzen unterhalten werden. Es lohnt sich, dem Text des Gedichts noch ein Stück weiter zu folgen: 13 15

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pinguis quos (sc. igniculos\) olei rore madentibus lychnis aut facibus pascimus aridis, quin etfilafavis scirpea floreis presso melle prius conlita fingimus; vivax flamma viget, seu cava testula sucum linteolo suggerit ebrio, \ seu pinus piceamfert alimoniam, seu ceram teretem stuppa calens bibit; nectar de liquido vertice fervidum guttatim lacrimis stillat olentibus, ambustum quoniam vis facit ignea imbrem de madidoflere cacumine.

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Splendent ergo tuis muneribus, pater, flammis nobilibus scilicet atria absentemque diem lux agit aemula, quam nox cum lacero victa fugit peplo.

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Sed quis non rapidi luminis arduam manantemque Deo cernat originem ? Moses nempe Deum spinifero in rubo vidit conspicuo lumine flammeum.

"(Die Feuerchen) die wir mit Lampen, triefend vom Naß des fetten Öls, oder mit trockenen Fackeln nähren; ja auch Binsendochte fertigen wir: mit Blüten-Wachs überziehen wir sie, aus dem der Honig gepreßt ward. Lebhaft regt sich die Flamme, sei es, daß ein hohles Tonscherbchen dem vollgesogenen Stücklein Werg Flüssigkeit zuführt, sei es, daß Fichtenholz Nahrung aus Pech bringt, sei es, daß der glühende Docht das runde Wachs trinkt; heißes Nektar rollt vom flüssigen Scheitel tropfenweise in duftenden Tränen herab, da die Feuerskraft versengten Regen vom feuchten Gipfel weinen läßt. Es erstrahlen also durch Deine Gaben, Vater: durch edle Flammen die Hallen, und den fernen Tag spielt wetteifernd das Licht, vor dem die Nacht, besiegt, mit zerrissenem Gewände flieht. Aber wer sähe nicht des verzehrenden Lichts Ursprung aus der Höhe: daß es von Gott seinen Ausgang nimmt? Erblickte doch Moses im Dornbusch Gott, flammend in sichtbarem Licht." Das Relativum quos in V. 13 schließt unmittelbar an V. 12: nostris igniculis an, wie denn überhaupt die Verse 5 bis 16 incl. eine einzige Periode bilden. Die igniculi, die von Christus herstammen (V. 12: unde = a quo), können demnach unmöglich andere sein als die im folgenden beschriebenen. Es hat keinen Zweck, sich dagegen zu sträuben. Wer etwas anderes annimmt oder auch nur irgendwelche exegetische Ambivalenzen ins Spiel bringt, gerät bei Interpretation der Verse 13/24 in allergrößte Schwierigkeiten; er sieht sich zu einer verstiegenen, spekulativen Deutung der deskriptiven Partie gezwungen. Was daraus werden kann, zeigt van Assendelfts Kommentar, in dem wilde Kombinationen wuchern26. Hinzu kommt, daß die argumentierende Frage in V. 29f. den Gedanken der göttlichen Abstammung des Feuers wiederaufnimmt. Die Verse 12 und 29/30 gehören zusammen, zusammen umrahmen sie die

26

Vgl. Gnomon 51 (1979) 142.

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V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern

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Beschreibung der Hausbeleuchtungen. Zum Beweise dafür, daß das Feuer göttlichen Ursprungs ist, fügt Prudentius schließlich noch zwei biblische Beispiele der Erscheinung Gottes im Feuer an: den brennenden Dornbusch (V. 29/36: Ex. 3, 2. 5) und die Feuersäule, die dem Volk | Israel nachts vorauszog (V. 37/44: Ex. 13,21f.). Er läßt sich das vier ganze Strophen kosten - das betreffende Textstück ist oben nicht mehr vollständig ausgeschrieben. Daß Gott Licht ist, aber auch Feuer, war den Vätern eine geläufige Anschauung27: man lese nur Ambrosius De Spiritu Sancto 1, 140/50! Er gibt einen knappen Abriß christlicher Lichttheologie, vor allem aufgrund von Joh. 1, dann fährt er fort28: et Eseias significat non solum lucem, sed etiam ignem esse spiritum sanctum, worauf er außer Is. 10, 17 noch eine Reihe anderer Schriftbelege folgen läßt, darunter den brennenden Dornbusch. Ambrosius schließt nicht, ohne dem Mißverständnis einer materialistischen Gottesauffassung vorzubeugen29: Quis est igitur iste ignis? non utique virgultis vilibus concretus aut stipulis silvarum fragosus incendiis, sed ignis ille, qui ut aurum bona facta meliorat et ut stipulam peccata consumit... eqs. In Übereinstimmung damit steht Prudentius per. 2, 393ff.: Sic ignis aeternus deus, nam Christus ignis verus est; is ipse conplet lumine iustos et urit noxios. Christus ist das "wahre" Feuer, steht also über der Natur. Auch in cath. 5 hat er den Irrtum einer materialistischen Gleichsetzung von Gott und Feuer sofort eingangs durch den Anruf: Inventor rutili... luminis ausgeschlossen, creator und creatura auch sonst im Verlauf dieses Gedichts deutlich geschieden (vgl.

27 Irreführend ist die Bemerkung bei Bergman a.Ο. (oben Anm. 4) 103: "(Prudentius) geht aus von der in der antiken Philosophie üblichen Vorstellung von dem Feuer als einer göttlichen Substanz" - als ob es in der christlichen Theologie keine Symbolik des Lichts und des Feuers gäbe! Vgl. Dtn. 4, 24. 28 Ambros. spir. 1, 144 (CSEL 79, 76). 29 Ambros. ebd. 149 (a.O. 78). Wichtig für Prudentius ist die Erklärung des brennenden Dornbuschs apoth. 55ff. (Kontext: es war stets die zweite Person der Hl. Dreifaltigkeit, die sich im Alten Bund sichtbar offenbarte). Ferner: cath. 10, 1 Deus igneefons animarum; 29f. At si generis memor ignis (sc. anima) Contagia pigra (sc. camis) recuset... eqs.; per. 10, 439f. Naturafervens (sc. animae) solaferventissimae Divinitatis vim coruscantem capit. Hier wird überall das immaterielle Wesen des Feuers, das Gott ist und von dem die menschliche Seele stammt, klar bezeichnet.

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etwa V. 25: tuis muneribus und im Gegensatz dazu V. 153: tu lux vera). Aber an der Auffassung einer wesenhaften Verwandtschaft von Gott und Feuer durfte Prudentius festhalten, ohne sich von der kirchlichen Lehre zu entfernen. Was allein auffallen kann, ist die konkrete Verbindung dieses Gedankens mit den igniculi im abendlichen Hause. Wäre Prudentius nicht Dichter, hätte er es mit der Feststellung des Theologumenons und den biblischen Belegen genug sein lassen können. Aber er ist Dichter, und so führt er uns die gottverwandte Qualität des Feuers durch die Anschauung sinnfällig vor. Er zeigt uns die gewöhnlichen, alltäglichen Geräte häuslicher Beleuchtung in einer Weise, daß sich die göttliche Abstammung der flammae nobiles (vgl. V. 26) aus der Betrachtung wie von selbst ergibt: dem Christen allabendlich beim Entzünden des Lichts sichtbarlich vor Augen tritt. Das ist der - bisher verkannte - Sinn der langen Beschreibung der Lampen, Fackeln und Kerzen in den Versen 13/24. Diese Strophen verdanken ihre Entstehung nicht nur "der Lust zu fabulieren", wie man früher annahm30, sie sind aber auch nicht vollgestopft mit allerlei dunklen Anspielungen, wie | van Assendelft uns glauben machen will31. Die Kunst des Prudentius ist tief, aber klar. Auch zweifle ich, ob die Beschreibung richtig charakterisiert ist, wenn man sie - wie Herzog - "realistisch" nennt32. Die Ausdrucksweise gerade in der beschreibenden Gedichtpartie ist hochpoetisch, steigert sich in der Kerzenstrophe (V. 21/24) zu wahrhaft lyrischer Kühnheit. Gewiß: die liebevolle, die Gegenstände erhöhende Beschreibung der abendlichen Lichtquellen gibt auch einen Lobpreis Gottes durch Darstellung seiner Gaben (vgl. V. 25: tuis muneribus). Im dritten Hymnus Ante cibum nimmt der Gabenpreis einen bedeutenden Teil des Gedichts ein und wird durch einen eigenen Musenanruf eingeleitet (cath. 3, 26ff.) sowie durch eine korrespondierende Reflexion abgeschlossen (ebd. V. 8Iff.). Was dort einen eigenständigen Abschnitt des Ge-

30 Bergman a.O. (oben Anm. 4) 94f. wertete die Stelle als Beispiel der Vorliebe unseres Dichters "für eingeflochtene detaillierte Beschreibungen" (ebd. 91). 31 Typisch hierfür z.B. ihre Interpretation zu V. 15 favis...floreis(135) und V. 21 nectar ...fervidum (137). 32 Vgl. Herzog 72, wo fünfmal hintereinander die Begriffe "realistisch", "Realismus" begegnen. Seltsamerweise scheint Herzog die Details des Texts nicht gerade sorgfältig beobachtet zu haben, da er das tropfende Wachs (V. 21/24) für tropfendes Öl hält (ebd.). Ähnlich erging es Bergman, der ebenfalls die "realistische Anschaulichkeit" der prudentianischen Dichtung rühmte (a.O. [oben Anm. 4] 97f.), dabei aber fand, daß in den Versen cath. 2, 13/20 "die ganze Reihe [?] der verschiedenen Lampen und Fackeln der Antike hervorgezaubert" werde (94). Den Sinn der Beschreibung sieht Herzog in der Spannung zwischen "Realismus" und "Geistigkeit", die auch sonst die Poesie des Prudentius kennzeichne. Darin könnte ein richtiger Ansatz liegen, aber er müßte anders fortgeführt werden, als dies bei Herzog geschieht.

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V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern

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dichts bildet, ist hier in der Beschreibung der Gaben involviert. Aber diese Erklärung genügt nicht. Sieht man genauer zu, bemerkt man, daß Prudentius gezielt einen bestimmten Hauptzug herausarbeitet: die lebendige, verzehrende Kraft des Feuers. Vivaxflamma (V. 17) liefert das Stichwort in der fünften, vis ignea (V. 23) in der sechsten Strophe. Aber schon in den Versen 13/14 betont Prudentius das Moment der Nährung des Feuers (pascimus), und die Tatsache, daß Feuer sowohl durch Flüssigkeit (olei rore madentibus lychnis) als auch durch trockenen Stoff (facibus ... aridis) unterhalten wird, erweckt hier zusätzlich den Eindruck des Wunderbaren. Die Vorstellung wunderbarer Lebendigkeit des Feuers tritt dann in den beiden folgenden Strophen (V. 17/24) beherrschend hervor. Als bloß sachliche Ergänzung der descriptio wären sie überflüssig, ja die Verse 17/20 liefern so etwas wie eine inhaltliche Dublette zum Vorhergehenden. Aber das Ziel der Darstellung ist eben ein anderes. Die verschiedene Nahrung des Feuers durch Öl, gepechte Fackel und Wachskerze wird nochmals vorgeführt, um in kunstvoller Variation den beabsichtigten Gesamteindruck lebendiger Kraft der Flamme zu verstärken. Die Beschreibung gipfelt, wie gesagt, in der sechsten Strophe (V. 21/24), die der Kerze allein vorbehalten ist. Die Kerze, die schon in den beiden voraufgehenden Strophen behandelt war, tritt noch einmal selbständig in den Mittelpunkt der Betrachtung, wobei das wunderbare Wesen des Feuers durch stark personifizierende Belebung der brennenden, tropfenden Wachskerze, besonders durch die Vorstellung des Weinens, der Tränen, sowie durch kostbare poetische Ausdrücke (nectar ... fervidum) und paradoxe Wendungen (vgl. bes. das Oxymoron: ambustum ... imbrem für das herabtropfende Wachs) eingefangen wird - doch es dürfte kaum nötig sein, das Einzelne weiter auszuführen. Sieht man die Dinge so, wie man sie nach dem Willen des Dichters sehen soll, dann steht das deskriptive Textstück nicht mehr ohne inneren Zusammenhang zu seiner Umgebung da. Die Lehre von der göttlichen Natur des Feuers bleibt bei dem Dichter kein spröder Satz, die Anschauung bestätigt sie. Ambrosius weist an der zitierten Stelle verächtlich auf Reisig und Gestrüpp als Nahrung des natürlichen (qualmenden und | prasselnden) Feuers hin, um den Unterschied zum Wesen desjenigen Feuers, das Gott ist, einzuschärfen. Prudentius geht bei prinzipiell gleicher Auffassung den umgekehrten Weg: durch dichterische αΰξησις in der Beschreibung des einfachen Geräts und der verschiedenartigen Feuersnahrung prägt er die tiefe, wesenhafte Analogie zwischen Gott und Feuer ein. Die sprachlichen Mittel dienen auch hier wieder dem Ausdruck einer natürlich-übernatürlichen Realität, die jenseits alles Literarischen liegt. Schließlich: es bedarf keiner Frage, daß die Symbolik der

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Handlung des Feuerschlagens aus dem Stein durch die folgende Darstellung des göttlichen Ursprungs des natürlichen Elements gestützt, bestätigt wird. Der symbolischen Deutung (Stein/Feuer ~ Christus/Licht) wird so das Willkürliche, vielleicht gar Gekünstelte, das sie sonst haben könnte, genommen. Zu den Versen cath. 5, 1/28 gibt es seit einigen Jahren eine Spezialstudie, eine holländische Akademieabhandlung von C.W. Mönnich. Sie trägt den wunderlichen Titel "Verlossende Techniek"33, und die Ausführung hält, was der Titel verspricht. Noch deutlicher wäre freilich gewesen: "Erlösender Materialismus" . Denn der Verfasser wagt es tatsächlich, dem altchrisdichen Dichter einen materialistischen Erlösungsbegriff zu unterstellen: das Kunstlicht sei bei Prudentius "zumindest ein Teil der Erlösung selbst" (15: "in de volgende strofen [V. 5ff.] blijkt het kunstlicht op zijn minst een deel van de verlossing zelf te zijn"); die Technik des Kunstlichts sei "ein Aspekt der Erlösung" (19). Aber damit nicht genug! Das Christentum schlechthin wird bei Mönnich zum Materialismus: Prudentius stehe in einer christlichen Tradition, "in der die Veritas der Offenbarung Gottes die materielle Welt mit ihrer Liebe umfaßt, und zwar um ihrer Materialität willen" (18); die Erde sei imstande, "in ihrer Materialität den Erlöser zu tragen und in die Erlösung eingeschlossen zu werden" (ebd.). Und schließlich die Erklärung des Titels: die Welt der Konkreta, zu der die Lampen, Fackeln und Kerzen gehören, "besitzt selbst auch erlösende Wirkung ... So können wir hier von erlösender Technik sprechen" (20: "Maar tegelijk geldt, dat de wereld der concreta... zelf ook verlossende werking heeft... Zo kunnen wij hier spreken van verlossender techniek"). Man wird es mir hoffentlich erlassen, die Gedankengänge, die den Verfasser zu solchem Ergebnis führen, im einzelnen nachzuzeichnen. Mönnich geht von der richtigen Beobachtung aus, daß in V. 2, besonders in dem Ausdruck certis vicibus, der Gedanke an den ordnenden Geist des Schöpfers liegt, der beides: Tag und Nacht gemacht hat, während der folgende Vers durch chaos ... horridum die Nacht auf die Seite des Bösen stellt. Mönnich glaubt, dadurch werde eine dramatische Spannung erzeugt, die sich in den folgenden Strophen entlade (13). Aber eine solche Spannung besteht nicht, weil ein Christ wie Prudentius niemals auf den Gedanken verfallen wäre, das Symbol mit seinem Gegenstand einfach gleichzusetzen. Die Nacht ist ebenso wenig das Böse selbst wie der Schlaf: er gilt dem Dichter als Symbol des ewigen Todes,

33 C.W. Mönnich, Verlossende Techniek. Prudentius Cathemerinon 5, 1-28: Meded. der Kon. Ned. Akad. van Wetensch. afd. Letterk. Nieuwe reeks 34, 5 (Amsterdam 1971).

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der Verdammnis also (cath. 1, 25f.), und doch weiß Prudentius natürlich, daß der Schlaf ein notwendiger Teil der Schöpfung Gottes ist: vgl. cath. 6, 11 blandus sopor vicissim Fessos relaxat artus. Der Wechsel von Schlaf und Wachen ist von Gott zum Wohl der Creatur geordnet, trägt aber nichtsdestoweniger einen, ebenfalls von Gott gewollten, symbolischen Sinn. Nicht anders verhält es sich mit dem Wechsel von Tag und Nacht. Mönnich | kann das nicht sehen, weil er - getreu der materialistischen Zielsetzung seiner Interpretation - jedwede Symbolik überhaupt ablehnt (15. 17). Seine Überlegungen sind weithin abstrus, besonders dort, wo er über die Begriffe solidum corpus und petra spricht. Seine Bemerkungen erwecken teilweise den Eindruck, als neige er einer fetischistischen Gleichsetzung von Stein und Gottheit zu: Christus sei "selbst der echte (und nicht nur wesensgleiche!) Feuerstein, mit dem er uns gelehrt hat, Feuer zu machen" (19); daher können die igniculi, die stofflich zu verstehen sind, aus Christus stammen (20)! Wenn diese Interpretation etwas Gutes hat, so dies, daß Mönnich im Unterschied zu Herzog und van Assendelft nachdrücklich für die richtige Auffassung von igniculi in V. 12 eintritt (15f. 20). Aber welche Folgen hat diese Erkenntnis! In ihr dürfte wohl überhaupt die Keimzelle der materialistischen Deutung des Ganzen liegen. Ich breche ab. Der behandelte Prudentiustext ist in jüngster Vergangenheit durch die beiden holländischen Arbeiten zum Substrat textferner Mystifikation (van Assendelft) und materialistischer Spekulation (Mönnich) gemacht worden. Auf beiderlei Weise zeigt sich, daß mangelndes Verständnis christlicher Natursymbolik auch das Verständnis der Tageslieder des Prudentius bedroht. Man kann diese Gedichte nicht interpretieren, ohne sich von der geistigen Basis, auf der sie ruhen, eine klare Vorstellung gebildet zu haben.

4. Der gläubige Christ, der die Natur betrachtet, "stützt sich" auf das, was Gott gemacht hat, und auf diese Weise "gelangt er hinüber" zu Ihm selbst, der alles wunderbar erschuf (vgl. Aug. conf. 5, 1, 1). Das gilt für die Gotteserkenntnis im allgemeinen - so meint es Augustinus a.O. - , aber auch für bestimmte Glaubenslehren im besonderen: ein Betrachter, dessen Sinn einmal für die Symbolik aufgeschlossen und durch dauernde Übung an sie gewöhnt ist, wird mannigfaltige Symbole in der Natur entdecken. Darin liegt ein creatives Moment solcher Denkweise. Andrerseits wird der Christ sich die Frage

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vorlegen müssen, was Gott getan hat, damit die Menschen ein bestimmtes Zeichen erkennen. Er wird sich diese Frage stellen müssen, wofern er nicht Gefahr laufen will, einer Selbsttäuschung zu erliegen. Die frühchristlichen Denker jedenfalls haben die Frage ernstgenommen und nach der Beglaubigung eines natürlichen Zeichens geforscht. Meist fanden sie die Beweise eines Zeichens in der Hl. Schrift. Wobei man sich die Verhältnisse allerdings nicht so vorstellen darf, als hätten die Symboliker nachträglich die Texte durchstöbert, um etwas auf ihre Naturbeobachtung Passendes zu finden. Vielmehr bildeten Betrachtung der Natur und Studium der Schrift eine lebendige Einheit. Um bei Augustinus zu bleiben: Er sah in den hochragenden Bergen ein Symbol hochfahrenden Menschengeists, ohne sich jedoch auf den visuellen Eindruck und seine Phantasie zu verlassen; die Erkenntnis war ihm aus dem Verständnis einer Schriftstelle erwachsen34. Auch die allegorische Erklärung eines Bibeltexts wird als Stütze eines Natursymbols zugelassen, weil auch die Bibelallegorese einen tieferen, geistigen, aber objektiv vorhandenen Sinn des Wörtlichen hervorbringt. So kann die spirituelle Erklärung der Hl. Schrift die spirituelle Erklärung der Natur stützen, und daher findet sich | beides in den Tagesliedern des Prudentius nebeneinander35. Für beides verwendet er denselben Terminus: figura ist der figürliche, allegorische Sinn einer Bibelstelle (psychom. praef. 50. 58), aber auch das Natursymbol (cath. 1, 16; vgl. auch imagines in cath. 2,85 und van Assendelfts richtige Bemerkung dazu: "Imagines in the present context has the same force as e.g. figura in cath. 1, 16"). Doch schon das fünfte Gedicht lehrte, daß es neben der biblischen Fundierung eines Symbols andere Arten des Beweises gibt. Eine davon ist die Wirkung des Symbols. Da das natürliche Zeichen seinem übernatürlichen Gegenstand auf eine innere, tiefe Weise verwandt ist, kann es auch eine Wirkung zeitigen, die seinen Symbolcharakter bestätigt. Diese Beweisart läßt sich gut anhand der ersten acht Strophen des zweiten Gedichts, des Hymnus matutinus, verfolgen. Ich verzichte darauf, den Text auszuschreiben, und begin-

34 Vgl. Aug. in Job 9 (CSEL 28,2,527); conf. 1 , 4 , 4 . Er legte Job 9, 5 in der Fassung der Vetus Latina zugrunde: ... qui in vetustatem perducit monies et nesciunt. Genauer gesagt symbolisieren die Berge also Gottes Strafe an den Hochmütigen, nicht bloß eine allgemeine Eigenschaft des Menschen. Zum Zusammenhang von Natursymbolik und Bibelexegese s. auch unten Anm. 39. 35 Das zweite Gedicht, auf das ich im folgenden eingehe, stützt die Natursymbolik ebenfalls durch eine vergeistigende Schriftauslegung: cath. 2, 73/92 (Jakobs Kampf mit dem Engel: Gen. 32, 22/32). Der Sinn der Stelle ist bei van Assendelft arg verkannt. Sie bringt (115.117) die entscheidenden Parallelen (Ambras. Iac. 2, 7, 30 und ep. 27, 16), übersetzt und interpretiert aber falsch (119 zu V. 86/88). Die Passage verdiente eine eingehendere, klärende Behandlung.

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ne gleich mit einer Paraphrase, um den gedanklichen Zusammenhalt des Textstücks klarzustellen. In der ersten Strophe fordert der Dichter Nacht und Dunkelheit auf, vor dem herannahenden Licht zu weichen (cath. 2, 1/4), die zweite stellt vor Augen, wie unter dem Sonnenlicht die Dinge ihre Farbe zurückgewinnen (V. 5/8): beide zusammen geben eine Beschreibung des natürlichen Vorgangs, wobei aber Prudentius entsprechend der ihm eigenen Art Natürliches und Übernatürliches schon verschmilzt: daß die Nacht das Böse symbolisiert, das Nahen des Lichts auf Christi Kommen deutet, weiß der Leser von der allerersten Strophe an. Die Strophen 3 und 4 erklären das Symbol genauer. Die Erklärumg wird mit sic (V. 9) nach Art eines Vergleichs angeschlossen - für uns keine Neuigkeit mehr (vgl. oben S. 101 [417]): wie am Morgen die Dinge klar zutage treten, so werden bald "am neuen Morgen", d.h. beim Jüngsten Gericht, die dunklen Geheimnisse unserer sündigen Seele offenbar werden (V. 11/16). Die ersten vier Strophen bieten also die Exposition der Symbolik: das natürliche Geschehen und seine übernatürliche Bedeutung. Mit V. 16 setzt ein neuer Gedanke ein, der ebenfalls mehrere Strophen durchzieht. Die Werke des Lichts und der Finsternis werden vorgeführt: nachts frevelt der Dieb ungestraft, das Tageslicht läßt geheimen Diebstahl nicht zu (V. 17/20); Betrüger und Ehebrecher lieben die Nacht, weil sie für Schandtaten geeignet ist (V. 21/24); geht aber die Sonne auf, stellen sich Ekel, Scham und Reue ein: niemand bringt es fertig, vor dem Licht als Zeugen beharrlich zu sündigen (V. 25/28); am Morgen schämt sich der Zecher, der Lüstling mäßigt sich, der Taugenichts hat keusche Gedanken (V. 29/32); jetzt führt man ein ernstes Leben, alle geben ihren törichten Geschäften den Anstrich der Gewichtigkeit (V. 32/36) - die zuletzt paraphrasierte Strophe zeugt von dem Geschick des Dichters, zwanglose Übergänge zu schaffen, worauf ich hier nicht weiter eingehe. Blickt man auf den Passus cath. 2,1/36 im ganzen, so fällt zunächst auf, wie fest die Gedanken des Dichters auf der Grundlage des Neuen Testaments ruhen. Die vorgetragene Symbolik des Tagesanbruchs wirkt wie eine Entfaltung der Stelle im ersten Korintherbrief 4,5: itaque nolite ante tempus iudicare, quoadusque veniat Dominus: qui et illuminabit [!] abscondita tenebrarum et manifestabit consilia cordium (vgl. cath. 2, 16: secreta mentis prodita)36. Die

36 Nebenbei bemerkt: weder bei Paulus noch bei Prudentius ist die Rede davon, daß die Herzensgeheimnisse am Jüngsten Tage vor Gott (!) offenbar würden - so Herzog 53. Regnante Deo in cath. 2, 12 ("unter der Herrschaft Gottes") darf nicht so verstanden werden, denn das wäre sinnlos: der κριτικός ένθυμήσεων και έννοιών καρδίας (Hebr. 4, 12) sieht ohnehin

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an die Exposition der Symbolik anschließenden | Strophen (V. 17ff.) nehmen Joh. 3, 20 auf: omnis enim, qui male agit, odit lucem et non venit ad lucem, ut non arguantur opera eius. Selbst einzelne Beispiele der "Werke der Finsternis" (Rom. 13, 12), die Prudentius bringt, sind dem Neuen Testament entnommen, vgl. bes. Rom. 13,13: sicut in die honeste ambulemus: non in comessationibus et ebrietatibus, in cubitibus et impudicitiis ... eqs. (ferner: 1 Thess. 5, 6f.). Aber indem Prudentius die Wirkung beider Ereignisse - des übernatürlichen, einmaligen und des natürlichen, alltäglichen - nebeneinanderstellt, bringt er die Ereignisse selbst in einen inneren Zusammenhang. Es ist schlechterdings unmöglich, die Analogie in der Wirkung beider Vorgänge zu verkennen: am "neuen Morgen" des Jüngsten Tages wird alles Böse offenbar, das bis dahin vor der Welt verborgen war, kein sündiger Gedanke kann mehr verschlossen bleiben (cath. 2, 9/16); das natürliche Morgenlicht duldet nicht, daß Böses unbemerkt geschieht, wodurch Verbrechen verhindert und die Sünder zu einer, wenn auch nur oberflächlichen, Reue über ihr nächtliches Treiben gebracht werden (cath. 2, 17/36). In dieser Parallelität der Wirkung liegt die Begründung dafür, daß Tagesanbruch und Anbruch der Herrschaft Gottes nicht bloß irgendwie verglichen werden dürfen, sondern daß der natürliche Vorgang tatsächlich Zeichen des übernatürlichen ist. Um es noch einmal zu sagen: indem die Analogie: "Sonnenaufgang - Anbruch der Herrschaft Gottes" über einen bloß äußerlichen, den übernatürlichen Tatbestand lediglich veranschaulichenden Vergleich hinausgehoben und eine Analogie in der Wirkung des natürlichen Lichts auf den Menschen enthüllt wird, zeigt der Dichter die tiefe, wesensmäßige Analogie, welche den Charakter des Sonnenaufgangs als eines Symbols objektiv begründet, beweist. Die auf die Darstellung der Symbolik (V. 1/16) folgenden Strophen des Hymnus (17/36) tragen mithin argumentativen Charakter. Es ist merkwürdig zu beobachten, wie das Unübersehbare von den Erklärern des Dichters stets verkannt wird. Bergman37 legte sich den Inhalt der behandelten Strophen folgendermaßen zurecht: "Wie es überall in der Natur hell wird ..., so wird es auch hell in der Welt der Seelen überall, wohin der

immer alles, wie Prudentius gerade in diesem Gedicht einschärft (vgl. cath. 2,105ff.: speculator adstat desuper... eqs.); kundgetan werden die verborgenen Sünden vor allen Geschöpfen. Das meint z.B. auch Aug. civ. D. 20,27: haec distantiapraemiorum atquepoenarwn iustos dirimens ab iniustis, quae sub isto sole in huius vitae vanitate non cernitur, quando sub illo sole iustitiae (vgl. Mal. 3, 17ff.) in illius vitae manifestatione clarebit, tunc profecto erit iudicium, quale numquamfuit. Vgl. auch Prud. ham. 863ff.: obwohl getrennt, sehen die Seelen der Gerechten und Verdammten einander (inque vicem meritorum munera cernunt: ebd. 930). 37 Bergman a.Ο. (oben Anm. 4) 80.

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Blick des Allsehers leuchtet" - damit glaubte der verdiente Editor die Aussage der Verse 1/16 getroffen zu haben! Den eschatologischen Sinn des Symbols, den Prudentius sieht, sah er nicht. Und weiter: "Hiervon werden einige Beispiele aus dem Leben und Treiben der Verbrecher und Sünder angeführt". Keine Spur einer Erkenntnis des gedanklichen Zusammenhalts! Herzogs Interpretation der Passage wiederum ist darauf ausgerichtet, den, wie er meint (52f.), kaum merklichen Übergang vom Jüngsten Gericht zum natürlichen Morgen in Versen 17ff. nachzuzeichnen. Ich finde, daß der Übergang mit V. 17 sofort klar und für jedermann verständlich vollzogen wird. Vor allem aber: daß die Schilderung der Wirkung des natürlichen Lichts auf die Menschen eine "Illustrierung" des Schreckens beim Jüngsten Gericht bringen soll, einen "Vergleich" - wohlgemerkt: im Sinne bloßer Veranschaulichung (Herzog 55: "Unversehens haben sich die irdischen Analogien, mit denen der | Dichter das Anbrechen der Ewigkeit veranschaulichte [!], verselbständigt..." usw.) kann ich keinesfalls zugeben. Herzog hat den argumentativen Zweck der Passage verkannt. Man kann ihn freilich auch nur dann erkennen, wenn man vom Wesen christlicher Natursymbolik einen rechten Begriff hat. Da dies auch bei van Assendelfi nicht der Fall ist, darf es nicht wundernehmen, daß sie bei Wiedergabe des Gedankengangs (97) an der entscheidenden Stelle abirrt: "The line of thought is as follows. The rising sun brings light to the world that was covered by darkness. Just so Christ will bring His light to all mankind at the end of time . . . " (so weit, so gut! dann aber weiter:) "we know this because even now His light shines and whoever fully realizes this must put an end to sin; for Christ's light expunges sin". Zwar hat van Assendelft richtig bemerkt, daß die Verse 17ff. zu den voraufgehenden im Verhältnis einer Begründung stehen, aber die Art dieser Begründung verfehlt sie. Davon, daß jedermann seiner Sünde ein Ende bereiten müsse, der "realisiere", daß Christi Licht auch jetzt scheine, ist hier in diesem Text nirgends die Rede38, geschweige denn, daß durch eine solche Überlegung die symbolische Bedeutung des aufgehenden Sonnenlichts irgendwie gestützt werden könnte. So unklar, so verschwommen denkt und dichtet Prudentius nicht. Nein: der Grund, weshalb wir die übernatürliche Bedeutung des natürlichen Lichts erkennen, liegt in der Wirkung eben des natürlichen Lichts. Die Verse 17/36 müssen so genommen

38 Täusche ich mich nicht, so liegt darüber hinaus in solcher Feststellung ein subjektivistisches Moment, das dem altchristlichen Dichter ebenso fremd war wie der Kirche, der er angehörte. Die Prudentiuserklärung der holländischen Kommentatorin ist auch sonst nicht frei von theologischen Fremdkörpern, wozu im Gnomon (51 [1979] 140) einiges gesagt ist.

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werden, wie sie dastehen: als Beschreibung des Einflusses von (natürlicher) Dunkelheit und (natürlichem) Licht auf das Verhalten der Menschen. Nur so erfüllen sie die Aufgabe eines Beweises der Zeichenhaftigkeit. Denn beweisen kann man nicht, indem man eine übernatürliche Deutung mit einer anderen im übrigen fragwürdigen - vermengt. Van Assendelft begeht auf Schritt und Tritt den Fehler, die Schilderung der natürlichen Vorgänge nicht als solche zu belassen, sondern ihr sogleich wieder spirituelle Bezüge aufzupfropfen. Zu cath. 2,25 schreibt sie (100): "... but as v. 26 sqq. show, P. is also expressing the effect of Christ's light upon the sins of the world." Nein: es geht im Ganzen des Gedichts wohl um das Licht Christi, doch eben deshalb muß man die genannten Verse als Beschreibung des natürlichen Vorgangs und seiner Wirkung rein und unvermischt bestehen lassen, sonst leisten sie nicht, was sie nach des Dichters Absicht leisten sollen. Wenig später heißt es bei van Assendelft (101 zu V. 27f.): "... P. is now introducing his other level of thought: whoever receives Christ's light into his own life must put an end to his temporal sins." Ein schöner Gedanke, aber er hat mit dem Text, den die Kommentatorin erklären will, nichts zu tun. Überall dasselbe Verfahren, derselbe Irrtum! Vgl. van Assendelft (125) zu V. 27 teste limine: "... there can be no sinning, provided we recognize the light." Was Prudentius meint, ist geradezu das Gegenteil: auch der Sünder - ja gerade er, der das Licht Christi nicht angenommen, nicht erkannt hat - legt durch sein verändertes Verhalten bei Tagesanbruch ungewollt Zeugnis ab für die Zeichenhaftigkeit des Lichts. Es wird wohltun, nach den modernen Prudentiusinterpreten abschließend einen Denker der alten Kirche zu Wort kommen zu lassen. Der hl. Ambrosius sagt39, wir sollen | unsere Hoffnung auf Gott setzen, daß er uns davor bewahre, lichtscheu das Dunkel zu suchen. Er fährt dann fort: Quomodo

39 Ambros. in Ps. 36, 15 (CSEL 64, 80 [zu Ps. 36 bzw. 37, 5]). Lehrreich für die Natursymbolik insgesamt ist Ambros. Cain 2, 8, 26 (CSEL 32, 1, 400). Ausgehend von den Worten Cains: eamus in campum (Vetus Latina Gen. 4, 8) zeigt Ambrosius, wie bestimmte Gegebenheiten der Natur und bestimmte Sünden in Beziehung zueinander stehen: latro diem

refiigit quasi criminis testem, lucem adulter quasi erubescens consciam, parricida terraru fecunditatem. Der Brudermörder flieht fruchtbare Gegenden, weil die benignitas elementorum seinem Vorhaben zutiefst widerstreitet. Aber auch die Natur ihrerseits hatte, "das ungeheure Verbrechen gleichsam prophezeiend", jener Landschaft die Fruchtbarkeit versagt. Sie, die Natur, fällte ein gerechtes Urteil ea loca... muneris sui dote privando, ut ex innocentis soli quadam damnatione ostenderet [!], quanta essentfutura supplicia noxiorum (a.O. 401). Ambrosius läßt seine Gedanken mit einer gewissen Freiheit um die Sache kreisen, aber man tut dem Text keine Gewalt an, wenn man ihm entnimmt, daß die Ödheit einer Landschaft den Verwandtenmord symbolisiert. Zugleich wird deutlich, wie sich die symbolische Naturbetrachtung der Väter im Zusammenhang mit der Bibelexegese entfaltet.

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enim potest, qui adulterium molitur, non noctem suis accommodam quaerere temptamentis, qui falsum cogitat, testem suae fraudi adhibere, qui corruptelam iudicis capiat, ut opprimat innocentem, iniquitatis non explorare secretum ? latro solitudines obsidet, noctis tenebras operitur, ut sceleri cedat effectus. iniquitas ergo [!] tenebrae sunt, Deus lux est. Diese exzellente Parallele bringt van Assendelft selbst bei (98 zu cath. 2, 17f.). Sie leitet das Zitat mit der Bemerkung ein: "The association [!] darkness - stealth - sin - the devil is expressed very clearly in Ambros. ..." Aber es geht bei Ambrosius nicht um eine bloße Gedanken-Assoziation, sondern, wie das argumentierende ergo zeigt, um einen Beweis. Und dieser Beweis ruht ähnlich wie bei Prudentius auf der dem Übernatürlichen analogen Wirkung des Natürlichen auf die Menschen.

5. Wir sind vom zehnten Gedicht über das fünfte und zweite zurückgeschritten und stehen nun vor dem ersten: dem Hymnus Ad galli cantum. Er ist der reinste, vollkommenste Ausdruck christlicher Natur Symbolik bei Prudentius. Die Zeichenhaftigkeit von Hahnenschrei, Schlaf, Erwachen, Nacht, Tag, mehr noch: die Symbolik der morgendlichen Situation des Christen, der das Licht betend erwartet, dies alles bildet die Grundlage des gesamten Gedichts. Man darf annehmen, daß in einem solchen Stück, das zudem noch an die Spitze der Sammlung gestellt ist, das Wesen der Symbolik besonders deutlich hervortritt. Ihr Wesen, das heißt: ihre objektive Existenz als eines von Gott geschaffenen Mittels, den Menschen durch die Natur über übernatürliche Tatsachen zu belehren. In dieser Annahme täuschen wir uns auch keineswegs, im Gegenteil: schon der äußere Aufbau des Gedichts läßt erkennen, wie sehr Prudentius bemüht war, jenes Wesen christlicher Symbolik fest und klar vor Augen zu stellen. Freilich gilt es in der Forschung als ausgemacht, daß das Gedicht überhaupt keine Disposition erkennen lasse. Ältere Gelehrte behandelten die Frage mit offenkundiger Nachlässigkeit, wie Brockhaus40 und Rosier41, oder konsta-

40 C. Brockhaus, Aurelius Prudentius Clemens in seiner Bedeutung für die Kirche seiner Zeit (Leipzig 1872 bzw. Wiesbaden 1970) 82 bietet eine oberflächliche Inhaltsangabe, welche die gedankliche Struktur eher zu verdecken geeignet ist. 41 A. Rosier, Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens (Freiburg 1886) 43 befürwortet eine Zweiteilung des Gedichts (V. 1/80 - 81/100) gemäß dem Herrenwort: vigilate

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tierten den vermeintlichen Mangel, wie Sixt42. Und keiner der modernen Erklärer ist über sie hinausgelangt. Pellegrino versuchte eine willkürliche Trennung des Gedichts in zwei Teile43, Herzog | sieht nur Episoden und Einschübe44, Fuhrmann machte zwar die Frage nach der Einheit des Gedichts zum Hauptgegenstand einer gesonderten Abhandlung, fand aber ebenfalls, daß das Stück "keine Einheit der Szenerie, der Situation, des äußeren Ablaufs" erkennen lasse; der christlichen Allegorie gelte alles Irdische und sinnlich Wahrnehmbare als die "wesenlose Hülle" des wahrhaft Bedeutsamen, die Einheit sei für sie stets "die Person Christi"45. Wohl kaum ein Prudentiusleser wird sich angesichts solcher Formulierungen eines Gefühls der Unsicherheit erwehren können. Ein Gedicht aus losen Stücken, fragt man sich, ohne äußere Struktur? Ist denn Prudentius kein Künstler? Die Geringschätzung der Komposition tritt bei Fuhrmann auch in dem hervor, was er über die Berechtigung des Ausdrucks "Episode" sagt: "Was Episode ist und was nicht, bemißt sich im allegorischen Gedicht nach der Relevanz, die jeder Einzelheit im Ganzen der Bedeutungssphäre zukommt, und nicht nach dem Anschein, den die äußeren Proportionen der Bilder und Motive vermitteln"46. Also tritt das wirklich Relevante und das nur scheinbar (äußerlich) Relevante auseinander? Gewiß erschöpft sich ein Kunstwerk nicht im Handlungsablauf oder in der Folge der äußeren Motive. Aber wenn es ein Kunstwerk sein soll, dann gehört die Struktur, die Komposition mit zu seinen Ausdrucksmitteln. Van Assendelft glaubt

et orate (Mt. 26, 41), mißt aber der Gliederung offenbar selbst keine zwingende Bedeutung bei: "An diese beiden Worte läßt sich auch die Disposition des Gesanges, wenn man eine solche sucht [!], anschließen." 42 G. Sixt, Die lyrischen Gedichte des Aurelius Prudentius Clemens, Progr. d. KarlsGymnasiums in Stuttgart (1889) 7. 43 M. Pellegrino, A. Prudenzio demente. Inni della Giornata (Alba 1954) 204: er sieht zwei gleich lange Teile (V. 1/48 - 49/96), beschlossen vom Gebet (V. 97/100). 44 Herzog 63 u.ö. Diese Anschauung reicht auf Bergman (a.Ο. [oben Anm. 4] 90) zurück und wirkt noch bei van Assendelft nach (22 im Diagramm zu cath. 1: "Peter episode"). Fuhrmann sucht den Begriff der Episode neu zu fassen (a.O. [s. die folgende Anm.] 101), doch hätte er nach seiner eigenen Definition der Episode - s. das Zitat im Text oben - die Petrusstrophen, die seines Erachtens im "Zentrum" des Gedichts stehen (a.O.), kaum als solche bezeichnen dürfen (a.O. 99). Man lese, was E. Norden, Orpheus und Eurydike: SbBerlin 1934, 626/83 = Kl. Schriften (Berlin 1966) 468/532, ebd. 521 über "Episode" als Hilfsbegriff der Vergilinterpretation schreibt! Gilt schon hier, daß die sog. Episoden in Wahrheit keine sind, weil die betreffenden Stücke nicht linienartig aufeinanderfolgen, sondern unter sich verbunden sind (δι' άλληλα, nicht μετ' α λ λ η λ α nach der Terminologie der aristotelischen Poetik), so gilt das von der Lyrik des Prudentius erst recht. 45 M. Fuhrmann, Ad Galli Cantum. Ein Hymnus des Prudenz als Paradigma christlicher Dichtung: Der altsprachliche Unterricht 14, 3 (1971) 82/106, ebd. 102. 46 Fuhrmann a.O. (s. vorige Anm.) 101.

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an ein kaleidoskopisches Fluktuieren der Bilder bei Prudentius (21), und um dies graphisch sichtbar zu machen, schickt sie den Gedichten "Diagramme" voran: sie sind völlig nutzlos. Es liegt mir fern, der Mode des Strukturalismus Tribut zu zollen. H. Tränkle warnte vor Jahren: "Gehen wir in dieser Richtung [gemeint ist: 'weg von der Biographie, weg von der gegenständlichen Anschauung', hin zur 'Würdigung des reinen Kunstwerks'] noch weiter, so wird über Strukturanalysen und Erörterungen über Gedankenabläufe immer mehr in den Hintergrund treten, daß es Menschen aus Fleisch und Blut sind, mit denen wir uns beschäftigen"47. Das sind treffende Worte, die vor allem als Warnung vor den modernen Lieblingsirrtümern des Strukturalismus und Literatur-Immanentismus Beachtung erheischen. Aber niemand wird andrerseits bestreiten, daß es Fälle gibt, in denen das Erfassen der Struktur eines Kunstwerks dem Verständnis gerade der lebensvollen Wirklichkeit, der das Kunstwerk entstammt und der es Ausdruck geben will, dienlich ist. Ein Beispiel dafür bietet das erste Tageslied, das eine besonders klare Disposition besitzt. Erkennt man Ablauf und Anordnung der Gedanken, begreift man besser, was Natursymbolik für Prudentius, für seinen Glauben, für sein Leben bedeutete. Umgekehrt dürfte es kaum auf Zufall beruhen, daß man das deutlich geordnete Gebilde teils willkürlich zerschnitt, teils für gänzlich dispositionslos erklärte, ja | in der ordnungslosen Gedankenhäufung sogar seine hervorstechende Eigenart erblickte. Denn mag auch dieses Gedicht für sich selbst genommen durchaus geeignet sein, in das Wesen christlicher Natursymbolik einzuführen, so lehrt doch die Erfahrung, daß ein moderner Betrachter aus dem Dichtertext kaum lernen wird, was er sich nicht durch vergleichendes Studium der Kirchenväter erarbeitet hat. Das Gedicht besteht aus drei Hauptteilen: A. Exposition der Symbolik (V. 1/36). Auf die Darstellung des Geschehens (V. 1/12), innerhalb derer natürlicher Vorgang und geistiger Sinn schon unauflösbar verbunden erscheinen (dazu s. unten S. 133/36 [440ff.]), folgt eine deutlich abgegrenzte Erklärung der Symbolik in jeweils drei Strophen (V. 13/24 und 25/36), eingeleitet durch lehrhafte Sätze: vox ista ... nostrifigura est iudicis (13ff.); hic somnus ... est forma mortis perpetis (25f.). - B. Argumentativer Mittelteil (V. 37/72). Er bringt drei Beweise für die Richtigkeit der vorgetragenen Symbolik: die im christlichen Volksglauben begründete Ansicht von der Flucht der Dämonen

47

M. Fuhrmann/H. Tränkle, Wie klassisch ist die klassische Antike? (Zürich 1970) 36.

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beim Hahnenschrei (V. 37/48), Petri Verleugnung vor dem Hahnenschrei (V. 49/64), Christi Auferstehung zur Stunde des Hahnenschreis (V. 65/72). Daß tatsächlich mit V. 37 etwas Neues beginnt, wird durch den Neueinsatz/erw/tf ("man sagt") klar; der zweite Beweis ist als solcher schon durch den Anschluß: quae vis sit huius alitis (V. 49) unverkennbar, der dritte ebenfalls durch die Überleitung: iride est quod omnes credimus (V. 65) als eng zum Vorausgehenden gehörig gekennzeichnet. - C. Paränetischer Schlußteil (V. 73/100). Die Art der lebhaften Exhortatio, mit der die 19. Strophe einsetzt: iam iam quiescant improba, iam culpa furva obdormiat, iam noxa ... marceat (V. 73ff.), läßt keinen Zweifel daran, daß der Dichter gleichsam neuen Atem holt: die Folgerungen aus der in Α gegebenen und in Β bewiesenen Symbolik werden gezogen48. Hortative und iussive Konjunktive sowie Gebetsimperative in der letzten Strophe prägen das Stück (zu diesem Teil s. auch unten S. 126f. [436]). Den größten Nachdruck lege ich auf die innere Geschlossenheit des mittleren, beweisenden Teils (B). Kein anderes Stück ist von den willkürlichen Einteilungen früherer Betrachter ärger betroffen worden, indem man bald vorne, bald hinten etwas abschnitt oder indem man es ganz zerriß. Kein anderes Stück offenbart so viel über das Wesen christlicher Natursymbolik, wofern man nur die innere Verbundenheit dieser Strophen untereinander und ihre Aufgabe innerhalb des Ganzen recht begreift. Es läßt sich nicht vermeiden, hier wieder einmal den Text auszuschreiben49: a)

37

40

Fenint vagantes daemonas, laetos tenebris noctium, gallo canente exterritos sparsim timere et cedere. Invisa nam vicinitas lucis, salutis, numinis rupto tenebrarum situ noctis fugat satellites. \

48 Der Neueinsatz mit Strophe 19 ( = V. 73ff.) ist auch dadurch gekennzeichnet, daß Prudentius, nachdem er in den Petrus- und Osterstrophen (V. 49/72) die Symbolik in die geschichtliche Dimension gefuhrt hatte (s. untenS. 126 [435f.]), nunmehr - zugleich mit den lebhaften Paränesen - wieder in den Bereich des täglichen Christenlebens zurückkehrt. 49 Bei der deutschen Übersetzung halte ich mich im wesentlichen an die Übertragung des Gedichts, die Fuhrmann a.O. (oben Anm. 45), Textanhang 19f. vorgelegt hat. Eine metrische deutsche Übersetzung des ersten Tageslieds ist jetzt in dem nachgedruckten Werk von Brockhaus (s. oben Anm. 40) 82/85 greifbar.

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45

Quae vis sit huius alitis, Salvator ostendit Petro ter, antequam gallus canat, sese negandum praedicans.

b)

50

55

60

c)

Hoc esse signum praescii norunt repromissae spei, qua nos soporis liberi speramus adventum dei.

65

Fit namque peccatum prius, quam praeco lucis proximae inlustret humanum genus finemque peccandi ferat. Flevit negator denique ex ore prolapsum nefas, cum mens maneret innocens animusque servaret fidem. Nec tale quidquam postea linguae locutus lubrico est cantuque galli cognito peccare iustus destitit. Inde est, quod omnes credimus illo quietis tempore, quo gallus exsultans canit, Christum redisse ex inferis. Tunc mortis oppressus vigor, tunc lex subacta est tartari, tunc vis dieifortior noctem coegit cedere.

a)

"Man sagt, die schweifenden Dämonen, froh des nächtlichen Dunkels, schrecken auf, sobald der Hahn kräht; sie weichen und zerstreuen sich in Furcht.

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Denn die (ihnen) verhaßte Nachbarschaft des Lichts, des Heils, der Gottheit vertreibt, wenn die modrige Finsternis zerrissen ist, die Trabanten der Nacht. Vorausahnend wissen sie, daß dies das Zeichen der verheißenen Hoffnung ist, die uns, vom Schlaf befreit, die Ankunft Gottes hoffen läßt. b) Was dieser Vogel bedeutet, hat der Heiland Petrus gezeigt, indem er voraussagte, er werde, bevor der Hahn krähe, dreimal verleugnet werden. Denn die Sünde wird begangen, ehe der Herold des nahen Lichts das Menschengeschlecht erleuchtet und das Ende des Sündigens bringt. Der Leugner weinte schließlich über den Frevel, der seinem Mund entfahren war - während sein Herz unschuldig blieb und seine Seele am Glauben festhielt. Und hernach hat er nichts mehr dieser Art mit leichtfertiger Zunge gesprochen, und da er den (Sinn des) Hahnenschrei(s) erkannt hatte, ward er gerecht und hörte auf zu sündigen. | c) Das ist der Grund, weshalb wir alle glauben, daß zu jener Zeit der Nachtruhe, da der Hahn frohlockend kräht, Christus aus der Hölle zurückgekehrt ist. Damals wurde die Kraft des Todes vernichtet, damals das Gesetz der Unterwelt überwunden; damals zwang die stärkere Gewalt des Tages die Nacht zu weichen." Der besseren Übersicht wegen habe ich die drei Beweisgänge: die Dämonenstrophen, die Petrusstrophen und die Osterstrophen mit den Buchstaben a, b und c am Rande gekennzeichnet. Wenden wir uns zunächst den Dämonenstrophen zu! a) Diese Verse bilden in gewisser Weise den kritischen Punkt in der Interpretation des Gedichts. Zunächst einmal darf ferunt (V. 37) nicht mißverstanden werden. Was Prudentius mit vorsichtiger Distanz als bloße Meinung bezeichnen will, das ist nicht die Existenz der Dämonen, ihre Realität; die steht für ihn außer Zweifel50. Es geht nicht an, Prudentius hier in irgend-

50 Wie sie auch für den Künstler außer Zweifel stand, der die Miniatur schuf, die in der Berner Bilderhandschrift (cod. 264 der Burgerbibliothek Bern, 1. Hälfte des 10. Jh. = cod. U

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einen Gegensatz zum christlichen Dämonenglauben bringen zu wollen. Fenint bezieht sich vielmehr auf die Anschauung, daß die Dämonen beim Hahnenschrei flüchten. Van Assendelft (72) hat das gegen Fuhrmann richtiggestellt. Fenint bezeichnet sehr korrekt den Unterschied zur Lehre, zum Dogma: einen (offenbar verbreiteten) Volksglauben51. Aber Prudentius nimmt ihn durchaus ernst, sonst hätte er der Sache nicht drei Strophen gewidmet. Weiter: es ist irrig, die Aufgabe der Dämonenstrophen in einer "Korrektur" des Vorhergehenden zu sehen - als ob es gälte, einen Widerspruch zwischen der Deutung des Schlafs als des Zustands der Sünde (cath. 1, 25ff.) und der Ansicht "Wer schläft, der sündigt nicht" abzugleichen52. Das Problem besteht für Prudentius gar nicht, weil er die Deutung des Schlafs von vorneherein auf einer anderen Analogie aufgebaut hat: auf der Trägheit des Schlafenden (im Gegensatz zum labor des Wachenden: V. 12. 23. 80), auf der unwürdigen Haltung53 des| Schlafenden (im Gegensatz zur Haltung des aufrecht Stehenden und Betenden: V. 7. 80) und auf dem Gaukelspiel der Träume (V. 89ff.). Daß die Nachtzeit

der Ausgaben von Bergman und Lavarenne, fol. 2y) dem Hymnus Ad galli cantum beigegeben ist. Siehe Taf. V und dazu R. Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften, Textband (Berlin 1895) 82f., Tafelband (1905) 157. Die Miniatur zeigt den Hahn im Obergeschoß einer Architektur stehend und die Dämonen, wie sie das Gebäude fluchtartig verlassen. Der Künstler bzw. sein Vorbild nahm also für bare Münze, was bei Prudentius cath. 1, 37/48 zu lesen ist, und ließ sich durch jenes ferunt nicht davon abhalten, gerade diese Szene darzustellen. Er durfte das auch: man beachte, daß Prudentius mit Strophe 11 (V. 41ff.) in die Form der Aussage (finite Formen: V. 44 fiigat; V. 46 norunt) übergeht. 51 Vgl. dazu F. Cumont, Lux perpetua (Paris 1949) 409/11, der den Ursprung des Glaubens in Altpersien findet; ebd. s. weitere Literatur. Wenn der ambrosianische Hymnus Aeterne rerum conditor mit den Versen l l f . : Hoc (sc. gallo) omnis erronum (errorum codd.) chorus Vias nocendi deserit auf die Dämonen zielt, wie Ar6valo für möglich hält (zu Prud. cath. 1, 37: PL 59, 780 B) und andere sogar für sicher erachten (so A.S. Walpole, Early Latin hymns [Cambridge 1922 bzw. Hildesheim 1966] 31f. z.St., und anscheinend auch Cumont a.O. 409), dann haben wir hier das schönste Zeugnis für die Verbreitung des Glaubens unter den Christen: denn dieser Hymnus war ja unzweifelhaft für die Liturgie bestimmt. Prudentius, der das Lied des Bischofs anerkanntermaßen bei Abfassung von cath. 1 vor sich hatte, durfte dann erst recht ohne Skrupel jene Anschauung zugrunde legen. Vgl. aber ThLL 5, 2, 814, Z. 4f. s.v. 2. erro. An der Parallelstelle Ambros. hex. 5,24, 88 (CSEL 32,1,201f.), wo die Gedanken des Hymnus fast wie in einer Prosaparaphrase wiederkehren, wird der Dämonen nicht gedacht. 52 Fuhrmann a.O. (oben Anm. 45) 99: daß der "unschuldig Schlafende" den Sünder symbolisiert, ist für Fuhrmann wie schon für Herzog 61 "ein fast unverständliches Bild", das der Dichter in den Dämonenstrophen durch eine stringentere Aussage ersetzt und korrigiert habe. 53 Deswegen dürfen veristische Züge der Darstellung wie cath. 1, 28 iacere ac stertere nicht verwässert werden (vgl. van Assendelft 69), sonst wird ein Kristallisationspunkt der Symbolik ausgelöscht; s. noch V. 85 convolutis artubus; V. 18 stratisque opertos segnibus. Pellegrino a.O. (oben Anm. 43) 204f. beobachtet diesen Verismus ("verismo") in cath. 1 und bringt ihn mit den Detailschilderungen der Folterqualen in den Gedichten Peristephanon in Zusammenhang, erklärt ihn also aus einem allgemeinen Wesenszug prudentianischer Dichtung. Das genügt nicht. Man muß hier wie dort die besondere, tiefere Absicht sehen.

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die Zeit der Sünde im aktiven Sinne ist, spielt im zweiten Hymnus eine entscheidende Rolle (s. S. 113f. [426f.]), nicht hier. Symbolik ist etwas Mannigfaltiges. So kann ein Naturvorgang aufgrund verschiedener Charakteristika ein und dasselbe symbolisieren, und es ist keineswegs nötig, daß jedesmal alle möglichen Seiten der Sache gleichermaßen ins Auge gefaßt werden. Davon wird später (S. 132 [440]) noch einmal im Zusammenhang die Rede sein. Die Dämonenstrophen bieten keine Korrektur, sondern eine Bestätigung der zuvor entwickelten Symbolik. Die Dämonen flüchten beim Hahnenschrei, weil sie das Zeichen (45: signum) als solches erkennen. Sie wissen, daß der Ruf des Hahns, der das Nahen des Lichts ankündet, Symbol der mahnenden Stimme Christi ist, der an seine baldige Ankunft erinnert. Sie wissen das ebenso, wie sie wußten, daß Christus der Sohn Gottes ist, und dies - früher als die Menschen - bei der Heilung des Besessenen von Gerasa (Mt. 8, 29 par.) bekannten (Prud. apoth. 417ff.)54: 417

... cognoscimus, Hisu, nate deo, nate seeptris et germine David, quid sis, quid venias; qua nos virtute repellas, novimus adventusque tui terrore iacemus.

420

Dämonen sind hochstehende Geistwesen. Zwar benützen die Dämonen ihre Macht und ihr Wissen zum Schaden der Menschen55, aber gerade darum ist ein Zeugnis der Wahrheit, das sie gezwungenermaßen abgeben, besonders wertvoll. Ein solches Zeugnis legten die Dämonen zu Gerasa und später immer wieder ab (vgl. apoth. 400ff. 485/87), ein solches Zeugnis bedeutet auch ihre

54

Vgl. dazu cath. 9, 52/57 und per. 5, 85/92, bes. die Verse: 85

Normt et ipsi ac sentiunt (sc. daemones) pollere Christum et vivere eiusque iam iamque adfore regnum tremendum perfidis.

Van Assendelft (74) erinnert zu Recht an die Worte der Dämonen Mt. 8, 29: et ecce clamaverunt dicentes: 'quid nobis et tibi, Fili Dei? venisti hue ante tempus [!] torquere nos?' Die Dämonen wissen im voraus (vgl. cath. 1,45: praescii!), daß Christus einst kommen wird, ihrem Treiben ein Ende zu machen. ss Vgl. z.B. Aug. civ. D. 1,32: die Dämonen sehen das Ende der Pest voraus und benutzen ihr Wissen, um einen Scheinbeweis ihrer Macht zu geben und die Römer zur Einfuhrung der ludi scaenici zu veranlassen: sed astutia spirituum nefandorum praevidens [!] illam pestilentiam iam fine debito cessaturam ... eqs. Augustinus schrieb De divinatione daemonum (CSEL 41).

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allnächtliche Flucht beim Hahnenschrei. Sie bezeugen damit die Wahrheit des Symbols, das Gott eingerichtet hat, und zugleich natürlich auch die Wahrheit des Gegenstands, welchen das Symbol bezeichnet: die Wahrheit der bevorstehenden Ankunft Christi und der Verheißung ewigen Heils. Wohl nirgendwo in der Dichtung des Prudentius wird deutlicher als hier, daß man der christlichen Natursymbolik mit Begriffen wie 'Metapher' und 'Allegorie' (im quintilianischen Sinne) keinesfalls beikommen kann. Die Dämonen fliehen doch nicht, weil Prudentius σχήματα λέξεως oder διανοίας anwendet! Hahnenschrei und Licht sind Symbole, als Symbole haben sie eine tatsächliche Wirkung. Die Wirkung des Symbols auf die Dämonen ist unabhängig von der Darstellung des Symbols durch den Dichter, unabhängig von der Erkenntnis des Symbols durch den Menschen überhaupt, ja unabhängig auch von der Offenbarung der Wahrheit in der Hl. Schrift. Denn die Dämonen brauchen die Bibel nicht zu lesen, um zu wissen, daß Christus der Sohn Gottes und der Hahnenschrei ein | Symbol Christi ist. Wie gesagt: das Wesen des Symbols als eines objektiv vorhandenen, von Gott in die Natur gelegten Zeichens tritt hier in den Dämonenstrophen mit größter Klarheit hervor. b) Die Petrusstrophen fügen sich glatt anS6. Der Zweck der Behandlung des Themas wird hier gleich eingangs klar ausgesprochen: Quae vis sit huius alitis, Salvator ostendit Petro (V. 49f.). Geschlossen wird der Abschnitt durch die entsprechende Feststellung: Cantuque galli cognito Peccare iustus destitit (V. 63f.). Christus selbst hat dem Apostel die dem Symbol innewohnende, eigene Kraft und Bedeutung (vis)57 erklärt, und der Apostel verstand die Erklärung. Prudentius beruft sich also für die von ihm entwickelte Symbolik des Hahnenschreis auf die Lehre Christi. Zu der Wirkung des gallicinium auf die Dämonen gesellt sich als zweiter Beweis der biblische. Welchen Rang muß doch die Natursymbolik im Denken des frühen Christentums eingenommen haben, da man sicher war, daß Gott nicht nur die Zeichen geschaffen, sondern auch durch Christus die Menschen über ihre Bedeutung belehrt hat! Prudentius ist der Überzeugung, daß er nichts in die Dinge hineinlege, was nicht nach Gottes Willen in ihnen steckt. Ja noch mehr: in diesem Fall erklärt er den Lesern die Symbolik so, wie Christus selbst sie dem Petrus erklärt hat.

56 Nur wer Aufgabe und Zusammenhang des Mittelteils im ganzen nicht sieht, kann den Anschluß der Petrusstrophen "unvermittelt", "hergeholt" (Herzog 61. 62) oder "Befremden" erregend (Fuhrmann a.O. [oben Anm. 45] 100) finden. 57 Vis ... alitis (V. 49) liegt nicht auf derselben Ebene wie vis diei (V. 71), drückt aber doch mehr aus als die bloße vis verbi ('Bedeutung' im semantischen Sinne). Vgl. Fuhrmann a.O. 100: "die Macht", "die Gewalt"; van Assendelft 76: "force", "essence".

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Worin besteht nun die Bedeutung des Symbols (vis alitis)? Indem Christus dem Petrus vorhersagte, er werde ihn vor (!) dem Hahnenschrei dreimal verleugnen, zeigte er, daß die Sünde vor (!) seinem, d.h. Christi, Auftreten als Lehrer der Menschheit geschehe. Christus ist praeco lucis proximae, Künder des übernatürlichen Lichts, wie der Hahn Künder des natürlichen. Inlustret (V. 55) bleibt im Bedeutungskreis der Lichtsymbolik, bezeichnet aber die Tätigkeit des göttlichen Lehrers, der die Menschen 'erleuchtet'. Prudentius führt hier (V. 53/56) die Symbolik in die Dimension der Geschichte: sie verändert sich nicht geradezu, aber sie erweitert sich. Der Hahnenschrei ist noch immer Symbol der Stimme Christi, das Tageslicht noch immer Zeichen des ewigen Lichts, die Nacht steht nach wie vor für das Leben in der Welt, und die Nachtstunden vor dem Hahnenschrei bedeuten weiter die Zeit der Sünde. Aber diese Symbolik gilt, wie wir jetzt erfahren, nicht nur für das Leben des einzelnen, sie erinnert auch an Tatsachen der Geschichte des "Menschengeschlechts" (vgl. V. 55: humanum genus). Neben das alltägliche Geschehen tritt das einmalige, der Blick des Dichters, der bisher allein auf Gegenwart und Zukunft gerichtet war, wendet sich nun auch der Vergangenheit zu. Noch deutlicher wird das in den Osterstrophen herausgeholt, besonders durch die dreifache Anaphora des tunc (V. 69/71). Der moderne Betrachter mag hier eine gewisse Unausgeglichenheit der Gedankenführung, vielleicht gar Widersprüchlichkeit fühlen: soll der Weckruf des Hahns als Symbol der Stimme Christi zur Abkehr von der Sünde, zur steten Wachsamkeit des Christen ermahnen und doch zugleich daran erinnern, daß Christus dem Sündigen (ein für allemal) ein Ende gemacht hat? Prudentius empfand keinen derartigen Widerspruch, und er war sich sicher, daß seine Leser auch nicht auf derlei Gedanken verfallen würden: die Kämpfe der Psychomachie schildern | den alltäglichen, dauernden Kampf des einzelnen Christen gegen das Böse, zugleich aber auch den Sieg der Kirche, der bereits erfochten ist. Die geistige Synopse des Alltäglichen und des Einmaligen hat er dort zur Grundlage des ganzen, umfangreichen Gedichts gemacht. Es war ihm wie den Vätern überhaupt selbstverständlich, daß der Sieg Christi und der Kirche für den einzelnen die Möglichkeit geschaffen hat, die Sünde zu überwinden, ohne ihm jedoch den Kampf abzunehmen. Auf eine theologische Explikation durfte der Dichter verzichten. Die Petrusstrophen lassen erkennen, wie wenig sich Prudentius durch den klaren Aufbau des Gedichts an einer fortschreitenden Entfaltung der Symbolik hat hindern lassen: sie wird in dem argumentativen Mittelteil fortgesetzt, und selbst der Schlußteil bringt noch etwas Neues hinzu (durch Einführung des Traumes in die Symbolik des Schlafs: V. 85/96). Das mindert aber keines-

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wegs die Gültigkeit der von uns erkannten Gliederung des Ganzen, es zeigt nur, daß Prudentius bemüht war, den Eindruck des Schematischen fernzuhalten. Den Schritt zur geschichtlichen Bedeutung des Symbols tut er dort, wo sich ihm der Übergang zwanglos ergibt: bei Darstellung des biblischen Fundaments der vorgetragenen Symbolik. Auch auf andere Weise hat Prudentius die trennende Wirkung der Abschnittsgrenzen gemildert und das Ganze zur organischen Einheit geformt: durch den mahnenden Charakter des Gedichts, der sich von Anfang an abzeichnet und durch die Paränesen des Schlußteils nur energischer hervorgekehrt wird, vor allem aber durch die Einheitlichkeit der gesamten morgendlichen Situation, auf deren Hintergrund sich die Symbolik entfaltet (dazu s. unten S. 134f. [441f.]). Van Assendelft hat ihr Augenmerk stark auf die allmähliche Entwicklung der Symbolik gerichtet, da sie ja - zu Unrecht - die additive Reihung der "Themen" als alleiniges Kompositionsprinzip anerkennt58. Man sollte demnach erwarten, daß sie das Neue in der Entfaltung der Symbolik an jenem Hauptpunkt, d.h. eben bei Eintritt des Gedichts in den Raum der Geschichte, klar herausstellt. Das ist jedoch nicht der Fall. Sie schickt den Versen 49/64 allerlei Bemerkungen voran, unter denen mehr als eine der Korrektur bedürfte59. Ich greife jedoch nur diese eine heraus: "Peter sins, in that he denies Christ, before dawn: thus mankind sins in its denial of Christ before the dawn of eternal light" (75). Nein: Petrus sündigte nicht vor der Morgendämmerung, sondern vor dem Hahnenschrei! An diesem Detail hängt die gesamte Symbolik. Die Sünde dauert nur so lange, bis der Herold des nahen Lichts (Christus) die Menschheit erleuchtet (V. 53/56), das heißt: wie im Leben des einzelnen der Schlaf (die Sünde) während der Nacht (des irdischen Lebens) überwunden werden muß (vgl. V. 9/12; 33/36), so ist die Sünde im Dasein der Menschheit noch während der Nacht (vor dem Ende der Zeiten) durch Christus überwunden worden. Die Sünde herrscht eben gerade nicht bis zum Tagesanbruch (bis zur Wiederkunft Christi), sonst wäre es für die Menschheit insgesamt zu spät - wie es tatsächlich für den einzelnen zu spät ist, wenn er bis zum Tagesan-

58 Abgesehen von der Darstellung der "Themen" des Gedichts in dem "Diagramm" (22) und den erläuternden Bemerkungen dazu (21 f.) zeigt sich das im Kommentarteil durch überleitende Formulierungen der folgenden Art: "... the metaphor is further developed ..." (65); "the allegorical implications are further developed ..." (68); "to the notions night, sleep ... are now added the demons of darkness" (71); "... a further indication of the continuing allegorical content" (74); "... the imagery has progressed to the point" (ebd.) usw. 59 Richtig ist die Zurückweisung der Ansicht, daß der biblische Bericht bei Prudentius lediglich rhetorische Funktion erfülle und der Fundierung eines 'Topos' diene - richtig, aber wohl kaum nötig.

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brach, also usque ad terminos vitae socordis (V. 33f.), sündigt. Daß es sich bei | der zitierten Bemerkung der Kommentatorin nicht um einen bloßen lapsus handelt, sondern um ein handfestes Mißverständnis des Textes, beweist die Wiederholung der irrtümlichen Erklärung auf der nächsten Seite des Buchs (76): "... He showed him the bird's significance in that it announces the end to all sinning at the approach of light." Abermals nein! Christus ist der praeco lucis proximae (V. 54), er kommt also vor dem Licht, wie der Hahn vor dem Tagesanbruch ruft. Die in den Verben inlustret (V. 55) und (finem) ferat (V. 56) ausgedrückten Vorgänge sind gleichzeitig und bezeichnen Wirkungen des Auftretens Christi unter den Menschen, nicht Wirkungen seiner Wiederkunft60. Am Jüngsten Tag ist Christus nicht mehr "Herold", und das Licht ist nicht mehr bloß "nahe", es ist da. Man muß der Kommentatorin zugute halten, daß ihre Aufgabe durch die vorliegenden Studien zu Prudentius' Tagesliedern, die es aufzuarbeiten galt, durchaus nicht immer erleichtert wurde. Selbst bei einem Gelehrten wie Fuhrmann liest man verwirrende Sätze, etwa diesen61: "Wer sich wie der Apostel nur unwesentliche Vergehen zuschulden kommen läßt, den vermag der Hahnenschrei, der Erlöser Christus, gänzlich von der Sünde zu befreien." Von anderem abgesehen: hat Christus nur "unwesentliche" Sünden auf sich genommen und nur leichter Vergehen wegen gelitten? Wieder einmal muß man einwenden: die Theologie des Prudentius ist das ebenso wenig (vgl. z.B. per. 10, 586f.) wie die der Kirche, der er angehörte. Fuhrmann bemerkt im übrigen treffend, daß der Hahnenschrei in den Petrasstrophen "den Rang eines heilsgeschichtlich bedeutsamen Zeichens" erhalte62. Unmittelbar danach aber fährt er so fort: "Er (der Hahnenschrei) ist Bild für die Erlösertat Christi. Hierdurch wird Petras abermals entlastet: Er konnte ja nicht aufhören zu sündigen, ehe Christus sein Heilswerk vollbracht hatte." Das stimmt nicht zum Text - weder zu dem des Prudentius noch zu dem der Bibel. Petras erkannte

60 Es mag sein, daß die präsentischen Formen der zweiten Petrusstrophe (vgl. V. 53 fit... peccatum, dagegen V. 50 Salvator ostendit [Perf.]; V. 57 flevit negator; V. 62 locutus est; V. 64 destitit) den Irrtum begünstigten. Aber neben der dichterischen Freiheit in der Behandlung der Tempora gilt es zu beachten, daß offensichtlich durch die vorübergehende Bevorzugung des Präsens die Analogie des natürlichen, symbolischen Vorgangs und des übernatürlichen (hier zugleich: des geschichtlichen Ereignisses) aufrechterhalten werden soll: wir sollen über der längeren, im Praeteritum gehaltenen Erzählung nicht den Zusammenhang mit dem alltäglichen Symbol (dem Hahnenschrei) verlieren. 61 Fuhrmann a.O. (oben Anm. 45) 100. 62 Fuhrmann a.O. (s. die vorige Anm.).

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sofort nach dem Hahnenschrei seine Sünde: "und er ging hinaus und weinte bitterlich" (Mt. 26,75). Seine Reue fällt zeitlich vor die Vollendung der Erlösertat Christi, was immer man darunter versteht: vor das Leiden, vor den Tod und vor die Auferstehung. Ebenso ist auch im Text der Petrusstrophen bei Prudentius von der "Erlösertat" Christi nicht die Rede: wie hätte denn Petrus solchen Sinn des Hahnenschreis damals erkennen können (vgl. V. 63), da die Erlösertat noch gar nicht getan war? Von ihr handeln erst die folgenden Osterstrophen. Postea in V. 61 heißt nicht etwa: post resurrectionem oder dergleichen, sondern post galli cantum cognitum. Kurzum: es geht in den Petrusstrophen um Christus als Lehrer der Wahrheit, wie schon betont wurde63. Praeco lucis (V. 54) nimmt diei nuntius (V. 1) wieder auf, und auch in den Versen 29f.: sed vox ... Christi docentis [!] praemonet lag bereits dieselbe Vorstellung. | c) Der dritte Beweis wird auf sehr nachdrückliche Weise mit dem Vorhergehenden verknüpft: inde est, quod omnes credimus ... eqs. ("daher rührt es, das ist der Grund dafür, daß wir alle glauben ..."). Den logischen Bezugspunkt dieser Überleitung bildet nichts Einzelnes, sondern das Ganze der voraufgehenden Strophen, ohne daß jedoch dadurch der gedankliche Zusammenhang an Klarheit und Schärfe verlöre. Weil der Hahnenschrei die dargestellte und nachgewiesene Bedeutung hat, meint Prudentius, deswegen glauben wir alle ... usw.64. Maria Magdalena besuchte das Grab mane, cum adhuc tenebrae essent (Joh. 20, 1), und daraus mag man die Stunde der Auferstehung erschlossen haben; denn noch zuvor mußte ja Christus erstanden sein. Daß der Dichter selbst zuerst die Zeitrechnung aufgestellt, Hahnenschrei und Auferstehung kombiniert hat65, ist unwahrscheinlich. Dagegen spricht omnes [!] credimus·. Inhalt jenes allgemeinen Glaubens kann angesichts der Betonung der Stunde (V. 66f.) kaum nur die Auferstehung als solche sein. Die dreifache Anaphora des tunc in der folgenden Strophe unterstreicht sehr energisch den angenom-

63 Richtig bemerkt M. Lavarenne (1, 6,) z.St.: "Le coq est le Symbole du Christ, qui a apportö au genre humain la lumiöre de la v6rit6 et la fin de l'esclavage du p6ch6." Der Vers 56: finemque peccandi ferat könnte, für sich genommen, auf das gesamte Erlösungswerk gehen, ist aber in dem spezifischen Kontext auf den praeco lucis (doctor veritatis) zu beziehen. 64 Ähnlich auch Herzog 63. Äußerungen wie die, daß der ganze Hymnus "um die erlösende Mehrdeutigkeit in der Natur Christi kreist" (vgl. 58: "Mehrdeutigkeit im Begriff [!] 'Christus'"), würde man allerdings lieber missen wollen. 65 Dies scheint Pellegrino a.O. (oben Anm. 43) 206 anzunehmen: "Con una spiegabile libertä, e per amore del simbolico parallelo con la negazione di Pietro" habe Prudentius die Auferstehung Christi auf die Zeit des Hahnenschreis verlegt.

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menen Zeitpunkt. Prudentius war sich offenbar sicher, daß die zeitliche Festlegung der Auferstehung auf die Zeit des Hahnenschreis mit der allgemeinen Auffassung übereinstimme. Jedenfalls besteht ein unübersehbarer Unterschied zwischen ferurtt (V. 37) und omnes credimus. Überhaupt erkennt man von den Osterstrophen aus rückblickend, daß Prudentius die drei Exempla nicht willkürlich gereiht, sondern vielmehr im Sinne einer Steigerung absichtsvoll angeordnet hat. Das Zeugnis der Dämonen (a) gründet nur im Volksglauben, höher steht der biblische Beweis (b). Zu der Leugnung Petri ließ sich am meisten sagen und mußte auch mehr gesagt werden, als zur Erhärtung der Symbolik unbedingt nötig gewesen wäre66, darum ist dieser Abschnitt am längsten ausgefallen. Der dritte Beweis (c) markiert den Höhepunkt: läßt sich ein gewichtigeres Argument für Wert und Wahrheit der vorgetragenen Symbolik denken als die Tatsache, daß Christus seinen Sieg über den Tod (V. 69f.), den Sieg des Lichts über die Nacht (V. 71f.) auf die Stunde des Hahnenschreis verlegte? Daß die Symbolik durch einen bestimmten Umstand der Auferstehung Christi bestätigt und so in dieser Basis christlichen Glaubens (1 Cor. 15, 14) verankert wird? Wohlgemerkt: wenn wir den Dichter verstehen wollen, dürfen wir diesen Gedanken nicht als bloßen Einfall seines erfinderischen Geists betrachten. Prudentius war der Überzeugung, eine objektiv wahre Aussage zu machen. Er entdeckte in dem Zeitpunkt, den Christus fur seine Auferstehung gewählt hat, ein Moment | der göttlichen Belehrung des Menschen: wie durch die Vorhersage der Leugnung Petri, so belehrte und belehrt Christus durch die Stunde seiner Auferstehung über das Symbol des Hahnenschreis. Abermals zeigt sich, welche Bedeutung der Natursymbolik im frühchristlichen Denken zukam.

66 Prudentius beurteilt die Leugnung Petri ebenso wie z.B. Aug. c. mend. 13 (CSEL 41, 485): nempe in illa negatione intus veritatem tenebat et foras mendacium proferebat. Nichts anderes meint Prudentius, auch wenn er den Gegensatz spitzer formuliert: V. 59 cum mens maneret innocens [!] wird erläutert durch den folgenden: animusque servaret fidem. Natürlich war die Leugnung Sünde (V. 53 peccatum; V. 58 nefas; V. 64peccare ... destitit), und Sünde geht mit Herzensunschuld nicht eins. Das meint aber, wie gesagt, der Dichter auch gar nicht: er drückt den Gegensatz von Glauben und Wortsünde eben nur pointiert aus. Ausgezeichnet klärt Arevalo (PL 59, 781 C/D) die Verhältnisse. Daß Prudentius die augustinische Schrift aus chronologischen Gründen nicht kennen konnte (vgl. Pellegrino a.O. [oben Anm. 43] 206), ist unerheblich. Das Material aus der Väterliteratur wird bei van Assendelft (78f.) erörtert. Den Unterschied zwischen Ambros. hex. 5 (CSEL 3 2 , 1 , 2 0 2 ) und Prudentius faßt sie unscharf: Prudentius will sagen, daß der Glaube unangetastet blieb, Ambrosius, daß die Leugnung nicht unabsichtlich geschah (eben Sünde war); das führt bei ähnlicher Formulierung hier wie dort nur scheinbar zu einem Gegensatz.

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6.

Zu den Einsichten in die christliche Natursymbolik, die besonders der Hymnus Ad galli cantum vermitteln kann, gehört auch die folgende: Symbolik ist keine Mathematik. Das Symbol ist mit dem Symbolisierten nicht identisch, vermag auch dessen Wesen nicht auf vollkommene Weise auszudrücken: das Sichtbare kann das Unsichtbare nicht sichtbar machen, sondern nur abbilden, nachahmen67. Folglich steht das Symbol zu dem Übernatürlichen, das es anzeigt, nicht in dem Verhältnis einer mathematischen Gleichung, sondern in dem einer Analogie, allerdings einer wesenhaften, realen Analogie, die auf die Wahrheit hinleiten kann. Was Paulus schreibt: τά γαρ αόρατα αϋτοΰ (sc. θεοΰ) άπό κτίσεως κόσμου τοις ποιήμασιν νοούμενα [!] καθοράται, ή τε άίδιος αΰτοΰ δύναμις και θειότης (Rom. 1, 20), darf man als Grundlage auch des christlichen Analogiedenkens ansehen68. Es ist kein mathematisches, noch weniger ein schematisches Denken. Der Analogiecharakter der Zeichen bringt es mit sich, daß die einzelnen ανάλογα in der Natur jeweils Mehrfaches anzeigen, auch einander überschneiden können69. Denn ein Symbol steht nicht isoliert da wie ein erratischer Block, zu einem Symbol gehören in der Regel andere, die es ergänzen; zum Hahnenschrei gehören Schlaf, Erwachen, Nacht, Licht. Ferner sind die übernatürlichen Tatsachen, auf welche die Zeichen hinweisen, ihrerseits wiederum untereinander verbunden. So deutet ein Symbol meist nicht nur auf eine bestimmte "Größe", sondern auf einen zusammenhängenden Sachkomplex. Prudentius sagt 1,42: (invisa vicinitas) lucis, salutis, numinis ... eqs., das heißt: Licht steht für (ewiges) Heil und für Gott. Ähnlich bedeutet Schlaf, wie die Verse 25/36 implicite besagen, den ewigen Tod und das Leben in der Sünde. Besonders aufschlußreich ist der symbolische Zusammenhang, der durch die Vorstellung der 'Nacht' in cath. 1 be-

67 Vgl. oben Arnn. 7 und Anm. 20. 68 Daraufmacht mich P. Hacker auimerksam. Vgl. ferner Ps. 18, 2; Job 12, 7/9; Sap. 13. 69 Sehe ich recht, so eröffnet sich hier eine Vergleichsmöglichkeit mit der Symbolik in der frühchristlichen Kunst, wo ebenfalls eine gewisse Mehrdeutigkeit der künstlerischen Aussage festzustellen ist: E. Stommel, Beiträge zur Ikonographie der konstantinischen Sarkophagplastik = Theophaneia 10 (Bonn 1954) 66f. (auf dieses Buch weisen mich der Jubilar [B. Kötting] und H. Brandenburg hin; auch van Assendelft hätte es dort, wo sie anläßlich von cath. 49ff. auf die christliche Kunst eingeht [75], nicht unerwähnt lassen sollen: vgl. Stommel a.O. 88/109 über die Hahnszene auf Sarkophagen). Ich habe allerdings Zweifel, ob Stommels Erklärung dieser Mehrdeutigkeit als Übertragung des rhetorischen Kunstmittels der significatio (Auct. ad Her. 4, 67: significatio est res, quae plus in suspicione relinquit, quam positum est in oratione) in den Bereich der bildenden Kunst und als bewußtes "In-der-Schwebe-Lassen" zutrifft. Was Stommel zur Stütze dieser Annahme anfuhrt, ist teilweise heterogener Art (z.B. die Bezeichnung der Wunder Christi als σημεία: Joh. 2, 11. 18. 23 u.ö.).

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zeichnet wird: 1) 'Nacht' ist die Sünde und das Leben des einzelnen auf Erden - diese Vorstellung beherrscht die ersten zwölf Strophen; 2) 'Nacht' ist das Dasein der Menschheit vor dem Ende der Welt - das liegt in den Petrusstrophen (bes. in den Versen 53/56), wenn es auch nicht direkt ausgesprochen wird; 3) die 'Nacht' wurde besiegt durch die Auferstehung Christi (V. 72f.): 'Nacht' ist also der Zustand vor der Erlösung; 4) 'Nacht' bedeutet schließlich ebenso wie Schlaf auch das törichte Weltleben im Gegensatz zum christlichen Leben: diese Vorstellung liegt den beiden Schlußstrophen zugrunde. | Umgekehrt kann ein natürliches Ding oder Geschehen Symbol für denselben übernatürlichen Sachverhalt sein, und doch aufgrund verschiedener Eigenschaften. Die Nacht ist Symbol der Sünde, einmal deswegen, weil ihr Dunkel die Sünde begünstigt und böse Taten schützt - das ist der Gesichtspunkt, unter dem in cath. 2 der Symbolcharakter der Nacht entwickelt wird - , aber auch deshalb, weil sie den Schlaf bringt und die Menschen zur Trägheit zwingt: so wird im ersten Gedicht (vgl. bes. V. 27) das Zeichenhafte der Nacht begründet. Weiter: ein natürlicher Sachverhalt kann aufgrund derselben Eigenschaft verschiedene übernatürliche Tatsachen symbolisieren. Das Licht vertreibt die Schwärze der Nacht: dieser natürliche Vorgang bezeichnet 1) die Ankunft Christi am Jüngsten Tag, wenn alles Verborgene sichtbar wird (cath. 2, Iff.); 2) die Reinigung der Seele durch das Sakrament der Taufe und Christi Gnade (ebd. V. 57/72). Dabei wird jeweils die Wirkung des Lichts im natürlichen Bereich nuanciert: das Licht macht - immer durch Vertreibung der Nachtschwärze - die Dinge erkennbar (1) und rein (2). Wie gesagt: in Form von Schemata und Gleichungen läßt sich ein dermaßen umfassendes natürlich-geistiges Sinngefüge niemals angemessen festhalten oder veranschaulichen. Die natürliche Welt besitzt eine Struktur, die auf mehrfache Weise übernatürliche Tatsachen bezeichnet, sie enthält ein Symbolsystem größter Vielfalt. Diese Mannigfaltigkeit möglicher Symbole erlaubt dem menschlichen Geist Entdeckungen (s. oben S. l l l f . [425]), andrerseits birgt sie für den Künstler ein ernstes Problem: wie läßt sich die Symbolik zusammenhängender Naturvorgänge in einem Gedicht darstellen, ohne daß die innere und äußere Einheit des Ganzen zerbricht? Ein klarer äußerer Bau des Gedichts, den Prudentius in dem ersten, die Sammlung einleitenden Hymnus allerdings geboten hat, genügt noch nicht. Das einigende Band bildet das natürliche Geschehen selbst: es muß deutlich erfaßt, lebendig dargestellt werden und darf trotz zunehmender Entfaltung des Symbolischen bis zum Schluß nicht aus dem Bewußtsein des Lesers entschwinden. Bleiben wir noch bei dem Hymnus Ad galli cantuml

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7. Der erste Hymnus beginnt mit den folgenden Strophen: 1

Ales diei nuntius lucem propinquam praecinit, nos excitator mentium iam Christus ad vitam vocat.

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'Auferte', clamat, 'lectulos, aegros, soporos, desides, castique, recti ac sobrii vigilate, iam sum proximus! Post solis ortumfulgidi serum est cubile spernere, ni parte noctis addita tempus labori adieceris.'

"Der Vogel, der Bote des Tages, kündet im voraus das nahe Licht; uns ruft jetzt der Erwecker der Seelen, Christus, zum Leben. | 'Schafft fort', ruft er laut, 'die Betten, die matten, schläfrigen, untätigen; keusch, aufrecht und nüchtern haltet Wache: schon bin ich ganz nahe. Nach dem Aufgang der strahlenden Sonne ist es zu spät, das Lager zu verschmähen, (zu spät), wenn du nicht durch Zugabe eines Teils der Nacht die Zeit für die Arbeit verlängert hast'!" In der ersten Strophe wird Natürliches und Übernatürliches nebeneinandergestellt: der Hahn kündet das nahe Licht (V. lf.), Christus erweckt die Seelen zum Leben (V. 3f.). Auf eine syntaktische Verknüpfung der beiden Sätze verzichtet Prudentius, aber der deutliche Parallelismus der Formulierungen läßt keinen Zweifel daran, daß die beiden Aussagen in einer inneren Beziehung zueinander stehen. Die Symbolik des Geschehens ist bereits umrissen. Aber Prudentius lehrt sie nicht: er läßt sie uns erleben. Er nimmt uns mit sich und stellt uns in die Situation beim nächtlichen Hahnenschrei. Aus der

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Strophe springt gleichsam von selbst hervor, wie der Christ den Hahnenschrei auffaßt und auffassen soll. Die beiden nächsten Strophen werden durch eine direkte Rede gefüllt70. Prudentius legt in die Form der wörtlichen Rede, was der Christ hört, wenn der Hahn ruft. Statt das Symbol lehrhaft einzuführen, greift er zu einem Ausdrucksmittel, das Erklärung und Erlebnis zugleich bietet. Die Natur Symbolik ist für den Christen keine graue Theorie. Das Erwachen belebt in uns die erhoffte Auferstehung, sagt Gregor v. Nyssa; morior nocte, resurgo die heißt es bei Paulinus v. Nola71: wenn der Christ beim Erwachen bemerkt, wie seine Sinne sich wieder beleben, stellt sich ihm der Gedanke an die künftige Auferstehung ein. Das Symbol ist für ihn tägliches Erlebnis. Nur deswegen konnte auch das Gebetsleben aus der Natursymbolik Kraft ziehen: die Apostolischen Konstitutionen schreiben das Gebet beim Hahnenschrei vor, "weil die Stunde die Ankunft des Tages ankündet zur Verrichtung der Werke des Lichts"72. Prudentius hätte nun niemals den Eindruck der Lebendigkeit erzielen können, wenn er ein trockenes System von Gleichungen geboten hätte. Er stellt uns die gesamte natürliche Situation als symbolhaft vor: in dem Rahmen, den die zentralen Symbole: Hahnenschrei, Schlaf, Erwachen, Nacht, Licht schaffen, gewinnen auch scheinbar gleichgültige Dinge und Vorgänge tiefere Bedeutung. Nicht ohne Absicht nennt Prudentius die Betten mit kühner dichterischer Enallage der | Adjektive aegros, soporos, desides (vgl. V. 18: stratisque opertos segnibusl). Das Aufstehen vom Lager, auf dem man

70 Die Rede endet, wie man mehrfach bemerkt hat, nicht schon mit V. 8, sondern erst mit V. 12: dafür spricht vox ista an der Spitze von V. 13. Die Zeichensetzung in den Editionen von Bergman, Lavarenne und Cunningham ist entsprechend zu korrigieren. 71 Greg. Nyss. mort.: 53, 6ff. Heil: ... κατασβεννυμένης έν τοις καθεύδουσι της αίσθήσεως καν πάλιν της έγρηγόρσεως ενεργούσης ήμΐν έν εαυτή την έλπιζομένην άνάστασιν; Paul. Nol. carm. 31, 233/36 (CSEL 30, 315): Nodes atque dies, ortus obitusque vicissim Alternant, morior nocte, resurgo die, Dormio corporeae sopitus imagine mortis, Excitor a somno sicut ab interitu. 72 Const. Apost. 8, 34, 1/7 (540 Funk): εύχάς έπιτελεΐτε ... άλεκτοροφωνία· ... άλεκτρυόνων δέ κραυγή (sc. εύχάς έπιτελοΰντες) δια τό την ώρα ν εύαγγελίζεσθαι την παρουσίαν της ημέρας εις έργασίαν των του φωτός έργων. Die Zeit des Hahnenschreis ist die Zeit um Mitternacht (vgl. hymn. Ambros. 1, 5/8; Isid. orig. 5, 30). Die Apostolische Überlieferung des Hippolytos (E. Hauler, Didascaliae apostolorum fragmenta ... [Leipzig 1900] 119, 9/121,2) ordnet zweimalige Unterbrechung des Schlafs um Mitternacht und zur Stunde des Hahnenschreis an. Der prudentianische Hymnus ist, ebenso wie der ambrosianische, ein Nachtgebet. Aber die Verse cath. 1, 21/24 gehen nicht auf den Weckruf bald nach Mitternacht (der Stunde des geforderten Erwachens), sondern auf einen späteren Hahnenschrei, der unmittelbar vor Sonnenaufgang ertönt. Nur von diesem späteren Ruf kann gesagt werden, er möge "alle durch Mühe Geprüften" (V. 23) - d.h. alle, die bereits Stunden des nächtlichen labor (V. 12) hinter sich haben - in der Hoffnung auf das Licht bestärken. Der symbolische Sinn der Zeilen liegt auf der Hand, aber er erfordert auch eine entsprechende natürliche Situation.

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träge ruhte, die aufrechte Haltung des Wachenden, ja die Erwartung des Lichts, das morgendliche Gebet selbst (vgl. V. 75/84): all das hat Anteil an der Symbolik des Geschehens73. Indem der Dichter so die Gesamtsituation als einen lebendigen Zusammenhang zeichenhafter Bedeutung vorstellt, schafft er die Grundlage, auf der das Gedicht ruht. Die zunehmende Entfaltung der Symbolik tut der Einheit des Gedichts keinen Abbruch mehr. Es hat keinen Zweck, säuberlich herauszupräparieren, was bei bloß rhetorischer Personifikation der Hahn rufen könnte und was nicht. Gewiß könnte er nicht verkünden: iam sum proximus (V. 8), denn nahe ist der göttliche Richter (vgl. V. 16). Umgekehrt passen die Verse 1 lf. streng genommen nicht zum übernatürlichen Sachverhalt: eine Fortsetzung des labor gibt es nach Anbruch des überirdischen Lichts am Ende der Zeiten nicht mehr, die Wendungen partem noctis addere (!), tempus labori adicere (!) gehören in den natürlichen Bereich, wozu jedoch der Begriff des "Zu spät" (V. 10) wiederum nicht recht stimmt; auf das tägliche Leben bezogen wäre er doch wohl zu scharf 4 . Man könnte mit derlei Analysen weiter fortfahren. Aber es ist doch klar: die Verse 5/12 bringen trotz der Form der direkten Rede weder eine wörtliche Ansprache Gottes noch eine Rede des personifizierten Vogels, vielmehr wird alles durch das Medium der gläubigen Naturbetrachtung gesehen. Die Rede drückt aus, was der gläubige Christ, dessen Sinn für die Symbolik der Natur aufgeschlossen ist, vernimmt, wenn er zu nächtlicher Stunde den Weckruf des Hahns hört. Auffallen muß allerdings, wie eng Prudentius das Natürliche und Übernatürliche verklammert. Wenn sich auch nur selten die Dinge im Sinne rigider Logik festlegen lassen, so schimmert doch allenthalben durch die Beschreibung des Natürlichen die höhere Bedeutung. Der eine Vers etwa: post solis ortum fulgidi ... eqs. (V. 9) vereint fugenlos das natürliche

73 Auch die Tatsache, daß die Hähne rufen stantes sub ipso culmine (V. 14): unterm Dachfirst; denn das deutet auf Christus, dessen Mahnung ab alto culmine (V. 29) kommt: vom Himmel! Zugleich fassen wir hier ein schönes Beispiel vertiefender Vergilnutzung seitens des christlichen Dichters. Vgl. Verg. Aen. 8, 456: et matutini volucrum sub culmine cantus (dazu Henry, Aeneidea 3, 724ff.). Der Vers hat Prudentius angeregt, aber nicht bloß in formaler Hinsicht, sondern in gedanklicher: er nutzt das vergilische Detail, um ihm tieferen, symbolischen Sinn zu geben. 74 Was bedeutet labor (V. 12. 23; vgl. V. 80 laborans)? Zunächst das Gebet. Denn Beten heißt hier: stehend (V. 7. 80), weinend, bittend, fastend (V. 82) Christus anrufen, und zwar des Nachts! Das ist labor, physischer und spiritueller labor. Symbolisch steht dann diese Mühe fur das rechte Christenleben überhaupt (vgl. bes. V. 77ff.). Hinzuzunehmen ist cath. 2, 49ff.: das Tagewerk des Christen besteht im Gebet (2, 52 flendo, canendo wie 1, 82 flentes, precantes), anders als das des Weltmenschen, der auf materiellen Gewinn u. dgl. bedacht ist. Der Begriff labor kommt hier nicht vor, aber man muß auf die Sache sehen.

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und das übernatürliche, das alltägliche und das künftige, einmalige Geschehen. Damit werden wir zu Beobachtungen zurückgeführt, die wir schon oben (S. 96f. [414f.]) aus Anlaß der Tertullianstelle machten, die sich aber durch die Betrachtung des Dichtertextes noch weiter erhärten lassen.

8. Die Tageslieder bieten keine bloße Versifikation lehrhafter Ansichten, die sich in Prosatraktaten angemessener hätten ausdrücken lassen. Das Gegenteil ist der Fall. Man darf sagen, daß die Natursymbolik auf keine andere Art hätte lebendiger dargestellt werden können als durch die Poesie oder eine Redeweise, die sich der poetischen annähert. Ja noch mehr: jedes Bemühen, die Natursymbolik lebendig zu erfassen, wird | mehr oder weniger zur Poesie geraten. Gewiß, man kann die symbolische Bedeutung eines natürlichen Dings oder Vorgangs zureichend ausdrücken, indem man den Finger darauf legt wie ein Lehrer oder Exeget: vgl. cath. 1, 13ff. 25f. Aber das wirkt leicht ermüdend, abstrakt, schulmeisterlich. Kein Wunder, daß Prudentius höchst selten so redet. Man kann auch einen Vergleich anstellen: cath. 1, 27f. 90f. Auch damit ist die Sache durchaus getroffen, wie wir bereits mehrfach zu bemerken Anlaß hatten. Aber auch Vergleiche hätten auf die Dauer schwerfällig wirken müssen. Die antike Dichtersprache hält andere Mittel bereit. Der Gebrauch von Bildern und Metaphern ist ihr eigen: im Gegensatz zum Prosaiker, zum Redner oder Philosophen etwa, darf der Dichter sich in dieser Hinsicht große Freiheit erlauben (vgl. z.B. Isocr. or. 9, 9f.; Quintil. inst. 8, 6, 17f.; Sen. ep. 59, 6). Die Poesie lebt geradezu davon, daß sie Worte in anderer Bedeutung verwendet als der eigentlichen. Dadurch eröffnen sich dem christlichen Dichter vielerlei Wege, das Übernatürliche und sein irdisches Zeichen ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Art des gegenseitigen Verhältnisses so eng zusammenzurücken, daß sich der Symbolcharakter des natürlichen Vorgangs wie von selbst einstellt. Er kann beides, das Sichtbare und das Unsichtbare, in einem einzigen Begriff zusammenfallen lassen, so daß der Begriff eine tiefe Leuchtkraft erhält. Auf diese Weise gewinnt er die Möglichkeit, den objektiven geistigen Zusammenhang zwischen der übernatürlichen Realität und ihrem natürlichen Zeichen auf vollkommene Weise sprachlich zu bewältigen: knapp, sachgerecht und zugleich poetisch. Knapp: weil eben oft schon ein einziger Ausdruck den geistigen Zusammenhang enthalten kann; sachgerecht: weil die enge Verbindung des Zeichens mit seinem Gegenstand nicht besser erfaßt werden kann als dadurch, daß einunddasselbe Wort beide Bereiche

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umfaßt; poetisch: weil der übertragene Gebrauch der Wörter der Poesie recht eigentlich zukommt. So nutzt die symbolische Dichtung des Prudentius die Tradition der antiken Poesie, indem sie - äußerlich betrachtet - dasselbe tut wie jene: Worte in anderer Bedeutung gebraucht, in einen anderen Bereich überträgt, der zu dem ursprünglichen in einem Vergleichsverhältnis steht. Aber nur äußerlich tut sie dasselbe: das Vergleichsverhältnis ist eben nicht das eines von Menschen erdachten (rhetorischen, literarischen) Vergleichs, sondern das einer von Gott geschaffenen Analogie. Durch das traditionelle Ausdrucksmittel erhellen sich Symbol und Gegenstand wechselseitig auf eine ursprüngliche, unaufdringliche Weise: das Unsinnliche, Übernatürliche wird durch das Natürliche dem Verständnis nähergebracht, das Natürliche bekommt einen neuen, höheren Wert, einen bisher nicht geahnten Sinn seiner Existenz und Beschaffenheit. Es sei nochmals betont: ' Metaphorik' im Sinne der antiken Stilkunst ist das nicht. Da der Terminus 'Metapher' aber nun einmal festliegt, meidet ihn der Interpret symbolhaltiger Texte am besten ganz75. | Das Gesagte gilt nicht nur im allgemeinen, sondern auch im besonderen, und zwar insofern, als Prudentius bestimmte Metaphern der antiken Poesie übernimmt und mit neuem Sinn füllt. Ich bringe dafür hier nur ein kleines Beispiel, das bislang keine Beachtung fand. Der Hahnenschrei, der (symbolisch) vox Christi ist (cath. 1,29f.), erinnert daran, daß der Anbrach des Lichts schon nahe bevorsteht: Ne mens sopori serviat, Ne sortmus... opprimat Pectus sepultum crimine ... eqs. (V. 32ff.). Zu sepultum (V. 35) bemerkt van Assendelft (70): "Sepultum ... is well-chosen because of the continued sleep-death association." Das ist, läßt man den irreführenden Begriff der 'Assoziation' beiseite, gewiß richtig, aber wohl noch zu wenig. Es scheint, als habe der Dichter eine alte Metapher der lateinischen Dichtersprache in sein symbolisches Gefüge eingebaut: somno sepultus ist schon ennianisch (ann. 292f.: Nunc Höstes vino domiti somnoque sepulti Consiluere), begegnet dann bei Lucrez

75 Allenfalls könnte man den Terminus mit einem kennzeichnenden Zusatz versehen: " symbolhafte Metaphorik" sagt Herzog einmal (67). Eine große Rolle spielt der Begriff der 'Metaphorik' in der mittelalterlichen Bedeutungsforschung, die einen ansehnlichen Aufschwung genommen hat. Vgl. F. Ohly, Einleitung zu dem Sammelband "Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung" (Darmstadt 1977) IX ff., bes. XXVIH/XXXI. Man versucht hier, den Terminus zu differenzieren und gleichzeitig tiefer zu fassen, also etwa die Metapher nicht nur als Stilmittel zu begreifen, sondern auch die "in der Metapher enthaltene signifikative Dinglichkeit" darzustellen (W. Harms, Homo viator in bivio [München 1970] 153). Was Prudentius und die Kirchenväter angeht, so bin ich allerdings der Uberzeugung, daß nur eine terminologische Radikalkur vor weiterer Verwirrung bewahren könnte. Das heißt: unter den Wörtern, welche die Kirchenväter fur die Natursymbole gebrauchen, sollte man diejenigen bevorzugen, die das Wesen der Sache am deutlichsten ausdrücken: s. oben S. 92/94 [412f.].

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(5, 974: taciti somnoque sepultv, vgl. 1, 133) und Vergil (Aen. 2, 265). Zwar

lautet die Junktur bei Prudentius anders: sepultum crimine, aber es ist ja im Ganzen vom Schlaf die Rede: der Schlaf ist Symbol des ewigen Todes (V. 26) und der Sünde, der 'Schlaf drückt das Herz nieder, das "von Schuld begraben" ist (V. 33ff.). Also wird man an jene alte Metapher denken dürfen. Aber bei Prudentius ist das Bild des Begrabenseins der Ausdruck einer natürlichübernatürlichen Realität (s. oben S. 96 [414]), und dasselbe gilt für das symbolische Verhältnis von natürlichem Schlaf und ewigem Tod im Ganzen76. Ähnlich verhält es sich, wenn Prudentius (cath. 1, 43) die Junktur tenebrarum situs gebraucht: die Vorstellung vom 'Moder der Dunkelheit' ist uralt77, aber der Christ hat ihr einen tieferen, geistlichen Glanz gegeben, indem er durch sie den Ansatz seiner Nachtsymbolik stützt.

9. Die Art gläubiger Naturbetrachtung, die den Gedichten des Prudentius zugrunde liegt, war der Alten Kirche insgesamt vertraut und lebte auch später weiter fort, erreichte zumal im Mittelalter besondere Festigkeit78. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. Ich möchte mit einer allgemeinen Überlegung schließen, wobei ich mir die Freiheit gestatte, die Grenzen philologischer Interpretation zu überschreiten. Als ich unlängst die Tageslieder in einem Seminar behandelte, bemerkte einer meiner Studenten nicht ohne gewisse Wehmut, wie mir schien, daß heutzutage kaum noch jemand Gelegenheit habe, des morgens einen Hahnenschrei zu hören; mit der altchristlichen Anschauung, daß das gallicinium ein von Gott eingerichtetes διδασκάλιον für die Menschen sei, könne es also schon deswegen wohl kaum seine Richtigkeit haben.

76 Es genügt nicht, für die alte Anschauung der Verwandtschaft von Schlaf und Tod einfach Belege aus der vorchristlichen (z.B. Horn. II. 14,231) und der christlichen Antike aneinanderzureihen (vgl. van Assendelft 68). Dazu ist im Gnomon 51 (1979) 143f. einiges gesagt. 77 Belege bei van Assendelft (73) z.St. Die Vorstellung reicht zurück auf den Ά ί δ ε ω δόμον εϋρώεντα (Horn. Od. 10, 512 u.ö.). An ihn denkt Vergil, wenn er den Aeneas (6, 461f.) sagen läßt: (me iussa deum) has ire per umbras, Per loca senta situ [!] cogunt noctemque [!] profundam. 78 F. Ohly hat eine größere Untersuchung dazu unter der Feder: "Lesen im Buch der Natur". Darin wird die Vorstellung von ihren Anfängen im frühen Christentum bis in die moderne Zeit hinein verfolgt werden. Kurz angezeigt ist die Arbeit im 10. Bericht des Münsterer Sonderforschungsbereichs 'Mittelalterforschung' (FrühmittelalterlStud 11 [1977] 530), etwas ausführlicher wird sie im 11. Bericht umrissen (ebd. 12 [1978] 406). Überhaupt sei in diesem Zusammenhang auf einschlägige Unternehmen dieses Forschungszentrums hingewiesen.

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V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern

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Nun mag es zwar dahingestellt bleiben, ob man in den Großstädten der Antike überall die | Hähne krähen hörte, doch andrerseits wird wohl kaum jemand bestreiten wollen, daß die Natur, die Trägerin der Zeichen, bis zu gewissem Grade der Veränderung unterliegt. Zwar wird es immer den Wechsel von Tag und Nacht geben, solange die Erde besteht, und daher brauchte Prudentius auch heute nichts zurückzunehmen von dem, was er über den Zeichencharakter von Licht und Dunkelheit sagt. Wie aber steht es mit dem Schlagen des Feuers aus dem Stein? Fragen solcher Art sind nicht etwa müßig, auch dann nicht, wenn man eine streng historische oder liturgiewissenschaftliche Betrachtungsweise der Natursymbolik einzuhalten gewillt ist; denn derlei Fragen fördern indirekt das Verständnis jener uns fremd gewordenen Naturanschauung. Man braucht nicht lange nachzudenken, um die Antwort zu finden, die vom Standpunkt der Naturanschauung der Kirchenväter aus erteilt werden muß: der Schöpfergeist Gottes hat die Natur mit Symbolen gesättigt, hat sie so reich mit Zeichen ausgestattet, daß neue an die Stelle der alten treten können, wenn diese aus einem zivilisatorischen Grunde nicht mehr wahrnehmbar sind; der Mensch ist zur Entdeckung solcher Zeichen aufgefordert - er wird sie freilich um so leichter entdecken, je weniger die Ordnung der Natur gestört ist. Umgekehrt gilt, daß mit dem Fortschritt naturwissenschaftlicher Erkenntnis neue Symbole in der Natur offenbar werden können79. Jedenfalls ist die Natursymbolik an eine Zivilisationsstufe oder an einen bestimmten Stand der Naturwissenschaft prinzipiell ebenso wenig gebunden80 wie etwa an einen geographischen Standort des Betrachters. Wenn die Kirchenväter die Legende des in Arabien lebenden Vogels Phoenix als παράδοξο ν σημεΐον der Auferstehung ansahen, wenn sie die Symbolik der Berge und Einöden erkannten81, so lehrt dies doch, daß sie ihrem Blick keine engen Grenzen setzen wollten.

79 Dies lehrt die Geschichte der symbolischen Naturbetrachtung gerade in der Neuzeit, vgl. Ohly a.O. (oben Anm. 75) XXXI mit weiteren Literaturhinweisen. 80 F.J. Dölger, Echo aus Antike und Christentum nr. 82: ACh 5 (1936) 144 zitiert aus einem Brief von J. Lechner, der mitteilt, daß in der Benediktinerinnenabtei St. Walburg in Eichstätt (gegr. 1035) bis in jüngste Zeit hinein ein abendlicher Lichtspruch in Brauch gewesen sei. Der Absender bemerkt dann weiter: "Leider hat die Einführung der modernen, bequemen Beleuchtung (elektrisches Licht) die Übung des Brauchs etwas zurückgedrängt. Ich denke aber, daß ein Aufinerksammachen auf Ihre Ausführungen [Dölger, Lumen Christi a.O. Iff.] den schönen Brauch neu beleben wird." In der Tat: wenn sich religiöse Gedanken mit dem abendlichen Licht verbinden, so ist nicht recht einzusehen, weshalb der technische Fortschritt dem unbedingt ein Ende bereiten müßte. Diese Überlegung kann man auch auf die Lichtsymbolik ausdehnen. 81 Vgl. oben S. 95 [413], 112 [425]. 1163, [42839]. Reiches Material dazu findet sich bei M. Th. Springer, Nature-imagery in the works of Saint Ambrose = Patrist. Stud. 30 (Washington 1931) sowie in weiteren einschlägigen Arbeiten dieser Reihe.

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Prudentiana II. Exegetica

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Nachträge 1. Der Begriff des 'Übernatürlichen', den ich wiederholt gebraucht habe, ist den Vätern der ersten Jahrhunderte noch unbekannt (s. O.H. Pesch: LThK210 [1965] 437f.). P. Hacker (f) machte mich am 19. 12. 1978 brieflich darauf aufmerksam, daß der Begriff vom Standpunkt der hochentwickelten (scholastischen) Theologie aus erheblich differenziert werden müßte. Die im Voraufgehenden als 'übernatürlich' bezeichneten Tatsachen gehören teils zur 'substantiellen' Übernatürlichkeit Gottes, teils zur θείας κοινωνία φύσεως (vgl. 2 Petr. 1,4) des Menschen, wobei hier wieder weitere Unterscheidungen zu treffen wären (s. A. Michel: DictTheolCath 14, 2 [1941] 2852). Aber in einer nichttheologischen Arbeit darf wohl getrost von solchen Differenzierungen abgesehen werden, was auch Hacker einräumte. | 2. Während der Drucklegung erschien ein Essay von J. Fontaine, der zugleich eine Besprechung des Kommentars von M. van Assendelft enthält: "Comprendre la po6sie latine chr6tienne. Reflexions sur un livre recent" (RevEtLat 56 [1978] 74/85). Die Besprechung des französischen Gelehrten, der bei Abfassung des Kommentars seine Hilfe lieh (vgl. van Assendelft VI), ist selbst weithin ein Hymnus. Trotzdem brauche ich nichts von dem zurückzunehmen, was hier und andernorts (Gnomon 51 [1979] 136/44) zur Kritik an der Prudentiuserklärung der holländischen Kommentatorin vorgebracht wurde. Die wenigen konkreten Interpretationsproben, die Fontaine dem Kommentar entnimmt, offenbaren gerade dessen Schwächen. Atria in cath. 5, 26 (s. den Text oben S. 105 [421]) soll drei Bedeutungen zugleich haben: "la maison, le lieu de culte, le temple de l'äme" (81). Doch nur die erste Bedeutung trifft hier. Es handelt sich um das allabendliche Lichtanzünden im Hause (s. oben S. 102 [418]), und es ist nicht erkennbar, daß eine Mehrdeutigkeit des Ausdrucks vom Dichter beabsichtigt sei. Weshalb soll das Adjektiv vitreis (sc. liquoribus: cath. 5, 67), gesagt vom Wasser des Roten Meers, eine "nuance baptismale" enthalten (82)? Doch sicher nicht deshalb, weil per. 12, 39 das Wasser in einem Taufhaus "glashell" heißt - Fontaine zitiert diese Stelle! Denn wer wird darum das Epitheton vitreus an der anderen Stelle, in einem anderen Werk, in anderem Kontext als Hinweis auf die Taufe verstehen können? Wer hat die Prudentius-Konkordanz von Deferrari/Campbell im Kopf? Und selbst wenn er sie im Kopf hat: weshalb soll er gerade diese beiden Vorkommen des Worts vitreus, das Prudentius siebenmal hat, kombinieren? Es steht zu befürchten, daß die moderne Prudentiusinterpretation einem unkontrollierbaren Subjektivismus verfällt, wenn sie auf diesem Wege weiter voranschreitet. Kritik an

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V. Die Natursymbolik in den Tagesliedern

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dem neuen Kommentar übt Fontaine insofern, als er eine stärkere Beachtung des Zusammenhangs von Poesie und Liturgie fordert. Aber er verfolgt auch diesen Gesichtspunkt in einer Weise, die eher zu einer spekulativen Hermeneutik im Stile bestimmter Partien des besprochenen Kommentars anregen dürfte als zu einem volleren Verständnis des Texts. Auch gegenüber gewissen grundsätzlichen, das Verhältnis von Antike und Christentum betreffenden Betrachtungen Fontaines kann ich Bedenken nicht unterdrücken. Für Fontaine scheint die Einheit spätantiken Geists das Primäre zu sein, der gegenüber christliche Elemente gleichsam nur akzidentiellen Charakter tragen: "... l'unite d'une telle attitude spirituelle estbien independante des diverses thdologies susceptibles de lui servir de support rationner (74). So wird die prägende, neugestaltende Wirkung der geistigen Potenz des Christentums innerhalb der spätantiken Kultur nicht angemessen beschrieben. Nicht der spätantike Geist bedient sich der christlichen Theologie, um zu rationalem Ausdruck zu gelangen, sondern umgekehrt: das Christentum macht sich die antike Kultur dienstbar, um seine Lehre darzustellen (vgl. "Interpretation frühchristlicher Literatur" [oben Anm. 15] passim, bes. 177„ [in diesem Bande S. 71„] zu einer ähnlichen Äußerung Fontaines). Schließlich sei noch angemerkt, daß Fontaine (79) eines der verwegensten Interpretamente Herzogs und van Assendelfts, das ich oben (S. 106f. [421]) und im Gnomon (51, 142) zurückgewiesen habe, irrtümlich auch mir unterstellt.

VI.

EXEGETISCHE BEMERKUNGEN ZU PRUDENTIUS' 'HAMARTIGENIE' *

Zu Prudentius' 'Hamartigenie' besitzen wir jetzt zwei Spezialkommentare, den von Jan Stam (Amsterdam 1940) und neuerdings den von Roberto Palla (Pisa 1981). Trotzdem bleibt noch mancherlei zu tun. Im folgenden geht es meist um philologische Kleinigkeiten, doch um solche, die von keinem der beiden Kommentatoren zufriedenstellend behandelt wurden. Zum Vergleich habe ich regelmäßig die Übersetzungen von Maurice Lavarenne (Prudence, tome 2, Paris 19451; 19612) und H.J. Thomson (Prudentius, vol. 1: Loeb Library 1949'; repr. 1962) sowie Lavarennes 'Etude sur la langue du poete Prudence' (Paris 1933) herangezogen. Ein Mehr an gelehrter Doxographie hielt ich hier für überflüssig. Der Vergleich mit Lavarenne und Thomson beweist, daß Palla auch dort, wo das Richtige bereits getroffen war, nicht immer das Richtige gewählt hat. Einige solcher Fälle sind aufgenommen, um das Erreichte durch Begründung zu sichern. Ich lege jedoch Wert auf die Tatsache, daß ich nur Beispiele bringe, nicht etwa eine vollständige Mängelliste vorlege. Das schwerste Manko der Erklärung des Gedichts steht ohnehin auf Seiten der großen Sachfragen, nicht auf Seiten der exegetischen Kleinigkeiten. Auf dem Gebiet der Kritik beansprucht das Problem der Großinterpolamente erhöhte Aufmerksamkeit; ihm wird ein weiterer Aufsatz" gewidmet sein. |

1. Die Sonne ist Symbol der Hl. Dreifaltigkeit: 70

Una per inmensam caeli caveam revolutos praebet flamma dies, texit sol unicus annum, triplex ille tarnen nullo discrimine trina subnixus ratione viget: splendet, volat, ardet,

Hermes 111, 1983, 338/62. Hermes 112, 1984, 333/52 [ = Prudentiana 168/89],

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VI. Exegetische Bemerkungen

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motu agitur, fervore cremat, tum lumine fiilget. sunt tria nempe simul: lux et calor et vegetamen, una eademque tarnen rota sideris indiscretis fungitur his, uno servat tot munera ductu et tribus una subest mixtim substantia rebus.

Seit etwa 150 Jahren zieht sich durch die Prudentiusliteratur die Frage, ob der Dichter seine Darstellung des Sonnensymbols dem Sabellius (referiert bei Epiphan. panar. haer. 62, 1, 4/7: GCS 31, 389f.) verdanke. Stam (p. 151) hielt das für "sehr wahrscheinlich", Palla dagegen (p. 152) ist geneigt, im Hinblick auf die Häufigkeit des "Gleichnisses von Sonne und Sonnenstrahl" (s. F.J. Dölger: Antike und Christentum 1, 1929 [19742] 271/90) die Prudentiusverse als Echo der theologischen Diskussion seiner Zeit zu betrachten. Er hätte fester zugreifen und dem alten Problem ein Ende bereiten sollen. Denn den tiefen dogmatischen Unterschied beiseite - : die Annahme direkter Benutzung des Sabellius seitens des Dichters wird durch die jeweilige Art der Gleichnisse selbst widerraten. Sabellius unterscheidet Licht, Wärme und G e s t a l t , d.h. Kreisfigur, des ganzen Himmelskörpers (αυτό της περιφερείας σχήμα, τό εΐδος της πάσης υποστάσεως), Prudentius unterscheidet Licht, Wärme und B e w e g u n g der Sonne und stellt diese Dreiheit der munera der Einzigkeit der Sonnenscheibe (V. 76 una eademque ... rota sideris) gegenüber. Die Analogie des Dichters ist also anders aufgebaut, sie ist im Sinne der dogmatischen Aussage vervollkommnet; denn erst jetzt findet sowohl die Einheit der göttlichen Substanz wie die Verschiedenheit der Personen im irdischen άνάλογον eine volle Entsprechung. Daß nun Prudentius, Sabellius vor Augen, diese Änderung vornahm, ist um so unwahrscheinlicher, als dieselbe Darstellung des Sonnensymbols auch bei Augustinus serm. 384, 3 (PL 39, 1690) und Ps. Augustinus, Ad fratres in eremo serm. 44 (PL 40, 1321) belegt ist: auch sie stützen die Analogie auf lux {splendor), calor (fervor), motus (cursus) der Sonne einerseits und das Ganze des Himmelskörpers andererseits. Überhaupt ist nur die augustinische Darstellung der prudentianischen voll parallel, nicht dagegen das andere Material, das man bei Dölger a.O. oder Palla findet. Es mag eine gemeinsame Quelle geben, die entweder noch der Entdeckung harrt (die zur | Herstellung der augustinisch-prudentianischen Analogie notwendigen Elemente sind alle bei Ambros. hex. 4, 1 vorhanden) oder uns verloren ist.

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Prudentiana II. Exegetica

[340]

2.

V. 77 (rota sideris) uno servat tot munera ductu soll heißen: "... fulfils so many duties under one leadership" (Stam) bzw. "... conserva tutti questi suoi compiti nel corso di un unico giro" (Palla). Ersteres ist abwegig, aber letzteres trifft auch nicht. Es hat keinen Sinn zu sagen, daß die Sonne die verschiedenen munera während eines U m l a u f s erfülle (Lavarenne: "au cours du meme voyage"; Thomson: "in one course"); denn solcher Ausdruck ließe die Möglichkeit eines zeitlichen Nacheinander der Funktionen offen, ja drängte den unpassenden Gedanken geradezu auf. Die Sonne leuchtet, eilt und brennt "in einem Zuge", "in ununterbrochenem Zusammenhang". Also: uno ductu steht wie die geläufige, auch adverbiell gebrauchte Wendung uno tenore (vgl. Serv. Verg. georg. 2, 337 tenorem: ductum), auf daß Einheit und Gleichzeitigkeit aller drei Vorgänge betont werde. In der 'Apotheosis' erklärt Prudentius, wie er bei Nennung der Hl. Dreifaltigkeit verfahren wolle (apoth. 239ff.: hoc sequimur ... eqs.). Er nenne stets alle drei Personen, 243 sie tarnen haec constare tria, ut ne separe ductu tris faciam, tribus his subsistat sed Deus unus. Nur hier kommt das Substantiv ductus noch einmal bei Prudentius vor. Separe ductu bildet das negative Correlat zu uno ductu, mag auch vielleicht separe ductu in der Bedeutung des "ductus orationis" oder des "Schriftzugs" (im übertragenen Sinne) schimmern: s. ThLL5, 2173, Z. 47/70 bzw. 22/46. Die Prudentiusstellen fehlen im Thesaurus.

3. Christliches Analogiedenken ruht ebenso auf der Unterschiedlichkeit wie auf der Ähnlichkeit von sichtbarer und unsichtbarer Realität: Hilar, trin. 1, 19 comparatio ... terrenorum ad Deum nulla est; sed infirmitas nostrae intelligentiae cogit species quasdam ex inferioribus tamquam superiorum indices quaerere ... omnis igitur comparatio hominipotius utilis habeatur quam Deo apta, quia intelligentiam magis significet quam explet. Gerade wenn es um die Sonne ging, mußte der Dichter den leisesten Verdacht einer Verwechslung von creator und creatura vermeiden (vgl. Symm. 1, 309/53 gegen den Kult des Sol); ihn räumen die Verse ham. 79ff. aus: |

VI. Exegetische Bemerkungen

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Non conferre Deo velut aequiperabile quidquam ausim nec Domino famulum componere signum, ex minimis sed grande Suum voluit Pater ipse coniectare homines, quibus ardua visere non est. parvorum speculo non intellecta notamus et datur occultum per proxima quaerere verum.

Durch den Hinweis auf Ps. 18, 2: caeli enarrant gloriam Dei ... eqs. hatte Stam (p. 150 zu ham. 62) die Grundlage christlicher Natursymbolik wenigstens angedeutet, bei Palla ist auch die Andeutung fortgefallen. Stattdessen verweist er (p. 157) auf zwei Euripidesverse (frg. 574 Ν.2: τεκμαιρόμεσθα τοις παροΰσι τάφανή, ähnlich frg. 811 Ν.2), die er der Sylloge annotationum der alten Prudentiusausgabe von M.J. Weitz (1613) entnimmt (ebd. p. 656), und folgert: " ... il concetto che le cose che ci sfuggonopossono essere ricercate mediante quelle a noi vicine e presente giä presso i tragediografi antichi". Das ist nun freilich gar zu wenig. Zwar mag es willkommen erscheinen, wenn Ansätze des analogischen Denkens der Väter in der vorchristlichen Antike aufgedeckt werden, aber mit dem bloßen Hinweis auf jene Euripidesverse ist wenig gewonnen. Clemens Alex, (ström. 6, 18, lf.) und Theodoret (äff. 6, 90) zitieren sie, doch in anderem Zusammenhang. Um zunächst bei diesen Versen zu bleiben: hinter ihnen steht der Satz des Anaxagoras: οψις των αδήλων τά φαινόμενα (59 Β 21a Diels-Kranz) und damit nicht nur eine allgemeine Maxime, die es bis zur Sprichwörtlichkeit brachte (paroemiogr. 1, 444 Leutsch; weiteres bei Diels-Kranz a.O.), sondern auch ein Grundsatz antiker Naturwissenschaft (O. Regenbogen, Kleine Schriften, hrsg. von F. Dirlmeier, München 1961, 141/94, bes. 158; H. Diller: Hermes 67, 1932, 14/42 = Kleine Schriften zur antiken Lit., hrsg. von H.-J. Newiger und H. Seyffert, München 1971, 119/43). Für uns ist wichtig, daß Demokrit den Satz des Anaxagoras ausdrücklich gutgeheißen hat (Anaxag. 59 Β 21a D.-Kr.; Democr. 68 A 111 D.-Kr.). Denn so werden wir daran erinnert, daß auch der Materialist innerhalb seiner mechanistischen Welterklärung die unsichtbare atomare Struktur der Natur durch Vergleich mit solchen Phänomenen erschließt, die dem Auge wahrnehmbar sind (s. Diller a.O. 138f.). Wichtig ist dies deshalb, weil Prudentius ein Lehrgedicht schreibt und dabei Lucrez im Kopf hat. Ich erinnere an den Sonnenstäubchenvergleich (Lucr. 2, 112/24), den der Lehrdichter einlegt, Conicere ut possis ex hoc, primordia rerum Quale sit in magno iactari semper inani. Vgl. Lucr. 1, 751 f. ... Conicere ut possis ex hoc, quae cernere non quis Extremum quod habent... eqs. Man sieht, wie Prudentius

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Prudentiana II. Exegetica

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dem Stil (verstanden im weitesten Sinne, als Einheit von Wort und Gedanke) des lukrezischen Lehrgedichts getreu bleibt und ihn doch zugleich in den Dienst der neuen Sache stellt. Damit will ich nicht behaupten, daß diese | geistige Linie für das analogische Denken des christlichen Dichters oder der frühen Christenheit überhaupt von herausragender Bedeutung gewesen sei. Eher wird man auf die stoische Physik (M. Pohlenz, Die Stoa 1, 94f.) verweisen dürfen, die ein Augustinus bei Entwicklung seiner Zeichenlehre benutzt hat (R. Lorenz: Zeitschrift f. Kirchengesch. 67, 1955/56, 229/32), und auf die neuplatonische Analogielehre (W. Kluxen, Art. Analogie: Histor. Wb. der Philosophie 1,1971,218f. mit Lit.). Zu Prudentius vgl. Pietas. FestschriftB. Kötting = JbAC Erg.-Bd. 8, 1980, 411/46 [in diesem Bande S. 91/141],

4. Wenn es, wie Markion lehrt, zwei Götter gibt, warum dann nicht viele tausend? 97

An non in populos dispersa examina divum fundere erat melius mundumque inplere capacem semideis passim nullo discrimine monstris, 100 quis fera barbaries perituros mactat honoresl "Transitory offerings" übersetzt Stam. Aber das ergibt hier keinen Sinn. H.J. Thomson (Class. Rev. 60,1946,116) erklärt: "sacrifices that will be wasted". Palla (p. 161) erwähnt Thomsons Auffassung als eine Möglichkeit, selbst übersetzt er: "vittime votate a morte" und bemerkt dazu: "... per sottolineare la crudelta dei sacrifici". Aber das Schlachten der Opfertiere galt der Antike nicht als grausam, der heidnischen Antike nicht und der christlichen auch nicht. Was sollte man sonst von Abels Opfer denken (ham. praef. 5/9.31), das Gott wohlgefällig war? Und überhaupt von den Opfern des Alten Bundes? Vgl. die Formulierung psych. 784: Quisque litare Deo mactatis vult holocaustis ... eqs. Anders freilich steht es mit dem wüsten Opferschmaus der Heiden (Symm. 1, 452/60), ja mit dem Fleischgenuß überhaupt (cath. 3, 56/65): er wird als roh und barbarisch abgelehnt (Vögel bilden wie Fische eine Ausnahme: ebd. 41/45). Doch läßt sich die Wendung perituros ... honores nicht als Ausdruck solcher Anschauung verstehen. Die Sache wird entschieden, und zwar im Sinne Thomsons, durch per. 10, 296ff.:

VI. Exegetische Bemerkungen

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Non erubescis, stulte, pago dedite, te tanta semper perdidisse obsonia, quae dis ineptus obtulisti talibus ... eqs.

Also: heidnische Opfer sind Vergeudung. Obsoniaperdere ("vergeuden") steht wie tempus, chartam, oleum et operam perdere, und perire vertritt das Passiv hierzu. Vgl. Lact. inst. 6,12,40: transfer ad magnum sacrificium maleperitura ... eqs. Prudentius sagt (ham. 363f.) über die Zirkusrennen: | mens vulgi rationis inops, non cursus equorum perfunt, infami studio perit utile donum. Das Pferd wird beim Rennen mißbraucht, das Geschenk Gottes "vergeudet" (perit). Vgl. auch apoth. 736 (von den Resten der Brote und Fische nach Mc. 6, 43): Ac ne post hominum pastus calcata perirent... eqs. 5. Hinc schola subtacitam meditatur gignere sectam, 175 quae docet e tenebris subitum micuisse tyrannum ... eqs. P. Augustin Rosier (Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens, Freiburg 1886, 380) hatte erklärt: "Das 'subtacita' ... paßt einzig auf die Geheimthuerei dieser Häresie" - er meinte den Priscillianismus. Stam stimmt zu, Palla nicht. Aber die berechtigte Skepsis des italienischen Kommentators führt zu einer seltsamen Auffassung des fraglichen Ausdrucks: "Da ciö una setta medita di dar vita ad una dottrina dalla voce modesta". Gemeint sei (nach Palla p. 176): sie habe nur wenige Anhänger gehabt. Palla räumt allerdings ein, die Darstellung des Dichters stehe vielleicht nicht in Einklang mit den Tatsachen. Soll man also annehmen, Prudentius habe sein über 900 Verse füllendes Lehrgedicht gegen eine Häresie gerichtet, die entweder bedeutungslos war oder von der er glaubte, daß sie es sei? Oder soll man ihm gar unterstellen, er habe sein Publikum getäuscht? Aber selbst wenn man das eine oder andere dem poeta christianus zutrauen wollte: die Aussage subtacitam... gignere sectam ist im Sinne des Subjekts gesprochen (schola meditatur). Soll sich also der Häresiarch damit begnügt haben, eine Sekte zu gründen "dalla voce modesta"? Glücklicherweise brauchen wir alle diese Fragen nicht zu beant-

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Prudentiana II. Exegetica

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Worten: sie lösen sich auf im Lichte der Grammatik. Das Adjektiv subtacitam steht statt des Adverbs subtacite (-to) wie subitum im folgenden Vers statt subito. Ersteres zeigt im Vergleich zu letzterem die charakteristische Ausweitung der prädikativen Verwendung des Adjektivs statt des Adverbs (LeumannHofmann-Szantyr, Lat. Grammatik 2, p. 171f. § 101c mitp. 161 § 95b). Die beiden Ausdrücke verhalten sich zueinander wie Verg. georg. 3, 538 {lupus) nocturnus obambulat zu Hör. epist. 1, 19, 11 (poetae) nocturno certare mero, putere diurno. Dieser Sprachgebrauch hat mehr als einmal zu MißVerständnissen geführt. Aus Anlaß von Juv. sat. 1,28 (Crispinus) ventilet aestivum [i.e. aestate] digitis sudantibus aurum begeisterte sich sogar der große Housman für die Vorstellung, jener Dandy der Antike habe spezielle "Sommerringe" getragen (Class. Rev. 17,1903,467; ähnlich jetzt wieder Courtney im | Kommentar p. 91 ad loc.; die Stelle ist behandelt JbAC 8/9, 1965/66,177/82). Für aestivus statt aestate verweise ich hier noch auf Calpurn. ecl. 5, 63: Necprius aestivopecus includatur ovili; Mart. 5, 64,2: Tu super aestivas, Alcime, solve nives. Niemand wird Mühe haben, diese Redeweise in lateinischer Poesie aufzuspüren. Doch zurück zu Prudentius! Jene schola sinnt darauf, "heimlich" eine Irrlehre in die Welt zu setzen: sectam gignere subtacitam (= subtacite), wobei das απαξ είρημένον subtacitus ohne Bedeutungsunterschied für tacitus steht, wie subhorridus Symm. 2, 885 für horridus. Lavarenne trifft das Richtige: "Delävientqu'une secte s'efforced'accräditerdoucement undogme ..." etc. Heimlichkeit und Heimtücke gehören zum Wesen der Häresie schlechthin, nicht bloß der priszillianischen, wie Rosier wähnte. Sie wird spät, oft zu spät entdeckt. Darum empfängt Concordia in der 'Psychomachie' ihre Wunde v/rii latitantis ab ictu (psych. 672): durch einen Dolchstoß der Häresie (ebd. 710), der pugnatrix subdola (ebd. 681), die sich als Tugend verkleidet hat und tristifraude (ebd. 690f.) ihr Attentat verübt. Zum verborgenen Wirken des Bösen überhaupt vgl. ham. 390f. (tacitis ... viribus).

6.

Zu den Mitteln weiblichen Schmucks gehört dieses: 271 Nectitur et nitidis concharum calculus albens crinibus aureolisque riget coma texta catenis. Goldene Haarnetze sind gemeint, nicht Perücken, wie die Kommentatoren annehmen. Nicht also an das turritum caput der Superbia (psych. 183) etc. ist

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VI. Exegetische Bemerkungen

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zu erinnern, sondern an das reticulum aureum der Fortunata bei Petron. 67, 6 (vgl. Clem. Alex. paed. 3,62, 3: αί των σειρών άναδέσεις). Bei MarquardtMau, Privatleben2 sind die Dinge an verschiedenen Stellen behandelt; nicht auf S. 603, sondern auf S. 702 ist zu verweisen (wo die Prudentiusstelle hinzugefügt werden kann). Beide kosmetische Maßnahmen liegen natürlich nicht weit voneinander (s. Clem. Alex. I.e.). Aber hier hat der Dichter eben goldene, perlenbesetzte Haarnetze vor Augen (wegen nectitur in V. 271 wird man wohl bei der Perle nicht an die acus cum margarita denken dürfen, die dig. 34, 2, 25, 10 neben dem Haarnetz unter dem Schmuck der Frauen aufgeführt ist).

7. 273 Taedet sacrilegas matrum percurrere euros, muneribus dotata Dei quae plasmata fiico 275 inficiunt, ut pigmentis cutis inlita perdat, quod fuerat, falso non agnoscenda colore. | Palla(p. 194), sinngemäß Stam folgend (p. 178), schreibt: "II grecismoplasma in questo caso non ha, come negli altri passi prudenziani in cui ritorna ..., il significato, frequente nel latino ecclesiastico ..., di 'creatura', ma significa 'le sembianze'". Ich sehe nicht ein, warum. Ganz im Gegenteil: was vom ganzen Leibe gilt (vgl. apoth. 865f. ut... plasmasse feratur Corporis effigiem [sc. manus Domini]), gilt ebenso vom Angesicht. Es ist Gebilde Gottes (πλάσμα), und deswegen ist seine Entstellung Entweihung (vgl. V. 273 sacrilegas ... curas). Wer noch eine Bestätigung sucht, mag Cyprian hab. virg. 15 lesen: (puto) omnes omnino feminas admonendas, quod opus Dei et factura eius et plastica adulterari nullo modo debeat adhibito ßavo colore vel nigro pulvere vel rubore aut quolibet denique liniamenta nativa corrumpente medicamine. dicitDeus: "Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem Nostram " (Gen. 1,26). Plastica neben opus und factura steht hier für das göttliche Schöpfungswerk, desgleichen plasma an der dichterischen Parallelstelle ham. 274 (richtig Lavarenne: Toeuvre"). Der griechische Begriff fällt mit der ganzen Schwere seiner Bedeutung ins Gewicht und darf nicht geschwächt werden, indem man, das Wort vernachlässigend, platterdings etwas Gängiges einsetzt ("their faces"; "le sembianze"). Auf das Richtige hätte auch der von Palla vorher (p. 193 zu V. 266f.) ausgeschriebene Passus Tert. cult. fem. 2, 5, 2 führen können (Dei plastica dort allerdings im Sinne der πλαστική τέχνη des Schöpfers).

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8. Der Mensch mißbraucht die fünf Sinne. Ist etwa der Geschmacksinn dem Gourmand für seine Schlemmereien gegeben, 323 per varios gustus instructa ut prandia ducat in noctem ... eqs.? Palla: "perche egli prolunghi fin nella notte i pranzi preparati con vari sapori ...?" (ähnlich Stam, Lavarenne, Thomson). Man sagt: mensam (cenam) instruere epulis, dapibus, pomis etc. (Ov. met. 8, 572; Mart. 3, 45, 3; Gell. 2, 24, 9), aber nicht per varios gustus. Der Ausdruck gehört zum Verbum ducat. Instructa steht absolut wie Tert. ieiun. 9, 5: cum instructissimo ferculo; Lact. inst. 4, 10, 10: instructioribus epulis. Prudentius hatcath. 5, 140 extructo ... sacrario (i.e. altari wie per. 5, 517, trotz M. van Assendelft, Sol ecce surgit igneus, Groningen 1976, p. 187 ad loc.). Zum Gebrauch des Plurals gustus (wie sapores) ist auf Juv. sat. 11, 14 zu verweisen: interea gustus [Schol.: 'hos gustus' masculinuml] elementa per omnia quaerunf, Duff erklärt richtig: "dainty dishes". Also: "... damit er über verschiedene Leckereien hin das üppige Mahl bis in die Nacht ausdehne?". |

9. 371 Sanguinis humani spectacula publicus edit consensus legesque iubent venale parari supplicium, quo membra hominis discerpta cruentis morsibus oblectent hilaram de funere plebem. Nach Stam (p. 191) und Palla (p. 213) ist hier von der Verurteilung ad bestias die Rede, also von der "Volksfesthinrichtung" (Mommsen, Strafrecht 925/ 28), und supplicium scheint in der Tat dafür zu sprechen (die Sache bei Prudentius Symm. 2,1125f.). Aber was bedeutet dann venale, sc. supplicium? Stam gibt an: "bought" ("a death penalty ..., which is bought") und erklärt: "(venale = bought) points to the fact that in order to be able to execute the sentence, large sums had to be spent to buy wild animals ..." etc. Palla stimmt zu, auch in der Erklärung: "'bought', nel senso che, alio scopo di eseguire tali supplizi, venivano spese larghe somme per acquistare animali selvaggi". Aber

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VI. Exegetische Bemerkungen

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wo sonst heißt venalis "gekauft" (Palla: "supplizi comprati")? Die Bedeutung ist "(ver-)käuflich", auch bei Prudentius. Vgl. psych. 620 (nach Mt. 10, 29) passeribus ... modico venalibus asse. Und überhaupt finde ich unter den "Zugehörigkeitsadjektiva" auf -älis keines, das passivischen Sinn hätte (vgl. M. Leumann, Die lateinischen Adjektiva auf -Iis, Straßburg 1917, 17/39). Aber selbst wenn man mit Stam und Palla jene veränderte Bedeutung (venale = bought) annehmen wollte: venale supplicium und venales bestiae wären trotzdem bei weitem nicht einunddasselbe! Mögen die Bestien dem Festgeber noch so teuer zu stehen kommen, deshalb wird doch aus dem rechtmäßig vollstreckten Todesurteil noch längst nicht eine "gekaufte Hinrichtung". Weiter: Was soll hier der Hinweis auf den Kauf der Löwen? Darin liegt nichts, was das Moment der Grausamkeit steigern, der Empörung etwas hinzufügen könnte. Nein, von Kauf und Verkauf kann man in solchem Zusammenhang nur insofern sprechen, als es Menschen gibt, die sich für den Kampf in der Arena, sei es Gladiatorenkampf, sei es Tierkampf, anwerben lassen und gegen Lohn verdingen (Friedländer, Sittengeschichte 2, 59f.; 77): qui venalem sanguinem habent (Liv. 28, 21, 2; vgl. Manil. 4, 225 Nunc caput in mortem vendunt et funus harenae; Tat. ad Graec. 23, 1: [τινές] ... έαυτούς εις τό φονευθήναι πιπράσκουσιν και πωλεί μεν εαυτόν ό πεινών, ό δε πλούτων ώνεΐται τους φονεύσοντας). Prudentius selbst sagt Symm. 2, 1091ff. in der Polemik gegen die Vestalinnen: 1091 Inde ad consessum caveae pudor almus et expers sanguinis it pietas, hominum visura cruentos congressus mortesque et vulnera vendita pastu spectatura sacris oculis ... eqs. | Pastu mag hier einfach auf den Lebensunterhalt gehen, den der Notleidende auf solche Weise sich verdienen muß (vgl. Tat. I.e. πωλεί ... εαυτόν ό πεινών); vielleicht ist aber auch an die üppige cena libera am Vortag des Kampfes gedacht (Friedländer a.O. 72), was dem Ausdruck besondere Schärfe verliehe. Jedenfalls ist es von hier aus nur ein kleiner Schritt zu der pointierten Formulierung ham. 372f. Zugrunde liegt der Gedanke, daß sich der Tod des Verbrechers in der Arena und der des angeworbenen Tierkämpfers faktisch voneinander nicht unterscheiden. Vgl. Cyprian, ad Don. 7: quid illud, oro te, quale est, ut se feris obiciunt, quos nemo damnavit...?... pugnant ad bestias non crimine, sed furore (bestiis obici ist Terminus für diese Art der Todesstrafe: Friedländer a.O. 77'; ebd. 7756 über Leidenschaft - furor - als Motiv der

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Freiwilligen). Auch der Tod des Tierkämpfers kann also polemisch als supplicium aufgefaßt werden, nur eben als käufliches: der Veranstalter der Tierhetze kauft es, und zwar - ungeheuerlicherweise! - kraft des Gesetzes, damit der Blutdurst des Pöbels gestillt werde. Parare dürfte ham. 372 - trotz der Parallelstelle per. 6, 68 (minister) ardens supplicium parare iussus - im prägnanten Sinne gebraucht sein: nicht "herrichten", sondern geradezu "kaufen" wie Caes. bell. Gall. 4, 2, 2 (Galli iumenta) inpenso parantpretio; Cie. ad Att. 12, 19, 1 cogito ... trans Tiberim hortos aliquosparare-, Liv. 41, 6, 11 argento parata maneipia. Die Bedeutung wird hier durch venale (prädikativ gestellt) gestützt: "Die Gesetze befehlen, die Hinrichtung käuflich zu erwerben". Vgl. Lact. inst. 6, 12, 39: unde bestias emis, hinc captos redime, ... unde homines ad gladium c ο mp a r a s , hinc innocentes mortuos sepeli. Prudentius hat parare in dieser Bedeutung psych. 874: (Fides margaritum) mercatapararat. Lavarenne (note complementaire p. 80 ad loc.) und Thomson waren mit ihren erklärenden Notizen auf dem rechten Wege. Pallas Einwand, die Verse 371/74 bildeten bei solcher Auffassung zu den beiden voraufgehenden Versen 369/70 eine Dublette ("un doppione"), insofern so nur von einer Art des Schauspiels, eben der venatio, die Rede sei, überzeugt nicht. In V. 369f. wird die riskante Akrobatik der Stierkämpfer dargestellt - die Verse schließen sich formal wie thematisch mit dem Seiltanz V. 367f. zusammen (vgl. V. 367 inde ... V. 369 inde ...); die Verse 371/74 schildern das Blutrünstige des Kampfes gegen Löwen (s. die Einteilung in V. 358: taurus, leö). Eine Dublette liegt nicht vor. Läge sie vor, würde sie auch durch Annahme einer Hinrichtung durch Tiere (im juristischen Sinne) nicht ausgeräumt.

10.

445 Credite, captivi mortales, hostica quos iam damnatos cohibent ergastula, quos famulatu poenarum virtus non inteüecta coercet, haec illa est Babylon ... eqs. | Virtus steht für δύναμις wie Apc. 13, 2 (Vulg.): et dedit illi (sc. bestiae) draco virtutem suam. Diese Stelle lehrt auch zugleich, was hier mit virtus gemeint ist. Vgl. etwa noch Justin, dial. 125,4: ή δύναμις ... δφις κεκλημένη και σατανας. Prudentius hat virtus in diesem Sinn auch ham. 512: Non mentem

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sua membra premunt nec terrea virtus Oppugnat sensus liquidos ... eqs. Die früheren Erklärer scheinen hier alle mehr oder minder in die Irre gegangen zu sein (s. Palla p. 230f.). Der Gedanke, daß das Nichterkennen der Tugend (!) die Menschen in der Sklaverei der Sünde gefangen halte, mutet eher sokratisch an als christlich; vor allem aber paßt er nicht in den Zusammenhang. Erst recht nicht Stams Lösung (p. 198): "virtus noti intellecta: a heavenly power, not known (by you)". Prudentius schildert, wie der praedo potens (390), improbus hostis (406), ductor (407) mit seinen bösen Mächten die Seelen zu vernichten sucht. Dabei ist ein Hauptgedanke des Textes ab V. 424 der, daß der Teufel deswegen leichtes Spiel hat, weil die Menschen die drohende Gefahr nicht erkennen, ja sich ihr sogar freiwillig ergeben. Es folgen zwei Beispiele: der Habsüchtige (V. 432 ille) und der Ruhmsüchtige (V. 437 hic) merken nicht, daß sie vor dem Triumphwagen des Feindes gefesselt einherschreiten (434/36) bzw. den Hals schon in der Schlinge haben, den Fuß schon im Block (443f.). Wenn es nun unmittelbar darauf mit den ausgeschriebenen Versen 445ff. weitergeht, dann kann nicht zweifelhaft sein, daß virtus non intellecta auf die Ahnungslosigkeit gegenüber der Macht des Bösen zielt, die den Menschen in Gefangenschaft festhält. Palla trifft im Wesentlichen das Richtige, verdirbt jedoch den Sinn durch ein ungehöriges Einschiebsel1: "... il poeta dice che le anime sono costrette 'nella schiavitü della dannazione' da una 'forza non compresa a t e m p o ' , alludendo al fatto che esse non si accorgono s u b i t o dei pericoli ..." (ebenso in der Übersetzung). Nicht daß die Menschen die Gefahr nicht sofort und zur rechten Zeit erkennen, sondern daß sie sie überhaupt nicht erkennen, macht dem Dichter Sorgen. Sonst wäre die Aufforderung: credite ... eqs. sinnlos. Es ist dies eine Aufforderung zur Befreiung, gerichtet an Gefangene, die schon festsitzen und die das selbst noch immer nicht begriffen haben. Vgl. die Verse aus Eichendorffs "Mahnung": Wohl liebt die Welt den Günstling zu erheben, Doch wenn du glaubst, im Siegesschmuck zu prangen, Sind's Ketten nur, die rasselnd dich umfangen. Laß, eh's zu spät, von dem verlornen Leben, Noch wartet deiner Gott... usw. |

ι

Sperrungen von mir.

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11. 452 Num latet aut dubium est animas de semine Iacob exilium gentile pati, quas Persica regna captivas retinent atque in sua foedera cogunt? Stam (p. 199) erklärt: "animas de semine Iacob = Iacob genus" und übersetzt dementsprechend: "the progeny of Jacob". Es ist seltsam, daß ihm Palla hierin folgt ("i nati dalla Stirpe di Giacobbe"), da doch der lateinische Ausdruck nicht bedeuten kann, was er nach Stam bedeuten soll. Animae de semine ... wäre als Umschreibung des Begriffs "Nachkommenschaft", "Geschlecht" unverständlich. Lavarenne und Thomson geben das Richtige: "les ämes de la race de Jacob", "the souls of the seed of Jacob". Die Seelen (!) dürfen nicht unterschlagen werden, denn daran hängt der spirituelle Sinn des ganzen Textstücks 455/503. Prudentius gibt mit dieser Wendung geradezu ein Signal dafür, wie die folgende allegorische Passage zu verstehen sei: als Darstellung des Schicksals der Christenseelen. Übrigens muß festgehalten werden, daß es um die Christenheit geht, nicht schlechthin um die Menschheit (die Anrede in V. 445 captivi mortales widerspricht dem nicht). Palla läßt es hier bisweilen an der nötigen Klarheit fehlen; vgl. p. 233: "(il parallelo) tra l'uomo schiavo del peccato e gli Ebrei schiavi in Babilonia". Diese "Parallele" besteht nur zwischen Christ und Israelit. Nur der Christ ist (im geistlichen Sinne) Nachfahr der Israeliten (s. Palla selbst p. 231 zu V. 448f. nostrae gentis sowie M. Simon, Veras Israel2, Paris 1964, passim), nur er ist aus Ägypten befreit, durch Gottes Hilfe wunderbar errettet, ins gelobte Land gelangt und doch wieder in Gefahr, in Gefangenschaft zu geraten. Vergleichbar ist die Rede der Sobrietas psych. 351/406: sie warnt vor dem Abfall, indem sie an den Empfang der Sakramente, an die geistliche Abstammung von den Patriarchen erinnert (psych. 383f. vos nobile Iudae Germen ... eqs.; s. auch die Worte der Avaritia ebd. 545/49, bes. 547 Iudae populäres). Wie dort, so hat auch hier die Paränese des Dichters nur Sinn, wenn sie an Christen gerichtet ist.

12.

Prudentius schildert die Apostasie der "Israeliten", d.h. der Christenseelen, während der "babylonischen" Gefangenschaft:

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455 Illic natali desuescunt (sc. animae) vivere ritu moribus et patriis exutae in barbara iura degenerant ünguamque novam vestemque sequuntur deque profanato discunt sordescere cultu nutricemque abolent petulanti e pectore Sion. | Hier sind vergilische Farben erkennbar. Angesichts des unaufhaltsamen Schicksals, das Latiner und Troianer zu einem einzigen Volke zusammenführen wird, bittet Juno vor Juppiter (Aen. 12, 823ff.): 823 ne vetus indigenas nomen mutare Latinos neu Troas fieri iubeas Teucrosque vocari 825 aut vocem mutare viros aut vertere vestem. Und Juppiter gewährt die Bitte: 833 do quod vis, et me victusque volensque remitto. sermonem Ausonii patrium moresque tenebunt, 835 utque est nomen erit; commixti corpore tantum subsident Teucri. morem ritusque sacrorum adiciamfaciamque omnis uno ore Latinos. In den Kommentaren, Ausgaben und Spezialarbeiten (Schwen, Mahoney: s. unten S. 165 [359]) wird auf die Vergilstelle nicht hingewiesen. Die wörtlichen Anklänge sind auch nicht stark, was für Prudentius' Umgang mit poetischen Vorlagen weithin überhaupt charakteristisch ist. Faßt man jedoch die Sache ins Auge, macht sich eine Ähnlichkeit bemerkbar, die kaum zufälliger Natur sein kann, zumal der Dichter hier durch keinen biblischen Text gebunden war (dazu Palla p. 232f.). Jene Erhaltung der Sprache, Kleidung und allgemeinen Gesittung, welche die besiegten Italiker davor bewahrte, in dem Fremdvolk spurlos aufzugehen, ja die sie in gewisser Weise zum dominierenden Element innerhalb der Völkerverbindung machte, geht den "Israeliten" in der "babylonischen" Gefangenschaft gerade ab. Also eine sogenannte "Kontrastimitation" liegt vor, wie man heute gerne abkürzend sagt. In sie ist wohl auch noch der Punkt "fremder Kult" einzubeziehen. Denn Vergil spricht von einer Anreicherung heimischer Religion durch neue Riten (836f.), Prudentius von

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einer totalen Aufgabe der eigenen Religiosität und Beschmutzung durch heidnischen Kultus (vgl. bes. 458; 460f.). Der christliche Dichter benutzt also Vergilisches, um durch die Erinnerung an eine Hauptstelle des römischen Nationalepos der eigenen Darstellung tieferes Relief zu geben.

13. Besonders die allegorische Partie der 'Hamartigenie' (452/503) bedarf vertiefender Interpretation (s. oben unter Nr. 11). Wie das allegorische Epos, die 'Psychomachie', ist sie so angelegt, daß unter der Decke des äußeren Geschehens (hier: der Geschichte Israels) allenthalben die geistigen Realitäten hervorschimmern. Sie müssen herausgearbeitet werden. Ein Beispiel! Was hilft es, sagt Prudentius, das Rote Meer durchschritten zu haben, | 475 si victor virtute Dei mediasque tenebras luce columnari scindens exercitus olim perdidit inventi vollem botryonis opimam, si nescit versare solum, cui melle perenni glaeba fluetis niveos permiscet lactea rivos 480 ... eqs. Es genügt nicht, die biblische Vorlage (Num. 13, 24f. und 13, 28; 14, 8 etc.) und Arkadienvorstellungen der klassischen lateinischen Dichtung zusammenzubringen (Palla p. 236 mit Literatur). So fehlt der Erklärung ein wesentliches Element: der spirituelle Sinn der Kundschaftertraube und des Ackerbaus. Nur weil dieser Sinn dem Dichter vertraut ist und er ein angemessenes Verständnis seitens des Lesers erwarten darf, kann er dem wohldurchdachten Muster seiner Allegorie jene Einzelheiten einpassen. Die Traube ist Christus, der Gekreuzigte: Clem. Alex. paed. 2, 19, 3 ό μέγας βότρυς, ό Λόγος ό υπέρ ημών θλιβείς (vgl. Greg. Naz. epist. 57: GCS 53,51; weiteres bei C. Leonardi, Ampelos, Rom 1947,149/63; O. Nussbaum: JbAC 6,1963,136/43). Daß botryo hier und nur hier bei Prudentius vorkommt, wie Palla anmerkt, hat also seinen guten Grund. Das griechische Wort steht gleichsam als Terminus im lateinischen Text, um an jene geistliche Bedeutung zu erinnern; vgl. Ambras, de fide 4, 167: sed non solum vitem esse se dixit (sc. Christus), sed etiam botryonem voce prophetica nuncupavit, tunc quando ad vollem botryonis exploratores Moyses iussu Domini direxit (insgesamt fünfmal innerhalb weniger Zeilen fällt hier das

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Wort botryo). Die christliche Symbolik des Ackerbaus - auch Philons Schrift De agricultura ist zu beachten - entwickelt sich aus 1 Cor. 3,9: Dei agricultura estis sowie aus den Gleichnissen vom Sämann und vom Unkraut (Mt. 13, 18/ 30). Ich erinnere an Prudentius selbst Symm. 2, 1020ff.: 1020 Ofelix nimium, sapiens et rusticus idem, qui terras animumque colens inpendit utrisque curampervigilem... eqs. Unter den vielen anderen Belegen (z.B. Justin, dial. 28, 3; Euseb. dem. 7, 1, 75f.; Macar. Aeg. hom. 26, 21; Caesar. Arel. serm. 1, 5. 10; 6, 4) hebe ich Leo Magnus serm. 14, 1 hervor: in Dominico agro ... cuius operarii sumus, oportet nos prudenter atque vigilanter spiritalem exercere culturam... quae si pigro otio et inerti desidia negligantur, terra nostra nihil generosi germinis pariet ... eqs. Die Sache kann auch etwas anders gewendet werden, so daß Gott der γεωργός Λόγος ist, wofür hier einmal das Zeugnis eines deutschen Dichters stehen mag (Angelus Silesius, Cherub. Wandersmann 1, 64: Die geistliche Säung): Gott ist ein Ackersmann, das Korn sein ewges Wort, Die Pflugschar ist sein Geist, mein Herz der Säungsort. |

14. Der Teufel ist Urheber und Förderer des Bösen: 558 sed tantum turbare potest aut/allere, quantum nos volumus, qui decrepito suggesta leoni 560 armamenta damus:friget fera fiittile frendens, humani generis ni per suffragia gliscat. Da der Teufel umhergeht wie ein "brüllender Löwe" (1 Petr. 5, 8; vgl. Ps. 21, 14) und Isidor (orig. 10, 74) zu decrepitus erklärt: qui iam crepare desierit, i.e. loqui cessaverit, soll das Adjektiv hier bedeuten: "no (longer) roaring" (Stam), "incapace di ruggire" (Palla). Falsche Gelehrsamkeit! Niemand dachte an die Etymologie, hier nicht und auch sonst nicht (psych. 848; Symm. 2, 1077; tit. 16). Decrepitus heißt "alt", "altersschwach", und Prudentius hatte

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natürlich den Löwen der Fabel vor Augen (Phaedr. 1, 21, 3f.: defectus annis et desertus viribus Leo cum iaceret... eqs.), die er gelesen haben mag, wie sie uns in der Prosaparaphrase des Romulus (20, p. 62 Thiele) vorliegt: annis decrepitus et viribus leo cum gravatus iaceret... eqs. G. Thiele, Der lat. Äsop des Romulus, Heidelberg 1910, p. CXXX hat längst daraufhingewiesen. Der Fall ist lehrreich als Beispiel der Chresis2 en detail: den bösen Feind als Löwen kennt der Christ aus der Hl. Schrift; um seine Ohnmacht darzustellen, erinnert Prudentius an den leo decrepitus der Fabel und schafft durch diese Erinnerung ein volles Bild. 15. Prudentius will lieber das Gehör verlieren, als durch die Reden Marcions an seiner Seele Schaden nehmen (vgl. Mt. 5, 29f.; Mc. 9, 43/47). Solcher Verlust lohne sich, inmunem modo sese anima expertemque nefandi 655 auditus felix stolida conservet ab aure. Stam übersetzt: "... provided the soul may remain pure and may not be defiled by a nefarious perception of the stolid ear and may become blissful in consequence". Palla: "... purche l'anima si conservi felicemente intatta e priva di un esempio ascolto, lontano dallo sciocco orecchio". Die beiden Kommentatoren scheinen Konstruktion und Bedeutung des Präpositionalausdrucks nicht durchschaut zu haben. Ab c. abl. steht hier instrumental-kausal, gehört aber wohl nicht zum Verbum (so Lavarenne, Etude § 380), sondern zum Adjektiv, das sonst in der Luft hängt, also: (anima) felix stolida ...ab aure | wie Verg. georg. 1, 234 {zona) torrida semper ab igni\ Prop. 1, 16, 14 (ianua) a longis tristior excubiis; Ov. epist. 9, 96 (Hydra) damnis dives ab ipsa suis·, ebd. 10, 9 a somno languida\ Sil. 16, 520 ingenti... saevus ab ira; im Wechsel mit bloßem Ablativ: Prop. 4, 3, 39 quae tellus sit lenta gelu, quaeputris ab aestu. Vgl. ThLL 1, 30, Z. 30/64. Dem Sinne nach meint stolida ab aure dasselbe wie obbrutiscentis capitis in V. 651. Die surditas ist in solchem Falle ein Glück, ja ein Gnadengeschenk Gottes, wie sie in anderem Falle ein Unglück sein kann, vgl. apoth. 397ff.:

2

Ich verwende den Begriff, wie im Archiv für Begriffsgeschichte 24, 1980, 34/76 erläutert.

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si gens surda negat sibi tot praeconia de Te, tarn multas rerum voces elementaque tantae nuntia laetitiae stolidas intrare per aures, ... eqs. Welche sachlichen Irrtümer sich im übrigen aus dem Mißverständnis dieses Sprachgebrauchs ergeben können, ist Rhein. Mus. 109, 1966, 84/87 [in diesem Bande S. 9/12] anhand von Prud. Symm. 1, 237 (Iano etiam celebri de mense litatur) dargetan.

16.

Weiblicher Wankelmut wurde Lots Frau zum Verhängnis: sie blickte nach Sodoma zurück und erstarrte zur Salzsäule (Gen. 19, 26), deren steter Salzfluß die Art der Verfehlung kundtut: Liquitur illa quidem salsis sudoribus uda, 750 sed nulla exfluido plenae dispendia formae sentit deliquio, quantumque armenta saporum attenuant saxum, tantum lambentibus umor sufficit attritamque cutem per damna reformat, hoc meruit titulo peccatrix femina sisti, 755 infirmumfluidumque animum per lubrica solvens consilia etfragilis iussa ad caelestia. ... eqs. Stam und Palla fassen titulus in der Bedeutung causa: hoc titulo, "for this reason", "per questo motivo". Aber worauf soll das Demonstrativum weisen: "aus diesem Grunde", wo doch zuvor der ständige Salzfluß an der Statue beschrieben wird, die Art der Strafe also, nicht ihr Grund (davon war in den Versen 738/40 die Rede)? Mit V. 754 hoc ... titulo leitet Prudentius zur Deutung der Strafe, insbesondere des Salzflusses, über (vgl. V. 750f. exfluido ... deliquio ~ V. 755 fluidumque animum; V. 742f. solidata metallo Diriguit fragili saxumque liquabile facta ~ V. 756 fragilis iussa ad caelestia). Wenn hier die Regel des "contrappasso" wirksam ist (Palla p. 279), dann eben in der Weise, daß die Strafe ein Abbild des Vergehens darstellt, daß die | Art der Strafe die Art der Schuld bezeichnet (s. Studien zur Psychomachie des Pru-

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dentius, Wiesbaden 1963, Register p. 141 s.v. Talion). Und gerade diesen Zusammenhang schärft hoc ... titulo ein. Ein titulus ist eine Aufschrift, ein Etikett, ein Schild, ein Anschlag, eine Tafel; sein Zweck ist es, etwas bekannt zu machen - zum Beispiel auch das Verbrechen als Grund einer Bestrafung (Suet. Cal. 32, 2 praecedente titulo, qui causam poenae indicaret; vgl. Suet. Dom. 10, 1; Euseb. h.e. 5, 1, 44), weshalb denn am Kreuze Christi jenes Täfelchen angebracht war: Mc. 15,26 και ήν ή έπιγραφή της αιτίας αύτοΰ έπιγεγραμμένη (et erat titulus causae eius inscriptus, Vulg.; bei Joh. 19,19f. steht der lateinische Terminus im griechischen Text). Die Sache wird natürlich von den Vätern oft besprochen (vgl. Prud. apoth. 381/85). Von hier aus ist der Schritt zur übertragenen Bedeutung leicht: "Die Sünderin hat es verdient, unter diesem titulus (hoc titulo, sub hoc titulo: vgl. Tert. an. 34, 4) aufgestellt zu werden". Das Tropfen und Triefen bildet gleichsam den titulus an der Statue. Die Gleichung titulus = statua (schon in den Glossen des Iso von St. Gallen gegeben [signum], von Lavarenne u.a. übernommen) kommt der Wahrheit nahe, ist aber zu grob.

17. Lot blieb, anders als sein Weib, dem einmal gefaßten Entschluß getreu und schaute nicht auf das brennende Sodoma zurück: 756

Voti propositum contra non conmutabile servat Loth ingressus iter nec moenia respicit alto in cinerem conlapsa rogo populumque perustum 760 et mores populi, tabularia, iura forumque, balnea, propolas, meritoria, templa, theatra et circum cum plebe sua madidasque popinas.

Palla (p. 281f.) macht hier ein Zugeständnis an die negativen Werturteile, die Lavarenne über Prudentius gefällt hat: die Vorliebe für Aufzählungen gehöre zu den Fehlern seiner Dichtkunst (Etude § 1580). Während aber Lavarenne derlei Stileigentümlichkeiten aus dem spanischen Nationalcharakter herzuleiten suchte, sieht Palla in der Asyndetahäufung ein Zeugnis "del gusto piü medioevale che classico". Darin liegt etwas Richtiges. Die asyndetische Reihe

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gehört der schulmäßig gelehrten Rhetorik des Mittelalters an3: s. E.R. Curtius, Europ. Lit.2 2894; E. Faral, Les Arts poötiques ..., Paris 1962, 297 (Geoffroi de Vinsauf); L. Arbusow, Colores rhetorici, | Göttingen 19632, 20f. Doch man muß auch die zeitlich voraufgehende literarische Tradition berücksichtigen, zumal als Kommentator eines Lehrgedichts, das immer wieder Lukrezisches verarbeitet; denn die Asyndetareihen eignen dem lukrezischen Stil (C. Bailey Vol. 1 p. 159f.). Gewiß ist auch damit noch nicht alles erklärt, da die Reihung von Substantiven wie Adjektiven auch außerhalb des Lehrgedichts anzutreffen ist, besonders in der christlichen Poesie einschließlich der Versinschriften (s. C. Caesar, Observationes ad aetatem titulorum Latinorum Christianorum definiendam spectantes, Diss. Bonn 1896, 47). Aber daß wiederum auch mit direkter Wirkung Lucrezens zu rechnen ist, legt Damas. epigr. 33, 1 nahe: verbera, carnifices, flammas, tormenta, catenas ~ Lucr. 3, 1017 verbera, carnifices, robur, pix, lammina, taedae (vgl. A. Ferrua, Epigrammata Damasiana, Rom 1942, 167 mit weiteren Angaben). Jedenfalls stehen Prudentius und seine Zeitgenossen in einer langen Tradition (Curtius a.O. 289f.), die sie selbst wiederum befördern. Dies beweist aufs schönste die durch P.E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio ... II, Leipzig/Berlin 1929, 1324aufgedeckte, von Palla (p. 282) verdienstlicherweise in Erinnerung gebrachte Imitation unserer Prudentiusstelle bei dem Kardinal Humbert ν. Silva Candida. Vgl. ferner Ferrua a.O. 86 über die Aufnahme von Damas. epigr. 1,19f. durch Joh. Scotus Erigena: MGH poet, aevi Carol. 3, 553, 10/12. Eindrucksvoll bezeugt Alanus v. Lille im Anticlaudianus die Beliebtheit der asyndetischen Reihe (5, 315ff.; 9, 38. 50ff. 76. 225ff. u.ö.). Was nun die ästhetische Kritik an Prudentius betrifft, so ist der Anlaß mit ham. 760/62 besonders schlecht gewählt. Denn hier zeigt sich gerade, wie die Asyndetahäufung unter der Hand eines echten Dichters zu einem kraftvollen Ausdrucksmittel werden konnte. Eitelkeit und Lasterhaftigkeit menschlichen Treibens treten in der Aufzählung der zusammenstürzenden Gebäudemassen durch wohlberechnete Mischung der Begriffe scharf hervor, wobei Prudentius die Einzelheiten dem Leben der Großstadt Rom entnimmt (darauf hätten Stam und Palla aufmerksam machen sollen): tabularia, iura forumque stehen für das negotium des römischen Juristen, Redners, Staatsmannes, balnea und propolae gehen mehr auf das alltägliche Leben, dagegen bezeichnen meritoria, templa, theatra sowie circum, madidas [!] popinas das Laster und den Götzendienst. Die Begriffe geben volle Anschaulichkeit und sind doch gleichsam Symbole der vanitas und malitia.

3

Für einschlägige Hinweise habe ich A. Cizek zu danken.

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18.

763 Quidquid agunt homines, Sodomorum incendia iustis ignibus involvunt et Christo iudice damnant. Stam und Palla ziehen homines Sodomorum zusammen ("the people in Sodom", "gli uomini di Sodoma"). Wenn das Latein ist, dann ist es jedenfalls | nicht das Latein des Dichters Prudentius: homines Sodomorum statt Sodomitae (apoth. 316; vgl. psych. 42) wäre im Vers umständlich, unerträglich. Palla (p. 282f.) tat nicht gut daran, Stam folgend auf solcher Verbindung der Worte ausdrücklich zu beharren. Der syntaktische Einschnitt ergibt sich ganz natürlich mit der semiquinaria wie bei dem Vorbild Juv. sat. 1, 85f.: quidquid agunt homines, votum, timor, ira, voluptas, gaudia, discursus, nostri farrago libelli est. Lavarenne und Thomson übersetzen richtig. Der Fall lohnt eine Bemerkung der Sache wegen. Denn allein die Interpunktion nach homines ergibt den rechten Sinn. Sodoma ist mundi forma cremandi (ham. 735), und zwar nicht nur deshalb, weil Feuer die Welt vernichten wird, wie Sodoma durch Feuer vernichtet ward, sondern auch deswegen, weil es in Sodoma zuging, wie es in der Welt schlechthin zugeht: "Ebenso (wie in den Tagen Noes) ging es in den Tagen Lots: m a n a ß u n d t r a n k , m a n k a u f t e u n d v e r k a u f t e , m a n p f l a n z t e u n d b a u t e . An dem Tage aber, da Lot aus Sodoma fortging, regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und vertilgte alle. Gerade so wird es sein an dem Tage, da der Menschensohn sich offenbart" (Lc. 17, 28/30). Prudentius hat diesen Zug durch die Reihe der Asyndeta V. 760/62 tabularia ... popinas bewußt hervorgekehrt. Er entwirft ein Bild, das ganz zu der Stelle aus dem Lukasevangelium paßt: das Bild gewöhnlichen Welttreibens, allerdings auf dem Hintergrund römischen Lebens gemalt. Gerade für diesen Hauptgedanken ist die Verbindung: quidquid agunt homines von entscheidender Bedeutung: in Sodoma wurde das törichte, sündhafte Getriebe der Menschheit beispielhaft gerichtet und vernichtet. Und deswegen ist Sodoma forma (vgl. auch per. 5, 193/96). Zieht man die Worte zusammen wie Stam und Palla: quidquid agunt homines Sodomorum, ... eqs. schwindet der tiefere, allgemei-

VI. Exegetische Bemerkungen

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nere Sinn des Strafgerichts, an den Prudentius auch durch Christo iudice erinnern wollte. 19. Praescius inde Pater liventia Tartara plumbo 825 incendit liquido piceasque bitumine fossas infernalis aquae furvo subfodit Averno ... eqs. Stellen wie diese mögen dem Übersetzer Kopfzerbrechen bereiten, wenn er in seiner eigenen Sprache die stilistische Feile ansetzt. Aber das Ergebnis darf den Sachverhalt, den das Original ausdrückt, nicht verschleiern: "Therefore the Father ... has dug channels, black with pitch, filled with water from hell, | deep in the dark Avernus ..." etc. (Stam); "Perciö il presciente Padre ha ... scavato nel tenebroso Averno fosse nere come la pece per il bitume dell' acqua infernale ..." etc. (Palla). Beide Übersetzer fassenpiceas als Farbwort ("pechschwarz"). Aber was soll das heißen: schwarz wie das Pech durch den Asphalt? Pallas Übersetzung wird durch die von ihm selbst (p. 291) ausgeschriebene Parallele (per. 5, 197ff.) korrigiert: 197

200

exemplar hoc, serpens, tuum est, fuligo quem mox sulpuris bitumen et mixtum pice imo inplicabunt Tartaro.

Die (brennenden) Gräben der Hölle sind also mit sulp(h)ur, bitumen u n d pix gefüllt. Diese Parallele klärt die Sache; die Formulierung wird durch psych. 42ff. gestützt: 42

quam (sc. Pudicitiam) patrias succincta faces Sodomita Libido adgreditur piceamque ardenti sulpure pinum ingerit infaciem ... eqs.

Die Kienfackel der Libido ist mit Pech u n d Schwefel überzogen: ardenti sulpure ist Ablativus modi, desgleichen bitumine in ham. 825. Lavarenne, der

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jene Stelle richtig erklärte (Spezialkommentar zur Psychomachie, Paris 1933, p. 219), hätte diese nicht zum Anlaß nehmen sollen, die Dunkelheit des prudentianischen Latein zu tadeln (Prudence, tome 2, p. 81, note ad p. 69). Analog formuliert der Verfasser des carmen de Sodoma (CSEL 3/3, 295): 130 nullus arat frustra piceas fuligine glebas.

20. 863 Nec mirere locis longe distantibus inter damnatas iustasque animas concurrere visus 865 conspicuos meritasque vices per magna notari intervalla, polus medio quae dividit orbe. Stam (p. 245): "The intervalla with Prudentius are the heavenly regions of paradise [!] and of the regnum dei". Palla (p. 300): "I 'grandi spazi che il cielo separa dal centro della terra' non possono essere altro che il paradiso [!]". Zu dieser Interpretation hatte sich schon Lavarenne (Etude § 1643) nach einigem Rätselraten durchgerungen. Eine auffallende Übereinstimmung der Interpreten, leider mit absurdem Ergebnis! Natürlich können | die magna intervalla nie und nimmer das Paradies sein. Himmelreich und Hölle sind die loca longe distantia, und die magna intervalla sind eben die gewaltigen Räume dazwischen (die Junktur ist lukrezisch). Von anderem abgesehen: wie könnten die Seelen der Seligen und die der Verdammten einander erblicken, wie könnten namentlich die Seligen die Qualen der Verdammten schauen, wenn diese gegenseitige Kenntnisnahme im Paradiese (= per magna intervalla!) erfolgen sollte? Quae in Zeile 866 ist Akkusativ des Inhalts. Wenn man sagen kann: partes dividere (Pallad. 1, 34, 3. 7; vgl. Varro rust. 1, 5, 4; Lucr. 6, 86), kann man auch sagen: intervalla dividere (i.q. dividendo efficere). Inhaltsakkusative, besonders von Adjektiven und Pronomina im Neutrum, sind bei Prudentius, wie in der Dichtung überhaupt, beliebt (einiges bei Lavarenne, Etude §§ 230. 233/ 58). Er wagt Neubildungen wie cath. 7,78 auri recocta venapulchrum splendeat (s. Leumann-Hofmann-Szantyr, Lat. Grammatik 2, p. 40), und eine solche leichte Ausweitung des Sprachgebrauchs mag auch ham. 866 vorliegen. Vgl. Symm. 2, 125ff.:

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125 nam quantum subiecta situ tellus iacet infra dividiturque ab humo convexi regia caeli, tantum vestra meis distant mundana futuris, ... eqs. Auch quantum... tantum sind Inhaltsakkusative. Statt der allgemeineren Quantitätsbezeichnung wählt Prudentius an der Parallelstelle eine speziellere. Zu verstehen ist also: polus magna intervalla ab orbe medio dividit. Denn das Paradies liegt oberhalb des Himmels(-pols): ham. 849f. (animä) Concretum celeri relegens secat aera lapsu Exsuperatque polum; die Hölle liegt im Erdinnern: harn. 903f. (animä) ante oculos subiectum prospicit orbem Atque orbis sub mole situm sordens elementum (nach dem Muster sub valle, "auf dem Talgrund", "unten im Tal", nicht wie Palla übersetzt: "sotto la massa del mondo").

21.

892 Expertus dubitas animas percurrere visu abdita corporeis oculis, cum saepe quietis rore soporatis cernat mens viva remotos 895 distantesque locos ...? eqs. Palla übersetzt: "... mentre noi siamo sopiti dal balsamo del sonno", als ob rore Arabo im Text stünde. Lavarenne, Etude § 1464, dem Stam p. 249 nachschreibt, bemerkt: "Le sommeil tombe sur l'homme comme la ros6e | sur les plantes". Sehr hübsch! Aber Tau schläfert nicht ein, wohl aber der Zweig, den Somnus schenkt: ramum Lethaeo rore madentem Vique sopor at um Stygia (Aen. 5, 854f.). An diese Vergilverse, die auch Val. Flacc. 8, 84 und Sil. 10, 354/56 nachahmen, dachte Prudentius hier; vgl. im Hymnus Ante Somnum (cath. 6, 17f.): Serpitper omne corpus Lethea vis ... eqs. Die Erklärer notieren den Anklang an Vergil nicht (auch Bergman im Index imitationum seiner Ausgabe und Chr. Schwen, Vergil bei Prudentius, Leipzig 1937, sowie Brother Albertus Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius, Washington 1934, verzeichnen ihn nicht), vielleicht weil die Gleichheit im Wort nicht stark genug erschien. Aber man muß auf die Sache sehen. Der gebildete Prüden-

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tiusleser jener Zeit wird den Anklang vernommen und zugleich begriffen haben, weshalb der christliche Dichter den deus Somnus (vgl. Aen. 5, 854) samt seinem Zweige und der vis Stygia aus dem Spiele ließ. Freilich muß Dichterwort auch aus sich heraus Sinn geben, nicht erst im Vergleich mit dem Vorbild. Und so darf man vielleicht sagen, daß an Lavarennes Umschreibung doch etwas Richtiges ist. Jedenfalls hat Prudentius durch die Junktur quietis rore (statt Somrti o. dgl.) die Vorstellung sozusagen entmythologisiert: gereinigt und für die christliche Poesie nutzbar gemacht.

22.

928 Hinc paradisicolae post ulcera dira beato proditur infelix ululans in peste reatus 930 spiritus inque vicem meritorum mutua cernunt. Der Ausdruck: in peste reatüs verdient eine erklärende Notiz, zumal dann, wenn die Übersetzung frei ausfällt (Palla: "l'anima sciagurata, urlante in mezzo ai supplizi che si e meritata con la colpa"; Lavarenne: "au milieu des supplices"; Stam: "wailing in the perdition"). Der arme Lazarus hat die Qual seiner Schwären hinter sich, der Reiche "heult in seiner Sündenpest". Die Wendungen: post ulcera dira und: in peste reatus korrespondieren einander. Prudentius hat es verstanden, die Umkehrung der Schicksale, die im Jenseits geschieht, bis in diese Einzelheit hinein zu verfolgen: lag auf Erden der arme Lazarus vor der Tür des Reichen ulceribusplenus (Lc. 16, 20), so wird im Jenseits umgekehrt der Reiche in peste klagen. Der Dichter hat ein raffiniertes άντιπεπονθός geschaffen, indem er mit pestis den Bezug zur Krankheit durchschimmern läßt (pestis = pestilentia Symm. 2, 1002; vgl. cath. 10, 105f.: morbus quoque pestifer, artus Qui nuncpopulatur anhelos ... eqs.), ohne doch das Feuer als Strafmittel (Lc. 16, 24) zu ersetzen (vgl. V. 922/24). Pestis schwebt zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung, | weil der Begriff durch die Junktur in peste reatus zugleich ins Spirituelle gehoben wird. Zugrunde liegt die Krankheitsmetaphorik (Sünden als Krankheiten der Seele), s. F. Kudlien: Hermes 90, 1962, 104/15. Zum Begriff pestis in diesem Zusammenhang vgl. ham. 389f. His aegras animas morborum pestibus urget Praedo potens und bes. per. 2, 22Iff.:

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VI. Exegetische Bemerkungen

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Committe formas pestium et confer alternas lues: carnisne morbus foedior, an mentis et morum ulcera?

23. Prudentius betet: 940 Dona animae quandoque meae, cum corporis huius liquerit hospitium nervis, cute, sanguine, feile, ossibus exstructum, corrupta quod incola luxu heu nimium conplexafovet, cum flebilis hora clauserit hos orbes et conclamata iacebit 945 materies oculisque suis mens nuda fruetur, ne cernat truculentum aliquem de gente latronum ... eqs. Wenn bei lexikographischer Arbeit ein Beleg an falsche Stelle geraten ist, braucht man nicht sonderliches Aufheben davon zu machen. Wenn sich aber durch solche Fehler die Verfasser zweier Spezialkommentare beeindrucken lassen, ist es an der Zeit, den Irrtum zu korrigieren. Hoppe ordnete im Thesaurus s. v. conclamo den Ausdruck ham. 944f. conclamata ... materies unter dem falschen Lemma (conclamatus i.q.) "perditus, desperatus" ein und rückte ihn zwischen ungleichartige Stellen wie Amm. 15, 8, 21 conclamatis negotiis (ThLL 4, 71, Z. 52f.). Ihren richtigen Platz hätte die Prudentiusstelle unter der Überschrift "speciatim: mortuum invocando deplorare" (ebd. Z. 23ff.) gefunden, also etwa neben Lucan. 2, 23 corpora nondum conclamata iacent oder Zeno 1, 16, 6 cadaver amplectitur (sc. uxor) conclamatum. Denn natürlich denkt Prudentius an die conclamatio. Die Wendung flebilis hora, gebildet wie per. 3,183 flebile officium, läßt keine andere Auffassung zu. Dabei braucht man nicht anzunehmen, daß der alte Ritus der conclamatio noch genau beachtet wurde (Marquardt-Mau, Privatleben2 1, 346). Es ist nur allgemein die Totenklage gemeint. Sie lebte auch unter den Christen fort. Zeno v. Verona (I.e.: PL 11, 378 A/379 A) bezeugt für das Jahrhundert des Prudentius exzessive Totenklage bei den Christen, die der Bischof freilich | aufgrund des christlichen Auferstehungsglaubens heftig bekämpft. Der Dichter urteilt im Prinzip nicht anders (vgl. cath. 10, 113/16). An unserer Stelle scheint er im Hinblick

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auf seinen eigenen Tod die tatsächlichen Verhältnisse gleichsam als gegeben hinzunehmen (sie stehen im übrigen auch im Hintergrund des Grabhymnus, vgl. cath. 10, 117f.), aber der pointierte Ausdruck conclamata ... materies schließt doch zugleich Trostgrund und Abweisung der Klage in sich (materies prägnant für corpus wie Symm. 2, 258). Durch die von Palla (p. 315) wiederholte Erklärung Stams (p. 252): conclamatus = perditus, mortuus und ihre entsprechenden Übersetzungen (Stam: "when ... the body shall lie dead"; Palla: "quando ... il corpo giacerä perduto") verliert die Stelle viel, zumal bei Palla Stams Hinweis auf die conclamatio (p. 253) ganz fortgefallen ist. Nicht zuletzt leidet die Schärfe des Gedankens. Denn nicht schlechthin dann, wenn der Leib t ο t daliegt, sondern genauer: während er b e k l a g t daliegt, geht die Seele ihrem ewigen Schicksal entgegen. Das Partizip Perfekt Passiv nähert sich hier präsentischer Bedeutung wie bei Zeno I.e. oder auch Ps.Augustin

serm. 262, 2: oportet... sicut super mortuum conclamatum, ita magnos super exstinetam animam dareplanctus (vgl. Kühner-Stegmann, Lat. Grammatik 21 1 p. 758 mit den einschränkenden Bemerkungen bei Leumann-HofmannSzantyr, Lat. Grammatik 2, p. 391f. § 209a). Der Gedanke, daß die Seele unmittelbar nach der Trennung vom Leibe gerichtet wird, ist dem Dichter wichtig. Besonders in den Märtyrerhymnen hat er ihn wiederholt ausgesprochen (vgl. per. 6, 118/20; 10, 1110; 14, 91/123) und dabei bisweilen auch zu großer Anschaulichkeit gebracht: die Seele der hl. Eulalia fliegt in Gestalt einer weißen Taube gen Himmel, während plötzlich einsetzender Schneefall ihren Leib mit einem weißen Leichentuch bedeckt (per. 3, 161/80); den hl. Vinzenz holt man aus dem Kerker, um ihn zu stärken, aber während sein Haupt auf die Bettdecke zurücksinkt, verläßt seine Seele den Leib und erreicht den Himmel (per. 5, 365/76). Mag auch die Lehre vom direkten Aufstieg der Seele des Märtyrers zu Gott auf besonderen dogmatischen Voraussetzungen beruhen, so besteht doch in dem Punkte, der hier allein von Belang ist, kein Unterschied: noch während die Trauernden um das Sterbebett stehen und den Verschiedenen beklagen, der doch nichts mehr ist als Materie, weilt die Seele bereits in anderen Regionen und muß sich, kaum daß die Augen des Leibes geschlossen sind, darauf gefaßt machen, mit ihren eigenen, geistigen Augen Schreckliches zu schauen. Durch die Form des persönlichen Gebets erhält die Vision des Dichters überdies einen eigentümlichen, bewegenden Ausdruck. Ich erinnere an John Henry Newman, The Dream of Gerontius, besonders an jene Verse: I had a dream; yes: - someone softly said "He's gone", and then a sigh went round the room. | And then I surely heard a priestly voice

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VI. Exegetische Bemerkungen

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Cry "Subvenite"; and they knelt in prayer. I seem to hear him still; but thin and low, And fainter and more faint the accents come, As at an ever-widening interval.

24. Ein Wort der Erklärung verdient iitcola in den oben ausgeschriebenen Versen (ham. 942). Incola ist der Bewohner eines Landes, einer Stadt, eines Stadtviertels usw., kaum jemals der eines Hauses, geschweige denn eines Hospizes. Die wenigen Belege, die der Thesaurus bietet (7, 974, Z. 3Iff.), bedürfen differenzierender Beurteilung. Juv. sat. 8, 160 Idymaeae... incolaportae (i.e. portae Capenae) gehört wohl überhaupt nicht hierher (s. Courtney p. 408 ad loc.); Gell. 9, 2, 6 incolamque ... sordentium ganearum ist ironisch, also ein Sonderfall. Es bleiben einige Stellen, an denen incola eine Gottheit als Inhaberin eines Heiligtums bezeichnet (s. Nisbet-Hubbard zu Hör. carm. 1, 16, 6). Aber selbst wenn man diesen Befund außer Acht läßt, wirkt der Gebrauch des Worts "per imaginem de anima corporis habitatrice" (so Buchwald ThLL 7, 974, Z. 34 zu ham. 942) an unserer Stelle auffällig. Der Leib kann Haus und Wohnung der Seele sein oder Herberge. Im ersteren Fall ist die Seele habitatrix (Aug. serm. 368,1), im letzteren ist sie hospita (Belege bei E. Bickel: Rhein. Mus. 63, 1908, 397). "Ospite" übersetzt Palla in V. 942 mit dem richtigen Gefühl für das, was man erwartet. Denn das Bild der Herberge lebt aus dem Gegensatz von dauernder und vorübergehender Behausung: Cie. Cato m. 84 e vita ita discedo tamquam ex hospitio, non tamquam e domo; commorandi enim natura diversorium nobis, non habitandi dedit (vgl. F. Husner: Philol. Suppl. 17,3,1924,62f.; 68f.; 73). Es wäre denkbar, daß sich Prudentius bei seiner Wortwahl durch die Bedeutung incola i.q. peregrinus leiten ließ. Sie ist schon dem klassischen Latein nicht fremd (z.B. Cie. off. 1, 125: peregrini autem atque incolae officium est... eqs.), mußte dem christlichen Dichter aber vor allem aus der Itala vertraut sein, wo incola neben peregrinus etc. Übersetzungswort für πάροικος, μέτοικος ist (ThLL 7, 975, Z. 9/21; vgl. ebd. s.v. incolo 978, Z. 47/57 "fere i.q. peregrinari"). Augustinus, mit der Exegese zu Lev. 25, 23 befaßt: "Propter quodproselyti et incolae vos estis ante me" (Itala), erklärt: hoc Deus dicit sive Israhelitis ... sive omni homini, quoniam ante Deum qui semper manet... omnis homo advena est nascendo et incola vivendo, quoniam conpellitur migrare moriendo (quaest. hept. 3, 91: CSEL 28/2,311).

VII. EIN ZEUGNIS DOPPELCHÖRIGEN GESANGS BEI PRUDENTIUS *

Es geht mir im folgenden eigentlich nur um die Erklärung einiger Dichterverse. Es geht um die Frage, weshalb in Prudentius' Psychomachie die siegreichen Tugenden singen, und weiter darum, wie sie singen. Aber diese Fragen lassen sich nur in der Weise beantworten, daß um jene Verse größere und kleinere Ringe der Interpretation gebildet werden. Wenn ich die eigene Studie nicht überschätze, dann erhellt sie zunächst, indem sie das Licht auf wenige Zeilen richtet, eine ganze Szene des Gedichts, um die man sich bislang kaum gekümmert hat. Und wer dem im Titel angedeuteten Ergebnis bezüglich der Sangesart zustimmt, wird vielleicht darüber hinaus dem behandelten Text einigen liturgie- und musikgeschichtlichen Wert zuerkennen.

1. Der triumphale Rückmarsch des Tugendheers bildet eine der eigentümlichen Erfindungen des christlichen Dichters. Vergil bietet derlei nicht1. Er kennt den geordneten Aufzug des Heeres zur Schlacht (Aen. 11, 597/607 über die Reiterei), aber nicht den Triumphmarsch danach. Prudentius dagegen braucht die Szene, um die letzte und gefährlichste Feindin, die Discordia, passend einführen zu können. Als Friedensstörerin (psych. 668, vgl. 697/99. 769/87) war sie nur dann gekennzeichnet, wenn sie nicht in offener Feldschlacht auftrat. Andrerseits durfte sie nicht den Bau des mystischen Tempels stören, den die Tugenden nach ihrer Rückkehr errichten (823/87). Also mußte ihr heimtückischer Anschlag in eine Zwischenphase des Geschehens verlegt werden, und eben sie schuf der Dichter, indem er die Szene des Rückmarsches gestaltete. Nach der Schlacht, aber noch vor dem Einzug ins Lager, an der Enge des Tores, verübt Discordia ihr Attentat (665/93); sie wird sofort entdeckt, gestellt und getötet (694/725). Der Bezirk des Lagers, das der Dichter später mit der Stadt Jerusalem vergleicht (811/15), bleibt so von jeglichem Laster unberührt.

* l

Jahrbuch für Antike und Christentum 30, 1987, 58/73. Vgl. Ch. Schwen, Vergil bei Prudentius, Diss. Leipzig (1937) 30.

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VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs

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Zugleich bietet das Motiv des Marschs die Möglichkeit, auch die der Discordia entgegengesetzte Tugend angemessen vorzustellen: als Führerin des ganzen Heereszugs (644/49) erhält Concordia eine Rolle, die ihrem Wesen und ihrem Rang als einer der beiden Haupttugenden des Gedichts entspricht2 und überdies den Auftritt der Gegnerin vorbereitet. Damit aber nun der Zug der Tugenden über das bloße Marschieren oder Schreiten hinaus etwas Charakteristisches und zugleich Bedeutungsvolles habe, verfiel der Dichter auf den Gedanken, die Siegerinnen singen zu lassen. Die Verse lauten (psych. 644/65):

645

650

655

660

665

dat signum felix Concordia reddere castris victrices aquilas atque in tentoria cogi. numquam tantafuit species nec par decus ulli militiae, cum dispositis bifida agmina longe duceret ordinibus peditum psallente caterva, ast alia de parte equitum resonantibus hymnis. \ non aliter cecinit respectans victor hiantem Istrahel rabiem ponti post terga minacis, cum iam progrediens calcaret litora sicco ulteriora pede stridensque per extima calcis mons rueret pendentis aquae nigrosque relapso gurgite Nilicolas fundo deprenderet imo ac refluente sinu iam redderet unda natatum piscibus et nudas praeceps operiret harenas. pulsavit resono modulantia tympana plectro turba Dei celebrans mirum ac memorabile saeclis omnipotentis opus liquidas inter freta ripas fluctibus incisis et subsistente procella crescere suspensosque globos potuisse teneri. sic expugnata vitiorum gente resultant mystica dulcimodis virtutum carmina psalmis. ventum erat ad fauces portae castrensis ... eqs.

Die Mischung verschiedener Motive, deren Zusammenhang und Sinn zur Gänze erst aus den tieferen, geistlichen Schichten entstehen, verleiht dem äußeren Geschehen dieses epischen Gedichts etwas seltsam Unwirkliches,

2 Darüber ist in meinen Studien zur Psychomachie des Prudentius = Klassisch-Philologische Studien 27 (Wiesbaden 1963) 41/45, bes. 45 49 , einiges ausgeführt. Im folgenden kürze ich ab: Studien.

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Schwebendes, Kühnes - und lenkt gerade dadurch auf die verborgene Realität, die sie wiederum auch anschaulich macht. In den ausgeschriebenen Versen verbindet sich das Bild des wandernden und lobsingenden Volks Israel mit der Anschauung der in Reihe und Glied marschierenden römischen Truppe. Und wer sich die in langen Gewändern schreitenden (vgl. 634f.) und psallierenden Gestalten vorstellt, wird auch den Eindruck einer frommen Prozession, also einer liturgischen Feier, kaum fernhalten können.

2.

Wir sehen römische Legionsadler (645), zwei lange, geordnete Marschkolonnen aus Fußsoldaten und Reitern (647/49). Sie bewegen sich unter dem Kommando derselben Anführerin (vgl. 648 duceret, sc. Concordia) in gleicher Richtung auf das Lager zu, ziehen also parallel nebeneinander her; die Angabe: ast alia de parte (649) paßt dazu3. Die entsprechende Miniatur der Sanktgaller Psychomachie (s. Taf. VI) trifft die Anschauung recht gut. Weitere militärische Details hat Prudentius hier vermieden. Sie hätten wohl auch den Vergleich mit dem Volk Israel zu sehr erschwert, und der Glanz des Aufmärsche sollte ja vor allem auf die spirituelle Schönheit weisen. Aber als sinnenhafter Eindruck schwebte dem Dichter wohl die Prachtentfaltung spätrömischen Heerwesens vor, vgl. 646f.: Numquam tanta fuit species nec par decus ulli Militiae ... eqs. Man mag sich hier etwa | an Constantius' Einzug in Rom erinnern (Amm. Marc. 16, 10) oder an Szenen wie die Parade der heimkehrenden Truppe bei Claudian (in Rufin. 2, 351/55): 351 hic ultrix acies ornatu lucida Martis explicuit cuneos. pedites in parte sinistra consistunt. equites illinc poscentia cursum ora reluctantur pressis sedare lupatis; 355 hinc alii saevum cristato vertice nutant ... eqs.

3 Alia de parte wie altera de parte, vgl. Prud. perist. 12, 45 (parte alia, gesagt von einem der beiden Tiberufer) und perist. 10, 846 (at parte campi ex altera). Hexameteranfänge dieser Art sind beliebt (vgl. Schwen 98) und daher auch den Textfälschern vertraut: s. A. Salvatore, Studi Prudenziani (Napoli o.J. [1958]) 189 über den Beginn des Additamentum U zu ham. 858 (mit verkehrter Beurteilung der Lage, aber wenigstens unter Andeutung des Richtigen, ebd. Anm. 232).

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VII. Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs

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Die Claudianstelle lohnt auch in anderer Hinsicht einen Vergleich, ja es erscheint nicht ausgeschlossen, daß sich Prudentius durch sie anregen ließ4. Aber gerade den Gesang der Truppe, der seine Darstellung prägt, entdeckte er dort nicht. Aus Ammian (19, 6, 9; 24, 6, 10) wissen wir, daß man im Takt marschierte5, doch von Soldatengesang hören wir auch bei ihm nichts. Trotzdem ist es möglich, daß Prudentius auch darin ein Element römischen Lebens christlich nutzte und umbildete. Denn da er den Zug der Tugenden als Triumph auffaßt (vgl. 669 tantum ... triumfiim), gleitet der Gedanke leicht zum römischen Triumphzug hinüber, bei dem die Soldaten in militärischer Ordnung aufmarschierten triumphum nomine cientes suasque et imperatoris laudes canentes (vgl. Liv. 45, 38, 12), und es wäre ein schöner Einfall des christlichen Dichters, die Soldaten der Psychomachie ihren Feldherrn (vgl. 11 bone ductor) ebenso preisen zu lassen, wie das in Rom einst die siegreiche Truppe tat6. Der Bezug würde sich noch schärfen lassen, falls stimmte, was Dionys v. Halikarnaß über den Triumphzug berichtet (ant. 2, 34, 2), daß nämlich dabei auch Götterhymnen gesungen wurden: ή δέ άλλη δύναμις αύτω (sc. τω 'Ρωμύλω) παρηκολούθει πεζών τε και ιππέων κεκοσμημένη κατά τέλη θεούς τε ύμνοΰσα πατρίοις φδαΐς και τον ηγεμόνα κυδαίνουσα ποιήμασιν αύτοσχεδίοις 7 . Fußsoldaten und Reiter, geordnet in Abteilungen marschierend (vgl. psych. 647f. dispositis ... ordinibus), Hymnen auf die Götter singend und den Feldherrn preisend: das alles setzt sich zu einem Bilde zusammen, das dem der Psychomachie nicht unähnlich ist. Römische militaria sind ja in der Psychomachie nichts Ungewöhnliches. Prudentius konnte in ihrer Verarbeitung freier verfahren als Vergil, weil er trotz der traditionellen epischen Form seiner Einzelkämpfe die Bedingungen

4 Das militärische Schauspiel endet bei Claudian (in Rufin. 2,407/17) in einem Akt grausamer Lynchjustiz, der sein Gegenstück in der discerptio hat, die Discordia psych. 719/25 erleidet (vgl. RhMus 116 [1973] 263. 267f. [in diesem Bande S. 26. 30f.]). Bemerkenswert ferner, daß der Strafakt hier wie dort von der heimkehrenden Truppe ausgeübt wird, daß er sich auch bei Claudian gegen den Feind der Einheit (des Reichs) richtet. Zwei wörtliche Anklänge treten hinzu; vgl. J. Bergman im Index imitationum seiner Ausgabe (CSEL 61, 1926) 462 zu psych. 724, ferner: psych. 736 conscendunt ... sublime tribunal |; in Rufin. 2, 382 scandat sublime tribunal | (Bergman a.O. notiert nur den gleichen Versschluß Claudian. in Eutr. 1,311). 5 Vgl. A. Müller, Militaria aus Ammianus Marcellinus: Philol. 64 (1905) 573/632, ebd. 598. 6 Vgl. J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung 22 (Leipzig 1884) 587f.; W. Ehlers, Art. Triumphus: PW 7 Al (1939) 493/511, ebd. 509. 7 Vgl. Plut. Marceil. 8, 4: ό δέ στρατός εΐπετο καλλίστοις δπλοις κεκοσμημένος, αδων αμα πεποιημένα μέλη καί παιάνας έπινικίους εις τόν θεόν και τόν στρατηγόν. Der Päan kommt auch in der lateinischen Dichtung gelegentlich vor, vgl. Arbonius Silo: Frg.

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einer Schlacht heroischer Zeit oder altitalischer Vergangenheit weniger zu achten brauchte8. Gerade die Mischung der Realien | aus verschiedenen Epochen paßt zu einem Krieg, der als ständiger, alle Zeit auf Erden tobender Streit erfaßt werden sollte. Im Schlußteil des Gedichts zumal, wo Vergil aus sachlichen Gründen als Vorbild zurücktrat, kommt Römisches zum Vorschein, etwa in der ausführlichen Beschreibung des tribunal (730/39), das die Tugenden im Lager errichten, und in der anschließenden allocutio (746/822)®. Die Nutzung römischen Militärwesens liegt aber auch der großen Komposition des Schlußteils zugrunde, insofern die Soldaten nach dem Kampf im Lager bauen und arbeiten. So tief auch der Tempelbau in der christlichen Lehre und in der Hl. Schrift wurzelt, so wenig er auch im Konkreten mit der Arbeit des römischen Legionärs gemein hat: in der großen Anlage des Gedichts, in der Abfolge von Kampf draußen und labor (vgl. 804) drinnen, hielt sich der Dichter an die beiden Hauptaufgaben des römischen Heeres, die uns etwa auf den Reliefs der Trajanssäule immer wieder vor Augen geführt werden und die auch im vierten Jahrhundert dieselben geblieben waren10. Was Servius (ad Aen. 5, 560) über Vergil feststellt: rem Romanae militiae suo inserit carmini, gilt also in mancherlei Hinsicht für den Dichter der Psychomachie, und deswegen erscheint

poet. Lat. 153 Morel/Büchner: Ite agite, Danai, magnumpaeana canentes, Ite triumphantes: belli mora concidit; Orcus Hectora ; dazu noch Verg. Aen. 10, 738: Conclamant socii laetumpaeana secuti (nach Horn. II. 22, 391). 8 Über Römisches in den Kampfschilderungen auch der Aeneis s. R. Heinze, Virgils epische Technik3 (Leipzig 1914) 196/205. Vergil sagt z.B. signa sequi, hat aber nicht die Legionsadler (psych. 645 victrices aquilas), die eigentlich ins historische Epos gehören (vgl. Lucan. 5, 238; Claudian. Stil. 1, 170). 9 Das Tribunal wird von der Truppe erbaut (730 exstruitur), vgl. Amm. Marc. 24, 3, 3 constructo tribunali insistens; und zwar auf einem Erdhügel (738 consistunt aggere summo), vgl. Amm. Marc. 23, 5, 15 ipse aggere glebali assistens. Dem zeitgenössischen Heerwesen entsprechen ferner: porta castrensis (665), tentoria (645.743f.), cornicines (636), lorica squamata bzw. hamata (vgl. 673/80), globi (172), cunei (670), mucrones (705 circumstat ... strictis mucronibus omnis Virtutum legio), vexillifer (419 vexillifera) u.a. Belege für alles bei Müller a.O. Beachtlich, daß in der Psychomachie wohl aquilae vorkommen (s. oben Anm. 8), nicht jedoch dracones (Müller 609f.): auf Seiten der Tugenden wären sie im allegorischen Epos kaum erträglich (vgl. Prud. perist. 1, 34/36), auf Seiten des Lasters eine Beleidigung des Heeres und des Kaisers (vgl. Prud. c. Symm. 2,713f.). Unverfänglicher war es, die Streitmacht des Pharaoh damit auszustatten (Prud. cath. 5, 56): zur "Romanisierung" dieser Schilderung des Durchgangs (cath. 5, 45/88) s. J.L. Charlet, La cr6ation po&ique dans le Cathemerinon de Prudence (Paris 1982) 170/75, bes. 17270. In der Kunst läßt sich dasselbe beobachten; ich erinnere an die Langhausmosaiken in S. Maria Maggiore, Rom (vgl. unten Anm. 32). 10 Lebhafte Bautätigkeit der Truppe zeigen etwa die Tafeln 9. 11. 12. 29. 31 (Abb. ΧΙ/ΧΠ; XVI/XVII; XIX/XX; LX; LXV) bei K. Lehmann-Hartleben, Die Trajanssäule (Berlin/Leipzig 1926); dazu Textband 39/50. Vgl. auch wieder Ammian (16, 11, 14): castrorum opera.

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die Vermutung, nicht nur der Zug der Tugenden, sondern auch ihr Singen gehöre zur römischen Färbung des Schlußteils, durchaus erlaubt. Der Triumphgesang löst die militärischen Signale ab, die soeben verstummten (vgl. 636 cornicinum curva aera silent).

3. Viel wichtiger war dem Dichter freilich der Vergleich mit dem biblischen Vorbild. Die oben ausgeschriebene Versreihe besteht großenteils aus einer sehr fein gearbeiteten, hochpoetischen Darstellung der Wunder des Durchzugs durchs Rote Meer (Ex. 14). Die Möglichkeit zu diesem Vergleich verschafft sich Prudentius eben durch das Motiv des Gesangs. An diesem Punkt setzt der Vergleich an; Eröffnung und Abschluß betonen ihn nachdrücklich: 650 noti aliter cecinit (sc. Istrahel)... eqs.; 663 sie... resultant (sc. carmina). Außerdem wird die Tatsache des Singens noch zusätzlich in der Mitte der Schilderung hervorgehoben: 658 Pulsavit resono modulantia tympana plectro Turba Dei celebrans ... eqs. Damit vollzieht der Dichter zugleich innerhalb des Vergleichs eine Wendung: war vorher nur die Situation der Israeliten beschrieben (650/57), so ist jetzt vom Inhalt ihres Gesangs die Rede (658/62). Da aber auch der Gesang selbst wiederum auf die überstandene Gefahr | geht, hat der Dichter Gelegenheit, zweimal die Wunder des Durchgangs zu formen, und die beiden kunstvollen Variationen desselben Themas, die längere (im cum-Satz 652/57) und die kürzere (im Acc. c. Inf. 660/62), zeigen, wie er die - natürlich nicht zufällige, sondern erstrebte - Gelegenheit genutzt hat. Der Gesang der Tugenden und der Israeliten bildet also das Mittel, den Vergleich anzustellen. Er ist das vom Dichter ausdrücklich benannte tertium comparationis. Aber andrerseits hätte der Vergleich keinen rechten Sinn, wenn er nur eine äußerliche Gemeinsamkeit, nicht auch einen tiefen sachlichen Bezug aufdekken sollte. Und dieser tiefere, typologische Bezug erstreckt sich durchaus nicht nur auf das Singen, sondern auf die gesamte Situation: auf die überstandene Gefahr, die Vernichtung des Gegners, die Errettung durch Gott, das Lob Gottes durch die Geretteten, das frohe Fortschreiten hinein in die Sicherheit. Indem Prudentius den Gesang betont, hebt er eine Gemeinsamkeit hervor, die das äußerlich Verschiedene verbindet, doch so verbindet, daß die Analogie der Ereignisse auch neben dem tertium comparationis allenthalben hervorstrahlt.

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Der Gesang dient also der Typologie, die Typologie ihrerseits dient dem Ziel des ganzen Gedichts. Prudentius schuf gleich in der Praefatio zur Psychomachie eine biblische Begründung des Seelenkampfs, indem er den Krieg Abrahams nach Gen. 14 allegorisch deutete. Im Verlauf seiner Schilderung der Einzelkämpfe hat er sich immer wieder bemüht, durch Erwähnung biblischer Gestalten die geschichtliche Dimension aufzudecken und das Geschehen in der Hl. Schrift zu begründen". Daher mußte ihm daran liegen, nach Abschluß der Hauptschlacht noch einmal das Ganze auf einen Typos der Bibel zurückzuführen, auch den Sieg als biblisch vorgebildet zu erweisen. Das ist der tiefere Sinn der Szene - unbeschadet ihrer "technischen" Aufgabe in der Komposition des Gedichts (s. oben S. 170f. [58]). Dabei stellt der zweite Typos (Durchgang durchs Rote Meer) gegenüber dem ersten (Abrahams Sieg) keine bloße Wiederholung dar, weil jetzt ein anderes Moment des Seelenstreits schärfer herausgearbeitet wird: das der wunderbaren, gnadenhaften Errettung, die ganz und gar Gott verdankt wird12. Zwei Retuschen hat der Dichter an der biblischen Schilderung vorgenommen, um den Vergleich zu straffen: Istrahel heißt victor (650), obwohl die Israeliten nicht kämpften, vor allem aber wird Moses, der das Meerlied zusammen mit den "Söhnen Israels" anstimmt (Ex. 15,1), ebensowenig erwähnt wie Miijam, die den Frauen singend und das Tympanon schlagend voranschreitet (ebd. 15, 20). Stattdessen nennt Prudentius nur allgemein das "Volk Gottes" (659 turba Dei). Auf die Möglichkeit, Concordia als Vorsängerin einzuführen, hat er verzichtet. Das ist bemerkenswert, weil der biblische Text eine solche Lösung hätte nahelegen können (Ex. 15,20): sumpsit ergo Mariaprophetissa, soror Aaron, tympanum in manu sua egressaeque sunt omnes mulieres post earn cum tympanis et choris, quibus praecinebat, dicens: cantemus Domino ... eqs. Prudentius läßt Concordia dem Zug voranschreiten, nicht aber vorsingen! Diese vielleicht unscheinbare Kleinigkeit hat ihr Gewicht, wie sich noch zeigen wird. Andrerseits hat Prudentius den Vergleich nicht ängstlich festgezogen, nicht einmal in puncto Musik. Denn natürlich schlagen die Tugenden keine Tympana wie die Israeliten (658 nach Ex. 15, 20)13. Auch diese

11 Vgl. psych. 58/65 (Judith und Holofernes); 163/71 (Job); 291/304 (David und Goliath); 386/92 (David und Samuel); 536/44 (Achar); dazu die Märtyrer (36/39), die jungfräuliche Gottesmutter (70/75), Judas Iscarioth (529/35). 12 Vgl. demgegenüber das Abraham-Bild der Praefatio (psych, praef. 34f.) Abram triumfi dissipator hostici Redit recepta prolefratris inclytus ... eqs. 13 Dies gegen J. Bergman, Psychomachie-Ausgabe (Uppsala 1897) 59 zu V. 648.

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Einzelheit ist wohl bedacht: Instrumentalmusik war im | christlichen Kult verpönt14 und hätte hier den absichtsvollen Bezug der psallierenden Tugendchöre auf die singende Gemeinde gestört (s. dazu unten S. 179/81.187/91 [64/66. 70/73]).

4. Dennoch gibt es zwischen der Concordia als Führerin des psallierenden Zuges und dem Psalmengesang des Tugendvolks (vgl. 727 tranquillaeplebis\ 798 virtutum populus) einen sinnvollen Zusammenhang. Prudentius' geistliches Epos ist eben besonders durchdacht und mit großer Sorgfalt gearbeitet15. Der Interpret hat hier andere Maß stäbe anzulegen als bei der Erklärung antiker Poesie, weil er mit einer Mehrzahl tieferer Bezüge, mit einem Neben- und Ineinander verschiedener Bedeutungsebenen rechnen muß. Im christlichen Kult ist der Gesang Ausdruck der Eintracht des Kirchenvolks und zugleich Mittel, diese Eintracht zu stärken. St. Basilius Magnus schreibt16: "So gewährt denn auch die Psalmodie das höchste der Güter, die Liebe, indem sie gleichsam als Band der Einheit den gemeinschaftlichen Gesang entstehen läßt und das Volk zum Einklang eines einzigen Chores zusammenfugt" (... οίονει σύνδεσμόν τινα προς την ένωσιν την συνωδίαν έπινοήσασα και εις ένός χοροΰ συμφωνίαν τον λαόν συναρμόζουσα). Die friedenstiftende, einigende Wirkung des Psalmengesangs hebt auch St. Ambrosius mehrfach hervor. Gleich zu Beginn seiner Psalmenerklärung preist er den Gesang des Kirchenvolks als imago tranquillitatis, pignus pacis atque concordiae und fügt hinzu: psalmus dissidentes copulat, discordes social, offensos reconciliat". Besonderen Ein-

14 Sie weckte Erinnerungen an Musik und Tanz im Theater (Aug. in Ps. 32 en. 2 serm. 1, 5 [CCL 38, 250]; serm. 311, 5 [PL 38, 1415]). Vgl. W. Roetzer, Des hl. Augustinus Schriften als liturgie-geschichtliche Quelle (München 1930) 231; F. Leitner, Der gottesdienstliche Volksgesang im jüd. u. christl. Altertum (Freiburg 1906) 257/61. Wir greifen hier ein Beispiel der Ablehnung antiker Kulturgüter aufgrund ihres dem Heidentum eigentümlichen Gebrauchs (usus proprius). Die Sache hat große Bedeutung und bedarf einer zusammenhängenden Darstellung. Vorerst s. Ch. Gnilka, ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur 1. Der Begriff des "rechten Gebrauchs" (Basel/Stuttgart 1984) 4%. 65f. is Richtig erkannt von A. Rosier, Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens (Freiburg i.B. 1886) 217: "Bei der großen Sorgfalt, welche Prudentius gerade in der Psychomachie augenscheinlich auf seine Arbeit verwendet hat..." usw. 16 Basil. Μ. in Ps. 1, 2 (PG 29, 212). 17 Ambros. in Ps. 1, 9, 2 (CSEL 64, 7) und 1, 9, 5 (ebd. 8). Wenig später (in Ps. 1, 11 [ebd. 9]) stellt er eine allegorische Beziehung zu den Tugenden her. Er fragt: quid igiturpsalmus nisi virtutum est Organum? Und er erklärt: wie der Leierspieler auf Saiten und Schnüren, also toten Resten einst lebender Substanzen (in reliqtäis mortuis), die verschiedenen Töne seines

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druck macht in dieser Hinsicht seine Exegese des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn (Lc. 15, 11/32). Der ältere Bruder blieb während des Festmahls draußen stehen18: ideo etforis stat, eo quod malivolentia eum animi liventis excludat. ideo "chorum etsymphoniam " (vgl. Lc. 15,25) audirenonpotest, hoc est non illa theatralis incentiva lasciviae nec aulicorum concentus sonorum, sed plebis concordiam concinentis, quae de peccatore servato dulcem resultet laetitiae suavitatem... quomodo aures eius symphoniam populi spiritalemferre non possunt? haec est enim symphonia, quando concinit in ecclesia diversarum aetatum atque virtutum velut variarum cordarum indiscreta concordia, psalmus respondetur19, amen dicitur. haec est symphonia, quam scivit et Paulus, et ideo ait{\ Cor. 14,15): "psallam spiritu, psallam etmente". \ Die Wendung: "Musik und Tanz" (Lc. 15,25) liefert dem Exegeten das Stichwort, wobei ihm die griechischen Begriffe chorus und symphonia die Möglichkeit zu einem gleitenden Bedeutungswechsel eröffnen: nicht aufreizender Tanz und Flötenmusik wie im Theater seien gemeint, sondern die singende "Schar"20 und das geistliche Lied des Kirchenvolks. Der Festsaal steht ja für die Kirche, das Freudenmahl für die heilige Feier, der Verlorene Sohn für den Sünder, welcher sich der kirchlichen Bußdisziplin unterwirft. Ambrosius' Erörterung kreist um den Begriff der symphonia, dessen etymo-

Lobgesangs hervorbringe, so müssen auch wir erst der Sünde absterben und dann die unterschiedlichen Tugendwerke in diesem Leibe hervorbringen: (propheta docuit) tunc demum in hoc corporediversaoperadiscriminanda virtutum ...ut occupatisintentionecaelestiumnullainreperet terrenorum libido vitiorum, simul animus caelestis gratiae suavitate nitesceret. Das erinnert an die Situation in der Psychomachie. 18 Ambras, in Lc. 7, 237f. (CSEL 32, 4, 388). 19 Zum Ausdruck psalmum respondere und zur Interpunktion an dieser Stelle s. H. Leeb, Die Psalmodie bei Ambrosius = Wiener Beiträge zur Theologie 18 (Wien 1967) 3176. 53/56. Seine Studie gibt die Paralleltexte aus Ambrosius, wenn auch oft arg zerstückelt, an die Hand. Sie muß im übrigen kritisch benutzt werden, s. unten Anm. 56. 20 Chorus im speziellen Sinne für "Sängerchor" kennt Ambrosius nicht, s. Leeb 46f. Er bezeichnet so allgemein eine tanzende oder singende Schar, im Zusammenhang mit dem christlichen Kultus natürlich immer nur eine singende! Vgl. etwa Ambras, hex. 3, 23 (CSEL 32, 1, 74f.), wo sanctorum chorus durch hymni sanctorum (cantus psallentium) ergänzt wird. Keinen Sinn für das Wesen christlicher Chresis (oben Anm. 14), in diesem Fall: für die Ablehnung des Tanzes, besitzt A. Ronald Sequeira, Klassische indische Tanzkunst und christliche Verkündigung = Freiburger Theolog. Studien 109 (Freiburg 1978), bes. 231/43.

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logische Grundbedeutung er durch die Junkturen: plebis concordiam concinentis und indiscreta concordia (sc. concinit) in ähnlicher Weise entfaltet und stärkt, wie das St. Basilius a.O. im Griechischen tut (vgl. σύνδεσμον ... συνιρδίαν ... συμφωνίαν ... συναρμόζουσα). Auch in anderen Zusammenhängen hat St. Ambrosius durch auffällige Wiederholung solcher Wörter wie consonus, concentus (sc. plebis) die einigende Kraft des Psalmengesangs betont21 . Man könnte sich vorstellen, daß Prudentius, der ja gerade diesem Kirchenvater viel verdankt, durch derartige Äußerungen inspiriert wurde, als er Concordia an die Spitze des singenden populus virtutum setzte. Jedenfalls sieht man jetzt, wie überlegt der Dichter auch in diesem Punkte verfuhr: Concordia führt, weil sie als Ziel der Attentäterin hervortreten sollte, ferner deshalb, weil sie, als Haupttugend der Caritas entsprechend22, das Kampfgeschehen endgültig beschließt und zusammen mit Fides, die es eröffnete, dann das Tribunal besteigt (734/39) und das Tempelgrundstück vermißt (823/29). Aber Prudentius hat ihre führende Rolle auch aus der Szene selbst heraus motiviert: indem die Tugenden gemeinsam psallieren, drückt sich ihre Eintracht aus. Ihre symphonia ist Ursache und Wirkung der concordia, und daher paßt es vollkommen, daß im Bilde der epischen Handlung die spirituelle Tatsache so festgehalten wird, daß Concordia den Zug anführt.

5. Damit befinden wir uns bereits im Bereich der Liturgie. Der Eindruck der liturgischen Feier verstärkt sich noch, wenn man, der dichterischen Vision folgend, Gesang und Schreiten zu einer Vorstellung verbindet. Prudentius läßt ja nach dem Gefecht die Tugenden in veränderter Gewandung und Bewegung aufziehen (634f.): vestis ad usque pedes descendens defluit imos, temperat et rapidum privata modestia gressum. \

21 Vgl. Ambras, hex. 3, 23 (CSEL 32, 1, 75), wo der concentus plebis mit dem concentus undarum (consonus undarum fragor) verglichen wird. Consonus ist bei Ambrosius so etwas wie ein Fachausdruck zur Bezeichnung des Volksgesangs; s. Leeb 49. Schön auch Aug. conf. 9, 7, 15: ... magno studiofratrum concinentium vocibus et cordibus sowie Prudentius selbst cath. 9, 111 (die verschiedenen Altersgruppen anredend): voce concordespudicisperstrepant concentibus! 22 Dazu s. Studien (oben Anm. 2) a.O.

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Die Kriegerinnen hatten also während der Kämpfe das Gewand nach Soldaten- oder Amazonenart durch den Gürtel gezogen, so daß es die Knie frei ließ; jetzt lösen sie den Gürtel, das Gewand fällt herab und bedeckt die Füße (634: ad. usque pedes ... defluit imos), zugleich wird aus dem Sturmschritt der Heldinnen ein zuchtvolles, gemessenes Schreiten (635)23. Zum Bilde stimmt, daß später von "festlichen Chören" der Tugenden die Rede ist, wofür das vergilische Wort chorea (choraea) steht24: 688 (Discordia) festis respondet laeta choraeis (vgl. 242 cum virgineis ... choraeis). Daß sich damit verschiedene Bilder überlagern, wurde schon betont. Auch der Begriff agmen schillert25. Prudentius hat Triumphmarsch und Prozession in seiner Schau des geistlichen Vorgangs vereint. Prozessionen, die unter Psalmengesang einherzogen, waren dem Christen seiner Zeit ein vertrauter Anblick26. Unserer Szene steht das Bild nahe, das St. Ambrosius, De virginibus 2, 17 (PL 16, 222 D), vom Einzug der Jungfrauen in den Himmel entwirft: quae pompa ilia, quanta angelorum laetitia plaudentium, quod habitare mereatur in caelo, quae caelesti vita vixit in saeculo! tunc etiam Maria tympanum sumens choros virginales excitabit cantantes Domino, quod per mare saeculi sine saecularibus fluctibus transierunt (cf. Ex. 15, 20). tunc unaquaeque exsultabit dicens: "et introibo ad altare Dei mei et ad Deum, qui laetificat iuventutem meam" (Ps. 42, 4). immolo Deo sacrificium laudis et reddo Altissimo vota mea (cf. Ps. 49, 14). Die Ähnlichkeiten mit der Psychomachie fallen ins Auge: der Festzug (pompa), die "Jungfrauenchöre" (virginales chori), der Psalmengesang zum

23 Vgl. Liv. 27, 37, 13: tum Septem et viginti virgines, longam indutae vestem, carmen in Iunonem reginam canentes ibant... eqs. (bei der Bittprozession i.J. 207). 24 Reisch: ThLL 3,1020, 23f. ordnet s.v. chorea (χορεία) fälschlich auch Prud. cath. 9, 1 ein:... choraeis ut canamfidelibus Dulce carmen... eqs. Hier ist choraeis Ablativ zu choraeus {choreus, chorius, χορείος) i.q. trochaeus, vgl. ThLL 3, 1020, 49/64. Von den beiden Psychomachiestellen (242. 688) fehlt s.v. chorea die letztere. Zur Orthographie vgl. Bergmans Apparat z.St., zur wechselnden Prosodie bei Vergil s. E. Norden, P. Vergilius Maro, Aeneis Buch VI3 (Leipzig 1927) 297f. 25 Vgl. V. 640 casta agmim und zur Nachbarschaft der Begriffe Paul. Nol. carm. 21, 281/ 83 Prima chori Albina est cum pare Therasia; lungitur hoc germana iugo, ut sit tertia princeps Agminis hymnisonis mater Avita choris. 26 Vgl. etwa R. Kaczynski, Das Wort Gottes in Liturgie und Alltag der Gemeinden des Johannes Chrysostomus = Freiburger Theolog. Studien 94 (Freiburg/Basel/Wien 1974) 105f.; zu Ambrosius Leeb 46. 60. Über die Prozessionen der Arianer und der Katholiken in Konstantinopel s. unten S. 190 [72].

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Lobe Gottes, das Vorbild Mirjams, die Typologie des Durchgangs durchs Rote Meer, der Einzug in den Himmel! Denn auch der Triumphzug der Psychomachie besitzt eine eschatologische Dimension. Als Spes sich mit goldenen Flügeln zum Himmel (!) emporschwang, blickten ihr die übrigen Tugenden sehnsuchtsvoll nach (305/08). mit ihrem Sieg erreicht: der wolkenlose Himmel, der über ihnen aufklart, gibt das Zeichen (642f.): ... Christum gaudere suis victoribus arce aetheris ac patrium famulis aperire profundum. Der Zug geht auf das "Lager" zu, das zugleich als Stadt vorgestellt und mit Jerusalem verglichen wird27; es umschließt den mystischen Tempel28, den die Tugenden nach dem | Muster des himmlischen Jerusalem (Apc. 21) erbauen29. Also selbst der Grundgedanke bei Ambrosius paßt zur Psychomachie, und wieder glaubt man, eine Vorlage des Dichters zu greifen.

6.

Nachdem wir die Szene entsprechend ihren mehrfachen Bedeutungsschichten durchleuchtet haben, ist nun der Ort, eine Einzelheit scharf in den Blick zu nehmen. Lenken wir das Augenmerk auf die Verse 647/49 zurück: ... cum dispositis bifida agmina longe duceret ordinibus peditum psallente caterva, ast alia de parte equitum resonantibus hymnis.

27 Vgl. oben S. 170 [58]. Castro sind ja auch im Militärwesen nicht immer Lager, sondern bisweilen Orte (Grenzkastelle), was vielleicht bei Prudentius den Übergang in der Szenerie (hin zur urbs, vgl. 818) erleichtert; s. Müller (oben Aran. 5) 614. Auch der antike Illustrator der Psychomachie gab das Lager als stadtähnliche Architektur wieder, s. Stettiner (unten Anm. 30) 368f. 371. 28 Vgl. schon 107f.: Pudicitia weiht ihr Schwert catholico in templo..., aeterno splendens ubi luce coruscet. Zum Tempelbau s. die Kommentierung des Stücks: Studien 93/124. 29 Daß Tugenden bauen, stört den eschatologischen Bezug nicht. Auch Παρθενίη steht nach Greg. Naz. carm. 1 , 2 , 1, 527 (PG 37, 562 A) unter den singenden Chören Gottes und wohnt έν αστει ... εύρυθεμέθλω Ούρανίω (ebd. 53If.). Über Tugendpersonifikationen im Himmel s. Studien 35f.; ferner: Impulse für die lat. Lektüre, hrsg. von H. Krefeld (Frankfurt 1979) 17251 [in diesem Bande S. 61].

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Die Reiterei gehört zur Darstellung militärischer Pracht, dennoch ist ihr Auftreten merkwürdig: 1) Nirgendwo erscheint die Psychomachie als Reiterschlacht wie etwa der Kampf im elften Buch der Aeneis (obwohl gewiß die italischen Amazonen um Camilla den Entwurf einer Weiberschlacht erleichterten!). Nur eine einzige Kämpferin tritt als Reiterin auf, und sie gehört der Gegenseite an: Superbia, die durch das stolze Roß gekennzeichnet wird (178/ 200). Daß ihr berittene Mannschaft auf Seiten der Tugenden entgegentrete, hören wir nicht. So mag der Leser, der auf Konsequenz der äußeren Handlungsführung achtet, einigermaßen überrascht sein, am Ende des Kriegs von der Existenz einer Kavallerie zu erfahren, die er im Einsatz nirgends erlebte. 2) Nach Beendigung der offenen Schlacht schreiten die Tugenden bedächtig in fußlangen Gewändern einher (634f., s. oben S. 179f. [64f.]). Für die berittene Truppe kann das natürlich nicht gelten, ohne daß wir doch durch eine entsprechende Einschränkung vorbereitet würden. Die Reiterinnen tauchen ebenso plötzlich auf, wie sie verschwinden: nach V. 649 ist von ihnen nirgends mehr die Rede. - 3) Concordia führt den Doppelzug, geht aber selbst zu Fuß (671 pedem ... moenibus infert). Wie kann eine Fußgängerin die Reiterei anführen? Der spätantike Künstler, der die Psychomachie illustrierte, empfand die Schwierigkeit und entschied sich dafür, Concordia gegen den Wortlaut des Texts allein der Gruppe der Fußgängerinnen zuzuordnen30. Sogar der Zeichner der Sanktgaller Bilderhandschrift, der um eine besonders textgetreue Wiedergabe der beiden Marschkolonnen bemüht war, sah in dieser Hinsicht keinen anderen Ausweg31. - 4) Der Gegensatz zwischen dem wehrlosen Volk | Israel und dem schwergerüsteten Heer des Pharaoh kommt Ex. 14 durch die Wagen und

30 Die Zeichnungen im Parisinus lat. 8318, saec. X ( = P1 bei Stettiner) und Leidensis Voss. Lat. Oct. 15, saec. XI ( = Le' bei Stettiner) lassen trotz ihrer Skizzenhaftigkeit die spätantike Vorlage am reinsten erkennen; vgl. R. Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften, Diss. Straßburg (Berlin 1895) 155; zu diesem Bild (vor V. 646 gehörig) ebd. 369/71; Tafelband (Berlin 1905) Taf. 9/10, Abb. 4; Taf. 25/26, Abb. 1 (in Le1 stehen die vor V. 644. 646. 665. 667. 681 gehörigen Bilder alle auf einer Seite). Die Gruppen der Fußgänger und Reiter sind hintereinander gegeben, aber offenbar doch in paralleler Bewegung gedacht. Concordia ist die erste unter den peditesl Beim nächsten Bild (Eintritt ins Lager) ist von den equites bezeichnenderweise schon nichts mehr zu sehen: sie verschwinden ebenso plötzlich wie im Text selbst. 31 Vgl. die beigegebene Abbildung Taf. VI; bei Stettiner Taf. 191f., Abb. 14; Text 370f. Die ganze Miniaturenfolge dieser Handschrift (St. Gallen, Stiftsbibl. 135 = G bei Stettiner) ist im Anhang der Psychomachieausgabe Engelmanns (s. unten Anm. 33) abgebildet; unser Bild dort Abb. 19, dazu Text ebd. 94. Die beiden Züge sind hier übereinander gegeben, das Singen wird z.T. durch Gesten bezeichnet. Concordia schreitet wieder allein den Fußgängerinnen voran (unter denen Discordia durch fehlenden Kopiputz auffällt). - Für die Anfertigung einer Neuaufnahme dieser Seite (p. 426) und die Erlaubnis zur Publikation danke ich der Stiftsbibliothek.

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Reiter der Ägypter zum Ausdruck: 14, 9 equitatus et currus Pharaonis; 14, 17 in curribus et in equitibus illius (vgl. 14, 18. 23); 14, 26 ... ut revertantur aquae ad Aegyptios super currus et equites eorum (vgl. 14, 28); ebenso im Meerlied des Moses 15, 1: equum et ascensorem eius deicit in mare; 15, 19 ingressus est... eques Pharao cum curribus et equitibus eius in mare; und im Mirjamlied: 15, 21. Von diesem Gegensatz lebt die Darstellung des Durchgangs durchs Rote Meer in der frühchristlichen Kunst, und zwar in der bildenden wie in der literarischen. Als Beispiel der ersteren sei an das entsprechende Mosaik im Langhaus von S. Maria Maggiore, Rom, erinnert32; für die Dichtkunst kann Prudentius selbst cath. 5, 53/55 stehen: 53 55

densetur cuneis turba pedestribus, currus pars et equos et volucres rotas conscendunt celeres (sc. Aegyptii)... eqs.

Warum also hat Prudentius gerade dort, wo er den Vergleich des Tugendheeres mit dem Volk Israel vorbereitete, zum ersten und einzigen Mal im ganzen Gedicht equites auf Seiten der Tugenden, sozusagen auf der falschen Seite, aufziehen lassen und damit, wie es scheinen mag, den sonst sorgsam gearbeiteten Vergleich (s. oben S. 175/77 [61/63]) unnötig geschwächt? Gewiß sind alle diese Auffälligkeiten Zeichen der "Technik" des allegorischen Dichters, der auf andere Dinge mehr schaut als auf eine fugenlose Decke des äußeren Geschehens. Aber in so merklicher Weise verletzt auch er sie nur dann, wenn er ein Motiv dafür hat.

7. Lavarenne übersetzt: "d'un cote retentissait le choeur des fantassins; de l'autre resonnaient les hymnes des cavaliers"; Thomson: " . . . the regiment of foot singing as they marched, while on the other side rang out the horsemen's hymns"; Engelmann: "auf der einen Seite singt das Fußvolk Psalmen, auf der anderen Seite erklingen die Lieder der Reiter". Ähnlich Guillen im Spani-

32 Vgl. H. Karpp, Die frühchristlichen und mittelalterlichen Mosaiken in S. Maria Maggiore zu Rom (Baden-Baden 1966) Taf. 97. 99; J. Wilpert/W.N. Schumacher, Die röm. Mosaiken der kirchlichen Bauten vom 4.-13. Jahrhundert (Freiburg/Basel/Wien 1976) Taf. 39. Ferner s. Clementina Rizzardi, I sarcofagi paleocristiani con rappresentazione del passaggio del Mar Rosso = Saggi d'Arte e d'Archeologia 2 (Faenza 1970) 124/26: zum ikonographischen Typos

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sehen, Rapisarda auf italienisch33. Das heißt: wie man auch übersetzt, fast notwendig muß sich der Eindruck bilden, als sängen die beiden | agmina Verschiedenes - wofern man eben nur "übersetzt". Und es ist daher in gewisser Weise verständlich, daß Ebert34 auf den kuriosen Gedanken kam, die Psalmen der pedites deuteten einen sermo pedester an, der Hymnengesang der Reiterei dagegen entspreche einer höheren Gattung. Lavarenne hat diese Kombination mit dem richtigen Argument abgewiesen35: die Psalmen sind Wort Gottes und können daher keinesfalls anderen Gesängen untergeordnet werden. Man stelle sich auch das Stimmengewirr und -gebraus vor, wenn die beiden Kolonnen verschiedene Texte zu verschiedenen Melodien anstimmen sollten! Nichts Unpassenderes ließe sich hier denken als ein Mißgetön, wie es sich einstellt, wenn etwa irrtümlich bei einer Prozession der eine Teil des Zuges im Singen dem anderen vorauseilt! Was Prudentius über die Seelen im Paradies sagt (cath. 5,121/24), nämlich daß sie ihre süßen Weisen sängen concentu pariles, eben das erwarten wir von der symphonia des Doppelzuges, den Concordia anführt. Es ist vom Sprachlichen her auch gar nicht nötig, die Angaben peditum psallente caterva und equitum resonantibus hymnis auf verschiedenerlei Liedgattungen zu beziehen. Mit den Begriffen psalmus, psallere, hymnus verhält es sich bei Prudentius nicht anders als sonst in der christlichen Latinität: psalmus kann ein Hymnus sein, sogar ein Märtyrerhymnus, und umgekehrt kann hymnus einen davidischen Psalm bezeichnen36; psallere heißt öfters nur allgemein "singen", "lobsingen", "preisen" (i.q. hymnirey. Auf

der in theodosianischer Zeit voll entwickelten Darstellung gehören die ausreitende ägyptische Kavallerie, Pharaoh auf dem Streitwagen sowie die im Meer versinkenden Reiter; vgl. etwa Abb. 3/5. 8. 14. 23. 24. 26. Daß Pferde fehlen wie auf der entsprechenden Darstellung in der Synagoge von Dura-Europos, ist die Ausnahme; vgl. Renate Pillinger, Die Tituli historiarum oder das sogenannte Dittochaeon des Prudentius = DenkschrWien 142 (Wien 1980) 38 zum 9. Bildepigramm {Iter per mare), wo die Pferde und Wagen ebenfalls nicht vorkommen, weil sie für den "lichten Punkt" (Herder) dieses Epigramms unwichtig sind. 33 M. Lavarenne, Prudence 32 (Paris 1963) 72; H.J. Thomson, Prudentius 1 (London/ Cambridge, Mass. 1949) 325; U. Engelmann, Die Psychomachie des Prudentius (Basel/Freiburg/Wien 1959) 75; J. Guillen, Obras completas de Aurelio Prudencio (Madrid 1950) 343; E. Rapisarda, Prudenzio. Psychomachia (Catania 1962) 79. 34 Α. Ebert, Allgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters l 2 (Leipzig 1889) 2842. 35 Lavarenne, Psychomachie-Ausgabe (Paris 1933) 253 zu V. 648. 36 Prud. perist. 4, 147f.: Perge conscriptum tibimet senatum (sc. martyrum) Pangere psalmis ; perist. 10, 837f.: docta mulier psallere Hymnum canebat carminis Davitici... eqs. (i.e. Ps. 115, 6f.); s. Lact. inst. 4, 8,14: divinorum scriptor hymnorum (sc. David); Hier, psalt. sec. Hebr. praef.: titulushebraicus... interpretatur volumen hymnorum. Weiteres H. Rubenbauer, Art. hymnus: ThLL 6, 2/3, 3144, 80/3145, 10: zu Ambrosius s. Leeb (oben Anm. 19) 26f. 37 Vgl. etwa Prud. perist. 6, 150: Vestrumpsallite rite Fructuosum mit perist. 1,118: State nunc, hymnite, matres ... eqs. Ferner perist. 5, 313f.; cath. 9, 22f. Psallat altitudo caeli, psallite omnes angeli, Quidquid est virtutis usquampsallat in laudem Dei, ... eqs.

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die Unterscheidung der Liedarten kam es hier dem Dichter offenbar gar nicht an. Auch in V. 663f. heißt es abschließend: sie... resultant Mystica dulcimodis virtutum carmina psalmis. Ein Begriff steht für den Gesang aller38. Wie gesagt: zwischen Psalm, Hymnus und (biblischem) Canticum wird nicht unterschieden, vielmehr hat sich der Dichter wohl absichtlich so ausgedrückt, daß zugleich das Mirjamlied und jede Liedart des christlichen Kults getroffen war.

8.

Dennoch vermitteln die Verse 647/49 den Eindruck, als äußere sich die Zweiteilung des Heeres auch irgendwie im Gesang. Ich behaupte auch gar nicht, daß die zitierten Übersetzer falsch übersetzen. Es bleibt nur die Frage, welche Vorstellung sich mit den Worten verbinden soll. Philo Iudaeus glaubte, die Israeliten hätten nach dem Durchzug durch das Rote Meer einen gemischten Chor aus Männern und Frauen gebildet: Moses habe das Lied den Männern angestimmt, Mirjam den Frauen. Philon erwähnt das im Zusammenhang der Nachtfeier der Therapeuten (de vita contempl. 83/88). Sie treten zunächst nach Männern und Frauen getrennt in zwei Chören an, um Gott durch Hymnen | und Tänze39 zu preisen, vereinen sich dann jedoch nach dem Vorbild der Israeliten zu einem einzigen Chor: "(Dieser Chor) mischt die hohen Frauenstimmen und den Klang der tiefen Männerstimmen zu antiphonischen Melodien (μέλεσιν άντήχοις και άντιφώνοις) und erzeugt so einen harmonischen und wahrhaft musikalischen Zusammenklang"40. Natürlich kommt solche Lösung für die Szene der Psychomachie nicht in Frage, weil die Tugenden allesamt Jungfrauen sind. Und an Tanz der Virtutes ist schon gar nicht zu denken. Aber die Philonstelle erinnert uns zumindest an

38 Carmina läßt alle Möglichkeiten offen. Zu carmen = psalmus s. etwa Ambros. exc. Sat. 2 , 2 6 (CSEL 73,263): David seproptereaflagellatum suo carmine (Ps. 72,12/14) confitetur ... eqs.; ThLL 3, 466; Leeb 28. 39 Ungeachtet der Wertschätzung, welche seit Eusebius (h.e. 2, 17) den Therapeuten entgegengebracht wurde, offenbart Philons Schilderung die Züge einer Mischung, die den Prinzipien der Kirche im Umgang mit der antiken Kultur durchaus zuwiderläuft. Vgl. oben Anm. 14 und S. 178 [64] mit Anm. 20 über die Ablehnung des Tanzes durch die Kirchenväter. Auch Philons Vergleich der Nachtfeier mit den Bacchusfesten (vita contempl. 85) gehört hierher. Eusebius (h.e. 2, 17, 21f.) hat in seiner Wiedergabe des philonischen Berichts diese Züge unterdrückt. 40 Der Begriff άντίφωνος geht hier wohl (vita contempl. 88) auf die Intonation im Akkord; vgl. Liddell/Scott s.v. mit den Belegen aus Piaton und Aristoteles. Das Wort begegnet bereits vorher im Text (84): die beiden getrennten Chöre der Therapeuten singen teils συνηχοΰντες, teils άντκρώνοις άρμονίαις. Vielleicht könnte man in diesem Fall auch an Wechselgesang denken. Über die Probleme, welche die Tragödie in dieser Hinsicht aufgibt, s.

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Möglichkeiten doppelchörigen Gesangs - Philon selbst erwähnt Prosodia, Stasima und Bildung von Strophai und Antistrophai. Damit steigt der Gedanke auf, ob nicht auch unserem Dichter eine bestimmte Sangesart vorschwebte. Eine Singweise, die den Auftritt des Doppelzugs auch in musikalischer Hinsicht rechtfertigt. Noch näher steht der prudentianischen Schilderung ein anderer Passus bei Philon (de agricult. 79/82). Ich gebe Heinemanns Übersetzung in der deutschen Philonausgabe (42 [Berlin 1962] 127f.): "Das Heer Gottes aber sind die Tugenden, die für die gottergebenen Seelen kämpfen; und ihnen kommt es zu, wenn sie den Widersacher besiegt sehen, den herrlichen, höchst angemessenen Hymnus anzustimmen für Gott, den Siegverleihenden und Sieggekrönten. Zwei Chöre sind aufgestellt, der eine für die Männergemächer, der andere für die Kammern der Frauen, - die im Wettklang und Wettgesang das harmonische Lied anstimmen (αντηχον και άντίφωνον άναμέλψουσιν άρμονίαν). Den Männerchor leitet Moses, der Vollkommene, den Frauenchor Mirjam, die geläuterte Wahrnehmung. ... Von beiden Chören wird aber dasselbe Loblied mit wundervollem Kehrvers gesungen, das anzustimmen sich ziemt; es lautet also: 'Singen wir dem Herrn, denn ruhmvoll hat er mich verherrlicht; Roß und Reiter warf er ins Meer' (Ex. 15, 1. 21)". Die Übereinstimmungen mit der Psychomachie sind auffallend. Gegenüber der oben (S. 180 [65]) zitierten Ambrosiusstelle kommen noch weitere Gemeinsamkeiten hinzu: die singenden Tugenden, ihre Teilung in zwei Chöre, die Idee des Seelenkampfs, das Loblied nach dem Sieg. Aber gerade in dem entscheidenden Punkt hilft auch die zuletzt genannte Parallele nicht weiter. Philon setzt wiederum einen Männer- und einen Frauenchor voraus41, und

J. Lammers, Die Doppel- und Halbchöre in der antiken Tragödie, Diss. Münster (Paderborn 1931) passim, bes. 147/60. An anderer Stelle (Philo plant. 167) sind φθόγγοι άντίφωνον die verschiedenen Töne der Lyra, deren Harmonie eine einzige Melodie ergibt. Zu Philons Schrift De vita contemplativa vgl. F. Daumas/P. Miquel in der Einleitung der Ausgabe = Les oeuvres de Philon d'Alexandrie 29 [Paris 1963] 11/69; ebd. 142 3 einige Hinweise zu Tanz und doppelchörigem Gesang im Alten Testament. 41 Die moderne Analyse versichert uns, das Mirjamlied (Ex. 15, 20f.) sei ein altes Stück innerhalb dieses Textabschnitts, Moses' "Schilfmeerlied" dagegen (ebd. 15, 1/19) sei jünger (vgl. M. Noth, Das zweite Buch Mose = Das Alte Testament Deutsch 5 [Göttingen 1959] 95/ 100). Aber den frühen Exegeten lag solche Analyse natürlich fem. Aus dem Text, so wie er dasteht, ergibt sich, daß zwei Gruppen singen: die "Söhne Israels" und die Frauen.

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an dieser Teilung hängt seine allegorische Erklärung (Moses deutet auf den | νους, Mirjam auf die αϊσθησις). Für Prudentius' Tugenden konnte das kein Grund sein, zwei Chöre zu bilden, zumal ja der Dichter eben Moses und Mirjam gerade nicht auftreten läßt (vgl. oben S. 176 [62]). Die Annahme, er habe trotzdem durch seine Zweiteilung dem biblischen Vorbild äußerlich irgendwie nahe bleiben wollen, befriedigt nicht.

9. Aber man darf bei Behandlung solcher Dinge nicht nur auf biblische Vorlagen schauen, erst recht nicht nur auf literarische. Man muß auch mit der Möglichkeit rechnen, daß die Anregung aus der Liturgie kam, nicht aus der Literatur; aus lebendiger Anschauung, nicht aus schriftlicher Quelle. Im Grunde redet ja niemand von derlei Dingen ohne irgendeine Anschauung. Philon stellt sich tanzende Chöre vor, Ambrosius bisweilen das psallierende Volk in der überfüllten Basilika. Auch Prudentius hatte gewiß eine Sache vor Augen, nicht bloß eine Vorlage. Achtet man, dem liturgischen Charakter der Szene folgend, auf die kirchliche Psalmodie der Zeit, ergibt sich zumindest eine Vermutung. Prudentius mag das "antiphonische" Psallieren, das heißt: den Wechselgesang zweier Chöre, nachgebildet haben. Nimmt man nämlich an, Prudentius habe an Wechselgesang der beiden Züge gedacht, klärt sich alles, und man versteht sofort, weshalb er die Zweiteilung des Heeres überhaupt einführte. Denn wenn auch sonst über die Art des antiphonischen Gesangs in der Alten Kirche manche Unsicherheiten bestehen mögen, in einem stimmen die Quellen überein: die Teilung in zwei Gruppen, Chöre o. dgl. bildet Voraussetzung und Merkmal solcher Singweise. Über Flavianus und Diodorus, die "Erfinder" der Antiphonie, berichtet Theodoret42: οΰτοι πρώτοι διχή διελόντες τους των ψαλλόντων χορούς έκ διαδοχής αδειν την Δαυϊτικήν έδίδαξαν μελωδία ν. St. Basilius kennzeichnet die antiphonische Psalmodie des Kirchenvolks zu Caesarea so43: διχή διανεμηθέντες άντιψάλλουσιν άλλήλοις. Sozomenos schreibt von den Arianern in Konstantinopel44: είς συστήματα μεριζόμενοι κατά τον των αντιφώνων τρόπον έψαλλον. Isidor ν. Sevilla

42 43 44

Theodrt. h.e. 2, 24, 9 (GCS 44, 154). Basil. Μ. ep. 207, 3 (2, 186 Courtonne). Sozom. h.e. 8, 8, 1 (GCS 50, 360).

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faßt schließlich die Dinge folgendermaßen zusammen45: antiphonas Graeci primi composuerunt duobus choris alternatim concinentibus, quasi duo Seraphim duoque Testamenta invicem sibi conclamantia, apud Latinos autem primus idem beatissimus Ambrosius antiphonas constituit Graecorum exemplum imitatus. exhinc in cunctis occiduis regionibus earum usus increbuit. Hatte also Prudentius das άντιψάλλειν, alternatim concinere, alternatim psallere im Sinn, dann wird klar, warum er die Teilung in zwei Züge (647 bifida agmina) vornahm; klar auch, weshalb er, anders als es Mirjams Vorbild nahelegte, seinem Doppelzug zwar eine Führerin, aber keine Vorsängerin gab. Denn die Existenz eines Vorsängers gehört zur sog. "responsorischen" Psalmodie, nicht zur antiphonischen: das Verhältnis von Vorsänger und antwortender Gemeinde bildet ebenso das Wesensmerkmal des responsorischen Gesangs wie die Zweiteilung des Volks das Charakteristikum des antiphonischen46. Auch | der Vers über Discordia (s. obenS. 180 [65]): ...festis respondet laeta choraeis (688) widerspricht dieser Erklärung keineswegs, stützt sie eher. Auf respondet ist nicht viel zu geben; es steht in der Dichtersprache ganz unterminologisch und paßt inhaltlich auf beiderlei Arten der Psalmodie. Dagegen verdient Beachtung, daß auch hier nicht etwa vom Respondieren auf den Gesang der Concordia die Rede ist (was als List der Discordia mindestens ebenso passend gewesen wäre!), sondern eine Formulierung gewählt wird, die zwar etwas vage bleibt, aber dem Modus des άντιψάλλειν nicht zuwiderläuft. Überhaupt sind es in diesem Text nicht so sehr die Begriffe, welche die gewünschte Klarheit schaffen47. Das gilt auch für den Ausdruck resonantibus hymnis (649). Resonare steht zwar passend fur das Widertönen, Widerhallen der Lieder, die vom Gegenchor herüberschallen48, ergibt aber allein von sich aus nichts für

45 Isid. eccl. off. 1, 7, 1 (PL 83, 743 C/744 A); vgl. orig. 6, 19, 7f.: antiphona ex Graeco interpretatur vox reciproca, duobus scilicet choris alternatimpsalleruibus ordine commutato... eqs. 46 Isid. orig. a.O.: inter responsorios autem et antiphonam hocdiffert, quodin responsoriis unus versum dicit, in antiphonis autem versibus alternant chori. Über die modernen Versuche, die Rolle der beiden Chöre genauer zu bestimmen, s. Leeb (oben Anm. 19) 18/23. Auf die umstrittene Unterscheidung von "antiphonischer" und "alternierender" Psalmodie habe ich verzichtet. Vgl. auch H. Leclercq, Art. Antienne: DACL 1, 2 (1924) 2282/319, bes. 2282/92; ferner L. Petit, Art. Antiphone dans la liturgie grecque: ebd. 2461/88. 47 Den Begriff antiphona hätte Prudentius übrigens nur mit einer starken prosodischen Lizenz (Kürzung der Paenultima wie etwa idölum 379) in den Hexameter bringen können, doch klang das Wort wohl überhaupt zu neu und technisch, als daß der Dichter hätte daran denken können, seine hübsche Anspielung dadurch zu entstellen. 48 Vgl. Verg. ecl. 1,5: (Tityre) formonsam resonare doces Amaryllida silvas, wozu zwar Servius erklärt: carmen ... doces silvas sonare, doch wurde die Bedeutung des Kompositums empfunden, vgl. Prop. 1, 18, 31:... resonentmihi "Cynthia"silvae. Ferner Ambros. hex. 6 , 6 2 (CSEL 32, 1, 253): siquidem vel in concavis montium ... vox auditur dulcior et responsa suavia referens echo resultat.

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die Sangesart des άντιψάλλειν, wie schon ein Blick auf V. 663 lehrt, wo resultant einfach den Klang der Lieder insgesamt meint49. Es kommt mehr darauf an, die deskriptiven Elemente zu erfassen und sich aus ihnen die rechte Anschauung zu bilden. Und so wird denn schließlich auch klar, weshalb hier überhaupt pedites und equites erscheinen. Ich meine also: Dem Dichter lag daran, gerade dort, wo er das psallierende Heer vorführte, die Zweiteilung des Zuges zu begründen, und die Zweiteilung brauchte er, um den Gesang der Tugenden als antiphonisch zu kennzeichnen. Die Teilung in Infanterie und Kavallerie ist ad hoc geschaffen, nur für diese Szene und nur für diesen Zweck, und wird folglich sofort danach wieder aufgegeben. Um eine liturgische Neuerung seiner Zeit in dem Gedicht zu verweben, hat er die bifida agmina erfunden und dem eigentümlichen liturgisch-militärischen Mischcharakter der Szene gemäß durch Teilung in pedites und equites motiviert.

10.

Dieses Ergebnis ist dem Text durch eine Art interpretatorischen Indizienbeweises abgewonnen. Wer ihm zustimmt, wird aber sogleich sein Gewicht erkennen: Prudentius kann dem eigenartigen Zusammenhang seines Gedichts nur ein Motiv eingefügt haben, das allgemein verständlich war, nur auf eine Sache angespielt haben, die weit verbreitet war. Und eben diesen Befund spiegeln die Quellen. Bald nach der Jahrhundertmitte fand der Wechselchor in die Liturgie Antiochiens Eingang50 und verbreitete sich so | rasch, daß St. Basilius i J . 375 sagen kann, die zu Caesarea geübte Psalmodie sei die weithin übliche,

49 Vgl. den transitiven Gebrauch bei Ambras, in Ps. 1,9 (CSEL 64,7f.): diei ortuspsalmum resultat, psalmum resonet occasus ... psalmum reges sinepotestatis supercilio resultant; Leeb 32. 36. 50 Die beiden Asketen Flavianus und Diodorus, später Bischöfe von Antiochia bzw. Tarsos (t 404 bzw. vor 394), führten sie noch zu der Zeit, als sie Laien waren, in Antiochien ein: Theodrt. h.e. 2,24, 8f. (GCS 44,154), dazu Theod. Mopsuest. bei Nicetas Choniata thesaur. 5, 30 (PG 139, 1390 C). Sie sollen die antiphonischen Lieder aus dem Syrischen ins Griechische übertragen haben (Theodrt. ebd.). Socr. h.e. 6, 8 (PG 67, 689 C/692 A) gibt eine Überlieferung weiter, derzufolge sogar der hl. Ignatius v. Antiochien die Antiphonie dort begründet haben soll, und zwar aufgrund eines Gesichts, das ihm zeigte, wie Engel die Hl. Dreifaltigkeit in antiphonischen Hymnen priesen. Wenn die Auskunft, die Plinius von den abgefallenen Christen erhielt (ep. 10, 96, 7: ... quod essent soliti stato die ante lucem convenire carmenque Christo quasi deo dicere secum invicem), auf eine Art antiphonischen Singens ginge (vgl. A.N. SherwinWhite, The Letters of Pliny [Oxford 1966] 704f. mit Lit.), müßte tatsächlich mit älteren Formen der Antiphonie gerechnet werden.

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wobei er das antiphonische Singen ausdrücklich mit einschließt51. Einzelheiten erfahren wir aus Konstantinopel. Als St. Johannes Chrysostomus dort Bischof war (also um 400), suchten die Arianer durch wechselchörig vorgetragene Lieder für ihre Lehre zu werben: sie sammelten sich nachts in Säulenhallen und sangen φδαί, ύμνοι άντίφωνοι; dann gegen Morgen zogen sie, wiederum άντίφωνα singend, zur Stadt hinaus, da sie Gottesdienst dort nicht halten durften. Die Wirkung dieses Gesangs wurde so hoch eingeschätzt, daß St. Johannes seinerseits zum gleichen Mittel griff52. Anscheinend sang man gerade bei Umzügen gerne in Wechselchören53 - wie schön paßt das zum "Demonstrationszug" der Tugenden! St. Augustinus erlebte ein Jahr vor seiner Taufe, wie in der Mailänder Kirche der Hymnen- und Psalmengesang secundum morem orientalium partium eingeführt wurde (i.J. 386), und bezeugt, daß sich bis zum Jahr 398, dem Jahr des Abschlusses der Confessiones54, diese Gesänge beinahe überall ausgebreitet hatten (conf. 9,7,15). Daß es sich um antiphonische Singweise handelte, darf angenommen werden, zumal im Parallelbericht, in der Ambrosius-Vita Paulins, der Begriff antiphonae steht55. Offenbar schätzte St. Ambrosius die psychagogische Wirkung der antiphonischen Psalmodie,

51 Basil. Μ. ep. 207, 3 (2, 186 Courtonne); in der griech.-dt. Ausgabe von W.-D. Hauschild (Stuttgart 1973) 143. Es ist der liturgiegeschichtlich wichtige Brief an den Klerus von Neocaesarea, in dem Basilius u.a. die in Caesarea übliche Singweise der Psalmen (τρόπον μελωδίας) gegen den Vorwurf verteidigt, sie weiche von der Tradition ab; er beruft sich auf gleiche Praxis namentlich in Libyen, in der Thebais, in Palästina, Arabien, Phoenizien, Syrien, Mesopotamien, sagt aber, daß die Art, die sich jetzt durchgesetzt habe, mit der "aller Kirchen Gottes" übereinstimme. Worauf sich die Kritik (τό έπί ταΐς ψαλμφδίαις έγκλημα) eigentlich bezog, brauchen wir hier nicht zu fragen; wichtig eben nur, daß die Äntiphonie in solche Verteidigung eingeschlossen werden konnte. Der Passus ist auch deswegen bedeutsam, weil er lehrt, daß das Kirchenvolk (ό λαός) durch den Wechselgesang zwar absichtlich beansprucht, nicht aber überfordert wurde: nach Basilius bewirkte gerade das antiphonische Singen Übung in der Textsicherheit, Stärkung der Aufmerksamkeit und Schutz vor Ablenkung. Das paßt recht gut zur Wirkung, die nach Aug. conf. 9, 7, 15 während der drangvollen Zeiten in Mailand erzielt werden sollte; s. oben im Text. Warum soll das Volk in Mailand dümmer gewesen sein als das in Caesarea? Dies z.B. gegen B. Fischer: TheolRev 68 (1972) 379f., dessen Kritik an Leeb sonst in mancher Hinsicht trifft. Ambrosius sagt, sogar Kinder lernten gerne die gesungenen Psalmen, obwohl sie sonst nichts auswendig lernen wollten: (psalmus) sine labore percipitur, cum voluptate servatur (in Ps. 1, 9, 4/5 [CSEL 64, 8]). 52 Sozom. h.e. 8, 8,1/5 (GCS 50, 360f.); Socr. h.e. 6, 8 (PG 67, 688 D/689 C). Vgl. auch Sozom. h.e. 3, 20, 8 (a.O. 135) und dazu H. Leclercq: DACL 6, 2 (1925) 2283. 53 Vgl. Kaczynski (oben Anm. 26) 111. Nur beiwege sei notiert, daß schon die vorchristliche Antike Wechselchorgesang bei kultischen Prozessionen kannte. Vgl. etwa neuerdings P.L. Schmidt: AltsprachlUnterr 28 (1985) 42/53 über die Fragen, die Horazens carmen saeculare in dieser Hinsicht aufgibt. 54 M. Pellegrino, Les Confessions de saint Augustin (Paris o.J. [1961, französ. Übers, aus dem Ital., Rom 1956]) 241/46. 55 Paul. Med. vit. Ambros. 13, 3 (Vite dei Santi, a cura di Ch. Mohrmann, 3 [Verona 1975] 70): hoc in tempore primum antiphonae, hymni et vigiliae in ecclesia Mediolanensi

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die im Osten erprobt war; denn Augustinus (I.e.) bemerkt, daß die neue Singweise während der Bedrückung durch die arianische Kaisermutter Justina eingeführt wurde und dazu bestimmt war, das um den Bischof versammelte katholische Volk zu stärken. Isidor (s. oben S. 187f. [70]) faßt die Entwicklung zusammen und nennt ausdrücklich Ambrosius als denjenigen, der die Antiphonie im lateinischen Westen heimisch machte. Sein Zeugnis konnte bisher nicht entkräftet werden56. Demnach war die wechselchörige Psalmodie zu | der Zeit, da Prudentius die Psychomachie schrieb57, überall bekannt, hatte vielleicht aber doch noch etwas vom Reiz des Neuen behalten. Wie nahe mochte es dann für einen Dichter liegen, der selbst in seinen Hymnen von Ambrosius angeregt ist, diese Singweise vorzuführen! Und wie leicht konnte der Leser unter solchen Umständen die Szene begreifen! Angesichts der Spärlichkeit liturgiegeschichtlicher Quellen aus jener Zeit könnte der Psychomachie-Stelle - die Richtigkeit unserer Interpretation vorausgesetzt - ein gewisses Gewicht zukommen.

celebrari coeperuiti; cuius celebritatis devotio usque in hodiernum diem non solum in eadem ecclesia, verum per omnes paene provincias occidentis manet. Die Vita ist auf Anregung St. Augustins i.J. 422 verfaßt. 56 Auch nicht durch Leeb: daß Paulinus (s. vorige Anm.) unter antiphona nicht den antiphonischen, sondern den sog. responsorischen Gesang verstanden habe, wird a.O. 103 als "hypothetisches Ergebnis" geboten; auf S. 108 wird die Möglichkeit urplötzlich ein Faktum und aus Isidors Erklärung deswegen eine Fehlinterpretation. Das ist methodisch unstatthaft. Selbst als Hypothese bleibt Leebs Deutung der Paulinus-Stelle problematisch, weil antiphona vonpsalmus responsorius in Texten des 5. Jh., so bei dem gleichzeitig mit Paulinus schreibenden Cassian (inst. 3, 8: [CSEL 17, 43]), unterschieden wird (vgl. Leebs eigene Belege a.O. 53/55). Leebs Begriffsuntersuchung anhand des (unpublizierten) Ambrosius-Index von O. Faller ergibt nur einen fragwürdigen Schluß e silentio: da Ambrosius die antiphonische Singweise nirgends eindeutig nenne, habe sie nicht existiert. Aber aus Ambrosius selbst wüßten wir noch nicht einmal, daß es eine Neuerung in der Singweise überhaupt gegeben hat (vgl. wieder Leeb 90). Die methodischen Schwächen der Arbeit Leebs (erkannt von J. Schmitz, Gottesdienst im altchristlichen Mailand = Theophaneia 25 [Köln/Bonn 1975] 307: "Im Grunde baut hier eine Vermutung auf der anderen a u f ) haben ihr Ergebnis nicht überall diskreditiert; vgl. z.B. Bastiaensen im Kommentar zur Ambrosius-Vita (vorige Anm.) 295. Verunsichert scheint J. Fontaine, Naissance de la poesie dans l'occident chrdtien (Paris 1981) 128. 57 Sie ist nicht in dem "Werkverzeichnis" seines autobiographischen Gedichts (Prud. praef. 37/42) enthalten, das Prudentius i.J. 404/05 verfaßte. Wir wissen nicht, wie lange der Dichter dann noch gelebt hat, aber man darf wohl vermuten, daß die Psychomachie bald danach, also bald nach 405, entstand.

νπι.

PRUDENTIANA *

Die Erklärung des Prudentius ist auch deswegen reizvoll, weil überall noch viel zu tun bleibt, selbst dort noch, wo moderne Interpreten bereits vorgearbeitet haben. Die Forscherin, der die Festgabe dargebracht wird, sieht es gewiß gerne, wenn dafür Beispiele vorgeführt werden, hat sie doch selbst ihre Aufmerksamkeit diesem Dichter zugewandt. Hinsichtlich der Zahl der Beispiele halte ich mich an die lex scholastica, wobei ich aus drei verschiedenen Werken je einen Fall vorlege.

1. Ham. 330ff. Prudentius preist denjenigen selig, der die Gaben des Schöpfers maßvoll zu gebrauchen vermag, ohne den täuschenden Lockungen der Welt zu erliegen: 330 Felix, qui indultis potuit mediocriter uti muneribus parcumque modum servare fruendi, quem locuples mutidi species et amoena venustas et nitidis fallens circumflua copia rebus non capit ut puerum nec inepto addicit amori, 335 qui sub adumbrata dulcedine triste venenum deprendit latitare boni mendacis operto! Der Makarismos erinnert an Vergil georg. 2, 490ff. felix qui potuit rerum cognoscere causas ... eqs., wie man längst gesehen hat (vgl. jetzt R. Palla, Appunti sul Makarismos e sulla fortuna di un verso virgiliano, Studi Classici e Orientali 33, 1983, 171/92. 189). Aber da es Lukrez ist, den Vergil preist, hätte man um so leichter bemerken können, daß Prudentius hier nicht nur

* Roma renascens. Beiträge zur Spätantike und Rezeptionsgeschichte. Ilona Opelt von ihren Freunden und Schülern zum 9.7.1988 in Verehrung gewidmet, herausgegeben von Michael Wissemann, Frankfiirt/Bern/New York/Paris 1988, 78/87.

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Vergil im Auge hat, sondern auch den lukrezischen Absinthbecher-Vergleich (Lucr. 1, 936/42). Tatsächlich finde ich aber einen (allgemeinen) Hinweis darauf nur bei E. Rapisarda, Introduzione alia lettura di | Prudenzio, vol. I, Influssi lucreziani, Catania 1951, 33; die Spezialkommentare zur Hamartigenie von J. Stam (Amsterdam 1940) und R. Palla (Pisa 1981) schweigen darüber, obwohl letzterer eine lange Erklärung der Stelle bringt (206). Auch sonst wurden die Prudentiusverse beachtet, weil sie einen reizvollen Kontrast zu Vergil bieten, aber das lukrezische Bild scheint man darüber vergessen zu haben (vgl. A. Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o.J. [1958], 110/15). Gleichheiten der Formulierung sind auch kaum vorhanden, aber die Ähnlichkeit des Gedankens läßt sich kaum verkennen. Vgl. Lucr. 1,936ff. (= 4,1 Iff.): sed velutipueris absinthia taetra medentes cum dare conantur, prius oras pocula circum, contingunt mellis dulciflavoque liquore, ut puerorum aetas inprovida ludificetur 940 labrorum tenus, interea perpotet amarum absinthi laticem, deceptaque non capiatur, sed potius tali pacto recreata valescat, sic ego nunc ... eqs. Anders als hier bei Lukrez ist der Vergleich bei Prudentius mit der Seligpreisung verwoben und daher nur angedeutet. Aber der Kern des Vergleichs: die Täuschung des Kindes, das die unter der scheinbaren Süße verborgene Bitternis nicht bemerkt, bleibt auch dort noch deutlich erkennbar. Der tiefe Unterschied liegt freilich darin, daß Lukrezens bittere Arznei, die demokritisch-epikureische Naturerklärung, eben Heilmittel ist, das durch die Form der Poesie versüßt wird. Bei Prudentius ist daraus ein Giftbecher geworden, aus ärztlicher Klugheit eine tödliche Verführung durch die Güter dieser Welt. Im entscheidenden Punkt ist Laktanz inst. 5, 1, 14 dem alten Dichter näher: circumlinatur modo poculum caelesti melle sapientiae, utpossint ab inprudentibus amara remedia sine offensione potari, dum inliciens prima dulcedo acerbitatem saporis asperi sub praetexto suavitatis occultat. Laktanz hatte gewiß Lukrez im Kopf (vgl. P. Monat im Kommentar zu Lact. inst. V, Paris 1973 = Sources Chret. 205, 26). Das, was versüßt werden soll, ist bei ihm die christliche Lehre, das Mittel dazu die Bildung der Antike (doctrina), besonders der anspruchsvolle Stil (eloquentia). Hier liegt, wie gesagt, eine durchaus positive

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Anwendung des Bilds im Sinne Lukrezens vor1. Ein Interpolator hat nun aber auch die andere, bei Prudentius | herrschende Vorstellung, daß der Honig Gift verdecke, aus gegebenem Anlaß in den Laktanztext gebracht (a.O. 10): nam et in hoc philosophi et oratores et poetae perniciosi sunt, quod incautos animos facile inretire possunt suavitate sermonis et carntinum dulci modulatione currentium [mella sunt haec venena tegentia]. Der Zusatz findet sich (mit gewissen Abweichungen) in zwei Handschriften. Monat nimmt ihn in den Text (Sources Chret. 204, 128), doch Brandt (CSEL 19, 400) hatte ihn zu Recht ausgeschieden: dasselbe Bild zweimal hintereinander, dazu noch in verschiedenem Sinne, derlei wird man dem Cicero Christianus nicht zutrauen wollen. Dagegen mochte sich ein Textbearbeiter um so eher angeregt fühlen, den negativen Vergleich einzuschieben, als er auch sonst dazu dient, die Gefahr der Eloquenz zu veranschaulichen2. Hieronymus bemerkt, ausgehend vom "Kelch Babylons" (Jer. 51, 7): vides quidem eloquentiae mella, et non suspicaris mortifera venena (Tract, de Ps. 82, 7, 8: CCL 78, 387). Wie leicht sich überhaupt die Richtung des Vergleichs ändern, Medikament und Gift assoziiert werden konnte, lehrt eine Partie bei Vinzenz von Lerinum. Auch er hat unzweifelhaft Lukrez vor Augen und gebraucht doch den Bechervergleich, um das Verfahren der Häretiker zu kennzeichnen, die harmlose Gemüter durch ihre Bibelzitate, eben den Honig, täuschen: itaque faciunt (sc. haeretici) quod hi solent, qui, parvulis austera quaedam temperaturi pocula, prius oras melle circumlinunt, ut incauta aetas, cum dulcedinem praesenserit, amaritudinem non reformidet (comm. 25, 35). Die Bitternis bleibt hier hinsichtlich ihrer Substanz unbestimmt, der Vergleich beleuchtet nur die Methode im allgemeinen, und so scheint die Nähe zu Lukrez auch inhaltlich noch gewahrt. Aber durch den Kontext verschiebt sich die Aussage, besonders durch einen weiteren Vergleich, der unmittelbar folgt: die Häretiker etikettieren ihre Lehren mit Zitaten aus der Heiligen Schrift, ebenso wie man auf giftige (!) Kräuter und Säfte die Namen von Medikamenten schreibt, ut nemofere, ubi suprascriptum

1 Ich gebe den Text nach Brandt. Auf die kritische und exegetische Schwierigkeit zu Beginn des ausgeschriebenen Stücks gehe ich hier nicht ein, obwohl eine neuerliche Behandlung lohnend erscheint. Für die Verbreitung der lukrezischen Verse hat gewiß auch das Zitat bei Quintil. inst. 3 prooem. 4 gewirkt. Vgl. H. Hagendahl, Latin Fathers and the Classics, Göteborg 1958, 64 u. 274 (zu Hier, epist. 133, 3, 7); ferner Auson. Symm. epist. p. 222 Peiper. 2 Bisweilen erscheint das Bild verändert, indem die Kostbarkeit des Trinkgefäßes (gleich Wortprunk) in Gegensatz zum verderblichen Inhalt gesetzt wird: Aug. de nat. et orig. animae 1, 3, 3; 2, 17, 23 (CSEL 60, 305. 358); vgl. Aug. conf. 1, 16, 26. - Zum Becherbild insgesamt vgl. S. Grün, RAC 2 (1954), 59/62.

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legerit remedium, suspicetur venerium (a.O.). Die beiden Vorstellungen - Medikament und Gift: das eine wie das andere mit Honig versüßt - liegen also nicht weitab voneinander3. Zum pejorativen Gebrauch des Vergleichs vgl. ferner Theodoret graec. äff. cur. 2, 32: οΐόν τι vi μέλιτι περιχρίσας την κύλικα (sc. Όρφεύς) τό δηλητήριο ν πόμα τοις έξαπατωμένοις προσφέρει. Er meint, daß Orpheus' (der Verfasser der Orphica) Wahres und Falsches in seinen Lehren mische und so einen gefährlichen Giftbecher kredenze. In positiver Wendung wiederum, wie beim echten Laktanz, erscheint das Bild bei Basilius hom. in Ps. 1, 1 (PG 29, 212 B), der den Psalmengesang | mit dem Honig vergleicht, durch den der Hl. Geist die nützlichen Lehren versüßt: κατά τους σοφούς των ιατρών, οϊ των φαρμάκων τά αύστηρότερα πίνειν δίδοντες τοις κακοσίτοις μέλιτι πολλάκις τήν κύλικα περιχρίουσι. Das alte Bild - am Anfang steht Piaton leg. 659 Ε - erlaubte eben vielerlei, ja gegensätzliche Anwendungen. Gerade darum wird man es in den Prudentiusversen wiedererkennen dürfen.

2. Psych. 575 Avaritia, als Sparsamkeit verkleidet, bringt das Tugendheer in Verwirrung, 573 cum subito in medium frendens Operatio campum prosilit auxilio sociis pugnamque capessit, 575 militiae postrema gradu sed sola duello inpositura manum, ne quid iam triste supersit. Zu Vers 575 bemerkt Lavarenne (Kommentar zur Psychomachie, Paris 1933, 250): "La Charite, qui est la plus grande de toutes les Vertus (cf. par exemple I Cor. 13, 13) occupe la place des meilleurs soldats (les triaires) dans la legion." Ebenso in der Gesamtausgabe (tome 3, Paris 19632, 702): "Dans la legion romaine les meilleurs soldats (les triarii) formaient la derniere ligne de bataille." Prudentius verwendet in der Psychomachie zwar Züge römischen Militärwesens,

3 Vgl. Leo M. epist. 15, 15 (PL 54, 688 A) über die Interpolation der Hl. Schrift durch die Anhänger Priszillians: quomodo enim decipere simplices possent, nisi venenata pocula quodam melle praelinirent... eqs.? Im Zusammenhang mit der Warnung vor Häresie gebraucht schon Ign. Trail. 6, 2 ein ähnliches Bild (Gift im Honigwein).

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spricht auch von der virtutum legio (706, vgl. 36), aber der Leser kann doch dem vorwiegend nach epischem Muster geschilderten Kampfgeschehen nicht ohne weiteres die feste Ordnung der römischen Schlachtreihe entnehmen. Auch sprachlich hat man Schwierigkeiten. Gradus kann hier nur der Rang sein. Vgl. Mod. dig. 48, 3, 14, 2 in extremum militiae gradum datur; Amm. 29, 5, 20 omnes contrusit ad infimum militiae gradum, ferner ThLL 6, 2153, 36ff.; 8, 963, 16ff. So wird man denn auf die überraschende Tatsache hingeleitet, daß die werktätige Liebe (Operatio) die rangletzte Tugend sei. Es war gewiß diese Folgerung, der Lavarenne entgehen wollte, indem er auf die Triarier rekurrierte. Liest man etwa, was Ambrosius off. 1,143/74 über die beneficentia (misericordia) zu sagen hat, scheint Prudentius' Urteil tatsächlich seltsam (vgl. auch off. 1, 38: bona etiam misericordia, quae et ipsa perfectos facit, quia imitatur perfectum Patrem. nihil tarn commendat Christianam animam quam misericordia ... eqs.). Aber ganz ohne Beispiel steht | seine Bewertung doch nicht da. Paulinus von Nola sandte zwei Epigramme an Sulpicius Severus, damit sie als Beischriften zu seinem Bilde und dem des hl. Martin gesetzt würden, die Sulpicius im Baptisterium zu Primuliacum hatte anbringen lassen. Der Gegensatz zwischen ihm - Paulinus - und dem verehrten Heiligen sollte herauskommen (Paulin. Nol. epist. 32, 3). Er beruht darin, daß Martin durch seine Tugenden ein Vorbild für das vollkommene Leben ist, Paulinus durch Hingabe seines Vermögens den Sündern einen Weg zeigt, wie sie Verzeihung erlangen können (epist. 32, 3 carm. 1, 3ff.): adstat perfectae Martinus regula vitae, Paulinus veniam quo mereare docet. hunc peccatores, illum spectate beati; exemplar sanctis ille sit, iste reis. Die Anspielung im zweiten der zitierten Verse wird durch die Schlußzeilen des anderen Epigramms erklärt (ebd. carm. 2, 9/12): ille fidem exemplis et dictis fortibus armat, ut meriti palmas intemerata ferat; iste docet fusis redimens sua crimina nummis, vilior ut sit res quam sua cuique salus. Geldspenden, auch Hingabe eines großen Vermögens, ist also weniger als Heiligkeit. Dazu stimmt die Wertordnung der Verdienste, die Prudentius sei-

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nem Epilogus zugrunde legt. Herzensreinheit geht voran, dann erst folgt das Almosengeben, dem hier allerdings noch - eine Äußerung besonderer Demut des Autors - das Dichten untergeordnet wird:

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Inmolat Deo Patri pius, fldelis, innocens, pudicus dona conscientiae, quibus beata mens abundat intus. alter et pecuniam recidit, unde victitent egeni. nos citos iambicos sacramus et rotatiles trochaeos sanctitatis indigi \ nec ad levamen pauperum potentes.

Daß die hier erkennbare Dreiteilung tatsächlich eine Stufung der Verdienstlichkeit ausdrückt, wird in den folgenden Versen ganz klar. Prudentius unterscheidet in Anlehnung an 2 Tim. 2, 20 dreierlei Gefäße aus verschiedenem Material: aus Gold, Bronze, Ton (15/17) bzw. Silber, Elfenbein, Holz (18/ 20). Beide Reihen entsprechen der Wertordnung: Tugend, Almosen, Poesie. Vgl. R. Henke, Studien zum Romanushymnus des Prudentius, Frankfurt/Bern/ New York 1983, 63ff. Für uns ist hier nur wesentlich, daß die Unterstützung der Armen der Heiligkeit (vgl. V. 9) bzw. den Gaben eines reinen Herzens (vgl. V. 3f. dona conscientiae, Quibus beata mens abundat intus) eindeutig untergeordnet wird. Denn die Gestalten, die in der Psychomachie auf Seiten des Guten kämpfen, sind ja - ausgenommen eben die Operatio - tatsächlich allesamt identisch mit jenen dona conscientiae, die Vers 2 des Epilogus beispielhaft nennt (Fides und Pudicitia der Psychomachie finden darin sogar wörtliche Entsprechungen). Daher stimmt es vollkommen, wenn Operatio als dem Range nach (militiae gradu) letzte, unterste, geringste (postrema) vorgestellt wird. Auf die Haupttugend der Caritas und das Hohe Lied der Liebe im ersten Korintherbrief hätte Lavarenne hier nicht verweisen dürfen. Sie wird in der Psychomachie nicht durch die Operatio, sondern durch die Concordia vertreten, deren Hymnus auf den Frieden (psych. 769ff. pax plenum virtutis opus ... eqs.) den paulinischen Lobpreis der Liebe nachformt; vgl. dazu meine Studien zur Psychomachie des Prudentius 4Iff. Auch grammatisch wird die Stelle nun klar, weil sed seinen vollen (adversativen) Sinn erhält. Es ergibt sich ein ausgewogenes Urteil über die Operatio: letzte zwar an Rang, aber doch (in

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diesem Fall) die einzige, die der gegnerischen Kriegslist ein Ende bereiten kann4. Denn ob nun Geiz oder Sparsamkeit: ist das Geld fortgegeben, hat der Spuk sein Ende. Daß dies der Dichter meint, zeigt die folgende Beschreibung der Operatio (577ff.): omne onus ex umeris reiecerat, omnibus ibat Nudata induviis ... eqs. Zwar ist niemand so reinen Herzens, daß er nicht die sühnende Kraft des Almosens bitter nötig hätte (vgl. Cypr. de opere et eleemosynis 3, dazu Helene P6tre, Caritas, Louvain 1948, 248; W. Schwer, Almosen, RAC 1, 1950, 306), aber das widerspricht nicht der Lehre, daß Operatio dort, wo sie allein auftritt, also gewissermaßen für sich genommen wird, weniger bedeutet als diejenigen Gestalten, welche das pectus purum atque immaculatum (Cypr., a.O.) repräsentieren. | Es mag sein, daß die moderne Bewertung sozialer Leistungen das Verständnis solcher Betrachtungsweise erschwert.

3. Tit. I Der Zyklus der prudentianischen Bildepigramme beginnt mit folgendem Titulus: 1

4

Eva columba fuit tunc Candida, nigra deinde facta per anguinum malesuada fraude venenum tinxit et innocuum maculis sordentibus Adam; dat nudis ficulna draco mox tegmina victor.

Es ist schwer, von dem Gemälde oder Mosaik eine bestimmte Vorstellung zu gewinnen, zu dem diese Zeilen als Beischrift hätten treten können (daß die prudentianischen Tetrasticha insgesamt nicht Erläuterungen für einen tatsächlichen Bildzyklus liefern sollen, steht mir aus anderen Gründen fest, doch gehe ich auf diese weitreichende Frage hier nicht ein). Das liegt eben daran, daß Prudentius sich eine bestimmte Idee von dem Geschehen des Sündenfalls machte und diese Idee wiederum sprachlich auf eine so stark bildhafte Weise ausdrückte, daß sich sein Epigramm auch als Bild gewissermaßen verselbständigt. Diese Idee, diese Anschauung des Ereignisses ist die totale Veränderung, wel-

4 Die Tatsache, daß Operatio die letzte ist, die in offener Feldschlacht auftritt, kann, wenn sie überhaupt mit jener Angabe in Zusammenhang steht, nur der episch-technische Ausdruck eben ihres untersten Ranges (gradus) sein, keinesfalls ihres höchsten, da die beiden höchsten Ränge bereits an Fides und Concordia vergeben sind: Fides eröffnet den Kampf, Concordia beschließt ihn; die beiden stehen nach dem Sieg als "heiliges Paar" auf dem Tribunal (psych. 734ff.).

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che die Sünde im Menschen bewirkt, ausgedrückt hier durch die Verfärbung von Weiß zu Schwarz. Die totale Veränderung stellt den "lichten Punkt" des Epigramms dar, um mit Herder zu sprechen: "den lichten Gesichtspunkt, aus dem der Gegenstand gesehen werden soll" (J.G. Herder, Anmerkungen über das griechische Epigramm, 2. Teil, 17962 = Herders sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, 15, 376). Er fällt hier, wie öfters bei Prudentius und in der christlichen Epigrammatik, mit der spirituellen Bedeutung des Ereignisses oder des Gegenstands zusammen, auf die der Dichter hinarbeitet. Dabei geht er aber nicht allein vom Farbkontrast Weiß/Schwarz aus, wie er auch < in dem allerdings unechten Vers> ham. 156 vorliegt (quique bona infecit vitiis et Candida nigris), sondern von der Anschauung eines physischen Vorgangs, den er als analogisch im Hinblick auf einen geistlichen auffaßt. Als Folge eines Giftmords treten am Körper des Opfers schwärzliche Verfärbungen auf (livores: Quintil. decl. 15, 4; Suet. Cal. 1, 2). Das sind die indicia et vestigia veneni \ (Cie. Cluent. 30), veneficii signa (Tac. ann. 2, 73), und sie meint Juvenal 1, 72: nigros efferre maritos. Vgl. Serv. Aen. 4, 514: ... quia nigrifiunthomines post venenum. Nero versuchte, die Anzeichen des Giftmords an Britannicus dadurch zu verdecken, daß er die Leiche mit Gips einschmieren ließ (έπειδή πελιδνός ύπό του φαρμάκου έγενήθη: Dio Cass. 61, 7, 4). Die Symptome sind so gewöhnlich, daß die Farbbezeichnung in der Poesie auf das Gift selbst, den Giftbecher, die vergiftete Speise usw. übertragen wird: Ov. met. 2, 198 nigri... veneni (vgl. 1,444per vulnera nigra venenö)\ Prop. 2,27, 10pocula nigra; Juv. 6, 631 livida ... adipata veneno. Ich vermisse einen Hinweis auf diesen Sachverhalt bei R. Pillinger, Die Tituli historiarum ... des Prudentius, Wien 1980 (= Österreich. Akad., Phil.-Hist. Kl., Denkschriften, Bd. 142) 20f.; denn es ist sicher, daß Prudentius ihn vor Augen hatte. In dieser Analogie gründet die Bildlichkeit des Epigramms und damit auch seine innere Einheit. Denn wenn auch zwischen den drei ersten Versen (umschlossen von den Namen Eva ... Adam) und dem vierten eine absichtliche Fuge besteht, so ist doch die letzte Zeile von den voraufgehenden nicht in der Weise abzusetzen, wie Pillinger will: sie versteht Vers 4 als Hinweis auf die "Darstellung" (in Malerei, Mosaik), während die Verse 1/3 auf "die biblische Geschichte in Prudentianischer Exegese" zu beziehen seien. Solche Trennung erscheint gekünstelt, und auch aus dem Tempuswechsel (Pillinger: "fiiit, tinxit, aber dot = praes. historicum") ist nichts zu machen, da die Partikel tunc, deinde, mox eine zusammenhängende Zeitenfolge ergeben, welche die Abtrennung des letzten Verses nicht duldet. Die Bekleidung (V. 4) ist vielmehr - mit Verschiebung der Bedeutungsebenen - die Folge der Befleckung und Beschmutzung (V. 1/3),

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die verdeckt werden soll. Tegmina hat seinen prägnanten Sinn, ebenso an der Parallelstelle cath. 3, 116ff.:

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Corpora mutua - nosse nefas post epulas inoperta vident, lubricus error et erubuit; tegmina suta parantfoliis, dedecus ut pudor occuleret.

Dedecus - das ist im Epigramm eben die Verfärbung. Der Titulus ist bildhafter und kühner, indem er die (äußere!) Bekleidung unmittelbar aus der Anschauung der (inneren!) Befleckung hervorgehen läßt. Die psychologische Begründung (pudor im Hymnus) ist darin mitgegeben, auch wenn der Satan V. 4 | selbst als Handelnder auftritt (hierüber Pillinger, a.O. 21 und zuletzt J.L. Charlet, Prudence et la Bible, RecAug 18, 1983, 25f.). Noch ein Wort zu columba (V. 1). Gesucht ist nicht nur der Gegensatz von Taube und Schlange, Einfalt (Unschuld) und Tücke. Der Dichter verhindert durch die Angabe: Eva columba fuit... eqs., daß das Bild der Schwärzung irgendwie auf die äußere Person der Stammutter bezogen wird, da sonst das Ganze leicht ins Abstruse oder Komische hätte abgleiten können. Er hebt das Geschehen gleich eingangs auf die geistliche Ebene (über Taube und Seele vgl. Pillinger, a.O. 20). Erst in der dritten Zeile gibt er diese Vorsicht auf: (Eva) tirvcit... Adam. Die geistliche Tiefe der Verfärbung bleibt zwar auch hier durch die Adjektive innocuum ... sordentibus gewahrt, zugleich aber wird die Analogie zu jenem physischen Vorgang kräftiger unterstrichen (tinxit... maculis), so daß der Schritt zu den tegmina und damit in den Bereich des Körperlichen (vgl. nudisl) vorbereitet ist. Es ließen sich noch weitere Feinheiten des Stücks bemerken. Etwa solche der Wortstellung. Man achte nur auf das harte Zusammentreffen der Farbwörter in V. 1, das durch den Chiasmus: (fuit) tunc Candida, nigra deinde (facta) erreicht wird. Oder auf den parallelen Bau der mittleren Verse, der den Zusammenhang der Vorgänge zu unterstreichen scheint. Oder auf die Sperrung draco ... victor zum Schluß, die so etwas wie "den letzten scharfgenommenen Punct" der Wirkung (Herder) bietet. In der Wortwahl fällt das schöne dichterische Adjektiv malesuada auf, das Prudentius hier wie an der Parallelstelle (cath. 3, 113) für passend erachtete. Doch es braucht vielleicht nicht alles ausgesprochen zu werden! Das Epigramm offenbart im Ganzen und im Einzelnen die christliche Nutzung einer literarischen Gattung und der in ihr beschlossenen Möglichkeiten des Ausdrucks. Unter diesem Gesichtspunkt müssen die prudentianischen Tituli betrachtet werden.

IX. ZÜGE DER MÜNDLICHKEIT IN SPÄTLATEINISCHER DICHTUNG *

Alle sprachlichen Erzeugnisse antiker Kultur sind irgendwann und irgendwie in den Bereich der Schriftlichkeit eingetaucht. Wären sie es nicht, hätten wir sie nicht. Und als sprachliche Erzeugnisse, die sie sind, tragen sie allesamt Spuren, Merkmale, Züge der mündlichen Rede. Aber diese Züge sind sehr verschieden, im Grunde so mannigfaltig wie die Sprache selbst. Faßt man den Übergang zur Schriftlichkeit ins Auge, wird man darauf achten müssen, wer die Aufzeichnung vornahm oder überwachte, zu welchem Zweck sie erfolgte, für wen und wann. Es dürfte kaum möglich sein, aus den antiken Texten selbst solche Definitionen der Mündlichkeit zu gewinnen, die allen Bedingungen ihrer schriftlichen Fixierung gerecht würden und die es etwa erlaubten, Spuren tatsächlicher Rede aus dem Bereich der literarischen Stilkunst stets sicher und sauber auszusondern. Inwiefern eine weiter ausgreifende Forschung imstande wäre, allgemeine Kriterien zu liefern, die auf den antiken Textbestand insgesamt mit Nutzen anwendbar sind, wage ich nicht zu erörtern. Ich beschränke mich hier und verstehe fortan unter 'Zügen der Mündlichkeit' solche Merkmale spätlateinischer Dichtung, die erkennen lassen, daß der Verfasser daraufhinarbeitete, seinem Werk im Hinblick auf lautes Lesen, Rezitation oder Gesang Wirkung zu geben. Und ich behandle in vier Kapiteln Prudentius (I), St. Ambrosius (Π), Claudian (ΠΙ) und St. Paulinus von Nola (IV). Allein mit Rücksicht auf dieses begrenzte Thema seien noch einige Bemerkungen theoretischer Natur angefügt. Die darstellerischen Züge, die es in jenen Dichtertexten aufzuspüren gilt, betreffen sozusagen eine Mündlichkeit der Bestimmung, weniger eine des Ursprungs. Es geht darum zu zeigen, daß ein Text für den mündlichen Vortrag bestimmt ist, nicht so sehr darum, daß er lebendiger Rede entspringt. Die Unterscheidung hat gewiß etwas Künstliches, scheint aber doch nicht ganz wertlos, sobald man sich gewisser Reinformen jener ursprünglichen Mündlichkeit erinnert: etwa der Mitschriften einer Rede

* Strukturen der Mündlichkeit in der römischen Literatur, hrsg. von G. Vogt-Spira = ScriptOralia 19, Tübingen 1990, 237/55.

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oder der Protokolle einer Verhandlung. Es ist klar, daß hier Züge der Mündlichkeit etwas ganz anderes sein können als im Falle eines anspruchsvollen, hochliterarischen Dichtertexts. Solche Spuren lebendiger Rede, wie sie sich zum Beispiel dadurch herausbilden |, daß der Autor diktiert oder auf eine niedere Sprachebene seiner Hörer Rücksicht nimmt1, dürfen in der Poesie nicht gesucht werden. Die Spätantike bietet Dokumente für beide Arten der Mündlichkeit. Manche Märtyrerakten, Predigten und Protokolle können wir ganz oder teilweise jener zweiten Art zuschlagen, aber die Hauptmasse der literarischen Texte gehört, wie sonst auch, in jenen anderen Bereich des Mündlichen, der überhaupt zunächst als der weitere erscheint. Denn alles oder nahezu alles, was wir von der antiken Literatur besitzen, ist mündlich im Sinne der Bestimmung, weil fast alles für das Ohr verfaßt ist. Grade oder Stufen der Mündlichkeit ergeben sich hier durch die vom Autor in Aussicht genommene Gelegenheit des Vortrage: aufsteigend von der Lektüre zur Rede, zur Rezitation, zum Gesang, zum Schauspiel. Aber, wie gesagt, die Unterscheidung darf nicht allzu scharf genommen werden, ist doch jedes literarische Werk, unabhängig von seiner Bestimmung, immer auch schon dem Ursprung nach etwas Lauthaftes, so daß wiederum - unter diesem Blickwinkel - eine 'ursprüngliche' Mündlichkeit zugleich das Umfassendere und Allgemeinere darstellt. Das soll gleich mein erstes Beispiel (I) vorführen. Jede Art der Mündlichkeit kann im übrigen vorgetäuscht werden. So mag etwas nur den Eindruck erwecken, als entstamme es lebendiger Rede, oder aber es verdankt ihr tatsächlich seinen Ursprung, ist aber bei der Niederschrift nachträglich auf mannigfache Weise verändert, entstellt oder gestaltet worden, ohne daß sichere Erkenntnisse des jeweiligen Maßes der Überarbeitung möglich wären. Das Problem der Fiktion stellt sich aber besonders bei jenen literarischen Texten, welche die Annahme nahelegen, sie seien für den Vortrag verfaßt, aber doch keinen Schluß darauf erlauben, ob es wirklich jemals dazu kam. Im Grunde hat ja alles, was zuerst geschrieben wird, im Hinblick auf spätere Mündlichkeit etwas Vorgestelltes. Es ist oft schwer zu entscheiden

ι Hier nur eine Einzelheit. Augustinus verdeutlicht das Wort veneficia in einer Predigt, um einem Mißverständnis vorzubeugen: veneficia, non beneficia, id est, non a bonis dicta, sed a venenis (serm. 163, 2: PL 38, 890). Vulgärlateinische Aussprache erklärt das; ν kann für b stehen, auch im Anlaut (vene statt bene auf Inschriften, vgl. E. Kieckers, Histor. lat. Grammatik 1, München 1931, 120). Vgl. im übrigen P. Charles, L'element populaire dans les sermons de Saint Augustin: Nouvelle Revue th6ologique 69, 1947, 619/50.

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- und bisweilen vielleicht auch nicht sehr erheblich - , ob derlei tatsächlich und unter den Umständen, die der Text vorauszusetzen scheint, zu Gehör gebracht wurde oder nicht. Daher die vielen Fälle, die wohl für immer im Halbdunkel zwischen Text und Rede verbleiben werden. Immerhin läßt sich diese Unsicherheit in dreien der vier folgenden Kapitel (II, III und IV) überwinden. |

I. Unter den Meistern lateinischer Literatur wird der christliche Dichter Aurelius Prudentius Clemens aufgrund der Tiefe seiner religiösen Empfindung und der Vielfalt seiner Formen und Gedanken immer einen besonderen Platz beanspruchen. Von seinem Leben wissen wir wenig, und fast alles, was wir darüber wissen, verdanken wir einem kleinen Gedicht, das (verfaßt i.J. 404 oder 405) eine Art Selbstbesinnung des alternden Dichters enthält2. Rückschauend erkennt er, daß sein bisheriges Leben, auch seine Karriere als Verwaltungsbeamter, die ihn bis auf einen hohen Posten in der kaiserlichen Kanzlei emporführte, ohne wahre Verdienste war vor Gott. So will er Gott fortan wenigstens mit der Stimme preisen (voce), da er es durch Taten (mentis) nicht vermag (praef. 36): er will künftig nur noch dichten. Er skizziert die Themen seiner religiösen Poesie und schließt mit der folgenden Strophe (ebd. 43/45): Haec dum scribo vel eloquor, vinclis ο utinam corporis emicem liber, quo tulerit lingua sono mobilis ultimo. Während ich dies schreibe oder sprechend bilde, daß ich doch befreit von den Fesseln des Leibes emporführe, dorthin, wohin mich die regsame Zunge mit ihrem letzten Laute trägt! Bis zum letzten Atemzuge also will Prudentius dichten: bei der Arbeit, so wünscht er, möge ihn der Tod treffen, bei der Arbeit möge seine Seele zu Gott

2 Vgl. Ch. Gnilka, Zur Praefatio des Prudentius: Filologia e forme letterarie. Studi offerti a Francesco Deila Corte 4, Urbino o.J. [1988] 231/51, bes. 248/51 [ = Prudentiana I 138/57, bes. 154/57],

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auffahren, auf den seine Poesie sich richtet, so daß Dichterseele und Dichterstimme gleichsam dasselbe Ziel haben. Eine gewisse innere Spannung wird fühlbar. Der Dichter wird einerseits vom Leib befreit, andererseits durch die Zunge emporgetragen. Die Aussage schwebt zwischen Anschauung und Gedanken. Dennoch liefert die Strophe ein schönes und klares Zeugnis dafür, daß die elocutio laut geschah: für das laute Lesen bestimmt, wurde antike Literatur laut geformt - oder doch unter ständiger Prüfung des Geschriebenen mit Hilfe der Stimme3. Anders macht der Text, namentlich der letzte Vers des Gedichts, keinen Sinn. | Fragen wir uns, welche Züge der prudentianischen Poesie solche Arbeitsweise und Zweckbestimmung erkennen lassen, so erteilt uns die zitierte Strophe selbst eine Antwort. Dionys v. Halikarnaß hebt den Wohllaut des λ hervor: ήδύνει ... αυτήν (sc. την άκοήν) τό λ και εστι των ήμιφώνων γλυκύτατο ν ... κτλ. 4 Norden zitiert als Beispiel dafür den Vergilvers, der ausdrückt, wie Aeneas in der Unterwelt Didos Herzensverhärtung zu lindern sucht: ... lenibat dictis animum lacrimasque ciebat (Aen. 6, 468)5. Ein noch eindrücklicheres Beispiel wäre unsere Prudentiusstrophe mit ihrem Vokalreichtum und der absichtsvollen Häufung des l in der letzten Zeile: Liber quo tulerit lingua sono mobilis ultimo. Indem von der lingua mobilis die Rede ist, wird gleich demonstriert, worin ihr Anteil an der kunstgemäßen Formung der Gedanken (elocutio) besteht. Auf Schritt und Tritt läßt sich das Streben nach Klangwirkungen bei den antiken Dichtern beobachten, und Prudentius steht den Klassikern darin nicht nach. Nur bei lautem Vortrag hört man das Zischen der Schlange in dem Vers: Seps insueta subit serpere flexibus (c. Symm. 1 praef. 74), und wer über die Zeile: In morem recinens suave inmorientes oloris (ebd. 1, 63) nur die Augen gleiten läßt, wird zwar vom Gesang des sterbenden Schwans lesen, aber ihn nicht durch die Dichterworte hindurch hören. Nur hören kann man auch Hannibals Hiebe gegen die Stadttore, hart und dumpf zugleich:... ille petitae Postquam perculerat tremefacta repagula portae ... eqs. (ebd. 2,

3 Eine hübsche Bestätigung der Sache, freilich ins Satirische gewendet, ergibt sich durch eine Szene bei Petron (115, 1/5). Der Dichter Eumolpus sitzt bei einem Schiffbruch unter der Kapitänskajüte und murmelt, während er Verse aufs Pergament wirft, so laut vor sich hin, daß es sich anhört, als brülle ein gefangenes Tier. Die Stelle ist besprochen bei Balogh, "Voces Paginarum" (s. Anm. 6) 213f.; vgl. auch G. Vogt-Spira, Indizien fiir mündlichen Vortrag von Petrons "Satyrica", in: Ders. (Hrsg.), Strukturen der Mündlichkeit in der römischen Literatur, Tübingen 1990 = ScriptOralia 19, 183/92, hier 184. 4 Dionys. Hai. comp. 14, 54 p. 165 Usener/Radermacher = 14, 19 p. 107 Aujac/Lebel. 5 Vgl. Norden, Komm, zu Aen. VI p. 255 z.St.

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IX. Züge der Mündlichkeit

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739f.). Das Onomatopoetische in der christlichen Dichtung ist, wie überall, einer der stärksten Beweise ihres mündlichen Charakters, was zu betonen vielleicht nicht überflüssig ist, da in jener Zeit St. Augustins berühmtes Zeugnis für stummes Lesen auftaucht6. Aber wie das Gespräch beweist, das derselbe Autor De musica führt7, beruhte der Genuß der Dichtung immer noch auf dem Hören der Verse und auf der durch das Versmaß geregelten Abfolge der Längen und Kürzen, auch wenn das sichere Empfinden für die Quantität der Silben bereits nachließ, worin sich, ähnlich wie in der Klauseltechnik der Prosa, der Übergang in eine neue Zeit ankündigt. Auch die Caesuren der antiken Verse haben für das Auge gar keine Bedeutung, sie existieren nur für das Ohr. Und ganz passend rühmt einer der Korrespondenten des hl. Augustinus, der junge Proconsul Volusianus, da er sich für die Poesie begeistert, "den melodischen, taktmäßigen | Wechsel der Caesuren" (vgl. Volus. Aug. epist. 135, 1: caesurarum modulata variatio). Die Caesuren gehören zu den Ausdrucksmitteln, die sich wie der Rhythmus in Poesie und Prosa überhaupt an das geschulte Gehör wenden8. Sie unterstützen die Aussage, bei den spätlateinischen Dichtern ebenso wie bei den früheren. Prudentius setzt einmal (c. Symm. 1,45lf.) gleich zwei Hexameter hintereinander, die nur die männliche Hauptcaesur aufweisen, keinen der üblichen Nebeneinschnitte, indem er ein langes (sechsbzw. fünfsilbiges) Wort so stellt, daß es den vierten und noch den fünften Fuß (ganz bzw. teilweise) füllt - Ausdruck des Wüsten und Monstruosen im heidnischen Kult9:

6 Aug. conf. 6, 3, 3 über St. Ambrosius. Dieses eindrucksvolle Zeugnis (vgl. Norden, Antike Kunstprosa 1, 6) stellt J. Balogh, "Voces paginarum": Philol. 82, 1927, 84/109; 202/40 seiner Sammlung einschlägiger Belege voran, welche die Gewohnheit lauten Lesens in der Antike deutlich bekunden - trotz der einschränkenden Feststellungen bei B.M.W. Knox, Silent Reading in Antiquity: Greek, Roman and Byzantine Studies 9, 1968, 421/35. 7 Aug. mus. 2 , 2 (PL 32,1 lOOf.). Vgl. dazu Η. Koller, Die Silbenquantitäten in Augustinus' Büchern De musica: Mus. Helv. 38 (1981) 262/67. 8 Zur lauten Lektüre der Poesie vgl. noch die von Balogh, "Voces paginarum" (s. Anm. 6) 211 beigezogene Stelle aus Augustins Brief an Licentius (epist. 32, S: CSEL 34, 2, 13) und besonders Hier, epist. 21, 13,4 (CSEL 54,122). Hieronymus deutet die 'Schoten' im Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lc. 15, 16) auf das Wortgetön der heidnischen Literatur (carmina poetarum, saecularis sapientia, rhetoricorumpotnpa verborum) und fährt fort: haec sua omnes suavit

delectant et dum aures versibus dulci modulatione currertiibus capiunt, animam quoque p trant et pectoris interna devinciunt. verum ubi cum summo studiofiierintac labore ρ erleet α nihil aliud nisi inanem sonum et sermonum strepitum suis lectoribus tribuunt; nulla ibi saturitas veritatis ... eqs. Der Reiz der Verse, die in süßer Modulation dahineilen, kann nur deswegen verführerisch auf Ohr und Herz des Lesers (!) wirken, weil sie beim Lesen vernehmlich erklingen, ja sogar, wie der Kirchenvater hier meint, nichts als leeres Wortgeklingel sind. 9 Norden, Komm, zu Aen. VI p. 427 über solche Fälle "mit malerischer Absicht".

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450 quos penes omne sacrum est, | | quidquid \ formido tremendum suaserit, horrificos \1 quos prodigialia cogunt credere monstra deos, \ \ quos sanguinolentus edendi mos iuvat... eqs. Das sind alles bekannte Dinge, die ich hier nur im Zusammenhang mit der späten Dichtung in Erinnerung bringe. Denn welche Bedeutung der mündliche Vortrag auch für sie hatte, läßt sich eben aus der Gleichheit der Mittel ermessen. Er würde dem Vergil einige Verse stehlen, pflegte der Dichter Julius Montanus zu sagen, wenn er ihm zugleich auch Stimme, Mienenspiel und Gestik rauben könne: eosdem enim versus ipso pronuntiante bene sonare, sine illo inanes esse mutosque (Seneca bei Sueton-Donat Vita Verg. 29). Wieviel muß es sein, was uns da verloren geht, gewiß auch im Falle des Prudentius! Wir wissen nichts über Rezitationen der prudentianischen Gedichte. An seine Hymnen knüpft sich die Frage, ob sie für den Gesang, vielleicht gar für liturgische Zwecke gedacht gewesen seien. Die Frage ist schwierig und sicher nicht für alle Stücke in der gleichen Weise zu beantworten. Gesanglicher Vortrag bleibt immer möglich, wie etwa auch im Falle der horazischen Lyrik. Aber liturgische Verwendung ist doch noch etwas anderes. Feststeht freilich, daß Teile des Liber Cathemerinon und, in geringerem Umfang, auch Lieder aus der Sammlung Peristephanon im Mittelalter mit Neumen versehen, also für liturgischen Gesang | bestimmt waren10. Andererseits fallen die Gedichte meist recht lang und anspruchsvoll aus. Auch ist die Situation, die der Dichter selbst annimmt, nicht einheitlich. Das erste Märtyrergedicht etwa ist als regelrechtes Festlied konzipiert und gibt dieser Situation auch im Text Ausdruck (per. 1, 118/20, vgl. per. 3, 206/10). Daß die angenommene Situation der tatsächlichen Bestimmung des Lieds entsprechen muß, ist damit aber auch noch nicht erwiesen. Von einem Gedicht vollends wie dem Hymnus omnis horae, der mit der Aufforderung des Dichters beginnt, der Knabe möge ihm das Piektrum reichen (cath. 9, Iff.): Da, puer, plectrum choraeis ut canamfidelibus dulce carmen et melodum, gesta Christi insignia! hunc camena nostra solum pangat, hunc laudet lyra.

io

G. Wille, Musica Romana, Amsterdam 1967, 291/98.

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Gib mir, Knabe, das Piektrum, auf daß ich in gläubigen Trochäen ein süßes und melodisches Lied singe: Christi herrliche Taten! Ihn allein soll meine Muse rühmen, Ihn meine Lyra loben, kann man sich nur mühsam vorstellen, daß es vom Autor selbst sollte irgendwie für den Kirchengesang gemacht worden sein - trotz der mittelalterlichen Neumen - , zumal Musikinstrumente im frühchristlichen Gottesdienst verpönt waren11. Wohl aber setzen die prudentianischen Hymnen die Existenz eines Kirchengesangs und einer zugehörigen Hymnendichtung voraus, deren künstlerische Steigerung sie darstellen - etwa ebenso wie Prudentius' Tituli, die Beischriften zu einem Bildzyklus fingieren12, nicht denkbar wären, wenn nicht tatsächlich Bildepigramme am Gewände christlicher Bauten gestanden hätten.

II. Hochgebildete Männer, die Texte für den Volksgesang schrieben, gab es in der römischen Antike nicht und konnte es nicht geben. Die Dichter schrieben Kunstlieder für Gebildete oder für geschulte Kräfte des Theaters, und wenn es Kultlieder waren, dann waren auch sie für Chöre bestimmt, denen sie einstudiert | werden mußten wie Horazens Carmen saeculare. Die vorchristliche Antike kannte auch keine gottesdienstlichen Versammlungsräume von der Art der christlichen Basilika, weil sie nichts hatte, was der christlichen Gemeinde, der religiösen Unterweisung des Volks durch die Priester und der eucharistischen Opferfeier vergleichbar gewesen wäre. Eines hängt also am anderen: der Altar innerhalb des Kultgebäudes, die Basilika, das Kirchenvolk, die Predigt, das Kirchenlied. Alles entwickelt sich mit Notwendigkeit aus dem Zentrum der Religion: der neuen Opferfeier. So wurden Christen die ersten lateinischen Dichter, die für das Volk dichteten und poetische Gebilde schufen, die ihren Platz in der römischen Literatur behaupten und doch für den Volksgesang bestimmt sind. Von St. Hilarius, Bischof v. Poitiers, wissen wir, daß

11 J. Quasten, Musik und Gesang in den Kulten der heidnischen Antike und christlichen Frühzeit, Münster 1930 = Liturgiegeschichtliche Quellen und Forschungen 25,103/10. Zusätzlich kann ich auf meine Studie "Missiologische Probleme der frühen Kirche" verweisen: Musicae Sacrae Ministerium 25, 1988, 37/58. 12 Im Ganzen richtig G. Bernt, Das lateinische Epigramm im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter, München 1968, 72 - trotz Renate Pillinger, Die Tituli Historiarum ... des Prudentius, Wien 1980, 12/15, u.ö.

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er versuchte, den Hymnengesang der griechischen Kirche im Westen einzuführen. Er scheiterte allerdings, an der Ungelehrigkeit des gallischen Kirchenvolks, wie er selbst meinte13. Vielleicht lag es aber auch an der Art seiner Dichtungen, die übrigens in einem Uber hymnorum gesammelt waren, nach Art der Gedichtbücher klassischer Dichter und der späteren Sammlungen des Prudentius14. Die drei (fragmentarischen) Hymnen, die wir von ihm besitzen, scheinen für solche Vermutung zu sprechen15. Jedenfalls reizt sein Mißerfolg zu der Frage, welche Vorzüge den ambrosianischen Hymnen sozusagen auf Anhieb ihren großen Erfolg verschafften. Um die Frage etwas einzuengen und auf unser Thema zuzuspitzen: welche besonderen Züge der 'Mündlichkeit' sie erkennen lassen. Wir erfahren ja durch St. Augustinus, wie der Hymnengesang nach Art der Kirche des Ostens in Mailand eingeführt wurde, wie er seinen Zweck, das katholische Volk in der bedrängten Lage des Jahres 386 zu stärken16, erfüllte, wie er dann sich überall ausbreitete, wie er selbst (Augustinus) davon ergriffen ward (conf. 9, 6, 14/9, 7, 15; vgl. 9, 12, 32). Und vom Verfasser der Hymnen hören wir, daß seine arianischen Gegner den Vorwurf erhoben, er habe das Volk durch Zauberlieder getäuscht17. Die Hymnen müssen also auch unter dem verengten Blickwinkel unserer Fragestellung einige charakteristische Züge zu erkennen geben. | Ich wähle als Beispiel die ersten beiden Strophen des Hymnus zum Hahnenschrei: Aeterne rerum conditor (p. 30ff. Walpole, p. 39 Bulst), der durch St. Augustinus (Retr. 1, 21) zweifelsfrei als ambrosianisch bezeugt ist18: 1

Aeterne rerum conditor, noctem diemque qui regis et temporum das tempora, ut alleves fastidium;

13 Hier. inGal. 2 praef. (PL 26,380): Hilarius... in hymnorum carmine Gallos indociles vocat. 14 Hier. vir. ill. 100: est eius ...et Uber hymnorum. Ihre Bestimmung für den Volksgesang bezeugt Hil. hymn. 1, 9/12. Das Thema des Hymnenbuchs (die orthodoxe Christologie) kündet ein vorangestellter Zweizeiler an, zugleich ein Makarismos auf David. Zu den Texten s. folgende Anmerkung. 15 Vgl. A. Feder: CSEL 65, 1916, praef. p. LXX; die Hymnen hier p. 208/16 und bei W. Bulst, Hymni latini antiquissimi, Heidelberg 1956, p. 31/35. Dazu ein hymnus dubius p. 217ff. Feder; dieser allein bei A. S. Walpole, Early Latin Hymns, Cambridge 1922 (Hildesheim 1966) p. 5/15. 16 Vgl. F. Homes Dudden, The Life and Times of St. Ambrose 1, Oxford 1955, 270ff. (über die Kirchenmusik 293/97). π Ambros. serm. c. Auxentium epist. 75a (21a Maur.), 34 (CSEL 82, 3, p. 105). 18 Über das Echtheitsproblem s. etwa Walpole, Early Latin Hymns (s. Anm. 15) 17/27.

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praeco diei iam sonat, noctis profundae pervigil, nocturna lux viantibus, a nocte noctem segregans.

Der ambrosianische Hymnus ist ganz in iambischen Dimetern gehalten, vierzeilig strophiert und umfaßt acht Strophen19. Schon der Umfang verdient Beachtung. Der Hymnus ist nicht zu lang, aber lang genug: er überfordert die Sänger nicht, bietet aber Raum genug für die Unterweisung, die er erteilen will20. St. Hilarius verwandte Langverse wie den iambischen Senar und den trochäischen Septenar, dazu die vierte asklepiadeische Strophe, in der Glykoneus und Asclepiadeus wechseln. Das 'ambrosianische' Metrum dagegen, wie der Dimeter für alle Folgezeit heißt, ist kürzer, Strophe und Lieder muten dem Sänger keinen metrischen Wechsel zu. Die gerade Zahl der Strophen und der Zeilen einer Strophe trägt den Erfordernissen des antiphonischen Gesangs Rechnung, d.h. des Wechselgesangs der Gemeinde, für den die Lieder komponiert sind21. Die Metrik ist quantitierend, der Bau des Verses korrekt und einfach zugleich: die Hebungen werden nie aufgelöst, die Senkungen selten durch zwei Kürzen gefüllt, so daß die Zeilen annähernd gleiche Silbenzahl erhalten; Wort- und Versakzent fallen häufig zusammen. Die Verteilung des Satzes auf die Verse ist einprägsam: Zeilenende ist oft Kolonende, Strophenende immer Satz- oder Kolonende. Daraus ergibt sich eine natürliche Wortfolge: was dem modernen Leser, namentlich dem Anfänger, das Lesen lateinischer Dichtertexte im Original so schwer macht, die sehr freie Wortstellung, vermeidet der Hymnus; die Sperrungen und Inversionen sind meist auf die einzelne Zeile beschränkt. In der Wortwahl fällt eine gewisse Neigung zur Wiederholung wichtiger Begriffe auf (etwa in der zweiten der angeführten | Strophen: noctis, nocturna, α nocte, noctem), die nicht lästig wirkt, aber eindrücklich. Ich breche ab. Formales allein macht die Wirkung jener Hymnen ohnehin nicht begreiflich. Aber Züge der 'Mündlichkeit', in dem eingangs definierten Sinne, sind für uns darin sehr wohl greifbar. Der ambrosianische

19 Seneca verwendet den Dimeter stichisch (in den Cantica der Tragödien), Horaz hat ihn nur in Verbindung mit dem Trimeter oder Hexameter (in den Epoden). 20 Walpole, Early Latin Hymns (s. Anm. 15) 23. 21 Ch. Gnilka, Ein Zeugnis doppelchörigen Gesangs bei Prudentius: JbAC 30, 1987, 58/ 73, bes. 63f. und 70/73 mit der dort genannten Literatur [in diesem Bande S. 170/91, bes. 177/ 79 und 187/91]; dazu Quasten a.O. 232f.

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Hymnus ist das Ergebnis einer schöpferischen Leistung, das der Kunst noch genügenden Spielraum läßt, aber der Bestimmung der Lieder, dem Gesang in der Basilika, klug Rechnung trägt.

III. Wir wissen, daß Vergil mit seiner wunderbaren Stimme die Georgica vor Augustus las und ebenso die Bücher II, IV und VI der Aeneis; daß Asinius Pollio im augusteischen Rom die öffentlichen Rezitationen einführte und daß diese Sitte sich bereits in der frühen Kaiserzeit so verbreitet hatte, daß sie von den Hörern als drückende Verpflichtung des gesellschaftlichen Lebens empfunden wurde22. Aber wir besitzen aus den ersten Jahrhunderten kein Zeugnis dafür, daß die Rezitation selbst ein Thema des rezitierten Gedichts bildete. Keiner der rezitierenden Dichter scheint auf den Gedanken verfallen zu sein, Anlaß, Ort und Publikum des ersten Vortrags in seine Poesie einzubeziehen und dem rezitierten Werk einzugliedern. Soweit wir sehen, war Claudius Claudianus der erste, der das tat. Er schrieb etwa gleichzeitig mit Prudentius (zwischen 395 und 404), ist aber von ihm in vielfacher Hinsicht geschieden. Prudentius schafft aus der Glut seines christlichen Glaubens, Claudian aus der Begeisterung für Schönheit und Größe antiker Kultur; Politik spielt bei Prudentius, aufs Ganze gesehen, nur eine Nebenrolle, für Claudians Invektive, Epik und Panegyrik ist sie wesentlich; wir hören nichts von einer Verbindung des christlichen Dichters mit den mächtigen Männern seiner Zeit, Claudian ist der Herold der Taten Stilichos und steht zu Häuptern des senatorischen Adels in bestem Verhältnis; eine Ehrung wurde Prudentius anscheinend nicht zuteil, Claudian erhielt eine Bronzestatue auf dem Trajansforum (Get. praef. 7/14), deren Steinsockel griechische Verse trägt, die ihn als Vergil und Homer preisen (CIL 6, 1710). Prudentius endlich verstand seine Dichtung als Opfer für Gott (epil. 1/10), sein Dichterdasein als asketische Lebensform, die er nicht unbedingt im Kloster, sicher aber in Stille und Zurückgezogenheit | zu verwirklichen gedachte. Claudian dagegen ist Hofdichter inmitten höfischen Prunks,

22 Vgl. L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms 2, Leipzig l0 1922, 223/28; G. Funaioli, Art. Recitationes: RE 1 A 1, 1914, 435/46. Weitere Hinweise bei O. Zwierlein, Die Rezitationsdramen Senecas (Meisenheim am Glan 1966) = Beiträge zur Klassischen Philolgie 20, 156/58 mit Anm. 1. Vgl. auch E. Leftvre, Die römische Literatur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie oben Anm. 3) 9/15.

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er tritt auf in den Palästen Roms und Mailands und läßt sich vor erlauchtem Publikum, vor Kaiser, Kaiserhof und Senat, hören. Zur Rezitation der claudianischen Gedichte, zur Situation des Vortrags, für den sie geschrieben wurden, gehört nicht nur der akustische Eindruck, sondern auch der visuelle: die Prachtentfaltung spätantiken Baudekors und der Prunk des Hofs und der römischen Aristokratie. Von den bunten Marmorplatten hallte die Stimme des rezitierenden Dichters wider, wie das schon der Satiriker Juvenal spöttelnd und übertreibend von der Rezitation in vornehmem Hause schildert: ... convulsaque marmorn clamant Semper et adsiduo ruptae lectore columnae (Juv. sat. 1,12f.). Aus dieser Situation sind die claudianischen 'Praefationes' geboren, metrisch selbständige Stücke in elegischen Distichen, die den großen hexametrischen Gedichten jeweils voraufgehen. Die meisten nehmen direkt auf die Situation des ersten Vortrags Bezug oder haben sie sogar zum einzigen Inhalt23. Wenn auch die literarische Form der poetischen 'Praefationes' mehrfache Wurzeln besitzt24 - bei Prudentius, der sie auch hat, dienen sie anderen Zwecken - , so ist doch eben offenkundig, daß sie bei Claudian mit der ersten Rezitation der Gedichte zusammenhängen und sozusagen ein formgeschichtliches Ergebnis des antiken Rezitationswesens darstellen. Publikum, Anlaß und auch Ort des Vortrags gewinnen für den Dichter solche Bedeutung, daß der äußere Rahmen auch im Werk eine Entsprechung finden und festgehalten werden muß. Daß der Rahmen so wichtig erscheint, liegt einmal an dem Rang der Hörer und den Huldigungsabsichten des Poeten, zum anderen an der zeitgeschichtlichen, politischen Thematik der Poesie. Zwischen dem Rahmen und dem nachher ausgeführten Bilde bestehen harmonische Übergänge. Als Beispiel mag hier die Praefatio zum Preisgedicht auf das sechste Konsulat des Kaisers Honorius stehen (rezitiert zu Anfang des Jahres 404 in Rom). Der Dichter variiert den Gedanken, daß die Beschäftigungen, Leidenschaften und Leiden des Tages in unseren Träumen fortwirken (V. 1/10). So sei es auch ihm ergangen, die Liebe zu den Musen lasse ihm auch des Nachts keine Ruhe: ihn träumte, er stehe inmitten des bestirnten Himmels zu Füßen

23 Vgl. die Praefationes zu Ruf. 1 und 2; III cons.; Theod.; Stil. 3; Get.; VI cons. Nicht allen Werken und nicht allen Büchern sind Praefationes vorangestellt; so hat von den drei Büchern De consulatu Stilichonis nur das letzte eine Praefatio. Aus der Art schlägt Eutr. 2 praef.; hierzu vgl. Ch. Gnilka, Dichtung und Geschichte im Werk Claudians: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, 96/124, bes. 107/11. 24 S. Döpp, Zeitgeschichte in Dichtungen Claudians, Wiesbaden 1980 = Hermes Einzelschriften 43, 6 14. Ferner: A. Cameron, Claudian, Oxford 1970, passim (dazu Gnomon 49, 1977, 26/51, bes. 44), wo der Hinweis auf Johannes v. Gaza und den rhetorischen Betrieb besondere Beachtung verdient ('78).

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Jupiters, er | bringe seine Verse zu Gehör, ein Lied über den Sieg der Götter im Gigantenkampf, und der Reigen der Götter ringsumher spende ihm Beifall (V. 11/20). Und dann weiter (V. 21/26): 21

additur ecce fides nec me mea lusit imago, inrita nec falsum somnia misit ebur. en princeps, en orbis apex aequatus Olympo, en, quales memini, turba verenda, deos! 25 fingere nil maius potuit sopor, altaque vati conventum caelo praebuit aula parem.

Und da: Wirklichkeit ist's geworden, mein Traumbild hat mich nicht genarrt, kein Irrgegaukel sandte mir das trügerische Tor aus Elfenbein25. Sieh' hier den Kaiser, sieh' den Gipfel des Erdkreises, gleich dem Olymp, sieh' die ehrwürdige Schar, die Götter, so wie ich sie in Erinnerung habe! Nichts Größeres konnte der Schlaf erfinden: der hohe Palast hat dem Dichter eine Festversammlung geboten gleich der des Himmels. Mit der Huldigung an den Kaiser und das Publikum der Rezitation verbindet sich hier der Vorverweis auf das Hauptthema des Gedichts, den Sieg Stilichos über die Westgoten bei Verona, der durch den angedeuteten Vergleich mit dem Triumph der Götter über die Giganten mythisch überhöht wird. Es bleibt überhaupt zu bedenken, daß die claudianischen Praefationes, obschon sie der situationsbedingten Rahmung der ersten Rezitation dienen, dennoch feingearbeitete Kunstwerke darstellen, mit dem Hauptgedicht zusammen zur Dauer bestimmt sind26 und daher auch in die antike Ausgabe der Carmina maiora27 aufgenommen wurden.

25 Nach Vergil Aen. 6, 893ff. (die beiden Tore der Träume: das aus Horn fiir die wahren, das elfenbeinerne für die falschen). 26 Vgl. M. Fuhrmann, Mündlichkeit und fiktive Mündlichkeit in den von Cicero veröffentlichten Reden, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie oben Anm. 3) 53/62, hier 53/56: durch die Kunst wird das Einmalige ins Allgemeine erhoben, durch die literarische Qualität wird die Einmaligkeit aufgehoben. 27 Uber sie Th. Birt: MGH a.a. 10,1892, praef. p. LXXVI sq. Der neue Editor Claudians, J.B. Hall (Leipzig: Teubner 1985), macht sich von den Verhältnissen ein anderes Bild, vgl. dens., Prolegomena to Claudian, London 1986, 57ff. Ob zu Recht, brauchen wir hier nicht zu fragen. Meine "Beobachtungen zum Claudiantext" waren jedenfalls für ihn fast ganz umsonst geschrieben (Studien zur Lit. der Spätantike, hrsg. von Ch. Gnilka und W. Schetter, Bonn 1975 = Antiquitas, Reihe 1, Bd. 23, 45/90 [=Prudentiana I 16/67]).

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Wenn nun die Gedichte Claudians, deren Ausrichtung auf den mündlichen Vortrag zu festlichem Anlaß solchermaßen bezeugt ist, sonst weiter keinen sonderlichen 'rezitativen' Charakter an sich tragen - es sei denn, man wertete das Übergewicht der eingelegten Reden in diesem Sinne, wobei freilich zu bedenken bliebe, daß Reden schon in der Epik der silbernen Latinität stark hervortreten28 - , so folgt daraus nicht etwa, daß sie schließlich doch ohne Rücksicht auf die Rezitation verfaßt seien, ihre 'Mündlichkeit' vielleicht doch nur fingiert sei, | sondern das Umgekehrte: der Umstand beweist nur, wie sehr alle Literatur, die wir überhaupt vergleichen können, den Erfordernissen lauten Sprechens und mündlichen Vortrage angepaßt ist.

IV. Denn die 'Mündlichkeit' der spätlateinischen Poesie kann, wie bereits bemerkt (s. oben S. 204/06 [240f.]), nur auf dem Hintergrund der antiken Gesamtverhältnisse recht beurteilt werden. Finitimus oratori poeta, läßt Cicero seinen Crassus sagen (de or. 1, 70): der Unterschied bestehe nur darin, daß der Dichter 'etwas mehr' durch den Rhythmus gebunden, in der Wortwahl freier sei; im Redeschmuck aber sei er dem Redner 'beinahe gleich'.29 Dem Verteidiger der Poesie in Tacitus' Dialogus de oratoribus gilt die Dichtung in Hinsicht auf die forensische Beredsamkeit als 'reinere und erhabenere Eloquenz' (vgl. Tac. dial. 4,2: ut... sanctioremillametaugustioremeloquentiam colam, i.e. poeticam), aber auch ihr Gegner rechnet die poetischen Gattungen ohne weiteres zur eloquentia, deren Teile ihm allesamt heilig und ehrwürdig sind (ebd. 10, 4). Die Dichtung gehört eben in der Antike zur hohen Kultur der lebendigen Rede, und aus diesem Grunde bildete sie den (fast einzigen) Gegenstand des Unterrichts beim grammaticus. Das blieb bis in die Spätantike so. St. Augustinus gibt die communis opinio wieder, wenn er über den Wert der Dichterlektüre auf der Schule sagt: hinc verba discuntur, hinc adquiritur eloquentia ... eqs. (conf. 1, 16, 26). Der Lehrer las die Verse laut vor. Praelegere ist dafür Terminus30. Ob er denn Tragödien und Epen dichten wolle,

28 W. Kroll, Studien zum Verständnis der röm. Literatur, Stuttgart 1924, 219. 29 Parallelen und Literatur bei Leeman-Pinkster im Kommentar (1, 160) zur Stelle. Über den Nutzen der Dichterlektüre für den Redner s. bes. Quintil. inst. 10, 1, 27/30. 30 Vgl. M. Citroni zu Mart, epigr. 1, 35, 2 (M. Valerii Martialis epigrammaton über primus, Firenze 1975, p. 116); Friedländer, Sittengeschichte 102, 190ff.; Marrou, Geschichte der Erziehung 407f. Bezeichnend etwa noch Macrob. sat. 1, 24, 5 (Vergiliani versus) qualiter eos pueri magistris praelegentibus canebamus (Worte des Redners Q. Aurelius Symmachus).

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fragt die Muse spottend den Epigrammatiker: praelegat ut tumidus rauca te voce magister (Mart, epigr. 8, 3, 15). Wie die praelectio durch den Lehrer, geschah auch die lectio durch den Schüler natürlich laut, und Quintilian (inst. 1, 8, lf.) gibt dafür die Regeln, warnt unter anderem davor, daß sich der Vortrag in übertriebener Affektiertheit bis zu einer Art Gesang steigere. All das änderte sich, wie gesagt, auch in den späteren Jahrhunderten nicht. Von Übungen, die darin bestanden, gewisse Partien des vergilischen Epos wie die Zornrede der Juno (Aen. 1, 37/49) in freie Prosarede umzusetzen und vorzutragen, berichtet St. Augustin (conf. 1, 17, 27). Und Ausonius ermahnt einen jungen Verwandten | zu ausdrucksvollem Vortrag griechischer und lateinischer Poesie3'. Selbstverständlich hatten die Dichter, Vergil zumal, auch im Unterricht beim Rhetor zu jener Zeit ihren festen Platz32. Aber den begeisterten Verehrern Vergils im vierten Jahrhundert war das alles nicht genug. Vergil müsse überhaupt von den Rednern gelehrt werden, nicht von den Grammatikern, fordert Ti. Claudius Donatus; denn er offenbare die vollkommene Redekunst33. Der umfängliche Aeneiskommentar dieses Mannes dient nicht zum wenigsten der Darstellung der rhetorischen Meisterschaft Vergils34. Ihr war auch das ganze vierte Buch der Saturnaliengespräche des Macrobius gewidmet (der erhaltene Teil behandelt Vergils Beherrschung verschiedener Arten pathetischer Rede). Das Ergebnis dieses Gesprächsteils ist die einhellige Meinung aller Teilnehmer, Vergil sei ebenso als orator wie als poeta anzusehen (Macrob. sat. 5, 1, 1), ja es wird ernsthaft die Frage aufgeworfen, ob Vergil oder Cicero der größere Redner sei, und in einer Beziehung wird der Dichter sogar über den Redner gestellt: er vereinige in seiner Kunst alle genera dicendi, nach dem Vorbild der allseitigen Natur (ebd. 5, 1, 2/18).

31 Dazu tritt hier Sallust: Auson. protr. ad nepotem V. 46/65 (p. 263f. Peiper; p. 75f. Prete). Solche Anweisungen bezeugen das Fortleben jener schulmäßigen Pflege der pronuntiatio, die wir besonders durch Quintilian inst. 11,3 kennenlernen; vgl. H.A. Gärtner, Die Gesten in der Darstellung. Beispiele zur Bedeutung des mündlichen Vortrages für das Verständnis der römischen Historikertexte, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie oben Anm. 3) 97/116, hier 97/99. 32 Vgl. D. Comparetti, Virgilio nel Medio Evo. Nuova edizione a cura di G. Pasquali, Firenze 1937, 75f. Die ersten Kapitel des Buchs bieten überhaupt eine vorzügliche Darstellung der Verhältnisse. 33 Don. Aen. 1 prooem. (vol. 1, p. 4, 24ff. Georgii). 34 Entsprechende Hinweise fehlen auch bei Servius nicht, vgl. etwa Serv. Aen. 9, 479 (2, p. 351 Thilo): est conquestio matris Euryali plena artis rhetoricae; sie zeige alle Regeln, die Cicero in den rhetorischen Schriften zwecks Erregung des Mitleids aufstelle. In diesen Zusammenhang gehören auch Einzelanweisungen über sinngemäßen Vortrag, vgl. z.B. Don. Aen. 2, 44 (1, p. 153, 4f. Georgii): Dornum sie pronuntiandum est atque setUiendum, quasi omnes essent versuti et insidiosi. Und gleich darauf (Don. Aen. 2,48: ebd. p. 153, 22ff.): quod cum ita sit, separandum est aut et sie dicendum aliquis lotet error equo, ut de eo quod fiiit incertus iudicasse videatur... eqs.

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Aus diesem großen Zusammenhang der rednerischen Kultur ist die spätlateinische, auch die frühchristliche Dichtung nicht herauszulösen. Sie setzt die Wirkung der lauten Rede voraus, arbeitet irgendwie immer auf solche Wirkung hin. Die allgemeinen Mittel, die sie mit antiker Poesie oder Rede überhaupt teilt, brauchen hier kaum erörtert zu werden. Einiges davon ist schon berührt worden (s. oben S. 204/06 [240f.] zu Prudentius). Unsere Hauptfrage muß lauten: welche besonderen Gelegenheiten mündlichen Vortrags boten sich dieser Dichtung, die ja, zunächst jedenfalls, nicht Schullektüre war, und welche Züge der Mündlichkeit entsprechen diesen Gelegenheiten und bezeugen sie zugleich? Die Merkmale des ambrosianischen Hymnus bezeugen den Kirchengesang. Die Praefationes Claudians die Rezitation in den Palästen. In eine andere Sphäre führen uns die Gedichte des hl. Paulinus von Nola. | Das heutige Dorf Cimitile birgt in seinem Namen noch immer die Erinnerung an das coemeterium, aus dem es entstand. Hier, vor den Toren der antiken Stadt Nola und am Grabe seines Schutzpatrons, des hl. Felix, ließ sich, wohl i.J. 395, der einstige Statthalter Campaniens Pontius Meropius Anicius Paulinus nieder, nachdem er sich zu einer vollkommenen Nachfolge Christi entschlossen, auf eine politische Karriere verzichtet und den gewaltigen Grundbesitz seiner Familie großenteils zugunsten der Armen verkauft hatte. Die Priesterweihe hatte er damals schon empfangen; später, etwa i.J. 409, wurde er Bischof von Nola und stand seiner Herde in den schweren Zeiten der Goteninvasion bei. Trotz eines asketischen Lebens in Armut verkörpert er den christlichen Kulturwillen jener Zeit. Der ehemalige Schüler des Ausonius ist durchdrungen von der Überzeugung, daß alles Wahre und Schöne, alles Gute in Kunst, Philosophie, Dichtung zur Ehre Gottes genutzt und damit seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt werden müsse35. Vor allem bemühte er sich darum, die Verehrung seines Schutzpatrons zu fördern. Er errichtete dem hl. Felix eine neue Basilica und erweiterte den ganzen Baukomplex um das Grab (der übrigens jetzt durch eine neue Campagne erforscht wird und gerade in diesen Tagen die besondere Aufmerksamkeit der christlichen Archäologen auf sich zieht36). St. Paulinus schmückte die Bauten mit Malereien und Mosaiken, zum Teil nach eigenen Entwürfen, und mit selbstverfaßten Inschriften.

35 Angaben hierzu in meinem Beitrag: Interpretation frühchristlicher Literatur, in: Impulse für die lateinische Lektüre, hrsg. von H. Krefeld, Frankfiirt 1979, 138/80, ebd. 145f. 170f. [in diesem Bande S. 47/50. 51, Anm. 42]. 36 Über den Fortgang des "Progetto di restauro e valorizzazione delle basiliche paleocristiane di Cimitile" wurde vom 9. bis 11. Dez. 1988 im Rahmen eines wissenschaftlichen "convegno" am Ort berichtet. Die Nolaner Basiliken sollen einen Gegenstand des Internationalen Kongres-

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Unter seinen Gedichten bilden die sog. Natalicia (carmina) zu Ehren des hl. Felix eine besondere Reihe. Es sind insgesamt vierzehn Gedichte (die Stücke Nr. 12/16. 18/21. 23. 26/29 in v. Härtels Ausgabe: CSEL 30,1894) verschiedenen Umfangs, alle bis auf eines rein hexametrisch37. Natalicia heißen sie, weil für den Christen der Todestag, besonders der Todestag des Märtyrers und des Bekenners, der Geburtstag ist. Das Fest des hl. Felix liegt auf dem 14. Januar, fällt somit in eine Jahreszeit, da noch Winter herrscht, aber bereits der campanische Frühling winkt; so weht bisweilen Frühlingsahnung durch diese Januargedichte. Daß sie, die ersten beiden ausgenommen, für die Rezitation am | Felixtag bestimmt sind, kann kaum bezweifelt werden. Für die meisten Gedichte sind die Beweise erdrückend38. Die Anreden an die Zuhörer - St. Paulinus spricht immer nur vom 'Hören' und von den 'Ohren' seines Publikums - gehen deutlich über das hinaus, was noch im Sinne bloßer Fiktion erklärlich wäre. Zumindest ist der Befund derartig, daß die Beweislast auf der anderen Seite läge39. Das 18. Gedicht bietet ein gutes Beispiel: dreimal wird hier in wachsenden Abständen (18, 8f.; 62/64; 211/16) an die Aufmerksamkeit der Hörer appelliert, das letzte Mal mit der Versicherung, der Zeitverlust werde für die Zuhörer im Verhältnis zum Gewinn gering sein (18, 211 f.): pandite corda, precor, brevis est iniuria vobis, dum paucis magnum exiguisque opus eloquor orsis. In der Eröffnung eines anderen Natalicium bezeichnet der Autor das angekündigte Gedicht geradezu als series recitanda (20,27): als 'Text, der rezitiert

ses für Frühchristliche Archäologie bilden, der i.J. 1991 in Bonn stattfinden wird. Vgl. auch D. Korol, Die frühchristlichen Wandmalereien aus den Grabbauten in Cimitile/Nola, Münster 1987 = JbAC Erg.-Bd. 13. 37 In dem langen Gedicht 21 sind zwischen die hexametrischen Teile (1/104; 344/858) iambische Trimeter (105/271) und elegische Distichen (272/343) gestellt. 38 Allerdings bleibt auch unter diesem Gesichtspunkt die Unterschiedlichkeit der Natalicia zu bedenken; vgl. etwa P. Fabre, Saint Paulin de Nole et l'amitiö chräienne, Paris 1949, 341/ 43. Er rechnet mit einer öffentlichen Lesung der Gedichte vom vierten Natalicium an (carm. 15), für das sechste (carm. 18) stehe sie fest. 39 Ungeachtet der Erfahning, daß sich gerade fiktive Mündlichkeit mitunter besonders aufdringlich bemerkbar macht: s. J. Blänsdorf, Die Werwolf-Geschichte des Niceros bei Petron als Beispiel literarischer Fiktion mündlichen Erzählens, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie oben Anm. 3) 193/217. Einige Beispiele für Appelle an den Hörer (außer den oben im Text genannten): carm. 20, 64; 23, 99f.; 27, 192f.; 241f. Zu vergleichen sind auch Anreden der Art: ergofideles Cemite nunc animis ... eqs. (carm. 23, 266f.).

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werden wird'40. Überhaupt benennt der Dichter sein eigenes Tun fast ausschließlich mit Verben wie canere, dicere, (pro-)fari, loqui, eloquiu.a., welche die Vorstellung mündlicher Rede erwecken, und wenn auch darauf vielleicht nicht viel zu geben ist, so wird doch die 'Mündlichkeit' bisweilen geradezu 'thematisiert'41. Am | schönsten vielleicht zu Beginn des 23. Gedichts (1/ 44), wo, wie auch sonst in den Natalicia, eine Art 'Festtagseinstimmung' geboten wird42. 'Der Frühling', sagt der Dichter, 'öffnet den Vögeln die Stimmen, meine Zunge hat den Geburtstag des Felix zum Frühling' (If. Ver avibus voces aperit, mea lingua suum ver Natalem Felicis habet, ... eqs.). Das Thema wird, christlichem Analogiedenken gemäß, vertiefend fortgeführt und am Schluß des Prooems, in der an Christus gerichteten Beistandsbitte, wiederaufgenommen. Der Dichter muß ja seine Festlieder von Jahr zu Jahr variieren, und so bittet er, Christus möge ihm die Variationskunst des Nachtigallengesangs gewähren (23, 27/44):

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adnue, fans uerbi, uerbum deus, et uelut illam me modo ueris auem dulcifac uoce canorum, quae uiridi sub fronde latens solet auia rura multimodis mulcere modis linguamque per unam fundere non unas mutato carmine uoces, unicolor plumis ales, sed picta loquellis. nunc teretes rotat illa modos, nunc sibila longis ducit acuta sonis, rursum quasi flebile carmen

40 Dies bedeutet hier das Gerundivum (in Vertretung eines Partizipium Fut. Pass.), s. Leumann-Hoftnann-Szantyr, Lat. Grammatik 2, S. 394. Vgl. etwaPrud. cath. 1,52 (negandum); 12, 45 (aequanda); weitere Beispiele bei M. Lavarenne, Etude sur la langue du po£te Prudence, Paris 1933, § 717ff. 41 Bezeichnend wieder carm. 18, an dessen Beginn mehrere solcher Wörter zusammenstehen: Lex mihi iure pio posita hunc celebrare quotannis Eloquio famulante diem, sollemne reposcit Munus ab ore meo, Felicem dicere versu, Laetitiamque meam modulari carmine voto Et magnum cari meritum cantare patroni ...eqs. (18, Iff.). Ähnlich, aber den Begriff des Worts (verbum, eloquium, loqui, fari, os) theologisch vertiefend: carm. 21, 672/703. Eine Passage vergleichbarer Bedeutung ist carm. 15, 26/49 (vgl. hier bes. 29 linguae plectro lyra personet oris), interpretiert von Kl. Kohlwes, Christliche Dichtung und stilistische Form bei Paulinus von Nola, Diss. Bonn 1979 = Habelts Dissertationsdrucke. Reihe Klassische Philologie 29, 137/79. Auch carm. 18, 44/48 gehört hierher (der Dichter weiht im Gegensatz zu den Pilgern nur bescheidene, dafür aber nicht stumme Gaben:... illi... Larga quidem, sed muta dicant: ego munere linguae, Nullus opum, famulor... eqs.). Nicht im einzelnen Wort also liegt der Beweis (icanere mit ausdrücklichen Bezug auf die 'Schriftlichkeit': 18, 70; vgl. 21, 792f.), sondern in der breiten Streuung und wiederholten Verdichtung der Züge. 42 Der Ausdruck nach Kohlwes, Christliche Dichtung (s. Anm. 41) 133f.

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inchoat et subito praecidens fine querellam adtonitas rupto modulamine decipit aures. sed mihi iuge fluat de te tua gratia, Christe. et tarnen illius mihi deprecor alitis instar donetur uariare modis et pacta quotannis carmina mutatis uno licet ore loquellis promere, diuersas quia semper gratia diues materias miris domini uirtutibus addit, quas deus in caro Christus Felice frequentat, clara salutiferis edens miracula signis.

Schenke gnädig Gewährung, Quelle des Worts, Wort und Gott43! Gib mir jetzt Wohllaut mit süßer Stimme, so wie dem Frühlingsvogel, der, unter grünem Laub verborgen, die einsamen Fluren durch vielerlei Melodien bezaubert und im Wechsel seines Lieds mit einer Zunge zwar singt, doch nicht einerlei Weisen: einfarbig im Gefieder, aber bunt im Gesang! Bald dreht er perlende Töne, bald flötet er hell mit langgezogenen Lauten, dann wieder beginnt er gleichsam ein Klagelied und bricht plötzlich das Jammern ab, enttäuscht durch ein jähes Ende der Melodie den, der da lauscht wie gebannt. Aber mir möge ununterbrochen von Dir Deine Huld zuströmen. Und doch: wie jenem Vogel, bitte ich, sei's mir gewährt, in den Weisen zu variieren und die Lieder, die ich Jahr für Jahr dichte, aus einem Munde zwar, doch in wechselnden Lauten hervorzubringen, weil die reiche Gnade immer verschiedene Stoffe dank der wunderbaren Machterweise des Herrn dazugibt, die Gott Christus durch seinen geliebten Felix häuft, herrliche Zeichen durch heilsame Wunder wirkend. | Die deutsche Übersetzung kann die Wirkung der originalen Verse natürlich bei weitem nicht erreichen. Gerade die feineren Züge der 'Mündlichkeit' ge-

43 Zugrunde liegt der Gedanke, daß alle menschliche Wortkunst im göttlichen Wort ihren Ursprung hat (und Ihm als Opfer dargebracht werden muß). Vgl. Chresis I (unten Anm. 50) 73 mit Belegen aus Gregor v. Nazianz; s. auch K. Suso Frank, Augustinus: sapienter et eloquenter dicere, in: Strukturen der Mündlichkeit (wie oben Anm. 3) 257/69, hier 267. Bei Paulinus selbst sind die eben (Anm. 41) genannten Partien aus carm. 15 und 21 zu vergleichen.

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hen verloren, etwa gewisse lautmalerische Effekte, die wohl den Nachtigallengesang nachahmen sollen. Auch hat der Dichter manche Ausdrücke mit absichtsvollem Doppelsinn so gesetzt, daß sie einerseits die Vogellaute beschreiben, andererseits aber auch die Modulation der menschlichen Stimme treffen: etwa das Rollen und Pfeifen in V. 33f. (rotat, sibila ducit)44. Aber es sind eben nicht nur solche Glanzpartien, die auf die Annahme führen, die Gedichte seien für den Vortrag verfaßt. Die einzelnen Merkmale erzeugen einen Gesamteindruck. Dem Carmen 26 hat man geradezu predigtartigen Charakter zuerkannt45. Ich hebe noch ein bemerkenswertes Detail heraus. Der Autor kann voraussetzen, daß ein bestimmtes Ereignis, ein Kirchendiebstahl, seinen Hörern bereits bekannt sei: Credo ex hoc (!) numero vestrum prope nullus in isto Sit novus auditu ... eqs. (19, 385f.). Die Kunde davon hatte sich weit verbreitet, aber St. Paulinus rechnet auch damit, daß einige aus dem Auditorium damals selbst in Nola zugegen waren: certe adfueritis in ista (!) Urbe aliquiper idem tempus ... eqs. (ebd. 387f.). Frische, gemütliche Überleitungen dieser Art entspringen einer bestimmten Situation, die der Erzähler im Auge hat. Daß sie fingiert sei, ist nicht geradezu unmöglich, aber, wie gesagt, unwahrscheinlich. Darin besteht, soweit ich sehe, Einigkeit unter den Kennern des Autors. Bleibt noch die Frage, vor welchen Kreis er mit seinen Gedichten trat. Die Annahme, er habe sich damit vor den Pilgermassen hören lassen, die am Felixtag zusammenströmten, erscheint doch recht lebensfremd46. Das Landvolk, das

44 Mir liegt die Examensarbeit meiner Schülerin Beate Breilmann vor, die das Stück 23, 1/ 44 kommentiert. In der neueren Literatur wird die Passage von A. Cameron und A. Pastorino berührt: La poesia tardoantica ... Atti del V. Corso della Scuola superiore di archeologia e civilta medievali, Erice (Trapani) 2-12 dicembre 1981, Messina 1984, 209/34 (ebd. 229/31), bzw. 309/50 (ebd. 332). Ich bemerke hier nur, daß Paulinus in diesen (und in anderen, vergleichbaren) Versen die literarische Variationskunst der Antike, das Streben nach varietas ('Motivvariation'), neu und religiös vertiefend begründet, also ein Beispiel echter Chresis bietet. 45 Kohlwes, Christliche Dichtung (s. Anm. 41)211. 46 Trotzdem ist sie beliebt. Vgl. H. Urner, Die außerbiblische Lesung im christlichen Gottesdienst, Göttingen 1952, 40; R.P.H. Green, The Poetry of Paulinus of Nola, Brüssel 1971 = Collection Latomus 120,34; J.T. Lienhard, Paulinus of Nola and Early Western Monasticism, Köln/Bonn 1977 = Theophaneia 28,147; Seraf. Prete, Paolino agiografo, in: Atti del convegno XXXI cinquantenario della morte di S. Paolino di Nola (431-1981), Nola 20-21 marzo 1982, Rom 1983, 149/59, ebd. 154f. Entschieden verteidigt wird sie von J. Fontaine, Naissance de la poesie dans Γ Occident Chretien, Paris 1981, 171f. mit Anm. 305, dessen Anschauung der Verhältnisse bereits Kohlwes, Christliche Dichtung (s. Anm. 41) 212/15 zurückwies. Das Argument, die Volkstümlichkeit der Wundererzählungen spreche fiir solche Bestimmung, ist jedenfalls nichtig; vgl. Fabre, Saint Paulin (s. Anm. 38) 372; P.G. Walsh, The Poems of St. Paulinus of Nola, New York 1975 = Ancient Christian Writers 40, 12. Zurückhaltend äußert sich Helena

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der I Bischof glaubte durch die Malereien fesseln und so vom Schmausen und Trinken ablenken zu müssen (27, 542/95), wird er sich schwerlich als Zuhörerschaft beim Vortrag seiner Hexameter vorgestellt haben. Man erinnere sich nur, wie St. Augustinus selbst in seinen Prosapredigten auf die ungebildeten Hörer Rücksicht nahm47. Die Bauern mit ihrer vulgären Aussprache hätten womöglich den Dichter nicht einmal verstanden, hätten gar vivere und bibere verwechselt. Nun wissen wir vom Autor selbst (epist. 29, 14), daß er die berühmte Martinsvita seines Freundes Sulpicius Severus in Gegenwart der hl. Melania, des hochgebildeten Bischofs Nicetas und 'vieler anderer Gottesmänner' rezitierte, und in solchem Kreis wird man sich auch die Rezitationen seiner Gedichte zu denken haben. Als Ort der Vorträge braucht vielleicht die Kirche nicht unbedingt auszuscheiden, wenn auch die Natalicia kaum in eine liturgische Feier gehören. Arator rezitierte später sein Epos über die Apostelgeschichte in S. Pietro in Vincoli48. Und die Nolaner Kirchen mit ihren bunten Fußböden in opus sectile, ihren Apsismosaiken und Malereien hätten den Rezitationen des christlichen Dichters einen ähnlichen Rahmen geboten wie die Paläste in Rom und Mailand den Vorträgen Claudians. |

Junod-Ammerbauer, Le pofcte chrdtien selon Paulin de Nole: Revue des Etudes Augustiniennes 21, 1975, 13/54, ebd. 52. 47 Darauf verweist in diesem Zusammenhang Kohlwes, Christliche Dichtung (s. Anm. 41) 212/15. Damals ist ja schon die Rhythmisierung der Prosa Sache der Bildung geworden, wie sich wiederum aus Augustinus lernen läßt (s. A. Primmer, Gebändigte Mündlichkeit: Zum Prosarhythmus von Cicero bis Augustinus, in: Strukturen der Mündlichkeit [wie oben Anm. 3] 19/50, hier 48/50), erst recht natürlich die Poesie. Damit braucht freilich nicht gesagt zu sein, daß die Lesungen geradezu hinter verschlossenen Türen stattfanden. Die Notiz über Arators Rezitationen (s. die folgende Anm.) ist auch in dieser Hinsicht lehrreich: zu diesen Anlässen fand sich eine bunte Menge aus Klerikern, vornehmen Laien und Leuten aus dem Volke ein. 48 Die Rezitation veranlaßte Papst Vigilius i.J. 544, nachdem ihn alle literarisch Gebildeten darum gebeten hatten. Wir verdanken die Nachricht einer längeren Notiz in gewissen Handschriften (der Text bei J. Huemer: Wien. Stud. 2, 1880, 79f. und A.P. McKinley in der AratorAusgabe: CSEL 72, 1951, p. XXVIII). Sie verdient es, hier auszugsweise mitgeteilt zu werden: cuius beatitudinem (i.e. papam Vigilium) litterati omnes doctissimi continuo rogaverunt ut eum (sc. codicem) iuberet publice recitari. quod cum fieri praecepisset in ecclesia beati Petri quae vocatur Ad Vinculo religiosorum simul ac laicorum nobilium sed et e populo diversorum turba convenit. atque eodem Aratore recitante distinctis diebus ambo libri quattuor vicibus sunt auditi, cum uno die medietas libri tantummodo legeretur propter repetitiones assiduas quas cum favore multiplicipostulabant. Es bestand also die Gewohnheit fort, ein Buch pro Tag zu rezitieren (vgl. Sueton-Donat, Vita Verg. 27: Vergil las die Georgica dem Augustus vor per continuum quadriduum), und nur die vom begeisterten Publikum geforderten Wiederholungen waren schuld daran, daß Arator pro Tag nur ein halbes Buch schaffte. Der sich hieraus ergebenden Frage, inwieweit der Umfang einzelner Werke oder ihrer Teile auf die Erfordernisse der Rezitation Rücksicht nimmt, kann ich nicht nachgehen. Für die Aeneis vgl. R. Heinze, Virgils epische Technik, Leipzig 31915, 263.455f.

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Jedenfalls wird man die Rezitationen des Nolaner Bischofs vom spätantiken Rezitationswesen nicht trennen dürfen49. Nicht nur seine Poesie selbst nutzt auf vielfache Weise ungezählte Formen- und Gedankenelemente der antiken Dichtung: auch die Gewohnheit, Poesie vorzutragen, die kulturelle Einrichtung der Rezitation, wird von ihm für christliche Zwecke: Ermahnung, Tröstung, Erbauung der Gläubigen, zur Verherrlichung Gottes und seiner Heiligen g e b r a u c h t . Das Rezitationswesen saß zu tief in der spätantiken Kultur, als daß es aus dem umfassenden Vorgang der Chresis50 hätte ausgespart werden können.

49 Dabei ist vorausgesetzt, daß die Dichterlesungen Pauiins nicht eigentlich liturgischen Zwecken dienten. Über hagiographische Lesungen in der Liturgie s. die Hinweise bei Th. Baumeister, Art. Heiligenverehrung I: RAC 14, 1988, 117f., 127f.; M. van Uytfanghe, Art. Heiligenverehrung Π: ebd. 153. 50 Zu diesem Wort, das auch schon an früherer Stelle dieses Beitrags verwendet wurde, vgl. meine Studie: ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur I. Der Begriff des "rechten Gebrauchs", Stuttgart/Basel 1984.

χ.

ZUR REDE DER ROMA BEI SYMMACHUS REL. 3 *

Symmachus' Rede über den Victoria-Altar galt ihrer Zeit als Meisterstück rednerischer Kunst1, und innerhalb dieser Rede ist es wiederum die Ansprache der personifizierten Roma, die offenbar besonderen Eindruck machte; denn weder Ambrosius noch Prudentius verzichten auf das Mittel solcher προσωποποιία, um der gegnerischen Schrift wirkungsvoll entgegenzuarbeiten2. Daher beansprucht die Frage, wie Symmachus die Romarede im eigenen Text begrenzt hat, also die Frage, welche Sätze er seiner Roma in den Mund legt und wo er ex propria persona spricht, einige Aufmerksamkeit. Sie betrifft das genaue Textverständnis und vielleicht auch die Würdigung der Relatio als Kunstwerk, wenn auch nicht die sachliche Interpretation. Der Anfang der Romarede kann nicht zweifelhaft sein. Aber wo endet sie? O. Seeck (MGH a.a. 6, 1, 1883, 282) gibt keine Markierungen. Er druckt folgenden Text (die üblichen Paragraphen füge ich in Klammern hinzu): (9) Romam nunc putemus adsistere atque his vobiscum agere sermonibus: optimi principum, patres patriae, reveremini annos meos, in quos me pius ritus adduxit! utar caerimoniis avitis, neque enim paenitet! vivam meo more, quia libera sum! hie cultus in leges meas orbem redegit, haec sacra Hannibalem a moenibus, a Capitolio Senonas reppulerunt. ad hoc ergo servata sum, ut longaeva reprehendar? (10) videro, quale sit, quod instituendum putatur; sera tarnen et contumeliosa est emendatio senectutis. ergo diispatriis, diis indigetibus pacem rogamus. aequum est, quidquid omnes colunt, unum putari. eadem spectamus astra, commune caelum est, idem nos mundus involvit: quid interest, qua quisque prudentia verum requirat? uno itinere non potest perveniri ad tam

* 1 partem 2

Hermes 118, 1990, 464/70. Vgl. Prud. c. Symm. I 648f.: Inlaesus maneat liber, excellensque volumen Obtineat dicendi fulmine famam. Ambros. epist. 73 (18 Maur.), 7: CSEL 82, 2 p. 36/38; Prud. c. Symm. II649/772.

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X. Zur Rede der Roma

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grande secretum. sed haec otiosorum disputatio est; nunc preces non certamina offerimus. (11) quanto commodo sacri aerarii vestri Vestalium virginumpraerogativa detracta est? ... eqs. Wie hier im Seeckschen Text wird auch sonst der Umfang der Rede öfters unbezeichnet gelassen3, was zumindest dann auffällig ist, wenn, wie bei J. Wytzes (Der letzte Kampf des Heidentums in Rom, Leiden 1977,205ff. 275ff.), dem lateinischen Original eine Übersetzung und ein Kommentar beigegeben werden. Darin | dürfte sich eine gewisse Unsicherheit andeuten. Die letzte Herausgeberin, Michaela Zelzer (Ambros. epist. X 72a [17a], 9: CSEL 82, 2 [1982] p. 26/27), schließt die Rede nach reprehendar. D. Vera läßt sie, wie schon E. Gibbon, K. Latte, H. Dudden u.a.4, mit emendatio senectutis enden (Commento storico alle Relationes di Quinto Aurelio Simmaco, Pisa 1981, 392: in der italienischen Übersetzung). Nach M. Lavarenne (Prudence, tome III, Paris 19632, 110) u.a.5 ist sie erst mit grande secretum zu Ende, für R. Klein (Der Streit um den Victoriaaltar, Darmstadt 1972, 32) scheint sie gar bis offerimus zu reichen6. Der suggestiven Kraft der Paragrapheneinteilung darf man hier jedenfalls nicht erliegen. Man erwartet irgendeinen Ausdruck des Abschlusses der Rede oder ihrer Wirkung. Hätte Roma schon nach reprehendar verstummen sollen, so hätte sich das allenfalls durch gekünsteltepronuntiatio und actio des Redners zum Ausdruck bringen lassen7, was nicht eben ein Vorzug des gefeierten, als excellens volumen (!) gerühmten Denkmals literarischer Kunst wäre (s. Anm. 1). Denn im Text findet solcher Einschnitt keine Stütze; videro schließt

3 So auch bei W. Meyer, Q. Aurelii Symmachi relationes, Leipzig 1872. 4 E. Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire II p. 202 (der von mir benützten Ausgabe London 1851); Κ. Latte, Die Religion der Römer und der Synkretismus der Kaiserzeit, Tübingen 19272 = Religionsgeschichtliches Lesebuch, hrsg. von A. Bertholet, 5, 91; F.H. Dudden, The Life and Times of Saint Ambrose I, Oxford 1935, 262; dazu etwa noch G. Ludwig: Gymnasium 64 (1957) 207; J.J. Sheridan: L'Antiquit6 classique 35 (1966) 200. Alle diese Autoren legen Übersetzungen der Relatio bzw. der entscheidenden Partien vor. 5 Vgl. auch Cl. Brockhaus, Aurelius Prudentius Clemens in seiner Bedeutung für die Kirche seiner Zeit, Leipzig 1872 (Wiesbaden 1970) 47. Ausdrücklich bekräftigt diese Abteilung F. Paschoud, Roma aeterna, Neuchätel 1967, 90. 6 Dies geht wohl aus seiner Inhaltsübersicht a.O. hervor; in Text und Übersetzung p. 104/ 07 bildet er Absatz nach jedem Paragraphen, ohne den Redeschluß zu kennzeichnen. Schluß nach offerimus auch bei I.G. Coman, Prosopopeea Romei la Simah, Sfintul Ambrozie si Prudentiu: Studii Teologice 22 (1970) 493/508, ebd. 501. 7 Die zeitgenössische Grammatik erzog allerdings dazu, auf feine und bisweilen überfeine Distinktion zu achten und die Pausen durch angemessene pronuntiatio herauszubringen. Beispiele dafür bietet Ti. Donat im Aeneiskommentar (vgl. etwa zum neunten Buch vol. 2, p. 194, lOff.; 205, Iff.; 215, 3ff.; 229, 4ff.; 241, 6ff. Georgii). Hierbei traten auch Zweifelsfälle auf,

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eng an reprehendar an, wie überhaupt Roma von sich selbst mit einer gewissen Pointierung in der ersten Person des Singulars spricht: reveremini annos me ο s, in quos me pius ritus adduxit! utar caerimoniis avitis ...! vi ν am me ο more, quia libera s u ml hie cultus in leges me as orbem redegit, ...ad hoc ergo servata s um, ut longaeva reprehendar? ν i de r o, quale sit ... eqs. Wie gesagt: videro kann man von dieser Wortfolge kaum ohne Gewalt abtrennen, es paßt ganz zum Ich-Stil der voraufgehenden Sätze. Außerdem wäre die Äußerung: videro, quale sit, quod instituendum putatur als direkte Bemerkung des Senators vor dem Kaiser anmaßend, ja unerträglich. Nur die greise Roma darf so sprechen, nur sie darf im Vollgefühl ihrer jahrhundertelangen Erfahrung abwartend auf die Neuerung des Christentums blicken und | Skepsis andeuten, was wohl daraus werden solle: "Ich will sehn, was es ist, das man einzuführen für gut hält" (Latte). Der erste fühlbare Einschnitt ergibt sich vor ergo, und hier (nach emendatio senectutis) würde man auch die Rede am liebsten schließen. Gewiß wäre auch Abbruch der Rede mit dem Satz: sed haec otiosorum disputatio est, also Redeschluß nach grande secretum, eine spürbare Caesur, aber man empfindet bei solchem Übergang doch etwas Mißliches. Denn so fiele der Redner seiner ehrwürdigen Dame recht barsch ins Wort, und es würde ihrem Auftritt nachträglich etwas von der Wirkung genommen. Als ob sie sich in Altweibergeschwätz verloren habe! Roma selbst als otiosa: was könnte unpassender sein8? Läßt man die Rede noch weiter reichen, bis offerimus - dies wäre das Äußerste - , dann wirkt der Übergang von der eingelegten Personificatio zum neuen Punkt der Bittschrift abrupt. Die Erwartung eines Ausdrucks der Zustimmung seitens des Autors oder wenigstens der Wiederaufnahme seiner eigenen Rolle bleibt so ganz unerfüllt. Befriedigt wird sie dagegen, wenn Symmachus mit der Folgerung: ergo diis patriis ... pacem rogamus wieder selbst das Wort ergreift. Ergo steht kraftvoll an der Satzspitze, teils zusammenfassend, teils anaphorisch9 - ganz

die es nötig machten, an das Urteil des Lesers zu appellieren (ebd. p. 241, 17ff. Georgii). Aber derlei wird man eben in dem Meisterstück rhetorischer Prosa kaum erwarten dürfen. 8 Zum Ausdruck otiosorum disputatio vgl. Vera im Kommentar a.O. p. 42f. Es ist ganz gleich, ob man eine negative Wertung heraushört oder nicht: auch der Sphäre heiterer, philosophischer Muße kann der Senator seine Roma nicht ohne weiteres zuordnen. Ein Ton leichter Depretiation scheint mir im übrigen doch mitzuschwingen. Er müßte sich verstärken, wenn man das Urteil auf die Worte der Greisin bezöge; vgl. etwa Lact. inst. 6, 10, 21: (ilia) quae otiosi et inepti senes fabulantur, gesagt von den Philosophen. 9 Beide Funktionen sind verwandt, vgl. Rehm: ThLL 5, 2, col. 771, 44ff. bzw. 71ff. Zur 'funetio anaphorica', zur Wiederaufnahme der Rede nach irgendeiner Unterbrechung, etwa nach einer digressio, s. auch Skutsch-Rehm s.v. igitur. ThLL 7,1, col. 266, 38ff. Vgl. unten Anm. 12.

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X. Zur Rede der Roma

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anders als in dem voraufgehenden Fragesatz: ad hoc ergo servata sum... eqs., wo es im Stile eines quid ergo? einen absurden Gedanken einleitet. Hier kehrt der Autor mit ergo entschieden zur eigenen Forderung zurück (vgl. 8: servanda est tot saeculis fides), die durch Romas Einlassung unterstützt ward. Also wie sonst ergo, ut dixi; ergo, ut supra dictum est; ergo, ut breviter contraham summam, etc.10, so hier kurz: ergo ... pacem rogamus, wobei der Wechsel im Numerus den Neueinsatz unterstreicht. Denn wie der Autor seine Prosopopoiie einleitete: Romam nunc put emus adsistere ... eqs., so nimmt er danach das Wort wieder in der ersten Person Plural: rogamus, spectamus, offerimus (idem no s mundus involvit). Das geschieht nicht nur ad evitandam iactantiam (vgl. Serv. Aen. 2, 89) - bald darauf heißt es ja oro vos (rel. 3, 13) - , sondern ist hier besonders passend: Roma hat zwar in der Ich-Form zu den Kaisern gesprochen, aber als Inbegriff und Sinnbild aller Römer, und darum geht es dort, wo wieder der Stadtpräfekt einsetzt, weiter: ergo ... rogamus. Die IchForm bildet überhaupt ein Stilmerkmal in den Reden personifizierter Gestalten. Leicht begreiflich, denn ihr Wesen besteht ja gerade darin, eine | Gesamtheit in e i n e r Person zu vertreten! Und so redet denn auch die Roma bei Claudian, Ambrosius, Prudentius und im Panegyricus auf Constantin und Maximian durchweg in der Ich-Form", desgleichen etwa die Res publica in Pacatus' Preisrede auf Theodosius, wo übrigens der Redner mit ähnlicher Partikel das Wort wieder an sich nimmt: solus igitur, Auguste, solus inquam 12 omnium ... eqs. . Auch hat man den Eindruck, daß die berühmten Sätze über die Identität aller Gottheiten, über denselben Sternenhimmel und die verschiedenen Wege zur verborgenen Wahrheit nicht eigentlich zum Part der Roma gehören, die auf Alter und Erfolg pocht, sondern besser aus dem Munde des Redners kommen, der die philosophischen Grundlagen seines Standpunkts andeutet.

10 Cie. Phil. 12, 22; part. 46; Quintil. inst. 5, 10, 94 u.ö. 11 Claudian. Gild. 28/127; Ambras, epist. 73 (18 Maur.),7; Prud. c. Symm. Π 655/768; paneg. lat. 7 (6), 11, 1/4. Daß die redende Personifikation aus bestimmtem Anlaß auch einmal in die Wir-Form verfällt (wie etwa Roma bei Ambrosius I.e. in dem Sätzchen: hic vivimus et illic militamus), ist damit natürlich nicht ausgeschlossen. Aber bei Symmachus beobachtet man nach ergo einen deutlichen Übergang. 12 Paneg. lat. 2 (12), 11,3/7 bzw. 12, 1. Ergo nach direkter Rede ebd. 38, 2/4: quotiens sibi ipsum (sc. Maximum) putamus dixisse: 'quo fugio? ... ο quam difficile est miseris etiam perire!' ergo ut clausae cassibusferae ... eqs.; ferner Plin. paneg. (paneg. lat. 1)68, 1. Zu igitur vgl. auch die Wiederaufnahme der Darstellung bei Prud. c. Symm. II 161 (nach der direkten Rede Gottes 123/60): Haec igitur spondenteDeo ... eqs. Mit ergo oder igitur wird auch gerne nach Zitaten fortgefahren, etwa wenn ein Aktenstück oder eine Bibelstelle im Wortlaut mitgeteilt wurde (Hist. Aug. vol. 1 p. 177, 21; vol. 2 p. 139, 10; 228, 18 Hohl/Samberger/ Seyfahrt; Cypr.: CSEL 3, 1 p. 280, 18; 281, 13; 384, 9; 210, 23; 193, 5).

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Bei alledem wüßte man gerne, wie die beiden großen zeitgenössischen Autoren, die den Text der Relatio gründlich nacharbeiteten, Ambrosius und Prudentius, die Stelle auffaßten. Aus Ambrosius sind hierzu allerdings nur indirekte Hinweise zu gewinnen. Fest steht jedenfalls, daß er die Romarede vor Beginn der Erörterung über die Privilegien der Vestalinnen (rel. 3, 11) abgeschlossen sah, denn er gibt folgende Inhaltsübersicht (epist. 73 [18 Maur.], 3/4): (3) tria igitur in relatione sua vir clarissimus praefectus urbiproposuit, quae valida putavit: quod Roma veteres, ut ait, suos cultus requirat, et quod sacerdotibus suis virginibusque Vestalibus emolumenta tribuenda sint, et quod emolumentis sacerdotum negatis fames secuta publica sit. (4) in prima propositione, flebili Roma questu sermonis illacrimat, veteres, ut ait, cultus caerimoniarum requirens ... eqs. Daraus geht klar hervor, daß Ambrosius nur den ersten der drei Punkte flebili questu sermonis von Roma behandelt fand, nicht mehr den zweiten, die Priesterschaft betreffenden. Vor rel. 3, 11 war also auch für Ambrosius unbedingt Ende der Romarede im Symmachustext. Weiteren Aufschluß erteilt vielleicht die Rede, die er seiner eigenen Roma in den Mund legt (Ambros. ibid. 7). Dem Charakter nach ist sie eine Scheltrede an die Heiden, die teilweise, besonders gegen Ende, | protreptische Töne anschlägt13. Dem Inhalt nach fuhrt sie den schon zuvor (ibid. 4/6) behandelten Gedanken fort, daß die militärischen Erfolge Roms nicht von den vermeintlichen Göttern herrührten; außerdem wird die späte Bekehrung gerechtfertigt, zum Schluß auch schon die skeptische Grundhaltung des Gegners berührt. Aber die philosophischen Sätze der gegnerischen Schrift (rel. 3, 10) erreicht die Romarede bei Ambrosius nicht. Erst n a c h der Prosopopoiie: erst nachdem er der Roma des Präfekten die eigene gegenübergestellt hat, geht der Bischof dazu über, den Wege-Satz des Symmachus zurückzuweisen (Ambros. ibid. 8):

13 Ambrosius wollte also mit der Adresse auch das Ethos der Rede ändern, das er in questus und querela (Ambros. ibid. 4. 7) erkannte. Seine Roma wendet sich nicht an die Kaiser, sondern an die Heiden, und sie jammert nicht, sondern schilt und mahnt: obiurgatio und adhortatio statt miseratio und fletus. Wieder andere Färbung gibt Prudentius seiner Romarede, s. unten Anm. 16.

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'uno', inquit, 'itinerenonpotestperveniri ad tarn grande secretum'. quod vos ignoratis, id nos Dei voce cognovimus ... vos pacem diis vestrisabimperatoribus obsecratis, nosipsisimperatoribus α Christo pacem rogamus ... eqs. Die προσωποποιία wird hier aufgegeben, inquit (sc. Symmachus) ist wieder aus der Person des Autors gesprochen14. Solche Disposition der eigenen Darstellung legt nahe, daß Ambrosius auch die personificatio bei Symmachus an entsprechender Stelle beendet sah, d.h. eben v o r den philosophischen Sätzen, wohl vor den Worten: ergo diispatriis... pacem rogamus, auf die er hier Bezug nimmt. Deutlichere Auskunft erteilt Prudentius. Sie fälltfreilichüberraschend aus und scheint denjenigen modernen Gelehrten Recht zu geben, die Redeschluß erst nach grcmde secretum oder offerimus annehmen. Prudentius zieht das Bild der Personifikation, die Symmachus vorführte, in kräftigeren Farben nach und wiederholt, in eigener dichterischer Bearbeitung, ihre Rede (Prud. c. Symm. Π 80ff.): 80

85

90

enumerat (sc. ille) longi vim temporis, excitat ipsam crinibus albentem niveis et fronte vietam, ore reposcentem querulo sua numina Romam: 'libera sum, liceat proprio mihi vivere more; ecquis erit, qui mille meos reprehenderit annos? uno omnes sub sole siti vegetamur eodem aere, communis cunctis viventibus aura, sed qui sit qualisque deus, diversa secuti quaerimus atque viis longe distantibus unum imus ad occultum: suus est mos cuique genti, | per quod iter properans eat ad tarn grande profundum'. his tarn magnificis tantaque fluentibus arte respondit vel sola Fides ... eqs.

Prudentius schlägt also die philosophischen Sätze (Symm. rel. 3,10) der Romarede zu. Es hilft nichts, sich dagegen zu sträuben. Seine Paraphrase sagt klar, daß er die Rede im Symmachustext jedenfalls nicht vor grande secretum enden

14 Die Einschübe: ut ait, inquit verwendet Ambrosius zwar auch zur indirekten Wiedergabe der Romarede bei Symmachus (Ambros. ibid. 3. 4), aber natürlich nicht innerhalb der direkten Rede, die er seine Roma halten läßt (ibid. 7) - und nur darauf kommt es hier an: inquit zeigt klar, daß diese Rede zuvor geschlossen wurde.

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lassen wollte. Die überleitenden Sätzchen: sed haec otiosorum disputatio est ... eqs., die, wie wir sahen, Redeschluß an dieser Stelle (vor sed) erschweren, übergeht er freilich; sie waren ja auch für eine auf die Sache gerichtete Wiedergabe nicht wesentlich. Das klare Zeugnis eines zeitgenössischen Autors bleibt in jedem Falle bemerkenswert15. Es wird aber durch den Fortgang des Gedichts selbst etwas entkräftet. Denn Prudentius' eigene, jugendliche Roma, die er später (c. Symm. II 640bff.) der Greisin des Symmachus entgegentreten läßt, hält eine lange Rede (655/ 768), deren Thema allein die innere und äußere bzw. militärische Verjüngung Roms bildet, wobei zum Abschluß (760ff.) noch einmal auf Symmachus' Personifikation Bezug genommen wird. Erst auf diese eigene, durch doppelten Hinweis auf die berühmte Prosopopoiia des Gegners geschlossene Romarede folgt dann - ähnlich wie bei Ambrosius - die Widerlegung jener philosophischen Sätze des Heiden (773: Persistit tarnen adfirmans ... eqs.). Insgesamt stellen sich die Verhältnisse bei Prudentius folgendermaßen dar: das Doppelargument von dem einen Himmel (a) und den vielen Wegen (b) aus Symm. rel. 3, 10 wird vom Dichter zuerst in seiner Wiedergabe der Romarede des Gegners referiert (85/90), dann noch einmal, nach Schluß der eigenen Romarede, als Behauptung des Symmachus selbst vorgetragen (773/80: in umgekehrter Reihenfolge: b, a); hierauf wird zuerst a widerlegt (781/842), sodann b abermals wiederholt (843/46) und anschließend ebenfalls zurückgewiesen (847/909). Auffällig bleibt, wie gesagt, bei solcher Disposition, daß die Widerlegung jener Sätze aus rel. 3, 10 auch hier wieder erst n a c h der christlichen Romarede (773ff.) einsetzt - und erst nachdem die erfolgreiche Wirkung dieser Rede auf die Kaiser16 geschildert wurde (769ff. Sic adfata pios Roma exoravit alumnos ... eqs.) | . Es scheint also, als habe Prudentius zunächst die

15 Der Symmachustext, der in den Prudentius-Handschriften (auch in dem spätantiken Codex B, der zwar mit c. Symm. Π 84 abbricht, aber noch die erste Einschaltung des Prosatexts nach II 6 aufweist) abschnittsweise ausgeschrieben wird, gibt keinen brauchbaren Hinweis zur Abteilung der Romarede. Zu Π 83/90 wird kein Prosastück eingeschaltet, erst nach II 648 (vor Beginn der Prosopopoiie bei Prudentius) wird der Passus rel. 3, 9: Roman nuncputemus adsistere ... Senonas reppulerunt mitgeteilt, nach II 780 folgt dann rel. 3, 10: aequum est... tarn grande secretum; die drei dazwischen stehenden Sätze des Symmachustexts: videro... rogamus (rel. 3, 10in) sind ganz ausgelassen. Diese Prosastücke in den Prudentiustext zu setzen, war ein schlimmer Fehler des letzten Herausgebers M. Cunningham (CCL 126, 1966); sie zerreißen das feine Gewebe des Gedichts. Vgl. hierzu die Kritik bei Kl. Thraede: Gnomon 40 (1968) 6824. 16 Denn Prudentius' Roma wendet sich wieder, anders als die des Ambrosius, an die Kaiser (diesmal an die Theodosiussöhne), läßt aber stark panegyrische Töne vernehmen, wodurch sich ihre Rede sowohl von der querela wie von der vituperatio der beiden Vorbilder abhebt. Vgl. oben Anm. 13.

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Äußerungen aus Symm. rel. 3, 9/10 zusammengenommen und der Roma zugewiesen, dann aber, bei der ausführlichen Widerlegung, ganz wie Ambrosius aus dem Gefühl heraus gearbeitet, daß nur das Pochen auf Alter und Erfolg zur Roma passe, nicht jedoch das Philosophieren. Allerdings mag sich ihm die Notwendigkeit zu solcher Stoffteilung auch aus den Erfordernissen der Stoffbewältigung ergeben haben. Da Prudentius in den mehr 'theoretischen' Sätzen der Relatio den geistigen Kern des Widerstands erkannte, entschloß er sich zu einer gründlichen Bearbeitung der ganzen Partie rel. 3, 8/10; sie macht bei ihm den Hauptteil des zweiten Buchs aus und umfaßt fast achthundertfünfzig Verse (67/909). Innerhalb dieser ausgedehnten Argumentation mußte nun wiederum den Schlußsätzen in rel. 3, 10 eingehende Behandlung widerfahren, und man versteht, daß der Dichter sie nicht durch die Rede seiner Roma erledigen lassen wollte; sie läuft bei ihm ohnehin schon über 113 Verse hin (655/768) und wird durch den Preis des Sieges bei Pollentia (696ff.) prall gefüllt. Aufgrund dieser Ökonomie mußte er wohl die Widerlegung der philosophischen Gedanken aus rel. 3, 10 von seiner Prosopopoiie der Roma trennen, selbst wenn er sie bei Symmachus mit ihr verbunden fand. Wenn aus der Sache etwas im allgemeinen zu lernen ist, dann dies, daß bei solchen Personifikationen ihr erster Auftritt, sozusagen die Vorstellung der Person, und der Einsatz ihrer Rede stets scharf bezeichnet werden, daß aber ihr Zurücktreten und Verstummen bisweilen weniger merklich sich vollziehen kann, ohne daß doch diese Grenze geradezu unsicher sein müßte. Aber sie hat geringere Bedeutung als der Anfang, der die Darstellung spürbar hebt und belebt. Wenn der Autor selbst wieder an die Stelle seines Geschöpfs tritt, wird ein gleitender Übergang geduldet, und der Wechsel des Sprechers erregt nicht mehr dasselbe Aufsehen wie zu Beginn. So erkläre ich mir die Art, wie Prudentius die Grenze jener Rede zunächst hinausschiebt, ohne doch dann die eigene Darstellung darunter leiden zu lassen.

XI.

SATURA TRAGICA * Zu Juvenal und Prudentius

1.

Die folgenden Beobachtungen eröffne ich mit einigen Sätzen, die wohl jedem Klassischen Philologen, ja heute gewiß den meisten Menschen sehr fremdartig klingen, so fremd, daß sie wie aus einer anderen Welt herübertönen. Aber die Sätze beschreiben einen Vorgang, der heute in verstärktem Maße die Forscher verschiedener Disziplinen beschäftigt, sie beschreiben ihn nur von einem bestimmten Standpunkt aus. Das, was man heute gern mit dem Begriff der 'Auseinandersetzung' (zwischen Antike und Christentum) bezeichnet oder doch unter diesem Begriff mitversteht, hört sich in den Worten der Kirche folgendermaßen an1: | "Was immer an Wahrheit und Gnade schon bei den Heiden sich durch eine Art verborgener Gegenwart Gottes fand, befreit sie (die Missionstätigkeit der Kirche) von den Ansteckungen des Bösen (a contagiis malignis liberat) und gibt es ihrem Urheber Christus zurück (restituit), der die Herrschaft des Teufels zerschlägt und die vielfältige Bosheit übler Taten in Schranken hält. Was immer an Gutem in Herz und Sinn der Menschen oder in den

* Wiener Studien 103, 1990, 145/77. Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten am 15. Nov. 1988 auf Einladung des Philologischen Seminars der Universität Bonn, später in Düsseldorf, Innsbruck und Wien. ι Cone. Vat. Π, Decr. de activitate missionali Ecclesiae, Ad gentes divinitus 9: Acta Apostolicae Sedis 58 (1966), 958 = Das Zweite Vatikanische Konzil, 3, (LThK 21968), 44. Ich habe diese Sätze des Konzils bereits an anderer Stelle zu gleichem Zweck zitiert (Die vielen Wege und der Eine. Zur Bedeutung einer Bildrede aus dem Geisteskampf der Spätantike: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 31, 1990,9/51, ebd. 23 [in diesem Bande S. 490f.]). Ich wiederhole hier das Zitat und zum Teil auch meine anschließenden Bemerkungen dazu, weil dieser Passus - stärker noch als andere, vergleichbare Konzilstexte - die wesentlichen Gesichtspunkte der Sache zusammenfaßt. Vgl. außerdem etwa Cone. Vat. II, Const, dogm. de Ecclesia, Lumen gentium 13 (Acta Apostolicae Sedis 57, 1965, 17 = Das Zweite Vatikanische Konzil, 1, 1966, 192): "Cum autem Regnum Christi de hoc mundo non sit (cf. Joh. 18, 36), ideo Ecclesia seu Populus Dei, hoc Regnum inducens, nihil bono temporal! cuiusvis populi subtrahit, sed e contra

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XI. Satura tragica

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jeweiligen Bräuchen und Kulturen der Völker keimhaft angelegt sich findet (quidquidboni... seminatum invenitur), wird folglich nicht nur nicht zerstört, sondern geheilt, erhoben und vollendet (sanatur, elevatur et consummatur) zur Verherrlichung Gottes, Beschämung des Satans und Seligkeit des Menschen". Dieser Text stammt aus dem Jahre 1966, er könnte freilich auch im Jahre 400 verfaßt sein. Denn was die Konzilsväter hier sagen, ist ganz aus dem Geist der Kirchenväter gesagt. Hier werden aus moderner Sicht Grundlage, Methode, Ziel des christlichen Umgangs mit den Gütern nichtchristlicher Kulturen formuliert, aber diese Formulierung gilt ebenso für die Grundsätze der Kirche in den ersten Jahrhunderten. Die Lehre von den 'Samen' des Guten in der vorchristlichen Kultur, die zuerst St. Justinus mit Hilfe stoischer Begrifflichkeit zu entfalten versuchte; die Zusammenschau innerer und äußerer, persönlicher und kultureller Conversion, die bei den Kirchenvätern allenthalben anzutreffen ist; ihr theozentrischer Aspekt jeder missionarischen Nutzung der Güter, welche die Ehre Gottes zu verfolgen hat; der bekannte Grundsatz der Väter, daß alles Gute dem Schöpfer gehört und Ihm zurückerstattet werden muß, daß der Christ also im Zuge der Aufnahme und Verarbeitung der Elemente des Guten und Wahren nichts Fremdes sich aneignet, sondern nur nimmt, was ihm als dem Verehrer des wahren Gottes zukommt; die auf Erfahrung gegründete Überzeugung der kirchlichen Autoren, daß der rechte Gebrauch vorchristlicher Kulturgüter immer das Prinzip der Reinigung und Befreiung in sich schließt, weil die Teile des Guten und Schönen bei heidnischen Völkern nur in Verbindung mit bösen und unreinen Beimengungen vorkommen; die Anschauung überhaupt, daß christliche Nutzung dynamisch ist in Hinsicht ihrer Wirkung gegen das Böse; und schließlich die Erkenntnis, daß die versprengten Elemente des Guten, indem die Kirche sie sammelt und auf Christus hin ausrichtet, nicht nur | bewahrt, sondern "geheilt, erhöht, vollendet" oder, wie das Konzil

facilitates et copias moresque populorum, quantum bona sunt, fovet et assumit, assumendo vero p u r i f i c a t , r o b o r a t , e l e v a t . Memor est enim se cum illo Rege colligere debere, Cui gentes in hereditatem datae sunt (cf. Ps. 2, 8) et in Cuius civitatem dona et munera adducunt" (cf. Ps. 71 bzw. 72, 10; Is. 60, 4/7; Ape. 21, 24). Besonders hinzuweisen wäre noch auf eine Stelle in der Pastoralkonstitution (Const, pastoral. De Ecclesia in mundo huius temporis, Gaudium et spes 58: Acta Apostolicae Sedis 58, 1966, 1079 = Das Zweite Vatikanische Konzil, 3, 1968, 466), wo in gleichem Zusammenhang von den "animi ornamenta dotesque cuiuscumque populi" die Rede ist. Eine Bemerkung, die sich schön auf die Poesie der Völker, also auch auf die antike Dichtung, beziehen läßt.

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an anderer Stelle sagt2, "erhellt" werden: alles das sind Leitgedanken der frühkirchlichen Chresis, und sie sind allesamt in dem zitierten Text enthalten, sei es andeutungshaft, sei es expressis verbis3. Es ist nun meine These, daß sich der Vorgang der 'Auseinandersetzung' auch als historisches Phänomen der Spätantike viel weiter erschließt, wenn wir ihn unter den Bedingungen, von den Grundsätzen aus betrachten, die in dem zitierten Text niedergelegt sind. Ich meine, daß der moderne Betrachter, wenn er sich auf die Grundsätze der frühkirchlichen Denker und Künstler einläßt, wenn er das Material zunächst gleichsam mit ihren Augen anschaut und an ihren Absichten mißt, zu klarerer Auffassung vom Wesen dieses ganzen Vorgangs gelangt, ohne doch auf eine wahrhaft kritische und wissenschaftliche Haltung verzichten zu müssen. Wenn das allerdings richtig sein soll, dann muß es Beweise dafür geben, daß jene Grundsätze von den frühkirchlichen Autoren beachtet wurden, daß es folglich lohnend ist, eine aus den Vätern selbst gewonnene Hermeneutik anzuwenden. Es muß praktische Beispiele geben in großer, von Jahrhundert zu Jahrhundert stets wachsender Zahl. Es ist wie bei Entzifferung einer unbekannten Schrift: stimmt das angenommene System der Entzifferer, dann müssen sich immer mehr Wörter, Sätze, Zeilen lesen lassen, ist das nicht der Fall, besteht der Verdacht, daß die Theorie falsch ist. Ich wende mich heute einem Beispiel zu, das seine Schwierigkeiten hat, aber auch seine Reize. Es geht um Juvenal und Prudentius: um die Nutzung juvenalischer Satura durch den christlichen Dichter.

2.

Juvenal schrieb in trajanisch-hadrianischer Zeit, eine Wirkung war ihm aber zunächst nicht beschieden. Seine Satiren scheinen für zweihundert Jahre wie vergessen. Doch in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts ändert sich das Bild: er wird Modeautor, vielgelesen in Kreisen der römischen Nobilität4; der

2 Ad gentes divinitus 11 (o. Anm. 1), 960 bzw. 50. 3 Ch. Gnilka, ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. I, Der Begriff des "rechten Gebrauchs", Basel-Stuttgart 1984, passim. Zum Begriff des "Befreiens" ebd. 93242, zum "Reinigen" 52f. 78. 4 Ammian. 28, 4, 6: etprimo nobilitatis ... digeremus errata ... (14) quidam detestantes ut veneria doctrinas Iuvenalem et Mariwn Maximum curatiore studio legunt, nulla volumina praeter haec in profundo otio contrectantes: quam ob causam non iudicioli est nostri. Aus der römischen Nobilität kam jener Lucillus, den der Christenfeind Rutilius Namatianus 1, 603/06 als Satirendichter nach der Art Juvenals rühmt; vgl. unten Anm. 50.

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XI. Satura tragica

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Vergilkommentator Servius zitiert ihn über siebzigmal5, sein | Schüler Nicaeus, Heide wie der Lehrer, erstellt eine kritische Ausgabe und einen Kommentar6. Servius stand dem Kreise der Symmachi und Nicomachi nahe, und man könnte vermuten, daß die Wiederentdeckung Juvenals den kulturellen Bestrebungen der heidnischen Senatsaristokratie, also letzten Endes dem geistigen Widerstand gegen das Christentum, verdankt wird7. Jedenfalls war Juvenal damals eine lebendige Größe der paganen Literatur. St. Augustinus zitiert einmal eine längere Passage aus der Weibersatire, das Zitat mit der Aufforderung einleitend: Audiant satiricum suum garriendo vera dicentem ...: "Sie (die Heiden) mögen i h r e n Satiriker hören, der im Plauderton die Wahrheit sagt ..." usw.8. Wenn daher Prudentius demjenigen seiner Werke, das gegen die heidnische Restauration gerichtet ist, dem Gedicht Contra Symmachum, ein gewisses juvenalisches Gepräge gab, so erlaubt schon diese bloße Tatsache eine bestimmte Deutung. Wir dürfen auf Prudentius anwenden, was einer der großen Väter über den Apostel Paulus sagt9: "Er hatte von dem Helden David gelernt, den Händen der Feinde das | Schwert zu entwinden und das Haupt

5 P. Wessner, Lucan, Statius und Juvenal bei den römischen Grammatikern, Philol. Wochenschr. 49 (1929), 296/303. 328/35. 6 Unter der Voraussetzung, daß Nicaeus auch der (jedenfalls heidnische) Verfasser des commentum ist, vgl. U. Knoche, Die römische Satire, Göttingen 41982 = Studienhefte zur Altertumswissenschaft 5, 95. Die Frage wurde erneut geprüft von A. Bartalucci, II "Probus" di Giorgio Valla e il "commentum vetustum" a Giovenale: Stud. It. Fil. Class. N.S. 45 (1973), 233/57. Er gelangt zu dem Ergebnis, daß der Kommentator am Ende des 4. Jh. bereits einen Vorgänger gehabt haben muß, den er aufarbeitet (247): als Verfasser komme jener Probus in Betracht, an den Lactanz Briefe gelehrten Inhalts schrieb (Hier. vir. ill. 80 im Zusammenhang mit Damas. Hier, epist. 35, 2: CSEL 54, 266). Dabei wird dem Juvenalzitat (sat. 10, 365f.) bei Lact. inst. 3, 29, 17 (CSEL 19, 270f.) besondere Bedeutung zugemessen (253/56). Die 'Wiederentdeckung' Juvenals rückte demnach an den Anfang des Jahrhunderts. 7 Servius ist als junger Grammatiker Teilnehmer am Saturnaliengespräch bei Macrobius (vgl. Macrob. Sat. 1, 2, 15; 1, 24, 8; 3, 18, Iff.), wo einmal auch Juvenal (sat. 1, 15) anklingt (Macrob. ebd. 3, 10, 2). Vgl. F. Klingner, Römische Geisteswelt, München 51965, 540f. Eine Juvenalreminiszenz bei Symmachus selbst: epist. 4, 34, 3 (Juv. sat. 1, 18): MGH a.a. 6, 1, p. 110, 27, ed. Seeck = Symmaque, Lettres, ed. Callu, 2 (Paris 1982), 117. 8 Aug. epist. 138, 3, 16 (CSEL 44, 143) - garriendo vera dicentem ist wohl mit Anspielung auf Horaz serm. 1,1, 24f. gesagt: quamquam ridentem dicere verum Quid vetat? Hier zitierter Juv. sat. 6, 287/95. Auf sat. 1,49f. wird inciv. 2, 23 (p. 85, Z. 21/23 Dombart/Kalb5) angespielt. Diese Testimonien bei H. Hagendahl, Augustine and the Latin Classics 1, Göteborg 1967, p. 193, Nr. 426. 427; vgl. ebd. 2, p. 477. In den grammatischen 'Regulae' (GL 5, 497 Keil) steht ebenfalls ein Stück aus der Weibersatire (sat. 6, 471/73), dazu sat. 5, 8. Vgl. G. Highet, Juvenal the Satirist, Oxford Ί954, 180ff., bes. 185, mit den Anmerkungen ρ. 296ff.; zur Frage der Juvenalkenntnis bei früheren Vätern (Tertullian und Lactanz) 183f. 9 Hier, epist. 70, 2, 4 (CSEL 54, 702); vgl. Chresis I (o. Anm. 3), 16. 128332. Der Sache nach eine eindringliche Vorstellung dieses (polemischen) Zwecks der Chrdsis bietet Hil. trin. 12, 20 (CCL 62 A, 593f.).

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des hochmütigen Goliath mit dessen eigenem Schwert abzuschlagen". Prudentius' Juvenalbenutzung gehört zur großen Aufgabe der Apologie mit den Waffen der antiken Bildung, zur Pflicht der retorsio, welche die Väter immer wieder einschärfen. Das ist der Eindruck, der sich schon bildet, wenn man nur von weitem auf die Gegebenheiten blickt. Doch sehen wir genauer zu! Worin besteht denn eigentlich der Charakter des 'Juvenalischen', den gewisse Partien des prudentianischen Gedichts an sich tragen? Das Gedicht ist gegen den Redner Q. Aurelius Symmachus gerichtet. Als praefectus urbi und Sprecher der heidnischen Minderheit im Senat war Symmachus im Jahre 384 vor den jugendlichen Kaiser Valentinian II. getreten. Er hatte die Wiederaufstellung des Altars und der Statue der Göttin Victoria im Senatshaus verlangt und die Annullierung der Gesetze, die dem heidnischen Kultus die finanziellen Grundlagen entzogen. Zur Zeit, da Prudentius sein Gedicht abschloß, im Jahre 402 oder 403, lag zwar dieses Ereignis fast zwanzig Jahre zurück, und die politischen Verhältnisse hatten sich zugunsten des Christentums gefestigt, aber die Rede, die Symmachus damals gehalten hatte, blieb hochberühmt und tat offenbar noch immer ihre Wirkung10. Diese Rede will Prudentius widerlegen, das Manifest des Heidentums entkräften. Sein Werk umfaßt zwei Bücher in Hexametern, denen jeweils ein metrisch selbständiges Stück, eine 'Praefatio', vorangestellt ist. Das erste, kürzere Buch soll die Grundlagen schaffen: es behandelt Ursprung und Entwicklung des heidnischen Götterkults sowie Roms Bekehrung zum Christentum unter Theodosius I.; das zweite Buch mit seinen über elfhundert Versen bietet dann die gründliche, am Wortlaut des Texts orientierte Widerlegung der Relatio des Symmachus. Daß Teile des Gedichts, besonders die Schilderungen des ersten Buchs, an Juvenal erinnern, hat man immer gesehen". Prudentius erklärt hier die Entstehung und Verbreitung des Götzendienstes | nach Art des Euhemeros,

10 Symm. rel. 3: MGH a.a. 6, 1, 280/83. Dazu der Kommentar von D. Vera (Commento storico alle relationes di Quinto Aurelio Simmaco, Pisa 1981, 12/53). Mit den Erwiderungen des hl. Ambrosius (epist. 17. 18, dazu 57): R. Klein, Der Streit um den Victoriaaltar, Darmstadt 1972; J. Wytzes, Der letzte Kampf des Heidentums in Rom, Leiden 1977 ( = EPRO 56), 200/318 (kommentiert). π So urteilt etwa M. Lavarenne in der Prudentiusausgabe (III, Paris 2 1963, 105): "Mais il y a dans le premier livre une verve qui fait penser ä Juvenal...". Vgl. W. Ludwig, Die christliche Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Gattungen, Entretiens (Fondation Hardt) 23, Genf 1977, 303/72 (31 lf.): Contra orqtionem Symmachi I enthält "eine satirische Beschreibung der Religion des alten Rom ...". Die Ähnlichkeit ist allerdings nicht auf das erste Buch beschränkt. Zu Juvenal in der Götterpolemik des Laurentius- und des Romanushymnus (Prud. per. 2. 10) vgl. jetzt A.-M. Palmer, Prudentius on the Martyrs, Oxford 1989,180/84. Stimmen aus der früheren Literatur bei A. Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o. J. (1958), 2922.

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also durch die Lehre, alle Götter seien Menschen gewesen, Herrscher vor allem, die zu Lebzeiten oder nach ihrem Tode kultische Verehrung erlangt hätten. Sein Euhemerismus weist aber den speziellen Zug auf, daß die Vergötterten nicht verdienstvolle Männer waren, sondern allesamt Schurken und Betrüger, welche die einfältigen Menschen der Vorzeit übertölpelten12. Er gliedert seine Schilderung zunächst nach Weltaltern und gleitet dann geschickt zur Herrscherapotheose der römischen Kaiserzeit hinüber13. Die Darstellung ist erfüllt von kräftigen Bildern und soll die zunehmende Entartung römischen Lebens zeigen, zu der dann die Wende unter Theodosius d. Großen in lichtvollen Kontrast tritt. Was also, ich wiederhole die Frage, ist das Juvenalische daran?

3.

Zunächst kann man das Versmaß anführen. Der Hexameter ist das Versmaß der Satire seit den späteren Büchern des Lucilius, und durch den Vers steht Prudentius der römischen Satura jedenfalls näher als kirchliche Prosaschriftsteller wie Tertullian und St. Hieronymus, die man heute bisweilen | als Satiriker bezeichnet14. Aber der Hexameter ist eben auch der Vers anderer Gattungen, des Epos und des Lehrgedichts, und auch sie haben das prudentianische Gedicht mitgeprägt.

12 Ähnlich Firm. err. 9/12 (p. 99/105 ed. Turcan, Paris 1982). Auch bei Lactanz fehlt diese Sicht nicht, aber er rechnet doch mit verschiedenen Motiven der Vergötterung. Aufschlußreich inst. 1, 15, 2, wo drei Gründe angenommen werden: einfältiges Staunen über die vermeintliche virtus der Herrscher, Schmeichelei und Dankbarkeit für kulturstiftende Wohltaten. Prudentius hat im Sinne seines Ziels (Heidentum ist barbarisch: 1, 449ff.) gestrafft: der polytheistische Götterhimmel verdankt seine Entstehung einem grandiosen Volksbetrug; er war möglich, weil sich die barbarischen, rohen, dummen Vorfahren den Götzendienst aufschwatzen ließen (1, 44. 55. 79/83. 99f. 145f.), der dann, nachdem er einmal Fuß gefaßt hatte, zäh tradiert wurde. Der Dichter bereitet so den Boden für die kommende Auseinandersetzung mit Symmachus im zweiten Buch. Der Wert, der für Symmachus am höchsten steht, wird bereits im Vorfeld zerstört: der mos patrius (1, 154) ist geradezu Ergebnis der Dummheit der Vorfahren (1, 146 ineptia vulgi) und der verbrecherischen Schlauheit ihrer Verfiihrer. 13 Eine genauere Darstellung der kompositorischen Linie hoffe ich an anderer Stelle geben zu können. Hier erinnere ich nur daran, daß Weltaltermythos und Idee der Depravation gerade zu Beginn der Weibersatire Juvenals (sat. 6, 1/24) das gedankliche Schwungrad bilden. 14 David S. Wiesen, St. Jerome as a Satirist, Ithaca, N.Y. 1964, passim, bes. 1/19; R.F. Boughner, Satire in Tertullian, Diss. John Hopkins University, Baltimore 1975 (University Microfilms Ann Arbor 1980) passim, bes. 7/34; Deborah Fraioli, The importance of Satire in Jerome's Adversus lovinianum as an argument against the authenticity of the Historia Calamitatum: MGH, Schriften 33, 5 (Fälschungen im Mittelalter, Teil V), Hannover 1988, 167/200. Dazu jetzt C.J. Classen, Satire - the elusive genre, Symbolae Osloenses 63 (1988), 95/121, bes. die abwägenden Bemerkungen über Hieronymus ebd. 106/08.

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Gesichert wird die Juvenalbenutzung durch einzelne Formteile, die Prudentius übernommen hat15. Aber sie sind kaum auffällig genug, um dem Gedicht ihren Stempel aufzudrücken. Wenn etwa Juvenal sagt, nicht besser als die vornehme Dame sei die Frau, silicem pedibus quae content atrum (sat. 6, 350), und wenn Prudentius schreibt, zum Christentum bekehre sich der Senator quique terit silicem variis discursibus atram (1,581), so sind das zwei ähnliche Periphrasen für den Ausdruck Trau (Mann) aus dem Volk', aber Fälle dieser absichtsvollen 'arte allusiva' - wenn man sie als solche gelten läßt bestimmen nicht den Charakter des Gedichts. Bedeutender sind schon die Ähnlichkeiten in der Thematik der juvenalischen Gesellschaftskritik und der prudentianischen Kritik heidnischen Lebens16. Sie betreffen auch die Religion (Juvenal ist Verfasser einer Gebetssatire, und er verabscheut die tiergestaltigen Gottheiten Ägyptens). Aber der Satiriker arbeitet mit den allgemeinen Mitteln paganer Moralphilosophie, vieles findet sich ebenso bei Seneca. Und Prudentius setzt die Argumente der christlichen Apologetik ein, die sich längst auch der Waffen der antiken Moralphilosophie bemächtigt hatte17. Man kann also nicht unbedingt | sagen, daß eine gewisse Berührung im Stofflichen das spezifisch Juvenalische bei Prudentius ausmache. Gemeinsam ist den Dichtern ferner die Konzentration auf die Darstellung römischen, d.h. stadtrömischen Lebens. Juvenal bewegt sich in der Stadt Rom wie sein Freund Martial, und es ist eine Ausnahme, wenn er sich einmal (in der 15. Satire) mit einem Ereignis in Ägypten befaßt. Auch Prudentius gibt seinem Gedicht eine lokale, stadtrömische Szenerie18. Und bei beiden Dich-

15 Am besten immer noch Sister Stella Marie, Prudentius and Juvenal: Phoenix 16 (1962), 41/52. Ein Sonderfall ist behandelt JbAC 7 (1964), 52/57 [in diesem Bande S. 1/8]. 16 Auch dazu Stella Marie (o. Anm. 15). 17 Vgl. etwa M. Lausberg, Untersuchungen zu Senecas Fragmenten, Diss. Münster 1969 = Untersuchungen zur antiken Lit. u. Gesch. 7, 1970,211/25 zu Seneca de superst. frg. 34. 35. So gehört der Spott über den Isiskult bei Juvenal sat. 6, 532/34 und Prud. c. Symm. 1, 629f. in einen weiteren Zusammenhang, der auch durch Sen. frg. 35, Min. Fei. 22, 1 und Lact. inst. 1, 21, 20 faßbar wird: s. Lausberg 222/25 (wo Prudentius fehlt). Allerdings rücken Juvenal und Prudentius in diesem Fall doch enger zusammen, weil beide der Gedanke zu verbinden scheint, daß die Priesterschaft selbst den Kult nicht ernst nehme (wenn die Wendung Juv. sat. 6, 534 plangentis populi ... derisor Anubis so richtig verstanden ist!). Prudentius jedenfalls schärft diesen Gedanken, indem er den Isiskult mit dem Mimus und die kahlköpfigen Isispriester (Juv., Lact, ebd.; carm. c. pag. 98f.) mit den Clowns auf der Bühne (ThLL 3, 194, 71ff. s.v. calvus: "figura comoediae, saturae") gleichsetzt, die zudem selbst lachen müssen über das, was sie darstellen: (Isidis) Mimica ridendaque suis sollemnia calvis (c. Symm. 1, 630). Hier tritt also der Aspekt des Lächerlichen im Götterkult hervor: s. dazu unten S. 251f. [167f.], bes. Anm. 71. 18 In der Schilderung der Kindheit im heidnischen Rom (1, 197ff.), auch dort, wo die Wirkungen der 'Edikte' des Theodosius dargestellt werden (1, 506ff.)> zeichnet sich der stadtrömische Charakter des Werks am schärfsten ab. Erwähnt werden etwa die νια sacra, der Doppel-

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tern fällt die Wahl nicht zufällig auf Rom. Nicht nur, weil Juvenal in Rom lebt, schildert er römisches Leben, sondern weil dort das Laster in unerträglicher Weise zutage tritt: nam quis iniquae Tarn patiens urbis ... (sat. 1, 30f.). Für Prudentius ist Rom das Haupt und Bollwerk des Heidentums. Das Thema wird gleich im ersten Vers angeschlagen: credebam vitiis aegram gentilibus urbem ... (1, 1). Die Stadt wird personifiziert vorgestellt, vom Kaiser angeredet und kommt dann im zweiten Buch mit einer langen Rede selbst zu Wort19. Es geht im ganzen Gedicht um die urbs. Weiter: Zu Prudentius' Zeit wurde auch die Invektive dichterisch geformt, und zwar durch Claudians Gedichte In Rufinum und In Eutropium. Und auch hier hat die juvenalische Satire gewirkt20. Aber die Invektiven Claudians sind von Juvenals Satiren, stärker noch vom Prudentiusgedicht dadurch geschieden, daß sie den persönlichen Angriff gegen eine Gestalt der zeitgenössischen Politik zum Wesenskern haben21. Prudentius und Juvenal | wiederum sind darin einander ähnlich, daß sie die Verkehrtheit römischen Lebens schlechthin anprangern. Das Typische verbindet beide. Zwar nennen beide auch historische Personen, aber die Beispiele sittlicher Entartung gehören der Vergangenheit an. Bei Juvenal ist das taktisch-künstlerisches Prinzip22, bei Prudentius ergibt sich das Verfahren aus seiner Schau der tatsächlichen Verhältnisse. Symmachus, dessen Name im Titel steht, wird von ihm nirgends diffamiert, vielmehr als Zierde römischer Eloquenz hoch gerühmt, sogar über Cicero gestellt23. Die teuflische Gefährlichkeit seiner Rede wird bezeichnet, der Redner

tempel der Venus und der Roma (1, 218/22), die Gräber an den Ausfallstraßen Roms, an der via 403/05), das Forum Romanum und das Kapitol (1, 534), der Tarpejische Felsen (1, 548), überhaupt die vielen Göttertempel in Rom (1, 190f.), dann die Märtyrerstätten vor den Mauern Roms (1, 514f.). 19 Prud. c. Symm. 1, 412ff.; 2, 649ff. 20 Th. Birt, Zwei politische Satiren des alten Rom, Marburg 1888 (über Juv. sat. 4 und Claudian in Eutropium); vgl. auch Chr. Gnilka, Dichtung und Geschichte im Werk Claudians, Frühmittelalt. Stud. 10 (1976), 96/124 (101f.), und M. Citroni, Giovenale e Virgilio in Claudiano, Eutr. 166/77, Filologia e forme letterarie. Studi offerti a F. Deila Corte 4, Urbino o. J. (1988), 253/59... 21 Über das Wesentliche der Invektive s. S. Köster, Die Invektive in der griech.-röm. Literatur, Meisenheim 1980 ( = Beiträge z. Klass. Philol. 99), 39. Köster hat die claudianischen Gedichte in seine Darstellung miteinbezogen, Prudentius' Werk aber ebensowenig wie die Satire (vgl. 27f.). Die Bezeichnung "religiöse Invektivik" für das prudentianische Gedicht und andere Erzeugnisse antipaganer Poesie (S. Döpp, Philol. 132, 1988,40f.) verdeckt einen Unterschied, der im Falle des Prudentius sicher aufrecht erhalten werden muß. Vgl. auch Classen (ο. Anm. 14) 11623. 22 Juv. sat. 1, 147/71. 23 Prud. c. Symm. 1, 632ff.: Ο linguam miro verborum fontefluentem...

Latina und an der via Salaria (1,

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selbst als Verirrter behandelt und der Fürbitte gewürdigt24. Wo Prudentius persönliche Angriffe führt, gelten sie den sogenannten Göttern, darunter den vergöttlichten römischen Kaisern und den divinisierten Angehörigen ihres Hauses. Wieder zeigt sich eine gewisse Nähe zu Juvenal. Der Satiriker schaut von der trajanisch-hadrianischen Zeit aus zurück auf das erste Jahrhundert, besonders auf die dunkle Zeit Domitians25, wie Prudentius von der theodosianischen | auf die gesamte oder fast die gesamte römische Kaiserzeit26. Doch gibt es eben diesen wesentlichen Unterschied: Juvenal sieht nirgendwo eine Besserung der Mißstände, die ihn bewegen, im Gegenteil: jetzt, da er schreibt, hat das Laster einen Punkt erreicht, von dem aus es kein Vorwärts mehr gibt und kein Zurück (sat. 1, 149: omne inpraecipiti Vitium stetit). Die neue Ära ermöglicht es ihm lediglich, die Namen, auch die Kaisernamen, aus der Vergangenheit zu wählen, die er braucht, um dem Typischen konkrete Gestalt zu geben. Insofern ist Juvenals Schau in die Vergangenheit, wie bemerkt, nur äußerlich motiviert. In Wahrheit hat er die gegenwärtigen Zustände vor Augen27. Pru-

24 Die Praefatio des ersten Buchs deutet das Geschehen Act. 28, 1/6 als Analogie zur Gefahr, die der Kirche durch Symmachus droht: er ist die Giftschlange, seine Rede ihr Biß. Aber mit dem Schlußgebet (c. Symm. 1 praef. 80/89) erfüllt Prudentius das Gebot der Feindesliebe {orale pro persequentibus et calumniantibus ras, Mt. 5, 44; vgl. Act. 7, 60: Stephanus), und er entschuldigt den Gegner, wie Christus am Kreuz diejenigen entschuldigte, die Ihn gekreuzigt hatten: Pater dimitte Ulis; non enim sciunt quidfaciunt (Ix. 23, 34, von den modernen Herausgebern als Interpolament angesehen, von den Vätern als echt zitiert); vgl. 1 Cor. 2, 8ff.; Act. 3, 17. Das ganze Gebet ist tiefernst, von christlicher Religiosität durchdrungen: die Haltung zum literarischen, geistigen und kulturpolitischen Gegner stellt etwas Neues dar, ist von der antiken Invektive tief geschieden. Die Bezeichnungen inscius, indocilis (1 praef. 86f.) und sagax eloquii caput (ebd. 75), orator catus (2, 10) widersprechen einander natürlich nicht. Es geht um den Geist der Welt und den Geist, der von Gott stammt (1 Cor. 2, 12): "Keiner der Fürsten dieser Welt hat sie (die Weisheit Gottes) erkannt" (1 Cor. 2, 8). 25 Neben der domitianischen Ära (vgl. bes. sat. 4) bilden die tempora dira unter Nero (sat. 10, 15/18) ein Hauptziel der juvenalischen Satire (vgl. sat. 4, 136/39; 10, 306/09; 8, 211/30; 12, 129 über Nero): calvus Nero steht appellativisch für Domitian (sat. 4, 38). Es folgt das Paar Claudius und Messalina (sat. 6, 115ff.; 10, 329/45; 14, 330f.; 5, 146/48; 3, 238); auch Claudius' Apotheose wird ins Lächerliche gezogen (sat. 6, 620/23). Satirische Hiebe treffen ferner Tiberius (sat. 10, 93f. und die ganze Passage 10, 56ff. über Sejanus), Caligula (sat. 6, 614/18) und Otho (sat. 2, 99/109). 26 Auf Augustus und Hadrian läßt er 1, 278f. eine absichtsvoll gemischte Reihe folgen: Traianus, Nerva, Severus, Titus, Nerones. Gerade daß er auch die 'guten' Kaiser in die Kritik einbezieht, hat Sinn. Denn seine Kritik geht von einem Standpunkt aus, der alle mehr oder weniger im gleichen Lichte erscheinen läßt. Theodosius bildet den scharfen Gegensatz als Befreier von der Dämonenherrschaft (1, 506ff., bes. 524/43); schwächer hebt sich Constantin heraus (1, 467/95): er ist Befreier der römischen Aristokratie von der Tyrannei des Maxentius; später, im zweiten Buch, treten die Theodosiussöhne hinzu. 27 Auch sat. 7, Iff. widerspricht dem nicht: Et spes et ratio studiorum in Caesare tantum ... Denn die Misere fiir die geistigen Berufe ist eben eine allgemeine, und nur Hadrian selbst gibt Anlaß zur Hoffnung.

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dentius dagegen sieht mit der Annahme der christlichen Religion einen tatsächlichen, tiefen Wandel bewirkt. Dieser Wandel ist zwar durch Symmachus gefährdet, aber er ist vorhanden. 4.

Alles zusammen genommen: der Vers, die formalen Gleichheiten, die Ähnlichkeit in der Thematik, die römische Szenerie, das Typische und die Blickrichtung in die Vergangenheit, all das hat gewiß Gewicht, macht aber noch kaum eine wesentliche Ähnlichkeit aus, berechtigt uns noch nicht, im Prudentiusgedicht den schöpferischen Gebrauch juvenalischer Satura zu erkennen. Das Wesentliche muß eben mit dem Wesen juvenalischer Dichtung zusammenhängen. Und damit stellt sich die schwierige Frage nach dem, was die Eigenart Juvenals ausmacht. Erst dann läßt sich die zweite Frage beantworten: inwiefern wir sie im prudentianischen Gedicht wiedererkennen dürfen. Erstere Frage ist deshalb schwierig, weil Juvenals Satiren in sich und | untereinander verschieden sind, so verschieden, daß einst Otto Ribbeck auf den Gedanken verfallen konnte, gleich fünf der späteren Satiren für unecht zu erklären: nicht Juvenal sei ihr Verfasser, sondern ein Declamator, oder, um es mit Ribbecks Worten zu sagen: "kein Sittenmaler, sondern ein Saalbader"28. Wenn auch Ribbecks Ergebnisse in der Hauptsache verfehlt sind, so lenken doch seine scharfsinnigen Beobachtungen auf die Unterschiedlichkeit des juvenalischen Werks. Andrerseits steht fest, daß etwa Stücke wie die Romsatire oder die Weibersatire, die längste, einen bestimmten Stilwillen zu erkennen geben und daß Juvenals Satura insgesamt sich von der horazischen Satirendichtung abhebt. Klar fassen lassen sich die Dinge aber immer nur durch Begriffe, und so werden wir auch in dieser Sache nach einem Begriff Ausschau halten müssen, der tauglich ist auszudrücken, worin das Wesen - oder sagen wir vorsichtiger: ein Wesenszug - juvenalischer Poesie besteht. Ich wähle den Begriff der 'satura tragica'. Er stammt von Joseph Justus Scaliger29 und begegnet gelegentlich auch in neuerer Literatur30. Aber nur einer hat ihn sich mit Entschiedenheit zu eigen gemacht: Karl Friedrich Hein-

28 O. Ribbeck, Der echte und der unechte Juvenal, Berlin 1865, 32. 29 Tanaquil Faber, Prima Scaligeriana nusquam antehac edita, Ultrajecti 1670,65: "Juvenalis excellens, & ou il y a de belles choses. Satyrae tragicae. Miror autem cur se dicat scripsisse stylo Lucilii, nam nihil est dissimilius, & phrasi Horatianae". 30 Ch. Witke, Latin Satire, Leiden 1970, überschreibt ein Kapitel "Juvenal and Saturae Tragicae" (113ff.), verfolgt aber innerhalb seiner Darstellung das 'Tragische' nicht weiter. In

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rich, der erste Latinist der Universität Bonn. Er wertet die erste, programmatische Satire als vollkommenen Ausdruck des "genus tragicum comico mixtum, quod totum excoluit Juvenalis" und kommt im Laufe seines Kommentars öfters auf diese Wesensbestimmung zurück31. Juvenal sei Vertreter einer "tragischen Satire", er habe "an vielen Stellen bewundernswürdige Züge eines acht tragischen Charakters"32. Scaligers Begriff sei "eine Bezeichnung, die seinen (Juvenals) Hauptcharakter trifft, und zugleich sein wahres Verhältniss zum Horaz überraschend aufklärt". Freilich besitze Juvenals Satire auch stark komische Züge. Daher sei ihr Charakter | "gemischt"33. Gelegentlich wird auch ein Beispiel des "comicotragicum" bei Juvenal notiert. Der Kommentator spricht vom "schauderhaften Eindruck" gewisser Stellen34 und urteilt: "Seine (Juvenals) Schönheiten sind das Schrecklichschöne, seine Grazien die φοβεραι χάριτες" 35 . Heinrich hat sich seine Anschauung des Tragischen offenbar in Anlehnung an den erklärten Autor und an römische Kunstauffassung überhaupt gebildet. Tragicus ist in römischer Zeit Stilbegriff für das Erhabene36, hat aber darüber hinaus zwei weitere (übertragene) Bedeutungen: die des Trauervollen (itragicus gleich luctuosus) und die des Schauderhaften (tragicus gleich horrendus). Das sind die beiden Seiten des έλεεινόν und des φοβερό ν der klassischen Tragödie (Aristot. poet. 1449b. 1453b), letztere aber in scharfer, einseitiger Beleuchtung, mehr im Lichte des μιαρόν gesehen37. Die Bedeutung des Schauderhaften, Schrecklichen, Widernatürlichen, Ungeheuerlichen entwik-

dem Sammelband von E.S. Ramage, D.L. Sigsbee, S.C. Fredericks, Roman Satirists and their Satire, Park Ridge N.J. 1974, finden sich (168f.) ein paar recht passende, aber knapp und allgemein gehaltene Bemerkungen über Juvenal als Tragiker und Epiker unter den satirischen Dichtern (wie er sich selbst verstanden haben soll). 31 K.F. Heinrich, Juvenalausgabe (vom Sohn Karl Berthold herausgebracht, Bonn 1839), 1 (Text), 3 zu sat. 1. 32 Heinrich (o. Anm. 31), 2 (Kommentar), 13 in der Einleitung "Von der Satire". 33 Heinrich 2, 18. 34 Heinrich 2, 93f. zu Juv. sat. 2,29/33; 345 zu Juv. sat. 8, 220: "Das comicotragicum der Juvenalischen Satire wird an dieser Stelle recht deutlich." 35 Heinrich 2,22f. Vgl. Demetr. eloc. 130: "Ομηρος ... παίζων φοβερώτερος. Zu φοβερός als Stilbegriff s. auch Dion. Hal. Lys. 13 und Pomp. 3, 21: φοβερόν ... τό θουκυδίδου (sc. κάλλος). 36 Vgl. etwa Cie. Brut. 203: (Sulpicius) grandis et, ut ita dicam, tragicus orator; de or. 1, 219: tragoediae ('geschwollene Reden'). Weitere Belege zu dieser sprichwörtlichen Verwendung im Kommentar von Leeman-Pinkster-Nelson (Cie. de or., Bd. 2, Heidelberg 1985, 142 z.St.); vgl. auch C.O. Brink, Horace on Poetry 2, Cambridge 1971, 178, zu Hör. ars 94. 37 Zur ersteren vgl. Aug. conf. 3, 2, 2: luctuosa et tragica, sowie die ganze anschließende Erörterung über den dolor des mitleidenden Zuschauers der theatrica spectacula. In der verengten Bedeutung 'Gedicht traurigen Inhalts' geht tragoedia dann ins Mittelalter weiter, s. J.H. Waszink, Die griechische Tragödie im Urteil der Römer und der Christen, JbAC 7 (1964), 139/ 48 = Opuscula selecta, Leiden 1979, 33/42, am Schluß.

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kelt sich unter dem Eindruck der Gegenstände tragischen Spiels und Lesestoffs. Bezeichnend ist das Martialepigramm 10, 4. Wer einen Oedipus liest, heißt es dort (also von Vatermord und Inzestehe mit der Mutter), einen Thyestes (also von endokannibalistischer Mahlzeit und Inzestehe mit der Tochter), wer Dramen liest wie die Medea (die ihren kleinen Bruder zerstückelte, ihre Kinder tötete, allerlei furchtbare Zauberei verübte) und die Scylla (die ihren Vater verriet), der liest nur monstra. Die Bedeutung des Monstruosen haftet daher dem Wort tragicus an, bis in die Spätantike. Sceleris tragici exemplum, sagt Livius vom Vatermord; tragica fercula heißen kannibalistische Mahlzeiten bei Tertullian. Das Wesen der Tragödie besteht nach St. Cyprian darin, die Verbrechen der Vorzeit aufzugreifen und | darzustellen: cothurnus est tragicus prisca carminefacinora recensere. Lactanz nennt die tragischen Stoffe cotumata scelera, und daher sind für ihn die "ungeheuren Verbrechen" (inmania facinora) des täglichen Lebens "Tragödien". Grande aliquod ... crimen bildet schließlich auch für Prudentius das Sujet tragischen Spiels38. Inwieweit diese Charakteristik zutrifft, können, eher als die griechischen Dramen, Senecas Tragödien lehren, die das Böse und Gräßliche in einer neuen Weise hervorbringen39. Wie nun überhaupt die Darstellung des Schauerlichen um sich greift, wie sie auch von den Epikern der Kaiserzeit beherrscht wird40, so wird sie auch von Juvenal in die Sittengemälde seiner Satiren einbezogen.

5. Ich bringe ein Beispiel aus der zweiten Satire. Zu den heuchlerischen Sittenrichtern wird dort auch Domitian gerechnet, der die 'lex Iulia de adulteriis et stupro' erneuerte, aber mit seiner Nichte Julia ein Verhältnis hatte und die Schwangere zwang, Abortivmittel zu nehmen, woran sie starb. Von ihm heißt es sat. 2, 29/33:

38 Mart, epigr. 10, 4, If.; Liv. 1, 46, 3; Tert. apol. 9, 9; Cypr. ad Don. 8; Lact. inst. 6, 20, 28; de ira Dei 18, 11; Prud. c. Symm. 2, 647f. Vgl. auch Auson. eph. 8, 11 (p. 14 Peiper) = eph. 7, 11 (p. 12 Prete): ... tragicospatimurper somnia coetus. Von hier aus geht tragicus in die Bedeutung 'wild', 'unzivilisiert' (a fens moribus) über: Euanthius, de fabula 1, 4 (Donat. comm. Ter. ed. Wessner 1, 14). 39 Hierzu s. O. Hiltbrunners Literaturbericht über Seneca tragicus, ANRW 32 (1985), 970ff., bes. 975. 1003. 1036 zu Arbeiten Paratores, I. Opelts, Knoches. 40 Literatur dazu in meinen 'Studien zur Psychomachie des Prudentius', Wiesbaden 1963 ( = Klassisch-philologische Studien 27), 49 mit Anm. 3 und 6; s. ferner M. Fuhrmann, Poetik und Hermeneutik 3 (1968), 23/66.

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qualis erat nuper tragico pollutus adulter concubitu, qui tunc leges revocabat amaras omnibus atque ipsis Veneri Martique timendas, cum tot abortivis fecundam Iulia vulvam solveret et patruo similes effunderet offas.

"(Solch ein Heuchler) war unlängst der Ehebrecher, der sich durch ein Beilager nach Art der Tragödie besudelte. Er erneuerte die Gesetze, die für alle bitter sind und die sogar Venus und Mars fürchten müssen, während Julia ihren fruchtbaren Leib immer wieder durch Abortiva löste und Klumpen gebar, die dem Oheim ähnelten." "Eine Stelle von der grössten Energie, von wahrhaft schauderhaftem | Eindruck", urteilt Heinrich41. Durch solche Züge mußte die Satura ein neues, dunkles Pathos annehmen, und Juvenal selbst war sich dessen durchaus bewußt. In der Weibersatire spricht er von habsüchtigen Müttern, die ihre eigenen Kinder vergiften, und macht sich dann selbst einen ironischen Einwand (sat. 6, 634/39): fingimus haec altum satura sumente cothurnum 635 scilicet, etfinem egressi legemque priorum grande Sophocleo carmen bacchamur hiatu, montibus ignotum Rutulis caeloque Latino, nos utinam vani! set clamat Pontia: "feci, confiteor, ..." "Natürlich, ich erfinde das nur! Meine Satire nimmt den hohen Kothurn, Grenze und Gesetz der Vorgänger überschreite ich, lasse, von Bacchus begeistert, ein erhabnes Gedicht ertönen nach sophokleischer Art mit weit geöffnetem Munde42, wie es den Ber-

41 Heinrich (o. Anm. 31) 2, 93. Ausdrückliche Hinweise auf die Tragödie finden sich, jeweils in der charakteristischen Art der Überbietung, noch Juv. sat. 8, 215ff. (Vergleich des Muttermörders Nero mit Orestes): Par Agamemnonidae crimen, sed causa facit rem Dissimilem ...; sat. 15, 29ff. (über einen Fall von Kannibalismus): (referemus) Nos volgi scelus et cunctis graviora cothumis. Nam scelus, a Pyrrha quamquam omnia syrmata volvas, Nullus apud tragicospopulus facit. accipe nostro Dira quod exemplum feritasproduxerit aevo. Vgl. auch sat. 12, 115/27; etwas anders sat. 14, 284/87, aber auch hier geht Vergleich mit dem Theater vorher (256ff.): das Leben bietet mehr als die Lustbarkeiten im Theater. 42 Sophocleo ... hiatu wie Hör. ars 138 tanto ... hiatu, kaum mit Bezug auf die Maske.

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gen der Rutuler und dem Himmel Latiums unbekannt ist. Ach, wäre ich doch ein Schwätzer! Aber Pontia ruft: 'Ich hab' es getan, ichgesteh's ..."' Zweierlei liegt darin: daß Juvenal die Greuel des Lebens nicht erfindet im Unterschied zur Tragödie; und daß er dennoch, gewissermaßen durch die Tatsachen gezwungen, welche allein schon ύλη τραγική bilden43, der Tragödie sich nähert und von der Satire sich entfernt. Sein Gedicht, meint er, nehme von selbst Züge des Erhabenen an. Die grandia monstra (sat. 6, 645) erzeugen gleichsam ein grande carmen (636). Nicht ich bin es, will er sagen, der willkürlich das Gesetz der Gattungen mißachtet. Dieses Gesetz, wie es von Horaz für Komödie und Tragödie formuliert wird (ars 89/91), | verlangt eine dem Stoff angemessene Stilwahl, es verbietet daher, thyesteische Mahlzeiten carminibus privatis zu behandeln, in Gedichten niederen Stils also, welche gewöhnliche, nicht-heroische Schicksale schildern44. Aber gerade darüber, meint Juvenal, setzt sich das Leben hinweg: das Leben ist es, das die lex opens mißachtet, das die Grenzen für ungültig erklärt, die der Literat zieht. Und damit darf sich der Satiriker für entschuldigt halten; denn das Leben aufzuzeichnen, wie es sich vor seinen Augen abspielt (vgl. sat. 1, 63ff.), dazu war er angetreten. Die Merkmale der Gattungskreuzung, die Mischung des Satirischen und des Tragischen, ergeben sich ihm mithin aus der Sache, die er sich vornahm45.

43 Vgl. Polyb. 2, 16, 14. Die folgenden Verse (Juv. sat. 6, 641ff.) verraten übrigens die Benutzung der Tragödie Senecas (Med. 953/57) durch den Satiriker; vgl. O. Zwierlein, Kritischer Kommentar zu den Tragödien Senecas, Mainz 1986 ( = Akad. Mainz, Geistes- und Sozialwiss. Kl., Einzelveröffentlichung 6), 340. 44 Vgl. Cie. opt. gen. or. 1: in tragoedia comicum vitiosum est et in comoedia turpe tragicum. Horaz fußt auf der aristotelischen Rhetorik (3, 7, p. 1408 a, lOff.): s. Brink (o. Anm. 36) 1, 97f. Der Junktur carminibus privatis liegt die Definition der Komödie als ιδιωτικών πραγμάτων ακίνδυνος περιοχή (Diom. ars 3, GL 1, p. 488, 4 Keil) zugrunde. In gewisser Weise folgt Juvenal freilich mit seiner Berufung auf das 'Leben' gerade der Bahn, die Horaz vorgezeichnet hatte: ein Pathos, so Horaz (serm. 1, 4, 45/62; vgl. ars 93ff.), das nur gibt, was das Leben zeigt, macht aus der Dichtung niederen Stils, aus Komödie und Satire, noch keine (hohe, echte) Poesie - verletzt also das Gesetz der Gattung auch nicht! Juvenal geht in dieser Richtung weiter. 45 Daß er freilich den Wechsel in Thema und Stilhöhe durchaus auch wirkungsvoll einzusetzen versteht, vor allem dort, wo er das Epos parodiert wie in der vierten und zwölften Satire, ist unverkennbar, und der Dichter hat das gewiß nicht leugnen wollen; vgl. hierzu Inez Gertrude Scott, The Grand Style in the Satires of Juvenal, Northampton/Mass. 1927 ( = Smith College Class. Stud. 8), passim. Aber das παρατραγωδεΐν (wie es in der lateinischen Poesie etwa Phaedr. 4, 7 vorfiihrt) hat Juvenal an jener Steile natürlich nicht im Auge: es trifft überhaupt nicht das Wesen der 'satura tragica'.

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Zum Eindruck des Grauenvollen fügt sich der des Jammervollen. Der Satiriker sieht, wie die Menschen unter den selbstverschuldeten Verhältnissen leiden. Miser ist eines seiner Lieblingsworte. "Dahin, ach, ist es mit uns Armen gekommen!" Illic heu miseri traducimur (sat. 2, 159). Der Ausruf faßt den ganzen Jammer zusammen. So nimmt Juvenals Satura bisweilen geradezu den Charakter einer 'miseratio' an. Das heißt: auch das andere Element des 'Tragischen', das luctuosum, ist seiner Dichtung verwoben. Durchwaltet wird das alles von der berühmten juvenalischen Empörung, die nach der Selbstaussage des Dichters (si natura negat, facit indignatio versum, sat. 1,79) seine Kunst motiviert. Beides, Jammer und Empörung, verbindet sich nicht nur dem Ausdruck nach, sondern auch in der ganzen Art der Darstellung. Als Beispiel könnte etwa die Versreihe dienen, die vorführt, wie der hungernde, vor Wut weinende Klient dem Reichen als Amusement bei der Tafel dient (sat. 5, 156/ 60). |

6.

Nicht als ob sich solche Szenen tatsächlich ohne jeden Willen zur Gestaltung, allein aus der Anschauung des Lebens bildeten! Oder als ob der Satiriker nur aus der Tragödie selbst hätte solchen Atem ziehen können! Auch in den Grundmotiven seiner Weltsicht ist der " Juvenalis declamans" und der " Juvenalis ethicus" angeregt durch die Rede und das philosophische Schrifttum46. Auch der Moralphilosoph schüttet seinen Jammer über das Menschengeschlecht aus, auch er hält uns gelegentlich die Untaten der Bühne als Schreckbilder vor Augen. Wie Juvenal in der Weibersatire fand auch Seneca in der Schrift De matrimonio alle Scheußlichkeiten der Tragödie durch die Clytaemnestrae und Eriphylae des täglichen Lebens überboten47. Vor allem aber vereint Juvenal die beiden Hauptwirkungen pathetischer Rede: indignatio und miseratio, horror

46 Ich wiederhole im Text die Titel zweier älterer Juvenalstudien: R. Schuetze, Juvenalis ethicus, Greifswald 1905; J. De Decker, Juvenalis declamans, Gent 1913. 47 Seneca bei Hier. adv. Jovinian. 1, 48 = Sen. frg. 66/67 Haase; vgl. E. Bickel, Diatribe in Senecae philosophi fragmenta I, Leipzig 1915, 392, 1/7, und jetzt M. Lausberg, ANRW II 36, 3 (1989), 1899/1917. Auch sonst kann angesichts ungeheuerlicher Ereignisse die Erinnerung an die Tragödie wachgerufen werden. So leitet Apuleius eine der Phaedra-Sage ähnelnde Erzählung folgendermaßen ein (met. 10, 2): iam ergo, lector optime, scito te tragoediam, non fabulam legere et a socco ad coturnum ascendere (Hinweis R. Häußler). Vgl. auch Lactanz an der oben S. 241 [15η (Anm. 38) berührten Stelle de ira Dei 18, 11 (CSEL27, 117): bine cotidie ad immaniafacinora prosilitur, hinc tragoediae saepe nascuntur.

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und misericordia, δείνωσις und οίκτος. Ihre Verbindung beherrscht bereits Vergil so meisterlich, daß Macrobius die rhetorische Pathoslehre anhand der Aeneis erläutern und seitenweise Vergil ausschreiben kann, um seine Systematik mit Beispielen zu füllen48. Das | Besondere bei Juvenal liegt darin, daß er solche Mittel der affektischen Rede auf die Darstellung des römischen Alltags übertragen, einem Gedicht des 'sermo pedester' verwoben und mit einem Element des Witzigen versetzt hat. Und in dieser Mischung fassen wir das Wesen seiner Satire. Manches spricht dafür, daß Juvenal nicht der einzige und nicht der erste war, der seiner Satura jenes eigentümliche, dunkel-feierliche Pathos gab. Wie wir durch Persius erfahren, durfte sich das Publikum von einem Satiriker, der gegen Sittenlosigkeit und Luxus zu Felde zog, res grandes erwarten (sat. 1, 67f.)49. Und wenn Martial über den Satiriker Turnus, den man in der Spätantike neben Juvenal stellte50, sagt, er habe sich aus Rücksicht auf den Bruder, der Tragödien dichtete, einem anderen Genos zugewandt: Contulit ad saturas ingentia pectora Turnus (epigr. 11,10,1), so deutet das vielleicht nicht nur auf die "gewaltige Begabung" des Dichters, sondern auch auf die Art, wie sie sich

48 Macrob. sat. 4, 2, 1: oportet enim, ut oratio pathetica aut ad indignationem aut ad misericordiam dirigatur, quae a Graecis οίκτος και δείνωσις appellantur. Diese Zweiteilung wird wiederholt und aufgegriffen, vgl. 4,4, 1: ... ut res aut atrox aut miserabilis videatur; 4, 5, 11: prior (sc. forma) misericordiam commovet, horrorem secunda. Für die einzelnen loci der pathetischen Rede (pathos ex aetate, pathos α causa, α modo, a materia usw.) ließen sich Beispiele ebensogut aus Juvenal wie aus Vergil beibringen. Aber in dem einen wie in dem anderen Fall ist das nur durch eine schematisierende Auflösung der Sätze und Verse möglich, weil eben im affektischen Stil beider Dichter die Arten oft nur als lebendige Mischung existieren. Zur modernen Forschungslage s. R. Rieks, Affekte und Strukturen. Pathos als ein Formund Wirkprinzip von Vergils Aeneis, München 1989 (= Zetemata 86), 9/14; zur rhetorischen Topik in den Reden der Aeneis ebd. 39/52; zur Lehre vom passenden Stilwechsel (im Anschluß an Hör. ars 93/98) ebd. 54/56. Gerade dieser letztere Gesichtspunkt dürfte für die Juvenalinterpretation fruchtbar sein; vgl. o. Anm. 45. 49 Pers. 1, 67f.: Sive opus in mores, in luxum, in prandia regum Dicere, res grandes nostro dat Musa poetae. Das ist die Stimme des Publikums, wie sie sich ein törichter Poetaster denkt. Vers 67 nennt typische Gegenstände der Satire (vgl. etwa G. N6methy im Persiuskommentar, Budapest 1903, 85, z.St.), res grandes dagegen (68) sind Stoffe der hohen Dichtung. Also: auch wenn er nur Satiren dichtet, macht er etwas Großes. Daraus folgt, daß man solches Lob einem Satiriker damals spendete. Auch wer annehmen wollte, Persius unterstelle dem Publikum absichtlich eine Unklarheit des Urteils (vgl. R.A. Harvey, A Commentary on Persius, Leiden 1981 [Mnemosyne suppl. 64], z.St.), gelangte doch ungefähr zu demselben Ergebnis: "The idea is then that modern poets are praised for writing satire in the grand style" (Harvey). 50 Vgl. Rutil. Nam. 1, 603f.: Huius (i.e. Lucilli) vulnificis satyra ludente Camenis Nec Turnus potior nec Iuvenalis erit. Auch Sidonius Apollinaris kennt Turnus (carm. 9, 266: MGH a.a. 8, 224). Auf ihn traf also zu, was einst Quintilian den Satirendichtern seiner Zeit verheißen hatte (den Juvenal kannte er, ebenso wie Martial, nicht als Satiriker): sunt clari hodieque et qui olim nominabuntur (Quintil. inst. 10, 1, 94).

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in seiner Satura äußerte51. Die zwei (verderbten) Verse, die wir von ihm haben, scheinen das zu bestätigen52. Ich erinnere hier | weiter an die Menippea Senecas, und dort etwa an die Augustusrede53, oder an die Szene, da Claudius die Unterwelt betritt. Wenn Augustus angesichts des Tölpels zunächst keine Worte findet und seiner Empörung durch eine Aposiopese Luft macht (omnia infra indignationem verba sunt), dann Claudius' willkürliche Todesurteile, besonders die Verwandtenmorde, aufzählt (apocol. 10, 2/4; 11,5), wenn später die Schar der Ermordeten dem Neuankömmling im Hades entgegenzieht und auf die Frage des Trottels: "Wie seid denn ihr hierher gekommen?" einer der Schatten sich zum Sprecher macht und antwortet: quid dicis, homo crudelissime ... (ebd. 13, 4/6), so sind das Szenen, auf die sich Heinrichs Begriff des 'comicotragicum' durchaus anwenden ließe. Und vielleicht sagte er in solcher Anwendung mehr als der Begriff des σπουδογέλοιον, den wir gewöhnlich auf die Satire allgemein beziehen. Man könnte sich für eine solche Begriffsbildung, die allerdings sachlich von der 'tragicomoedia' im Prolog des plautinischen Amphitruo54 ebenso zu scheiden wäre wie von modernen Ideen einer Tragikomödie55, sogar auf die Autoren selbst stützen. Denn Juvenal sieht

51 Vgl. auch das Lob auf ihn Mart, epigr. 7, 97, 7f.: Nam me diligit ille (i.e. Caesius Sabinus) proximumque Turni nobilibus legit libellis. Der Frage, inwieweit die Satiriker der Kaiserzeit hierin die Art des Lucilius fortsetzten, gehe ich nicht nach; Beachtung verdient jedenfalls, daß Lucilius bei Juv. sat. 1, 19f. 165f. in Bildern vorgeführt wird, die an den hohen Stil und an das Epos denken lassen. 52 Σ Juv. sat. 1, 71 p. 8 Wessner (FPLp. 134 Morel, p. 166 Büchner). In der emendierten Fassung, die das Scholion des Probus Vallae bietet (bei Wessner ebd. unter dem Text), lauten die Zeilen: Ex quo Caesareas soboles Locusta cecidit, Horrendum curas dum liberal atra Neronis (den ersten Vers hielt Leo fiir richtig hergestellt: Jahn-Bücheler-Leo, Ausgabe des Persius und Juvenal, Berlin "1910,286, er erscheint auch so in den Ausgaben; zur Textherstellung s. im übrigen A. La Penna, Maia 7, 1955, 135f.; A. Mazzarino, Orpheus 3, 1956, 81f.). Die Verse lassen jedenfalls einen Atem spüren, wie er uns aus Juvenals Satiren anweht. 53 Zur Augustusrede s. O. Zwierlein, Rhein. Mus. 125 (1982), 162/75. Ein Versuch aus neuerer Zeit, die Rede als Zeugnis versteckter Kritik an Augustus selbst zu deuten, ist von R. Jakobi, Gnomon 60 (1988), 202/09, überzeugend zurückgewiesen worden. Vgl. auch U. Knoche, Das Bild des Kaisers Augustus in Senecas Apocolocyntosis, Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. von W.-W. Ehlers, Frankfurt a.M. 1986 (= Beiträge z. Klass. Philol. 175), 394/413, bes. 402f.; H. Horstkotte, Die 'Mordopfer' in Senecas Apocolocyntosis, ZPE 77 (1989), 113/43. 54 Zum Wort tragicomoedia im Prolog des plautinischen Amphitruo s. W. Schwering, Indog. Forsch. 37 (1916), 139/41. Gemeint ist hier ein Stück, in dem Götter, Könige (wie in der Tragödie) und Sklaven (wie in der Komödie) auftreten. 55 Der Begriff schillert überhaupt in so bunten Farben, daß man ihm nicht noch weitere Geltung verschaffen möchte. Vgl. H. Günther, Art. 'Tragikomödie', Reallex. der deutschen Literaturgeschichte 4, 2 1984, 523/30 (mit Lit.). Innere Zusammenhänge moderner Theorie des Dramas mit dem, was der römische Satiriker beabsichtigte, können sich vielleicht dort ergeben, wo die Stilmischung zur angemessenen Darstellung der Wirklichkeit eingesetzt werden soll; vgl. die Hinweise ebd. 523f.

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tatsächlich durch die sittliche Entartung seiner Zeit die Ungeheuerlichkeiten des Mythos und der (tragischen) Dichtung erreicht oder gar überboten (sat. 15, 27ff.), während er andrerseits meint, der Anblick gewisser Torheiten mache mehr Spaß als das Possenspiel im Theater (sat. 14, 256ff.): tanto maiores humana negotia ludi (ebd. 264). Und Claudian hat in dem Gedicht gegen den Eunuchen | Eutropius, das viel vom Geist juvenalischer Satura spüren läßt, das Wesen solch eigentümlicher Verbindung von Empörung, Jammer, Grauen und Witz durch eine prägnante Formulierung einzufangen versucht. "Beispiele werden geschaffen", schreibt er56, "die das Gelächter der Komödie übertreffen und den Jammer der Tragödie" (exempla creantur Quae socci superent risus luctusque cothurni).

7. Schaut man nun von hier aus auf Prudentius, auf sein Gedicht Contra Symmachum, dann wird mit einem Mal klar, worin die Ähnlichkeit eigentlich besteht. Wesentliche Züge der 'satura tragica', das Schauerliche, Jammervolle und die Empörung, finden sich hier wieder. Nur in einer neuen Vertiefung. Es ist, als ob erst jetzt die Gründe solcher Sicht des Lebens aufgingen, als ob Juvenals Sehweise erst jetzt gerechtfertigt sei. Bei Prudentius ist der Grund des Elends und des Grauens die falsche Religion, die Herrschaft der Dämonen57, die freilich nur durch die Verblendung der Menschen möglich wurde. Und Prudentius zeigt den Ausweg, die Befreiung. Bei Juvenal liegt Resignation über allem: bei größter Empörung sieht er doch keine Besserung. Das Elend ist aus seiner Sicht sozial begründet, wenn auch nicht ausschließlich. Es gibt auch für ihn eine Torheit der Menschen, die aber im Grunde unbegreiflich bleibt. Juvenal hat auch kein echtes Ideal, kein Dogma, für das er sich begeistern könnte. Die alte Zeit bildet nicht den Idealzustand, weil sie ihm im Lichte der Primitivität erscheint - das ist Poseidonios' Erbe58. Was er tatsächlich empfiehlt, die übli-

56 Claudian. in Eutr. 1,298f. Neben den luctus cothurni wird hier auch das foedum (μιαρόν) der Tragödie ins Auge gefaßt, vgl. ebd. 287ff.: Nil adeo foedum, quod non exacta vetustas Ediderit... (Tragödienstoffe folgen). All das überbietet der Eunuch als Consul: er ist ein Monstrum und doch zugleich Gegenstand des Gelächters wie ein verkleideter Affe (ebd. 303/07). 57 Vgl. Prud. c. Symm. 1, 524/43, bes. 533ff.: errabant hostes per templa, per atria passim ... eqs. 58 Vgl. Juv. sat. 6, 1/13, und dazu Poseidonios bei Sen. epist. 90, 5/10. Ob Poseidonios selbst das Goldene Zeitalter mit den Zügen der Primitivität ausstattete oder nicht vielmehr zwei Phasen unterschied, erörtert B. Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967 (Spudasmata 16), 158.

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che Lehre von Tugend und Seelenruhe (sat. 10, 354ff.), klingt verhalten59, wird ohne das Feuer | vorgetragen, das wir sonst an ihm kennen, bildet jedenfalls nicht das Mittel, das eine Änderung im Großen könnte erwarten lassen. Durch Prudentius' Gedicht dagegen weht ein frischer Geist, Grund und Möglichkeit der Freiheit sind erkannt. Eine Aufbruchsstimmung herrscht, der große Atem der frühen Kirche durchweht das Werk. Die grellen Sittengemälde, die er voranschickt, dienen dem Protreptikos, der mit der Theodosiusrede einsetzt (1,415ff.), dem Aufruf zur Bekehrung und damit zur großen kulturellen Erneuerung. Jene Eindrücke juvenalischer Satura werden herübergenommen, weil sie wahr sind. Aber warum sie wahr sind, sieht man erst jetzt. Es sind also verdunkelte Einsichten, die der Christ nutzt, und indem er sie nutzt, werden sie durchsichtig auf die volle Wahrheit hin, die zuvor in ihnen nicht erkennbar war. Zugleich treten die Züge der 'satura tragica' bei Prudentius in den Dienst eines großen weltanschaulichen Kampfs und eines geschichtlichen Entwurfs. Dargestellt wird nicht die Unmoral der eigenen Zeit und der eigenen Kultur schlechthin, sondern die der heidnisch geprägten, nichtchristlichen Kultur, und es wird der Versuch unternommen, diese Verhältnisse in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu betrachten und zu erklären60. Juvenalische 'miseratio' offenbart sich auch bei Prudentius durch Ausdrücke des Jammers, reicht insgesamt aber tiefer. Die Nachfahren, heißt es, kamen nicht los vom Brauchtum ihrer einfältigen Ahnen: longum miseris processit in aevum Mos patrius (1, 153f.). Heu miserih der Ausruf begleitet die Erwähnung des Janusfests an den Januarkaienden (1, 239). Beim Anblick der noch immer götzendienerischen Stadt seufzt Theodosius vor Mitleid: ingemuit miserans (415). Elend und unwürdig sei es, hält er der Roma vor, wenn sie sich in der Religion nicht von den wilden Völkern unterscheide: indignum ac miserum est... (1, 458). Hier, wie auch sonst, verbindet sich mit dem Jammer der Ausdruck des Unwillens. Der Sonnenkult, meint der Dichter, sei noch irgendwie erträglich {hoc tarnen utcumque est tolerabile), was aber soll man zum Kult der Unterirdischen sagen (1, 354f.)? Wendungen wie quid sibi vult (sc. ars inpia ludip. nonnepudet...? (1, 382. 390) und einge-

59 Den berühmten Vers 10, 356: orandum est, ut sit mens sana in corpore sano, hat M.D. Reeve, Class. Rev. 20 (1970), 135f., für unecht erklärt (Hinweis O. Zwierlein). Seine Gründe sind überzeugend. Zum Ganzen vgl. J. Adamietz, Juvenal, in: Die römische Satire, hrsg. von dems., Darmstadt 1986, 231/307 (238/43). 60 Die Mittel dazu liefert der antike Weltaltermythos, die Depravationstheorie und der Euhemerismus: das alles zu einem neuen Faden zusammengewirkt zu haben, der von der Urzeit her bis in die römische Kaiserzeit fortläuft, darin liegt die kompositorische Leistung des Dichters im ersten Buch c. Symm.; vgl. o. Anm. 13.

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streute Interjektionen, heu (1, 381. 393), ecce (402), en (408), erneuern den Ton der Entrüstung. Auch der Eindruck des Schauderhaften fehlt nicht. Er steigert sich mitunter bis zur Wirkung des Furchtbaren, so im zweiten Buch beim Rückblick auf die Verfolgungszeit. Decius und andere Christenverfolger brannten darauf, klagt Roma, ihre Mordlust zu stillen | Undantesque meum in gremium defundere mortes (2, 676). Ein unübersetzbarer Vers, etwa: "Massen blutüberströmter Leichen mir in den Schoß zu legen".

8.

Vorsicht dagegen mußte der christliche Dichter, der das 'comicotragicum' meistern wollte, in der Handhabung des ersteren Elements üben. Welche Formen der Heiterkeit für einen Christen angemessen seien, war damals zumindest in asketischen Kreisen eine vielerörterte Frage 6 ', und ganz ohne Wirkung auf die Literatur kann christliche Lebensauffassung nicht sein. Daß die Mischung von Ernst und Spott zur Satire gehört, wußte man natürlich, aber wie eine Bemerkung des hl. Paulinus gegenüber Ausonius zeigt, konnte es Anstoß erregen, wenn solche Mischung aus falschem Anlaß vorgebracht wurde62. Bei Behandlung religiöser Dinge wird man daher derlei nicht ohne weiteres erwarten, und auch der Götzendienst in seinen furchtbaren Folgen, die Dämonenherrschaft und das Elend der Menschen bilden nicht Gegenstände, die für Witzeleien, für geistreiche Scherze oder den Ton gelassener Heiterkeit sonderlich geeignet scheinen63. Hier dürfen wir dieselben Grenzen annehmen, die schon die antike

61 Hierzu verweise ich im voraus auf den Artikel 'Humor* im RAC (G. Luck): [s. unten S. 569f.]. 62 Sie sei dem väterlichen Verhältnis, in dem Ausonius zu ihm (zu Paulinus) stehe, nicht angemessen: Paulin. Nol. carm. 10, 260/64 (CSEL 30, 36): midta iocispateant, liceat quoque ludere fictis. Sed lingua mulcente gravem interlidere dentem, Ludere blanditiis urentibus et male dulces Fermentare iocos satirae mordacis aceto Saepe poetarum, numquam decet esse parentum. Es läßt sich wohl kaum verkennen, daß damit überhaupt der Gebrauch bissiger Scherze für den Christen eingeschränkt wird. Über den Charakter der Satire als einer Mischung aus Süß und Bitter (melxmdfel) vgl. Auson. epist. 11, 1/10 (p. 236f. Peiper) = epist. 9, 1/10 (p. 245f. Prete). Wo sonst christliche Dichter der Satire sich nähern (vor allem Ps.Paulin. carm. 32, 19/ 150 [CSEL 30, 330/35], dann auch Ps.Cyprian, Ad quendam senatorem [CSEL 23,227/30] und der Verfasser des Carmen contra paganos: Anthologia lat. 1/1, p. 17/23 Shackleton Bailey), tun sie es in gleicher Sache wie Prudentius. Über Verfasserschaft und Datierung s. die Literaturhinweise bei Döpp (o. Anm. 21). 63 Augustinus warnt die Gegner davor, seine ersten Bücher De civitate Dei durchzuhecheln garrulitate inpudentissima et quasi satyrica vel mimica levitate (civ. 5, 26, p. 241, 19ff. Dombart-Kalb5). Zur erweiterten Bedeutung des 'Satirischen' in der Spätantike s. K.M. Abbott, Satira and Satiricus in Late Latin: Illinois Class. Stud. 4 (1979), 192/99.

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Rhetorik zog, wenn sie furchtbare Verbrechen ebenso wie großes Elend von einer scherzhaften Behandlung durch den Redner ausschloß64. | Aber gerade in der Anwendung des 'ridiculum' hatte Juvenal dem christlichen Dichter eine Möglichkeit eröffnet. Denn wenn auch Juvenals Heiterkeit sehr verschiedene Töne kennt, darunter auch recht feine und gedämpfte65, so sind doch seine Satiren weithin von dem geprägt, was er selbst dierigidicensura cachinni nennt (sat. 10, 31). Der Ausdruck fällt innerhalb eines Vergleichs der beiden Weisen Heraklit und Demokrit, des weinenden und des lachenden Philosophen. Demokrits Lachen empfindet der Satiriker als angemessene und natürliche Äußerung angesichts des menschlichen Treibens (ebd. 28ff.). Daraus ist kein Widerspruch zu den Zügen des Elends und Grauens bei Juvenal abzuleiten; die 'satura tragica' mischt eben die Elemente, und als ehernes Gesetz dürfen wir jene Verse nicht nehmen. Aber es ist eben doch bezeichnend, welches Lachen der juvenalische Demokrit hören läßt. Auch Seneca hat nämlich den Vergleich der beiden Weisen, und auch er stellt Demokrits Lachen ganz entschieden über das Weinen Heraklits. Aber Seneca empfiehlt ein heiter-gelöstes Lachen, das dem Ideal der tranquillitas animi nahekommt: die Schlechtigkeit der Menge darf uns nicht zum Gram verleiten, sie soll uns nicht verhaßt sein, sondern lächerlich vorkommen; wie Lappalien (ineptiae) sollen uns die Laster anmuten, nicht wie Äußerungen des Elends (miseriae); das Lachen ist vorzuziehen, weil es nur einen "sehr milden Affekt" erregt, weil es Zeichen eines Geistes ist, der "nichts von all dem Getriebe für bedeutend, nichts für ernst, noch nicht einmal für elend hält"66. Der Abstand zur rigidi censura cachinni Juvenals, "zur Rüge durch strengrichtendes Gelächter"67 ist groß, denke ich, noch größer freilich zu jeder Äußerung christlicher Weltsicht68. Vom Demokrit Senecas führt kein Weg zu

64 Cie. de or. 2, 237f.: narrt nec insignis improbitas et scelere iuneta nec rursus miseria insignis agitata ridetur: facinerosos [enim] maiore quadam vi quam ridiculi vulnerari volunt; miseros inludi nolunt, nisi se forte iactant... itaque ea facillime luduntur, quae η e que ο di ο magno ne que mi s er i c or di a maxima di g na sunt. Es gilt als Beweis der persönlichen Eigenart großer Redner, wenn Cicero an C. Julius Caesar Strabo rühmt, er habe "tragische Stoffe beinahe komisch" behandelt (ebd. 3,30: quis umquam res praeter hunc tragicas paene cornice, tristes remisse, severas hilare, forertses scaenicaprope venustate tractavit...?). 65 Diesen Feinheiten geht jetzt Susan H. Braund nach: Beyond Anger. Α Study of Juvenal's third Book of Satires, Cambridge 1988. Sie sucht Andersons These (s. den Exkurs u. S. 260/62 [176f.]) genauer zu fassen. 66 Sen. tranquill. 15, 1/5; vgl. de ira 2,10,5/8. Vgl. C.E. Lutz, Democritus and Heraclitus, Class. Journ. 49 (1953/54), 309/14. 67 Der Ausdruck läßt keinen Zweifel an der Art des Gelächters, vgl. etwa Juvenal selbst, sat. 11, 91f.: rigidique severos Censoris mores. 68 Vgl. unten S. 260/62 [176f.], Exkurs.

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Prudentius, wohl aber vom Demokrit Juvenals. | Der Dichter selbst gibt uns einen Hinweis darauf. Nach einer brillanten Versreihe (2, 393ff.), welche die Annahme der Existenz eines genius urbis geißelt - wie, fragt der Dichter, soll man sich die Entstehung eines solchen Schutzgeistes der Stadt Rom vorstellen: ist er aus dem Gesäuge der Wölfin geflossen, als sie die Zwillinge nährte? Flatterte er als Luftgebilde mit Romulus' Geiern umher? usw. - , schließt er mit dem Ruf (2, 403): quae quis non videat sapientum digna cachinno? Die Anspielung auf Juvenal und seinen Demokrit scheint bisher nicht bemerkt worden zu sein, sie ist aber doch deutlich69. Prudentius hat dasselbe Wort wie Juvenal, cachinnus70, das übrigens auch der Satiriker Persius auf sich selbst anwendet (sat. 1, 1 If. tunc, tunc ... cachinno, "muß ich lachen"). Das ist ein klarer Bezug auf das Programm der juvenalischen Satire. Und Prudentius hat ihn sogar noch einmal wiederholt. Nicht im Gedicht gegen Symmachus, andernorts zwar, aber in gleichem Zusammenhang: in Abwehr der Torheiten heidnischer Superstition. Der Märtyrer Romanus führt sie bei seiner Vernehmung vor (per. 10, 166ff.), weist darauf hin, daß der Richter selbst sich im Theater über die Liebesabenteuer der Götter amüsiere (ridesque et ipse, 224), ja sich vor Lachen ausschütte (per cachinnos solveris, 226), und dann, nachdem er die ländlichen Gottheiten, die Fauni, Priapi und Nymphen, der Lächerlichkeit preisgegeben hat (241/45), folgert er: 246 ad haec colenda me vocas, censor bone? potesne quidquam tale, si Sanum sapis, sanctum putare? nonne pulmonem movet derisus istas intuens ineptias, quas vinolentae somniis fingunt anus? "Ist es das, was zu verehren du mich aufforderst, braver Zensor? Falls du recht bei Trost bist: bringst du es fertig, etwas derartiges für heilig zu halten? Schüttelt man sich nicht vor Hohngelächter, wenn man diese Albernheiten sieht, wie sie trunkene alte Weiber in ihren Phantasien erfinden?" Wie der Heide im Theater, bricht der Christ allenthalben in Gelächter über die Götter aus. Und das ist eben wieder der satirische cachinnus. Die Frage | 69 Stella Marie (o. Anm. 15) 46 erwähnt die Juvenalstelle nur in anderem Zusammenhang; in Bergmans 'Index imitationum' fehlt sie ebenso wie in den anderen Ausgaben (Arevalo, Lavarenne). 70 Die Wortbedeutung erhellt aus dem Lob, das Hieronymus dem jungverstorbenen Nepotian spendet (Hier, epist. 60, 10): gaudium risu, non cachinno intellegeres. Daher heißt es im

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nonne pulmonem movet Derisus ...? ruft das Gelächter des juvenalischen Demokrit in Erinnerung (perpetuo risupulmonem agitare solebat, sat. 10,33). Die Ausgaben verzeichnen den Anklang auch hier nicht, aber es kann kaum zweifelhaft sein, daß Prudentius auch diesmal an Juvenal dachte. Die beiden Stellen (c. Symm. 2, 403 und per. 10, 248f.) ergänzen einander und stützen zusammen diesen Eindruck.

9. Wir fassen darin ein Merkmal der bewußten Nutzung juvenalischer Satura - nicht nur dem Worte, sondern dem Geiste nach71. In dieser Art erkannte der christliche Dichter etwas Brauchbares, andere Formen des Lächerlichen wären es nicht gewesen. Und eben darin offenbart sich für uns ein Grundzug christlicher Chresis überhaupt: das Prinzip der Unterscheidung, der energischen, zielgerichteten Auswahl. Erleichtert wurde ihm die Aufgabe gewiß dadurch, daß große Polemiker unter den Vätern wie Tertullian gelegentlich Töne anschlagen, die an das zensorische Gelächter Juvenals anklingen oder doch hinsichtlich Empörung und Bitterkeit (indignatio und fei) an den Satiriker erinnern72. Freilich gibt das Lachen nur eine Grundstimmung an. Demokrits Gelächter ist mehr Symbol als literarische Wirklichkeit. Denn eine Satire entsteht nicht, indem man lacht, sondern indem man schreibt oder spricht. Wenn wir mit literarischen, d.h. mit rhetorischen Begriffen treffen wollen, was der cachinnus bei Juvenal und Prudentius ausdrückt, müssen wir auf die Lehre von den Tropen schauen. Denn durch sie wird die verschiedene Tönung der irrisio faßbar. Und wir brauchen uns auch nicht lange umzusehen, um das Passende

Juvenaltext auch (sat. 10, 33): perpetuo risu pulmonem agitare solebat, wodurch der cachinnus (31) erklärt wird. 71 Recht gute Bemerkungen zur Sache finden sich bei Stella Marie (o. Anm. 15), die über die wörtlichen Übereinstimmungen hinaus einen gemeinsamen Geist beider Dichter zu erfassen sucht; sie sieht auch richtig die Unterschiede (50. 52), aber ihr fehlt der Gesichtspunkt der χρήσις, unter dem sich erst der Einsatz der juvenalischen Mittel als diakritische Anwendung und voll bewußte Umorientierung erschließt. Wie sich das Element des Lächerlichen bei beiden Autoren mit der Götterkritik verbindet, zeigt der Vergleich Juv. sat. 6, 533f. und Prud. c. Symm. 1, 630: s.o. Anm. 17 und Stella Marie 49. 72 Bezeichnend, wie Tertullian den Ersten Korintherbrief las (Tert. pud. 14,4/8): animadvertamus autem totam epistulam primam, ut ita dixerim, non atramento, sed feile conscriptam, tumentem, indignantem, dedignantem, comminantem, invidiosam ... Vgl. dazu Boughner (o. Anm. 14) 23ff.

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zu entdecken. Denn es ist ohne Zweifel der σαρκασμός, der hier dem harten Lachen des Satirikers entspricht: exacerbatio | oder locus cum amaritudine heißt er lateinisch73. Diomedes definiert74: sarcasmos est plena odio atque hostilis inrisioperfiguram enuntiata. Diese Definition erinnert daran, daß der Sarkasmus eigentlich zu den Wortfiguren gehört, zunächst also mit dem Bedeutungsspiel einzelner Wörter verbunden wird. Aber was für die Ironie gilt, gilt auch für den Sarkasmus: er neigt zur tropischen Gedankenfigur, da oft schon die in einem Wort enthaltene irrisio dem weiteren Zusammenhang die Farbe gibt75. Ja, vielleicht darf man den Begriff sogar aus der Zwangsjacke der rhetorischen Figurenlehre befreien und ihn in einem weiteren Sinne auf solche Reden anwenden, die aus ernster Absicht heraus das Verkehrte cum mordaci irrisione anprangern76.

10.

Was nun der Sarkasmus wirklich ist, wie sich in ihm iocus und amaritudo verbinden, welchen Platz er in der christlichen Polemik einnimmt, das lehrt besser als alle Regeln ein Beispiel aus der Korrespondenz des hl. Augustinus. In der Stadt Calama war es aus Anlaß eines heidnischen Fests zu Ausschreitungen gegen die Christen gekommen. Strafe stand zu befürchten, und so wandte sich ein angesehener Bürger der Stadt namens Nectarius an den Bischof von Hippo. Nectarius bat um Fürsprache für die Mitbürger: er sei doch schon alt und wolle seine Vaterstadt "blühend" hinterlassen77. An | diesen Begriff heftet

73 Vgl. ThLL 5,2, 1131,45ff. s.v. exacerbatio; ferner Serv. Aen. 2, 547 (1 p. 302 Thilo): 'referes ergo haec' sarcasmos est, iocus cum amaritudine ... astismos autem est urbanitas sine iracundia... eqs. 74 Diom. ars (GL 1, 462, Z. 32ff.): nach Diomedes ist der Sarkasmus eine der sieben Arten (species) des Tropus der Allegorie, wie ironia, astismos etc.; vgl. Charis., GL 1, 276, Z. 25ff. Quintilian bezeugt (inst. 8, 6, 58), daß manche Theoretiker in σαρκασμός, άστεισμός etc. nicht Arten der Allegorie sahen, sondern selbständige Tropen. 75 H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, 303 § 585; R. Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, Leipzig 21885 ( = Hildesheim 1963) 432f. Zur Ironie als Gedankentropus (simulatio, dissimulatio) s. Lausberg 446/50 §§ 902/04. 76 So machte einst Augustinus als Rhetoriklehrer zu Carthago die Leidenschaft für die Zirkusspiele lächerlich und brachte dadurch, ohne es zu wissen, den Freund Alypius zur Besinnung: Aug. conf. 6, 7, 12. Es ist eben dieser Ton, den der Christ gegenüber den Verkehrtheiten heidnischen Götterkults anschlägt: lugenda risit numina, sagt Ennodius (carm. 1, 12, 21, CSEL 6, 543) von Cyprian und drückt damit auf pointierte Weise die Verbindung von luctus und iocus, d.h. den Ernst solchen Spotts aus. 77 Nectar. Aug. epist. 90 (CSEL 34/2; 426, 8/10) vom Juni/Juli 408 (oder 409?).

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sich Augustins Antwort. Augustin sucht klarzumachen, worin wahre "Blüte" für ein Gemeinwesen bestehe, und da steigt ihm die Erinnerung an Vergil auf: an jene Verse im siebten Buch der Aeneis, da der Dichter vor der Schilderung des Aufmärsche der italischen Völker die Musen anruft und um ihren Beistand bittet, damit er künden könne, quibus Itala iam tum Floruerit terra alma viris, quibus arserit armis (Aen. 7, 643f.). St. Augustinus also schreibt78: commemoravit poeta ille vestrarum clarissimus litterarum quosdam flores Italiae; sed nos in vestra patria non tarn experti sumus, quibus floruit terra illa viris, quam 'quibus arserit armisimmo vero non armis sedflammisnec arserit, sed incenderit. quod tantum scelus si fuerit inpunitum nulla digna correctione pravorum, florentem te patriam putas relicturum ? ο flores non plane fructuum sed spinarum! "Jener hochberühmte Dichter eurer Literatur hat gewisse Blüten Italiens erwähnt; aber wir haben in eurer Vaterstadt weniger erfahren, von welchen Männern jenes Land 'erblühte', als vielmehr 'mit welchen Waffen es entbrannte'. Nein, nicht: mit welchen Waffen, sondern: mit welchen Flammen, und nicht: entbrannte, sondern: anzündete. Wenn ein so schweres Verbrechen nicht bestraft wird und keine angemessene Buße die Übeltäter bessert, glaubst du, du würdest dann deine Vaterstadt blühend hinterlassen? Ο was für Blüten (wären das) - freilich nicht von Früchten, sondern von Dornen!" Der Passus bietet ein Muster des Sarkasmus, der über die ganze Umgebung sein Licht verbreitet79. Indem Augustinus, auf die Brandschatzungen des Pöbels in Calama abzielend, die beiden indirekten Fragesätze gegeneinander ausspielt (non tarn experti sumus ... quam), das "Brennen" wörtlich faßt und das Ganze in Form der 'correctio' (immo vero ...) schärft, schließlich mit einem Ausruf (o flores ...) die wahre Art jener "Blüten" enthüllt, liefert er ein mehrfach abgestuftes Beispiel für den iocus cum amaritudine. Aber nicht allein

78 Aug. epist. 91, 2 (ebd. 428, 10/17). 79 Vgl. W. Parsons, Α Study of the Vocabulary and Rhetoric of the Letters of St. Augustine, Washington 1923 (Patristic Studies 3), 219 (zu dem Ausruf: ο flores...): "indignant surprise or sarcasm".

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deswegen verdient der Fall besondere Beachtung. Das Besondere liegt darin, daß die beiden Korrespondenzpartner später noch einmal auf diese Äußerung zurückkommen und dabei den Sarkasmus gleichsam nach den beiden Seiten seines Wesens hin entfalten. Nectarius sucht ihn zu verharmlosen, indem er ihn als bloßen Scherz wertet: nam illud, quod ioculariter \ dignatus es dicere ...80. Augustinus seinerseits verwahrt sich gegen solche Mißdeutung, wobei die Zurückweisung selbst wieder im Tone der exacerbatio erfolgt: ... iocari me putasti. hoc scilicet in malis tantis libeat! ita est prorsus! fumant adhuc ruinae incensae ecclesiae et in ea causa nos iocamurHier zeigt sich also, daß der Sarkasmus doch etwas ganz anderes ist als locus (iocari): eine ernste, bitterernste Äußerung, auf eigenartige Weise mit dem Element des Witzes vermischt. Den Versuch, die Aussage auf dieses eine Element zu reduzieren, das eigentümlich Sarkastische aufzulösen, weist der Autor zurück, weil so seine Absicht verzerrt, der angesichts des scelus notwendige Ernst ausgelöscht, das Gefühl der Trauer und Empörung ins Gegenteil verkehrt würde. Der Sarkasmus also fügt sich bestens zum Ernst christlicher Polemik in Prosa und Poesie, und mit ihm tritt eine weitere innere Gemeinsamkeit zwischen Juvenal und Prudentius zutage.

11. Wenn ich nun eine Versreihe nennen sollte, die auf knappem Raum vorführt, was Prudentius aus der 'satura tragica' gemacht hat, ein Stück also, das Züge des Schauderhaften und Jammervollen zeigt und zugleich etwas von jenem rigidus cachinnus vernehmen läßt, dann würde ich auf jene Passage des ersten Buchs verweisen, die in einem Teil der Handschriften den Titel führt: 'De simulacro Liviae uxoris Augusti' ("Über das Götzenbild", d.h. die götzendienerische Verehrung, "der Livia, der Frau des Augustus")· Die betreffende Partie dürfte auch aus anderem Grunde Interesse erregen, denn sie zeigt uns die Gestalt des Kaisers Augustus in einem Lichte, in dem wir sie kaum je zu sehen bekommen, und ich wage die Vermutung, daß in den Bü-

80 Nectar. Aug. epist. 103, 2 (ebd. 580, 2ff.). Unklar äußert sich zur Stelle H. Huisman, Augustinus' Briefwisseling met Nectarius, Diss. Amsterdam 1956, 123. Es ist richtig, daß Nectarius absichtlich die Äußerung Augustins herunterspielen will, aber man muß auch bemerken, welchen Ansatz ihm hierfür der Sarkasmus bot. 81 Aug. epist. 104, 17 (ebd. 594, 9/13).

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ehern zum 'saeculum Augustum', welche uns die neuere Forschung geschenkt hat, einschließlich des Katalogs der Berliner Ausstellung, die unlängst zu bewundern war, die folgenden Prudentiusverse nirgendwo erscheinen82. Bevor wir sie lesen, müssen wir uns freilich einen wichtigen Umstand | klarmachen. Es geht dem Dichter hier nicht um eine Würdigung der historischen Bedeutung des Princeps oder seiner Ära - was er dazu zu sagen hatte, bringt er andernorts im gleichen Gedicht vor, wo er die Entstehung der Monarchie unter Augustus rühmt (2, 430/35) und die providentielle Bedeutung der Einigung der Völker unter Roms Herrschaft entwickelt (2, 586/625). Die gleich vorzuführende Versreihe verfolgt ein anderes Ziel. Hier geht es dem Dichter darum, auf bildhafte, eindrückliche Weise darzustellen, daß Menschen wie Octavian und Livia unmöglich das sein können, wofür sie jahrhundertelang dem römischen Staat galten: Götter. Er will zeigen, wie falsch es war, sie dafür zu halten, und wie ruinös in moralischer Hinsicht die Consecration solcher Menschen sein muß. Und zu diesem Zweck entwirft er sein Bild 'Livias Hochzeit'. Er tut es mit dem guten Recht jeder gesunden Polemik, das darin besteht, den falschen Einschlag im Gewebe dort sichtbar zu machen, wo er sich am deutlichsten zeigt. Zu diesem Zweck greift er gewisse biographische Fakten auf, die Sueton in knappen Worten mitteilt: "(Unmittelbar nach der Scheidung von Scribonia) führte er (Augustus) Livia Drusilla aus der Ehe mit Tiberius Nero fort, und das, obwohl sie schwanger war". Die Verbindung, lesen wir weiter, provozierte Gerüchte und einen Spottvers83. Durch Tacitus erfahren wir noch, daß zuvor über die Rechtmäßigkeit solcher Heirat ein Gutachten der Pontifices eingeholt wurde - doch nur zum Hohn (per ludibrium), wie der Autor meint84. Was hat nun Prudentius aus den Fakten gemacht? Hören wir ihn selbst! Nachdem er die Apotheose des Princeps behandelt hat, geht er zu Livia über (1, 25Iff.):

82 Ich nenne die Ausstellung hier nur, weil durch sie die Gestalt und ihre Epoche in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt wurde: 'Kaiser Augustus und die verlorene Republik', Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz 1988. Vgl. auch A. Wlosok (Hrsg.), Römischer Kaiserkult, Darmstadt 1978, 377/422; D. Kienast, Augustus, Darmstadt 1982, 202/14 ('Herrscherkult'); G. Binder (Hrsg.), Saeculum Augustum Π, Darmstadt 1988, 21/170. Erwähnt werden die Prudentiusverse aber von Ilona Opelt, Augustustheologie und Augustustypologie, JbAC 4, 1961, 44/57 (456); vgl. unten Anm. 91. 83 Suet. Aug. 62; vgl. Suet. Claud. 1,1:... statim certe vulgatus est versus: τοις εύτυχοΰσι καν τρίμηνα παιδία. Zum Zusammenhang solcher Spottverse s. G. Cupaiuolo, Le pasquinate in versi nell'antica Roma e la reazione del potere: Hestiasis. Studi di tarda antichitä offerti a Salvatore Calderone (Studi Tardoantichi 5), Messina 1989, 1/105, bes. 39f. 84 Tac. ann. 1, 10, 5; ebenso Cass. Dio 48, 44, 2.

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251 adiecere sacrum, fieret quo Livia Iuno non minus in/amis thalami sortita cubile quam cumfraterno caluit Saturnia lecto. nondum maternam partu vacuaverat ahum 255 conceptamque viri subolem paritura gerebat, pronuba iam gravidae fulcrum et geniale parantur, iam sponsus saliente utero nubentis amicos \ advocat, haud sterilem certus fore iam sibipactam: vitricus antevenit tardum praefervidus ortum 260 privigni nondum geniti, mox editur inter Fescennina novo proles aliena marito; idque deum sortes, id Apollinis antra dederunt consilium: numquam melius nam cedere taedas responsum est, quam cum praegnans nova nupta iugatur. 265 hanc tibi, Roma, deam titulis et honore sacratam perpetuo Floras inter Veneresque creasti! nec mirum; quis enim sapiens dubitaverat illas mortali de Stirpe satas vixisse et easdem laude venustatis claras in amoribus usque 270 adfamae excidium formae nituisse decore ? "Hinzu fügten sie einen Kult, durch den aus Livia eine Juno werden sollte, sie, deren Brautlager ebenso abscheulich war wie das der Saturntochter, als sie im Bett des Bruders erglühte. Noch hatte sie nicht den mütterlichen Leib durch die Geburt entleert, noch trug sie das Kind, das sie von ihrem Mann empfangen hatte, erwartete sie ihre Niederkunft, da wird schon eine Brautführerin für die Schwangere besorgt und ein Hochzeitsbett85. Das Kind

85 Geniale gehört τα fulcrum, s. S. Blomgren, Eranos 38 (1940), 109/11. Ich folge in Vers 255f. der Interpunktion bei HJ. Thomson, Prudentius, 1, London-Cambridge, Mass. Ί949, 370. Bergman und Lavarenne ziehen pronuba zu paritura und verstehen pronuba als Appellativum (gleich Iuno, vgl. 251): "cette Protectrice des mariages [ = Iuno pronuba] portait un rejeton d'homme, qu'elle avait coniju et allait enfanter" (M. Lavarenne, Prudence, 3, Paris 2 1963, 145). Über Livia als νέα "Ηρα s. Wissowa, Religion und Kultus der Römer, München 2 1912, 93. Ob der Dichter allerdings hier daran denkt, scheint zweifelhaft. Vgl. F. Arevalo zu Vers 251 (PL 60, 141 C): "... nam verba poetae solum innuere videntur, Liviam deam esse factam more gentilium, et honores consecutam qui Iunoni tribuebantur". Ihre offizielle Apotheose erfolgte erst unter Claudius i. J. 42; vgl. Tac. ann. 5, 2; Suet. Claud. 11,2; Cass. Dio 60, 5, 2.

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springt im Leib der Braut, und schon lädt der Bräutigam seine Freunde ein. Er kann sicher sein: die Verlobte wird nicht unfruchtbar bleiben. Der Stiefvater, brennend vor Leidenschaft, kommt der zu langsamen Geburt des Stiefsohns zuvor, der das Licht der Welt noch nicht erblickte. Dann wird dem neuvermählten Ehemann, unter den Hochzeitsscherzen, das Kind eines anderen geboren. Solche Weisung erteilten die Orakel der Götter, die Grotte Apollons. Niemals, so lautete ihr Bescheid, gehe eine Heirat besser aus, als wenn eine schwangere Braut vermählt werde! Sie hast du, Roma, dir zur Göttin erwählt, durch Ehrentitel und Kult für immer geweiht - inmitten solcher Gestalten wie Flora und Venus. Kein Wunder. Denn welcher vernünftige Mensch hätte gezweifelt, daß jene Frauen als Menschen von Menschen stammend gelebt haben, daß sie dank ihrer Reize durch | Liebschaften glänzten und in ihrer Schönheit erstrahlten, bis ihr guter Ruf vernichtet war?" Schaut man in die Prudentiusausgaben86, findet man zu Vers 257 saliente utero einen wörtlichen Anklang an Juvenal notiert: sat. 6, 599 vexare uterum pueris salientibus. Vielleicht liegt Absicht vor, eine Art Signal. Aber dann muß man es auch als solches nehmen. Denn es genügt nicht, auf das einzelne Wort zu achten: die ganze Partie ist ein Stück Satire, und zwar Weibersatire ähnlich wie die folgenden, hier nicht mehr ausgeschriebenen Verse 1, 271/77 ('De cultura Adriani et catamiti eius', lautet die Überschrift in den Codices) ein Stück Männersatire darstellen, an Juvenals zweite Satire erinnernd. Zwar ist hier der Kaiser ebenfalls betroffen. Aber der Dichter wendet sich zuallererst gegen die Frau, um deren Apotheose es geht. Augustus selbst erscheint eher in der Rolle des rasend Verliebten und erbarmungswürdigen Bräutigams - das Ganze ein Bild wie eben zur Warnung an den heiratslustigen Postumus der sechsten Satire. Schon die Art, in die Erzählung mit flottem Übergang vom Praeteritum ins Praesens (iam ... parantur, iam ... advocat etc., 256ff.) eine Szene, ein Bild einzulegen, erinnert an Juvenal87. Die Hyperbel, eines der typischen Stilmittel des Satirikers, schärft die Tatsachen: juvenalisch gesagt, ύπερβολικώς, ist inter Fescennina (260f.), denn Livia kam erst nach der

86 Bergman, Index imitationum 463. 87 Man denkt etwa an die'Männerhochzeit' bei Juv. sat. 2, 117/42 (nova nupta übrigens an gleicher Versstelle Juv. ebd. 120 und Prud. 264).

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Hochzeit nieder intra mensem tertium88. Ebenso die Verallgemeinerung in der Wiedergabe des responsum (numquam melius ..., 263f.), die aus dem skandalösen Fall eine Regel macht, ja geradezu eine Empfehlung an alle Hochzeiter. Überhaupt ist die Annahme eines Orakelspruchs des Apollon wohl gleichfalls als Übertreibung zu verstehen89, befördert vielleicht durch vage Hinweise zur Sache, wie sie Velleius Paterculus gibt (auspicatis reipublicae ominibus, 2, 79). Tacitus spricht, wie bemerkt, nur von Befragung der pontifices. Ebenso Cassius Dio (48, 44, 2). Immerhin: ein Satiriker macht daraus mehr, schließlich wacht das Collegium über das Sakralrecht und gibt an, was Sühne erfordert. Der bittere Hohn der Zeilen ist unverkennbar. Nicht minder in Vers 258: (sponsus) haud sterilem certusfore iam sibipactam. Ja, hier liegt ein Zentrum der irrisio, dessen Feuer auf die ganze Umgebung abstrahlt; ein Schulbeispiel des Sarkasmus, dessen Charakter als Tropus durch das Wort (haud) sterilem deutlich | hervortritt90. Und mehr noch: das ist meisterliche Nutzung Juvenals, freilich nicht im Worte, sondern in der Kunst. Alles strebt einer Gesamtwirkung zu. Das Abstoßende, Widernatürliche, Monstruose der 'satura tragica' soll zur Geltung kommen, soweit es die Sache nur erlaubt. Die Einzelzüge dienen diesem Eindruck. Man ist sogar versucht, den Vers 259 (antevenit) konkret zu fassen, im Stile gewisser juvenalischer Impressionen. Vielleicht geht das zu weit, aber insgesamt ist das Gepräge solcher Dichtung unverkennbar91.

88 Suet. Claud. 1,1. 89 Ardvalo (zu 1, 262, PL 60, 142 C/D) nimmt allerdings die Angabe ernst; doch hilft sein Hinweis auf Juv. sat. 6, 555f. nicht weiter. 90 Der Sarkasmus verbindet sich hier mit der Litotes; dieselbe hat [Sen.] Here. Oet. 133: felix incolui non steriles focos. Zu diesem Vers notierte sich Carl Weyman im Handexemplar seiner 'Studien über die Figur der Litotes' (Jahrbücher für Klass. Philol., Suppl. 15, 1887, 453/ 556, ebd. 534), das ich dank der Großzügigkeit Frau Carola Weymans, der Tochter des Gelehrten, besitze, eben unsere Prudentiusstelle (c. Symm. 1, 258). Zu Litotes und Ironie ebd. 459. 463 und 477: "ironische Färbung und die Verbreitung eines Scheines von Bescheidenheit sind nur zufällige Merkmale" (der Litotes). 91 Übrigens erklärt V. Zappacosta, Latinitas 15 (1967), 277/92 (283f.), die Polemik gegen Augustus und Livia sowie gegen Hadrian und Antinous bei Prudentius aus absichtsvoller Frontstellung gegen Pacatus* Panegyricus auf Theodosius. Der Hinweis auf den Panegyricus (paneg. lat. 2, 11, 6: ... cum me ... moribus Augustus ornaret... - es spricht die personifizierte Res publica!) bringt jedenfalls in Erinnerung, was Augustus auch jener Zeit bedeutete und wie auffallend Prudentius' Sittengemälde des Princeps gewirkt haben mag (der vergöttlichte Antinous war ein bekannter Schandfleck, vgl. etwa Clem. Alex, protr. 49, lf.). Auch den Gegensatz zur klassischen Dichtung fühlte man sicher: wie hatte doch etwa Horaz den 'Euhemerismus' in positiver Sicht auf die künftige Apotheose des Caesar bezogen (Hör. epist. 2,1,1/17)! Mit Recht spricht Ilona Opelt (Prudentius und Horaz, Forschungen zur römischen Literatur, Festschrift K. Büchner, Wiesbaden 1970, 206/13 [207] = Paradeigmata Poetica Christiana, Düsseldorf 1988, 130/37 [132]) von einer "Entzauberung" des Augustusbilds durch Prudentius. Was E.K. Rand, Prudentius and Christian Humanism, TAPhA 51 (1920), 71/83, zu dem Bekenntnis veranlaßte, "Prudentius almost persuades me to become a pagan" (82) - dies, wohlgemerkt, im Hinblick auf die Darstellung der Götter im ersten Buch c. Symm.! - , wird wohl fur immer ein Rätsel bleiben.

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Für den Gedankengang ist die Folgerung wichtig, die mit nec mirum (267) eingeleitet wird, die aber durch die Gleichung Livia - Juno und durch die Erwähnung der Florae und Veneres schon vorbereitet, dem Leser überhaupt schon aus dem ganzen Zusammenhang heraus vertraut ist: Livias Apotheose kann nicht verwundern, sie hat nichts Ungewöhnliches an sich, denn die ganze heidnische Götterwelt ist ja auf solche Weise zustande gekommen. Diesem Ziel dient die Darstellung, in diesen Dienst wird das Juvenalische genommen. |

12. Ich fasse zusammen. Was hier vor sich geht, die Aufnahme und Verarbeitung juvenalischer Kunst, gehört in einen großen Zusammenhang. Die Merkmale des Umgangs der Kirche mit den Gütern der nichtchristlichen Kultur lassen sich auch an diesem Vorgang beobachten. Was gut ist, wird nicht zerstört, sondern gebraucht. Indem es gebraucht wird, auf einen neuen Zweck hin orientiert wird, tritt das Gute reiner hervor, wird sein Sinn vollständiger erhellt. Auf unseren Fall angewandt (auf die Nutzung Juvenals) und auf unser Beispiel (Livias Hochzeit bei Prudentius) scheint die Behauptung vielleicht seltsam. Und doch öffnet sich erst so der Zugang zum Verständnis dessen, was der christliche Dichter leisten wollte, ganz gleich, wie wir den Erfolg seiner Bemühungen beurteilen. Ja, meint Prudentius: Jammer und Grauen, aber auch die Enthüllung des Unwürdigen und Lächerlichen sind am Platze! Ja, die Mittel der Satura, all dem Ausdruck zu geben, sind brauchbar, sie können und müssen eingesetzt werden! Und indem das geschieht, zeigt sich erst der Wert jener Gattung antiker Literatur, die partielle Wahrheit ihrer Kunstauffassung, das angemessene Ziel ihrer Wirkung.

Exkurs Was oben S. 250/52 [166f.] über das demokritische Lachen bei Seneca und bei Juvenal bemerkt wurde, spricht gegen eine weitreichende These aus jüngerer Zeit, welche die Unterschiedlichkeit der juvenalischen Satiren erklären soll. W.S. Anderson behauptet (Anger in Juvenal and Seneca, Berkeley-Los Angeles 1964,127/95 = Essays on Roman Satire, Princeton N.J. 1982, 293ff., bes. 340ff.: "Juvenal's Democritean Satirist"), in den ersten sechs Satiren nehme Juvenal einen Standpunkt ein, wie ihn der adversarius bei Seneca De ira

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vertrete: der vir bonus müsse dem Laster zürnen (de ira 2, 6, 1, mit Berufung auf Theophrast ebd. 1, 14,1), in sat. 7/9 finde ein Übergang statt, und ab sat. 10 vertrete Juvenal eine moralphilosophische Auffassung nach der Art Senecas selbst: als angemessene Haltung dem Laster gegenüber werde nun nicht Zorn, sondern Lachen empfohlen, Vorbild dafür sei Demokrit - ganz wie bei Seneca (vgl. Sen. de ira 2, 10, 5/8; tranquill. 15, 1/5; Juv. sat. 10, 28/53). Anderson sucht also ein Problem, das einst Ribbeck auf dem Wege der Echtheitskritik lösen wollte (s. oben S. 239 [155]) und das andere biographisch lösen, auf der Ebene des Literarischen zu erklären: Juvenal spiele als Literat verschiedene Haltungen durch, jede biographische Deutung sei abzulehnen. Diese These fand nicht überall den nötigen Widerspruch92 und konnte daher weiter wirken93. Von anderem abgesehen: | Die These stützt sich auf einen untauglichen Zeugen. Der Demokrit Senecas und der Demokrit Juvenals sind nicht derselbe. Nur bei oberflächlicher Betrachtung der Texte läßt sich behaupten: "The Democritus of Satire 10 is as schematically pictured as Seneca's Democritus" (Anderson 179 bzw. 345). Der lachende Philosoph ist er zwar hier wie dort, aber sein Lachen ist nicht dasselbe: hier ist es ein zensorisches, dort ein nachsichtiges. In Juvenals Demokrit ersteht uns ein strenger Sittenrichter, hartes Gelächter läßt er hören (10, 31), er schüttelt sich ständig vor Lachen (10, 33): und dies ist die Haltung, die der Satiriker empfiehlt. In Senecas Demokrit haben wir einen heiteren Mann vor uns, ausgezeichnet durch Milde gegenüber den Torheiten der Menschen: omnia ista tarn propitius aspiciet quam aegros suos medicus (Sen. de ira 2,10,7). Und nun lese man daraufhin Juvenals zehnte Satire durch und prüfe, unter welchem Blickwinkel die Dinge angeschaut werden! Soll etwa die gräßliche Schilderung der Altersmolesten, die dazu dient, die Torheit des Wunsches nach langem Leben bloßzustellen (sat. 10, 188/288), aus der - stoisch gefärbten - εύθυμίη Demokrits geflossen sein, wie sie Seneca vorschreibt? Daß sich die Thematik der zehnten Satire Juvenals mehrfach mit Senecas Moralphilosophie berührt, stützt nicht die These Andersons94. Parallelen solcher Art lassen sich auch aus anderen Satiren beibringen, auch aus denen des ersten und zweiten Buchs (sat. 1/6). Mit ande-

92 Abgewiesen wird sie von J. Adamietz, Hermes 112 (1984), 483 und a.O. (o. Anm. 59) 298. 93 So bei F. Bellandi, Etica diatribica e protesta sociale nelle satire di Giovenale, Bologna 1980 (ich folge dem Referat L. Brauns im Gnomon 53, 1981, 486/88) und bei Braund, Beyond Anger (o. Anm. 65), lf. u.ö. 94 Wie B.F. Dick, Seneca and Juvenal 10, Harv. Stud, in Class. Phil. 73 (1969), 237/46 (237 4 ) annimmt.

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ren Worten: Juvenal hat sich einen Demokrit nach seinem Geschmack geschaffen, und dieser Demokrit ist die programmatische Gestalt seiner Satiren, auch und gerade der e r s t e n Satiren, nicht der Demokrit Senecas. Deshalb stellt er seinen Demokrit auch höher als Seneca den seinen. Denn bei Seneca steht Demokrit dem Weisen nur nahe, das Ideal verkörpert er nicht; besser sei es, lehrt Seneca (tranquill. 15, 5), die Laster gelassen aufzunehmen (placide accipere), also noch über Demokrit hinauszugelangen und auch jenen gelinden Affekt abzulegen. Nichts davon bei Juvenal! Für ihn zählt Demokrit einfach zu den summi viri (10,49), ihm gilt der Abderite ohne jede Einschränkung als Beispiel innerer Freiheit gegenüber den Leidenschaften und den Drohungen der Fortuna (10, 51/53). Es ist also nicht richtig, was Anderson schreibt: "Juvenal... in his later Satires created a new satirist in close conformity with the Senecan ideal" (173). Gelegenheit, dies zu berichtigen, hätte etwa Ε. Courtney im Juvenalkommentar (London 1980) gehabt, wo aber (449) ohne Kritik auf Anderson verwiesen wird. Der Ansatzpunkt ist übrigens nicht ganz neu: schon Ribbeck (o. Anm. 28) verglich die Juvenalstelle mit Sen. tranquill. 15 und stellte eine "auffallende Ähnlichkeit" fest. Näheres Zusehen hätte auch ihn eines Besseren belehren müssen, aber er war zu sehr damit beschäftigt, die philosophischen Neigungen des "unechten Juvenal" zu beweisen. Immerhin hat er den Vergleich nicht zu einem Hauptargument seiner These gemacht.

XII.

PRUDENTIUS ÜBER DIE STATUE DER VICTORIA IM SENAT *

1. Vorbemerkung, S. 263. - 2. Der Text, S. 266. - 3. Die Curie als Tempel, S. 270. - 4. Die Kaiserrede, S. 274. - 5. Das Bildnis der Victoria, S. 276. - 6. Der Ursprung des Kultbilds aus der Malerei, S. 282. - 7. Attis und Hippolytus in der Malerei, S. 292. - 8. Victoria als Personifikation, S. 299. - 9. Omamenta deorum, S. 304. 10. Ausblick, S. 312.

1. Vorbemerkung Im Jahre 29 v. Chr. ließ Augustus in der Curia Iulia, in dem neuen Senatshaus, dessen Bau Caesar begonnen hatte, eine Statue der Victoria aufstellen, dazu einen Altar weihen. Die Statue war wohl ein Werk hellenistischer Kunst, kam jedenfalls aus Tarent. Sie stand an zentraler Stelle des Saals und beherrschte den Raum. Augustus hatte sie überdies mit Spolien aus dem Seesieg bei Actium geschmückt1. So erinnerte sie an diesen Sieg, war aber doch zugleich als Victoria Romana Sinnbild und Garantin römischer Macht und Größe2. Im Jahre 12 ν. Chr. verfügte Augustus, die Senatoren sollten vor den Sitzungen am Altar derjenigen Gottheit, in deren Tempel der Senat zusammenkomme, ein Opfer darbringen, und seitdem schritten die Senatoren, sooft die Sitzungen in der Curie stattfanden, zum Altar der Victoria, um dort einige Weihrauchkörner in das Feuer zu streuen oder eine Weinspende darzubringen. Auch Eide wurden vor der Victoria geleistet, insbesondere der Treueeid

* Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, 1/44. Die Ausarbeitung der folgenden Studie wurde durch einen Aufenthalt im Deutschen Archäologischen Institut in Rom gefördert: seinem Direktor, Bernard Andreae, sei dafür gedankt! Die hier vorgelegte Fassung des Texts war für mündlichen Vortrag bestimmt. - In den Anmerkungen werden folgende Abkürzungen verwandt: CCL = Corpus Christianorum, Series Latina; CSEL = Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum; GCS = Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte; PW = Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft; RAC = Reallexikon für Antike und Christentum. ι Die Daten zur Statue bei Stefan Weinstock, Art. Victoria (Nachträge) Nr. 14, in: PW 8 A (1958) Sp. 2521f. und H.A. Pohlsander, Victory: The story of a statue, in: Historia 18 (1969) S. 588/97. Ebd. weitere Literatur. 2 Vgl. Tonio Hölscher, Victoria Romana, Mainz 1967, S. 6/47.

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auf den Kaiser. So blieb es über dreihundertfünfzig Jahre lang, bis Kaiser Constantius im Jahr 357 zum ersten Mal die alte Hauptstadt betrat3. Er bewunderte die Monumente Roms, und obwohl er erst im Jahre zuvor alle heidnischen Opfer verboten und die Schließung der Tempel verfügt hatte, ergriff er in Rom keine | weiteren Maßnahmen gegen den heidnischen Kultus. Nur an der Victoria im Senat nahm er Anstoß. Er ließ sie, und zwar wahrscheinlich den Altar mitsamt der Statue, entfernen. In den folgenden Jahrzehnten blieb die Victoria Gegenstand der geistigen und religionspolitischen Auseinandersetzungen jener Epoche. Der Kampf um ihren Platz im Senat erreichte einen Höhepunkt, wenn auch noch nicht seinen Endpunkt, im Jahre 384. Im Sommer dieses Jahres wurden im kaiserlichen Consistorium zu Mailand drei Reden verlesen, die Berühmtheit erlangten bis auf den heutigen Tag. Die Autoren sind Q. Aurelius Symmachus, damals der Stadtpräfekt Roms, und Ambrosius, der Bischof von Mailand. Symmachus führte das Wort für die heidnische Partei des Senats. Er verlangte vor dem jungen Kaiser Valentinian II. die Wiederaufstellung des Altars und der Statue, die Kaiser Gratian zwei Jahre zuvor hatte abermals fortschaffen lassen, und die Annullierung der gratianischen Gesetze, die dem römischen Staatskult die finanziellen Grundlagen entzogen. Ambrosius wirkte der Petition entgegen und hatte Erfolg. Die Auseinandersetzung wurde auf hohem literarischen Niveau geführt. Symmachus' Rede, die berühmte dritte Relatio, galt ihrer Zeit als Muster lateinischer Eloquenz4; andere stellten Ambrosius' Erwiderungen, den 17. und vor allem den 18. Brief (alter Zählung), sogar noch höher5. In dieser Auseinandersetzung und in den Dokumenten, die sie hervorgebracht hat, sind Grundfragen jener Übergangsepoche konzentriert, die bis zu gewissem Grade überzeitliche Bedeutung haben: etwa die Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Religion, Tradition und Fortschritt, christlicher Verkündigung und kulturellem Erbe. Es ist daher verständlich, daß der Kampf um die Victoria seit eh und je zu den Lieblings-

3 Überblick über die Ereignisse bei Otto Seeck, Art. Symmachus Nr. 18, in: PW 4 (1931) Sp. 1146/58; genauer in der Praefatio seiner Symmachus-Ausgabe (De Symmachi vita) (MGH A.A. 6, 1) Berlin 1883, S. XXXIX/LXXffl. Ferner Domenico Vera in der Einführung des Kommentars zur dritten Relatio: "La polemica De ara Victoriae" (Commento storico alle Relationes di Quinto Aurelio Simmaco, Pisa 1981, S. 12/23), mit neuerer Literatur. 4 Prud. c. Symm. 1, 648f., im Zusammenhang des ganzen Stücks 632f.: Ο linguam miro verborum fontefluentem ... 5 Außer dem Urteil des Biographen Paulinus (v. Ambros. 26, 2, S. 86 Bastiaensen: Qua relatione accepta [i.e. Symmachi] praeclarissimum libellum conscripsit, ut contra nihil umquam auderet Symmachus vir eloquentissimus respondere) verdient Ennodius' Epigramm 'De epistula Domni Ambrosii..." (carm. 2, 142: CSEL 6, S. 605) Beachtung: Dicendipalmam Victoria tollit amico. Transit ad Ambrosium: plusfavet ira deae.

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themen der modernen Forscher gehört, die sich mit der Spätantike befassen. Er wurde neuerdings (1984) sogar in den Kreis derjenigen Ereignisse einbezogen, an die man durch Jubiläen glaubt erinnern zu dürfen6. Um so auffälliger erscheint es, daß in der gelehrten Diskussion ein weiteres, wohlbekanntes Zeugnis jener Auseinandersetzung nur gleichsam am Rande mitgefühlt wird: Prudentius' Gedicht Contra Symmachum. Es ist im Jahre 402 oder 403 verfaßt bzw. abgeschlossen, steht mithin zu den Ereignissen des Jahres 384 in einem Abstand von fast zwanzig Jahren. Außerdem fußt Prudentius dort, wo er die Linie der allgemeineren apologetischen Argumentation verläßt und sich der Relatio des Symmachus zuwendet, im zweiten der beiden Bücher seines hexametrischen Gedichts, auf den primären Urkunden, die auch wir besitzen, eben auf der Relatio und auf Ambrosius' Entgegnung. So scheint der Quellenwert seiner Verse gering. Den Historiker oder den historisch interessierten Philologen reizen an dem | Gedicht allenfalls weitere, ideengeschichtliche Fragen, dazu bestimmte Probleme, die sich mit der Ausgangslage der prudentianischen Darstellung verbinden: was veranlaßte den Dichter, noch nach so vielen Jahren die Rede des heidnischen Senators zu widerlegen? Und vor allem: weshalb stellt Prudentius den Vorgang so dar, als habe er sich gar nicht vor Valentinian II., sondern vor den Theodosiussöhnen, den Kaisern Honorius und Arcadius, abgespielt, als sei Symmachus mit seiner Relatio nicht im Jahre 384 hervorgetreten, sondern erst zur Zeit der Abfassung des Gedichts? Auf diese Fragen ist meines Erachtens noch keine völlig befriedigende Antwort gefunden worden7. Ich meine aber, daß das Gedicht auch abgesehen

6 Vgl. Francis Paschoud (Hg.), Colloque Genevois sur Symmaque ä l'occasion du mille six centime anniversaire du conflit de l'autel de la Victoire ..., Paris 1986. In diesen Rahmen fügt sich jetzt das gefällige Bändchen, besorgt von Fabrizio und Luciano Canfora, Simmaco. Ambrogio. L'altare della Vittoria, Palermo 1991. 7 Vgl. dazu unten S. 312 [40ff.]. Neuere Literatur bei Danuta Shanzer, The Date and Composition of Prudentius' Contra orationem Symmachi libri, in: Rivista di Filologia Classica 117 (1989) S. 442/62. Nicht genannt wird allerdings Wolf Steidle, Die dichterische Konzeption des Prudentius und das Gedicht Contra Symmachum, in: Vigiliae Christianae 25 (1971) S. 241/ 81; wieder in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Amsterdam 1987, S. 261/301. Die Verfasserin selbst meint, das erste Buch sei größtenteils zu Theodosius' Lebzeiten i.J. 394 abgefaßt und später i.J. 402/03 notdürftig dem zweiten Buch angepaßt worden. Dieses Ergebnis ist durch eine überspitzte Analyse einzelner Stellen gewonnen und überzeugt daher nicht. Shanzer sieht zu wenig auf das Ganze. Vom Ganzen, besonders von der Komposition des ersten Buchs, hat sie eine geringe Meinung, die jedoch nirgends bewiesen, vielmehr allenthalben als Prämisse ihrer Analysen vorausgesetzt wird (z.B. S. 443: "The yoking together of the two such different books is in itself odd, as is the structure of Book 1"). In Wahrheit ist die Darstellung des ersten Buchs auch im apologetischen Hauptteil (für Shanzer "Proto-c. Symm. 1") sehr genau und fein auf die direkte Auseinandersetzung mit Symmachus in Buch II abgestimmt. Der Zusammenhang der

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von solchen Grundfragen des Ganzen und abgesehen von seinem literarischen und ideengeschichtlichen Wert für viele sachliche, besonders antiquarische Details bemerkenswerte Auskünfte erteilt. Wer diese Auskünfte erhalten will, darf freilich vor einer philologischen Durcharbeitung des anspruchsvollen Texts nicht zurückschrecken. Ich möchte das anhand derjenigen Passage zeigen, die sich mit der Forderung nach Wiederaufstellung der Statue befaßt.

2. Der Text Es handelt sich um die ersten 66 Verse des zweiten Buchs. Der Dichter gibt zunächst das Thema des Buchs an, läßt dann den Gegner mit seinem Petitum in direkter Rede zu Worte kommen, worauf die beiden Kaiser in einer längeren Rede ihren Widerspruch formulieren. Die Verse können hier nicht im Stile eines Kommentars durchgesprochen werden, ich hebe vielmehr einige Einzelfragen heraus, deren letzte noch einmal zu der eben berührten historischen Problematik des Gedichts zurücklenken wird. Hier zunächst der Text nach Johan Bergman (CSEL 61,1926, S. 246/49) bzw. Maurice P. Cunningham (CCL 126, 1966, S. 211/14) - in der Interpunktion folge ich Bergman: |

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Hactenus et ueterum cunabula prima deorum et causas, quibus error hebes conflatus in orbe est, diximus, et nostro Romam iam credere Christo; nunc obiecta legam, nunc dictis dicta refellam. unde igitur coepisse ferunt aut ex quibus orsum, quo mage sancta ducum corda inlice flecteret arte? Armorum dominos uernantes flore iuuentae, inter castra patris genitos, sub imagine auita eductos, exempla domi congesta calentes, orator catus instigat, ceu classica belli clangeret, exacuitque animos et talia iactat:

beiden Bücher ist noch enger und vielfältiger als selbst Siegmar Döpp dies vorführt (Prudentius' Contra Symmachum eine Einheit?, in: Vigiliae Christianae 40 (1986) S. 66/82, bes. S. 77f.), den Shanzer deshalb besonders attackiert. Mancherlei Hinweise gibt auch Steidle, passim, z.B. S. 263 (bzw. S. 283); S. 275 (bzw. S. 295). Nähere Ausführungen dazu muß ich mir hier ersparen. Eine vorläufige Bemerkung: Christian Gnilka, Satura tragica. Zu Juvenal und Prudentius, in: Wiener Studien 103 (1990) S. 145/77, S. 150 mit Anm.12 [in diesem Bande S. 235, Anm. 12].

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'si uobis uel parta, uiri, uictoria cordi est uel parienda dehinc, templum dea uirgo sacratum obtineat uobis regnantibus! ecquis amicus hostibus harte uestro sancte negat esse colendam imperio, cui semper adest, quod laudibus inplet?' Haec ubi legatus, reddunt placidissima fratrum ora ducum: ,scimus, quam sit uictoria dulcis fortibus, Ausoniae uir facundissime linguae, sed quibus ilia modis, qua sit ratione uocanda, nouimus; hac primum pueros pater imbuit arte, hanc genitore suo didicit puer ipse magistro. non aris, nonfarre molae uictoria felix exorata uenit; labor inpiger, aspera uirtus, uis animi, excellens ardor, uiolentia, cura hanc tribuunt, durum tractandis robur in armis. quae si defuerint bellantibus, aurea quamuis marmoreo in templo rutilas Victoria pinnas explicet et multis surgat formata talentis, non aderit uersisque offensa uidebitur hastis. quid, miles, propriis diffisus uiribus aptas inrita femineae tibimet solatia formae? numquam pinnigeram legioferrata puellam uidit, anhelantum regeret quae tela uirorum. uincendi quaeris dominam? sua cuique dextra est et deus omnipotens, non pexo crine uirago nec nudo suspenso pede strofioque recincta nec tumidasfluitantesinu uestita papillas. aut uos pictorum docuit manus adsimulatis iure poetarum numen conponere monstris aut lepida ex uestro sumpsit pictura sacello, quod uariis imitata notis ceraque liquenti duceret infaciem sociique poematis arte aucta coloratis auderet ludere fucis. sic unum sectantur iter et inania rerum somnia concipiunt et Homerus et acer Apelles \ et Numa cognatumque uolunt pigmenta, camenae, idola: conualuit fallendi trina potestas.

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haec si non ita sunt, edatur: cur sacra uobis ex tabulis cerisque poetica fabula praestat? cur Berecyntiacus perdit truncata sacerdos inguina, cumpulchrumpoesis castrauerit Attin? cur etiam templo Triuiae lucisque sacratis cornipedes arcentur equi, cum Musa pudicum raptarit iuuenem uolucri per litora curru, idque etiam paries tibi uersicolorus adumbret? desine, sipudorest, gentilis ineptia, tandem res incorporeas simulatis fingere membris, [desine terga hominis plumis obducere: frustra fertur auis mulier magnusque eadem dea uultur.] uis decorare tuum, ditissima Roma, senatum? suspende exuuias armis et sanguine captas, congere caesorum uictrix diademata regum, frange repulsorumfoeda ornamenta deorum, tunc tibi non terns tantum uictoria parta, sed super astra etiam media seruabitur aede.'

Folgende Einzelheiten seien angemerkt: V. 35 schreibe ich mit Cunningham: sua cuique dextra est. Prudentius mißt cinque dreisilbig als Dactylus (so hier und gleich unten c. Symm. 2, 89, dazu harn. 105) oder zweisilbig als Trochäus: cuique (so c. Symm. 1,136, wo die Aufnahme der Variante sordens statt vetusta ebenfalls daktylische Messung für cuique ergeben würde; ham. [888] ist interpoliert und sollte beiseite bleiben). In unserer Zeile sind außer der daktylischen Messung (u.a. im spätantiken Codex Β = Ambrosianus D 36 sup., saec. VI) noch zwei weitere Möglichkeiten handschriftlich bezeugt: durch Wortumstellung und Abwandlung der Form dext(e)ra ergibt sich die trochäische (sua dextera cuique est: dies bei Bergman im Text) und wieder eine dreisilbige Messung (sua dextra cuique est) - cui allein ist bei Prudentius Iambus, Pyrrhichius und kurzes oder langes Monosyllabon (vgl. Cunningham, Ausgabe, praef. § 128 s.v. cui und § 129; Bergman, Ausgabe, Ind. verb. p. 509). Die prosodische Unsicherheit des Worts löste an unserer Stelle früh simplifizierende Ersatzinterpolation aus: sua dextera f ο rti est (bezeugt in Handschriften des 9. Jh.). Wer wie Bergman und die Editoren der modernen Leseausgaben V. 45 in dieser Fassung aufnimmt: Sic unum sectantur iter, sic inania re rum Somnia concipiunt ... (bezeugt u.a. durch B), kann die verschiedene

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Messung sic ... sic innerhalb derselben Zeile wohl noch nicht einmal als späte Wirkung hellenistischer Spielerei erklären (vgl. Mart, epigr. 9, 11, 14f. und Gow zu Theocr. id. 6, 19), ist doch die Behandlung von sie als Kürze bzw. aneeps ohne Beispiel (vgl. Lucian Mueller, De re metrica, Petersburg - Leipzig 21894, S. 426). Cunningham entscheidet sich daher für die schwächer bezeugte, aber metrisch einwandfreie Version: Sic unum sectantur iter, sic cassafiguris Somrtia concipiunt... Schon Nicolaus Heinsius bevorzugte sie. Es fragt sich aber doch, ob nicht diese Fassung bereits dem Versuch entsprang, jene prosodische Unregelmäßigkeit zu beseitigen, also emendatorische Interpolation darstellt. Cassa figuris somrtia betont das Gestalthafte der Götterphantasien (vgl. c. Symm. 1, 299 über die Heidengötter: per varias formata elementafiguras; von der Seele des Träumenden cath. 6,3 lf.: variasque perfiguras, Quae sunt operta, cernit). Aber gerade die Aussage, daß alle drei Kräfte gleichermaßen und jede für sich (et Homerus et acer Apelles et Numa) G e s t a l t e n konzipieren, paßt nicht genau zum Gedanken der Verse 39/ 44: vgl. dazu unten S. 284 [17f.]. Inania rerum somnia dagegen besticht durch die Klarheit und Angemessenheit des Ausdrucks (der Genitiv rerum zu inania). Ich greife daher die alte Konjektur et (statt sie) auf: ...et inania rerum somnia (vgl. F. Arövalo z.St.: Migne, PL 60, Sp. 183 C/D). Die irrationale Längung iter vor der Caesur entspricht bester Tradition (Norden, Aen. VI, S. 450ff.; Mueller, De re metr., S. 408f.), konnte aber leicht die eingängige Anapher von sie provozieren, ebenso wie etwa Aen. 6, 254 die Längung super in allen alten | Handschriften durch Interpolation (superque) beseitigt ist (Norden S. 203f.). V. 47 cognatumque ν ο lunt (Bergman mit Β) ist kühn (substantiviertes Neutrum cognatum nur hier: Thesaurus Ling. Lat. 3, Sp. 1482, 81), stimmt aber gut zu: unum sectantur iter (45). Es geht um die Gemeinsamkeit in Streben und Absicht der drei Mächte. Bei Aufnahme der Variante cognatumque malum ergibt sich ein undurchsichtiges Gefüge: Cognatumque malumpigmenta, camenae, idola. Convaluit... (Cunningham). Hier stört der Singular malum statt mala; der elliptische Satz tritt zudem hart zwischen die Prädikate sectantur, concipiunt, convaluit. N. Heinsius' Emendationsversuch: Cognatumque malum, pigmenta, camenas (statt camenae), idola, Conflavit (dies v. 1. für convaluit)... verfehlt den Sinn. Malum neben cognatum ist typische Simplifikation. Über die interessante Ersatzinterpolation Phedra statt Musa in V. 54 s. unten S. 294f. [26].

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3. Die Curie als Tempel Prudentius erklärt, er wolle Symmachus in der Weise widerlegen, daß er Satz gegen Satz, Argument gegen Argument stelle: nunc dictis dicta refellam (V. 4)8. Ähnlich war St. Ambrosius im zweiten der beiden gegen Symmachus gerichteten Schreiben (epist. 18) verfahren, das er abfaßte, nachdem er den Text der Relatio in den Händen hatte9. Aber Prudentius reiht sich zugleich in eine längere apologetische Tradition ein. Bereits Origenes wehrt die Angriffe des Christenfeinds Kelsos ab, indem er die gegnerische Schrift stückweise ausschreibt, und nach Prudentius beobachtet St. Kyrill dasselbe Verfahren in seinem Werk gegen Kaiser Julianus Apostata. Zu Prudentius' Zeit bediente sich St. Augustinus mehrmals dieser Methode. Aus den öffentlichen Disputationen, die er mit Manichäern und Donatisten führte, hatte er die Vorzüge dieser Art der Auseinandersetzung kennengelernt, und so wandte er sie auch im apologetischen Schrifttum an10. Seine Werke gegen den Manichäer Faustus, gegen den Donatisten Petilian und den Pelagianer Julian sind teilweise so abgefaßt, als seien sie stenographische Mitschriften einer mündlichen Verhandlung11: der Wortlaut der gegnerischen Schrift wird particulatim12 mitgeteilt und die Erwiderung daruntergesetzt, so als seien die Kontrahenten abwechselnd zu Wort gekommen. Während sich aber aus diesen Werken die zugrundeliegende Schrift des Gegners mehr oder minder gut rekonstruieren läßt, während etwa Kelsos aus Origenes faßbar wird, Julian aus Kyrill (soweit erhalten), Petilian aus Augustinus, wäre solche Rekonstruktion der Relatio aus dem Prudentiusgedicht kaum möglich. Denn bei Prudentius gehört die Wiedergabe der gegnerischen Ansichten zur künstlerischen Gestaltung des Stoffs. Daher ist es, nebenbei bemerkt, falsch und störend, wenn der Prosatext abschnittsweise in das Gedicht eingeschaltet wird, wie das in der handschriftlichen Überlieferung und in der jüngsten Prudentiusausgabe geschieht13. Da-

8 Zur Formulierung vgl. etwa die vergilischen Versschlüsse dicta refellam (Aen. 12,644), dicta refello (Aen. 4, 380), verzeichnet bei Mahoney (wie Anm. 29) S. 108; ferner Juvencus 1, 394: Reddidit his Christus dictis contraria dicta. 9 Ambras, epist. 73 (18 Maur.), 2 (CSEL 82/3, S. 34): hoc sermone relationis assertioni respondeo. ίο Augustinus äußert sich dazu c. Petil. 2, 1, 1 (CSEL 52, S. 23f.); vgl. retract. 2, 51, 1 (CSEL 36, S. 161); epist. ad cath. 1, 1 (CSEL 52, S. 231f.). π Vgl. Aug. c. Petil. (wie Anm. 10): ... tamquam, cum ageremus, a notariis excepta sint. 12 Vgl. Aug. retract, (wie Anm. 10). 13 Maurice P. Cunningham: CCL 126 (1966); hierzu Klaus Thraede, in: Gnomon 40 (1968) S. 682 Aran. 4.

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durch wird das feine Gewebe des Dichtertexts zerrissen, | denn die dichterisch bearbeiteten Einlagen aus der Symmachusrede, die Prudentius selbst gibt, bilden Teile eines wohlberechneten und durchdachten Ganzen und dulden keine Dubletten in Prosa. Prudentius überträgt die Prosa in seine Dichtersprache, betont gewisse Gedanken, wählt aus, wechselt zwischen direkter und indirekter Wiedergabe. Aber damit nicht genug. Auch dort, wo er Symmachus in direkter Rede zu Wort kommen läßt, behandelt er den Grundtext teilweise sehr frei. Denn ihm liegt daran, die Anschauungen des Heiden so vorzutragen, daß darin bereits die wahren Absichten hervortreten, seine Sätze so zu formen, daß die in ihnen enthaltenen Konsequenzen sichtbar werden. Dafür ein Beispiel. Der wohl berühmteste Satz der Relatio lautet: uno itinere non potest perveniri ad tarn grande secretum: 'auf einem einzigen Wege kann man nicht zu einem so großen Geheimnis (zur Wahrheit, zur Gottheit) gelangen'14. Prudentius gibt den Satz dreimal wieder, aber stets so, als habe Symmachus von vielen, ja zahllosen Wegen zur Wahrheit gesprochen15. Er will sofort deutlich machen, welche Konsequenz sich ergibt, wenn man, dem Gegner folgend, den Wahrheitsanspruch der christlichen Religion ablehnt. Es gibt dann gleichsam kein Halten mehr. Alle Kulte, alle Lehren sind dann 'Wege'. Es wäre unpassend, hier von Fälschung zu reden. Die Relatio war kein vergessenes Aktenstück, das in den kaiserlichen Archiven schlummerte; Prudentius durfte nicht hoffen, mit einer Fälschung durchzudringen, sie wäre sofort auf den Urheber zurückgeschlagen. Er wollte das auch gar nicht, er trägt vielmehr dazu bei, den rednerischen Ruhm der Relatio zu mehren16. Aber er will gleichsam die glatte Oberfläche der geschickten Formulierungen des Gegners aufbrechen, auf daß durch die Fugen die ganze Glut seiner heidnischen Überzeugung hervorlodern könne. In diesem Lichte muß auch schon die erste Paraphrase des Symmachustexts betrachtet werden. Ich lege den Finger auf den Satz: ...templum dea virgo sacratum Obtineat vobis regnantibus\ (V. 13f.). Nirgendwo hatte Symmachus davon gesprochen, daß Victoria einen Tempel erhalten oder wie-

14 Symm. rel. 3, 10 (MGH A.A. 6, 1 [1883] S. 282; CSEL 82/3 [1982] S. 27). 15 Prud. c. Symm. 2, 87/90; 773/77; 843/46 (CSEL 61 [1926] S. 250, 275, 277). Zum Ganzen verweise ich auf meinen Aufsatz: Die vielen Wege und der Eine. Zur Bedeutung einer Bildrede aus dem Geisteskampf der Spätantike, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 31 (1990) S. 9/51 [in diesem Bande S. 474/521]. 16 Vgl. Prud. c. Symm. 1, 632ff. Symmachus' Beredsamkeit wird über die Ciceros gestellt, der Relatio fortdauernder Ruhm gegönnt: Inlaesus maneat Uber excellensque volumen Obtineat partem, dicendi fulmine famam (ibid. 648f.).

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dererhalten solle. In die Curie sollte sie zurückkehren. Er hatte gesagt: ornamentis saltern curiae decuit abstinerv. 'man hätte wenigstens von den Schmuckstücken der Curie die Hände lassen sollen'17. Natürlich kann sich der Dichter, der eben noch verkündete, er wolle die gegnerische Schrift Wort für Wort widerlegen, nicht gleich zu Anfang in offenkundigen Widerspruch zu seinem Programm bringen. Es bleibt nur eine Lösung: templum meint das Senatshaus. Prudentius schärft das Petitum des Präfekten und spitzt es so zu, daß das zum Vorschein kommt, was sein eigentlicher Kern ist - oder das, was sich als tatsächliche Wirkung aus der Erfüllung seiner Bitte ergäbe: die Curie wäre dann wieder ein Tempel der Victoria mit Kultbild, Altar und Opfern. Hat nun Prudentius durch solche Unterstellung die Absicht des Gegners verfälscht, wie manche | meinen18? Durchaus nicht. Im Gegenteil. Hellsichtig hat er die Empfindung erfaßt, die das gebildete Heidentum der Victoria im Senat entgegenbrachte. Claudian richtet in einem Gedicht, das er zu Anfang des Jahres 400 in Rom rezitierte, ein inbrünstiges Gebet an Victoria, wobei er für die Curie den Ausdruck aedes sacra (im poetischen Plural: sacras ... aedes) gebraucht - und das, obwohl der Altar anscheinend nicht mehr dort stand19. Die Ausdrucksweise hat einen modernen Claudianforscher zu dem Irrtum verleitet, der Dichter meine hier tatsächlich einen Victoriatempel20. Aber die Stelle ist zusammenzunehmen mit einer anderen in einem späteren Claudiangedicht, wo sich ähnliche Formulierungen ohne allen Zweifel auf das Senatshaus beziehen. Dort wird geschildert, wie Kaiser Honorius vor den Senatoren in der curia Bericht erstattet. Dann geht es so weiter21:

π Symm. rel. 3, 4. 18 Maurice Lavarenne, Prudence, tome III, Paris 21963, S. 209 (Anm. 4 zu S. 160): "Prudence ddnature la demande de Symmaque ..." etc. Dieser Vorwurf würde im übrigen auch Ambrosius treffen, der Symmachus' Satz über die ornamenta curiae (rel. 3, 4) so wiedergibt: sed vetera, inquit, reddendo sunt altaria simulacris, ornamenta delubris . Den oben skizzierten Grundzug prudentianischer Darstellung verkennt am ärgsten Marianne Kah in ihrem Prudentiusbuch, dessen gefühlvoller Haupttitel: Die Welt der Römer mit der Seele suchend ..., Bonn 1990, leicht irreführen kann. Mit einer "plumpen Fiktion" verletzt der Dichter, so Kah (S. 140f.), "die Grenzen des guten Geschmacks und muß sich den Vorwurf unfeiner Verleumdung gefallen lassen", ja er "verspielt... letztlich wohl die Sympathien all derer, die sich eine faire Auseinandersetzung erhoffen". Wer sich zu diesem Autor so wenig hingezogen fühlt, sollte ihn nicht erklären wollen. Daß sich die Verfasserin bei alledem auf ihre Erfahrung als Altphilologin (S. VIII) und auf die historisch-kritische Methode (S. 363) beruft, ist schwer erträglich . 19 Claudian. Stil. 3, 202ff. 20 Alan Cameron, Claudian, Oxford 1970, S. 238. Vgl. dazu Christian Gnilka, in: Gnomon 49 (1977) S. 26/51, bes. S. 39f. 21 Claudian. VI. cons. Hon. 597/99. Das Gedicht wurde im Januar 404 in Rom rezitiert, vgl. die 'Chronologia Claudianea' bei Cameron (wie Anm. 20) S. XVf.

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adfuit ipsa suis ales Victoria temp lis Romanae tutela togae: quae divite penna patricii reverendafovet sacraria coetus ... eqs. 'Die geflügelte Victoria selbst war in ihrem Tempel (suis... templis, poetischer Plural wie oben: sacras... aedes) zugegen, die Schützerin des Römertums: sie schirmt mit ihrem üppigen Gefieder das ehrwürdige Heiligtum, wo die Senatoren zusammenkommen usw. Claudians Begeisterung beweist aufs schönste die innere Wahrheit der prudentianischen Auffassung. Man darf nicht einwenden, die Curie sei doch ein Profanbau gewesen: zwar inauguriertes templum im technischen Sinne der Auguraldisziplin, nicht jedoch aedes sacra22. Auch daß der Altar sonst vor dem Tempel steht, nicht im Tempel, wäre hier kein zulässiges Bedenken23. Sakralrechtliche oder bauliche Gesichtspunkte bleiben außer Betracht. Beide Dichter bewegen sich auf einer idealen Ebene. Daß mit templum bei Prudentius wirklich die Curie gemeint ist, geht | im übrigen auch aus dem Prudentiustext selbst zweifelsfrei hervor. Denn wenn der Dichter später in den Schlußversen der Kaiserrede (V. 61/66), welche die Abweisung des gegnerischen Petitum (V. 12/16) enthalten, die Herrscher sagen läßt, Roma solle ihren S e n a t (V.61: senatum) lieber mit Trophäen schmücken und die ornamenta deorum - zu dieser Wendung s. unten S. 304ff. [33ff] - zerbrechen, dann ist ja klar, daß die Kaiser (bei Prudentius) die Forderung des Symmachus (bei Prudentius) richtig verstanden, templum auf die Curie bezogen haben. Die beiden allerletzten Verse der Rede lauten: tunc tibi (sc. Romae) non terris tantum victoria parta sed super astra etiam media servabitur aede. 'Dann hast du (Roma) nicht nur auf Erden den Sieg errungen, sondern auch über den Sternen wird dir Victoria mitten im Tempel (media ... aede, i.e. media aede sacra) bewahrt'. 22 Vgl. Varro bei Gellius 14, 7, 7 und Georg Wissowa, Religion und Kultus der Römer, München 21912, S. 472, 528. 23 Vgl. Hölscher (wie Anm. 2) S. 7f., der selbst aber auf Claudian verweist (Anm. 23).

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Der Sieg über das Heidentum ragt also in die Dimension des Überirdischen, Himmlischen, Ewigen hinein, er stellt ein bleibendes Verdienst vor Gott dar24. Victoria schwebt hier zwischen abstrakter Bedeutung und Personifikation, und der Ausdruck: media ... aede ist so gewählt, daß darin der Gedanke an einen Tempel der Victoria aufgegriffen, die Erinnerung an die Statue, die 'mitten im Senat' stand25, geweckt, jedenfalls dem Anliegen des Symmachus auf ungeahnte Weise doch noch entsprochen wird: ist das Victoriabild in der Curie zerbrochen, hat der Senat die Bekehrung vollzogen, dann ist die Victoria Romana inmitten des Himmelstempels aufgehoben. Dem Gedanken und dem Bilde nach verwandt sind Prud. per. 2,555: aeternae in arce curiae (sowie der ganze Zusammenhang dort26) und der Tempelbau am Schluß der Psychomachie, der auch eine eschatologische Bedeutung besitzt. Prudentius zieht also die Linie weit aus: Curie, Victoriatempel, Himmelstempel mitsamt der Victoria. Daraus ergibt sich auch, daß die Vorstellung der Curie als Tempel für die ganze Partie wesentlich ist. Auf ihr ruht Symmachus' Petitum (V. 12/14), sie nehmen die Kaiser zu Beginn ihrer Antwort auf (V. 27/29: s. dazu unten S. 280 [14] mit Anm. 50), zu ihr kehren sie abschließend (V. 65f.) zurück. Die klare Erkenntnis dieser Linie hilft, mancherlei Mißverständnisse der Prudentiusverse abzuweisen27. |

4. Die Kaiserrede Prudentius gestaltet die erste Partie des Buchs als Wechselrede zwischen Symmachus und den Kaisern28. Er setzt gleichsam eine kaiserliche Antwort voraus und nimmt sie durch eine an die Spitze gerückte Kaiserrede in das

24 Etwa in dem Sinne, wie literarischer Ruhm ewig sein kann, vgl. Iuvencus praef. 17f.: ... Nobis certafides aeternae in saecula laudis Inmortale decus tribuet meritumque rependet. Vgl. Antonius Johannes Vermeulen, The Semantic Development of Gloria in Early-Christian Latin (Latinitas Christianorum Primaeva 12), Nijmegen 1956, passim, bes. S. 50f., 82f. zu Augustinus. 25 Herodian. 5, 5, 7: έν τω μεσαιτάτω της συγκλήτου τόπφ. Vgl. hierzu Mazzarino (wie Anm. 129) S. 339/51 in Auseinandersetzung mit Alfonso Bartoli, Curia Senatus. Lo scavo e il restauro, Rom 1963, S. 57f. und anderen Arbeiten desselben Gelehrten. Ebenso wie σύγκλητος bei Herodian geht auch senatus bei Prudentius (V. 61) auf das Senatshaus, vgl. Mazzarino, S. 343 mit Belegen. 26 Vgl. Vinzenz Buchheit, Christliche Romideologie im Laurentiushymnus des Prudentius, in: Das frühe Christentum im römischen Staat, hg. von Richard Klein, Darmstadt 2 1982, S. 455/ 85, bes. S. 482f. 27 Etwa die Vermutung, Prudentius habe das Bildnis der Victoria nicht selbst gesehen, "denn er redet von einem Tempel, in dem es sich befinde" (Jelle Wytzes, Der letzte Kampf des Heidentums in Rom [fitudes preliminaires aux religions orientales dans 1'empire Romain 56] Leiden 1977, S. 269). 28 Offizielle Eingaben, auch die dritte Relatio, waren an die regierenden Kaiser des Westund Ostreichs gerichtet, selbst wenn sie sich praktisch nur an einen Herrscher wandten. Auch

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Werk selbst auf. Damit stellte sich der Dichter eine Aufgabe, die durch seine Vorlagen nicht gelöst war. Einerseits bot sich ihm so die Möglichkeit, seiner Darstellung ein gewisses psychologisches Interesse zu geben. Andrerseits hatte die Sache ihre Schwierigkeit: der Gesandte erbittet für Victoria den Tempel, und er bekommt zu hören, er solle das Götterbild vernichten - wie sollte eine solche Rede ausfallen? Dem Rang des Bittstellers war ebenso Rechnung zu tragen wie der Milde des Kaisers, und doch duldete die Sache keine Halbheiten. Durch placidissima ... ora (V. 17f.) werden wir auf den Ton nachsichtiger Überlegenheit eingestimmt. Er bildet Kontrast zur voraufgehenden Rede des Senators, die ja, so stellt es Prudentius dar (V. 10f.), ganz darauf zielte, die beiden jungen, ehrgeizigen Herrscher aufzuhetzen. Man erwartet daher eine affektische Antwort, etwa eine Zornrede oder sonst eine Äußerung jugendlicher Unbedachtheit. Stattdessen: placidissima ora. Die Wendung zeigt bereits an, daß die Psychologie des Redners falsch war. Ein schönes Kompliment liegt darin. Die beiden jungen Männer reden tatsächlich wie Kaiser. Auch bei Vergil gibt es eine Gesandtschaft, die in einer Sache der italischen Völker vorstellig wird und abschlägigen Bescheid erhält. Es ist die Gesandtschaft der Latiner an Diomedes, die um Hilfe im Kampf gegen Aeneas bittet. Und auch Diomedes antwortetplacido... ore (Aen. 11,251). Die Scholia Danielis bemerken dazu: habitumfiiturae orationis ostendit. Ebenso äußert sich Ti. Donat29. Liest man Vergil mit seinem Kommentar, treten überhaupt ähnliche Grundzüge beider Reden hervor: die Ablehnung der Bitte, nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern aus der Erkenntnis, daß sie im Kern verfehlt, ja verderblich sei; die Anteilnahme am Schicksal der Irrenden; die Absicht, sie zur Umkehr zu bewegen; der Versuch, die Empörung gegen den göttlichen Willen zu zeigen, die in der Bitte enthalten sei. Darauf, daß Prudentius

Prudentius läßt Symmachus die Form wahren, was ihn wiederum zwang, die Antwort beiden Theodosiussöhnen in den Mund zu legen. Die Situation erhält so etwas Unwirkliches. Denn die zwei können nicht auf einmal reden, und Symmachus konnte sie nicht zugleich in Mailand oder Ravenna und in Konstantinopel hören. Aber indem Prudentius die Reden derart aus der konkreten Situation löst, gibt er ihnen zugleich etwas Allgemeines, was sich auch in den wechselnden Apostrophen der Kaiserrede ausdrückt. Die Herrscher wenden sich über die Person des legatus (V. 17) hinaus an alle, die er vertritt: auf die Anrede des virfacundissimus selbst (V. 19) folgen die Vokative: miles (V. 31), gerttilis ineptia (V. 57), ditissima Roma (V. 61). 29 Bd. 2, S. 446, 5ff. Georgii. Bei Albertus Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius (Patristische Studien 39) Washington 1934, S. 111 wird die Übereinstimmung (Prud. c. Symm. 2, 17f.: reddunt placidissima fratrum Ora ducum - Verg. Aen. 11, 251: haec placido sie reddidit ore) unter der Rubrik der 'possible imitations' gefiihrt, über die der Verfasser einleitend bemerkt (S. XII): "Possible imitations are more than mere verbal coincidences; there is some ground for believing that they reflect Vergil". Die Junkturplacido... ore hat Vergil auch Aen. 7, 194 (Rede des Latinus an die Gesandten der Trojaner).

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sich die Diomedesrede zum Vorbild genommen habe, möchte ich nicht unbedingt pochen, aber dem Interpreten bringt es Gewinn, | wenn er sich hier ein wenig von dem antiken Vergilerklärer führen läßt. Donat charakterisiert die Diomedesrede als Suasorie, als dissuasio und persuasioi0, und er stellt fest, der Rat diene dem Heil der Verirrten, ja Diomedes gebe durch seinen Rat mehr, als er durch Erfüllung der Bitte hätte geben können: ... se benivolum docet, cum tutiore consilio errantis revocat ad salutem plus conlaturus quam rogabatur efficere31. Der Satz trifft auch vollkommen den Charakter der prudentianischen Rede. Auch die Kaiser bei Prudentius haben das wahre Wohl der Bittsteller im Auge, freilich ihr übergeschichtliches, ewiges Heil; auch sie sichern gerade durch Zurückweisung des konkreten Anliegens dessen größere Erfüllung (vgl. V. 65f.), ganz wie Donat von Diomedes sagt: petitionem ipsam consilio regit32. Und hier wie dort treten dieselben Mittel in den Dienst der wohlwollenden Abmahnung: Lob, Jammer, Schelte und Beweis (laus, miseratio, obiurgatio, probatio)33, wenn auch die obiurgatio benivola bei Prudentius bisweilen eine Schärfe annimmt, die der vergilischen Rede fehlt.

5. Das Bildnis der Victoria Die Antwort der Kaiser läßt einen dreiteiligen Aufbau erkennen. Der erste Teil (V. 18b/38) wird eröffnet, indem die beiden ihre Kompetenz in solcher Sache erklären: sie berufen sich auf die Ausbildung beim Vater, der die Söhne in der Kunst des Siegens unterwiesen habe. Das ist ein Motiv des Herrscherlobs, das Prudentius schon vorher angeschlagen hatte (V. 7/9). Auf den Vater Theodosius wendet es Pacatus in seinem Panegyricus an34, auf den Sohn Honorius bezieht es Claudian in seinen frühen Preisgedichten. Er zeigt

30 Vgl. Bd. 2, S. 446, 20f; 447, 17; 454, 25 Georgii: concluditpersuasionem suam. Man darf allerdings Vergil nicht von rhetorischen Regeln abhängig machen: Richard Heinze, Virgils epische Technik, Leipzig 31915, S. 431ff. 31 Bd. 2, S. 446, 17f. Georgii. 32 Bd. 2, S. 446, 19f. Georgii. 33 Vgl. Donat Bd. 2, S. 446, 5/447, 20 Georgii und weiter, etwa S. 448, 16f.; 452, 23f; 454, 4. Auch die Art, wie Prudentius die Kaiser mit einer lobenden Anrede des Gesandten beginnen läßt: Ausoniae virfacundissime linguae (V. 19), erinnert von ferne an den Beginn der Rede bei Vergil (Aen. 11, 252f.): Ofortimatae gentes, Saturnia regna, Antiqui Ausonii ..., wozu Donat die schöne Bemerkung macht (S. 446, 24f. Georgii): coepit ergo a Latinarum gentium laude partibus miserationis admixtis. 34 Paneg. lat. 2 (12), 8,3/5: cumpatre divino castrense collegium. Die historischen Exempla sind Alexander, Hannibal und Scipio Africanus minor: Theodosius übertrifft sie alle.

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zugleich, wie weit ein antiker Lobredner in diesen Dingen gehen durfte. Der Kaisersohn, so Claudian, habe im Lager zwischen den Lanzen der Soldaten seine Wiege gehabt, sei als Kleinkind über Schilde gekrochen usw., bis ihn der Vater schließlich in harte Zucht genommen habe35. Prudentius übt mehr Zurückhaltung, aber er verzichtet nicht auf diesen Kunstgriff 6 . Er braucht ihn, weil er junge, unerfahrene Männer in einer Sache, die Erfahrung erfordert, vor einem Manne reifen Alters reden läßt. Ihre erste Weisung bringt den grundlegenden Gedanken, daß die Verehrung der Victoria zwecklos sei, weil ein Sieg immer nur der soldatischen Tüchtigkeit | und dem allmächtigen Gott verdankt werde37. Es ist derselbe Gedanke, den schon Arnobius eingeschärft hatte: Victoria besitzt weder das Wesen einer Gottheit noch eigene Gestalt (forma), sie ist nichts weiter als die Leistung des Siegers38. Oder noch kürzer, mit den Worten des hl. Augustinus: (Victoria) nulla substantia est39. Aber der einfache Gedanke wird vom Dichter in bildlicher Sprache vorgetragen, und so fallen Äußerungen, die auch für die bekämpfte Vorstellung: für die Göttin und ihre Statue, allerlei hergeben. Daß Victoria den Sieg verkörpert, ohne etwa selbst zu kämpfen; daß sie sich durch Opfer herbeirufen läßt; daß ihr Nahen den Sieg bringt, ihre Abwesenheit Niederlage bedeutet; daß sie beflügelt das siegreiche Heer umschwebt; daß sie die Waffen lenkt, ohne doch selbst eine Schlachtenjungfrau zu sein nach Art der Athena Promachos; daß sie Glanz und Glück des vollendeten Sieges darstellt, nicht die Mühe des Ringens darum40: all das bringt Prudentius heraus, teils

35 Claudian. m cons. Hon. 10/38 (bes. 16f., 22f.) und 39/62, vgl. ferner diepatriapraecepta IV cons. Hon. 212ff„ bes. 320b/52a. 36 Vgl. etwa die hyperbolische Wendung: inter castra patris genitos (V. 8), und dazu Claudian. ΠΙ cons. Hon. 11 f.: strictis quemftdgidatelis Inter laurigeros aluerunt castra triumphos. 37 "Unverändert" aus der heidnischen Polemik gegen die Götterbilder (Hermann Funke, Art. Götterbild, in: RAC 11 [1981], Sp. 784) kann das schon deshalb nicht genommen sein, weil der 'allmächtige Gott' (V. 36) weder mit den Göttern noch mit Juppiter noch mit einer Allgottheit identisch ist. Ähnlichkeit wie Unterschiede zeigen die von Johannes Weitz (Prudentiusausgabe, Hanau 1613, S. 750) zu V. 24 angeführten Sätze aus Sallusts Catilina (52, 29): non votis neque suppliciis muliebribus auxilia deorum parantur; vigilando, agundo, bene consulendo prospere omnia cedunt. ubi socordiae te atque ignaviae tradideris, nequiquam deos implores: irati infestique sunt. Die Art, wie 'die Rechte' bei Prudentius emphatisch hervorgehoben und neben Gott genannt wird (V. 35f.), erinnert ein wenig an Verg. Aen. 11, 118 (Worte des Aeneas): vixet (sc. Turnus), cui vitam deus aut sua dextra dedisset. 38 Arnob. adv. nat. 4, 2 (CSEL 4, S. 142) über den Kult vergöttlichter Personifikationen, darunter auch der Victoria: nihil horum sentimus et cernimus habere vim numinis neque in aliqua contineri sui generis forma, sed esse virtutem viri... victoris victoriam ... 39 Aug. civ. 4, 17 (Bd. 1, S. 166, 16 Dombart/Kalb5). 40 Vgl. Hölscher (wie Anm. 2) S. 173/75 mit Belegen aus der lateinischen Literatur; die schöne Prudentiusstelle läßt er sich entgehen - ebenso Hans Heiander, The Noun victoria as Subject (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Latina Upsaliensia 14) Uppsala 1982, S. 25ff.

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indem er die heidnische Anschauung dem Ausdruck nach aufnimmt (V. 30), teils indem er sie direkt zurückweist (V. 23f., 33f.), teils aber eben auch dadurch, daß er an die Darstellung der Victoria in der bildenden Kunst erinnert (V. 27b/29, 36b/38). Diese letzteren Züge sind es nun, die besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Dürfen wir sie auf die Statue im Senat beziehen? Ihr Typos ist aus Münzbildern und archäologischem Material erschlossen. Literarische Angaben über ihr Aussehen besitzen wir sonst kaum, denn aus Claudian erfahren wir nur, daß sie Flügel hatte. Da wäre Prudentius ergiebiger. Daß er tatsächlich die berühmte Statue im Auge habe, vermutete schon der alte Erklärer Arevalo41. Doch die ausführlichste Untersuchung, die dem Gegenstand gewidmet ist, Hölschers Buch 'Victoria Romana', würdigt Prudentius keines Wortes42. In einem einschlägigen Aufsatz, der Nachweise | erbringen will, "wie die Statue ausgesehen hat", wird hierfür wohl Claudian herangezogen, nicht aber Prudentius, obwohl es scheint, als kenne die Verfasserin das Stück43. In anderen Arbeiten wird kurzerhand behauptet, Prudentius "beschreibe" die Statue, wobei aber die Wiedergabe der deskriptiven Details bisweilen recht ungenau ausfällt44. Unlängst hat Danuta Shanzer mit unseren Versen eine recht weitreichende Theorie zur Datierung der Psychomachie verknüpft, und auch für sie steht fest, daß Prudentius die Statue im Senatshaus beschreibe45.

41 Faustinus Arivalo, Prudentiusausgabe, Rom 1788/89, abgedruckt bei Migne, PL 59 und 60, hier 60, Sp. 180 D/81 Β zu Prud. c. Symm. 2, 29. Dieselbe Auffassung auch sonst in älterer Literatur, z.B. bei Aime Puech, Prudence, Paris 1888, S. 192. 42 Was keiner der zwölf Rezensenten bemerkt zu haben scheint. Dabei ist der Mangel auffällig. Denn daß aus dem Prudentiusgedicht etwas würde zu holen sein, ließ sich eigentlich denken. Sein Name erscheint bei Hölscher (wie Anm. 2) aber weder unter den "Quellen" (S. 7, Anm. 15) noch im Register noch sonst irgendwo (s. oben Anm. 40). Prudentius fehlt auch bei Andre Baudrillart, Les divinitds de la Victoire en Gröce et en Italie d'apres les textes et les monuments figures, Paris 1894. 43 Maria R. Alföldi, Signum Deae. Die kaiserzeitlichen Vorgänger des Reichsapfels, in: Jahrbuch fur Numismatik und Geldgeschichte 11 (1961) S. 19/32, ebd. S. 25f. Hier auf S. 30 in anderem Zusammenhang ein (verstümmeltes) Zitat aus Prud. c. Symm. 2, 35f. Die Vermutung, daß die Statue "wahrscheinlich aus Bronze gegossen und eventuell vergoldet war" (ebd. S. 28), wird indirekt aus Sueton (Aug. 100, 2) abgeleitet; vgl. aber dazu Prud. im Text V. 27b/29. 44 Pohlsander (wie Anm. 1) bes. S. 590: "The statue is described by Prudentius as golden, that is, made of gilded bronze, winged, barefooted, and dressed in a flowing robe". Die schönen Details der dichterischen Beschreibung gehen so verloren: pexo crine, nudo suspenso pede, strofio recincta, tumidas papillas (sc. vestita). Wytzes (wie Anm. 27) S. 269 bezieht offenbar nur die Verse 27b/29 auf die Statue, nicht auch V. 36b/38. Vera (wie Anm. 3) S. 30 stellt kurz fest, daß Prudentius und Claudian die Statue beschreiben. Die Arbeit von A. Cerri, Archeologia romana nel Contra Symmachum di Prudenzio, in: Athenaeum 41 (1963) S. 304/17 enttäuscht in dieser Hinsicht ganz. 45 Danuta Shanzer, Allegory and Reality: Spes, Victoria and the Date of Prudentius' Psychomachia, in: Illinois Classical Studies 14, 1/2 (1989) S. 347/63, bes. S. 354: "Here (i.e.

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Vorab wird man zugeben müssen, daß der Dichter hier in einer gewissen Verallgemeinerung von Victoria spricht. Zwar ist von einer Statue die Rede, aber es wird mehr der allgemeine Gedanke betont, daß ein wertvolles Kultbild nichts nütze (V. 27b/29) und daß es eine verkehrte und unwürdige Annahme sei, den Sieg einer Mädchengestalt zuzuschreiben (V. 35b/38). Andrerseits wäre es gewiß unnatürlich, wenn diese Feststellungen nicht auch im Hinblick auf das berühmte Bildnis sollten getroffen worden sein, um das es hier geht; wenn nicht die allgemeinen Angaben auch dem konkreten Fall angepaßt wären; wenn der Dichter die Kaiser so reden ließe, als wüßten sie gar nicht, wie die Statue im Senat aussieht. Daher werden wir zwar von Prudentius keine vollständige Beschreibung erwarten können, wie sie sich der Archäologe wünscht, aber wir werden annehmen dürfen, daß alles, was tatsächlich gesagt wird, zu dem Bilde stimmt, um das man damals kämpfte46. In dieser Erwartung werden wir auch nicht enttäuscht. Vergleicht man nämlich die Prudentiusverse mit der Bronzestatuette in Neapel, in der man eine Wiedergabe des Bildnisses in der Curie vermutet47, oder auch mit der Statuette aus | Fossombrone, die heute in Kassel steht48, so erkennt man sogleich die Übereinstimmungen: das wohlfrisierte Haar (im Text V. 36: pexo crine), das flatternde Gewand (vgl. fluitante sinu), das Busenband (vgl. strofioque recincta), die schwellenden Formen jugendlicher Weiblichkeit (tumidaspapillas), das Schweben auf nacktem Fuß (vgl. nudo suspensa pede) und natürlich auch die geöffneten Flügel (im Text V. 27ff.: quamvis... pinnas explicet). Fortgelassen hat Prudentius dagegen gerade das eigentümlichste Detail: den Globus, auf dem sie stand. Und auch die Frage, welches Attribut Victoria in der Hand hielt war es ein Lorbeerkranz, ein Palmzweig, ein Vexillum oder ein Tropaion? -,

c. Symm. 2 , 2 7 f f . ) Prudentius describes the actual statue of Victory in the Senate House ..." etc. Daß Prudentius seiner Spes goldene Flügel gebe (psych. 305f.), um eine Art christliches Gegenbild zur paganen Victoria zu schaffen (Shanzer, S. 356f.), ist ein netter Einfall - aber kaum mehr. Als Argument für die Datierung der Psychomachie ist derlei jedenfalls untauglich. 46 Die Frage, ob Prudentius selbst die Statue während seines Aufenthalts in Rom gesehen hat oder nicht, ist ohne Belang; s. oben S. 274 [9] Anm. 27. 47 Adolphe Reinach, Notes tarentines I: Pyrrhus et la Nike de Tarente, in: Neapolis 1 (1913) S. 19/29. Vgl. Pohlsander (wie Anm. 1) S. 590f., hier auch eine Abbildung (Fig. 1) . Zu den Bronzestatuetten dieses Typs insgesamt s. George MacDonald, Note on some fragments of imperial statues and of a statuette of Victory, in: The Journal of Roman Studies 16 (1926) S. 1/16, bes. S. 12ff.; Hölscher (wie Anm. 2) S. 34f. 48 Vgl. Prudentiana I, Tafel IV a und b. Beschreibung des Stücks, Hinweise auf die modernen Ergänzungen, die Datierung (2. Jh. n. Chr.) und weitere Literatur bei Ursula Höckmann, Antike Bronzen (Kataloge der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel 4) Kassel 1972, S. 31 Nr. 61 mit Tafel 18. Ergänzt sind vor allem der rechte Flügel, der linke Fuß und der Globus. Über das Attribut, das der berühmten Statue in der Curie beigegeben war, s. Hölscher (wie Anm. 2) S. 39.

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findet im Text keine Antwort. Der Dichter gibt eben nicht eigentlich eine Beschreibung, sondern eine knappe Skizze des Wesentlichen, d.h. dessen, was er für wesentlich erachtet. Und das Wesentliche ist ihm in diesem Fall das Weibliche (in den Versen 36ff.), daneben auch das Kostbare (in den Versen 27ff.). Das Weibliche wird betont, um die feminea forma (vgl. V. 32) in scharfen, satirischen Kontrast zu den harten Mannestugenden zu bringen, das Kostbare der vergoldeten, vielleicht recht hohen Statue49 wird hervorgehoben, um die Zwecklosigkeit solchen Aufwands zu brandmarken, und in diesem Zusammenhang erfüllt auch der Ausdruck marmoreo in templo (V. 28) seine Aufgabe50. Er nimmt die Formulierung des Bittstellers auf (V. 13), obschon der Bezug auf das Senatshaus hier zunächst etwas unbestimmt bleibt, um der Aussage das Allgemeingültige zu lassen. Wie es also falsch ist, die Prudentiusverse einfach als Beschreibung der Statue auszugeben, so ist es andrerseits sicherlich ein Mangel, bei Behandlung des Bildnisses die Stelle gar nicht zu beachten51. Hat nun auch Prudentius seine Skizze der Victoria gewiß aus der Anschauung heraus entworfen, so hat er ihr doch zugleich, scheint es, eine bestimmte literarische | Tönung gegeben. Es scheint, sage ich, weil darüber hier, wie so oft, kaum vollkommene Sicherheit zu gewinnen ist. Denn die Dichter lieben es, ihre literarischen Vorbilder anzudeuten, und sie malen nicht immer mit dickem Pinsel. Prudentius zeichnet das Victoriabild, aber man hat den Eindruck, als wecke er zugleich die Erinnerung an eine berühmte Mädchen-

49 Die divergierenden Ansichten hierüber bei Pohlsander (wie Anm. 1) S. 591, der meint, die Angaben bei Claudian (Stil. 3, 203: totis exsurgens arduapennis) und Prudentius (V. 27ff.: quamvis ... multis surgat formata talentis) ließen auf respektable Größe schließen. Alföldis Vermutung (wie Anm. 43) S. 26, die Statue habe auf einer Säule gestanden, wird abgelehnt von Pohlsander, zustimmend aufgegriffen von Hölscher (wie Anm. 2) S. 40. Multis ... talentis ist übrigens nicht im Sinne einer Preisangabe zu verstehen (wie etwa bei den Erzkolossen Plin. n.h. 34, 39/41); das Wort hat bei Prudentius weitere Bedeutung, vgl. per. 11, 188 (von der Ausstattung der Hippolytosgruft): Addidit (sc. dives manus) ornando clara talenta open·, per. 12, 48 (von der Paulsbasilika): Lusitque (sc. prineeps bonus) magnis ambitum talentis. 50 Mahoney (wie Anm. 2 9 ) S. 11 Iff. verweist auf die vergilische Wortverbindung templum de marmore (georg. 3, 13; vgl. Aen. 4, 457; 6, 69). Aber dem Ausdruckswert nach steht Juv. sat. 4, 112 näher: Fuscus marmorea meditatus proelia villa. Der Gegensatz zwischen dem schönen Marmorbau, in dem Victoria steht bzw. der Krieg geplant wird, und der rauhen Wirklichkeit des Kampfs ist beiden Stellen gemeinsam. Der Senatssaal war natürlich durch Marmorinkrustation geschmückt; s. etwa Armin von Gerkan, in: Fritz Krischen, Antike Rathäuser, Berlin 1941, S. 34/44. 51 Wenn die Angaben des Dichters vielen Darstellungen der Victoria gerecht werden, so muß man auch bedenken, daß jene Statue tatsächlich einen verbreiteten Typos repräsentierte. Jedenfalls bleibt die Vorstellung, die wir uns von dem berühmten Bildnis machen können, überhaupt, vom Globus abgesehen, auf allgemeine Züge beschränkt; vgl. Hölscher (wie Anm. 2) S. 35, 40.

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gestalt der Literatur. Catull schildert (64, 60ff.) die verlassene Ariadne, wie sie, gerade erwacht, am Strande dem Theseus nachblickt: 63 65

nonflavo retinens subtilem vertice mitram, non contecta levi velatum pectus amictu, nonteretistrophio lactentis vincta omnia quae toto delapsa e corpore passim ipsius ante pedes fluctus salis adludebant. sed neque tum mitrae neque tum fluitantis ilia vicem curans ... eqs.

papillas,

ami et us

Der Dichter vergleicht sie zuvor mit einer Statue, zwar mit dem Marmorbildnis einer Mänade (saxea ut effigies bacchantis), aber eben doch mit einer S t a t u e , und man mag sich denken, daß der christliche Dichter, wofern er wirklich seine Victoria an Catulls Ariadne wollte erinnern lassen, eben durch diesen Umstand angeregt ward. Auf ihre Toilette achtet die Verlassene allerdings nicht: ihr Haar ist aufgelöst, das Strophion und das flatternde Gewand {vgl. fluitantis amictus), das wir an Victoria sehen, hat Ariadne achtlos fallen lassen. Aber abgesehen davon, daß sich in unserer Vorstellung diese Unordnung wie von selbst zur Ordnung ergänzt, weil sie ja den Gegensatz zum augenblicklich aufgelösten Zustand bildet, macht gerade die dreifach wiederholte Negation ( n i c h t das Haar mit der Mitra gerafft, n i c h t die Brust bedeckt, n i c h t mit dem Strophion gegürtet) einen Eindruck, der trotz des anderen Sinnes den Versen des Prudentius nahekommt (nonpexo crine virago, nec... recincta, nec ... vestita), weil ja derlei Ähnlichkeiten nicht bloß durch Verstand und Einbildungskraft, sondern auch durch Gehör und Klang wahrgenommen werden. Den deutlichsten Anklang vernimmt man aus dem Vers: non tereti strophio lactentis vincta papillas, obschon man auch auf solche Gleichheiten nicht unbedingt bauen mag. Aber immerhin erfaßten ihn zwei moderne Gelehrte unabhängig voneinander, und das mag vielleicht dafür sprechen, daß ihn auch ein antiker Kenner erfassen konnte und sollte. Antonio Salvatore bespricht den ganzen Fall, in der Annahme, er sei unbemerkt geblieben52. Aber mindestens die Ähnlichkeit der beiden Versschlüsse vincta papillas und

52 Antonio Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o. J. [1958], S. 27/29. Gerade die Tatsache aber, daß Ariadne zur Bildsäule erstarrt ist, beachtet er merkwürdigerweise nicht. Prudentius behandelt übrigens auch seinerseits das Thema der verlassenen Ariadne: c. Symm. 1, 135/44; dazu Salvatore, S. 39f.

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vestita papillas war schon Carl Weyman aufgefallen, der sie in einer unveröffentlichten Prudentiusstudie verzeichnet53. Vielleicht liegt also tatsächlich bewußte Anspielung vor, die der christliche Dichter, das Prinzip antiker | Imitationskunst nutzend, anbringt: non subripiendi causa, sedpalam mutuandi, hoc animo, ut vellet agnosci54. Man muß ja bedenken, daß solche Zierstücke dichterischer Formgebung hier zugleich einen panegyrischen Zweck erfüllen, insofern sie der literarischen Bildung der beiden jungen Kaiser, die Prudentius reden läßt, ein schönes Zeugnis ausstellen, und wir dürfen voraussetzen, daß die Kaiserrede auch in dieser Hinsicht besonders sorgfältig gearbeitet ist.

6. Der Ursprung des Kultbilds aus der Malerei Der Dichter hat es verstanden, den Gegensatz zwischen dem Kriegshandwerk und der Siegesgöttin, zwischen Männergeschäft und Frauengestalt so scharf herauszuarbeiten, daß sich die Frage, wie Menschengeist solches Wahngebilde überhaupt hat hervorbringen können, notwendig ergibt und zu ihrer Behandlung ohne Umschweife übergegangen werden darf. Sie macht insgesamt den Mittelteil der Rede aus (V. 39/56), der nach unten durch die mit Vers 57 einsetzenden Schlußmahnungen (desine, suspende, congere, frange) deutlich begrenzt ist. In sich läßt das Mittelstück die Gliederung in These (V. 39/48) und Beweis (V. 49/56) erkennen. Die These selbst ist nun allerdings höchst merkwürdig. Man wird im ganzen Prudentius nicht leicht eine Konstruktion finden, die, obwohl aus lauter alten Elementen gebildet, eine derart neue und seltsame Idee darbietet. Das Bildnis der Victoria, ja überhaupt die Götterbilder - denn der Dichter spricht, wie hernach immer deutlicher wird, von der Sache im weiten, verallgemeinernden Sinne - seien geschaffen von der fallendi trinapotestas, geboren aus dem Bündnis von Malerei, Poesie, Religion55. Worin liegt nun das Sonderbare dieser Idee? Gewiß weder in der Verbindung von

53 Carl Weyman, Similia zu den Gedichten des Prudentius. Das Manuskript gelangte dank der Freundlichkeit Frau Carola Weymans, der Tochter des Gelehrten, in meine Hände. Die Arbeit ist durch das Erscheinen der Bergmanschen Prudentiusausgabe (1926) angeregt und ergänzt deren Index imitationum. 54 Sen. suas. 3, 7 mit Bezug auf Ovid und Vergil. Vgl. Willy Schetter, Drei Epigramme über die Rettung der Aeneis, in: Beiträge zur Ikonographie und Hermeneutik. Festschrift Nikolaus Himmelmann, Mainz 1989, S. 445/51, ebd. S. 449. 55 In V. 46f. tritt neben die Repräsentanten der Poesie und der Malerei (zu Apelles vgl. etwa Stat. silv. 5, 1,5) Numa als Begründer der römischen Religion, ohne Rücksicht darauf, daß gerade er Götterbilder verboten haben soll (Plut. Num. 8, wohl nach Varro, s. unten Anm.

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Poesie und Malerei, noch darin, daß die Künste als Förderinnen des Kults erscheinen. Wenn Arevalo feststellt, die Verwandtschaft der Dichtung mit der Malerei sei offenkundig und bedürfe keines Beweises, die eigene Leistung des Prudentius beruhe darauf, "daß er den Aberglauben mit diesen Künsten der Phantasie auf geistvolle Weise verknüpfte"56, so hat er im ersten Punkte gewissermaßen recht, aber im zweiten ist er jedenfalls ungenau. Für das erste braucht man sich nur an das berühmte Dictum des Simonides zu erinnern, | die Malerei sei eine stumme Poesie und die Poesie eine redende Malerei57, und wer weiter bedenkt, welchen Kampf Lessing im 'Laokoon' gegen die unkritische, ausufernde Anwendung dieses Grundsatzes führt58, wird sich nicht wundern, daß auch der Prudentiuserklärer des 18. Jahrhunderts in der Sache nichts weiter als eine bloße Evidenz zu erblicken vermag ("nihil est cur probemus, cum satis pateat"). Aber auch das Zweite, so wie es Arevalo ausdrückt, ist nichts Neues, das man dem Prudentius zugute schreiben dürfte. Man schlage die christlichen Apologeten auf: gibt es irgendeinen, der heidnische Superstition nicht aus Dichtung und Kunst die Nahrung ziehen läßt? Jede Art der bildenden Kunst (omnis ars), sagt Tertullian59, ist zur Quelle des Götzendiensts geworden. Nicht in solcher Lehre also kann das Erfinderische oder Geistvolle liegen, das Arevalo lobt, ohne es klar zu bezeichnen. Es liegt vielmehr darin, daß Prudentius an dem Bündnis der trügerischen Mächte nur e i n e Gattung der bildenden Kunst beteiligt und damit dieser einen, der Malerei, eine gleich-

62). Der gemeinsame Punkt ist auch ein anderer: alle drei Mächte arbeiten auf die Schaffung falscher Götter hin. Vorsorglich sei betont, daß Prudentius' 'dreifache Macht' klar zu scheiden ist von der berühmten Dreiteilung der Theologie bei Varro u.a. (vgl. Burkhart Cardauns, M. Terentius Varro. Antiquitates rerum divinarum, Wiesbaden 1976, frgg. 6ff. und dazu S. 139ff.; Godo Lieberg, Die 'theologia tripertita' in Forschung und Bezeugung, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 1.4, Berlin-New York 1973, S. 63/115), wenn sich auch sachliche Berührungen - etwa in der Kritik an den Dichtern - ergeben. 56 Ardvalo zu V. 48 (Migne, PL 60, Sp. 184 D): "Poesin autem cum pictura quamdam inter se cognationem et similitudinem habere nihil est cur probemus, cum satis pateat. Hoc proprium est Prudentii, quod superstitionem his fingendi artibus ingeniöse coniunxerit." 57 Simonides bei Plut. glor. Athen. 3 (moral. 346 F), aufgenommen sogar in Georg Büchmanns 'Geflügelte Worte', Frankfurt/Main-Berlin-Wien "1981, S. 252. Lionardo bemerkte dazu: "Heißest du die Malerei eine stumme Dichtung, so kann auch der Maler die Poesie eine blinde Malerei nennen. Nun sieh zu, wer der schadhaftere Krüppel sei, der Blinde oder der Stumme!" (Lionardo [wie Anm. 63] I 19, S. 31 Ludwig). 58 Hier in der "Vorrede" der Hinweis auf die "blendende Antithese des griechischen Voltaire". 59 Tert. idol. 3, 2 (CCL 2, S. 1103), und hierzu Jan Hendrik Waszink - Jacobus Cornells Maria van Winden, Tertullianus: De idololatria, Leiden 1987, S. 107/09. Die philosophische Götterkritik urteilte nicht anders, vgl. etwa Arthur Stanley Pease im Kommentar zu Cie. nat. deor. 1, 42 und 1, 77 (Bd. 1, Cambridge/Mass. 1955, S. 280ff. und 396f.).

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sam führende Rolle zuteilt. Er zieht die beiden Gedanken zusammen: den der Verschwisterung von Malerei und Poesie einerseits und den des Zusammenhangs von Poesie, Kunst und Kultus andrerseits. Diese Stränge werden so miteinander verwirkt, daß die Malerei hervortritt, indem sie allein unter allen bildenden Künsten als schöpferische Kraft erscheint und als ebenbürtige Macht sich mit Religion und Poesie zu jener unheilvollen Trias zusammenschließt. Prudentius ist in diesem Punkte sehr entschieden. Entweder, meint er, liegt der Anfang ganz und gar bei den Malern, haben sie mit dem Rechte freier Phantasie, das ihnen wie auch den Dichtern zugestanden wird (iurepoetarum) 60 , Phantasiegestalten wie Victoria erdacht und dargestellt und eben dadurch erst gelehrt, eine Gottheit zum Bilde hinzuzudenken (numen componere). Oder aber - man muß achtgeben, diesen zweiten Teil der Alternative recht zu erfassen: oder aber sie fanden einen Tempel schon vor (und natürlich auch eine Gottheit und einen Kult), aber der Tempel war leer: erst die Malerei, unterstützt von der Poesie, gab dem numen eine Gestalt. Prudentius drückt sich hier mit schöner Unbestimmtheit aus: aut lepida ex vestro sumpsitpictura sacello, quod ... duceret infaciem. Was Lavarenne | nicht übel übersetzt: "ou bien c'est ä votre culte que l'aimable peinture a emprunte des concepts ..." etc.61 Zugrunde liegt die Lehre vom bildlosen Kult der Frühzeit, die sich durch Varro verbreitete. Prudentius konnte davon bei Tertullian lesen: sola templa et vacuae aedes erant62. Aber ganz gleich, ob die Gottheit überhaupt erst aus dem Gemälde abgeleitet wurde oder ob das numen im anikonischen Kult vorgegeben war: in jedem Fall ist die Victoriastatue, ist jede Skulptur später als das malerische Produkt. Zwar vergleicht Prudentius Malerei und Plastik nicht ausdrücklich, aber der Vergleich ist in dem, was er sagt, impliziert. Er geht

60 Außer Hör. ars 9f. vgl. Lucian. pro imag. 18 und - für Prudentius besonders interessant - Hermot. 72: έπε! δ γε νΰν επραττες και έπενόεις, ούδέν των Ίπποκενταύρων και. Χιμαιρών και Γοργόνων διαφέρει, και δσα αλλα δνειροι και ποιηται και γραφείς έλεύθεροι οντες άναπλάττουσιν οΰαε γενόμενα πώποτε οΰτε γενέσθαι δυνάμενα (einen gemeinsamen Hintergrund vermutet Brink im Kommentar zu Horazens ars poetica [wie Anm. 79] S. 91). Das Neue, das sich bei Prudentius durch die enge Syzygie dieser beiden Künste, der Dichtung und der Malerei, ergibt, zeigt sich deutlich, wenn man vergleicht, was Cotta bei Cie. nat. deor. 1, 77 Uber den Bilderkult und seine Ursachen sagt: auxerunt autem haec eadem poetae, pictores, opifices. Aus der Beiordnung der drei Künste wird bei Prudentius eine Unterordnung der letzten unter die beiden ersten. 61 Lavarenne (wie Anm. 18) S. 161. Vgl. auch H.J. Thomson in der Prudentiusausgabe der Loeb Library, Bd. 2 (London-Cambridge/Mass. 1953), S. 9: "... or the painter's pretty art has taken from your shrine s o m e t h i n g to copy ..." etc. Grammatisch falsch wäre es, zu quod (V. 42) aus Vers 40 numen zu ergänzen - der Sache nach trifft es ungefähr. 62 Tert. idol. 3, 1; vgl. apol. 25, 12f.; Varro bei Aug. civ. 4, 31 = RDI frg. 18 Cardauns (mit dem Kommentar S. 146ff.); Clem. Alex, protr. 46, Iff. (GCS 12, S. 35).

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von einem vollplastischen Bildwerk aus und beansprucht seine Erfindung für Malerei und Poesie, lehrt also indirekt, aber deutlich die Priorität der einen Kunstgattung (der Malerei) vor den anderen (vor scalptura, statuaria, πλαστική). Das ist nun in der Tat eine eigenwillige Anschauung. Vielleicht hätte Lionardo daran seine Freude gehabt. Denn durch ihre Verallgemeinerung und durch ihre - wie sich zeigen wird - apologetisch begründete Spitze gegen die Plastik erhält die prudentianische Verbindung von Poesie und Malerei eine Ausrichtung, die gewisse Reflexionen der Neuzeit über den Vorrang der einen oder der anderen Kunstgattung vorwegzunehmen scheint. Lionardos Buch von der Malerei rühmt den Erfindungsreichtum (abbondantia d'inventione) dieser Kunst: sie zeige mehr Phantasie als die Bildhauerei, kommandiere mit ihren Linien den Bildhauer bei Vollendung seiner Statuen63. Man braucht nur die Sache von der schlechten Seite her zu betrachten und wird sich sogleich auf einen Standpunkt versetzt finden, der von dem des frühchristlichen Dichters nicht weit abzuliegen scheint. Trotzdem hätte Prudentius Lionardos Zustimmung wohl kaum erhalten. Denn darin wäre der Meister mit unserem Autor höchst unzufrieden gewesen, daß er die Dichtung - auch sie nur eine Kunst di poca fantasia, wie Lionardo meint64 - neben die Malerei zu stellen wagt. Vielleicht hätte Prudentius eher bei dem einen oder anderen Archäologen Beifall finden können. Adolf Michaelis äußerte einst die Überzeugung, "daß durch den größten Theil der griechischen Kunstgeschichte hindurch die Malerei der Plastik vorangegangen und ihr gewissermaßen | den Weg gewiesen hat, sozusagen die führende Kunst gewesen ist"65. Wie passend zu Prudentius! Aber da diese Ansicht längst als "Irrlehre der philologischen Archäologie des 19. Jahrhunderts" (Ernst Pfuhl)66 erkannt und zurückgewiesen

63 Lionardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Heinrich Ludwig, 3 Bde (Quellenschriften für Kunstgeschichte, hg. von R. Eitelberger v. Edelberg 15/17), Wien 1882, hier Teil 1, Nr. 15 (am Ende), S. 24; Nr. 38 W, S. 100; Nr. 23, S. 46. Ferner der ganze Vergleich zwischen Malerei und Bildhauerei, ebd. Nr. 35/45, S. 72/101 (la povertä della scoltura: Nr. 40, S. 88). Vgl. Anthony Blunt, Kunsttheorie in Italien 1450/ 1600, München 1984 (Oxford Ί940). bes. S. 18f., 34ff. Ebd. weitere Literatur. 64 Lionardo (wie Anm. 63) Nr. 19, S. 32f. Zum weiteren Hintergrund s. Karl Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie 1, Leipzig 1914, S. 96f., 167ff., 183ff. Auch Lionardo begründet übrigens den Rang der Malerei mit ihrer Wirkung in der Religion: sie fördert die Verehrung der Götter. Aber sie schafft selbst Bilder, die verehrt werden, und ist eben deshalb der Poesie überlegen (ebd. Nr. 8, S. 12; Nr. 14, S. 20; Nr. 25, S. 50). Gerade das hätte ein frühchristlicher Apologet, auf antike Verhältnisse blickend, nicht sagen können. 65 Adolf Michaelis, Die Zeitbestimmung des Silanions, in: Historische und philologische Aufsätze. Ernst Curtius ... gewidmet, Berlin 1884, S. 105/14, ebd. S. 114. 66 Ernst Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen 1, Berlin 1923, S. 3; dazu die ganze Auseinandersetzung auf S. 3/5. Aber "die alte Göttergabe des griechischen Geistes, die

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ist, will ich sie nicht wiederbeleben. Fragen wir uns lieber, wie Prudentius sich jene Anschauung bildete! Welche Absicht verfolgte er, und woher nahm er sich das Recht, derlei zu behaupten - ja mehr noch: den regierenden Herrschern in den Mund zu legen? Zunächst das erste: die Absicht. Sie ist unschwer zu erkennen. Prudentius betrachtet die Victoria im Senat als Kultbild, mit Recht, denn sie hatte einen Altar. Und wie sie waren alle Kultbilder der Antike rundplastische Werke. Die Tempel mochten noch so sehr mit Gemälden ausgeschmückt werden, niemandem wäre es eingefallen, eines davon kultisch zu verehren. Denn etwas bloß Gemaltes konnte nicht eine Gottheit sein67. Die Statuen aber waren Götter. Alle gelehrte Bemühung, Philosophie und Bilderkult zu versöhnen, die Statuen zu irgendwelchen Symbolen der Götter oder einer Allgottheit zu machen68, hat jene andere Auffassung niemals zu verdrängen vermocht, ja sie ist immer die herrschende geblieben und durch den Neuplatonismus auch unter den Gebildeten wieder belebt worden. Eusebius berichtet, das heidnische Volk habe sich erst dann von der Torheit des Götterkults überzeugen lassen, als man die Statuen öffnete und ihnen vorzeigte, was sich darinnen befand: Knochen oder Heu und Stroh, kein Gott oder Dämon69. Auch | in der Polemik der

mythenschöpferische [!] Phantasie" hebt auch Pfuhl an der Malerei hervor (2, S. 735) - und das ist die innere Wahrheit, die man auch den Prudentiusversen nicht absprechen kann. 67 Valentin Müller, Art. Kultbild, in: PW Suppl. 5 (1931) Sp. 472/511, hier Sp. 473, 40ff.: "Der Antike sind Kultbilder, die nicht rundplastisch wären, mit wenigen Ausnahmen gänzlich fremd ... Im Gegensatz zu anderen Epochen war der Antike die Wirkung eines Götterbildes in Malerei oder Relief nicht intensiv oder real genug, sie verlangte die volle tatsächliche Körperlichkeit." Vgl. auch Georg Lippold, Art. Malerei, in: PW 14,1 (1928) Sp. 881/98, hier Sp. 886,62ff. 68 Vgl. hierüber Johannes Geffcken, Der Bilderstreit des heidnischen Altertums, in: Archiv für Religionswissenschaft 19, 1916/19, S. 286/315. 69 Euseb. v. Const. 3, 57 (GCS 7, S. 104); vgl. Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms 3, Leipzig l01923, S. 198/202, wo freilich die Vermengung mit Äußerungen christlicher Volksfrömmigkeit stört. Daher, aus dem Glauben an die Identität von Bild und Gottheit, rührt auch der Sprachgebrauch, die Götterbilder einfach mit den Namen der Gottheiten zu bezeichnen, also etwa von Pallas oder Ceres zu reden, wo ihre Kultbilder gemeint sind. Bei gewissen Gottheiten ist dieser "Eigennamen-Typus" der herrschende geblieben: bei Penaten, Laren, Hermen. Vgl. Daut (wie Anm. 72) S. 14/31. Arnobius adv. nat. 1, 39 bekennt, er habe noch unlängst, d.h. vor seiner Bekehrung, jedes öltriefende Steinidol verehrt tamquam inesset vis praesens. Über ähnliche Stimmen aus dem Neuplatonismus, in dem volkstümliche Auffassung der Bilder und Versuche ihrer symbolischen Erklärung wechseln oder einander durchdringen, s. Geffcken (wie Anm. 68) S. 304ff. Wie damals "die Philosophie beim Volksglauben in die Schule ging" (ebd. S. 305), zeigen etwa Porphyrios in seiner Orakelphilosophie (bei Euseb. praep. ev. 5, 12f.: GCS 43, 1, S. 245/47) und Kaiser Julian in der Rede auf die Göttermutter (or. 8 [5], 2, 160 A/61 A, S. 104ff. Rochefort). Solche Äußerungen zieht Friedrich Hochreiter, Die Relatio des Symmachus für die Wiedererrichtung des Altares der Viktoria und die Gegenschriften des Ambrosius und Prudentius, Diss. Innsbruck 1951 (masch.), S. 52f. mit Recht heran, um den weiteren Hintergrund auszuleuchten, vor dem Symmachus' Eintreten "für Altar und Kultbild" zu sehen ist.

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Kirchenväter wird immer vorausgesetzt, daß das Idol ein plastisches Werk ist. Wenn Tertullian an der zitierten Stelle alle Künste, auch die Malerei, ja sogar die Textilkunst für die Verbreitung des Götzendiensts verantwortlich macht, geht er von einem weiteren Begriff der Idololatrie aus70. Aber ein 'Gott' entsteht nicht durch Stift und Pinsel, er ist ein deus ligneus oder aereus, argenteus, lapideus, wie Minucius Felix sagt71, ein Gott aus Stein, Gips, genieteten Bronzeplatten, wie es bei Prudentius heißt72. Und Myron, Polyklet, Phidias: Bildhauer also (denen er allerdings auch den Toreut Mentor zuzurechnen scheint), gelten ihm als diejenigen Künstler, welche 'Götter' herstellten und daher 'Väter der Götter' (parentes numinum) heißen dürfen73. Da nun Prudentius an unserer Stelle ganz darauf aus ist, die Götter als Nichtse zu erweisen, kam ihm die Malerei gerade recht. Denn der Maler wie der Poet bringen von sich aus, jeder in seiner Gattung, nichts hervor, was angebetet wird; sie schaffen Kunst,

70 Tert. idol. 3, 2 (CCL 2, S. 1103): neque enim interest, an plastes effingat, an caelator exculpat, an phrygio detexat, quia nec de materia refert, an gypso, an coloribus.an lapide, an aere, an argento, an filoformetur idolum. Vgl. Sap. Sal. 15, 4, wo aber eher die Bemalung der Statuen (aus Stein, Holz, Ton usw.: ebd. 14, 21; 15, 8) gemeint zu sein scheint. Auch Lactanz inst. 1,11, 26/29 zieht den Kreis weiter (vgl. ebd. 26: pictores ... fictoresque imaginum), aber er verfährt so, weil er ein besonderes Ziel verfolgt: er will aus der Übereinstimmung der bildenden Kunst mit der Poesie die partielle Wahrheit der dichterischen Aussagen über die Götter erweisen. Darum schließt er malerische Darstellungen mit ein. Tatsächlich kann, in freierer Weise, Arnobius (wie Anm. 69) sagen, er habe u.a. Gemälde (picturas) und Tänien an alten Bäumen verehrt. Lehrreich ist in dieser Hinsicht der Olympikos des Dio Chrysostomus (or. 12). Hier werden ebenfalls alle bildenden Künste zusammen als eine der Quellen der Gottesvorstellung aufgefaßt (or. 12, 44); sie treten als solche neben die Poesie, und zwar so, daß diese die frühere und führende bleibt (ebd. 45 fin.; 46). Die Synkrisis freilich, die dann Phidias in den Mund gelegt wird (ebd. 55ff.), vergleicht bezeichnenderweise Poesie und Bildhauerkunst (ebd. 55ff.), weil das Thema, soweit es die Kunst betrifft, eben doch eigentlich lautet: περί άγαλμάτων ιδρύσεως, δπως δει ίδρΰσθαι (ebd. 84). Zu Dions Olympikos, auch im Verhältnis zu Lessings 'Laokoon', s. Hans Schwabl, Dichtung und bildende Kunst, in: ΑΡΧΑΙΟΓΝΩΣΙΑ 4 (1985/86) Athen 1989, S. 59/75. 71 Min. F e i . 24, 5/8. 72 Prud. c. Symm. 1, 435/41. Vgl. Funke (wie Anm. 37) Sp. 786f. 'Götter' aus Gips auch schon in der varronischen Bilderkritik: Varro RD I frg. 22 Cardauns: dii veri neque desiderant ea (sc. sacra) neque deposcunt, ex aere autem facti, testa, gypso vel marmore multo minus haec curant... Vgl. Raimund Daut, Imago. Untersuchungen zum Bildbegriff der Römer, Heidelberg 1975, S. 86. 73 Prud. per. 10, 266/300. Winckelmann sah diesen Unterschied zwischen Malerei und Bildhauerei und erblickte mit Recht gerade darin einen der Gründe für das frühere Reifen der Bildhauerei vor der Malerei: "... denn da die Bildhauerei den Götterdienst erweitert hat, so ist sie wiederum durch diesen gewachsen. Die Malerei aber hatte nicht den gleichen Vortheil ..." usw. (Johann Joachim Winckelmann's Geschichte der Kunst des Altertums ..., hg. von Julius Lessing, Heidelberg 21882, S. 104). Er gelangte also, von demselben Befund ausgehend, der jedem Menschen der Antike, auch dem spätantiken Dichter, vor Augen stand (vgl. ebd.: "Aber die Werke der Maler scheinen bei den Griechen kein Vorwurf heiliger zuversichtlicher Verehrung und Anbetung gewesen zu sein"), zu umgekehrter, historisch richtiger Folgerung.

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nicht 'Götter'. Darum waren die Idole als Wahngebilde des Menschen entlarvt, wenn sie als Erfindungen dieser Künste durchgingen, wenn die Linie ihrer Herkunft dort ansetzte, wo es keinesfalls 'Götter' gibt, sondern nur Phantasien. Man wird kaum erwarten dürfen, für Prudentius' Kombination eine Vorlage zu entdecken, die alle Teile seiner Konstruktion in gleicher Weise vereint. Die | antike Kunsttheorie hat zwar den Begriff der schöpferischen Phantasie entwickelt und aus ihr gerade die Erfindung der Götterbilder erklärt und gerechtfertigt, aber sie hat dabei nicht zwischen Plastik und Malerei unterschieden74. Es fehlt dort also gerade das Eigentümliche der prudentianischen Auffassung. Dies läßt sich auch aus der Fachschriftstellerei nicht herleiten. Denn die Nachrichten über die Erfindung der Malerei weisen solchen Weg nicht75. Die scalptura zumindest, die Arbeit in Stein, galt als die ältere Kunst, und ihre ersten Meister wurden auch gleich mit Götterbildern in Verbindung gebracht76. Es wäre aber überhaupt verkehrt, wollte man sich den Dichter in antiquarischer Literatur kramend vorstellen. Solche Quellen hätten ihm nichts genützt. Seine Vorlagen mußten Vorbilder sein, Autoritäten, die dazu taugten, das Heidentum zu überführen. Und solche Autoritäten konnten nur diejenigen Schriftsteller sein, die das spätrömische Heidentum selbst als Autoritäten anerkannte, die Männer wie Symmachus als Repräsentanten ihrer eigenen Kultur und Bildung gelten ließen. Dies wiederum waren in besonderer Weise die alten Dichter, die Klassiker der Schule, Vergil vor allem, aber auch andere. Es scheint bisher kaum bemerkt worden zu sein, daß die Kaiserrede nach

74 Das Paradebeispiel ist vielmehr der Zeus des Phidias, vgl. Ella Birmelin, Die kunsttheoretischen Gedanken in Philostrats Apollonios, in: Philologus 88 (1933) S. 392/414 (ausgehend von Philostr. v. Apollon. 6, 19 S. 230ff. Kayser). Das hindert natürlich nicht, daß der Vorzug der φαντασία sonst auch an Malern gelobt wird: vgl. Quintil. inst. 12, 10, 6 (in der Malergeschichte) und dazu R.G. Austin im Kommentar, Oxford 21954, S. 145. 75 Pfuhl (wie Anm. 66) 1, S. 496ff.; Heinrich Brunn, Geschichte der griechischen Künstler 2, Stuttgart21889, S. 3ff. Die Nachricht über den Maler Euchir (Aristoteles bei Plin. n. h. 7, 205 = Aristot. frg. 382 Rose) reicht immerhin bis in mythische Zeit hinauf. 76 Plin. n. h. 36,15 über die Marmorplastik: non omittendum harte artem tanto vetustiorem fitisse quampicturam aut statuariam...; vgl. ebd. 9f. über die Kreter Dipoenus und Scyllis bei den Sikyoniern. Plinius betont zwar (n.h. 35, 54f.) gegenüber seinen griechischen Quellen das frühe Aufblühen der Malerei (dazu August Kalkmann, Die Quellen der Kunstgeschichte des Plinius, Berlin 1898, S. 1/37, bes. S. 22ff.), aber auf ein höheres Alter der Malerei im Verhältnis zu anderen Gattungen der bildenden Kunst konnte daraus kaum geschlossen werden. Zur Malergeschichte bei Plinius s. ferner Franz Studniczka, Antenor der Sohn des Eumares und die Geschichte der archaischen Malerei, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 2 (1887) S. 135/68, bes. S. 148ff.; vgl. auch die Hinweise im Kommentar der neuen Bud6Ausgabe: Jean-Michel Croisille (1985) S. 139 zu Plin n. h. 35, 15 und S. 170 zu 35, 54; Agnes Rouveret (1981) S. 135f. zu Plin. n. h. 36, 15.

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Horaz gearbeitet ist, und zwar nach berühmter Stelle. Horaz eröffnet die 'Ars poetica' mit einer seltsamen Vision, die seitdem viele im Gedächtais trugen auch Symmachus, wie aus einem seiner Briefe zu entnehmen ist77. Sie stellt uns ein Gemälde vor, das ein monstrum zeigt78 ähnlich den Mischwesen des Mythos, nur noch phantastischer gebildet: mit schönem Frauenkopf, Pferdehals, buntem Gefieder, Fischschwanz. Ihm ähnele, meint Horaz, das Gedicht, das keine Einheit zustandebringt, sondern nur lose Wahngebilde schafft wie Träume eines Fieberkranken. Die Freiheit dichterischer und malerischer Erfindung anerkennt auch er, doch läßt er sie vor dem Monstruosen ihre Grenze finden: | 1

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Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique conlatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne, spectatum admissi risum teneatis, amici? credite, Pisones, isti tabulae fore librum persimilem, cuius, velut aegri somnia, vanae fingentur species, ut nec pes nec caput uni reddaturformae. 'pictoribus atque poetis quidlibet audendi semper pit aequa potestas'. scimus, et hanc veniam petimusque damusque vicissim; sed non ut placidis coeant inmitia, non ut serpentes avibus geminentur, tigribus agni.